Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Romancier – Philosoph – Politiker 9783110727340, 9783110727241

As a novelist and journalist as well as a philosopher and scientific policymaker, Friedrich Heinrich Jacobi had a signif

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Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Romancier – Philosoph – Politiker
 9783110727340, 9783110727241

Table of contents :
Inhalt
Zu diesem Band
1 Literatur und Anthropologie
Briefdialoge und Gesprächsmitschriften
Goethe und Jacobi
Die Peripherie des Zirkels
Jacobi und die Satire
2 Philosophie und Epistemologie
Friedrich Heinrich Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung
Die Bestimmung des Menschen
»Der geheime Handgriff des Schöpfers«
Denn sie wissen nur, was sie tun
3 Spekulation und Theologie
Das Wesen der Freiheit in der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Schelling
Ungenießbare Götter
Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist
Spinozismus substanzloser Subjektivität
4 Anhang
Zeittafel
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Personenregister

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Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)

Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Stefanie Buchenau und John Zammito

Band 19

Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819)

Romancier – Philosoph – Politiker Herausgegeben von Cornelia Ortlieb und Friedrich Vollhardt

ISBN 978-3-11-072724-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072734-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072743-2 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2021932211 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Friedrich Heinrich Jacobi, um 1780 Gemälde von Johann Friedrich Eich (1748‒1807) Gleim-Haus Halberstadt

Inhalt Cornelia Ortlieb, Friedrich Vollhardt  Zu diesem Band | 1

1 Literatur und Anthropologie  Cornelia Ortlieb  Briefdialoge und Gesprächsmitschriften Schreibarten des Romans bei Friedrich Heinrich Jacobi  | 5 Gudrun Schury  Goethe und Jacobi Szenen einer Ehe  | 25 Friedrich Vollhardt  Die Peripherie des Zirkels Jacobi im Gespräch mit Wieland, Hemsterhuis und Herder  | 45 Jutta Heinz  Jacobi und die Satire Oder: Swifts Betrachtung über einen Besenstiel und der Strickstrumpf der idealistischen Ich-Philosophie  | 63

2 Philosophie und Epistemologie  Hans Friedrich Fulda  Friedrich Heinrich Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung Eine Fallstudie zur Aufklärungsforschung  | 85 Werner Ludwig Euler  Die Bestimmung des Menschen Philosophische Aspekte in Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar | 105 Gideon Stiening  »Der geheime Handgriff des Schöpfers« Jacobis theonome Epistemologie  | 171

VIII | Inhalt

Christoph Binkelmann  Denn sie wissen nur, was sie tun Der Spinoza-Streit zwischen Jacobi und Herder  | 191

3 Spekulation und Theologie Wilhelm G. Jacobs  Das Wesen der Freiheit in der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Schelling | 207 Christian Danz  Ungenießbare Götter Der Streit um den Gottesgedanken in der ›Sattelzeit der Moderne‹ | 221 Burkhard Nonnenmacher  Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist Zu Hegels später Auseinandersetzung mit Jacobis Gotteslehre und Epistemologie des religiösen Bewusstseins  | 233 Gunther Wenz  Spinozismus substanzloser Subjektivität Jacobi und Jean Paul wider Fichtes Ichphilosophie | 259

4 Anhang Zeittafel | 285 Siglenverzeichnis | 289 Bibliographie | 291 Personenregister | 309

Cornelia Ortlieb, Friedrich Vollhardt

Zu diesem Band »Nach meinem Urteil«, schreibt Friedrich Heinrich Jacobi 1783, »ist das größte Verdienst des Forschers: Dasein zu enthüllen.« Gemeint ist die Erforschung der menschlichen Natur, die Jacobi zunächst im Medium des Romans betrieben hat, wobei ihm Die Leiden des jungen Werthers ein Vorbild lieferten. Goethe gehörte zu den Gästen in seinem Landhaus Pempelfort bei Düsseldorf, einem Zentrum des intellektuellen Gesprächs, wo Diderot und Wieland (mit dem er eine Zeitschrift herausgab), die Brüder Humboldt und Georg Forster verkehrten. Die von hier aus geführte Korrespondenz mit fast allen bedeutenden Autoren der Zeit bildet ein einzigartiges kulturhistorisches Dokument. Wer zeigen möchte, was der in der neueren Historiographie gebrauchte Begriff des ›Netzwerkes‹ leistet, findet in Jacobis Briefwechsel reiches Anschauungsmaterial. Was Jacobi literarisch darzustellen versuchte, war die Überlegenheit der unmittelbaren – inneren – Empfindung gegenüber der reinen Vernunft, da sich nur so erreichen lässt, was auf dem Weg der rationalen Erklärung letztlich verborgen bleibt: »das Einfache, das Unauflösliche«. Seinen zeitgenössischen Kritikern erschien das als Irrationalismus. Für Friedrich Schlegel stellte Jacobis Briefroman Woldemar eine »Einladungsschrift zur Bekanntschaft mit Gott« dar, die »mit einem Salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit« ende. Das Urteil hat nachgewirkt, lange Zeit galt Jacobi als ein ambitionierter Schriftsteller mit einer unglücklichen Liebe zur Philosophie. Erst die neuere Forschung hat in seinen Denkfiguren eine Antwort auf die Forderung nach einem Kriterium rationaler Argumentation erkannt, das in der unmittelbaren Wahrnehmung des Gegebenen − und sei dies ein subjektives Empfindungsdatum – als einer unhintergehbaren Voraussetzung des Denkens zu bestehen hat und zugleich die Gewissheit der Erkenntnis garantieren soll. Eine frühe Begegnung mit der Philosophie der französischen Enzyklopädisten hat sich hier als prägend für Jacobis gesamtes Werk erwiesen. Dieses Werk hat in der Zeit um 1800 eine bedeutende Wirkung entfaltet. Am Beginn steht ein Briefwechsel mit Moses Mendelssohn über die Frage, ob Lessing ein Spinozist gewesen sei (Über die Lehre des Spinoza, 1785). Der dadurch ausgelöste Pantheismusstreit bildet einen markanten Einschnitt in der deutschen Literaturund Philosophiegeschichte. Nach diesem erfolgreichen Debüt setzt sich Jacobi noch in einer Reihe weiterer Schriften mit der Gegenwartsphilosophie auseinander. Über seine vielbeachtete Kritik an Kant kommt es zu einem Austausch mit dem Jenaer Professor Fichte, einem begeisterten Leser der Romane Jacobis, der sich 1799 dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt sah und von der Regierung zur Verantwortung gezogen wurde. Da die Möglichkeit einer Berufung auf die Individualgrundrechte zu dieser Zeit nicht bestand, richtete Fichte zu seiner Verteidigung eine Appellation an das Publicum, wobei er vor allem auf die Unterstützung Jacobis hoffte. Dieser hat

https://doi.org/10.1515/9783110727340-001

2 | Cornelia Ortlieb, Friedrich Vollhardt

mit einem Sendschreiben An Fichte reagiert, in dem er zwar dessen neue »Entdeckungen« würdigt, durch die uns ein »Weg zu irren ganz abgeschnitten worden« sei, dann jedoch diesen »Standpunkt der Spekulation« als eine Vernunftwissenschaft kritisiert, deren Konstruktionen sich notwendig in Nichts auflösen oder zu nihilistischen Konsequenzen führen müssen. Dem steht Jacobis Wissen vom Unbedingten gegenüber, aus dem sich – wie die Zeitgenossen erkannten − der Ansatz zu einer Theorie des Subjekts entwickeln lässt. Dieser Grundsatz ist ebenso in das Epochenbewusstsein eingegangen wie Jacobis Vorstellung einer in sich völlig determinierten Natur, das Schreckbild »jenes ewig verschlingenden, ewig wiederkäuenden Ungeheuers, welches Werthern erschien«. Diese Nihilismus-Metaphern haben dazu beigetragen, dass er zu einem von vielen, gerade auch von Schriftstellern − etwa Jean Paul − bewunderten Gegner naturalistischer Konzepte wurde; gleichwohl ist er ein Einzelgänger geblieben. Als Jacobi 1804 die Einladung erhält, an der Umgestaltung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mitzuwirken, und zu ihrem ersten Präsidenten ernannt wird, entwickelt sich bereits kurz nach seiner Eröffnungsrede eine Kontroverse mit Schelling, die ihn zum Rückzug von seinem Amt zwingt. Seine letzten Lebensjahre verbringt Jacobi in München, wo er am 10. März 1819 gestorben ist. Den 200. Todestag haben wir zum Anlass genommen, Kolleginnen und Kollegen zu einem Kolloquium einzuladen, das am 19. März 2019 in den Räumen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München stattgefunden hat; wir danken Heinrich Meier und der Siemens Stiftung für die großzügige Finanzierung der gesamten Tagung. Unser Ziel war es, die auf verschiedene Disziplinen verteilte Forschung zum Werk Friedrich Heinrich Jacobis zusammenzuführen. Wie die hier zu Beginn gegebenen Hinweise verdeutlichen, sollte sowohl der Romancier und Publizist als auch der Philosoph und Wissenschaftspolitiker gewürdigt werden – die Ergebnisse stellt dieser Band zur Diskussion. Für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge sei an dieser Stelle Anna Axtner-Borsutzky ganz herzlich gedankt. Schließlich gilt ein besonderer Dank dem Verlag Walter de Gruyter und dabei insbesondere Marcus Böhm und Anne Hiller, die sich für unseren Sammelband zu Friedrich Heinrich Jacobi mit großem Engagement einsetzten. Berlin und München im September 2020

| 1 Literatur und Anthropologie

Cornelia Ortlieb

Briefdialoge und Gesprächsmitschriften Schreibarten des Romans bei Friedrich Heinrich Jacobi Auch jenseits von Jubiläen ist Jacobi ein lesenswerter Autor: Was in seinen sogenannten Romanen zu entdecken bleibt, ist ihre und seine Modernität.1 Man liest dort von freien Menschen, die in freier Natur frei miteinander sprechen, in denen Frauen und Männer ebenso selbstverständlich miteinander umgehen wie Adlige und Bürgerliche oder auch Deutsche und Engländer, sich zu Gemeinschaften finden und dabei in mehrfacher Hinsicht philosophieren, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird. Dabei sind dialogische Formen und Formate offensichtlich von großer Bedeutung, wie ohnehin Jacobis im engeren Sinn philosophische Texte durchweg dialogischen Charakter haben oder, mit dem glücklichen Begriff Walter Jaeschkes, geradezu »philosophisch-literarische Streitsachen« darstellen.2 Dies gilt auch abseits der bekannten großen Auseinandersetzungen, etwa mit Moses Mendelssohn, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling.3 So hat Jacobi sich selbst 1787 mit Mitteln der erzählerischen Fiktionalisierung in einem philosophischen Dialog porträtiert, der seinerseits die Lehren von David Hume und Gottfried Wilhelm Leibniz vermittelt und in seiner letzten Fassung einen entsprechenden Titel und Untertitel trägt, David Hume über den Glauben oder Idea-

|| 1 Für diesen Beitrag greife ich auf meine Forschungsarbeiten zu Jacobi zurück, besonders auf Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010. Neuere Forschungsliteratur kann entsprechend nur punktuell berücksichtigt werden, vgl. aber meine neueren Beiträge zu spezielleren Themen, etwa Cornelia Ortlieb: Praktiken der Kritik bei Jacobi und Schleiermacher. In: Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017. Hg. von Jörg Dierken, Arnulf von Scheliha und Sarah Schmidt. Berlin, Boston 2018, S. 733–748; dies.: Gedanken Verschiedener. Jacobi, Mendelssohn und die fatale Liebe zur Philosophie. In: Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte. Hg. von Philipp Theisohn und Georg Braungart. Paderborn 2017, S. 127–150; dies.: Philosophie als Kritik und Kommentar: Jacobi und Leibniz. In: Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800. Hg. von Wenchao Li und Monika Meier. Hildesheim 2016, S. 37– 67; dies: Papierfunde, Handschriften, Randglossen. Schreibformen des Philosophierens um 1800. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 40 (2015), S. 281–305. 2 Vgl. die gleichnamige Reihe, Walter Jaeschke (Hg.): Philosophisch-literarische Streitsachen. Hamburg 1990–1995. 3 Zu jeder dieser Auseinandersetzungen gibt es eine Fülle von Forschungsbeiträgen mit teils entschiedenen, auch polemischen Positionierungen, die hier nicht adäquat aufgeführt werden können. Wie ambivalent gerade das Verhältnis zu Mendelssohn ist, um den Jacobi lange Zeit als Dialogpartner wirbt und kämpft, mit zweifellos fragwürdigen Mitteln bis hin zur mehr oder weniger expliziten Fälschung, habe ich ausführlicher untersucht in Ortlieb: Gedanken Verschiedener (s. Anm. 1). https://doi.org/10.1515/9783110727340-002

6 | Cornelia Ortlieb

lismus und Realismus. Ein Gespräch.4 Umgekehrt hatte Jacobi schon für ein »Fragment« von 1781 mit dem implikationsreichen Titel Der Kunstgarten den Untertitel Ein philosophisches Gespräch gewählt und ihm ein Verzeichnis »Personen des Gesprächs« vorangestellt, in dem die vier zentralen Namen des Woldemar-Romans erläutert sind, an dritter Stelle »Woldemar«.5 Entscheidend ist somit, nicht nur aus philologischer Perspektive, bei einer solchen Re-Lektüre der Dialoge und Gespräche auch das Format dieser Texte, zumal, wenn die beiden großen, nach ihrem jeweiligen Protagonisten benannten ›Romane‹ betrachtet werden, Allwill und Woldemar. Denn streng genommen müsste bei der Diskussion dieser Gegenstände hinter jeder Äußerung eine Zahlenreihe folgen, da es beide Texte in mehreren kürzeren Fassungen aus den 1770er Jahren und wiederum mehreren umgeschriebenen und erweiterten Versionen aus den 1790er Jahren gibt. Dazwischen liegt einerseits das epochale Ereignis der Französischen Revolution und andererseits ein ähnlich grundstürzendes Jahrzehnt philosophischer Debatten, das mit der ›kopernikanischen Wende‹ Immanuel Kants auch eine Revolution des Denkens zum Ereignis werden lassen hat.6 Unter den wenigen Lesern, die von Anfang an die Ausmaße dieser philosophischen Zäsur und Neuordnung erkannt haben, ist der Kaufmann, angehende Schriftsteller und philosophische Autodidakt Jacobi. Die Kant-Abteilung seiner philosophischen Bibliothek war mit mindestens dreißig Einzeltiteln nachweislich zu allen Zeiten besonders gut bestückt und Jacobi hat sich als Mäzen und Initiator von Subskriptionsausgaben besonders für die Verbreitung von Kants Schriften engagiert.7

|| 4 Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. 5 Als »Fragment« bezeichnet ein namentlich nicht genannter »Herausgeber« den Text im Zitat eines Briefs mit der Anrede eines »Boie«, des realen Herausgebers der Zeitschrift Deutsches Museum Heinrich Christian Boie. Der ungenannte Verfasser beschreibt »ein Manuskript«, das in einem Kreis von Freunden bereits »von Hand zu Hand gegangen« sei, mit einigen interessanten Hinweisen zum Status dieser Veröffentlichung, die man auch ohne das bereits veröffentlichte erste WoldemarFragment lesen könne, wie man auch die »Geschichte der redenden Personen in den Gastmalen [sic] und Gesprächen des Xenophon und Plato« nicht kennen müsse, »um von diesen Werken Gebrauch zu machen«. Diese kanonischen Texte der griechischen Antike sind interessanterweise ihrerseits, ununterscheidbar, »philosophisch-literarisch«. Friedrich Heinrich Jacobi: Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch. In: JWA 7,1, S. 118‒204, hier S. 118 Anm. 1. 6 Die Bedeutung Jean-Jacques Rousseaus, der zugleich als Vordenker der Französischen Revolution und ihr Kritiker, als Philosoph der Aufklärung wie als deren schärfster Gegner gelesen werden kann, für Jacobis Denken und Schreiben ist offensichtlich kaum zu überschätzen, vgl. die Fülle von Nachweisen bei Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998. 7 Vgl. zur Dokumentation der erhaltenen oder mit Sicherheit nachweisbaren Kant-Bestände Friedrich Heinrich Jacobi: Dokumente zu Leben und Werk. Bd. 1,1: Die Bibliothek Friedrich Heinrich Jacobis. Ein Katalog. Hg. von Michael Brüggen, Heinz Gockel und Peter-Paul Schneider. StuttgartBad Cannstatt 1989, S. 199–205.

Briefdialoge und Gesprächsmitschriften | 7

Zwischen den frühen und den späteren Romanfassungen liegt somit auch Jacobis eigentlich stets zu bedenkende intensive Lektüre und Kommentierung der sukzessive erscheinenden Schriften Kants. So ist beispielsweise das erhaltene Exemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft aus Jacobis Bibliothek mit einer Reihe von Anstreichungen, Glossen und Marginalien mit Bleistift und in roter Farbe versehen, die dokumentieren, wie aus einer aneignenden und so gleichsam per definitionem affirmativen Lektüre im Schreibprozess des Annotierens eine zunehmend intensivere schriftliche Auseinandersetzung mit Kants Thesen und ihren Folgerungen wird.8 Und entsprechend sind Allwill und Woldemar auch nicht die Titel für je einen Roman oder für je einen Roman, sondern bezeichnen schubweise Veröffentlichungen von realen und fiktiven Konvoluten von Aufzeichnungen und Notizen, wie sie der erste Titel des sogenannten ersten Romans Eduard Allwills Papiere im ununterscheidbaren Doppel von buchstäblicher und metaphorischer Rede, von Material und Medium, zutreffend benennt. Leserinnen und Leser, die mit diesen Papieren erstmals in Gestalt eines gedruckten Zeitschriftenbeitrags konfrontiert waren, konnten womöglich nicht genau erkennen, ob sie es mit einer der typischen Herausgeberfiktionen des literarischen 18. Jahrhunderts zu tun hatten, oder ob sie tatsächlich die Briefe eines real existierenden Mannes mit dem sprechenden Namen Allwill lasen. Dieser Intellektuelle von einigem Charisma, der, wie sein Name anzeigt, höchstens den Fehler hat, nach Anlage und Temperament zu viel, nämlich alles zu wollen, hat die Zeitgenossen nicht zu Unrecht an den jungen Johann Wolfgang Goethe denken lassen, mit dem Jacobi bis zum Woldemar-Zerwürfnis 1779 eine herzliche, teils empfindsamhochgespannte (Brief-)Freundschaft unterhielt.9 Jacobis erste Veröffentlichung eines Allwill-Konvoluts geschieht zudem in enger zeitlicher Nähe zum Erscheinen von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther und dessen baldiger europaweiter Berühmtheit.10 Denn erstmals wurde ein Paket von fünf Briefen in der Iris

|| 8 Das Exemplar aus Jacobis Bibliothek ist heute im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin: Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft. Zweyte hin und wieder verbesserte Auflage. Riga 1787, Libri impr. cum notis mss. Oct. 16. Vgl. dazu eingehend Cornelia Ortlieb: Anstreichen, Durchstreichen. Das Schreiben in Büchern und die Philosophie der Revision bei Friedrich Heinrich Jacobi. In: Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion. Hg. von Mona Körte und Cornelia Ortlieb. Berlin 2007, S. 247–270 und das Kapitel »Beschriebene Bücher« in: Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), S. 309–413; zur Kant-Bearbeitung vgl. ebd., S. 345–379. 9 Dafür ist besonders der frühe Briefwechsel beider aufschlussreich, vgl. Briefwechsel zwischen Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. von Max Jacobi. Leipzig 1846; zur Krise nach der ›Ettersburger Kreuzigung‹ eines Woldemar-Exemplars durch Goethe vgl. auch Cornelia Ortlieb: »Eine schimpfliche und schändliche Execution«. Goethes Revision von Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar (1779). In: Kodex. Internationale Buchwissenschaftlichen Gesellschaft 3 (2013), S. 41–60. 10 Vgl. zur mehr als zeitlichen Nähe von Werther und Allwill die minutiöse und detailreiche Rekonstruktion von Carmen Götz in JWA 6,2, S. 264–270.

8 | Cornelia Ortlieb

im September 1775 veröffentlicht; herausgegeben wurde die neue Zeitschrift von Johann Georg Jacobi, dem älteren Bruder und schon etablierten Dichter der Empfindsamkeit, und Wilhelm Heinse, der zwölf Jahre später selbst mit dem Briefroman Ardinghello als Schriftsteller allgemein bekannt werden sollte.11 Unverändert nachgedruckt wurden diese Texte ein halbes Jahr später im Teutschen Merkur, dessen Juli- und Dezember-Heft jeweils weitere Papiere brachten.12 Für diese Sammlungen wie für die Veröffentlichung im ersten Band der Werkausgabe von 1781 gilt jedoch gleichermaßen, dass sie keine Werke im Sinne einer postulierten Einheit, Geschlossenheit und Ganzheit darstellen. Sie wurden vielmehr von Jacobi gekürzt (für den Band Vermischte Schriften von 1781), ergänzt und um die »Zugabe« von eigenen Briefen vermehrt (für die Fassung von 1792), und mehrfach mit neuen Zueignungen, Vorreden und Titeln versehen.13 Dabei sind die kleinen Briefsammlungen in gewisser Weise durchlässig oder porös: Im Aprilheft des Teutschen Merkur sind sie durch insgesamt sechs kleine Gedichte von Heinrich Stamford und Klamer Schmidt gerahmt, die auch die typische Überblendung von Natureindruck und Empfindung in den ersten Allwill-Briefen vorbereiten. Die Briefe und Gedichte werden zudem indirekt kommentiert durch einen nachfolgenden Text über Hans Sachs’ Poetische Sendung, unterzeichnet von »Göthe«, mit dem Vers »Hab oft einen dumpfen düstern Sinn«, der das zentrale Thema der Allwill-Papiere, die drohende lähmende Melancholie, spiegelt.14 Noch in der 1812 begonnenen Werkausgabe, die er eröffnet, ist der Briefwechsel Teil einer Serie womöglich kontingenter Texte: Die Sammlung Allwills ist gleichsam ergänzt um die seines Autors, mit insgesamt elf Briefen Jacobis an Wilhelm Heinse, Johann Georg Hamann und andere aus den Jahren 1780–1785, in denen keine Varianten der

|| 11 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. In: ders.: Iris. Vierter Band. Drittes Stück. Düsseldorf 1775, S. 134–164; Johann Jacob Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert. Bd. 1. Lemgo 1787. 12 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. In: Der Teutsche Merkur. Zweytes Vierteljahr 1776, S. 14–75; Drittes Vierteljahr 1776, S. 57–71; Viertes Vierteljahr 1776, S. 229–262. 13 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwill’s Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Bd. 1. Königsberg 1792. Ein zweiter Band ist nie erschienen; die »Nachschrift im Jänner 1812« markiert die Lücke mit dem Hinweis, als Ersatz für den »zweyte[n] Teil des Allwill« solle die neue »Sammlung« der Werkausgabe von 1812 fungieren: »Es wird […] die gegenwärtige Sammlung aller meiner Schriften, der schon gedruckten, die ich der Erhaltung, der ungedruckten, die ich der Mittheilung werth geachtet, mancherley Ersatz darbieten.« Friedrich Heinrich Jacobi: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Bd. 1: Allwills Briefsammlung. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Leipzig 1812, S. XXI. 14 Heinrich Wilhelm von Stamford: An ein Veilchen. In: Der Teutsche Merkur. Zweytes Vierteljahr 1776, S. 9f.; Klamer Eberhard Karl Schmidt: An Thais. In: ebd., S. 10; Ders.: An ebendieselbe. In: ebd., S. 11; Ders.: An die Wiese bey *. In: ebd., S. 12; Johann Wolfgang Goethe: Erklärung eines alten Holzschnitts, vorstellend Hans Sachs Poetische Sendung. In: ebd., S. 75–82.

Briefdialoge und Gesprächsmitschriften | 9

ersten Papiere veröffentlicht worden waren.15 In diesem ersten Band ist zudem direkt hinter den Allwill-Texten eine Zugabe zu finden, das Sendschreiben an Erhard O von 1791, das interessanterweise in der Forderung nach einer noch ausstehenden »Kritik der Sprache, die eine Metakritik der Vernunft sein würde«, gipfelt und somit offensichtlich Kants epochales Projekt – und Buch – einer Kritik der reinen Vernunft zitiert und zumindest rhetorisch überbietet.16 Der Effekt solcher Zugaben und Ergänzungen lässt sich seit Derridas entsprechenden Überlegungen innerhalb einer eigenen ›Logik der Supplementarität‹ fassen: Sie leisten, am Rand des Textes, einen notwendigen und gerade nicht marginalen Beitrag zur Sammlung der Allwill-Briefe im Paradox, diese als Werk erkennbar zu machen, aber zugleich als ergänzungsbedürftig, womit die Vorstellung vom einen, mit sich identischen und abgeschlossenen Werk zugleich bestätigt und dekonstruiert wird. Derrida spricht mit einem unübersetzbaren Wortspiel vom »Parergon, diese[m] Supplement außerhalb des Werkes (ce supplement hors d’œuvre)«.17 Wörtlich übersetzt ist das Parergon somit ›außerhalb des Werks‹, aber da in der französischen Speisenfolge derselbe Ausdruck für die Vorspeisen benutzt wird, ist zugleich eine zeitliche und kausale Vorstellung mit diesem ›Außerhalb‹ verbunden, das man – wie den Paratext als die ›Schwelle‹ oder den ›Korridor‹ in Gérard Genettes Konzept des »Beiwerks zum Buch« – zunächst überschreiten oder durchqueren muss, um dann zum ›Inneren‹ zu gelangen.18

1 Im ›Inneren‹ der rudimentären Erzählung ermöglicht auch das Allwill-Gefüge, wie die englischen und französischen Variationen der Gattung im 18. Jahrhundert und namentlich Goethes Werther, in der Folge der Briefe die (fiktive) Selbstaussprache eines melancholischen Gemüts mit den Mitteln der literarischen Empfindsamkeit, hier allerdings ohne die für das Schicksal Werthers entscheidende tragische Liebesunmöglichkeit. Dabei verkörpert auch Eduard Allwill wie seine Vorgänger oder Vorbilder im europäischen Briefroman das Problem der Verführung und der Verführbarkeit, und er ähnelt ihnen als genialisch hochfahrender und moralisch etwas

|| 15 Vgl. Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 1 (s. Anm. 13). 16 Ebd., S. 253. 17 Jacques Derrida: Parergon. In: Ders.: Die Wahrheit in der Malerei. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1992, S. 31–176, hier S. 75. 18 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 2001.

10 | Cornelia Ortlieb

bedenklicher Held.19 Anders als bei Richardson oder Rousseau gibt es bei Jacobi allerdings fast keine erzählte Handlung; es geht vielmehr offensichtlich um eine bestimmte Konstellation und auch nur indirekt um deren Konfliktpotential. Beibehalten ist aber der für englische und französische Briefromane des 18. Jahrhunderts typische perspektivierte Zugriff auf das vorgeblich unverstellt und unmittelbar ausgesprochene Innere verschiedener Personen. Leserinnen und Leser sind somit gleichermaßen Voyeure und Lauscher, aber genau diese Position ist auch in die Erzählung um die Briefsammlung herum eingefügt, denn dort wird das zunächst verborgene Briefmaterial immer nach empfindsamem Muster im Kreis der Freunde und Freundinnen publik gemacht, nämlich gleichermaßen (fiktiv) zu sehen und zu hören gegeben. Dies geschieht durch die Schilderung des rituellen Vorlesens von Briefen und Brief-Ausschnitten, das häufig in freier Natur geschieht, und durch ihr ausführliches Zitat für ›uns‹, gleichsam zum Mithören und Mitlesen. Wiederum ein Paratext, nämlich das Vorwort zum Allwill-Band von 1792, demonstriert zudem, dass durch das ununterscheidbare Nebeneinander von real existierenden Briefpartnern und ihren fiktiven Doppelgängern die »Leser«, die als »Zeitgenossen« sozusagen per definitionem »Feinde aller Dunkelheit« sind, sich hier »von neuen Dunkelheiten ganz umgeben [finden]«.20 Diese Unklarheiten animieren in der antizipierten Lesesituation zu Fragen der »Leser«: »Sie fragen: Wer ist Eduard Allwill? Lebt er oder ist er todt? Wo hat er gelebt? Wenn er noch am Leben ist, wo hält er sich auf?«21 In einer Art realistischem Fehlschluss zielen diese Fragen auf die Beglaubigung einer historisch realen Person, aber auch der Status der Briefe wird so buchstäblich fragwürdig: »Wie bekam er [Allwill] nur seine eigenen Briefe wieder in die Hände? Wie brachte er die übrigen in seine Gewalt? Was will er mit ihrer Bekanntmachung? Woher seine Verbindung mit dem Herausgeber?«22 Noch diese fiktiv realen Leser des Jahres 1792 fragen somit, sechzehn Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Allwill-Papiere, nach deren Herkunft und dem Zweck ihrer Veröffentlichung, obgleich jedem aufgeklärten Leser eben solche Briefsammlungen und ihre Fiktionalisierungen als überaus beliebtes Genre der erzählenden Literatur längst vertraut sein müssten. Der Witz dieser vorgeblichen Leserreaktionen ist somit ein anderer, wie schon der Sperrdruck der Frage nach der Bekanntmachung deutlich macht: Offensichtlich geht es speziell um den Umgang mit diesen besonderen Papieren, um den Brief als Medium mit einer spezifischen Materialität, der gleichermaßen »Ereignis und Ob|| 19 Vgl. zu wichtigen Details des Textes, seiner Genese und seiner Deutung die neue kritische Ausgabe Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Bd. 6,1: Romane I. Eduard Allwill. Hg. von Carmen Götz und Walter Jaeschke. Hamburg 2006 und den reichen Kommentar: Jacobi: Werke. Bd. 6,2 (s. Anm. 10). 20 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Briefsammlung. In: ders.: Werke. Bd. 6,1 (s. Anm. 19), S. 85–244, hier S. 88. 21 Ebd. 22 Ebd.

Briefdialoge und Gesprächsmitschriften | 11

jekt« ist und um 1800 noch weitgehend unklaren rechtlichen Bestimmungen unterliegt.23 Es liegt somit nahe, einerseits an eine der großen zeitgenössischen Briefstreitigkeiten zu denken, an der Jacobi auch maßgeblich beteiligt ist, die Auseinandersetzung um das Brief-Eigentum Johann Ludwig Wilhelm Gleims, die sowohl die womöglich unbefugte Sammlung als auch die Veröffentlichung der Briefe von Freunden betraf. Die ›Freundschaftsbriefe‹ mehrerer Jahrzehnte hatte Gleim seiner Bibliothek in Halberstadt eingegliedert, indem er sie interessanterweise selbst zuvor durch Bindung und Hinzufügung von Einbänden in Buchformat gebracht hatte.24 Jacobi versuchte nach dem Tod Gleims 1803, in einem Briefwechsel mit Gleims Großneffen und Sekretär Wilhelm Körte, die Rückgabe seiner ›eigenen‹ Briefe zu erreichen, nämlich derjenigen, die der unterdessen verstorbene Wilhelm Heinse ihm geschickt hatte – und reagierte mit Unverständnis und Erbitterung auf Körtes Weigerung, ihm diesen Teil von Gleims ›Erbe‹ auszuhändigen.25 Andererseits ist es ebenso naheliegend, eine bislang eher weniger beachtete Abhandlung Jacobis zu betrachten, die ihrerseits als Brief konzipiert ist und bereits im Titel die Fülle der angesprochenen Fragen erkennen lässt: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden?, im deutschen Schicksalsjahr 1806 in Buchform veröffentlicht.26 Zentrales Thema des Textes ist neben der neuerlichen Diskussion um die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Veröffentlichung von Freundschaftlichen Briefen, wie der umstrittene Briefwechsel, den Gleim mit Samuel Gotthold Lange und Johann Georg Sulzer 1746 herausgegeben hatte, programmatisch betitelt war, die Frage der Vertraulichkeit und des Vertrauens. Mit geringer Übertreibung kann man die gesamte Abhandlung als eine eigene Theorie des Vertrauens und der Freundschaft bezeichnen, die auf 120 Buchseiten als Fallgeschichte gefasst ist, samt einer einleitenden

|| 23 Mit dem zitierten Doppeltitel sind die vielen instruktiven Beispiele und Untersuchungen der Frankfurter Ausstellung und Tagung aufgerufen, vgl. Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis und Objekt. Ausstellungskatalog. Frankfurt a. M., Basel 2008; dies. (Hg.): Der Brief – Ereignis und Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a. M., Basel 2010. 24 Vgl. zur gesamten Geschichte dieser Auseinandersetzung die grundlegende Studie Heinrich Mohr: »Freundschaftliche Briefe« – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 14–75; zum Streit und zur Diskussion um die Veröffentlichung von Gleims Briefwechsel von 1746 und ihren Implikationen vgl. auch Uwe Hentschel: »Briefe sind Spiegel der Seelen«. Epistolare Kultur des 18. Jahrhunderts zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. In: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 183–200. 25 Vgl. zu den Details Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), S. 105–112. 26 Friedrich Heinrich Jacobi: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden? Eine Gelegenheitsschrift. Leipzig 1806. Mit der napoleonischen Besetzung der deutschen Länder einher ging auch eine Reform des Rechts bzw. die Einführung des Code Civil, so dass bestimmte Rechtsfragen tatsächlich quasi tagesaktuell waren.

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Polemik über die »zunehmende Unsitte eines leichtsinnigen und ruchlosen Gemeinmachens vertraulicher Briefe von Lebendigen und Verstorbenen«.27 Mit der neu eingeführten Kategorie der »Vertraulichkeit« stellt die Schrift, die keinen Eingang in die Werkausgabe gefunden hat, ein interessantes Seitenstück zu Jacobis erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Frage der Gewissheit dar, dem zentralen Gegenstand und Thema seines Philosophierens.28 Zugleich rekurriert der Text der Brief-Abhandlung aber mit dieser Diskussion auf eine gelingende Praxis, deren Vorgängigkeit vor der diskursiven Entfaltung moralphilosophischer oder ethischer Begriffe betont wird: Man weiß eben, so der Einsatz des polemischen Textes, »daß es schändlich sey, fremde Briefe zu erbrechen; erbrochene, wenn man sie findet, heimlich zu lesen; verwahrlost angetroffene Brieftaschen vorwitzig zu durchsuchen«.29 Man weiß ebenso, dass es nicht angebracht ist, in vorübergehend leeren Zimmern »sich offenliegenden Skripturen zu nähern, anstatt sich geflissentlich von ihnen zu entfernen«, und von diesem allgemein verbreiteten Wissen legt die Schamröte des Ertappten beredtes Zeugnis ab, mithin ein natürliches und nicht für Täuschung und Verstellung anfälliges Zeichen.30 Jacobis zweiter ›Roman‹, Woldemar, die veränderte und erweiterte Fassung des vormals bezeichnenderweise Freundschaft und Liebe betitelten Fragments von 1779, die zusammen mit dem Kunstgarten von 1781 den ›Roman‹ von 1794 ergibt, hat bereits die (fiktive) Briefsammlung in ein Gesprächsnotat überführt, das seinerseits über weite Strecken die Lektüre von Briefen zum Gegenstand hat.31 Weitere Briefe notieren die Gespräche, in denen Briefe erörtert wurden, die selbst andere Gespräche notierten, und auch diese Briefe werden in der kleinen Gemeinschaft des Freundeskreises verlesen und besprochen. Selbst der philosophische Diskurs wird, wie hier noch zu zeigen sein wird, gleichsam aus der Schrift zurückgeholt über die Zwischenstufe des Exzerpts, das als Vorlage für Woldemars improvisierte Kollegs dient. Die äußerst reduzierte Romanhandlung auf immerhin annährend fünfhundert Buchseiten wird durch einen Konflikt organisiert, der nur in einem äußerlich folgenlosen Missverständnis besteht, einer Fehllektüre von Körperzeichen, so dass die Apotheose des Vertrauens am Ende eine Lösung für die gleichermaßen erkenntnistheoretisch wie ethisch und rhetorisch begründete Unzuverlässigkeit menschlichen Zeichengebrauchs verspricht. Wie auch bereits die Allwill-Papiere und ihre je

|| 27 Ebd., S. 1. 28 Vgl. dazu ausführlich und zur Überführung einer philosophischen Debatte um Gewissheit und Sicherheit des Erkennens in Strategien und Praktiken philologischer Vergewisserung Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1). 29 Jacobi: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht (s. Anm. 26), S. 1. 30 Ebd. 31 Diesen Satz und den folgenden Absatz übernehme ich nahezu wörtlich aus Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), S. 103.

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unterschiedlichen Ergänzungen und Rahmungen von 1776 bis 1812 deutlich machen, sind so Brief, Freundschaft und Vertrauen untrennbar verbunden.

2 Dass und wie mit den Mitteln des empfindsamen Briefromans zugleich neue Formen des Philosophierens etabliert werden können, zeigt bereits der Anfang des Allwill, der in allen Fassungen etwa gleich bleibt, in der ersten Fassung von 1775 im Brief einer der weiblichen Figuren mit dem womöglich sprechenden (englisch klingenden Namen) Sylli.32 Als eine Art weiblicher Werther schreibt sie an ihren Freund aus Kindertagen, Heinrich Clerdon, und ihr erster Brief beginnt mit der Beschreibung bekannter Zustände: Ja, mein Freund, noch alle Tage wird es öder um mich herum, und so setzt sich denn die sonderbare Gemüthsstimmung, die Sie an mir tadeln und wofür Sie keinen Namen wissen, immer fester. Ich soll Ihnen nennen, was es sey, das weder Milzsucht, Trübsinn, Menschen-Haß oder Menschen-Verachtung, noch sonst etwas ist, das sich aus Romanen oder Schauspielen bedeuten ließe, das aber mein Herz zugleich so warm und so kalt macht, meine Seele so offen und so zugeschlossen.33

Bemerkenswert ist hier weniger die Beschreibung dieses Zustands, die, wie das Zitat deutlich macht, auf etablierte Konzepte der Literatur-, Philosophie- und Diskursgeschichte der Melancholie zurückgreifen kann.34 Entscheidend ist vielmehr das diagnostische Paradox, das Sylli formuliert: Die einzigartige Gefühlslage, in der man sich je individuell befindet, bedarf für eine gelingende Zuschreibung des Anderen, der bestätigt, versichert, vergewissert; über sich selbst kann man somit nur im Dialog sprechen.35 || 32 Das Adjektiv silly wird heute eher im Sinn von dumm, blöd, albern, aber auch als Synonym für foolish, närrisch, gebraucht, wie die Melancholie als Krankheit in unterschiedlichen Kontexten auch um 1800 mit Narrheit bis zum Wahnsinn assoziiert werden konnte. Vgl. den Kommentar zur wenig später im Brief Syllis explizit genannten »Milzsucht« als Synonym für »Hypochondrie«, die wiederum in der Antike noch »Teil der Melancholie« war, in: Jacobi: Werke. Bd. 6,2 (s. Anm. 10), S. 346. 33 Jacobi: Eduard Allwills Papiere (s. Anm. 11), S. 136f. 34 Das Argument, dass Melancholie ein Diskurs ist, der sich selbst permanent zitiert, entfaltet Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, Weimar 1997; für die philosophie- und kulturhistorische Dimension des Themas ist nach wie vor unverzichtbar Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M. 1992. 35 Vgl. dazu ausführlicher Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), S. 147f.; weiterführend zur Diagnostik in Medizin und Literatur Wolfgang Schäffner: Die Zeichen des Unsichtbaren. Der ärztliche Blick und die Semiotik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Das Laokoon-Paradigma. Zeichen-

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In der neuen Zusammenstellung der Allwill-Fassung von 1794 wird dann vorgeführt, dass solche Aussprachen idealerweise in einem Kreis Gleichgesinnter stattfinden und das Ergebnis gelehrter Praktiken der Lektüre-Aneignung sind. Schon die früheren Allwill-Fassungen hatten, mehr oder weniger offensichtlich, die »Romane« und »Schauspiele« zitiert, auf die Sylli in ihrem ersten Brief selbst als Quellen und Varianten für ihren unnennbaren Zustand hinweist, und damit auch Autoren wie Shakespeare, Richardson und natürlich Rousseau als Verfasser des Modell-Romans Julie ou la Nouvelle Héloïse eingeführt. In einer programmatischen Note oder ›Nachrede‹ entfaltet der mit »F.« unterzeichnende (fiktive) Verfasser oder Herausgeber der Allwill-Papiere von 1776 eine Poetologie des »Styls« und der »Schreibart« im Zitat der Julie-Briefe Rousseaus in eigener Übersetzung. Unter anderem ist dort ein Dialogbeitrag aus Rousseaus Vorrede so zitiert und übersetzt: »›Ich beobachte, daß in einer sehr innigen Gesellschaft, die Schreibarten sich einander so nähern, wie die Charaktere, und daß wie die Seelen der Freunde sich vermischen, ebenso auch ihre Arten zu denken, zu empfinden, und sich auszudrücken, in einander fließen.‹«36 Ist somit auch hier schon die vermeintlich empfindsam-schwärmerische Selbstaussprache Syllis unmissverständlich literaturkritisch gerahmt, so geht es in der neu zusammengestellten Fassung von 1794 dezidiert um die Überführung von Gelesenem in Geschriebenes. Dieser Vorgang ist seinerseits im Briefwechsel der beiden Freundinnen Leonore und Sylli beschrieben: Eine junge Frau namens Clärchen sei, heißt es dort etwa, »in der Stadt«, wo sie »bis Montag bleiben wird, um für Clerdon verschiedenes abzuschreiben, was er nicht in andere Hände geben mag; und mit ihm, wie er hinzusetzte, zu überlegen und zu disputieren.«37 Die typographische Hervorhebung der beiden letzten Verben macht hier deutlich, dass schon das Abschreiben keine bloß mechanische Tätigkeit, sondern philosophische Arbeit ist.38 Entsprechend heißt es im Anschluss:

|| regime im 18. Jahrhundert. Hg. von dems., Inge Baxmann und Michael Franz. Berlin 2000, S. 480– 510; zur Ähnlichkeit von Syllis und Werthers Schreibweise Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie von La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 101. 36 Jacobi: Allwills Papiere (s. Anm. 12), S. 74. 37 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 1 (s. Anm. 13), S. 106. 38 Vgl. zum Gegensatz von Exzerpt und »Selbstdenken« Cornelia Ortlieb: ›Materielle Wahrheit‹. Zur Kritik des Exzerpierens und seiner Wiederentdeckung im späten 18. Jahrhundert. In: Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde. Hg. von Christoph Hoffmann und Caroline Welsh. Berlin 2006, S. 49–60; zur wechselhaften Geschichte des Exzerpierens und seiner Formate vgl. Helmut Zedelmaier: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten. In: Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung. Hg. von Hedwig Pompe und Leander Scholz. Köln 2002, S. 38–53; zum Zusammenhang von Lesen und Schreiben vgl. Élisabeth Décultot (Hg.): Lire, copier, écrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siècle. Paris 2003.

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Das ist nicht bloß zum Lachen mit dem Disputieren; beyde sind beständig an einander, und wer anfängt, das ist immer Cläre. Gewöhnlich mit einer Frage. Dann ist sie mit der Antwort nicht zufrieden, und fragt weiter; ist wieder, und noch einmal, und immer weniger zufrieden: damit ist der Streit im Gange, der schon mehr als einmal Zank geworden ist.39

Ein Streit allerdings, wie es weiter heißt, den Clerdon »für keinen Preis zu seiner Übung missen möchte.«40 Folgerichtig lautet das kollektive Fazit: »Wir alle stehen uns sehr wohl bey diesem Unfrieden, und loben uns das Abschreiben, aus dem er nach und nach entstanden ist.«41 Der emanzipatorische Zug dieser Passage ist unübersehbar: Nicht die Vervollkommnung der weiblichen Bildung durch einen verwandten Mann, wie bei Goethes Anleitung der Lektüren seiner Schwester Cornelia, und nicht die Verbesserung der technischen Fertigkeiten einer schreibenden Frau, wie bei Wielands Eingriffen in Texte Sophie La Roches, ist hier vorgeführt, sondern die gleichberechtigte Auseinandersetzung in der Aneignung philosophischer Argumente. Eine berühmtberüchtigte zeitgenössische Gegenposition formuliert etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, demzufolge Frauen »für die höheren Wissenschaften, die Philosophie und für gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern, nicht gemacht [sind]«.42 Jacobis literarischer Entwurf einer neuen Geschlechterordnung des philosophischen Schreibens und Disputierens überbietet aber auch noch Rousseaus Vorschläge zur Erziehung, wonach denkende Frauen ihren Ehemännern bessere Gesprächspartnerinnen und ihren Kindern bessere Erzieherinnen sind.43 Denn Zweck und Ziel des zeitgenössisch umstrittenen (weiblichen) Exzerpierens ist somit im Allwill-Kontext nicht die Kopie selbst oder das Kopieren von Wissensinhalten, sondern eine hier dialogisch verdoppelte Überprüfung dessen, was Philosophie überhaupt und je konkret sein kann.44 Der hervorgehobene »Streit« als Endzweck des Abschreibens ist, wie die akademischen Formate Vorlesung, Disputation und Dialog, aber auch eine besondere Instanz der Mündlichkeit, die durch verschiedene Kontrollelemente der Schrift angenähert ist. Potenziert wird diese in der Schrift vorgeführte Aneignung von Schrift in mündlicher Auseinandersetzung dann folgerichtig dadurch, dass eben diese Dispute in den Briefen als Mitschriften und Exzerpte zitiert werden. Dabei sind de-

|| 39 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 1 (s. Anm. 13), S. 106. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Diesen Zusatz zu § 166, der in der ersten Ausgabe von Hegels Rechtsphilosophie (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821) noch fehlt, zitiert interessanterweise bereits Karl Mager: Brief an eine Dame über die Hegelsche Philosophie. Berlin 1837, S. 2. 43 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Paderborn u. a. 1998, S. 392–429. 44 Vgl. zu dieser Verhandlung des Exzerpts in beiden ›Romanen‹ und zu Jacobis eigenen Praktiken des Abschreibens und Abschreibenlassens Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), bes. S. 133– 234.

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ren Inhalte, so tagesaktuell wie klassisch, Grundfragen des philosophischen Denkens, wie etwas das Verhältnis von Körper und Seele, die Empfindungen, also die Frage der Erklärbarkeit von sinnlichen Wahrnehmungen und danach, was ihnen in der sogenannten wirklichen Welt entspricht, allgemein demnach Fragen von Idealismus und Realismus, um den bereits erwähnten Titel des philosophischen Dialogs Jacobis von 1787 zu zitieren. Entscheidend ist aber, dass diese Fragen immer im Rückgriff auf Autorennamen, Texte oder gar spezielle einzelne Buchausgaben diskutiert werden. So fragt etwa Allwill die gelehrte Abschreiberin Cläre nicht nur allgemein, ob sie »mit Plato bekannt sey?«, sondern will genauer wissen, ob sie den Dialog kennt, in dem die Seele als geflügelt beschrieben ist – Platons Phaidros, der ungenannt bleibt – oder, noch konkreter, ob sie den Dialog Ion kennt oder den Theages?45 Entsprechend sind die vorgeblichen Mitschriften der im Folgenden weit ausgebreiteten Dispute eigentlich Exzerpte aus diesen zitierten Schriften – oder Exzerpte zweiten Grades, als solche der fiktiven Figuren des Freundeskreises fingiert, die reale Leserinnen und Leser somit als (mindestens) dritte lesen.

3 Eben diese Erzählformen, in denen Lesevorgänge perpetuiert und Schriften in mündlich vermittelte andere Schriften überführt werden, sind in den WoldemarTexten Jacobis noch vermehrt und verfeinert. Woldemar selbst wird im Lauf der sparsamen Erzählung von einem improvisierenden Kenner der philosophischen Tradition zu einem professionellen Leser und Virtuosen des Exzerpts. Doch diese Entwicklung war auch bereits in der schubweise veröffentlichten Variante von 1779 und dem zwei Jahre später erschienenen Fragment Der Kunstgarten so angelegt, denn an beiden Orten wird schon die zeitgenössische Debatte über den Materialismus namentlich französischer Prägung geführt und zitiert – und im Zitieren geführt. Allerdings mussten dort einzelne Lehrsätze in polemischen Paraphrasen, wenige Namen und vereinzelte Anspielungen genügen, während in den beiden erweiterten Allwill- und Woldemar-Fassungen von 1794 und 1796 das Gespräch als neues Medium einer einlässlichen philosophischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und ihren antiken Quellen genutzt wird. Briefe werden in dieser späten Woldemar-Variante eigentlich nur dann verfasst, wenn die rudimentäre Erzählung es verlangt, weil nicht alle Figuren der Handlung am selben Ort sind.

|| 45 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 1 (s. Anm. 13), S. 135. Vgl. ausführlich Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi (s. Anm. 1), S. 206ff.

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Bei näherem Hinsehen erweisen sich jedoch die vermeintlichen (fiktiven) Dialoge als philosophische Exzerpte, die ihrerseits, wie schon im späten Allwill, eine weiträumige Reflexion auf die Eigenart gesprochenen und geschriebenen Philosophierens eröffnen. Praktiken des Philosophierens sind aber hier wieder als Verflechtung von Schreibakten und Leseaufführungen gezeigt: Im Kreis von Brüdern und Freunden, zu dem auch wieder wie selbstverständlich einige Frauen gehören, hat das wiederholte gemeinsame Lesen von Schriften eine auch dramaturgisch besonders herausgehobene Bedeutung. Dabei ist Woldemar, der auch problematische Held, bemüht, seinen Freunden auf den Spuren Rousseaus, aber gegen dessen missverständliche Kritik moderner Zivilisation, die ethischen Grundlagen richtigen Lebens beizubringen. Diese geradezu klassischen popularphilosophischen Belehrungen werden hier durch umfangreiche Gespräche im Kreis der Familie und der Freunde ergänzt, mit einer neuen Besonderheit, den explizit so genannten Vorlesungen Woldemars.46 Hatte sich der philosophierende Allwill schon bescheiden als Schüler des Meisters Platon bezeichnet, so sieht man Woldemar beispielsweise beim Tischgespräch mit einem Engländer, der aus Edinburgh angereist sein soll, dem »Zögling«, wie es heißt, eines seiner »Lieblingsphilosophen«, der explizit genannt wird: »Ferguson«, also der schottische Aufklärungsphilosoph Adam Ferguson.47 Interessanterweise korrigiert Woldemar selbst diese Rede vom »Zögling«, indem er scheinbar ohne Grund präzisiert, ihm sei der »Schüler« schon »genug«, wenn er »nicht bloß ein Zuhörer des großen Mannes ist«.48 Das entspricht der Haltung der beiden titelgebenden Protagonisten in den ›Romanen‹ Jacobis: Beide erarbeiten sich autodidaktisch die Philosophiegeschichte in sammelnder Lektüre, und sie sind dabei sozusagen für immer Lernende. Eben durch diesen Modus der Aneignung verändert sich aber auch das Verhältnis von Lehrer und Schüler, denn so zusammentragen oder kompilieren kann letztlich der Schüler ebenso gut wie der Lehrer oder Meister.49

|| 46 Plausibel ist es, die Popular – nicht Populär – Philosophie mit einer bestimmten Präferenz der Darstellung zu erläutern: »Während die Schulphilosophie auf Mittel und Instrumente des wissenschaftlichen Diskurses zurückgreift (Begründung durch Deduktion, Syllogismus, Beweis), präferiert die Popularphilosophie Mittel zur ›Unterhaltung‹ des Lesers wie die Dialogform, Gleichnisse, rhetorische Figuren etc.« Christoph Binkelmann, Nele Schneidereit: Einleitung. In: Denken fürs Volk? Popularphilosophie vor und nach Kant. Hg. von dens. Würzburg 2015, S. iii–xix, hier S. iv. Freilich kann ein solcher Unterschied im Hinblick auf die ›literarischen‹ Mittel von Dialog, Gleichnis und rhetorischer Figur auch nur graduell sein, wie nicht nur Platons Dialoge demonstrieren. 47 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 1 (s. Anm. 13), S. 140. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch wird zwischen Engländern, Iren und Schotten häufig noch nicht genau unterschieden. 48 Friedrich Heinrich Jacobi: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Bd. 5: Woldemar. Hg. von Friedrich Roth. Leipzig 1820, S. 68f. 49 Michael Cahn schreibt über den Unterschied zwischen einer »theoretischen« (lehrbuchartigen) und einer »materialen« (Gemeinplätze sammelnden) Rhetorik: Der »Kompilator« erbringt »eine Leistung, die von jedem seiner Schüler prinzipiell auch erbracht werden könnte. Der Kompilator ist

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Einmal mehr wird so der emanzipatorische Zug dieser Texte deutlich, und womöglich ist entsprechend die Neufassung der Text-Sammlungen insgesamt eher von solchen demokratischen Impulsen her motiviert als von publikationsstrategischen oder poetologischen Überlegungen. Immerhin demonstrieren sie im Zusammensein der philosophierenden Freunde und Frauen auch wie selbstverständlich die Erreichbarkeit von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.50 Es geht also in Woldemars Gespräch mit dem Gast auch um die Gleichberechtigung solchermaßen eigenständig Lesender und Schreibender mit denjenigen, die, klassisch, ihre philosophische Unterweisung im mündlichen Gespräch mit einem Meister bekommen haben, und das macht der Text auch explizit: Woldemar erzählte, dass Fergusons erstes Werk, sein Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Epoche in seinem Leben gemacht hätte: es hätte ihn zum Wiederlesen der Alten neu begeistert; ihn auf eine Höhe der Betrachtung gestellt, und überhaupt ihn so erweckt, daß er diesen Zeitpunkt noch immer wie den Uebergang in ein besseres Daseyn betrachte.51

Anders als in der Urform solcher Erweckungserlebnisse bei Augustinus und deren Nachahmungen, ist es hier jedoch nicht das Erlebnis des einen Buches (eigentlich der Bibel), das in einem besonderen Moment zu einem sündigen Leser spricht und ihn zur Umkehr bewegt, sondern das Ereignis ist in doppeltem Sinn Anstoß und Ergebnis sammelnder Lektüre. Denn die metonymisch bezeichneten Bücher »der Alten« sind eine unbestimmte Menge, diese Lektüre ist Wiederlesen und somit ist das alles verändernde Buch eigentlich die Eröffnung einer ganzen Bibliothek.

|| in erster Linie, wie wir alle, ein Leser. Er ist ein sammelnder Leser.« Michael Cahn: Hamster: Wissenschafts- und mediengeschichtliche Grundlagen der sammelnden Lektüre. In: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Hg. von Paul Goetsch. Tübingen 1994, S. 63–77, hier S. 70. 50 Jacobis Interesse an der französischen Literatur und Philosophie und seine Beherrschung der Sprache für Lektüren, Korrespondenzen, Zitate und Übersetzungen machen eine solche Nähe auch philologisch überprüfbar. Bedenkenswert bleibt weiterhin der enge Zusammenhang zwischen der Formulierung revolutionärer Prinzipien und den sprachlichen Möglichkeiten des Französischen, das etwa keine Unterscheidung zwischen Mensch und Mann kennt und entsprechend auch (nur) bestimmte Formen der ›Brüderlichkeit‹ erlaubt, vgl. das Kapitel »›In menschlicher Sprache: Die Brüderlichkeit‹« in: Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2000, S. 304–361. Mit »langue d’homme«, der »Sprache des Menschen« oder »des Mannes«, ist in diesem Titel-Zitat Jules Michelets ein Problem solcher (Un-)Übersetzbarkeit angezeigt, vgl. ebd., S. 304 und die Anmerkung des Übersetzers ebd., Anm. 1. 51 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 5 (s. Anm. 48), S. 69. Zitiert ist Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. Dublin 1767. Vgl. zur Rezeption und historischen Bedeutung dieser Philosophie Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008.

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Interessanterweise ist diese Bibliothek im Verlauf des Romans ununterscheidbar fiktiv und real ständig präsent, denn wie das Zitat schon gezeigt hat, sind es ja fast vollständige bibliographische Angaben zu real existierenden Büchern und Autoren, die hier beglaubigen, was Woldemar erzählt oder dann eben auch bald korrekt zitieren wird. Im selben Gespräch geht es unter anderem noch um den schottischen Aufklärungsphilosophen Thomas Reid und, einmal mehr, um Rousseau, und selbstredend auch um Ferguson. Insgesamt verteidigt man, was der mit am Tisch sitzende alte Philister Hornich uneinsichtig als »windige und grillenfängerische Tugendlehre […], die aus nichts käme, und zu nichts führte« bezeichnet.52 Indem in der dialogischen Abwägung auf die Frage nach deren Herkunft eine gleichermaßen pragmatische wie philologische Antwort gegeben wird, bringt die lebendige Unterhaltung der Freunde und Frauen gleichsam kompilierend einen ganzen Katalog von Fragen hervor, die sich alle dem Spektrum solcher Tugendlehren zuordnen lassen.53 Hier nimmt der vorgebliche Roman eine weitere entscheidende Wendung, denn nun sprechen Woldemar und Sydney, der Engländer, vermeintlich in eigenen Worten, zitieren aber tatsächlich wörtlich Aristoteles. Dieses Zitat ist auch doppelt als solches ausgewiesen, wenn etwa Sydney sagt: »›Die moralische Tugend unterscheide den Menschen von den Thieren; aber auch von den Göttern: die Heldentugend mache ihn den Göttern ähnlich‹«, mit indirekter Rede, aber auch mit einfachen Anführungszeichen innerhalb der doppelten der Dialogmarkierung.54 Wie an vielen solchen Beispielen im Roman deutlich wird, bedarf ein solches aus der Literatur erworbenes Wissen jedoch der wechselseitigen Vergewisserung im Gespräch, das seinerseits Erinnerung und Diskussion der Lektüre ist. So verbringt man in der Fiktion der Woldemar-Rahmenerzählung einen ganzen Abend mit der Erörterung des Begriffs Tugend, mit Zitaten von Joseph Butler, Plutarch, Edmund Burke und anderen, wie auch, mehr oder weniger direkt, Platon und Aristoteles. Mehr noch, sind es im ersten Teil des Buches noch eher unspezifisch eingestreute Zitate, so wird in engerer Verflechtung mit der Romanhandlung die aristotelische Nikomachische Ethik zum bedeutendsten zitierten Text. Denn nach dem zuvor glat|| 52 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 5 (s. Anm. 48), S. 74. 53 Kompiliert werden Grundprobleme der antiken und der modernen Ethik in einer Reihung, die dem fiktiven Gespräch entstammen soll: »Es entstand eine Reihe interessanter Fragen: über den Einfluß der Sitten auf die Meynungen, der Meynungen auf die Sitten; über beyder Verhältniß zu Tugend und Glückseligkeit. Man suchte zu entscheiden, worinn der ärgste Verfall der Sitten bestände. Man stritt über die Möglichkeit, einem ganz verdorbenen Volke wieder aufzuhelfen; über die Wahl und Zulässigkeit dazu dienlicher Mittel; über die Unvermeidlichkeit gewaltsamer Erschütterungen; über Heldengeist und Heldentugend.« Ebd., S. 75. Mit der »Unvermeidlichkeit gewaltsamer Erschütterungen« sind unmissverständlich auch die Revolutionen und Unabhängigkeitskämpfe des 18. Jahrhunderts angesprochen, neben der Französischen Revolution von 1789 etwa auch die englischen und amerikanischen. 54 Ebd., S. 76. Um diesen Zeichensatz so ähnlich wie möglich abzubilden, verwende ich hier für die erste (von drei) Zitierebenen ausnahmsweise die deutsche Fassung der französischen Guillemets.

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ten Fluss der Zitate, Referate, Kommentare und bibliographischen Hinweise in fortwährenden Gesprächen ist es nun eine Schilderung Woldemars von einer früheren seelischen Krise, die alles ändert: Als er zwischen Traum und Betäubung geschwebt sei, erzählt Woldemar, sei ihm damals eine Heldenschar erschienen, die tatsächlich seiner Plutarch-Lektüre entstammte, und er wusste sich plötzlich geheilt: »›Ich hatte zu innig jetzt empfunden, daß ich war, um noch einmal zu fürchten, daß ich aufhören könnte zu seyn‹*)«, sagt Woldemar.55 Doch mit Asterisk und Klammer ist eine Fußnote eingefügt, in der es heißt: »J’existois trop pour craindre de cesser d’être. Buffon« – und es folgt ein Kürzel von Buchstaben und Zahlen, das die korrekte bibliographische Angabe mit Seitenzahl zu Buffons Histoire Naturelle in der vierten Pariser Auflage ergibt, »Hist. Nat. T. III. p. 370. Ed. in 4. de Paris«.56 Woldemars Beschreibung des eigenen Zustands ist somit eine philologisch übergenau nachgewiesene Stelle aus Buffons Naturgeschichte, und er soll entsprechend »zum Andenken« an diesen »merkwürdigen Zeitpunkt seines Lebens« einen, wie es heißt, »gedrängten Auszug« aus dem rettenden Plutarch-Band verfasst haben, also ein verkürztes Exzerpt.57 Wie der Erzähler und fiktive Herausgeber lakonisch schreibt, »folgte eine Unterredung, wovon wir, nur in kurzen Sätzen, einige der Hauptresultate hier noch mittheilen wollen«,58 gleichermaßen also sozusagen ein »gedrängter Auszug«. Viel später, nach immerhin 270 Druckseiten des Romans, erinnert sich Henriette in einer neuerlichen Krise Woldemars an dieses bewährte Therapeutikum und schlägt vor, eben dieses Plutarch-Exzerpt nochmals zu verlesen, ohne Woldemar, der auch nicht gebraucht wird, denn »Biderthal [Woldemars Bruder] hat eine Ab|| 55 Ebd., S. 121. 56 Ebd. Die komplexe Geschichte des Begriffsfelds um Noten, Glossen, Marginalien und andere Formate paratextueller Ergänzung rekonstruiert Andréas Pfersmann: Éléments de sémantique historique du champ lexical de l’annotation. In: Archiv für Begriffsgeschichte 55 (2013), S. 19–38. Üblicherweise werden solche Praktiken freilich als Lektüretechniken und nicht als Schreibformen verstanden; die Grapheme sind dann »Zeugen, die über die tatsächliche Benutzung von Büchern Auskunft geben«, und »die Untersuchung paratextueller Elemente in historischen und modernen Autorenbibliotheken« soll »die Frage beantworten helfen, […] wie sie [die Autoren] mit dem eigenen Werk umgegangen sind, wie sie in intertextuellen Zusammenhängen Bücher anderer Autoren rezipiert haben«. Claudine Moulin: Am Rande der Blätter. Gebrauchsspuren, Glossen und Annotationen in Handschriften und Büchern aus kulturhistorischer Perspektive. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31 (2010), S. 19–26, hier S. 21 und S. 23. Auch die einzige Monographie zu Marginalien (am Seitenrand oder in Kopf- und Fußzeilen) untersucht erklärtermaßen »reader’s notes« in der englischsprachigen Literatur: Heather Joanna Jackson: Marginalia. Readers Writing in Books. New Haven, London 2001, S. 6. Vgl. Ortlieb: Papierfunde, Handschriften, Randglossen (s. Anm. 1), S. 290, Anm. 29. Vgl. zum in engerem Sinn literarischen Schreiben am Rand auch die Beiträge in: Bernhard Metz, Sabine Zubarik (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin 2008. 57 Jacobi: Jacobi’s Werke. Bd. 5 (s. Anm. 48), S. 121. 58 Ebd.

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schrift dieses Auszugs«, die Henriette sodann vorliest.59 Und nun wird der vorgelesene Text auch materialisiert, sozusagen als Exzerpt, zwei Mal in Anführungszeichen gesetzt, mit dem ersten Satz: »Ein großherziger Jüngling, Agis, König zu Sparta, sah mit tiefem Schmerz das Verderbniß, worin seine Mitbürger gerathen waren«,60 dann immerhin fünfundzwanzig Seiten Drucktext. Diese Lektüre, so die Erzählung weiter, weckt aber bei Dorenburg, dem Freund Woldemars, die Erinnerung an eine andere von Woldemar bei der ersten Plutarch-Vorlesung angeregte Lektüre, die der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Mit diesem Hinweis öffnet sich die nächste Ebene des Romans: Wir selbst werden plötzlich, wie schon zuvor in den einzelnen Zitaten angelegt, zu Leserinnen und Lesern, nun nicht mehr allgemein ›des Aristoteles‹ oder einzelner Sätze, sondern (quasi) exzerpierter Stellen aus eben dieser Nikomachischen Ethik, aus der absatzweise sentenzartige Sätze hintereinander gereiht sind. Und nun zitiert auch umgekehrt quasi Aristoteles seinen vormaligen Leser Woldemar, denn dessen weit zurückliegende Formulierungen zur Tugendlehre erweisen sich, verspätet, als teils wörtlich übereinstimmende Parallelstellen. Ein kleines Beispiel unter vielen möglichen muss hier genügen, in der üblichen Mischform aus wörtlichem Zitat und indirekter Rede: In der Reihe der expliziten Aristoteles-Zitate steht: »Alle Tugenden [...] wären vor ihren Begriffen, Vorschriften und Einsetzungen da; sie erzeugten diese erst. Von jenem bloß natürlichen unmittelbaren Daseyn der Tugenden ginge die Sittenlehre aus«.61 Doch fast mit denselben Worten hatte Woldemar, lange – oder dreißig Druckseiten – zuvor, im Gespräch der geselligen Runde gesagt: »So viel ist gewiß, daß sich Tugend nicht erklügeln läßt, und daß gute und edle Gesinnungen nur aus guten und edlen Trieben hervorgehen können.«62 Das entscheidende Wort ist hier, einmal mehr: gewiss. Denn wie schon die Allwill-Dispute gezeigt hatten, dass das Philosophieren auf dialogische Vergewisserung in einem Kreis von Freunden angewiesen ist, so werden hier ›wir alle‹ als Teil dieser Gemeinschaft solche, die lesen und wiederlesen und dabei auch, falls nötig, getröstet und geheilt werden können. Den therapeutischen Effekt solcher Lektüren konnten die Leserinnen und Leser von 1794 am eigenen Leib erfahren, denn ihnen waren noch in einem als Beylage überschriebenen Anhang seitenweise Zahlenkolonnen zur Verfügung gestellt worden, die Stellenangaben zu den im Text einmontierten Aristoteles-Abschriften. Wie der kleine Prosatext am Beginn der Zahlenangaben zum »zweyten Bande« der »bekannten Casaubonschen Ausgabe des Aristoteles« nachdrücklich versichert, sind hier jedoch nicht nur »Belege« dafür geliefert, »das, was Seite 210 dieses zweyten

|| 59 Ebd., S. 392. 60 Ebd., S. 393. 61 Ebd., S. 421. 62 Ebd., S. 191.

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Theils, und nachher bis Seite 243, als Lehre des Aristoteles vorgetragen wird, auch wirklich dieses großen Mannes sey«.63 Vielmehr sollen Zugänge zur eigenen fortgesetzten Lektüre eröffnet werden: Es gehört allerdings mehr dazu, als das Vergleichen mit der Urkunde durch Nachschlagen angewiesener einzelner, zerstreuter Stellen, um einen Auszug, der das Ganze einer Lehre, und vornehmlich den Zusammenhang der Begriffe, durch welchen sie besteht, darstellen soll, zu beurtheilen. Und darum hoffe ich, man werde über dem Nachschlagen [...] die erste Absicht des Nachschlagens unvermerkt vergessen, und sich ganz und allein an den großen Meister hangen.64

Solchermaßen als »Kuppler« zu agieren, schreibt der ungenannte Verfasser der Beylage weiter, »ist die höchste Beförderung, die ich mir als den Lohn meiner Arbeit wünschte«.65 Es ist also leicht, und wie Goethe leider sehr eindrucksvoll gezeigt hat, allzu leicht, die teils etwas pompöse, teils allzu gefühlige Rede des Romans zu kritisieren und zu verhöhnen.66 Und auch der Held in höchster seelischer Not ist bedauerlicherweise in Goethes witziger Parodie, die ihn am Ende nicht geheilt, sondern direkt zur Hölle fahrend zeigt, viel eingängiger als im Nachvollzug seiner Philosophie der Freundschaft, die Jacobis ›Roman‹ zugleich erzählt und, wie gezeigt, performativ ins Werk setzt. Es lohnt sich aber und wird sich immer lohnen, diese sogenannten Romane eben deshalb noch einmal zur Hand zu nehmen, weil sie buchstäblich uns alle ansprechen, als Lesende, Fragende, Denkende, aber auch als Bedrängte und vielleicht krisenhaft Erschütterte. Zudem zeigen sie mit der Erprobung literarischer Formen der Vergewisserung und einer neuen Form philologischer Gewissheit zugleich, was kein Anachronismus ist: Sie machen direkt nachvollziehbar, dass unser Denken und Fühlen das Ergebnis von Lektüren ist, mehr noch, von der jahrtausendealten Tradition einer Philosophie als Schreibart. Und sie bringen uns schließlich auch demjenigen näher, der sich in den Erzählungen der Briefsammlungen unverkennbar, aber verborgen in das Geschehen eingeschaltet hat: Wenn wir den philosophischen Dialog David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus aufschlagen, tritt uns, wie es heißt, im Schlafrock, unverkennbar Jacobi selbst, mit einem Buch in der Hand entgegen, eben derjenige, der im folgenden Gespräch mit einem Freund seine intellektuelle Biographie entfal-

|| 63 Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Zweyter Theil. Königsberg 1794, S. 285f. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 286. 66 Vgl. Text und Kommentar in Carl Schüddekopf (Hg.): Goethes Parodie auf Fritz Jacobis »Woldemar«. Weimar 1908; zu den Details dieser Schrift-Hinrichtung vgl. Ortlieb: »Eine schimpfliche und schändliche Execution« (s. Anm. 9); zur Produktivität von Buch- und Schriftvernichtungen vgl. Körte, Ortlieb (Hg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen (s. Anm. 8) und Mona Körte: Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit. München 2012.

Briefdialoge und Gesprächsmitschriften | 23

ten wird, in einer anderen Variante eines Gesprächsromans, zugleich realistischhandgreiflich und idealistisch-fiktiv. Dort erzählt er seinem Gesprächspartner und allen späteren Lesenden die Geschichte seines Lebens als Serie endloser, mäandernder Lektüren. Und das heißt, antik wie modern: Der Trost der Philosophie ist das Glück des unablässigen und potentiell unendlichen dialogischen Lesens und Schreibens.

Gudrun Schury

Goethe und Jacobi Szenen einer Ehe Vielverehrte Leserin! Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, Sie hießen wie Goethes frühe Liebe, das Mädchen von Sesenheim, und Sie fänden einen Brief folgenden Wortlauts in Ihrem Briefkasten: Friederice Fritzel wie ist dir! O du Menschenkind – steht nicht geschrieben: so ihr glaubtet, hättet ihr das ewige Leben! und du wähntest manchmahl, der Sinn dieser Worte sey in deiner Seele aufgegangen. Sey’s nun – geringer kann ichs nicht thun – deine Liebe wag ich dran – sonst 1 wär ich der heiligen Thränen nicht werth, die du […] an mein Herz weintest.

Und nun, ebenso geehrter Leser, stellen Sie sich bitte vor, Sie läsen Folgendes: Ach lieber, was Rath für mich, daß ich zu dir lange mit meiner Hand, mit meinem Blick? – Wort aus dem Herzen, du beklemmst nur noch mehr das Herz! – Aber du, mein Herz, was willst du? bist ja nicht geängstet, bist ja nicht traurig, liebst ja, bist ja seelig: so sey dann ruhig. Auf u ab geh’ ich nun wieder auf eben dem Boden, zwischen eben den Wänden u Thüren, wo ich zuerst dich lieb gewann; wo ich, nach unserer ersten Trennung dich – nicht wiederfand; wo ich […] dir nachsann, der Liebe pflegte im eigensten Innern meiner Seele; wo ich bald darauf 2 Wiedersehen hoffte – vorauskostete – ahndete: – – und das all nun erfüllt! Ich so glücklich!

Der Brief für die Leserin war ein Brief Goethes – allerdings nicht an Friederike Brion, sondern an Friedrich Heinrich Jacobi, vom April 1775. Goethe begann ihn ja mit »Friederice«: Er hat die lateinische Anredeform für Jacobis Vornamen Friedrich oder Friedericus verwendet. Der Brief für den Leser stammte aus Jacobis Feder und war gerichtet an Goethe (10. März 1775). Mit den eben zitierten Liebesbriefen möchte ich Sie einstimmen auf mein Thema: das Verhältnis zwischen Goethe und Jacobi. Dieses Verhältnis dauerte so lange wie manche Ehe, es zeigte Erscheinungsformen so mancher Ehe und endete auch wie so manche Ehe. Deshalb also nun mein Versuch, den Männerbund Goethe-Jacobi als Szenen einer Ehe darzustellen.

Szene 1: Ein Verhältnis beginnt Es war keine Sandkastenliebe. Friedrich Heinrich Jacobi kannte den jungen Autor Goethe nur von ferne, und Goethes früher Eindruck von Jacobi war alles andere als

|| 1 JBW I,2, S. 8. 2 Ebd., S. 3. https://doi.org/10.1515/9783110727340-003

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gewinnend. Er und sein Bruder, der anakreontisch-empfindsame Lyriker Johann Georg Jacobi, galten in den Kreisen, in denen sich Goethe bewegte, als verweichlichte Schwärmer. In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 hatte Goethe Johann Georg Jacobi angegriffen und verspottet wegen dessen öffentlich gemachtem empfindsamen Briefwechsel mit Gleim, auch wegen seiner tändelnden Gedichte. Die jungen Genies Herder, Merck und Goethe waren sich in der Ablehnung der Empfindler wie Gleim, Wieland und Johann Georg Jacobi einig. Friedrich Heinrich Jacobi wurde hier kurzerhand subsumiert und bekam den Spott, der vornehmlich seinen Bruder treffen sollte, mit gleicher Häme zu spüren. Ende 1772 schrieb Goethe die Satire Das Unglück der Jacobis; von ihr ist außer zwei Zeichnungen leider nichts erhalten – Goethe vernichtete das Werk 1775 selbst. Aus zeitgenössischen Zeugnissen geht jedoch hervor, dass es das Böseste gewesen sei, was Goethe in jener Zeit produziert habe. Goethe las, so schreibt L. J. F. Höpfner, »mir ein angefangenes excellentes Ding vor das Unglück der Jacobi’s. […] Die beyden Jacobi werden darin wacker gepeitscht. Göthe und Merck speyen vor den Kerls aus, so wie wir.«3 Mit »den Kerls« waren wohl Gleim und Wieland mitgemeint. Allen warf man Affektation, ein gewisses Lackaffentum der nach außen gestülpten und öffentlich zelebrierten Gefühle vor. Auch Wielands Teutscher Merkur, von Friedrich Heinrich Jacobi mitherausgegeben, fiel unter das Verdikt. Im September 1773 schrieb Goethe über Herausgeber und Beiträger des Merkur an Kästner: »Wiel[and]. und die Jackerls haben sich eben prostituirt!«4 Man kann sich gut vorstellen, dass unter Goethe und seinen Freunden von den Brüdern Jacobi überhaupt nur als den »Jackerls« die Rede gewesen sein könnte. Das Jahr 1774 bringt die Wende in Goethes Gefühlen. Drei Umstände tragen dazu bei: zunächst eine größere Annäherung an Wieland, den Freund Jacobis, dessen objektive und generös über alle Angriffe hinwegsehende Kritik des Götz und sogar der gegen ihn selbst gerichteten Satire Götter, Helden und Wieland Goethe nur bewundern kann; zum anderen ein Briefwechsel mit Jacobis Frau Helene Elisabeth, vermittelt von Goethes Schwester Cornelia. Schon die ersten Briefe Goethes an, wie er sie nennt, »Mamachen« Jacobi sind von Abschriften seiner Werke begleitet, z. B. des Jahrmarktsfests zu Plundersweilern. Der dritte und wichtigste Umstand ist Goethes Rheinreise mit Basedow, Lavater und Schmoll im Sommer 1774, denn diese Reise bringt die erste Begegnung zwischen Goethe und Jacobi mit sich. Am 21. Juli 1774 besucht Goethe unangemeldet Jacobis Düsseldorfer Stadthaus, wird aber beschieden, die Familie befinde sich auf dem nahegelegenen Landgut zu Pempelfort, Jacobi selbst in Elberfeld zu Besuch bei Johann Heinrich Jung-Stilling. Dort in Elber-

|| 3 Zit. nach Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 16. 4 Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hg. von. Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1963‒1974, Bd. 3: September 1772–Dezember 1773, S. 44.

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feld kommt es nun zum ersten persönlichen Kontakt – und der Liebe auf den ersten Blick. Im Bild von einer geöffneten Schleuse oder aufgehobenen Blockade schildert Goethe gegenüber Jacobis Frau, genannt Betty, welche Gefühle ihn bewegen: Ihr Friz Betty, mein Friz, Sie triumphiren Betty und ich hatte geschworen ihn nie zu nennen vor seinen Lieben, biss ich ihn nennen könnte, wie ich ihn zu nennen glaubte, und nun nenne. […] Die gesperrte Schiffarth geöffnet, handel und Wandel im Flor, und gnade Gott dem scheelsüchtigen Nachbaarn. Wie schön, wie herrlich dass Sie nicht in Düsseldorf waren daß ich that was mich das einfältige Herz hies. Nicht eingeführt, marschallirt, exküsirt; grad rab vom Himmel 5 gefallen vor Friz Jakobi hin! Und er und ich und ich und er!

Jene erste Zusammenkunft dauert fast fünf Tage; sie bringt intensive Gespräche über philosophische Fragen u. a. zu Spinoza mit sich, ein touristisches Programm in Köln wird gemeinsam absolviert, – und es wird enthusiastisch beschlossen, einen Bund fürs Leben einzugehen: »Ich träume lieber Friz den Augenblick«, schreibt Goethe am 13. August 1774 an Jacobi, »habe deinen Brief und schwebe um dich. Du hast gefühlt dass es mir Wonne war Gegenstand deiner Liebe zu seyn – […]. O Liebe! liebe!«6 Er spricht davon, von nun an »Hand in Hand« mit Jacobi zu gehen, seinen Zustand umschreibt er mit »Rauschtaumel« der Gefühle, schließlich verlangt er von Jacobi, seine, Goethes, Briefe niemandem zu zeigen.7 Der Charakter dieser, man muss schon sagen, Liebesbriefe lässt den Schluss zu, dass anders als in den meisten Freundschaften, die man sonst einging, hier schon vom ersten Handschlag an das herzliche »Du« in Rede und Schrift geherrscht haben muss. Im Januar und Februar des Jahres 1775 macht Jacobi Goethe einen Gegenbesuch von fünf Wochen in Frankfurt – und findet seine Liebesgefühle bestätigt, wie er drei Monate später bekennt: Lieber, du warst hier bey mir, ich war zu Frankfurt bey dir, und wir werden wieder zu einander kommen. […] Oft nehm’ ich wohl Papier und Feder, und mein, ich werde dir etwas schreiben; aber hernach findt sich immer, daß das was ich dir nicht schreiben kann, so sehr viel mehr so sehr viel beßer ist, als was ich schreiben könnte, […]. Aber das Drängen zu dir hin läßt sich doch nicht stillen; und die volle Seele, die das all in sich verschließen soll, all die Liebe, die sie hat, all – ach! weiß sich nicht zu laßen, meint oft zu vergehen. […] 8 […] – – Lieber ich bebe vor dem Drängen zu dir hin wenn’s mich so ganz faßt.

|| 5 Goethes Werke. 133 Bde. in 143 Tlbden. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919 (im Folgenden WA), IV. Abt., Bd. 2: Goethes Briefe. Frankfurt, Wetzlar, Schweiz 1771–1775, S. 180f. 6 JBW I,1, S. 243. 7 Ebd., S. 243f. 8 JBW I,2, S. 12ff. (25. Mai 1775).

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Jacobi erhält in dieser Zeit Abschriften von Goethes Clavigo, Stella, Erwin und Elmire, Claudine von Villa Bella; überhaupt schreibt man sich regelmäßig, lässt den andern teilhaben an Erfahrungen oder Natureindrücken, grüßt die Familie. Jacobi war überzeugt, in Goethe den Partner gefunden zu haben, auf den er gewartet hatte, und er präsentiert auch anderen diese neue große Liebe. »Göthe ist der Mann«, so berichtet er Sophie von La Roche, »dessen mein Herz bedurfte, der das ganze Liebesfeuer meiner Seele aushalten […] kann. […] Der Mann ist selbstständig vom Scheitel bis zur Fußsohle« (10. August 1774).9 Wieland gegenüber schildert Jacobi es sogar als vom Schicksal längst beschlossen, was hier geschehen war: »Was Göthe und ich einander seyn sollten, seyn mußten, war, sobald wir vom Himmel runter neben einander hingefallen waren, im Nu entschieden. […]; so ward Liebe unter uns« (27. August 1774).10 Übrigens war Jacobi nicht der einzige Bewerber um Goethes Gunst. Wieland selbst versteigt sich beim Thema Goethe zu dem Ausruf »Wie verliebt ich in ihn wurde«,11 und Gleim schreibt nicht nur über Herders Liebe zu Goethe,12 sondern bezieht auch seine eigenen Kreise mit ein: »Alle meine Freunde waren sterblich in den Engel Göthe verliebt.«13 Goethes Gegenliebe galt jedoch hauptsächlich einem, das darf man jedenfalls dem frühesten Jacobi gewidmeten Abschnitt von Dichtung und Wahrheit entnehmen, in dem er vom »entzückenden Gefühl einer Verbindung durch das innerste Gemüth« spricht und sich erinnert, dass man nach den ersten Begegnungen auseinanderging »in der seligen Empfindung ewiger Vereinigung«.14

Szene 2: Aufgebot Ich habe versäumt, Damen und Herren Leser, Ihnen die Heiratskandidaten des Jahres 1774 genauer vorzustellen, Ihnen einen Einblick in deren Verhältnisse zu verschaffen. Wie war es bestellt um Goethe und Jacobi, als sie »vom Himmel runter neben einander hingefallen waren«? Der fast 25-jährige Goethe des Sommers 1774 lebte als Advokat in Frankfurt; er hatte Reiten, Fechten, Tanzen und Schönschreiben gelernt, dilettierte außer in Latein, Griechisch und Französisch auch in Hebräisch, Englisch und Italienisch, hatte die Studienaufenthalte in Leipzig und Straßburg hinter sich, hatte mit De legisla-

|| 9 JBW I,1, S. 242f. 10 Ebd., S. 251. 11 JBW I,2, S. 31. 12 Vgl. ebd., S. 384. 13 Ebd., S. 378. 14 WA I,28: Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil, S. 292f.

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toribus promoviert, war im Elsass und in Wetzlar gewesen; die Namen Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff bedeuteten Lebenserfahrung und Lyrikerweckung. Durch Studium, Reisen und Bekanntschaften war er Gellert, Gottsched, La Roche, Schlosser und Knebel begegnet, hatte sich mit Behrisch, Herder, Lenz, Merck und Klinger angefreundet und sich gleich anderen für Klopstocks Messias, für Shakespeare, Lessing, Winckelmann, Homer, Sterne, für die Volkspoesie, aber auch für den Pietismus einer von Klettenberg begeistert. Der Zeichenunterricht und das Kunststudium vor Ort hatten Früchte gezeitigt, sogar das radierte Titelblatt der ersten deutschen Ossian-Ausgabe war dabei herausgekommen. Seit 1771 beschäftigte ihn der Faust-, seit 1773 der Prometheus-Stoff. Hätte er zu dieser Zeit eine Gesamtausgabe seiner Werke veranstaltet, wäre schon mehr als ein gewichtiger Band zustande gekommen, enthaltend die Lyrik von der Gedichtsammlung Annette über An den Mond, Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde, Wandrers Sturmlied bis Der König von Thule, Dramen von der Laune des Verliebten über Die Mitschuldigen bis zu Götz von Berlichingen, Satyros und Clavigo, Aufsätze wie Von deutscher Baukunst und Zum Schäkespears Tag, schließlich den Geniestreich des Werther. Friedrich Heinrich Jacobi war sechs Jahre älter als Goethe. Das Jahr 1774 wurde für ihn ein erster Kulminationspunkt all dessen, was ihn zu jener Zeit beschäftigte. Mit Goethes Werther war für ihn, wie für so viele, der erste gültige Ausdruck der neuen poetischen Gefühlswelt in einer neuen Sprache und Form erschienen – das »Wertherfieber« packte auch ihn. Als das Buch eintrifft, ist Jacobi elektrisiert; für ihn ist es ein Gebetbuch, ja ein heiliges Buch, das nicht in die Hände von Unwürdigen fallen darf: »Aber zum Henker«, schreibt er an den Verfasser des Werther, an die Schurken von Recensenten haben wir noch nicht gedacht! wie werden diese sich bey dieser Erscheinung gebehrden? Rasend möcht’ ich werden bei der blossen Vorstellung so eines Kerls, der mir meinen Werther ausgrübe, um ihn auf das Theatrum anatomicum zu schleppen, ihm das Haupt öfnete, und das Herz, und alle Muskeln und Nerven besichtigte, die Gebeine ablösete, siedete, mit Drat wieder an einander heftete, und ein schneeweißes, künstliches, ab15 scheuliches Skelet davon darstellte; das Messer hier könnt’ ich dem Hund in die Brust jagen!

Hymnisch endet er diesen Brief an Goethe: Ich war hinausgegangen anzubeten; habe angebetet, gepriesen mit süßen wonnevollen Thränen den der da schuf dich, deine Welt, […]. […] Ich habe Werthers Leiden und habe sie dreymal gelesen. Dein Herz, dein Herz ist mir alles. […] 16 Meine Seele ist zu voll, Lieber, alles unaussprechlich: drum für heut Adieu! Dein Fr[itz].

|| 15 JBW I,1, S. 264. 16 Ebd., S. 265f. (21. Oktober 1774).

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Es ist verständlich, dass Jacobi sich von der Stimmung der Zeit und insbesondere von den Leiden des jungen Werthers anregen ließ, selbst ins poetische Fach zu wechseln. Er hatte zwar schon etliche Rezensionen und Abhandlungen verfasst, hatte seine elegante Feder in der Korrespondenz bewiesen, doch nun gestand er Goethe in einem Brief vom 26. August 1774: »Ich selbst habe, in deinem Nahmen, den Plan zu einem Roman in Briefen entworfen, und würklich auszuarbeiten angefangen.«17 Das Licht der Öffentlichkeit erblickten die ersten Teile dieses in Goethes Namen verfassten Romans unter dem Titel Eduard Allwills Papiere 1775 im vierten Band der Frauenzeitschrift Iris – zwischen einer Tasso-Übersetzung und einem Artikel Vom Tanzen. Der Verfasser blieb anonym. Das provozierte die Leserschaft natürlich zum Rätselraten um den Autor. Schließlich wurde es einem der dabei verdächtigten prominenten Dichter zu dumm, und er stellte kategorisch fest: »Allwills Briefe sind von Friz Jacobi – nicht von mir!« (Goethe an Lavater, 16. September 1776).18 Allwills Briefe waren freilich nicht von Goethe, doch sie waren deutlich vom Werther und von der Begegnung mit Goethe angeregt. Man geht nicht fehl, wenn man im Helden von Jacobis Allwill-Roman eine Goethe-Gestalt vermutet, deren sprechender Name auf einen jungen Wilden hindeutet, der alles will und an vielem scheitert, am schmerzlichsten an sich selbst und seinen Idealen. Anders als heute schied man zu Jacobis Zeit die Realität des Verfassers eines Buches und jene seiner Romanhelden oft wenig voneinander. Sophie von La Roche war »die Sternheim«, Sterne und Yorick wurden synonym gebraucht, und bei Ossian glaubte man gleich gar nicht an die Existenz eines McPherson. Noch 1792 schrieb Friedrich Stolberg über die dann revidierte Allwill-Fassung an Jacobi: »Wie wahr schrieb Dir aber Wieland, daß Allwill Göthe sey! Ich begreife nicht, wie Göthe Dir das verzeihen kann!«19 Goethe hatte sich allerdings seinerseits ganz andere Unverzeihlichkeiten zuschulden kommen lassen. Anfang 1777 bekommt Jacobi auf seine Anfrage, die neueste Fortsetzung der Allwill-Briefe betreffend, von Wieland zu hören: »Was Göthe zu den drey letzten Briefen gesagt hat? – Nichts! –«20 Goethe hatte die Existenz des in seinem Namen verfassten Briefromans weder öffentlich noch privat wahrgenommen oder gewürdigt. Man darf wohl zu Recht daraus schließen, dass ihn das Produkt des Freundes inkommodierte, dass er lieber schwieg, als der Wahrheit die Ehre zu geben und den Roman zu verreißen. Einer der Person Jacobis geltenden Zuneigung begann nun eine dem Autor geltende Abneigung dazwischenzureden. Der letzte Brief aus der Zeit des jungen Glücks, das im Sommer 1774 begonnen hatte, wurde Ende 1775 ge-

|| 17 Ebd., S. 250. 18 WA IV,3: Goethes Briefe. Weimar 1775–1778, S. 110. 19 JBW I,9, S. 262. 20 JBW I,2, S. 51.

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schrieben. Auch ein Besuch fand nicht mehr statt. Erst 1779 trifft das Paar wieder aufeinander.

Szene 3: Ehekrach und -krise Nach dem Erscheinen seines ersten Romans Eduard Allwills Papiere begann Jacobi sehr bald, einen zweiten zu konzipieren. Unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte erschien 1777 zunächst ein Fragment davon im Teutschen Merkur. Als selbstständige Veröffentlichung kam die Erzählung mit eingestreuten Briefen dann 1779 als Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte auf den Markt. Noch mehr als der Erstling Allwill setzt der Woldemar einer bloßen Handlungsorientierung ein psychophilosophisches Ideengebäude entgegen, der Schilderung von Personen eine Analyse ihrer inneren Zustände. Es läge nahe, in der Figurenkonstellation (Woldemar, zwei Frauen) eine pikante Ménage-à-trois zu sehen; Jacobi geht es jedoch um die Darstellung eines Konflikts nicht zwischen Liebe und Liebe, sondern zwischen Freundschaft und Liebe. Dass er damit in seinen Augen Goethes Stella mit ihrem ersten, ungewöhnlich freizügigen Schluss auf der moralischen Überholspur hinter sich ließ, kann man sich denken. In der Figur des Helden Woldemar gestaltet Jacobi die – wiederum nicht ohne das Vorbild von Goethes Charakter zu denkende – Kritik an einem monomanisch um die eigene Gefühlswelt kreisenden Subjektivisten. Woldemars Unglück ist seine rigorose und schwärmerische Natur; nur deren Herabmäßigung erscheint am Schluss als Möglichkeit seiner psychischen Genesung. Wie auch beim Allwill wartete Jacobi bei Woldemar vergebens auf eine Reaktion Goethes. Stattdessen sickerte allmählich ein Gerücht aus Weimar durch, wo Goethe seit 1775 wohnte. Schließlich erkundigte sich das Opfer des Gerüchts bei dessen Verursacher: Pempelfort 15. Septemb[er]. 1779. Du sollst in Ettersburg, in einer Gesellschaft von Rittern, Woldemar und seinen Verfaßer auf die entsetzlichste Weise durchgezogen, lächerlich gemacht, und zum Beschluß, – mit einem schön eingebundenen Exemplar dieses Buchs, eine schimpfliche und schändliche Execution vorgenommen haben. – Dies Gerücht ist so allgemein geworden, daß es auch mir endlich zu Ohren kommen mußte. […] 21 Nun schreibe ich Dir, um zu erfahren, was an der Sache ist.

Das Gerücht stimmte. Goethe hatte tatsächlich ein Exemplar des Woldemar gekreuzigt, indem er es aufgeschlagen an eine Eiche nagelte und davor eine improvisierte

|| 21 Ebd., S. 105.

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Standrede zur Verspottung hielt. Goethe selbst sah die Sache offensichtlich als Dummejungenstreich an, wie er im Rückblick an Lavater beteuert: Über Woldemars Kreuzerhöhungsgeschichte kan ich dir nichts sagen, das Facktum ist wahr, eigentlich ists eine verlegne und verjährte Albernheit die du am klügsten ignorirst. Wenn ich Papier und Zeit verderben mögte so könnt ich dir wohl das nähere sagen, es ist aber nicht der Mühe werth. […] Da du mich kennst solltest du dir’s in Ahnung erklären können. Der leichtsinnig trunckne Grimm, die muthwillige Herbigkeit, die das halb gute verfolgen, und besonders gegen den Geruch von Prätension wüthen, sind dir ia in mir zu wohl bekannt. Und die nicht schonenden launigen Momente voriger Zeiten weist du auch. 22 Viel von diesem allen wird verschlungen in thätiger Liebe.

Zu diesem von Goethe als »Albernheit« abgetanen Vorfall kam allerdings eine Tatsache hinzu, die etwas beständiger war, an der Goethe aber halb unschuldig war. Was war geschehen? Die Herzogin Anna Amalia hatte eine Woldemar-Ausgabe mit, wie sie sich ausdrückte, »kleinen Veränderungen« drucken lassen. Das war nichts anderes als eine von Goethe verfasste Parodie des Woldemar-Schlusses, die auf diese Weise an die Öffentlichkeit drang. Kein Wunder, dass Jacobi so tief verletzt war, wie nur in der Liebe Betrogene es sein können. Goethe hatte zwar erklärt, er sei sicher, dass Jacobi selbst herzhaft über die Geißelung des Woldemar mitgelacht hätte, doch diese Art von Humor war Jacobi nicht gegeben. Gekränkt wendet er sich an Johanna Katharina Sibylla Schlosser (die Goethes Beschwichtigungsversuche an Jacobi weitergegeben hatte) mit den Worten: »Eine solche Kurzweil, […], erlaubt sich Göthe gegen einen Mann, dem er die feurigsten Liebesbriefe schrieb«.23 Im gleichen ausführlichen Brief vom 10. November 1779 zieht Jacobi für sich erst einmal den Schlussstrich unter die Beziehung zum Freund: Was Du mir von Göthe schreibst, meine Theure, hat mir den Charackter dieses aufgeblasenen Gecken noch um ein gut Theil eckelhafter und verächtlicher gemacht. Ich kehre ihm auf ewig den Rücken zu, wie fast alle rechtschaffene Männer unsrer Nation lange vor mir schon gethan haben. Sein eigener Geist sey mit ihm, und laße ihn glücklich seyn ohne Gott, ohne Freund, und ohne Tugend. […] Nichts kömmt dem Eindrucke gleich, den, ein Mensch wie ich, da von empfängt, wenn ihm, in einem Menschen wie Göthe, etwas zum Gräuel wird. […] […] Kein Mensch […] wird zweifeln können, daß Göthe Grimm, Bosheit und Tücke gegen mich im Herzen hatte. Die Ursachen sind leicht zu entwickeln. – Unter andern mocht er glauben, ich sey wohl frevelhaft genug, mich vielleicht nicht für ganz unwürdig anzusehn – ihm die Schuhriemen aufzulösen; bildete mir alberner Weise ein […] etwas von seinem Geist in mir zu haben; vergötterte mich also; […]. […] […]

|| 22 WA IV,5: Goethes Briefe. Weimar 7. November 1780 bis 30. Juni 1782, S. 122f. 23 JBW I,2, S. 126 (7. Mai 1781).

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Und so möge der gute, brave, große Göthe hinziehn im Frieden, und ziehe ihm nach wer 24 Lust hat. Ich danke Gott dafür daß wir geschiedene Leute sind.

Szene 4: Liebe mich, lebe wohl Jacobis Worte von der Scheidung kamen nicht als leere Drohung bei Goethe an. Er lässt sich drei Jahre Zeit, um nach der Woldemar-Kreuzigungskrise einen ersten zaghaften Versuch zu unternehmen, in die alte Vertraulichkeit zurückzukehren und eine Versöhnung einzuleiten. »Lieber Fritz«, nimmt er die Korrespondenz im Oktober 1782 wieder auf, »laß mich dich noch einmal, und wenn du dann willst zum letztenmal so nennen, damit wir wenigstens in Friede scheiden.«25 Auch der Schluss des Briefes zeigt nichts von einem »aufgeblasenen Gecken«: »Wenn du mir nichts freundliches zu sagen hast; so antworte mir gar nicht, […], und ich will mir’s gesagt halten.«26 Jacobis Antwort ist kein überschäumendes, doch umfassendes Versöhnungsangebot; sie endet mit den Worten »Ich umarme dich mit vollem Herzen«.27 Von diesen beiden Briefen an geht das Verhältnis Goethe-Jacobi nun doch wieder seinen Gang wie in einer durchschnittlichen Ehe mit ihrem Auf und Ab. Die Briefe wandern relativ regelmäßig hin und her; aus manchem Jahr ist nur einer erhalten, aus manchem aber auch bis zu 35. Es wird zur Selbstverständlichkeit, dass Jacobi die jeweils neuesten Produktionen aus Goethes Feder von Weimar her erhält. Die Iphigenie trifft am 22. November 1782 in Düsseldorf ein. Goethe hatte sie geschickt, »daß sich mein Geist mit dem deinigen unterhalte«,28 und Jacobi reagiert enthusiasmiert: »Ich habe dein Packet, du Lieber! und ich hang an deinem Halse, O, ganz anders, wie ehmals. […] Unaussprechlich – Wortlos, Bildlos, Begrifflos […]!«29 Die Restaurierung der Beziehung war gelungen, das fast im alten Glanz dastehende Gebäude schien sogar so stabil, dass es ein erneutes Rendezvous aushalten konnte. Im Herbst 1784, nur ein halbes Jahr nach Betty Jacobis Tod, treffen sich »Fritz«, wie der eine den anderen, und »Goethe«, wie der andere den einen nach wie vor nennt, in Weimar. »Wir wollen auf die kurze Dauer unseres Daseyns näher zusammenrücken«,30 hatte Goethe seine Einladung formuliert. Das Wiedersehen nach jahrelanger Verschnupftheit konnte anscheinend an alte Gefühle anknüpfen.

|| 24 Ebd., S. 125–128. 25 JBW I,3, S. 53. 26 Ebd., S. 54. 27 Ebd., S. 65. 28 Ebd., S. 89. 29 Ebd., S. 97. 30 Ebd., S. 303.

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Auf Jacobis Seite ist jedenfalls vom »selichsten Genuße Deiner«, von Glück und Liebe die Rede, er »fühl[t] [s]ich gedrückt von« Goethes »Arm«.31 Die nächste Krise ließ indes kein Jahr auf sich warten. Jacobi war inzwischen tief verstrickt in den Pantheismusstreit mit Moses Mendelssohn, in welchem er posthum von Lessing behauptet hatte, dieser sei ein »entschiedener Spinozist« gewesen. Für Mendelssohn bedeutete das die verruchte Unterstellung von Lessings Atheismus. Goethe war insofern in diesem Streit präsent, als seine Prometheus-Ode der Auslöser für Lessings Bekenntnis zu Spinoza gewesen war. »Ich dich ehren? Wofür’s?«, schmettert dort Prometheus dem Zeus entgegen und stellt sich selbst auf eine Stufe mit ihm – denn beide seien den Naturgesetzlichkeiten unterworfen wie der »allmächtigen Zeit« und dem »ewigen Schicksal«. Dies Aufbegehren galt den Zeitgenossen als Bild für Pantheismus, für Spinozismus. »Deus« war, so hatte Spinoza formuliert, »sive natura«, und so wurde der Aufstand des Prometheus gegen Zeus gedeutet als Aufstand des Menschen gegen die veraltete Gottesvorstellung des omnipotenten Herrschers im Himmel. Als Jacobi in seiner Publikation Ueber die Lehre des Spinoza das Gespräch mit Lessing wiedergab, druckte er dort auch die auslösende Prometheus-Ode Goethes mit ab – ohne dessen Erlaubnis. Eine briefliche Rüge aus Weimar folgte, doch saßen Goethe die früheren Auseinandersetzungen noch so in den Knochen, dass er seinen Brief endete mit »Ich liebe dich herzlich« (11. September 1785).32 Bald darauf wiegelte er sogar ab: »[W]ir wollen die Sache nun gehn lassen«,33 obwohl er keineswegs von der Harmlosigkeit der Veröffentlichung überzeugt war und ihm Jacobis Spinozabuch sehr missfiel. Mendelssohns Tod auf dem Höhepunkt des Streits war er geneigt, indirekt Jacobi zur Last zu legen. Noch aus der Alterssicht von Dichtung und Wahrheit geht die innere Bewegung hervor, welche die Erinnerung an die Jahre 1785/86 auslöst. Er spricht dort vom Prometheus als jene[m] Gedicht, das in der deutschen Literatur bedeutend geworden, weil dadurch veranlaßt, Lessing über wichtige Puncte des Denkens und Empfindens sich gegen Jacobi erklärte. Es diente zum Zündkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhältnisse würdiger Männer aufdeckte […]. Der Riß war so gewaltsam, daß wir darüber, […], einen unsrer würdigsten Männer, 34 Mendelssohn, verloren.

In der Folge dieser Auseinandersetzung erkennt Jacobi sehr genau, dass er Goethe weltanschaulich nicht zu bezirzen vermag. Der Briefwechsel, der unvermindert weitergeht, offenbart denn auch dort am meisten Zuneigung, Humor und Herzlich-

|| 31 Ebd., S. 364f. 32 WA IV,7: Goethes Briefe. Weimar 1. Januar 1785 bis 24. Juli 1786, S. 93. 33 Ebd., S. 101. 34 WA I,28, S. 312f.

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keit, wo er philosophische oder theologische Bereiche ausspart und das Allgemeinmenschlichste zum Thema nimmt. Zum Beispiel wirbt Goethe für das Ilmenauer Bergwerk – Jacobi ersteht brav eine Kuxe, einen Anteilschein, dafür. Goethe sucht einen neuen Sekretär, Jacobi einen Hoftitel für seinen Sohn. Jacobi leiht Goethe seine Kutsche, Goethe besorgt Jacobi eine Feuerspritze (übrigens nicht, um eine Freiwillige Feuerwehr in Düsseldorf zu etablieren, sondern um seinen ausgedehnten Park aus der durchfließenden Düssel bewässern zu können). Goethe weiht Jacobi in seinen Plan ein, den kleinen Fritz von Stein später mit Jacobis Tochter Clara zu verkuppeln. Und schließlich wird das gute Einvernehmen sogar dadurch besiegelt, dass Jacobis Sohn Carl Wigand Maximilian bei Goethe wohnt, diesem als Schreiber für osteologische Arbeiten dient, bevor er, weiter von Goethe betreut, nach Jena zum Medizinstudium zieht. Jacobis Briefe nehmen bald den emotionalen Stil der frühen Jahre wieder auf. Da wird gedrückt, geküsst und in den Arm genommen; die Liebe zu Goethe ist »groß«, »innig«, »unaussprechlich«, »unvergänglich«, sie ist die »alte, die nicht veraltet«. Wie das Geständnis eines Frischverliebten liest sich, was der 50-jährige Jacobi an Goethe schreibt: »Ich glaube, ich denke unaufhörlich an dich« (30. Juni 1793).35 Goethes Briefe dagegen beklagen oft selbst die kalte und trockene Manier, welche ihm Pflichten und Sorgen auferlegten. Wenn er von seinen Beschäftigungen berichtet, erwartet er von Jacobi den vorbehaltlosen Gegenblick des Verständnisses. So wird sein »Fritz« zum wichtigsten Adressaten für die Berichte von den einschneidenden Erlebnissen der Campagne in Frankreich und zum Empfänger des Aquarells Landschaft mit dem Freiheitsbaum aus jener Zeit. Aber auch die nicht weniger einschneidenden Erkenntnisse in der Naturlehre werden mitgeteilt, wobei die Interessen beginnen, weit auseinanderzuklaffen. Jacobi schreibt von Geburtstagsfeiern, Goethe über die Newton’sche Lehre, Jacobi beklagt seine Krankheiten, Goethe berichtet vom Eislaufen, Jacobi spricht von Gott, Goethe von Urphänomenen, Goethe bedankt sich höflich, doch flüchtig für Jacobis Publikationen, Jacobi krittelt am Wilhelm Meister herum. Goethe schickt eine eigenhändige Reinschrift der 5. Römischen Elegie, Jacobi stößt sich am dort beschriebenen Blick, der »des lieblichen Busens Formen späht«, und an der Hand, welche der Geliebten den Hexameter auf den Rücken fingert. Nichtsdestotrotz widmet Jacobi dem Freund 1794 die revidierte Fassung des Woldemar – ausgerechnet jenes Buch, das Goethe einst gekreuzigt hatte! In dieser Dedikation heißt es: »Ich widme Dir ein Werk, welches ohne Dich nicht angefangen, schwerlich ohne Dich vollendet wäre; es gehört Dir; ich übergeb’ es Dir; Dir, wie keinem Andern. […] Wie hätte ich Dir widerstanden, Du Mächtiger!«36

|| 35 JBW I,10, S. 255. 36 Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. 6 Bde. Hg von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Leipzig 1812‒1825, Bd. 5: Woldemar, S. IXf.

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Solch einer weitgehenden Preisgabe hat Goethe wenig entgegenzusetzen. Seine Briefe sind von wohlwollender Fürsorge gekennzeichnet, manchmal geradezu onkelhaft. Auf beiden Seiten bemüht man sich, das Bild des aufs Neue geschlossenen Bundes einigermaßen makellos zu bewahren. Nur – Jacobi hält zäh an der einmal gemachten Vorstellung vom anderen fest, Goethes Leitwort auch in menschlichen Beziehungen lautet Metamorphose: Wandel und Wechsel. Wie konnte Jacobi nur übersehen, dass er sich verändert hatte? Wie konnte er nur glauben, der aus Italien Wiedergekehrte sei der Alte? Die Tag- und Jahreshefte von 1795 sprechen die Unbehaglichkeit aus, die Goethe Jacobis starrem Festhalten am Gewohnten gegenüber empfindet: »Über das Verhältnis zu Jacobi habe ich […] zu sagen«, dass es auf keinem sichern Fundament gebaut war. Lieben und Dulden und von jener Seite Hoffnung, eine Sinnesveränderung in mir zu bewirken, drücken es am kürzesten aus. Er war vom Rheine wegwandernd nach Holstein gezogen, […]; er meldete mir sein Behagen an den dortigen Zuständen auf’s reizendste, beschrieb verschiedene Familienfeste […], anmuthig und umständlich, […]. Dergleichen Mummereien innerhalb eines einfachen Familienzustandes waren mir immer widerwärtig, […]; mehr aber noch hielt mich das Gefühl zurück, daß man meine menschliche und dichterische Freiheit durch gewisse conventionelle Sittlichkeiten zu beschränken gedach37 te, […].

Der Abschnitt endet mit dem Bekenntnis, er, Goethe, habe keine Lust mehr auf eine persönliche Begegnung verspürt, denn im Kreise Jacobis sehe er »sich zwischen eine wohlwollende liebenswürdige Pedanterie und den Theetisch geklemmt«.38 Diese Erfahrung geht auf Goethes Besuch in Düsseldorf nach der Campagne in Frankreich zurück, wo er zwar mit größter Zuvorkommenheit aufgenommen und bewirtet worden war, man sich jedoch partout nicht damit abfinden wollte, dass nicht mehr der Dichter der Iphigenie auf dem Sofa saß, sondern einer, der Kriegsgräuel zu verarbeiten hatte und dessen Interessen jetzt weit mehr den farbigen als den antiken Schatten galten. »Jene Freunde«, so schreibt er über die Familie Jacobi, hatten sich getreu an ihrem Lebensgange gehalten, dagegen mir das wunderbare Loos beschieden war, durch manche Stufen der Prüfung, des Thuns und Duldens durchzugehen, so daß ich, in eben der Person beharrend, ein ganz anderer Mensch geworden, meinen alten 39 Freunden fast unkenntlich auftrat.

Goethe ein anderer, Jacobi der alte – das ist die Summe, die man immer wieder zu ziehen hat in dieser Beziehung, an der trotz der Gegensätze mit Beharrlichkeit festgehalten wird.

|| 37 WA I,35: Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, von 1749 bis 1806, S. 48. 38 Ebd., S. 49. 39 WA I,33: Campagne in Frankreich 1792. Belagerung von Mainz, S. 187.

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Die Verschiedenartigkeit der Gefühle dem anderen gegenüber lässt sich an einer Kleinigkeit besonders schön ablesen: den Briefunterschriften. Wo Jacobi von den frühen Jahren bis in die Spätzeit hinein sein Herz offenlegt mit Formulierungen der Art »Wie ich dich liebe mußt du wissen«, »ich herze dich«, »wie das Andenken an dich wohnt kein andres hier« oder »Ich umarme dich mit innigster Liebe«, da lauten Goethes Worte anders. Seine Briefabschlüsse setzen sich aus bis zu vier immer gleichen Formeln zusammen: einer Abschiedsformel, einer Grußformel, einem Liebesbefehl und einer Schreibaufforderung. Da heißt es beispielsweise: »Lebe wohl. Grüße die deinigen. Behalte mich lieb und sag mir ein Wort.« In anderer Reihenfolge: »Lebe wohl, behalte mich lieb, sage mir manchmal ein gut Wort. Grüße die deinen« oder »Lebe recht wohl und gedenke mein. Grüße die deinigen und schreibe mir bald«. Manchmal fällt eine der Formeln unter den Tisch: »[G]edenkt mein, liebe mich und laß manchmal von dir hören«, noch kürzer: »Grüße die deinen. Adieu« oder »Lebe indeßen wohl und liebe mich«, schließlich, auf das Wichtigste reduziert, »Liebe mich. Lebe wohl«. Der Unterschied von Goethes zu Jacobis Worten ist spürbar. Jacobi geht es um schöpferischen Ausdruck seiner Gefühle, er pflegt den Gestus der Liebesdokumentation, den Gestus des »Ich liebe dich«. Goethe dagegen hält seinen emotionalen Aufwand möglichst gering. Durch die Benutzung immer gleicher und bewährter Formeln ist er der Erkenntnis und dem Bekenntnis seiner Gefühle Jacobi gegenüber enthoben; dasselbe erreicht er durch die Substitution des Liebesbekenntnisses durch den Liebesbefehl, des »Ich liebe dich« durch das »Liebe mich«. Auf diese Weise ermöglicht er es geschickt, dass das Wort »Liebe« zwar auf dem Papier steht und also beim Adressaten seine Zaubermacht entfalten kann, darüber aber die innere Distanz, die der Schreiber des Zauberworts hat, unbemerkt bleibt. Der »Ich liebe dich«-Gestus spricht die Sprache der Auslieferung, der »Liebe mich«-Gestus dokumentiert diejenige der Überlegenheit.

Szene 5: Die Scheidung Die Beziehung zwischen Goethe und Jacobi dauerte insgesamt mehr als vier Jahrzehnte; ihre bis heute erhaltene Korrespondenz umfasst 158 Briefe, wobei man gut und gerne noch einmal 40 jetzt verlorene dazuzählen darf. Fünf Mal sind sie sich persönlich begegnet: in den Jahren 1774, 1775, 1784, 1792 und 1805. Scheidungen werden aus den verschiedensten Gründen ausgesprochen, manchmal führt ein einziges Reizthema zur endgültigen Trennung. So auch bei Jacobi und Goethe – das Reizthema hieß Gott. Wegen ihm hatte man sich ja schon 1785 gestritten, als es um den Pantheismusvorwurf gegangen war. Goethe stand wie Herder auf der Seite der Spinozisten, deren Bekenntnis in der kurzen Formel des »hen kai pan« (Eins und [= ist] Alles) gipfelte. Sowohl Materie als auch Geist waren danach der Kausalgesetzlichkeit der Natur unterworfen. Gott hatte in diesem System

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eine nicht-personale, unwandelbare Natur, deren Attribute der Mensch in der ihn umgebenden Welt erfahren konnte. Jacobi dagegen hing einem personal-dominanten Gottesbegriff an. Die Offenbarung Gottes an den Menschen erfolgte seiner Vorstellung nach als Akt, der direkt ins menschliche Herz zielte. Goethe hielt sich, was Jacobis Spinoza-Buch anging, relativ bedeckt, als er ihm im Juni 1785 zu diesem Thema schrieb, doch sein Credo versteckte sich in einer hingeworfenen Bemerkung am Schluss des Briefes: »Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus.«40 »In herbis et lapidibus«, im Reich der Pflanzen und Steine, drückte sich für Goethe das Göttliche aus, für ihn war Naturerkenntnis gleich Gotteserkenntnis. Diese Ansicht sollte in Goethes Leben immer beherrschender werden. Die Beschäftigung damit, was die Natur im Innersten zusammenhielt, verdrängte über lange Zeiträume das Poetische oder wurde in einzigartiger Weise für das Poetische fruchtbar gemacht. Jacobi konnte dem Forschertreiben Goethes wenig abgewinnen, und über Gott sprach er lieber mit Lavater oder Claudius als mit dem Ketzer Goethe, der unbekümmert Gott und Götter nebeneinander figurieren ließ. Er sei ja für vieles zu beneiden, schrieb Goethe dem Freund im Mai 1786, aber Gott habe ihn dafür mit der »Metaphisick gestraft«, ihn, Goethe, dagegen »mit der Phisick geseegnet«.41 Im Übrigen könne jeder nach seiner Glaubensfasson selig werden.42 Das langjährige theologische Stillhalteabkommen musste indes notwendig gebrochen werden, als Jacobi im Jahre 1811 seine Abhandlung Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung veröffentlichte. Der gegen Schellings sogenannten Naturalismus gerichtete Aufsatz ist ein Pamphlet contra falsches Gottesverständnis, Naturvergottung und scheinbar daraus resultierenden Atheismus. Dem Schelling’schen Gottesbegriff vom werdenden, sich verändernden Gott wirft Jacobi »Nihilismus« vor – und ist damit derjenige, der diesen Begriff in die Philosophie einführt. Am Schluss der Abhandlung steht eine Maxime, zu der jeder aufrechte Pantheist nicht schweigen konnte: »Ist es aber wirklich Unverstand und Schwärmerei, zu bekennen: man glaube an Gott – nicht um der Natur willen, die ihn verberge; sondern um des Uebernatürlichen willen im Menschen, das allein ihn offenbare und beweise?«43 Auf der nächsten Seite folgt gleich noch einmal der Leitspruch »Die Natur verbirgt Gott, […]. […] Der Mensch offenbaret Gott«.44 Das war für Goethe höchste Provokation. Wenn er zunächst einem Dritten gegenüber launig äußert, Jacobi sei »[f]reylich […] der lieben Natur, […], etwas zu nahe«45 getreten, so ver|| 40 WA IV, 7, S. 64. 41 Ebd., S. 213. 42 Vgl. ebd., S. 214. 43 Friedrich Heinrich Jacobi: Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. In: Jacobi’s Werke (s. Anm. 36), Bd. 3, S. 245–460, hier S. 424. 44 Ebd., S. 425. 45 WA IV,22: Goethes Briefe. Januar 1811 bis April 1812, S. 255.

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leugnet er noch seinen eigentlichen Verdruss. Jacobi selbst aber gibt er in der Folge direkt und indirekt zu verstehen, dass er nicht mehr imstande sei, so eine Weltanschauung zu akzeptieren. In den autobiographischen Aufzeichnungen liest sich das wie folgt: Jacobi »von den göttlichen Dingen« machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. […], mußte nicht ein so seltsamer, einseitig-beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig ent46 fernen?

Auch ganz direkt drückt Goethe sein Missbehagen aus, als er im Mai 1812 ohne Umschweife an Jacobi schreibt, dass dessen Büchlein ihn »ziemlich indisponirt« habe. Er sei nun einmal einer der »ephesischen Goldschmiede«, die ihr Leben mit Bewunderung des Göttlichen, wie es sich in Natur und Kunst ausforme, verbrächten. Ein »formloser Gott«, wie er aus Jacobis Anschauung hervorgehe, sei nicht seine Sache. Mit dem »ephesischen Goldschmied« war auf das Gedicht Groß ist die Diana der Epheser angespielt, das Jacobi nun auch indirekt von Goethes Abneigung unterrichtete. Dort wird die Idee eines von menschlicher Realität gänzlich abgehobenen Schöpfers verspottet, eine Vorstellung »Als gäb’s einen Gott so im Gehirn, / Da, hinter des Menschen alberner Stirn.« Die Dinge beginnen sich zuzuspitzen. Jacobi beschwert sich bei Goethe über das satirische Lied von der Diana und gibt seinen Verdruss über die Affäre zu erkennen. Goethe seinerseits formuliert bereits den Scheidungswunsch in Form von Maximen und Reflexionen: »Wer die Natur als göttliches Organ läugnen will, der läugne nur gleich alle Offenbarung.«47 Und: »›Die Natur verbirgt Gott!‹ Aber nicht jedem!«48 Es war vollbracht, die Trennung vollzogen. Es war Jacobi gewesen, der die finale Lösung schon vor Jahren ins Spiel gebracht hatte: »Wären nicht die Kinder«, so schreibt er bereits im Dezember 1794 an Goethe, »u[nd] das Herz das ich zu ihnen habe, ich hätte längst die Scheidung von Dir nachgesucht, Du Leichtfertiger!«49 Nun war es also Goethe, der die Scheidung einreichte. Die göttlichen Dinge hatten sich als zäher erwiesen als die alte Liebe. In einem der letzten Briefe, die zwischen den beiden Männern gewechselt werden, legt Goethe seine Weltsicht als Dokument der Verschiedenheit der Geister nieder, die nun notwendig zur Trennung führt:

|| 46 WA I,36: Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, von 1707 bis 1822, S. 71f. 47 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. In: WA I,42/2, S. 109‒252, hier S. 211. 48 Ebd. 49 JBW I,11, S. 14.

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Ich für mich kann, […], nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. […] Siehst du so steht es mit mir, […]. Nur wenn dasjenige, was mir zu meinem Daseyn und Wirken unentbehrlich ist, von andern als untergeordnet, unnütz oder schädlich behandelt wird, dann erlaube ich mir, […] verdrießlich zu seyn und auch dieß vor meinen Freunden und Nächs50 ten nicht zu verbergen.

Das war Anfang 1813. Bis zu Jacobis Tod sechs Jahre später herrscht nun das Stillschweigen der Separierten. Erhalten sind lediglich noch zwei Briefentwürfe Jacobis, in denen er bemüht ist, sich über die ganze lang dauernde Affäre mit Goethe Rechenschaft abzulegen. Einer der Briefe, die Goethe nie erhielt, spricht von der Überbrückbarkeit aller Verschiedenheiten, die ja von Anfang an offenbar gewesen seien. Die Tatsache aber, dass Goethe nun noch einmal Jacobi zum Zentrum von weltanschaulicher Verachtung und poetischem Spott gemacht habe, lasse ihn jetzt die Unwiderruflichkeit des Endes akzeptieren. Aus dem erzählerischen Imperfekt seines Briefes kann er nur noch ins resignierte Plusquamperfekt fallen: »[D]enn es war eine große Liebe, die seit mehr als vierzig Jahren mich mit dir verbunden hatte.«51 Goethes Rückblende auf die Beziehung entbehrt ganz dieses liebevollen Weichzeichners. Im harten Licht der Enttäuschung erscheint die einst als unzerstörbar beschworene Verbindung nun als grandioser Irrtum: Ich mag die mysteria iniquitatis nicht aufdecken; wie eben dieser Freund, unter fortdauernden Protestationen von Liebe und Neigung, meine redlichsten Bemühungen ignorirt, retardirt, ihre Wirkung abgestumpft, ja vereitelt hat. Ich habe das so viele Jahre ertragen, denn – Gott ist gerecht! – sagte der persische Gesandte, und jetzo werde ich mich’s freylich nicht anfechten las52 sen, wenn sein graues Haupt mit Jammer in die Grube fährt.

So enden Ehen. Vielleicht ist der Freundschaftsbund zwischen Goethe und Jacobi am gleichen Phänomen gescheitert, an dem auch viele Ehen zu scheitern pflegen: der Überfrachtung. Die Vereinigung zweier Menschen soll alles leisten, was sich auf Erden an Liebe, Vertrauen, Sicherheit und Zärtlichkeit nur denken lässt – und das ein Leben lang. Was Jacobi und Goethe verbunden hatte, ist in gewisser Weise durchaus einer Ehe zu vergleichen, von der Intensität der ersten Verliebtheit über die Dauer der Beziehung, die Menge der Krisen und Versöhnungen bis hin zum traurigen Ende der Scheidung. In einem Punkt aber sollte die Vergleichung aussetzen: Erotische Konnotationen kann man in so einer Beziehung vielleicht latent feststellen, sicher aber nicht || 50 WA IV,23: Goethes Briefe. Mai 1812 bis August 1813, S. 226f. 51 Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi. Hg. von Max Jacobi. Leipzig 1846, S. 268. 52 WA IV,22: Goethes Briefe. Januar 1811 bis April 1812, S. 322f. (an Knebel, 4. April 1812).

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intendiert oder gar bewusst.53 Es wäre ein großer Fehler, die schriftlichen Ergießungen der Freundesliebe, wie wir sie bei Goethe und Jacobi lesen können, aus dem Kontext des empfindsamen Umfelds jener Zeit herauszulösen und sie als Manifestationen homoerotischer Liebe zu sehen. Wollte man all die damals hingeweinten, hingeküssten und hingestammelten Gefühlsausbrüche als Ausdruck erotischer Verhältnisse deuten, sähe man sich bald einem sexuellen Definitionschaos gegenüber, denn ob Briefschreiber und -empfänger weiblich oder männlich waren, ist inhaltlich und stilistisch völlig ununterscheidbar. So hinterlässt es auch einen gänzlich falschen Eindruck, wenn Heinz Nicolai, der sich ein ganzes Buch lang mit dem Verhältnis Goethe-Jacobi beschäftigte,54 mehr als zwischen den Zeilen andeutete, bei den beiden Männern sei es nicht nur zum Austausch von Briefen gekommen. Da wirkt der aktive Goethe auf den »sensiblen, frauenhaft-anschmiegsamen Gefühlsmenschen«55 Jacobi, dessen sich »der Eros der Freundschaft [noch nie] […] mit solcher Gewalt […] bemächtigt« habe und der »[n]och nie […] in solcher Weise begehrt worden« sei, dessen »Liebesverlangen und […] Liebeskraft« nie »so in Tätigkeit versetzt worden« sei.56 Den Gipfel der schwülen Metaphorik erreicht Nicolai, wenn er vom »weibliche[n] Zug seiner [Jacobis, G. S.] Natur« spricht, der in »passive[r] Hingegebenheit und Erwartung« erschaudert sei vor dem, »was ihm wider[fahren]« sei,57 und der »die Erregung seines Innern in ein Liebesbekenntnis«58 habe »ausströmen« müssen. Der Wissenschaftler Nicolai, durchaus zu seriöser Forschung fähig, verkannte völlig den Einfluss, den jene immens produktive Phase der Aufklärung, die wir als Empfindsamkeit bezeichnen, auf Gefühlswelt und Sprache ihrer Zeit hatte. Dass Jacobi einem Mann schreibt, er liebe ihn, gibt zu keiner Spekulation in Richtung Gürtellinie-abwärts Anlass. Nun sind die Thesen Nicolais sehr alt und wichen zu Recht einer differenzierteren Sichtweise. Diese war insbesondere wünschenswert, als 1997 unter dem Titel Die Liebkosungen des Tigers eine »erotische Goethe-Biographie« des frühen KohlBiographen Karl Hugo Pruys erschien, ein Buch, das kaum ein wahres, kaum ein richtiges Wort enthält und nicht einmal in Bildunterschriften, Zeittafel und Literaturliste frei von Verfärbungen ist. Von der Kennzeichnung Goethes als »erotisch und

|| 53 Das heißt auch, dass ich die Ehe hier nicht nach dem definiere, was Kant in seiner Metaphysik der Sitten als Voraussetzung natürlicher wie gesetzlicher Verbindungen (und damit der Ehe) nennt: die »Geschlechtsgemeinschaft« zum »wechselseitige[n] Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht« (AA VI, S. 203–493, hier § 24, S. 277). 54 Nicolai: Goethe und Jacobi (s. Anm. 3). 55 Ebd., S. 68. 56 Ebd., S. 61. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 114.

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sexuell introvertierte[m] Egomanen«59 mit einer »tiefsitzenden Furcht vor dem Weibe«,60 ja »Geringschätzung der ›Weiberliebe‹«,61 bis hin zum Gutachten, bei Goethe sei der sexuelle »Vollzug selten«62 gewesen und seine Liebschaften stellten nur den heillosen Versuch dar, »sich wieder einmal seiner Normalität zu vergewissern«,63 bietet Pruys die ganze Palette der Spekulationen, welche in dem Satz »Männer spielten in seinen Phantasien eine mindestens so große Rolle wie Frauen«64 gipfeln. Ist so eine These einmal aufgestellt, wird sie gleich als bare Münze in Umlauf gebracht: Im Folgenden ist kurzerhand von Goethes »sexuelle[r] Ambivalenz«65, ja seinen »gleichgeschlechtlichen Obsessionen«66 die Rede. Was die angeblich homosexuelle Bindung Goethes an Jacobi betrifft, schwadroniert Pruys zunächst davon, in ihrer Beziehung träten »erstmals Motive in Erscheinung, die mit dem im Zeitalter der Empfindsamkeit herrschenden Männer- und Literatenkult nichts gemein haben«,67 um schließlich von einer ihrer Begegnungen (war er dabei?) zu berichten: »Es scheint unabweisbar, daß die beiden Freunde bei dieser Gelegenheit einander sehr, sehr nahe gekommen sind. Es handelt sich hier um einen unzweideutig dokumentierten Beweis, daß Goethe zu mehr als nur einem homoerotischen Lippenbekenntnis bereit war.«68 Am Schluss seines Buches spricht Pruys gar von der »gelebte[n] Realität«69 dieser Begegnung. Wie ist es aber zu erklären, dass die Jacobi- und Goethe-Forschung auf dem homosexuellen Auge blind war? Zum Glück hat Pruys auch dafür die Erklärung parat: »Als Jurist weiß Goethe um die Strafbarkeit homosexueller Betätigung, natürlich, und so unterläßt er alles, was in seinem Verhalten darauf hinweisen könnte.«70 Die einfache Feststellung »Eigentlich nahmen Männer stets den ersten Platz in seinem Denken und Empfinden ein«71 genügt als Passepartout.72

|| 59 Karl Hugo Pruys: Die Liebkosungen des Tigers. Eine erotische Goethe-Biographie. Berlin 1997, S. 11. 60 Ebd., S. 76. 61 Ebd., S. 93. 62 Ebd., S. 13. 63 Ebd., S. 152. 64 Ebd., S. 13. 65 Ebd., S. 18. 66 Ebd., S. 15. 67 Ebd., S. 55. 68 Ebd., S. 57. 69 Ebd., S. 178. 70 Ebd., S. 43. 71 Ebd., S. 67. 72 Übrigens brachte auch das Goethe-Jahr 1999 eine Frucht solch vergeilter Triebe hervor. In seinem Tod in Weimar schildert Henning Boetius eine homosexuelle Begegnung des greisen Goethe. Freilich handelt es sich dabei um die fiktionale Literaturgattung der Novelle, und wenn damit der löbliche Gedanke der Toleranz gegenüber Andersliebenden gestärkt worden ist, wollen wir fein still sein; vgl. Henning Boetius: Tod in Weimar. Gifkendorf 1999.

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Die Metapher von der Ehe zwischen Goethe und Jacobi ist freilich völlig anders zu gebrauchen, als Nicolai und Pruys das einst taten.73 Das Zeitalter, in dem der Bund zwischen Goethe und Jacobi begann, war zwar nicht von ungefähr eines, in dem die Forderung, die Vernunftehe durch die Liebesheirat zu ersetzen, immer lauter wurde. Das Gefühl wurde zur Definition des Menschen, wie es zuvor Stand, Besitz, Bildung gewesen waren, und das Gefühl als Maxime menschlichen Daseins brachte nun die unterschiedlichsten Personen in Ehen, Freundschaftsbünden und Gruppierungen zusammen. Tragisch für Jacobi aber war es, dass er sich das empfindsame, fast übermenschlich anspruchsvolle Freundschaftsideal in seiner ersten überschäumenden Ausformung ein Leben lang bewahrte, statt seine Ansprüche der stets wandelbaren Beziehungsauffassung des Partners anzupassen. Goethe seinerseits konnte nicht goutieren, noch nach 40 Jahren als Mumifizierung eines schwärmerischen Jünglings in Jacobis Vorstellungswelt herumzugeistern. Seine typische Art der gnädigen Duldung so mancher Kuriosität erlaubte ihm allerdings, das Verhältnis über so lange Zeit fortzusetzen. Im Abschnitt Jacobi seiner Biographischen Einzelnheiten findet er dafür das Etikett »[W]ir liebten uns, ohne uns zu verstehen«.74 Es ist überaus bezeichnend für ihn, dass nicht Allwill und nicht Woldemar, dass nicht Prometheus und nicht Spinoza, auch nicht »Pedanterie« und »Theetisch« es vermocht hatten, eine endgültige Trennung von Jacobi herbeizuführen. Gelungen war es erst dem einzigen Thema, bei dem Goethe keinen Spaß verstand – seiner ureigensten Weltsicht: Jacobi hatte den Geist im Sinne, ich die Natur, uns trennte was uns hätte vereinigen sollen. Der erste Grund unserer Verhältnisse blieb unerschüttert; Neigung, Liebe, Vertrauen waren beständig dieselben, aber der lebendige Antheil verlor sich nach und nach, zuletzt völlig. Über unsere späteren Arbeiten haben wir nie ein freundliches Wort gewechselt. Sonderbar! daß Personen, die ihre Denkkraft dergestalt ausbildeten, sich über ihren wechselseitigen Zustand nicht aufzuklären vermochten, […]. […] Hätten sie sich […] verständigt, so konnten sie Hand in Hand durch’s Leben gehn, anstatt daß sie nun, am Ende der Laufbahn, die getrennt zurückgelegten Wege […] betrachtend, sich zwar freundlich und herzlich, aber doch mit Bedauern be75 grüßten.

|| 73 In der Gattung »unterhaltsame Wissenschaftsprosa« sind zum Thema erschienen Gudrun Schury: Ueberflüßiges Taschenbuch auf Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 1995 sowie dies.: Goethe-ABC. Leipzig 1997 (überarbeitet und vermehrt u. d. T. Alles über Goethe. Ein Sammelsurium von A bis Z. Berlin 2005). 74 Johann Wolfgang von Goethe: Biographische Einzelnheiten. In: WA I,36, S. 221–299, hier S. 268. 75 Ebd., S. 268f.

Friedrich Vollhardt

Die Peripherie des Zirkels Jacobi im Gespräch mit Wieland, Hemsterhuis und Herder Im Oktober 1772 beschließt Jacobi einen Brief an Wieland mit der Bemerkung, dass er seine zuvor beschriebenen Entdeckungen auf dem Gebiet der Philosophie vielleicht einst »dem Publico, unter dem Titel: Gemeinnützige Nachrichten, welche nur ein Narr zu entdecken fähig war«, mitteilen werde.1 Diese Ankündigung war zweifellos ernster gemeint, als der ironische Ton vermuten lässt. Wieland ist zu dieser Zeit sein wichtigster Briefpartner, mit dem er Formprobleme des philosophischen Romans erörtert und nebenher die gemeinsame Herausgabe einer Zeitschrift bespricht, die 1773 als Der Teutsche Merkur erscheinen wird. Hier veröffentlicht Jacobi seinen ersten Roman Eduard Allwills Papiere, in dem er nicht nur die in der Auseinandersetzung mit Wieland gewonnenen poetischen Einsichten umzusetzen versucht, sondern ganz direkt auch eine Passage aus dem eben erwähnten Brief einarbeitet. Der Briefroman − die Gattungsbezeichnung erweist sich als durchaus zutreffend − bedeutete jedoch nicht die Einlösung des gegenüber Wieland geäußerten Versprechens. Er enthielt nur »das erste [Wort] über meine Philosophie«,2 wie Jacobi später in einem Vorbericht zu den Briefen Ueber die Lehre des Spinoza mitteilt, in denen er eine Summe seiner Philosophie gezogen hat. In der Tat besteht von den frühen Briefen an Wieland bis zu den Beylagen in der zweiten Ausgabe der Spinozabriefe eine Kontinuität in den philosophischen und anthropologischen Problemstellungen, die einer genauen Rekonstruktion noch bedarf. Anhand von zwei Beispielen − Jacobis Korrekturen an Wielands Geschichte des Agathon und der verdeckten Kritik an Herder in der Beylage VII der Spinozabriefe − werde ich versuchen, einen Einblick in die Genese seines Denkens zu geben. Sie lässt zugleich verstehen, warum man im Kreis der Weimarer Neospinozisten um Herder und Goethe die von Jacobi aus dem Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing gezogenen Konsequenzen ablehnte, während im Tübinger Stift seine Schriften mit größerer und − in einer veränderten Problemkonstellation − neuer Aufmerksamkeit gelesen wurden.

|| 1 JBW I,1, S. 172. 2 Friedrich Heinrich Jacobiʼs Werke. 6 Bde. Hg von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Leipzig 1812‒1825 [ND Darmstadt 1968], Bd, 4.1, S. XV. https://doi.org/10.1515/9783110727340-004

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1 Im Sommer 1772 hat Jacobi das für eine Neuauflage vorbereitete Manuskript des Agathon, seinem »Lieblingsbuch«,3 wie er an Wieland schreibt, mit einer Reihe von Anmerkungen versehen. Er hatte das Buch bereits kurz nach seinem ersten Erscheinen 1766/67 gelesen und seinem Amsterdamer Buchhändler empfohlen, wobei er auch die wiederholte Lektüre der Werke Charles Bonnets erwähnt; eine vielleicht zufällige, gleichwohl aber bemerkenswerte Kombination von Autoren und Titeln. Sein Studium des französischen Sensualismus und Materialismus4 versetzte Jacobi in die Lage, einen der wichtigsten Erzählstränge des Agathon inhaltlich zu erschließen und kritisch auf die intendierte Wirkung des Romans zu beziehen. Vor dem Hintergrund einer zeitlosen Antike vertritt hier der Sophist Hippias dezidiert die materialistischen Positionen eines Helvétius und La Mettrie und damit »das allgemeine System unserer Zeiten«, wie Jacobi anmerkt, so dass es »dem Geschichtschreiber des Agathon« ergehen könne, »wie es einigen Theologen ergangen ist, welche durch ihre Vertheidigungsschriften für die Religion Freigeister gebildet haben.« Er wirft Wieland vor, die »Sache der Tugend« gerade dadurch »auf einer zu schwachen Seite«5 gezeigt zu haben, dass er ihre überzeugendsten, einer langen Tradition entstammenden Argumente durch den Schwärmer Agathon vertreten lässt, der im Disput mit dem Materialisten als der Unterlegene erscheinen könnte, da der Erzähler darauf verzichtet, einen Kommentar zu geben. Die Beobachtung trifft zu, da Wieland bewusst »beim skeptischen Nebeneinander von Überzeugungen«6 stehenbleibt. Bei seinem Einwand beruft sich Jacobi auf das Urteil Lessings, der nicht nur in der Hamburgischen Dramaturgie, sondern auch öffentlich im Beisein seines Bruders Georg die fehlende »Moralität« des Buches beklagt habe.7 Dass in dieser Unentschiedenheit zugleich das Neue des Romans liegt, hat Jacobi dabei richtig erkannt. Er moniert nicht das Prinzip der auf Offenheit zielenden Dialogführung, in welchem er die einzige »Methode« sieht, »durch Erdichtungen zu bessern«. Im Blick auf das Lesepublikum fügt er jedoch hinzu, dass »die Kette von Ideen und Empfindungen, die auf diese Weise durchlaufen wird,« nicht zu lang werden darf, denn wie muss »der Geist beschaffen seyn, der darüber nicht in Verwirrung gerathen soll?«8

|| 3 JBW I,1, S. 159. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Hans Friedrich Fulda in diesem Band. 5 JBW I,1, S. 168f. 6 Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 45. 7 JBW I,1, S. 169: »Hätten Sie wohl ein solches Urtheil von einem Lessing vermuthet?« 8 Ebd., S. 173.

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Wieland dürfte die Herkunft des Arguments erkannt haben, mit dem Jacobi seine Replik in einen weiteren Diskussionszusammenhang stellt. Sein Bruder Johann Georg hatte 1771 das Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder veröffentlicht, wo in fast wörtlicher Übereinstimmung mit der eben zitierten Frage die Mangelhaftigkeit eines auf Vernunftschlüsse gegründeten moralphilosophischen Systems kritisiert wird: »Soll dieses System auf die blosse Vernunft gebaut seyn, so gehört dazu eine Menge von abgezogenen Begriffen, eine lange Kette von Schlüssen, welche deutlich zu übersehen, nur das Werk eines geübten und denkenden Geistes ist.«9 Die Gegenposition einer reflexionslosen Empfindung des Guten als einer göttlichen Kraft kann dagegen nur als Appell und unter Berufung auf die genannte Tradition formuliert werden, in die von Johann Georg auch eine kurz zuvor erschienene Schrift Wielands (Musarion oder die Philosophie der Grazien, 1768) eingereiht wird.10 Zu dem behaupteten »Lehrsatz« wird in der Broschüre dann noch vorsichtig angemerkt − wobei zugleich auf das Sujet des Agathon angespielt wird −, er habe »zu den größten Schwärmereyen Anlaß gegeben […].«11 Nun besteht, wie bereits angedeutet, Wielands Kunst des Erzählens in dem Verzicht auf Normbegriffe, welche die einzelnen Figuren nur zu vertreten und durch ihr Handeln zu bestätigen haben. Der Roman macht es sich nicht zur Aufgabe, die »ausführlichen Lehrbücher […] der Sittenlehre« zu illustrieren, vielmehr will er die »Wahrheit des Characters« der Titelfigur durch die Analyse derjenigen Motive erhellen, die das Handeln des Menschen in der Welt bestimmen oder, wie Hippias genauer darlegt, bis zu einem gewissen Grad determinieren. Der Enthusiasmus des || 9 Der Text ist von Hermann Bräuning-Oktavio neu ediert und ausführlich kommentiert worden: Johann Georg Jacobis »Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder« (1771), der sog. »Brief an die Freydenker«. In: Weimarer Beiträge 7 (1961), S. 694–738, hier S. 700. 10 Ebd., S. 703 Anm. g. 11 Ebd. – Mit dem Schreiben eines Freydenkers hat Johann Georg Jacobi in den Freundschaftszirkeln der Empfindsamen eine Debatte ausgelöst, da der Text keinen Autor ausführlicher zitiert als Rousseau, dessen »Glaubens-Bekenntniß« gegen die Philosophie der Enzyklopädisten ausgespielt wird, obgleich der Verfasser mit Bedauern einräumen muss, dass sich Rousseau in seinem gefühlvollen Vortrag religiöser Wahrheiten nicht als kirchenfrommer Christ erwiesen habe: »Warum stört er den Frieden so vieler, um einige Zweifelhafte wieder aufzurichten?« (S. 706 Anm. f). Nun: weil er aus systematischen Gründen die Unvereinbarkeit zwischen christlicher und weltlicher Moral behaupten muss, ein Problem, das in ähnlicher Weise auch das Gespräch zwischen F. H. Jacobi und Wieland bestimmt. Zur Bedeutung des Freydenker-Schreibens im Kreis um die Brüder Jacobi ausführlicher Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin 1995, S. 79–100, bes. S. 81f.; ergänzend Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 161ff. Zu Wielands Rousseau-Rezeption Gideon Stiening: Glück statt Freiheit – Sitten statt Gesetze. In: Wielands Auseinandersetzung mit Rousseaus politischer Theorie. In: Wieland-Studien 9 (2016), S. 62–103.

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Protagonisten ist nur ein charakterliches Merkmal unter anderen. Die Geschichte des Agathon erweist sich so »als hypothetische und experimentelle Darstellung der ›conditio humana‹.«12 Um die Gründe des menschlichen Handelns durchschaubar zu machen, bedient sich der von den Fortschritten der Naturwissenschaft sichtlich beeindruckte Autor der Erkenntnisse der empirischen Psychologie und der neuen Milieutheorien, die er zu Prämissen seines Erzählverfahrens erhebt: Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darinn, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Character nicht willkührlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrath der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wol die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besonderen Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual=Character und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beybehalten; daneben auch der eigene Character des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesezt wird, niemal aus den Augen gesezt; und also alles so gedichtet sey, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde.13

Jacobi stimmt dem zu und versichert Wieland brieflich, dass er mit den die Tugend betreffenden Einwänden »den guten Agathon« keinesfalls »zum Stoiker castriren«14 wolle. Auch in seinen eigenen Romanen vermeidet er die Typisierung vorbildlicher Haltungen zugunsten einer genauen Beobachtung psychischer Beweggründe, die er in der Begrifflichkeit des bonnetschen Sensualismus beschreibt: »Denn es giebt doch wohl kein innerliches Bestreben im Menschen«, heißt es in der revidierten Fassung des Woldemar von 1779/81, »das nicht durch den Reiz eines Gegenstandes außer ihm zuerst wäre in Bewegung gesetzt worden. So wenig unser Angesicht sich in sich selbst beschauen kann: so wenig kann es unsere Seele. Sie wird ihres inneren Wesens nur durch Anstoß und Gegenwirkung gewahr.«15 Das bedingt zugleich die Statik der Romane, in denen nicht ein abwechslungsreiches Geschehen die Handlung dominiert, sondern umgekehrt die Schilderung der inneren Reaktionsweisen der Personen die wenigen äußeren Ereignisse überlagert. Im Mittelpunkt

|| 12 Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon). In: Nachahmung und Illusion. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1964, S. 72–93, hier S. 88. 13 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Unveränderter Abdruck der Editio princeps (1767). Hg. von Klaus Schaefer. Berlin 1961, S. 1. – Zu diesem für die Romantheorie so wichtigen Vorbericht vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991, S. 87ff. 14 JBW I,1, S. 168. 15 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 2), Bd. 5, S. 189f.

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steht daher auch nicht der exemplarische Entwicklungsgang eines Individuums, sondern das prinzipielle Wissen um die menschliche Natur. Die Literatur profitiert dabei sichtlich von der Konjunktur einer lebenspraktischen, in unterschiedlicher Weise am common sense orientierten Philosophie − die Quellenforschung hat hier für Jacobi die verschiedensten Autoritäten zu benennen versucht −, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Systeme der Schulphilosophie in Legitimationszwänge brachte. Auch Wieland hat diesen Prozess aufmerksam verfolgt; an einem Wendepunkt seiner literarischen Karriere wird er zum Begründer des anthropologischen Romans, der Agathon erhält hier eine »gattungsgeschichtliche Schlüsselstellung«.16 Jacobi zeigt sich fasziniert von der Laboratoriumswirklichkeit (Jan-Dirk Müller), die Wieland im literarischen Experiment herzustellen vermag, weshalb er sich an den Leitlinien dieses Erzählens orientiert. Dabei versucht er jedoch den Widerspruch aufzuheben, in den sein Vorbild zwangsläufig geraten musste, indem er den empiristischen Standpunkt, mit dem sich der Autor von den Vorgaben einer normativen Ethik emanzipiert hatte, in der Figur des Hippias selbst zum Gegenstand und Inhalt der Dialoge macht. Die mehrfachen Umarbeitungen des Romans sind auf eben diesen Widerspruch zurückzuführen; denn zweifellos verfügt Hippias über eine adäquate Theorie der menschlichen Natur, nicht aber über moralische Grundsätze. Empfindungen werden von ihm nach den Gesetzen der Assoziationspsychologie und medizinischen Physiologie in ihre Bestandteile aufgelöst. Ethische Begriffe lassen sich an sie nicht binden: »Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes, von Vergnügen des Herzens, von Vergnügen der Tugend. Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen oder für die Einbildungskraft, oder sie sind nichts.«17 Da eine auf physiologische Reiz- und Reaktionsmechanismen reduzierte Anthropologie kaum der gesellschaftlichen Übereinkunft dienlich sein kann oder diese sogar, wie Wieland im Vorbericht des Romans einräumt, »zu grunde richten« würde, »wenn es moralisch möglich wäre, daß der grössere Theil der Menschen damit angestekt werden könnte«,18 sucht der Autor nach einer plausiblen Widerlegung nicht auf der Ebene des Figurengesprächs, sondern des konkreten Handelns. Agathon desavouiert die Theorie des Materialisten allein dadurch, dass er anschaulich und damit nach dessen eigenen Voraussetzungen unwiderleglich zeigt, dass ein von der Triebnatur entbundenes, höheren Werten gehorchendes Handeln des Menschen möglich ist, womit er zu einer »lebendige[n] Widerlegung seines Systems«19 wird. Nur: eine Begründung für seinen ethischen Optimismus gibt Agathon nicht.

|| 16 Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL 6. Sonderheft (1994), S. 93–157, hier S. 134. 17 Wieland: Geschichte des Agathon (s. Anm. 13), S. 53. 18 Ebd., S. 4. 19 Ebd., S. 79.

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Das bereits zitierte Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder kennzeichnet die Ambivalenz von Denken und Handeln, wie sie im Roman Wielands aufbricht, als das moralische Grundproblem einer der radikalen Aufklärung verpflichteten Anthropologie: »Eine theoretische Wahrheit, aus welcher wir, durch falsche Folgerungen, einen practischen Irrthum ziehen, ist dem theoretischen Irrthume weit nachzusetzen, der unsern Handlungen Wahrheit giebt.«20 Wieland hat in der letzten Fassung seines Romans den Widerspruch dadurch zu lösen versucht, dass er die sich autonom setzende Moral Agathons unter anderem mit Hilfe des kantischen Pflichtbegriffs erläutert, der ihm durch seinen Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold vermittelt wurde, an den er kurz vor der Veröffentlichung der dritten Fassung des Agathon (1794) schreibt, dass er »schon vor 25 Jahren eine Art von Kantischer Filosofie in herba im Schooß meiner Seele herum trug«.21 Den ersten Anstoß zu dieser Korrektur hat er von Jacobi erhalten, der verhütet wissen wollte, »daß die Leser des Agathon die Schwärmerei des Helden […] mit seinen tugendhaften Gesinnungen in Eins werfen und in den Zweifel gerathen, ob nicht der Vortheil, den Hippias dem Agathon abgewinnt, ein Sieg über die Tugend selbst sey«.22 Jacobi sieht dabei deutlich die Grenzen eines möglichen erzählerischen Eingriffs. Agathons Enthusiamus, sein im Gespräch mit Hippias geäußertes Vertrauen auf die Existenz eines höchsten Wesens, das sowohl die Harmonie der Schöpfung als auch die sittliche Freiheit des Individuums garantiert, war nicht mehr im Sinne einer theologia naturalis zu rechtfertigen. Auf die Frage nach dem »Daseyn« eines »obersten Geistes« antwortet Agathon: »›Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also.‹«23 Jacobi zitiert diese Stelle in einem Brief an Wieland, in dem er »[n]och einmal« ausführt, dass auch er von der Natur dieses unendlichen, ewigen Wesens nichts wisse: »ich verstehe nicht, wie ein allgenugsames Wesen den Willen haben kann, etwas hervorzubringen; aber sein Daseyn muß ich annehmen, oder alle Erkenntnißgründe der Wahrheit, alle Gesetze des Denkens aufgeben.«24 Da der gesuchte Tugendbegriff nicht in einer rationalen Beweisführung für das Dasein Gottes begründet werden kann, stellte sich die Frage, ob die Programmatik des anthropologischen Romans auf die Beschreibung des Handelns einzuschränken ist, ohne dass die »Gesetze des Denkens« angemessen berücksichtigt werden. Jacobi nimmt die Frage auf, indem er in seinem Briefroman Eduard Allwills Papiere die Empfindungsgewissheit und die Problematik der Selbstwahrnehmung des Subjekts ins Zentrum stellt. Dass er diesen Text auch als Antwort auf die mit Wieland erörterten || 20 J. G. Jacobi: Schreiben eines Freydenkers (s. Anm. 9), S. 705f. 21 Zit. nach Walter Erhart: Wieland ist nie modern gewesen. In: ders., Lothar van Laak (Hg.): Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk. Berlin, New York 2010, S. 15–35, hier S. 32. 22 JBW I,1, S. 173. 23 Wieland: Geschichte des Agathon (s. Anm. 13), S. 40. 24 JBW I,1, S. 161.

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Fragen versteht, gibt nicht nur die Veröffentlichung im Teutschen Merkur zu verstehen, sondern, wie bemerkt, auch die in den Roman eingestreuten Anspielungen auf den Briefwechsel der beiden Autoren. Wieland hat sich an diesem Spiel beteiligt und den Druck mit einer Anmerkung versehen, in der er sich selbst mit dem Kürzel »W.«25 als Herausgeber der Papiere einführt, was einerseits »dem Aufbau von Fiktionalität, andererseits der Beglaubigung von Realität«26 dient.

2 Bezeichnenderweise hat sich Eduard Allwill, die Hauptfigur des Romans, am Schluss zu einem »bangen, schielenden Sophisten« erniedrigt. Diese Charakterisierung zielt auf mehr als eine tragische Rollenverkehrung. Der Enthusiasmus, mit dem sich der Schwärmer Allwill auf die Natur beruft, von der er nicht nur sein moralisches Empfinden, sondern auch das »Ding Vernunft« bestimmt weiß – ist »es mehr als helleres Bewußtseyn durch zartere Sinnlichkeit hervorgebracht?«27 − unterscheidet sich kaum von den sensualistischen Maximen des Hippias, erst recht nicht in der Betrachtung ihrer Folgen. Die von der Sinnlichkeit abhängige Empfindung kann sich, als bloßer Reiz, nicht zur Sicherheit eines moralischen Gefühls qualifizieren: »Aber Sie können das nicht unterscheiden«,28 wirft die Briefpartnerin Luzia dem als Egoisten entlarvten Genie vor und fordert eine Mäßigung der triebhaften Affekte im Namen der Vernunft und gesellschaftlichen Moral. Dabei spielt der modische Rousseauismus eine Rolle, wenn im Allwill »das müßige Sammeln von Empfindungen« und »das Bestreben, Empfindungen zu empfinden«29 kritisiert wird, über das sich Jacobi auch in einem Brief an Sophie von La Roche vom 17. Juni 1771 mokiert, wo er vor allem von einem Gefühl spricht, nämlich seiner »aversion invincible, contre toutes les espèces de contorsions corporelles ou spirituelles.« Weil Jacobi hier zu unterscheiden versuchte, blieb es in seinen Romanen zunächst bei der Markierung des Problemfeldes. Auf dem Weg der Selbstbeobachtung sollte sich jenes Unbedingte − die Instanz der sittlichen Freiheit − bestimmen lassen, was auch zu Selbsttäuschungen führen kann. In dem eingangs erwähnten Brief an Wieland hat Jacobi seine Skepsis in ein Bild gefasst, das er in den Allwill-Roman

|| 25 Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1862, S. 2 Anm. (*). 26 Helmut Schanze: Jacobis Roman »Eduard Allwills Papiere«. Eine formgeschichtliche Analyse. In: Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Hg. von Klaus Hammacher. Frankfurt a. M. 1971, S. 323–331, hier S. 324. 27 Jacobi: Eduard Allwills Papiere (s. Anm. 25), S. 85. 28 Ebd., S. 101. 29 Ebd., S. 103 (Hervorhebungen nicht berücksichtigt).

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übernimmt. »Nichts ist gewisser«, schreibt er an Wieland, »als daß die äußern Zufälle eine außerordentliche Gewalt über Geschöpfe von unserer Gattung haben«; das gibt Anlass zu einer genaueren Ausführung, die mit einem auffälligen Vergleich einsetzt: Unser Leben gleicht einer Ptolomäischen Epicycloide; da sind Inclinationen und Declinationen ohne Ende; aber wir kommen immer wieder in die Peripherie unsers Zirkels zurück. Es belustigt mich nicht wenig, wenn ich mich der Zeiten erinnere, wo ich bei einer jeden Sinnesänderung, die ich erfuhr, dachte, ich hätte einen großen Schritt näher zur Weisheit gethan, und mich wunderte, wie ich wenige Tage, ja oft nur wenige Stunden vorher noch ein so großer Thor seyn konnte. Nachdem ich aber einige Mal, abwechselnd, in dem, was mir Thorheit gedäucht hatte, wieder zum weisen Manne, und in dem, was mir Weisheit gedünkt hatte, wieder zum Thoren geworden war, da lernte ich die Sache besser einsehen. […] Nun habe ich es so weit gebracht, daß, wenn ich mich in einer gewissen Verfassung des Körpers oder des Geistes befinde, in welcher es mir unmöglich ist, bis auf das Wahre, so weit ich es zu erkennen fähig bin, durchzudringen, ich mir wenigstens bewußt bleibe, daß ich mich in dieser Verfassung befinde: alsdann enthalte ich mich, über etwas schließlich zu urtheilen.30

Jacobi hat dieses Plädoyer für die Urteilsenthaltung in den Roman übernommen, wo die Hauptfigur in einem an die »gute Luzia« gerichteten Brief die Asymmetrie von sinnlich erfahrener Welt und vernünftiger, auf Erkenntnis zielender Reflexion mit dem der Astronomie entlehnten Begriff umschreibt, der zu einer Chiffre wird: Sie wissen, was die Ptolomäische Epicycloide für ein Ding ist: (sonst kann Wallberg Sie daran erinnern) Auf- Ab- und Durcheinanderschwingungen ohne Ende; doch nur ein Mittelpunkt, und der Planet tritt immer wieder in die Grenzen seines Cirkuls zurück. Es liegt mir noch klar genug im Gedächtniß, wie ich ehmals, bey jedweder merkwürdigen Sinnesändrung, mich nun endlich zur wahren Wahrheit bekehrt, und den einzigen Weg zur Glückseligkeit betreten zu haben glaubte, dann vor Entsetzen und Schaam vergieng, daß ich nur vor so wenig Tagen – oft vor nur so wenigen Stunden, noch ein so unbegreiflicher Thor hatte seyn können. Aber […] bald darauf kam mein unbegreiflicher Thor wieder ganz stattlich, als der weiseste Mann, ans Licht.31

Im Wechsel der Eindrücke bleiben keine Konstanten zurück. Die aus der Sinnlichkeit hervorgehende Empfindung kann täuschen, sobald sie in eine abstrakte Idee verwandelt wird, so dass sich Jacobi enthält, Wahrheit beanspruchende Schlussfolgerungen zu ziehen. Immerhin lässt sich eine Warnung aussprechen, wenn der Weg in den Irrtum bemerkt wurde – so viel Selbsteinsicht ist möglich. Es handelt sich um eine Maxime, die für Jacobis frühe Philosophie bestimmend gewesen ist: »Die Kraft

|| 30 JBW I,1, S. 171. 31 Jacobi: Eduard Allwills Papiere (s. Anm. 25), S. 84f.

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dieser Diagnose wird dabei zum vorzüglichsten criterium veritatis für das Gegenteil dessen, was in dieser Diagnose durchschaut ist.«32 Jacobi muss die Symbolik von Peripherie und Zirkel geschätzt haben.33 Bemerkenswert ist, dass er kein anerkanntes Naturgesetz zur Rechtfertigung der eigenen Argumentation anführt, sondern veraltetes, längst nicht mehr gültiges Wissen zitiert, das jedoch in einem übertragenen Sinne den Wahrheitsanspruch unserer von der sinnlichen Erfahrung abhängigen Erkenntnis gut zur Anschauung bringt. Dabei zeigt der in Klammern eingefügte Zusatz, der sich nur im Roman findet, dass es sich keineswegs um eine geläufige, sondern um eine durchaus erklärungsbedürftige Formel handelt, die in den Handbüchern der Zeit wie folgt erläutert wurde: »Epicyclus,« Heisset in der alten Astronomie ein Circul, darinnen sich der Planete beweget, indem sein Mittel-Punct in der Peripherie des eccentrici fortrücket. Es sey ABC ein Circul, in dessen Peripherie sich der Mittel-Punct B von dem anderen Circul D beweget, darinnen der Planete herum gehet; so heisset D der Epicyclus.

Mit Hilfe dieser Theorie wurde über Jahrhunderte die Ungleichheit der Planetenbahnen berechnet, doch nachdem, wie Christian Wolff lakonisch anmerkt, »Copernicus die Bewegung der Erde um die Sonne eingeführet, sind die epicycli aus der Astronomie abgeschaffet worden«34 – und damit frei verfügbar zum metaphorischen Gebrauch. Jacobi nimmt die Symbolbildung vor, um nach zwei Seiten hin die Grenzen einer »Doppelphilosophie«35 zu bestimmen, wonach wir auf die Selbstwahrnehmung angewiesen bleiben, um die gesuchte Wahrheit zu gewinnen: »Ich weiß von meinem Dasein, das ein bedingtes ist, nur in Beziehung auf das Wissen von Unbedingtem.«36 Von der prinzipiellen Unterscheidung zweier Erkenntnisweisen,

|| 32 Dieter Henrich: Der Ursprung der Doppelphilosophie. Friedrich Heinrich Jacobis Bedeutung für das nachkantische Denken. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte Jg. 1993, H. 3. München 1993, S. 13–27, hier S. 17. 33 Die beiden Textstellen sind in der Forschung nur selten im Zusammenhang kommentiert worden, zuletzt von Emanuela Pistilli (Tra dogmatismo e scetticismo: fonti e genesi della filosofia di F. H. Jacobi. Pisa, Roma 2007), allerdings nur im Blick auf die Figurenzeichnung: »Gli Allwill sono uomini oscillanti come un ›epicicloide tolemaico‹, a volte malvagi, ma mai artificiali cavalieri della morale« (S. 148). ‒ Ob Jacobi darüber hinaus auch an die mathematische Darstellung zyklischer Kurven gedacht hat, wie sie der von ihm bewunderte Blaise Pascal berechnet hat (Première lettre circulaire relative à la cycloïde, 1658), wäre eigens zu untersuchen. 34 Christian Wolff: Mathematisches Lexicon, darinnen die in allen Theilen der Mathematick üblichen Kunst-Wörter erkläret, und Zur Historie der Mathematischen Wissenschafften dienliche Nachrichten ertheilet […] werden. Leipzig 1716, Sp. 590–592 (mit einem Schema). 35 Henrich: Der Ursprung der Doppelphilosophie (s. Anm. 32), S. 23f. 36 Dieter Henrich: Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789). In: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Hg. von Axel Honneth u. a. Frankfurt a. M. 1989, S. 106–170, hier S. 167.

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wie er sie in der siebten Beylage der Spinozabriefe durchführen wird, ist er hier noch entfernt. Die durch den Datensensualismus hervorgerufene Beunruhigung hat Jacobi auch in seinem zweiten Roman Woldemar (1779) figural zu gestalten versucht. In einem Brief an Johann Georg Hamann aus dem Jahr 1783, den er später in seine Werkausgabe übernommen hat, reflektiert er die von ihm eingesetzten literarischen Strategien poetologisch, wobei ein Seitenblick auf die Philosophie Immanuel Kants fällt, deren epistemologisches Konzept – die in der Kritik der reinen Vernunft entwickelten transzendentalen Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis − für ihn offenbar keine hinreichende Erklärung für die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und verknüpfender Verstandestätigkeit erhält, der wir uns als Subjekt bewusst sein müssen: Woldemars Philosophie ist eine Thür, und ist auch eine Mauer: wie man’s nehmen will. Die Folge seiner Geschichte wird darüber mehr ans Licht bringen. Jetzt schon, wie bangend steht er nicht mit dem Besten, was er noch gefunden hatte, da? So wollte ich ihn verfolgen tiefer ins Leben hinein, und in der edelsten Philosophie, die mir bekannt ist, das große Loch, das ich selbst darin gefunden habe, zeigen. Nämlich: wir insgesammt, an Geist reicher oder ärmer, höher oder geringer, mögen es angreifen wie wir wollen, wir bleiben abhängige, dürftige Wesen, die sich durchaus nichts selbst geben können. Unsere Sinne, unser Verstand, unser Wille sind öde und leer, und der Grund aller speculativen Philosophie nur ein großes Loch, in das wir vergeblich hinein sehen. In alle Wege läßt uns der Versuch, mittelst einer gewissen Form unseres armen Selbstes bestehen zu wollen, nicht in uns hinein, sondern nur rein aus uns heraus zu erkennen, zu handeln und zu genießen, zu Narren werden, wie jede Nacht im Traume. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie mir geschah, da ich jenes Loch zuerst gewahr wurde, und nun weiter nichts als einen ungeheuren finstern Abgrund vor mir sah [...] Ich weiß nicht ob Sie mich verstehen.37

Da das Verhältnis von Gegenstands- und Selbstbewusstsein als ein unlösbares Rätsel erscheint – auch in der Philosophie Kants sollte es sich als problematisch erweisen −, bleibt es bei dem skeptischen Resümee. Dabei zeigt die verwendete Bildlichkeit, dass sich Jacobi nicht allein an den aktuellen Debatten zwischen Idealisten und Materialisten orientiert, sondern den zeitlichen Rahmen weiter steckt. Das hat Hamann erkannt. In seinem Antwortschreiben vom 2. November 1783 bekennt auch er seine »Unzufriedenheit mit dem Wege unserer Philosophie«, ergänzt seine Zustimmung aber mit einer aufschlussreichen Beobachtung: Dem ohngeachtet scheint mir doch jenes ungeheure Loch, jener finstre ungeheure Abgrund beynahe ein wenig à la Pascal ergrübelt zu seyn. Nicht daß ich an den Tiefen der menschl[ichen]. Natur den geringsten Zweifel hätte; aber diese Schlünde zu erforschen, oder den Sinn zu solchen Gesichten auch andern mitzutheilen ist mißlich.

|| 37 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 365f. (Hervorhebungen nicht berücksichtigt).

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Wenn Hamann dabei von dem »›Pyrrhonien Pascal‹«38 spricht, kann er bei seinem Briefpartner Einverständnis voraussetzen. Jacobi hat sich später mit einem entsprechenden Pascal-Motto in seinem David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (1787) zu der Wahlverwandtschaft bekannt: »La nature confond les Pyrrhoniens, & la raison confond les Dogmatistes. – Nous avons une impuissance à prouver, invincible à tout le Dogmatisme. Nous avons une idée de la vérité, invincible à tout le Pyrrhonisme.« Der Skeptizismus Pascals steht in der Tradition von Raimundus Sabundus und Montaigne, mit denen der religiöse Denker und Mathematiker die Einsicht teilt, dass die Unsicherheit der Erkenntnis eine Voraussetzung dafür ist, dass wir das Göttliche auf uns wirken lassen können.39 Jacobi muss diese Aufforderung zur intellektuellen Demut als ein wesentliches Moment des Renaissanceskeptizismus begriffen haben, da er den Gedanken übernimmt und seiner Denkform anpasst. In dem Brief an Hamann erläutert er in einer vielzitierten, dadurch etwas abgenutzten Wendung die Absicht, die er mit seinen Romanen verfolgt habe: »Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen. Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster, niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt, das Einfache, das Unauflösliche.«40 In den Vorbereitenden Sätzen zu der Werkausgabe seiner Spinozabriefe bezeichnet er dieses Unauflösliche als das »Θειον im Menschen; und die Ehrfurcht vor diesem Göttlichen, ist was aller Tugend, allem Ehrgefühl zum Grunde liegt. Construiren kann ich weder diesen Trieb noch seinen Gegenstand.«41 Nur so viel ist gewiss: Die Suche nach einem letztlich Gründenden leitet in die ›Peripherie unsers Zirkels‹ zurück, stets bedrängt durch eine Position, die sich auf die Materie hin orientiert. Welche Herausforderung der Sensualismus bildete, ist im Blick auf die Konstellationen der frühen 1770er Jahre noch genauer zu beschreiben.

|| 38 Zit. nach Nicole Schumacher: Friedrich Heinrich Jacobi und Blaise Pascal. Einfluß – Wirkung – Weiterführung. Würzburg 2003, S. 94f. (Hervorhebungen im Zitat nicht berücksichtigt). 39 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Blaise Pascal. München 1999, S. 90f. – Vgl. auch Mark-Georg Dehrmann: Nichtwissen und Glaube. Zur Erkenntnistheorie und Ethik Friedrich Heinrich Jacobis. In: Formen des Nichtwissens der Aufklärung. Hg. von Hans Adler und Rainer Godel. München 2010, S. 445–464, bes. S. 451 Anm. 20: »Man kann Jacobis Position also als Transformation einer radikalen Gnadenlehre begreifen.« 40 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 364f. 41 Ebd., Bd. 4, S. 33 (Hervorhebungen nicht berücksichtigt).

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3 Als Jacobi 1773 im Teutschen Merkur Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache rezensiert, scheint ihm ein Zweifel an der sinnlichen Basis jeglicher Erkenntnis kaum möglich: »Im Grunde ist alle und jedwede Erkenntniß, wenn sie auch an einer Kette von hundert Schlüssen hängt, nichts anders als eine bloße Perception.«42 Herder hat diesen Grundsatz in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ganz ähnlich formuliert: Alles sogenannte reine Denken in die Gottheit hinein, ist Trug und Spiel, die ärgste Schwärmerei, die sich nur selbst nicht dafür erkennet. Alle unser Denken ist aus und durch Empfindung entstanden, trägt auch, trotz aller Destillation, davon noch reiche Spuren. Die sogenannten reinen Begriffe sind meistens reine Ziffern und Zeros von der mathematischen Tafel, und haben, platt und plump auf Naturdinge unsrer so zusammengesetzten Menschheit angewandt, auch Ziffernwert.43

Diese Annahme ist mit dem Gefühl der autonomen Selbstbestimmung nicht in Einklang zu bringen. Daher muss diese auf ihre wahren Ursachen zurückgeführt werden: Von Freiheit schwätzen, ist sehr leicht, wenn man jedem Reiz, jedem Scheingut als einer uns sufficienten Ursache dienet. Es ist meistens ein erbärmlicher Trug mit diesen sufficienten Gründen, wo das Allgemeine immer wahr scheint, und das besondre Einzelne des bestimmten Falles ist Lüge. Man ist ein Knecht des Mechanismus, (dieser aber in die lichte Himmelsvernunft verkleidet) und wähnet sich frei; ein Sklave in Ketten, und träumet sich diese als Blumenkränze.44

Gegen diesen Determinismus Herders, der sich bei dem Begriff der Freiheit mit der gleichen Ironie auf Luther berief wie später Lessing im Gespräch über Spinoza, hat Jacobi bereits in seiner Rezension der Sprachursprungsschrift Einwände vorgebracht, indem er mit zahlreichen, zum großen Teil von Charles Bonnet entlehnten Beispielen die instinktentbundene Anpassungsfähigkeit organischer Lebewesen nachzuweisen suchte, der im Ethischen die Willensfreiheit entsprechen sollte.45 Es ging ihm dabei nicht um die Korrektur oder Ergänzung des empirischen Datenmaterials, sondern um die von Herder angewandte genetische Methode,46 deren grund|| 42 Ebd., Bd. 6, S. 248f. 43 HW II, S. 722. 44 Ebd., S. 695. 45 Vgl. Wolfgang Proß: Das ›Notwendige‹ und das ›Überflüssige‹ – Herders und Jacobis Auffassung des Organischen. In: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (1750–1850). Hg. von Gerhard Kurz. Düsseldorf 1984, S. 155–170, bes. S. 166. 46 Vgl. hierzu Hugh Barr Nisbet: Herder and the philosophy and history of science. Cambridge 1970, S. 65ff.

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sätzliche Geltung er bei der Interpretation in sich abgestufter Lebensphänomene bestreiten musste, um in der mit der Naturgesetzlichkeit verbundenen Frage der Kausalbeziehungen − die ihm seit der Preisfrage der Berliner Akademie von 1763 und allgemein durch die vorkritischen Schriften Kants vertraut war − zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Wie die wenigen Hinweise zeigen, reagierten Jacobi, Herder und Wieland ganz unterschiedlich auf die für jeden in gleicher Weise entscheidende Herausforderung durch den aufklärerischen Materialismus: Wieland durch die Adaptation der praktischen Philosophie Kants in seinem Spätwerk; Herder durch eine organologische Betrachtung der Naturphänomene, die, wie noch zu zeigen sein wird, zu einer Aufhebung des Gegensatzes von Materie und Geist in seinen spinozistischen Schriften der Weimarer Zeit führen sollte; und Jacobi durch die Annahme von zwei Formen der Erkenntnis, die er in den Spinozabriefen als unmittelbares und vermitteltes Wissen beschreibt, wobei er seine Position von der Herders abgrenzt, dessen Name im Text ungenannt bleibt und den er in einer für das Publikum nicht erkennbaren Weise nur mit einer höchst aufschlussreichen Stelle aus einem an ihn gerichteten Privatbrief zitiert. Zunächst schien sich jedoch eine Annäherung der drei Positionen zu ergeben, wobei einem von außen hinzutretenden Autor eine besondere Rolle zukam: Frans Hemsterhuis (1721–1790). Als der niederländische Philosoph 1785 Weimar besuchte, erreichte die Begeisterung für sein literarisches Werk und seine gewinnende Persönlichkeit einen Höhepunkt.47 »Dieser Mann ist«, schreibt Wieland an Jacobi, »meiner Empfindung nach, einer der vollkommensten Menschen, die je gewesen seyn mögen: ihm kommt der Name eines Plato unsrer Zeit eigentlich zu«;48 dabei hatte er vor dieser Begegnung die »Hemsterhuysischen Hypothese[n]« keineswegs uneingeschränkt bewundert.49 Anders Herder, der die Lettre sur l’homme et ses rapports von Hemsterhuis 1772 wohlwollend rezensiert und dessen Begriff des »organe moral«, das uns eine unmittelbare Erkenntnis des Übersinnlichen ermöglichen soll, als einen Beweis des Göttlichen ausgelegt hat, der sich nur im moralischen Handeln bestätigt: Dieses Medium aber unterscheidet sich dadurch von den übrigen, indem es mir eine Seite zeigt, von der meine Seele, mein Ich ein Theil ist. Mein Ich wird also selbst ein Gegenstand der Betrachtung; denn es giebt uns dieses Medium, nicht allein wie die übrigen, das Verhältniß der

|| 47 Vgl. Erich Trunz: Hemsterhuis’ Reise nach Weimar 1785 und die Klauersche Hemsterhuis-Büste. In: ders.: Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980, S. 218–250. 48 Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen. Hg. von Erich Trunz. Münster 1974, S. 38. 49 Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966, S. 636 Anm. 133.

58 | Friedrich Vollhardt Dinge ausser uns zu empfinden, sondern auch das Verhältniß, worinn wir mit diesen Dingen stehen; das heist, die erste Idee der Pflicht.50

Aus dieser Schrift hat Herder dann einige Gedanken Hemsterhuis’ über den Gang der Wissenschaften, Religion und Gesetzgebung entnommen, die er an das Ende seiner Briefe, das Studium der Theologie betreffend stellte. Dass auch Hemsterhuis astronomische Bildlichkeit verwendete, die er mit moralphilosophischen Überlegungen verschränkt, zeigt erneut, darin Jacobi vergleichbar, wie man den eigenen Ansatz gegenüber einem Publikum legitimierte, das mit den Errungenschaften der neuen Naturforschung vertraut war: Die Wissenschaft des menschlichen Geistes scheint sich um die Vollkommenheit, wie die Kometen um die Sonne in sehr eccentrischen Krümmen zu bewegen. Sie hat, wie diese, ihre Perihelien und Aphelien; wir kennen aber durch die Geschichte fast nur anderthalb Revolutionen, zwei Perihelien und das Aphelium zwischen ihnen. […] In unserm Perihelium ist der Geist der Geometrie oder Symmetrie […]. Im Perihelium der Griechen könnt’ es Geist der Moral oder der Empfindung heißen.51

Den Punkt der Umlaufbahn, in welchem die Erde der Sonne am nächsten steht, bezeichnet man als Perihelium, den entgegengesetzten als Aphelium. Insofern bewegen wir uns in einer der Sonne entfernten Zeit, in der »die Philosophie auf genaue Erfahrungen bauen« will, zum Schaden für Religion und Moral; unsere natürliche Moralität ist nämlich – hier ist ein Nachklang der Zivilisationskritik Rousseaus zu vernehmen − durch gesellschaftliche Konventionen und Gesetze depraviert worden: Religion entspringt nur aus Beziehung jedes Individuums aufs höchste Wesen, und diese Beziehung offenbaret sich nur durch den moralischen Sinn. Der moralische Sinn schwächet sich aber von Tag zu Tage, nach dem Maas, als die Wirksamkeit der Menschen eingeschränkt, bestimmt und durch die Gesetze verwaltet wird.52

Was die deutschen Autoren an den Schriften von Hemsterhuis faszinierte, war − neben der literarischen Form, der sprachlichen Eleganz und der dichterischen Prophetie − die Verteidigung metaphysischer Positionen mit praktischer Evidenz und einem mathematischen Kalkül, das den wissenschaftlichen Ansprüchen der Zeit zu genügen schien: »Das Verhältnis zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen beruht nach Hemsterhuis auf der Wirkung von Naturgesetzen.«53 In der deut-

|| 50 Herders Sämmtliche Werke. 33 Bde. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877‒1913, Bd. 5, S. 468. 51 Johann Gottfried Herder: Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Dritter Theil. Zweyte verbesserte Auflage. Weimar 1786, S. 386f. 52 Ebd., S. 388f. 53 Ralph Häfner: Grundlegungen der Sittlichkeit. Herders Auseinandersetzung mir Frans Hemsterhuis und Diderots Repliken auf die Lettre sur l’homme et ses rapports. In: Vernunft – Freiheit –

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schen Rezeption kam es dabei auch zu Anpassungen und Umdeutungen einzelner Motive, da man Hemsterhuis’ Überlegungen zur Allbeseelung des Universums und zum Selbstverhältnis des Menschen weiterzudenken versuchte.54 Das zeigt sich deutlich in Herders 1781 im Teutschen Merkur gedruckter Abhandlung über Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Herrn Hemsterhuis, die eine bedeutende Wirkung entfaltete.55 Die Liebe ist für ihn nicht ein vom Widerstand der Materie gelöster Drang nach Vereinigung mit dem höchsten Wesen, sondern umgekehrt nur eine höhere Stufe im Gefühl des gebundenen Lebens, in das auch das Göttliche einbezogen ist: Wir bleiben immer Geschöpfe, wenn wir auch die Schöpfer großer Welten würden. Wir nahen uns der Vollkommenheit, unendlich vollkommen aber werden wir nie. Das höchste Gut, was Gott allen Geschöpfen geben konnte, war und bleibt eignes Dasein, eben in welchem Er ihnen ist und von Stufe zu Stufe mehr sein wird Alles in Allem.56

Dieses Fazit am Ende des Textes ist zunächst einmal als Paulus-Zitat (1 Kor 15,28)57 und damit nur indirekt als – wie der Kommentar erläutert – »das spinozistische Credo eines im Begriff unseres Daseins gegründeten Weltverständnisses«58 zu lesen. In der Formel kündigt sich jedoch bereits jene Kontroverse über die Fragen der menschlichen Erkenntnisgrenzen und der Notwendigkeit einer − offen blieb: welcher − Offenbarung an, in deren Folge Jacobi zu einer präziseren Bestimmung seiner eigenen Position gelangen sollte.

4 An ihrem Beginn steht ein freundschaftlicher Brief Jacobis an Herder aus dem Jahr 1783. Darin wiederholt er den in seiner Korrespondenz mehrfach auftauchenden Gedanken einer »Scientia abrupta«, einer »Ahndung« vom Wesen des Unendlichen, den gleichwohl nichts Endliches zu repräsentieren vermag: die Wahrheit muss »in

|| Humanität. Über Johann Gottfried Herder und einige seiner Zeitgenossen. Hg. von Claudia Taszus. Eutin 2008, S. 115–133, hier S. 120. 54 Vgl. Klaus Hammacher: Hemsterhuis und seine Rezeption in der deutschen Philosophie und Literatur des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. In: Frans Hemsterhuis (1721–1790). Quellen, Philosophie und Rezeption. Hg. von Marcel F. Fesco, Loek Geeraedts und Klaus Hammacher. Münster 1995, S. 405–432. 55 Vgl. Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Mit einem Nachwort zur Neuauflage. Berlin 2010, S. 13f. 56 Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Frankfurt a. M. 1985‒1998, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, S. 423f. 57 Vgl. Dieter Zeller: Die Formel εἶναι τὰ πάντα ἐν πᾶσιν (1 Kor 15,28). In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 101 (2010), S. 148–152. 58 Herder: Werke, Bd. 4 (s. Anm. 56), Stellenkommentar, S. 1171.

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sich selbst allein erscheinen, in sich selbst allein sich offenbaren«59 können. An anderer Stelle hat er im Ausgang von diesem, im Brief an Herder nur verkürzt zitierten Satz Bacons seine Vorstellung einer unmittelbaren, sich nur im menschlichen Bewusstsein vollziehenden Offenbarung in einem an Johann Friedrich Kleuker gerichteten Schreiben vom 4./5. April 1782 genauer umrissen: Unmöglich aber kann ich durch bloß historische Mittel zur Erkenntniß des Unbegreiflichen gelangen; unmöglich kann es eine allgemeine Offenbarung im eigentlichen Verstande geben, ein physisches Instrument der Erkenntniß Gottes; alle Offenbarung, die nicht bloß individuell ist, kann nur eine menschliche Offenbarung seyn, keine göttliche.60

Noch einmal wird hier das fundamentale Problem aufgeworfen, das Jacobi zur Konzeption seines anthropologischen Romans geführt hat. Ausgehend vom Nichtwissen des höchsten Wesens wird eine übernatürliche Offenbarung postuliert, die nicht faktisch, weder historisch noch physisch, vermittelt sein kann. Die Kompromisslosigkeit dieser Denkvoraussetzung und die in sie eingeschlossene Ablehnung der christlichen cognitio dei revelata vermochten selbst enge Parteigänger Jacobis wie Thomas Wizenmann nicht nachzuvollziehen. Für Jacobi enthielt sie jedoch die einzig mögliche Lösung. Ein Wahrnehmungsorgan für das Übersinnliche, wie es Hemsterhuis angenommen hatte, lässt sich nicht positiv bestimmen, die gesuchte Offenbarung liegt vielmehr in dem Aufweis eines grundsätzlichen Mangels jeder Erkenntnis, auch der von einer sinnlichen Erfahrung abstrahierenden, verstandesgemäßen Demonstration. Denn auch unser Wissen von äußeren Dingen »setzt schon etwas Erwiesenes zum voraus«, heißt es in den Briefen Ueber die Lehre des Spinoza, »dessen Principium Offenbarung ist«.61 Da wir an die Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis glauben müssen, lässt sich dem unsere innere Erkenntnis vom Übersinnlichen mit gleicher Evidenz zuordnen. Das Glaubensprinzip löst die Frage nach der Struktur unseres Urteilsvermögens und bildet als epistemische Logik die erkenntnistheoretische Basis für die Unterscheidung zweier im Bewusstsein des Menschen sich teilender Vorstellungen, nämlich des bedingten, vermittelten Wissens vom Dasein endlicher Dinge und eines Unbedingten, das sich nicht nachkonstruierend begreifen lässt. Herder hat dem eine andere Konzeption des Erfahrungswissens und einer darauf beruhenden Selbstdeutung des Menschen entgegengesetzt. Offenbarung ist für ihn ein permanenter, nicht abschließbarer, dabei real zu vollziehender Prozess. In diesem Sinne interpretiert Herder 1774/76 die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Der biblische Schöpfungsbericht wird nicht nach dem Schriftsinn herme-

|| 59 JBW III, S. 160. 60 Ebd., S. 19. 61 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 2), Bd. 4.1, S. 223.

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neutisch, sondern symbolisch als ein Bild für das Werden und Wirken Gottes in Natur und Geschichte ausgelegt. Zu beachten ist dabei die Polemik sowohl gegenüber theologischen als auch philosophischen Positionen der Zeit: Die Hermeneutik von Anschauung und Gefühl erschließt Gottes Offenbarung in der Natur auf eine eigene, der kritischen Religionsphilosophie entgegengesetzte Weise. Religion auf ihren Ursprung hin historisch gedacht entsteht nicht aus der Verehrung einer ›einzelnen Gestalt‹ […], sondern aus dem Gewahrwerden der gegenwärtigen, wirkenden Gottheit.62

Dabei ließ sich jedoch mit den Mitteln des analogischen Denkens, das von der Beobachtung der in der Natur wirkenden Phänomene ausgeht, nur unzureichend erklären, wie sich im Menschen aus den Grundbedingungen des organischen Lebens das Gefühl immaterieller Freiheit herausbildet. Die genetische Erklärung erreicht hier ihre natürliche Grenze. Erst dem Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing,63 das er bereits vor seiner Drucklegung von Jacobi erhalten hat, konnte Herder den gesuchten »Mittelbegriff« einer »substantiellen« Kraft, das »Principium« der göttlichen Existenz entnehmen und auf seine Methode der Naturerklärung beziehen. Ein Brief an Jacobi vom 6. Februar 1784, überschrieben mit dem Erkennungssatz »Εν και παν«, bezeichnet einen Wendepunkt in seiner theoretischen Entwicklung: Sodenn, lieber bester extramundaner Personalist, bitte ich bestens u. angelegenst: besinnen Sie sich auf mehreres was Leßing gesagt hat u. − wapnen Ihr System mit mehrern Gründen. Wenn man keinen salto mortale zu thun nötig hat; warum braucht man ihn zu thun? u. gewiß, wir dörfens nicht: denn wir sind in der Schöpfung auf ebnem Boden. Das πρωτον ψευδοσ, lieber Jacobi, in Ihrem u. in aller Antispinozisten System ist das, daß Gott, als das große Ens entium, die in allen Erscheinungen ewig wirkende Ursache ihres Wesens ein O, ein abstrakter Begrif sei, wie wir ihn uns formiren; das ist er aber nach Spinoza nicht, sondern das aller reellste, thätigste Eins, das allein zu sich spricht: Ich bin der ich bin u. werde in allen Veränderungen meiner Erscheinung (diese beziehen sich nicht auf ihn sondern die Erscheinungen untereinander) seyn, was ich seyn werde. Nicht also von der Verneinung des Satzes: ex nihilo nihil fit fängt die Philosophie der wahren Entität an, sondern von dem ewigen Satze: quidquid est, illud est.64

|| 62 Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999, S. 158. 63 Vgl. Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 396– 419. 64 Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763‒1803. 10 Bde. Hg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977‒1996, Bd. 5: September 1783 – August 1788, S. 28f. – Auf die Parallelstellen in Herders Gott. Einige Gespräche kann hier nicht eingegangen werden; zum Kontext vgl. Marion Heinz: Die Kontroverse zwischen Herder und Jacobi über Spinoza. In: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkeulen. Hamburg 2004, S. 75–87.

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Jacobi greift den Kernsatz des Briefes in der Beylage VII der Spinozabriefe auf, um bei seiner Ablehnung eines »physischen Instrumentariums« der Offenbarung jedes Missverständnis zu vermeiden. Die Vernunft, heißt es hier, versuche das Außernatürliche den Gesetzmäßigkeiten ihres vermittelnden Denkens anzuverwandeln und das mit einem Schein der Rechtmäßigkeit, da sie die Phänomene des organischen Naturzusammenhanges auf ihrer Seite weiß: Die wesentliche Unbestimmtheit menschlicher Sprache und Bezeichnung, und das Wandelbare sinnlicher Gestalten, läßt aber fast durchgängig diese Sätze ein äusserliches Ansehen gewinnen, als sagten sie etwas mehr, als das bloße: quidquid est, illud est, mehr als ein bloßes Factum aus, welches wahrgenommen, beobachtet, verglichen, wieder erkannt, und mit anderen Begriffen verknüpft wurde.65

Er befürchtet zu Recht, dass sein Wissen eines Unbedingten in naturphilosophische Spekulationen aufgelöst und damit die eigentliche Errungenschaft seines Philosophierens verloren gehen könnte, weshalb er sich mit einer Entgegnung zunächst an den einflussreichen Weimarer Kreis wendet. Dabei kommt er Herder einen Schritt entgegen, indem er ausdrücklich den natürlichen Zusammenhang zwischen Gott und Welt behauptet, aber zugleich darauf besteht, dass dieser, wie er am Ende der zitierten Beilage schreibt, als »unvermittelt« zu denken sei, womit er den Gedanken der Transzendenz des höchsten Wesens preisgibt, um lediglich die intelligente Allmacht des Schöpfers zu behaupten. Ein folgenreicher Schritt, wie die bald danach einsetzende Rezeption seiner Gedanken durch die nachkantische Philosophie zeigen sollte.

|| 65 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 2), Bd. 4.2, S. 151.

Jutta Heinz

Jacobi und die Satire Oder: Swifts Betrachtung über einen Besenstiel und der Strickstrumpf der idealistischen Ich-Philosophie

1 Vorspiel in der Empfindsamkeit: Die unglücklichen Jacobis Wie alle enthusiastischen Ideen und Bewegungen hat auch die Empfindsamkeit ein gerüttelt Maß Spott auf sich gezogen. Friedrich Heinrich Jacobi als einer ihrer wichtigsten Vertreter in Deutschland ist dabei gegenüber seinem Bruder Johann Georg noch vergleichsweise glimpflich davongekommen. Goethe hatte seine Satire mit dem vielversprechenden Titel Die unglücklichen Jacobis zwar alsbald vernichtet, aber vorher wenigstens noch ein bisschen herumgezeigt, und alle Eingeweihten bestätigten, dass die spitze Feder des jungen Satirikers die Brüder durchaus empfindlich getroffen hatte.1 Dazu kam die für Jacobi im höchsten Maße empfindliche öffentliche Kreuzigung seines Woldemar durch Goethe im Ettersburger Park.2 Und noch ein spätes unveröffentlichtes Satire-Fragment der Geschwister Clemens und Bettine Brentano, entstanden nach ihrer persönlichen Bekanntschaft mit dem gealterten Jacobi in München 1809, zehrt von dem mit der Gestalt Jacobis verbundenen jugendlichen Enthusiasmus und dem von ihm vertretenen Gefühls- und Authentizitätspathos.3 Jacobi selbst jedoch hat niemals eine Satire geschrieben. Oder hat er vielleicht doch? Immerhin hat er einen eher unbeachteten Essay im Neuen Deutschen Museum veröffentlicht, wo er sich mit Jonathan Swifts – und damit dem ikonischen Satiriker des 18. Jahrhunderts schlechthin! – Meditation upon a Broom-Stick auseinandersetzt:4 Swifts Betrachtung über einen Besenstiel, und wie sie entstanden

|| 1 Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, zu den Unglücklichen Jacobis S. 15–24, dort auch zu weiteren Empfindsamkeitssatiren Goethes. Nicolai fasst zusammen, das Fragment sei als eine »genialische Improvisation, als Produkt einer schöpferischen Laune, als ein künstlerischer Scherz für einen engen Kreis gleichgesinnter Freunde« entstanden (S. 24). Zu den Ähnlichkeiten dieser Charakterisierung des Rezeptionskontextes zu Swifts Besenstiel-Satire und ihrer Entstehung in einer spezifischen Situation s. u. Kap. 5. 2 Vgl. Nicolai: Goethe und Jacobi (s. Anm. 1), S. 126f. 3 S. u. Kap. 7. 4 Zitiert nach der Erstveröffentlichung: Jonathan Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside; of The Same Author’s. London 1710. https://doi.org/10.1515/9783110727340-005

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ist.5 Der relativ kompakte Text geht aus von einer Persönlichkeitsanalyse Swifts als ›umgekehrter Heuchler‹,6 schweift durch einige satirische Texte aus Swifts Frühwerk und zitiert dabei ziemlich entlegene antike Quellen über einen Menschentypus, den Jacobi ›Schreyer‹ nennt; er wirft einen neidvollen Blick auf Swifts selbst entworfene Grabschrift, um dann in einer unvermittelten Wendung auf die Entstehung von Swifts Besenstock-Meditation zurückzukommen, deren Entstehung nach seinem Biographen Thomas Sheridan berichtet wird.7 Die Meditation selbst wird in eigener deutscher Übersetzung zitiert und nicht als boshafte Parodie bewertet, sondern als harmloses Spiel der Swift’schen Laune, der sich einen kleinen Spaß machen wollte. Am Ende steht die Leserin etwas verwirrt da: Worum ging es nun eigentlich genau in diesem Essay von Jacobi über Swift, der deutlich in zwei Hälften zerfällt, eine kritisch-gelehrte und eine erzählerische? Was ist ein ›umgekehrter Heuchler‹, und warum reitet Jacobi so auf diesem Begriff herum? Was haben die ›Schreyer‹ damit zu tun? Und will uns Jacobi, der sonst so ernsthafte, geradlinige Autor – vielleicht doch ein wenig an der Nase herumführen?

2 Galerie der ›umgekehrten Heuchler‹: Swift, Goethe, Hamann Zu Beginn des Essays macht Jacobi seine Position zu Jonathan Swift klar: Dieser sei ein »großer Mann«,8 ein »strenger, unerschütterlicher Mann«,9 der, wie so viele große Männer, damit geschlagen war, dass er viele Gegner hatte, die bemüht waren,

|| 5 Zuerst in: Neues Deutsches Museum 1 (1789), 4, S. 405–417. Hier zitiert nach: Friedrich Heinrich Jacobi: Swifts Betrachtung über einen Besenstiel, und wie sie entstanden ist. In: Friedrich Heinrich Jacobiʼs Werke. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, Bd. 1, S. 310–324 (wieder in JWA 5,1, S. 159–167). Vgl. zu Jacobis Swift-Rezeption die kurzen Bemerkungen bei Renate Knoll: »Denkmäler einer Swiftischen Satyrlaune«? Hamanns Swift-Rezeption. In: Johann Georg Hamann und England. Hamann und die englischsprachige Aufklärung. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 143–164, dort zu Jacobis Besenstiel-Abhandlung S. 156–158. Es besteht auch ein gewisser inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Besenstiel-Aufsatz und dem Aufsatz Die feinste aller Haderkünste, der ihm in den Werken vorangeht (S. 306–309), ebenfalls zuerst erschienen im Deutschen Museum 1787, wo es um einen gezielten und skrupellosen Rufmord an einem wissenschaftlichen Autor geht. 6 S. u. Kap. 2. 7 Thomas Sheridan: The Life of the Rev. Dr. Jonathan Swift, Dean of St. Patricks, Dublin. London 1787. 8 So Jacobi im ersten Absatz des Aufsatzes, der durch ein Versehen des Setzers im Zeitschriftenabdruck weggeblieben ist. Jacobi nahm den Aufsatz in den ersten Band seiner Werke auf, dort erscheint er vollständig, vgl. Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 310. 9 Ebd., S. 311.

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»die Würde seines Charakters in ein zweydeutiges Licht zu stellen«.10 Das war aber auch nicht besonders schwer, denn Swift, so Jacobi, sei das gewesen, was Henry Bolingbroke einen »hypocrite reversed«11 genannt hatte: Ein Mann, der versucht, seine moralische Integrität als sein höchstes Gut zu schützen, indem er akribischtadellos in seinem Handeln ist, sich aber nicht darum schert, was die Leute öffentlich darüber sagen mögen und alle Angriffe und Pamphlete – einfach mit Nichtachtung straft. Ein umgekehrter Heuchler ist er also, weil er nicht äußerliche Vorbildlichkeit beansprucht, ohne sie innerlich zu besitzen, sondern umgekehrt innerlich tatsächlich vorbildlich ist, aber den äußeren Ruf ignoriert und dadurch geradezu provozierend auf die Kritiker wirkt. Jacobi zitiert zur Illustration eine von ihm übersetzte Stelle aus Swifts Tritical Essays of the Faculties of the Mind, in der es heißt: Ich stehe da in den Heftchen dieser Leute, mit eben so vielen Wunden, wie der Aderlaßmann im Kalender, und eben so ruhig. Sie mögen, wie die Fliegen, so lange um das Licht schnurren, bis sie die Flügel versengt haben und hinein fallen. […] Ich muß mir aber die Freyheit nehmen, euch zu sagen, daß ich mich um euch und euer Getöse bekümmere, wie sich die See um den Xerxes, da er sie mit Ruthen hauen ließ, bekümmerte.12

Ob Jacobi insgesamt den satirischen Charakter des Swift-Textes genau versteht, der zum großen Teil aus herbeizitierten Allgemeinplätzen der zeitgenössischen Philosophie besteht, ist nicht ganz klar, da der Titel im ursprünglichen Zeitschriftenbeitrag falsch zitiert wird, nämlich als »Critical Essay«;13 Swifts Neologismus ›tritical‹ (Kontamination von ›trivial‹ und ›critical‹) hingegen ist schon ein erster Hinweis auf den durchaus unernsten und zitathaften Charakter des Textes.14 Jedenfalls geht Jacobi auf die bekannte Xerxes-Anekdote eigens in einer Fußnote ein, um sie noch durch ein Zitat von Alexander Pope zu ergänzen (wiederum in eigener Übersetzung von Jacobi): »man will lieber vom Blitz getroffen, als mit einem P-p-t an den Kopf

|| 10 Ebd., S. 310. 11 Ebd., S. 311. 12 Ebd., S. 311f. Vgl. die entsprechende Passage im Originaltext: Walter Scott (Hg.): The Works of Jonathan Swift. Vol. IX. Edinburgh 1814, S. 333–339, hier: S. 336: »They will endeavour to give my reputation as many wounds, as the man in the almanack«. Vgl. zum »Aderlaßmann« Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig 1796, S. 1917: »im gemeinen Leben, eine männliche Figur in manchen Kalendern, woran die verschiedenen Arten des Blut- oder Aderlassens abgebildet sind; das Aderlaßmännchen«. – Die Geschichte von Xerxes ist überliefert in Herodots Historiai, 7, 34f.; der persische Großkönig war angeblich wütend darüber, dass ein Sturm seine Schiffsbrücken über den Hellespont zerstört hatte. 13 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 311. 14 Da Jacobi bereits kritisiert hatte, dass der Setzer den ersten Absatz des Essays unterschlagen hätte, hätte ihm die falsche Schreibweise des Titels eigentlich auch auffallen müssen. In der Werkausgabe ist dann jedoch richtig vom »tritical essay« die Rede.

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geschlagen seyn«.15 Hier wird die moralische Überheblichkeit des ›hypocrite reversed‹ noch ins Skatologische gesteigert. Nun finden sich in der zeitgenössischen Debatte neben Swift noch einige andere Exempel des ›umgekehrten Heuchlers‹, die relativ aufschlussreich für das Verständnis der Stelle in Jacobis Swift-Aufsatz sind. Das erste ist kein anderer als Goethe. Die entsprechende Stelle steht in seiner Campagne in Frankreich, und zwar ausgerechnet dort, wo er seinen Aufenthalt bei Jacobi in Pempelfort beschreibt; sie lautet: da mir das Gespräch, wie es gewöhnlich geführt wird, höchst langweilig war, indem nichts als beschränkte, individuelle Vorstellungsarten zur Sprache kamen, so pflegte ich den unter Menschen gewöhnlich entspringenden bornierten Streit durch gewaltsame Paradoxe aufzuregen und ans äußerste zu führen. Dadurch war die Gesellschaft meist verletzt und in mehr als Einem Sinne verdrießlich. […] zuletzt nannten sie mich einen umgekehrten Heuchler und versöhnten sich bald wieder mit mir.16

Das Beispiel zeigt zum einen, dass die Floskel im Kreis um Jacobi schon vorher bekannt war. Sie zeigt zum zweiten, dass der ›umgekehrte Heuchler‹ als agent provocateur agiert, der eben dadurch, dass er nur einen angenommenen Habitus vorschützt, das Konsensideal des empfindsamen Kreises empfindlich in Frage stellt – und damit auch dessen Grundlage: die Verpflichtung zur absoluten Authentizität und Identität von innerer und äußerer Person, Lebensweise und literarischem Werk, Selbstverständnis und Fremdbild. Das Pope-Zitat findet sich des Weiteren in einem Brief Jacobis an die Gräfin von Reventlow vom 27. September 1788. Dort bezieht sich Jacobi auf den eskalierenden Konflikt der Berliner Aufklärung mit Lavater, und direkt im Anschluss an das hier englisch gegebene Pope-Zitat steht, und zwar nicht als Zitat markiert, der Swift’sche Satz über den Aderlaßmann im Almanach.17 Die äußerst umstrittene Figur Lavaters ist also ebenfalls ein Kandidat für einen ›hypocrite reversed‹. Eine zusätzliche Verbindung zur Berliner Aufklärung, an die Jacobi nicht denken kann, »ohne daß sich

|| 15 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 312. Die Formulierung findet sich in einem Brief an Swift vom 10. Dezember 1725 (in: The Works of Alexander Pope. Containing the Last of his Letters and Will. Vol. VI. London 1772, S. 136). 16 Johann Wolfgang Goethe. Campagne in Frankreich. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 14. Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre. Hg. von Reiner Wild. München, Wien 1986, hier S. 469. 17 Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. In zwei Bänden. Hg. von Friedrich Roth. Leipzig 1825‒1827, Bd. 1, S. 488: »Es ist schrecklich, in welchem Grade es den Berlinern gelungen ist, Haß und Verachtung gegen Lavater zu verbreiten. Ich kann nicht an diese Menschen denken, ohne daß sich alles in mir umkehrt. Persönliches Gefühl hat gewiß den wenigsten Antheil an meinem Unwillen, ob ich gleich nicht läugnen will, die Bemerkung von Pope sehr wahr gefunden zu haben« – daran im Anschluss folgt das Pope-Zitat.

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alles in mir umkehrt«18 (man beachte den mit der Satire verknüpften Verkehrungstopos!), stellt schließlich eine Bemerkung in einem Brief Jacobis an Johann Georg Forster vom 24. November 1789 her: »Daß mein Besenstiel Ihnen gefallen hat, freut mich. Wahrscheinlich werden wir im Decemberstück den Herrn Gedike darauf reiten sehen«.19 Offensichtlich erwartet Jacobi eine Reaktion auf seinen Text aus Berlin, und zwar keine freundliche. Es erfolgt aber keine; entweder haben die Berliner den Text nicht gelesen, oder sie haben sich nicht in der Figur des ›Schreyers‹ erkannt. Ein weiterer Kandidat für einen ›hypocrite reversed‹, mit dem sich Jacobi zur Zeit der Entstehung des Besenstiel-Essays ausführlich auseinandersetzt, ist Johann Georg Hamann. Jacobi hatte seinem Freund und Korrespondenzpartner die Sheridan-Biographie von Swift geschickt, auf der sein Beitrag beruht, und in der weiteren Korrespondenz ist mehrfach die Rede davon; in einem Brief an Bucholtz hat Jacobi Hamann zudem ausdrücklich als ›hypocrite reversed‹ bezeichnet.20 Hamann selbst hatte bei der Sheridan-Lektüre den Begriff zustimmend aufgenommen, er stirbt jedoch, bevor der Essay erscheint. Nach Hamanns Tod erwägt Jacobi eine Art Rechtfertigungsschrift, eine Rettung für den umstrittenen Freund: Die Eine soll Hamanniana heißen, und über die zwei Fragen hauptsächlich rouliren: 1) Was hatte der Mann für Meinungen? 2) Wie kann man solche Meinungen haben? Die Form soll die eines Beitrags zur Geschichte der Philosophie seyn.21

Auch hier geht es also um den engen Zusammenhang von Person, Charakter und Werk sowie deren Beurteilung durch die Mit- und Nachwelt. Schließlich greift Jacobi auch den Swift’schen Grabspruch mit seinem hohen moralischen Anspruch in einem weiteren Brief nach einem weiteren Todesfall auf.22 Gestorben war der Graf von Nesselrode, den Jacobi aus dem Münsteraner Kreis kannte und als vorbildliche Persönlichkeit schätzen gelernt hatte. In diesem Zusammenhang schreibt er in Anspielung auf den Grabspruch: »Man sehnt sich nach diesem ubi, wenn man erlebt hat, was in unsern Tagen geschehen ist, und voraussieht, was wahrscheinlich noch wird geschehen müssen – – –«.23 Der Topos wird also zunehmend mit einer Zeitkritik verbunden. Und noch später wird Jacobi auch in Bezug auf sich selbst erkennen müssen, was er in einem Brief an Christine Reinhard vom 4. Mai 1808 schreibt: || 18 Ebd. 19 Ebd, S. 12. 20 Vgl. den editorischen Bericht in den Kleinen Schriften, wo die Entstehung der Abhandlung, Jacobis Auseinandersetzung mit Swift und der Briefwechsel mit Hamann darüber ausführlich dokumentiert sind: Kleine Schriften (s. Anm. 5), S. 501–505; hier: S. 502. 21 Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 17), Bd. 2, S. 15. 22 »Hic depositum est corpus Jonathan Swift […] ubi saeva indignatio ulterius cor lacerare nequit« (vgl. Anm. 42). 23 Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 17), Bd. 2, S. 333.

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Die Worte der Wahrheit, die ich dreißig und mehr Jahre lang geredet habe, nimmt jetzt die Unwahrheit überall in den Mund und macht sie zur Fabel. Ich höre, und es ist oft meine eigene Rede, die ich vernehme; dennoch ist der Geist darin Lüge und durch und durch ungöttlich.24

Man kann an diesem Zitatenkomplex rund um Swift deutlich erkennen, wie Jacobi in dem ›hypocrite reversed‹ eine Deutungsfigur findet und entwickelt. Sie erklärt ihm das als geradezu schmerzhaft empfundene Verhalten ›großer Männer‹, die er bewundert und auch in moralischer Hinsicht für über alle Kritik erhaben hält – Goethe (in Grenzen), Hamann, Lavater –, die sich aber selbst nicht um die Kritik der Öffentlichkeit scheren – vor allem, wenn sie eher in der Form des pisspot denn des göttlichen Blitzes über sie hereinbricht. Wie aber kann es möglich sein, dass solche Persönlichkeiten nicht zu ihrem Wort und Wert stehen, dass sie sich äußerlich anders präsentieren, als er, Jacobi, sie doch von innen her, in ihrem wahren Wert kennt? Und doch muss er im Lauf der Zeit selbst die Erfahrung machen, dass sich die öffentliche Meinung unter Verwendung seiner eigenen Worte und Ausdrucksformen gegen ihn wendet, dass der ursprüngliche, göttliche Geist der Wahrheit darin zu einem Geist der Lüge, dem Inbegriff des ›Ungöttlichen‹ geworden ist.

3 Die ›Schreyer‹ als gesteigerte Kritiker, oder: Wie aus Eseln Einhörner werden Die Xerxes-Anekdote leitet in Jacobis Essay über zu einem weiteren satirischen Text von Jonathan Swift, nämlich dessen Tale of the tub. Dort findet sich in der dritten Abteilung unter dem Titel A Digression concerning ›Criticks‹ eine messerscharfe Satire auf die zeitgenössischen Kritiker, die Swift in die Thematik der Querelle des Anciens et des Modernes einbindet, die der gesamten, sehr verwickelten und anspielungsreichen Satire zugrundeliegt. Zuerst zeichnet er dort das Bild eines idealen Kritikers in der gelobten Antike: Dieser sei entweder im Sinne der gelehrten Textkritik jemand, der die Zuverlässigkeit der Überlieferung sicherstellt: For, first, by this Term was understood such Persons as invented or drew up Rules for themselves and the World; by observing which, a careful Reader might be able to pronounce upon the Productions of the Learned, form his Taste to a true Relish of the Sublime and the Admirable.25

|| 24 Ebd., Bd. 2, S. 408. 25 Die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Tale of a Tub ist beinahe genauso unübersichtlich und verwickelt wie der Text selbst. Im Folgenden wird zitiert nach Jonathan Swift: A Tale of a Tub, Written for the Universal Improvement of Mankind […]. Dublin 1771, hier S. 34f.

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Oder er sei ein philologischer Textkritiker, ein »Restorer of ancient Learning from the Worms, and Graves, and Dust of Manuscripts«.26 Der heutige, der moderne Kritiker jedoch sei ein echter Abkömmling von Momus und Hybris (also von höchst zweifelhafter Abstammung); und er zeichne sich dadurch aus, dass er nur nach Fehlern suche, niemals jedoch Vorzüge erkenne.27 Um diesem Typus näher zu kommen, unternimmt Swift zunächst eine Art gelehrter Kritik der antiken Äußerungen über die Kritiker selbst. Er beklagt dabei, dass sich die antiken Autoren über Kritiker immer nur in mythologischen Andeutungen oder »Hieroglyphicks«28 äußerten und gibt eine Reihe von Beispielen dafür. Diese Passagen zitiert nun Jacobi auszugsweise, nachdem er den Leser vorher darauf hingewiesen hatte, wie er mit dem Swift’schen Text umzugehen habe: Dem sachtsinnigen deutschen Leser mögen leicht einige der Swiftischen Bilder zu kühn oder zu orientalisch scheinen; aber desto mehr wird er den richtigen Verstand, den sie bekleiden, hochschätzen, und die außerordentliche Anwendbarkeit der Gedanken lieben und loben müssen.29

Verdeckt wird hier, ähnlich wie es Swift selbst an einigen Stellen des hochgradig unübersichtlichen und verwickelten Tale tut, ein Leseideal etabliert: Auch wenn die Bildlichkeit gelegentlich überschießend zu sein scheint, kommt es vor allem an auf den »richtigen Verstand« und eine »außerordentliche Anwendbarkeit« – der ideale, »sachtsinnige« Leser muss also Geist und Buchstabe zu unterscheiden wissen und sich nicht von verwirrenden, »orientalischen« Buchstaben (den Hieroglyphen) in die Irre führen lassen,30 wo es doch eigentlich um das Herz, den Geist der Aussage geht – den man »lieben und loben« muss, also genau das, was Swift zufolge der antike, ideale Kritiker tut und nicht der tadelsüchtige und hochmütige moderne Abkömmling von Momus und Hybris. Jacobi referiert im Folgenden den größeren Teil der Beispiele, die Swift für antike Äußerungen über Kritiker aufzählt; sie alle haben Fabel- oder Märchencharakter. Es geht zunächst um Herodots Bericht von den Eseln (dem satirischen Tier schlechthin!) mit Hörnern in Libyen, den Ktesias weiter ausgeführt habe, indem er die gehörnten Esel nun nach Indien versetzte und mit einem Übermaß an Galle ausstattete.31 Die Alten hätten zudem die Esel ihres Geschreis wegen so gefürchtet,

|| 26 Ebd., S. 35. 27 Vgl. ebd., S. 35f. 28 Ebd., S. 39. 29 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 313. 30 Vgl. 2 Kor. 3, 6: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig«. 31 Vgl. Swift: Tale of a tub (s. Anm. 25), S. 40f. Herodot berichtet über die Esel mit Hörnern in Buch 4 der Historien (181). Ktesias schreibt über die indischen Esel mit Hörnern in den nur fragmentarisch überlieferten Indica (398 v. Chr., Buch 25); die Geschichte wird dann von Aristoteles, Plinius und anderen antiken Autoren aufgenommen (vgl. dazu Jenny Wischnewski: Die Jagd nach dem

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dass ein ganzes Kriegsheer der Skythen durch ein Eselsgeschrei in die Flucht geschlagen worden sei; woraus ein »grundgelehrter Philolog« die Folgerung gezogen habe, 32 dass die Ehrfurcht vor den schrecklichen, eselsgleichen Kritikern und ihrem Geschrei von den skythischen Vorfahren ererbt sei.33 Aus Furcht vor diesem Eselsgeschrei habe die Kritik der Kritiker immer symbolischere, märchenhaftere Formen angenommen. Diodorus beispielsweise habe von einem Kraut in den Gebirgen des Helikon berichtet, dessen Geruch schon giftig gewesen sei.34 Und der schon erwähnte Ktesias schließlich habe auch von einer Schlange in Indien gewusst, die zwar keine Zähne habe, aber allein durch ihren Geifer töten könne und sich vorzüglich in den Bergen aufhalte, wo man Edelsteine finde (wir erinnern uns an Pope und den Gegensatz von pisspot und Blitz).35 Ebenso würden die Wespen immer auf die schönsten Früchte Jagd machen und der König beim Ausreiten immer von denen, die sich am dichtesten an ihn drängten, am meisten mit Kot »beklattert«.36 Dies alles referiert Jacobi scheinbar brav nach der Art eines ›grundgelehrten Philologen‹,37 und man geht den lustigen Geschichten und ihrer allzu offensichtlichen Kritik des Kritikers als einer unerfreulichen Person, die mit Unrat schmeißt, wie ein Esel schreit, ohne Zähne beißt und allein durch ihren Hauch vergiftet, nur allzu gern auf den Leim. Interessanter ist aber, dass Swift durchgängig eher unzuverlässige historische Zeugen zitiert: Ktesias beispielsweise ist ein antiker Autor, dessen Werke als eine Sammlung von Wundergeschichten galten, die sich zudem polemisch gegen einen anerkannten Geschichtsschreiber, nämlich Herodot, richteten. Auch Diodorus’ umfangreiches Geschichtswerk wird als eine Quelle von sehr schwankender Zuverlässigkeit betrachtet. Zudem sind die angeführten Tiervergleiche, zumal mit Tieren von eher schlechtem Ruf wie der Schlange, dem Esel und der || Einhorn. In: Historische Konzeptionen von Körperlichkeit. Interdisziplinäre Zugänge zu Transformationsprozessen in der Geschichte. Hg. von Stephan Theilig. Berlin 2011, S. 13–36, bes. S. 16–18). 32 Swift schreibt: »From hence it is conjectured by certain profound Philologers«, Swift: Tale of a tub (s. Anm. 25), S. 41. 33 Vgl. Herodot, Historien, 4, 121. Auch die überschüssige Galle gehört natürlich zur Topologie des Satirikers. 34 Swift: Tale of a tub (s. Anm. 25), S. 41f. Diodorus war ein griechischer Geschichtsschreiber im Hellenismus, von dem eine vierzigbändige Historische Bibliothek überliefert ist, die auf einer Vielzahl früherer Quellen (u. a. auch von Ktesias) und ausgiebigen eigenen Reisen beruht. 35 Swift: Tale of a tub (s. Anm. 25), S. 42. Vgl. dazu auch Andrew Nichols (Hg.): Ctesias on India and fragments of his minor works. London u. a. 2011. 36 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 316. Das zitierte Gedicht von Edward Young trägt den Titel Epistle I: To Mr. Pope und befasst sich mit dem Ruhm und den Neidern. 37 Cornelia Ortlieb weist darauf hin, dass sich Jacobi zwar häufig die Quellen in seinen LektüreExzerpten akribisch notierte; er stellt dabei aber immer wieder fest, dass eine »Annahme einer möglichen Rückkehr zur Quelle im Bereich philosophischen Schreibens […] Illusion« sei (Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 424). Durch die allersorgfältigste Quellenkritik kann deshalb niemals vollständige Gewissheit hergestellt werden – wie Swifts Beispiele anschaulich beweisen.

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Wespe (nicht etwa der edlen Biene), ein uraltes satirisches Mittel. Was also kritisiert Swift genau? Nicht nur die Kritiker, sondern durchaus auch den ›grundgelehrten Philologen‹, der mit aller Mühe nicht die Gewissheit historischer Überlieferung herstellen kann, sondern zu übertriebenen Deutungen und Anwendungen neigt; zum anderen den überschießenden Gebrauch bildlicher Sprache, die zu allen möglichen, ebenfalls weit überschießenden Deutungen inspiriert. All diese kumulierten Unsicherheiten der Überlieferung und der philologischen Kritik werden noch einmal dadurch potenziert, dass Jacobi Swifts Referate antiker Quellenwerke, die sich selbst auf andere Quellenwerke beziehen, noch einmal referiert, dabei übersetzt und gelegentlich das potenzierte Referat des Referats noch durch weitere Quellen anreichert. Zudem, und das ist am auffälligsten, übersetzt Jacobi das im Swift’schen Originaltext unmissverständliche Wort ›Kritiker‹ oder ›Criticos‹ nun durchgängig mit »Schreyer«.38 Er erweitert damit deutlich den Geltungsbereich der satirischen Digression bei Swift: Es geht nicht mehr nur um ein akademisches oder literarisches Phänomen im engeren Sinne, sondern um einen allgemeinen Persönlichkeitszug. Es gibt Leute, die sind als ›Schreyer‹ geboren, und sie verspritzen ihr Gift und ihren Kot in allen Lebensbereichen. Zudem bezieht Jacobi diesen gesamten Komplex direkt auf die Diagnose von Swift als ›umgekehrten Heuchler‹, indem er zunächst eine persönliche Deutung vorschlägt: Es zeige sich doch wohl in den von Swift geschilderten Beispielen der Kritiker-Kritik »eine Art von Grimm […], der empfangene persönliche Beleidigungen und einen nicht geringen Grad der Empfindlichkeit dagegen voraussetze«39 – Swift wäre dann also doch nicht ganz so unempfindlich gegen die öffentliche, stark beschmutzende Kritik an seiner Person, wie anfangs behauptet. Dagegen jedoch, so Jacobi in einer der vielen unerwarteten Wendungen des Essays, spreche allerdings die »historische Critik« – also eben jene Institution, die soeben bei Swift in einen etwas zweifelhaften Ruf geraten ist, da sie gelegentlich Esel zu Einhörnern macht?40 Jacobi argumentiert dabei, ordentlich philologisch, mit einem zeitlichen Argument: Zu dem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere, an dem Swift den Tritical Essay

|| 38 Erstmals so in Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S 313. Die semantische Verbindung zum ›Schreien‹ ist wahrscheinlich das im Text erwähnte furchterregende Eselsgeschrei der Kritiker. 39 Ebd., S. 316. 40 Zu Jacobis komplexem Verhältnis zur philologischen Kritik sowie seiner persönlichen ›Schreibart‹, die auf vielfältigen Techniken des Exzerpierens, Wiederverwertens und Adaptierens beruht, vgl. die Studie von Cornelia Ortlieb. Sie fasst zusammen: »Am Anfang dieser Reflexion steht die grundlegende Einsicht, dass jedes Schreiben ein Überschreiben ist, ein Vorgang der Durchsicht, Korrektur und Ergänzung, der nicht aus dem dunklen Ursprung der Autor-Intention entspringt, sondern bei der schreibenden Lektüre ansetzt« (Jacobi und die Philosophie als Schreibart [s. Anm. 37], S. 418).

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und das Tale of the Tub veröffentlichte,41 sei er persönlich noch gar nicht beleidigt worden; außer, man wolle die massive öffentliche Kritik an seinem persönlichen Gönner William Temple hier schon als eine Art Rache-Motiv sehen. Jacobi sieht aber noch einen weiteren, einen »tiefern Grund«. An dieser Stelle nun zitiert er die Swift’sche Grabschrift, zunächst im lateinischen Original, dann in der deutschen Übersetzung: Hier ruhet der Leib Jonathan Swift’s … wo bitterer Unwille sein Herz nicht mehr zerreissen kann. Geh, Wanderer und ahme ihm nach, wenn du kannst, dem nach Kräften tapfern Eiferer für die Freyheit.42

Und daran schließt er den lakonischen Satz an: »Wer unter uns hat das Recht zu fordern, daß dereinst eine solche Decke über sein Gebein geworfen werde?«43

4 Meinung, Wahrheit und das ›Wort eines Namentlichen Mannes‹ – eine Digression zu den Zufälligen Ergießungen eines einsamen Denkers und Jacobi an Fichte Gegenüber allen öffentlichen Anwürfen, auch gegenüber dem leichtfertigen Umgang von Swift als ›hypocrite reversed‹ mit seinem guten Namen, bleibt diese persönliche Substanz des ›tapferen Eiferers für die Freiheit‹ bestehen, nämlich als Selbstanspruch. Ein wenig klingt es auch nach düsterer Ahnung über das eigene Fortleben im Andenken der Nachwelt, wenn Jacobi Swifts Grabschrift als eine Art persönlichen ›Kategorischen Imperativ‹ beschwört: Verhalte dich allezeit so, dass dieser Satz zu Recht auf deinem Grabstein stehen könnte! Letztlich ist diese Überzeugung aber die Grundlage von Jacobis ganzem moralischen Denken und seiner gesamten erkenntniskritischen Philosophie des Nicht-Wissens. Vielleicht lässt sich das am handlichsten demonstrieren anhand der Überlegungen zu Wert und Unwert der Meinung, wie sie Jacobi in den Zufälligen Ergießungen eines einsamen Denkers (1793) vorträgt.44 Dort versucht er eine Rehabilitation der philosophisch verrufenen

|| 41 Das Tale erschien erstmals 1704 (entstand wahrscheinlich aber schon deutlich vorher), die Meditation 1710, sie ist aber Sheridan zufolge schon 1703 gemeinsam mit dem Tritical Essay entstanden, vgl. Sheridan: The Life of the Rev. Dr. Jonathan Swift (s. Anm. 7), S. 40. 42 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 317 Anm. 43 Ebd., S. 318. 44 Die ersten beiden Teile der Abhandlung in Briefform wurden 1795 in Schillers Horen veröffentlicht (8. Stück); wieder in: Jacobi’s Werke (s. Anm. 5), Bd. 1, S. 254–305.

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›Meinung‹ gegenüber ihrer etablierten Schwester, der ›Wahrheit‹, indem er beider untrennbare Verbindung hervorhebt: Alle Meynungen wurden im Schooße der Wahrheit empfangen; alle Wahrheiten im Schooße der Meynung. […]. Die wichtigsten Lehrsätze hatten lange gegolten ehe Philosophie sie nachbuchstabierte.45

Meinungen nämlich seien Machtsprüche, die unmittelbar aus dem Gefühl des Daseins entsprängen; sie seien derjenige individuelle Inhalt, dem man seine unmittelbar erfahrene persönliche Form gebe und damit auch aufs engste mit der Gewissheit der eigenen Existenz verknüpft. Sie blieben deshalb immer eine Art »ursprüngliche, allgemeine, unüberwindliche Vorurtheile«,46 könnten aber immerhin, durch kontinuierlichen Vernunftgebrauch, in Maßen verändert werden; und diese Zuversicht bezeichnet Jacobi in einem seltenen pathetischen Aufschwung des als Brief ausgeformten Textes als »Quelle meiner Duldung, meiner Ruhe, meines Muths«.47 Unversehens finden wir uns zudem wieder bei einem Problem, das mit dem Verhältnis von ›Geist‹ und ›Buchstabe‹ zu tun hat.48 Denn auch wenn alle Meinungen, die persönlich als Wahrheit erlebt werden, noch zusätzlich durch ihre immer persönliche sprachliche Form verunklart werden, können sie doch verstanden werden: immer weniger konnte das Wörtliche mich irre machen, hier mich abschrecken, dort mich verführen; immer leichter wurde mir es Sinn zu wittern, und aus den verschiedensten Redensarten den Verstand, den sie gemein hatten, heraus zu winden.49

Den Sinn »wittern« – das ist eine Formulierung, die man fruchtbringend auch auf Jacobis mehrfach satirisch unterminierte Darstellung von Swifts Charakter als ›hypocrite reversed‹ sowie dessen Ausführungen zu den ›Schreyern‹/Kritikern anwenden kann: Der »sachtsinnige deutsche Leser« soll sich nicht an den Buchstaben festhalten,50 nicht an den orientalischen Bildern stoßen; er soll sich weder »abschrecken« noch »verführen« lassen durch Swifts besonders idiosynkratische Denkund Redeweisen, sondern deren »Verstand«, deren »außerordentliche Anwendbarkeit«51 herausspüren – und dann in seine eigene Sprache, seine eigene Denkweise, seine eigene Person ›übersetzen‹. Genau das tut Jacobi mit Swift; genau das muss jeder Leser selbst tun. Es ist nicht einfach, aber es ist möglich!

|| 45 Ebd. S. 18. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 25. 48 Vgl. Anm. 30. 49 Jacobi: Zufällige Ergießungen (s. Anm. 44), S. 28. 50 Vgl. Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 313. 51 Ebd.

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Zum zweiten ist Jacobis Vorbehalt gegen den ›hypocrite reversed‹ begründet in seiner vielzitierten Vorstellung vom »Wert eines Namentlichen Mannes«, wie er ihn in Jacobi an Fichte erläutert.52 Jeder Mensch hat demnach eine nur ihm eigene »wunderbare innerliche Bildungskraft«; sie äußert sich in »jener unerforschlichen Energie, die, alleinthätig, ihren Gegenstand sich bestimmt, ihn ergreift, festhält – eine Person annimmt«.53 Sein persönlicher »Grundtrieb«54 ist die innere Form, das Leben gibt ihm Gestalt und Inhalt; aber er ist auch die Basis aller moralischen Wertung. Jacobi macht es zu einem unbedingten Gebot, diesen Grundtrieb durch »Selbstachtung« zu respektieren; nur dann ist es nämlich möglich, dem »Worte um des Mannes, und dem Manne um sein selbst willen« zu trauen.55 Swift ist ein solcher ›Namentlicher Mann‹, auch wenn er nicht immer zu seinem guten Namen zu stehen scheint; und letztlich ist er für Jacobi gerechtfertigt, trotz aller moralischer Zweideutigkeit eines geborenen ›hypocrite reversed‹, nämlich durch das Festhalten an einer immer nur persönlich empfindbaren Wahrheit, wie sie Swifts Grabspruch formuliert und wie sie Jacobi am Ende seiner Zufälligen Ergießungen umformuliert und ›übersetzt‹: Zuverlässig aber ist dies Eine: daß der Mensch überhaupt nur in dem, was er für wahr hält, leben, und mit dem, was ihm gerecht scheint, sich vereinigen, Friede damit halten kann.56

5 »Wahrlich der Mensch ist auf Erden ein Besenstiel!« – Kritik der umgekehrten Menschenvernunft Wir sind damit in der Mitte des Besenstiel-Essays angekommen, und an dieser Stelle besinnt sich Jacobi auf einmal spontan auf das anfangs angekündigte und bisher nicht einmal berührte Thema, nämlich den Besenstiel. Trotzdem aber bleiben wir gleichzeitig ein wenig beim alten Thema, denn Jacobi weist darauf hin, dass Swift seine Meditation upon a Broom-Stick vor allem deshalb öffentlich übelgenommen wurde, weil man sie als »Parodie« auf einen weiteren »würdigen Mann«, nämlich Robert Boyle, verstanden habe.57 Boyle, ein anerkannter Naturforscher und Vertreter

|| 52 Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte. Hamburg 1799, S. 97. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 98. 55 Ebd. 56 Jacobi: Zufällige Ergießungen (s. Anm. 44), S. 32. 57 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 318. Vgl. zu Swift und Boyle ausführlich: Gregory Lynall: Swift and Science. The Satire, Politics, and Theology of Natural Knowledge, 1690–1730. Basingstoke 2012, bes. Kap. 1.

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der Physikotheologie in England, hatte in seinen Occasional Meditations (1630) eine Reihe von ›Reflections‹ vorgelegt, die die Allgegenwart und Weisheit Gottes selbst in den alltäglichsten Verrichtungen priesen – ob beim Füttern seines Hundes, bei der Fahrt in einer besonders schnellen Kutsche, beim Feuermachen, beim Angeln. Zweifellos war der bei allen wissenschaftlichen Verdiensten tiefgläubige Boyle auch für Jacobi wirklich ein ›würdiger Mann‹; und es wäre insofern recht unwürdig von Swift, wenn er sich tatsächlich mit seiner Meditation upon a Broom-Stick an einer derartigen öffentlichen Schändung beteiligt hätte. Inzwischen war jedoch Thomas Sheridans Swift-Biographie The Life of the Rev. Dr. Jonathan Swift erschienen, die die wahre Geschichte – unter Berufung auf Zeugnisse der Beteiligten – erzählt, und Jacobi gibt im Folgenden eine übersetzte Nacherzählung der entsprechenden Passage bei Sheridan, angereichert durch eine Übersetzung der Swift’schen Meditation selbst.58 Sheridan zufolge war Swift bei seinen Besuchen bei der Familie Berkeley verpflichtet, der Gräfin als Vorleser zu dienen, und sie hatte sich nun gerade für Boyles Meditations begeistert. Swift war nicht gleichermaßen begeistert. Deshalb, so Jacobi/Sheridan, »gab ihm der Ueberdruß einen Schwank ein«.59 Er übertrug nämlich Boyles schematische und deshalb auch ziemlich leicht zu kopierende Schreibweise auf einen noch trivialeren Gegenstand, besagten Besenstiel, und so entstand die Meditation upon a Broom-Stick. Diesen kleinen Text schob Swift der Gräfin in ihr Buch und wählte ihn für die nächste Lesung. Die Gräfin zeigte sich zunächst verwundert über den selbst für Boyle befremdlichen Gegenstand, war dann aber umso gespannter. An dieser Stelle fügt Jacobi nun die Übersetzung der Swift’schen Meditation ein, die nach einer Beschreibung eines Besenstiels als degeneriertem Baum in den die eigentliche Reflexion einleitenden Ausruf gipfelt: »Wahrlich, der Mensch auf Erden ist ein Besenstiel!«.60 Eng am Swift’schen Text übersetzend gibt Jacobi dann die Nutzanwendung, die die anfangs beschriebenen Besenstiel-Charakteristika in menschliche Eigenschaften und Handlungsweisen ›übersetzt‹ – in einem ähnlich symbolisch-allegorischen Verfahren also, wie Swift es bereits bei seiner KritikerSatire an antiken Beispielen wie der sagenhaften Schlange und den einhörnigen Eseln demonstriert hatte. Schließlich wird, wieder nach Sheridan, die Anekdote zu Ende geführt, indem der kleine Betrug von Besuchern der Gräfin aufgedeckt wird. Alle, auch die Genasführte, brechen in Lachen aus ob der Swift’schen »Laune«, und so »ging diese Sache auf eine gute und fröhliche Weise zu Ende«:61 Swift musste nie wieder die Betrachtungen vorlesen, und er hatte keinen ›würdigen Mann‹ gekränkt, || 58 Vgl. Sheridan: The Life of the Rev. Dr. Jonathan Swift (s. Anm. 7), S. 40–43. 59 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 319. Bei Sheridan heißt es: »and a whim coming into his head«, Sheridan: The Life of the Rev. Dr. Jonathan Swift (s. Anm. 7), S. 41. 60 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 321. Bei Swift: »Surely Man is a Broom-Stick«, vgl. Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside (s. Anm. 4), S. 6. 61 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 324.

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sondern sich nur einen typischen Scherz erlaubt, was ihn wiederum als ebenso ›würdigen Mann‹ reetabliert und nur für die Konsistenz seiner Denk- und Ausdrucksweise mit seinem Charakter spricht. Eine harmlose Anekdote, möchte man meinen, und sie wird von Jacobi durchaus launig präsentiert. Beinahe geht dabei unter, dass die Meditation selbst – nun ja, gar nicht so harmlos ist. Zwar führt sie oberflächlich das schematische Standardmuster der Boyle’schen Meditationen durch ihre schier unbegrenzte Anwendbarkeit und die dadurch entstehenden Trivialitäten ad absurdum und hat insofern auch etwas von einem ›tritical essay‹. Aber genau gelesen, hat sie auch Substanz. Denn die Beschreibung des Besenstiels/Menschen als eines ehemals blühenden, wachsenden Naturwesens, das nun von der »geschäftigen Kunst des Menschen« seinem Naturzustand entrissen wurde und jetzt nur noch ein »umgekehrtes« (wieder das satirische Grundwort!) Kunstwesen ist, »das Unterste zu oben, die Zweige nach der Erde gekehrt, und die Wurzel in der Luft«;62 die Klage über die zunehmende Entfremdung des Menschen von seinen eigentlichen Zwecken, über seine zunehmende Abstumpfung durch den Gebrauch und das Alter – all dies stimmt ja tatsächlich, und Swift/Jacobi gibt eine durchaus passende und gar nicht so sehr an den Haaren herbeigezogene Deutung/Übersetzung ab. Lächerlich ist sie nur durch die überspitzte Formulierung: Der Mensch sei eine »mit Vernunft begabte Pflanze«,63 ein »Wurzelbaum-Gemächte« (Swift schreibt: »a Topsy-turvy creature«, Jacobi macht daraus immerhin einen originellen Neologismus).64 Er werde regiert von seinen tierischen Kräften, nicht von seinen vernünftigen, und »dennoch, mit allen seinen Gebrechen, wirft er sich zum allgemeinen Verbesserer und Wiederhersteller auf« (Swift schreibt: »and yet with all his Faults, he sets up to be an universal Reformer and Corrector of Abuses, a Remover of Grievances, rakes into every Slut’s Corner of Nature«).65 Das ist eine fundamentale Aufklärungs- und Weltverbesserungskritik, wie sie Swift später vor allem im vierten Buch von Gulliver’s Travels ausgeführt hat, der Geschichte von den vernünftigen Pferden und den höchstens vernunftähnlichen Menschen, die sich fatalerweise für die Krone der Schöpfung

|| 62 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 320. Bei Swift taucht in diesem Zusammenhang natürlich das ›reversed‹ auf: »‘tis now at best but the Reverse of what it was, a Tree turn’d upside down, the Branches on the Earth, and the Root in the Air«, Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside (s. Anm. 4), S. 6. Die Beschreibung konnte Jacobi beispielsweise auch rousseauistisch interpretieren. 63 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 321. 64 Ebd., S. 322; Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside (s. Anm. 4), S. 7. 65 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 322; Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside (s. Anm. 4), S. 7.

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halten, wo sie doch höchstens der Vernunft fähig, ratione capax sind – eine Aussage, mit der Jacobi wahrscheinlich sympathisieren könnte!66 Nein, die Besenstiel-Analogie funktioniert durchaus, und unter dem satirischen Gewand zeigt sich, wenn man ein wenig genauer ›wittert‹ und sich nicht von den ›Buchstaben‹ abschrecken oder verführen lässt, eine nicht wenig erschreckende Erkenntnis. Man muss sie nur übersetzen bzw. die Swift’sche Übersetzung vom Boyle’schen Habitat ins eigene Denken einwurzeln lassen. Was Jacobi dabei am meisten angezogen haben könnte – neben der seinen eigenen philosophischen Überzeugungen durchaus vermittelbaren Vernunftskepsis –, war vielleicht der unscheinbare Schlusssatz: Denn am Ende wird der abgenutzte Besen entweder auf die Gasse geworfen, »oder zum Anzünden eines Feuers, woran andere sich wärmen, gebraucht«.67 Das aber – und es ist durchaus denkbar, dass Jacobi das an dieser Stelle schon ahnt – würde sein eigenes Schicksal werden: am Anfang als Ideal angebetet und von den Schreiern verspottet, würden seine Wahrheiten am Ende seines Lebens von anderen aufgenommen werden und zum Geist der Lüge verkehrt werden.68 Was jedoch bleibt, so könnte man diese Jacobi’sche ›Betrachtung‹ über Swift auch lesen, ist der von allen Wortstreitigkeiten und Schreiern unberührte Kern menschlicher Gemeinschaft. Der erste Teil des Essays hatte die Tiefen und Untiefen satirischen Schreibens sowie historischer Überlieferung und Kritik ausgelotet; Swift/Jacobi hatten meditiert über symbolische und allegorische Gewänder und den daraus resultierenden Miss- und Unverstand, Jacobi hatte sich selbst ein wenig in ›historischer Critik‹ geübt, um gleich wieder deren Untauglichkeit zu demonstrieren. Zudem war in der Figur des zum ›Schreyer‹ erweiterten Kritikers eine allzu menschliche Neigung zur Tadelsucht porträtiert worden, dem die Figur des ›hypocrite reversed‹, des um seinen öffentlichen Ruf unbedachten, moralisch Gerechten entgegengesetzt wurde. Im zweiten Teil jedoch erzählt Jacobi eine einfache Geschichte.69 Zwar ist auch die darin enthaltene Fabel vom Besenstiel wiederum vielfältiger Aus- und Missdeutung fähig, wichtiger ist jedoch der Rahmen: die lesende Gesellschaft, die sich über den Scherz versöhnlich verständigt und damit auch die abweichende Persönlichkeit – zumindest sein lässt, was sie ist, nämlich: ein zwar gelegentlich launischer, aber mit sich selbst konsistenter ›würdiger Mann‹.

|| 66 So Swift in einem Brief an Alexander Pope, wo es um Gulliver’s Travels geht, vom 29. Oktober 1725 (in: Harold Williams [Hg.]: The Correspondence of Jonathan Swift. Bd. 3. Oxford 1965, S. 103). 67 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 322. Bei Swift: »or made use of to kindle Flames, for others to warm Themselves by«, vgl. Swift: A Meditation upon a Broom-Stick and Somewhat beside (s. Anm. 4), S. 7. 68 Vgl. Kap. 7. 69 Das entspricht wiederum ziemlich genau der Grundstruktur des Swift’schen Tale of the Tub als einer Mischung aus einer Fabel/Allegorie und reflexiven Digressionen, also von Erzähl- und Denkformen.

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6 Was man von Besenstielen lernen kann: Jacobi meditiert über einen Strickstrumpf Während Jacobis Aufsatz im Neuen Deutschen Museum damit eher strukturell auf den Spuren von Swift wandelt, hat er einige Jahre später sich selbst an einem unerwarteten Ort in einer Art Satire versucht; und er greift dabei auf das Muster der von Swift parodierten Boyle’schen Betrachtungen zurück. Sein im Kontext des Jenaer Atheismusstreits entstandener Brief Jacobi an Fichte nimmt nämlich eine unerwartete Wendung,70 wenn es heißt: »In einem muthwilligen Augenblick vorigen Winter zu Hamburg, brachte ich das Resultat des Fichtischen Idealismus in ein Gleichniß. Ich wählte einen Strickstrumpf«.71 Tatsächlich ist das folgende Gleichnis – nun ja, nicht ganz so leicht aufzulösen wie ein Strickstrumpf; genau mit diesem Auflösungsprozess startet Jacobi aber, nämlich mit einem sozusagen handwerklichen Verkehrungsprozess, dem Rückabwickeln des idealistischen »Fadens der Identität dieses Object-Subjects«.72 Der Strickstrumpf selbst ist in diesem Gleichnis ein Gewebe, das durch das »bloße Hin- und Herbewegen des Fadens« und »ohne empirischen Einschlag« entstanden ist.73 Er kann auch Muster haben, »Streifen, Blumen, Sonne, Mond und Sterne«;74 diese sind dann das Werk der produktiven Einbildungskraft, die zwischen dem Ich des Fadens und dem Nicht-Ich der Drähte (also: der Stricknadeln) sich individuell entspinnt.75 Löst man dieses Gespinst jedoch auf, wickelt man es rückwärts ab, zeigt es sich, dass es »ein leeres Weben seines Webens war« und die einzige Realität das Tun des Handelnd-Strickenden.76 Alle Strümpfe jedoch hätten – und an dieser Stelle sollten die Zweifel darüber, ob es sich bei dem

|| 70 Vgl. zum Kontext und zur Entstehung ausführlich Ortlieb: Jacobi und die Philosophie als Schreibart (s. Anm. 37), Kap. VII.3. Auch sie weist auf die Singularität dieser Stelle im »fast durchgängig bilderlosen Schreiben« (S. 411) Jacobis hin. Vgl. dort auch die Darstellung der allmählichen Entwicklung der ausgebauten Metapher von einem ersten Entwurf in den Kladden über einen Brief an Dohm (wo er von einem »närrischen Bild« spricht, ebd., S. 412) und eine vergleichbare Analogie zwischen der neueren Philosophie und einem Weber in einem Brief an Kleuker (ebd., S. 413) bis hin zu Jacobi an Fichte. 71 Jacobi: Jacobi an Fichte (s. Anm. 52), S. 18. 72 Ebd., S. 19. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 4. Leipzig 1801, S. 450: »Die Stricknadel, plur. die -n, Nadeln, d. i. an den Enden rundlich zugespitzte Stücken Draht, deren man sich bey dem Stricken bedienet, den Faden über selbige zu umschlingen«. 76 Jacobi: Jacobi an Fichte (s. Anm. 52), S. 20.

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Gleichnis um eine Satire handelt, sich auflösen wie Luftmaschen – »die Tendenz […] ihre Schranken aufzuheben und die Unendlichkeit auszufüllen«.77 Während die Leserin noch beschäftigt ist, sich ein Universum voller sich selbst ins Unendliche fortstrickender und wieder auflösender Strümpfe vorzustellen, gesteht Jacobi zu, dieses Gleichnis könnte wohl als »unpaßend« empfunden werden – was dem dialogischen Einwand in der Mitte der Swift’schen Meditation über den Besenstiel aufs genauste entspricht.78 Genau wie dort vertieft Jacobi angesichts der vorgebrachten Zweifel jedoch seine Deutung noch. Denn die kritisierte neue Philosophie könnte ja das Gleichnis durchaus zu ihrem Vorteil wenden und ihren »logischen Enthusiasmus« darin gespiegelt sehen,79 dass man einfach dem Werden beim Werden zuschauen könnte, egal ob es sich dabei um Ich und Nicht-Ich oder Faden und Strickdraht handele; das wäre dann ein »nur sich selbst vorhabendes und betrachtendes Handeln, blos des Handelns und Betrachtens wegen, ohne anderes Subject oder Object«.80 Aber andererseits, wenn man genauer überlege, und jetzt kommt das schlagende Schlussargument: Was soll ein Strumpf ohne Bein? Er wäre nur eine »Danaiden- und Ixions-Seligkeit« – also die Selbstüberhebung eines eine Wolke statt einer Göttin umarmenden Schwärmers oder, schlimmer noch, das ewige Schöpfen von Wasser in ein Fass mit Löchern.81 Kann man den transzendentalen Idealismus härter und gleichzeitig lustiger kritisieren? Man wünschte sich mehr von diesem satirischen Jacobi zu lesen!

7 Was bleibt? Nachspiel mit Schäferin Jacobis unscheinbarer und in der oberflächlichen Lektüre zweifellos diffus wirkender Essay zu Swift zeigte sich in der genaueren Lektüre als eine Gelenkstelle in seiner persönlichen Entwicklung ebenso wie als ein Schlüsseltext zur Verbindung zwischen seiner Philosophie und seinem literarischen Werk.82 Den biographischen und zeitgeschichtlichen Entstehungshintergrund bildet Jacobis Verhältnis zu gleich mehreren Mustern des ›hypocrite reversed‹: Sein zwiespältiges Verhältnis zu Goethe, seine intensive Korrespondenz mit Lavater, seine Verehrung für Hamann, || 77 Ebd., S. 20. 78 Ebd., S. 21. 79 Ebd., S. 23. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Die Zwei- oder gar Mehrfachlektüre wichtiger Werke war für Jacobi eine hermeneutische Selbstverständlichkeit; so schreibt er in einem Brief an Elise Reimarus vom 27. März 1796 über den Woldemar: »Ich bekenne auch, daß ich ihn für diejenigen, die ihn nicht mehr als einmal lesen mögen, nicht geschrieben habe: es lohnte dann wahrlich nicht der Mühe«, Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 19), Bd. 2, S. 218.

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wahrscheinlich auch die zunehmende Enttäuschung über seine frühere Identifikationsfigur Rousseau führen dazu, dass er komplexere Persönlichkeitstypen in sein Menschenbild integrieren muss, das von der Empfindsamkeit im Verein mit seiner Identitätsphilosophie her sehr stark aufgeladen ist mit Authentizitätserwartungen und dem ›Wort des Namentlichen Mannes‹, bei dem zwischen Leben, Werk und Selbstdarstellung kein Blatt Papier passt. Ein ›hypocrite reversed‹ jedoch stellt dieses Verhältnis auf den Kopf, indem er sich hinter einer Maske der NichtSelbstachtung verbirgt und seine moralische Vorbildlichkeit absichtlich verleugnet. Dazu kommt die wachsende Enttäuschung Jacobis über das Zeitgeschehen, wie sie sich beispielsweise in der Ablehnung der Berliner Aufklärung spiegelt, und die Angst davor, selbst schon bald missverstanden, von ›Schreyern‹ verspottet und, am schlimmsten, falsch ausgelegt zu werden. Wie kann man in solcher Zeit, die alles auf den Kopf stellt, die ein Besenstiel mit Wurzeln in der Luft ist – wie kann man in solcher Zeit zu sich selbst und zu seinem Werk stehen? Letztendlich ist es diese universale Tendenz zur Verkehrung, wie sie in der Satire ihren Ausdruck findet, die Jacobi wohl am meisten irritiert. Nichtsdestotrotz weiß er sie sich in seinem Strickstrumpf-Gleichnis souverän, wenngleich leider singulär anzueignen. Aber auch in Jacobi an Fichte ist sie sozusagen in Quarantäne gestellt durch die sie rahmenden vielfachen Zugeständnisse an Fichtes moralische Unzweifelhaftigkeit, seinen Wert als ›Namentlicher Mann‹. In literarischer Hinsicht damit verbunden ist zum einen das Problem satirischen Schreibens, seiner Miss- und Uneindeutigkeit, das einen sehr geschulten und selbstständigen Leser erfordert – und damit das Gegenbild zum einfühlenden, mitfühlenden, sich bedingungslos identifizierenden Leser des empfindsamen Paradigmas. Zum anderen thematisiert Jacobi am Beispiel von Swifts satirischen Texten das Problem allegorischen, bildlichen Schreibens in weitester Form: Auch Symbole, ›Hierogplyphen‹, wie es bei Swift heißt, sind eine Form des sprachlichen Versteckspiels und nicht der unmittelbar-intuitiven Selbstaussprache nach dem Muster der sokratischen bzw. Hamann’schen ›Rede, daß ich dich sehe!‹83 Ob ein Besenstiel nun ein angemessenes Symbol für die conditio humana zwischen Wurzel und Haaren oder einfach ein an den Haaren herbeigezogener Vergleich ist; ob man am Leitfaden des Strickstrumpfes die idealistische Philosophie Fichtes rückabwickeln kann – bleibt dem ›sachtsinnigen Leser‹ überlassen. Dafür aber muss er lernen, zwischen Geist und Buchstabe zu unterscheiden, den eigentlichen Verstand des Textes mehr zu wittern als zu analysieren, die ›Redensarten‹, seien sie ›tritical‹ oder ›critical‹, ineinander zu übersetzen. Dabei könnte ihm das ›Wort eines Namentlichen Mannes‹ durchaus als Richtschnur dienen, also die vorausgesetzte Integrität des Autors. Wenn er es allerdings mit einem ›hypocrite reversed‹ zu tun hat, bleibt ihm am Ende

|| 83 So beispielsweise in Hamanns Aesthetica in nuce. In: Johan Georg Hamann: Sämtliche Werke. 6 Bde. Hg. von Josef Nadler. Wien 1949‒1957, Bd. 2, S. 198.

Jacobi und die Satire | 81

nichts anderes, als über die Texte hinaus auf das Leben selbst zu schauen: Swift ist in Sheridans Erzählung durch sein Handeln gerechtfertigt, das die Gesellschaft letztlich unabhängig von der Deutung des Textes integrieren kann. Ganz am Ende jedoch – hat Jacobi die persönliche Satire doch wieder eingeholt, und er ist noch einmal ein ›unglücklicher Jacobi‹ geworden. In einem SatireFragment der respektlosen romantischen Geschwister Bettine von Arnim und Clemens Brentano aus dem Jahr 1809 taucht der einstmals verehrte Übervater unter dem nur wenig verschlüsselten Decknamen ›Allwill‹ nur noch als Witzfigur auf: Er »kömmt im Talar« und im »Schlafrock«, hat sich »im Nachdenken verirrt und weiß wirklich nicht den rechten Weg zu finden«;84 er fürchtet um seine bekanntlich empfindlichen Augen. Minerva aber, eine Schäferin, erinnert ihn an seine vergangene Jugend: Zurecht kann ich dich wohl weisen, allein du wirst mir nicht glauben wenn ich dir sage, daß dieser Ort deine wahre Heimath sey, und daß ein guter Genius dich hierher geleitet hat, O, Allwill Allwill bleibe hier im grünen Thal bei den Lämmern, und die Leere deiner Brust über welche du oft klagest wird sich füllen mit schönen Wundern der Natur, und die Fülle deines Herzens welche dir oft die Brust zu enge macht, wird sich ergießen in meinem Blick.85

Vor Minerva wird er jedoch geschützt von seiner »Tante Lehne« – also seiner Schwester Helene, die ihm in München den Haushalt führte, »die wütigste Nymphe die ich je gesehen« (so die Dramenfigur der Bettine),86 die wenig später dann auch

|| 84 Das Fragment mit dem Arbeitstitel ist nur handschriftlich überliefert, die erste Seite in der Handschrift von Clemens, der folgende Text dann in derjenigen Bettines. Es ist abgedruckt in Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Hartwig Schulz u. a. Bd. 12. Stuttgart 1982, S. 910–920. Vgl. zum Entstehungshintergrund und dem Verhältnis der Geschwister zu Jacobi, der besonders für den frühen Clemens Brentano auch eine stark positiv besetzte Figur war, Jutta Heinz: Clemens Brentanos dramatisches Frühwerk. Eine produktionsästhetische Studie. Stuttgart 2019, Kap. 8. 85 Brentano/Arnim: (s. Anm. 84), S. 915. 86 Ebd., S. 916. Ein etwas versöhnlicheres Jacobi-Bild entwirft eine Schilderung Bettines über einen Ausflug gemeinsam mit dem Jacobi’schen Haushalt an den Starnberger See. Sie findet sich in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, der sehr stark fiktionalisiert ist; aber es macht für das Jacobi-Bild letztlich kein Unterschied, ob der Ausflug nun so stattgefunden hat oder eine Phantasie von Bettine ist: »Neulich fuhr ich mit ihm, den beiden Schwestern, und dem Grafen Westerhold, nach dem Staremberger See. […] Im Schiff, auf dem wir bei herannahendem Abend wohl anderthalb Stunden fahren mußten, um das jenseitige Ufer wieder zu erreichen, machte ich einen Kranz. Die untergehende Sonne röthete die weißen Spitzen der Alpenkette und Jacobi hatte seine Freude dran, er deployierte alle Grazie seiner Jugend, Du selbst hast mir einmal erzählt, daß er als Student nicht wenig eitel auf sein schönes Bein gewesen, und daß er in Leipzig mit Dir in einen Tuchladen gegangen, das Bein auf den Ladentisch gelegt, und dort die neuen Beinkleidermuster drauf probiert, blos um das Bein der sehr artigen Frau im Laden zu zeigen; – in dieser Laune schien er mir zu sein; nachlässig hatte er sein Bein ausgestreckt, betrachtete es wohlgefällig, strich mit der Hand drüber, dann wenige Worte über den herrlichen Abend, flüsternd beugte er sich zu mir herab da ich am

82 | Jutta Heinz

selbst »kriegerisch gekleidet« auftritt;87 kurz danach bricht das freche Fragment ab. Es wirkt vor diesem Hintergrund nicht wenig prophetisch, dass Jacobi das Ende von Swifts Meditation upon a Broom-Stick, zwanzig Jahre früher, folgendermaßen übersetzt hatte: Seine letzten Tage bringt er [der Besenstiel] in der Knechtschaft von Weibern und gewöhnlich der schlechtesten zu, bis er abgenutzt bis auf den Stumpf wie sein Bruder Besen, entweder auf die Gasse geworfen, oder zum Anzünden eines Feuers, woran andere sich wärmen, gebraucht wird.88

|| Boden saß und den Schoos voll Blumen hatte wo ich die besten auslas zum Kranz, und so besprachen wir uns einsylbig aber zierlich und mit Genuß in Geberden und Worten, und ich wußte es ihm begreiflich zu machen, daß ich ihn liebenswürdig finde, als auf einmal Tante Lehnes vorsorgende Bosheitspflege der feinen Gefühlscoquetterie einen bösen Streich spielte; ich schäme mich noch wenn ich dran denke; sie holte eine weiße langgestrickte wollne Zipfelmütze aus ihrer Schürzentasche, schob sie ineinander und zog sie dem Jacobi weit über die Ohren, weil die Abendluft beginne rauh zu werden; grade in dem Augenblick als ich ihm sagte: heute versteh ich’s recht, daß Sie schön sind, und er mir zum Dank die Rose in die Brust steckte, die ich ihm gegeben hatte. Jacobi wehrte sich gegen die Nachtmütze, Tante Lehne behauptete den Sieg, ich mochte nicht wieder aufwärts sehen, so beschämt war ich« (Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Hg. von Wolfgang Bunzel. München 2008, S. 291‒293). 87 Brentano/Arnim: (s. Anm. 84), S. 917. 88 Jacobi: Swifts Betrachtung (s. Anm. 5), S. 322.

| 2 Philosophie und Epistemologie

Hans Friedrich Fulda

Friedrich Heinrich Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung Eine Fallstudie zur Aufklärungsforschung Jacobi ist nicht nur der ›Glaubensphilosoph‹ gewesen, als der er im nachkantischidealistischen Denken vor allem mit seinem Spinoza-Büchlein von 1785 und dann mit seinen Polemiken gegen den transzendentalen Idealismus und gegen Schelling zur Wirkung kam. Wichtige seiner Schriften, um die es im Folgenden zu tun ist, sind älter und gingen nicht darauf aus, einen Gegensatz von Glauben und Wissen auf die Spitze zu treiben. Zu ihnen gehören vor allem die Romane Eduard Allwills Papiere (1775 in Iris erschienen und 1776 im Teutschen Merkur) und Woldemar (1779/81), ferner der politikphilosophische Essay Etwas das Lessing gesagt hat (1782) und einige Briefe dieser Zeit der 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre. Darin spricht kein Romantiker, der nur dem Gefühl vertraut und nicht mehr glaubt, dass die Menschen durch ihre Vernunft zu einem besseren geselligen, gesellschaftlichen und politischen Leben gelangen können. Erst recht nicht wird darin alle Philosophie seitens einer höchst subjektiven, auf individuelle Weise artikulierten Glaubensgewissheit infrage gestellt. Das Corpus dieser jacobischen Schriften ist von den späteren auch nicht durch einen klaren, alles Frühere rückblickend disqualifizierenden Schnitt getrennt. Vielmehr wurden die beiden Romane von ihrem Verfasser während der 90er Jahre (1792 und 1794) in veränderter Version erneut publiziert – vermutlich nicht ohne den Anspruch, mit ihnen etwas zur Aufklärung des mentalitätsgeschichtlichen Hintergrundes beitragen zu können, den der Jakobinerterror gehabt hat. War Jacobi, wenn es sich so verhält, überhaupt der obskure Polemiker gegen die ganze Moderne als ›Nihilismus‹? War er der Irrationalist und Gegenaufklärer, der uns unter seinem Namen bis heute in vielen Interpretationen der nachkantischen idealistischen Philosophie präsentiert wird?1 Oder gilt es hier ein stereotypes Urteil zu berichtigen, das die Aufklärungsforschung und die Deutung der nachkantischen Philosophie gleichermaßen behindert?

|| 1 Um zwei jüngere Beispiele solcher Einschätzung zu nennen: Charles Taylor: Hegel. Cambridge 1975, S. 184, S. 421 und S. 480; Robert B. Pippin: Idealism as Modernism. Hegelian Variations. Cambridge 1997, S. 6 und S. 130. https://doi.org/10.1515/9783110727340-006

86 | Hans Friedrich Fulda

1 Gegenstand der Kritik Jacobis Die hier interessierende, von Jacobi geübte Kritik richtet sich grob gesprochen gegen eine naturalistische Auffassung vom Menschen, wie sie sich in Frankreich während des 18. Jahrhunderts, von Julien Offray de La Mettrie, Claude Adrien Helvétius und Paul Henri Thiry d’Holbach ausgehend, verbreitet hat, – insbesondere aber gegen das mit dieser Auffassung verbundene Konzept einer Wissenschaft der Moral und einer auf solcher Wissenschaft basierenden Aufklärung. Des Näheren stehen im Zentrum dessen, worauf Jacobi zielt, einige »-ismen«. An ihnen lässt sich auf die einfachste Weise ausmachen, was von Jacobi missbilligt wird – und unter welchem Gesichtspunkt. Kritisiert nämlich werden die »-ismen« nicht je für sich oder im Hinblick auf ihre Verträglichkeit untereinander. Vielmehr erscheinen sie Jacobi bedenklich wegen der Auswirkung, die sie gemeinschaftlich auf die gelebte Sittlichkeit der Menschen haben, und wegen der politischen Rolle, die sich die Aufklärung mit ihrer Verbreitung zuspricht, ja in den 80er Jahren z. T. auch wirklich verschafft. Doch vor den erhobenen Einwänden gilt es deren Ziel in Jacobis Sicht zu identifizieren. 1. Im Unterschied zu den »Engländern«2 hätten die Franzosen eine Philosophie, die materialistisch geworden sei, sobald sie »eigentliche Philosophie wurde und aufhörte, zugleich den Volksglauben unterstützen zu wollen«. Sie habe immer mehr alles verworfen, »was sich aus mechanischen Gesetzen nicht erklären, dem Verstande, wie sie sagten, nicht deutlich machen ließe«. Dies lässt Jacobi Woldemar (S. 743) sagen. Aber man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass er es auch selber meint. Wie schon das Zitierte zeigt, ist unter ›Materialismus‹ dabei nicht das reduktionistische Programm verstanden, alle mentalen bzw. psychischen Phänomene ausschließlich in terminis physiologischer Zustände zu beschreiben und zu erklären; sondern ein Materialismus, der (anticartesisch) auch die Menschen (und nicht bloß die Tiere) in ihren psychischen Funktionen als Maschinen betrachtet und die psychischen Phänomene ebenso wie die physiologischen Vorgänge mechanistisch erklären möchte, d. h. unter Gesetzmäßigkeiten, die für Trägheit, Anziehung, Abstoßung und Widerstand zwischen verschiedenen psychischen Zuständen oder Vorstellungen gelten, wobei diese Zustände nicht als Zustände einer Entität verstanden werden, welche von unserem Körper substantiell verschieden ist, d. h.

|| 2 Namentlich erwähnt werden von den jüngeren Hume und Ferguson. Gemeint sind also eigentlich nicht die Engländer, sondern die Briten und unter ihnen in erster Linie die Schotten. 3 Seitenangaben nach der Ausgabe in Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich von Roth und Friedrich Heinrich Köppen. Leipzig 1812ff.; Nachdruck Darmstadt 1980. Bd. I: Allwill. Bd. V: Woldemar. Zitate und Stellenangaben zu Schriften Jacobis beziehen sich, falls nicht anders vermerkt, im Folgenden auf diese Edition (Band-Nr. in römischer Ziffer). Zur Differenz zwischen der ersten und der zweiten Auflage des Allwill sowie des Woldemar vgl. unten Anm. 50.

Friedrich Heinrich Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung | 87

nicht als Zustände einer immateriellen Seele.4 Es versteht sich, dass dieser Materialismus prinzipiell durchaus mit der empiristischen Vorstellungspsychologie Locke’scher Provenienz verträglich ist. 2. Innerhalb dieser ›materialistischen‹ Vorstellungspsychologie wird nach Auffassung Jacobis und seiner Romanhelden ein entschiedener Sensualismus vertreten: Lust- und unlustbetonte Empfindungen, die ans Funktionieren unserer Sinnesorgane gebunden sind, werden als die Basis aller mentalen Phänomene betrachtet und zugleich als das Material, aus dem sich unsere intellektuellen Fähigkeiten und Tätigkeiten aufbauen.5 Oder in der drastischen Ausdrucksweise Woldemars, auf Helvétius6 gemünzt: Endlich trat ein Mann auf, der es frei heraus sagte: Wir schätzten nur die Wollust, hätten nur unsere Sinne, gerade fünfe an der Zahl und kein Herz, keinen Geist, nur Begierden, und kein unmittelbares Gefallen am Menschen, keine Liebe. (S. 177)

3. Der letzte substantivische Ausdruck des Zitats, »keine Liebe«, ist zugleich Anspielung auf einen weiteren »-ismus«, der diese sensualistische Psychologie näher kennzeichnet: Die Begierden bzw. Empfindungen, die wir mit ihnen haben, sind solche, in denen sich durchgängig Selbstliebe geltend macht. Diese macht uns nach Helvétius ganz zu dem, was wir sind.7 Die Psychologie unserer Begierden und Empfindungen, aber auch diejenige unserer moralischen Natur mit den Leistungen und Fähigkeiten, die sich angeblich allein aus Empfindungen bilden, vertritt einen strikten Egoismus. Nun fragt sich, wie man auf diesem psychologischen Fundament eine sich als Wissenschaft verstehende Lehre vom Moralischen soll aufbauen können. Der entscheidende Beitrag zur Beantwortung der Frage ist die Spinoza’sche Überzeugung, dass der Mensch dem Menschen das Nützlichste ist. Dies unterstellt lässt sich die optimale Entwicklung und Befriedigung meiner Bedürfnisse in einem System menschlicher Kooperation denken, in dem möglichst viele möglichst vielen wechselseitig zu möglichst viel Glück verhelfen. Darauf spielt Jacobi an, wenn er seinen Allwill sagen lässt: System der Glückseligkeit, so heisset, was sie uns lehren wollen – höchster Genuß der Menschheit; was das ist, das wissen sie – für jedweden unter allen Umständen; haben im Auge die Harmonie aller Bedürfnisse, in der Seele das Maß aller menschlichen Kraft. (S. 191)

|| 4 Vgl. z. B. Paul Henri Thiry d’Holbach: Système de la Nature ou des lois du monde physique et du monde moral. 1770. Nouvelle édition. Paris 1821. Hier insbes. das 6. und 7. Kapitel. 5 Ebd., Kapitel 8. 6 Vgl. De l’esprit 1758. In: Claude Adrien Helvétius: Œuvres Complètes. Bd. I–VI. Paris 1795, hier Bd. I, S. 177ff. 7 Claude Adrien Helvétius: De l’homme, de ses facultés et de son éducation. In: Œuvres Complètes. Bd. VII–X, hier Bd. VII, S. 230ff (4. Abschnitt, 4. Kapitel).

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Das moralphilosophische Konzept, auf das Allwill sich damit bezieht, ist folgendes: Jeder ist auf sein eigenes Glück aus; aber das Glück eines jeden hängt von demjenigen anderer ab. Es wird erfahren, wenn man sich in einem Empfindungszustand befindet, in dem man verharren will, oder im Zustand der Vorfreude darauf. Der Maßstab für den Grad jeweiligen Glücks ist die Intensität, Dauer und Menge solcher Empfindungszustände; konkret: die Menge an Zeit, während welcher der einzelne täglich sowie in seinem ganzen Leben mit einer größeren oder geringeren Intensität Sinnenfreuden oder Freuden der Erwartung solcher genießt, also irgendwelche Bedürfnisse lustvoll befriedigt.8 Da der einzelne sein individuelles Glück aber nur in Abhängigkeit vom Glück anderer und damit von der Herstellung eines kollektiven oder nationalen Glücks optimieren und erreichen kann, lässt sich in Bezug auf solches Glück nun Tugend bestimmen, die jemandem zu- oder abzusprechen ist; und dementsprechend lässt sich das Verhalten des einzelnen bzw. dessen Charakter moralisch qualifizieren. Tugend nämlich ist dasjenige an einem, was »wirklich und auf die Dauer den in Gesellschaft lebenden Wesen der menschlichen Gattung nützt«9 – versteht sich, im Hinblick auf das kollektive Glück. Die Tugend ist also ein Mittel zum Zweck des von ihr verschiedenen, gemeinschaftlichen Glücks. Sie verdient, wie Woldemar sagt (S. 73), »nur als Mittel zu einem von ihr verschiedenen Glück Achtung und Cultur« – während umgekehrt die »höchste Glückseligkeit«, d. h. das kollektive Glück, nach Woldemars Worten »nur eine gewisse Art des äußerlichen Zustandes« (S. 182) ist – desjenigen Zustandes nämlich, zu dem der einzelne mit seinem tugendhaften Verhalten gelangen mag, wenn es ihm tatsächlich »glückt«, das für diesen Zustand nützliche Verhalten Früchte tragen zu lassen. Ein passender Ausdruck für die moralphilosophische Position, die so von der Tugend denkt, ist hedonistischer Eudämonismus, wenn darunter der Versuch verstanden wird, unsere moralischen Pflichten herzuleiten aus unserem Verlangen nach Glück, wobei aber der Zustand des Glücks betrachtet wird als ein Zustand (lustvoller Befriedigung sensueller Bedürfnisse), der allem Sollen und Gesollten noch vorauszusetzen ist. Wir haben also drei doppelte »-ismen«: einen mechanistischen Naturalismus, egoistischen Sensualismus und hedonistischen Eudämonismus. Diese drei müssen wir jeweils in der angegebenen Bedeutung der gewählten Ausdrücke vor Augen haben. Denn sie bilden das Zentrum dessen, was Jacobi an der Moralauffassung seiner um 20–30 Jahre älteren materialistischen Zeitgenossen kritisiert. Doch um zu erfassen, was er an deren Konzept von Aufklärung auszusetzen hat, muss man im innersten Ring der Zielscheibe seiner Kritik einen weiteren Punkt identifizieren.

|| 8 Holbach: Système (s. Anm. 4), Kapitel 9; Helvétius: De l’homme (s. Anm. 7), 8. Abschnitt, Kapitel 1 und 2. 9 Ebd., 4. Abschnitt, Kapitel 12.

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4. Die (wie umrissen konzipierte) Wissenschaft von der Moral soll sich – insbesondere nach den Vorstellungen von Helvétius – problemlos verbinden lassen mit einer Wissenschaft von der menschlichen Erziehung zu solcher Moral; und die Erkenntnisse dieser Wissenschaft vom Menschen sollen sich auch relativ leicht erfolgreich anwenden lassen. Man muß dazu nur der Kirche mit ihren abergläubischen Vorstellungen von theonomer Moral durch eine entsprechende öffentliche Gesetzgebung das ganze Erziehungswesen (soweit es noch in ihrer Hand ist) entwinden und es möglichst weitgehend in die Hand öffentlicher Erziehungs- und Bildungsanstalten geben; und diese Institutionen müssen dann im Sinn der neuen Moral- und Erziehungswissenschaft arbeiten.10 Denn »die Erziehung vermag alles«11, und gute oder schlechte Erziehung ist »fast vollkommen das Werk der Gesetze«12. Da Gesetze aber, bzw. ihre Befolgung, gegen Widerstand notfalls mit Zwang durchzusetzen sind, bedeutet das, dass die in den angeblichen Wissenschaften von der Moral und der Erziehung vielleicht zustandekommende Aufklärung des Menschen (über dessen Chancen, auf beste Weise glücklich zu werden) nicht in den Köpfen der Wissenschaftler und der von ihnen Belehrten bleiben wird und dass sie sich auch nicht bloß aus je individueller Initiative umsetzen soll in persönliche Lebenskonzepte, die nach den Resultaten dieser Wissenschaften entworfen sind. Die propagierte Aufklärung soll sich vielmehr den Weg zum Glück, wie sie es und ihn erkannt zu haben glaubt, mithilfe politischer Gewalt bahnen. Dementsprechend proklamiert Helvétius – 1772 am Ende der Vorrede seines nachgelassenen Werks13 – das Bündnis der Philosophen und ihrer Wissenschaft vom Menschen mit den sogenannten aufgeklärten Monarchien ›des Nordens‹ und Österreichs: Le bonheur, comme les sciences, est, dit-on, voyageur sur la terre. C’est vers le nord qu’il dirige maintenant sa course; de grands princes y appellent le génie, et le génie la félicité. Rien aujourd’hui de plus différent que le midi et le septentrion de l’Europe. Le ciel du sud s’embrume de plus en plus par les brouillards de la superstition et d’un despotisme asiatique; le ciel du nord chaque jour s’éclaire et se purifie. Les Catherine II, les Fréderic, veulent se rendre chers à l’humanité; ils sentent le prix de la vérité; ils encouragent à la dire; ils estiment jusqu’aux efforts faits pour la découvrir. C’est à des tels souverains que je dédie cet ouvrage; c’est par eux que l’univers doit être éclairé. Les soleils du midi s’éteignent, et les aurores du nord brillent du plus vif éclat. C’est du septentrion que partent maintenant les rayons qui pénetrent jusqu’en Autriche; tout s’y prépare pour un grand changement.14

|| 10 Ebd., 10. Abschnitt, Kapitel 1. 11 Ebd. 12 Ebd., Kapitel 11. 13 Helvétius: Œuvres (s. Anm. 7). 14 Ebd., Bd. VII, S. XVIff.

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Höchstens zehn Jahre später und jedenfalls ein Jahr nach Beginn der Reformen Josephs II. von Österreich – diese vor Augen – antwortet darauf Jacobi mit einer Schrift, in der er kritisch gegen die Monarchen an Etwas, das Lessing gesagt hat,15 erinnert. Darin schreibt er Helvétius16 einen großen Anhang zu und charakterisiert den folgendermaßen: Der große Haufe unserer denkenden Köpfe […] will das wesentliche Wahre und das wesentliche Gute ausgebreitet sehen – mit Gewalt, und mit Gewalt jeden Irrtum unterdrückt; sehen und helfen eine Aufklärung betreiben – anderswo als im Verstande, weil es dieser ihm zu lange macht.

Der Ton, in dem hier gesprochen wird, belegt uns, dass Jacobi die zitierten Äußerungen Allwills und Woldemars durchaus gutheißt, obwohl er die Persönlichkeit seiner beiden Romanhelden sehr kritisch beurteilt. Das Zitat nämlich geht fort, aber damit ist bereits die Charakterisierung der Position zu deren Kritik hin überschritten: die Lichter auslöschen, voll kindlicher Ungeduld, damit es Tag werde. O der hoffnungsvollen Finsternis, in der wir nach dem Ziel unserer Wünsche, nach dem höchsten Wohl auf Erden eilig voran tappen; voran, auf dem Wege der Gewalttätigkeit und der Unterjochung. (S. 336f.)

Was will Jacobi den denkenden Köpfen unter seinen Zeitgenossen mit dieser Kritik bedeuten? Das gilt es nun auszumachen. Gehen wir dazu der Reihe nach vor und beginnen wir mit Jacobis Einwänden gegen die Charakteristika der Position, die ich durch die drei Ausdrücke für »-ismen« bezeichnet habe!

2 Jacobis Einwände 1. Jacobi macht es sich mit dem mechanistischen Naturalismus verhältnismäßig einfach. Denn er ist an den epistemologischen Gründen, die für diesen Naturalismus sprechen, nicht interessiert und blickt ausschließlich auf verhängnisvolle Folgen, welche sich daraus für die Moralphilosophie ergeben mögen. Im Woldemar lässt er einen britischen Gast unter Berufung auf Ferguson argumentieren, die wissenschaftliche Naturlehre und die wissenschaftliche Moral seien wesentlich unterschieden; und zwar darin, dass »was nach physisch-mathematischen Gesetzen ausgemacht erfolgen müsse, allemal auch wirklich erfolge; hingegen das, was nach philosophisch-sittlichen Gesetzen notwendig erfolgen solle, nicht allemal erfolge«; denn die Naturgesetze »bezögen sich auf eine ein für allemal bestimmte Kraft«; die moralischen Gesetze hingegen «auf eine Kraft, deren Wesen Selbstbestimmung

|| 15 So der Titel der Schrift Jacobis von 1782. 16 Allerdings, ohne ihn zu nennen.

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wäre«; Diese Kraft habe »in sittlicher Betrachtung lauter Dinge der Wahl zum Gegenstand« (S. 77). Wenn man Freiheit als Selbstbestimmung versteht, so muss man m. a. W. vom mechanistischen Naturalismus bzw. Materialismus sagen, dieser laufe, in die Wissenschaft von der Moral getragen, auf die Verneinung menschlicher Freiheit hinaus. Das wird von Holbach auch unumwunden zugegeben.17 Helvétius dagegen erklärt, ohne sich davon irritieren zu lassen, mit großem Pathos, in der Wissenschaft von der Erziehung hätten die Menschen und die Völker das Werkzeug für ihre Größe und ihre Glückseligkeit in den eigenen Händen.18 Ihn interessiert nicht, was die bildliche Rede von einem Werkzeug, das man in eigenen Händen hält, bezüglich der Fähigkeit zu freiem Gebrauch von solchem Zeug und bezüglich der Art von Tätigkeit, die der Gebrauch ist, an Voraussetzungen mit sich bringt. Wohl aber interessiert das Jacobi, der daraus seinen zweiten Einwand gegen den mechanistischen Naturalismus in Sachen der Moral macht:19 Von je her sei das Edle dem Mechanischen, nicht allein wo Kunst und Handwerk unterschieden werden sollte, sondern in allen Dingen entgegen gesetzet worden, und zwar auf solche Weise: daß man bei dem einen Thätigkeit des Geistes, bei dem andern bloße Thätigkeit des Körpers sich dachte; bei dem einen […] Freiheit, Selbstbestimmung, und bei dem andern Sclaverey und fremden Antrieb. Diese Unterschiede zu verwirren und allmälig zu vertilgen, könnte man die große Absicht unsrer Zeiten nennen. Gerne sähen wir aus der Natur alle Selbstbestimmung, alle unmittelbare eigene Bewegungskraft hinweggeräumt; zeugten gerne das Leben nur aus Dingen die kein Leben haben, und aus lauter Leiden immer frische That; entschlügen gern uns alles dessen, was dem Geiste angehört; alles Ursprünglichen; alles aus sich selbst bestehenden und wirkenden – um an dessen Stelle lauter Räderwerk, Gewicht und Hebel einzuführen. (Ebd.)

2. Der egoistische Sensualismus – oder sensualistische Egoismus – ist Jacobi hinsichtlich seiner beiden Komponenten verdächtig. Gegen den Egoismus lässt er Allwill voll Ingrimm in den Ausruf ausbrechen: Eigenliebe? Alles soll Eigenliebe seyn! Was gehe ich mich selbst denn mehr an, als mich andere angehen; ich, der ich nur in andern mich fühlen, schätzen, lieben kann? – Das heißt euren Philosophen Unsinn. Mags! Weiß ich doch, wer es besser hat; ich oder sie. (S. 75)

Und ein paar Zeilen davor: […] die Bande echter Freundschaft, wo zwey etwas anfassen, wie rechte und linke Hand, um es zu Einem Werke zu bilden; zwey etwas miteinander fortbewegen, wie beyde Füße den Leib. – Weg mit dem, welcher sagt, eine solche Freundschaft sey auf Eigennutz gegründet!

|| 17 Holbach: Système (s. Anm. 4), 1. Teil, Kapitel 11. 18 Helvétius: Introduction I. Importance de cette question (s. Anm. 7), S. 6. 19 Vorgebracht in: Etwas, das Lessing gesagt hat: Jacobi: Werke Bd. II, S. 356.

92 | Hans Friedrich Fulda

Woldemar behauptet (mit Fénelon und Spinoza): […] in meinem Gewissen werde ich einen Regierer der Welt nach höheren Gesetzen, einen heiligen verborgenen Gott; und zu diesem hohen Unsichtbaren und zu seinem Gesetz, im Innersten meines Wesens eine Liebe gewahr, die sich selbst genügt, alles andere Interesse unter sich bringt, und eine Zuversicht zu ihrem Gegenstande mit sich führt, die über alle Zweifel sich erhebt. (S. 94f.)

Ihn kaum ausreden lassend macht der britische Gast und Gesprächsteilnehmer darauf aufmerksam, er rede wie der ehrwürdige Bischof Joseph Butler. Am Sensualismus hingegen wird im Allwill (S. 119ff.) nicht ohne Hinweis auf Berkeley das selbstreflexive Konzept von Empfinden ironisiert: dass wir nach der sensualistischen Philosophie mit unseren Ohren überall nur unsere eigenen Ohren hörten […] [u. s. w. durch mehrere Sinnesorgane hindurch] […] rückwärts, bis zum Mittelpunkte der Empfindung, überall nur Empfindungen empfänden; (119) […] Ihr [d. h. der sensualistischen Philosophie] wahrer fester Boden […], die Empfindung nämlich, sei] ein ausgemachtes, allgegenwärtiges und ewiges Nichtsdahinter für den Menschen. (S. 124)

Das aber ist nur die erste Hälfte des Einwandes. Es folgt eine reductio ad absurdum: Dennoch würden die Vertreter der hier interessierenden Auffassung, die Berkeleys frommen Spiritualismus nicht teilen, auch einem ursprünglichen, realistischen Instinkt folgen, der uns gebietet, Wesen und Wahrheit (also Etwas) »als das Erste und Festeste, unmittelbar, vorauszusetzen« (S. 122) – was sich mit dem anderen natürlich ganz und gar nicht verträgt. Oder, zum Paradox zugespitzt, wie Jacobi es liebt: Sie wollen »die Sinnlichkeit hier [d. h. auf Erden] um alle Ehre [auf anderes als sich selbst bezogen zu sein] bringen, und dann doch zuletzt mit ihr gen Himmel fahren« (S. 115). 3. Am hedonistischen Eudämonismus schließlich wird nicht moniert, dass er mit dem ausschließlich deskriptiv verfahrenden Naturalismus und mit dem – ausschließlich egoistischen – Sensualismus streng genommen unverträglich sei, sodass die ganze moralphilosophische Position eigentlich an Inkonsistenz leide. Vielmehr wird dieser Position zunächst einmal angekreidet, dass ihre Resultate z. T. unplausibel und aufs Ganze gesehen dürftig sind. Was die unplausiblen betrifft, fragt sich z. B.: Hat Helvétius recht, wenn er behauptet, dass es überhaupt keine nützlichen Irrtümer gibt; dass man den Menschen durchweg die Wahrheit schuldet; und dass die Erkenntnis der Wahrheit immer nützlich ist?20 Soll man also stets die Wahrheit sagen, – und dies sogar, weil es nützlich ist? Als Antwort hierauf fragt Allwill rhetorisch zurück, indem er an die sterbende Desdemona erinnert (S. 195):

|| 20 Ebd., Bd. XI, S. 155ff und S. 188f.

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»hat es nicht zu allen Zeiten Fälle gegeben, wo es Trieb der erhabensten Menschheit, wo es Eingebung Gottes war zu lügen?« Die Dürftigkeit der Resultate, die auch dem jungen Goethe an Holbachs System der Natur aufstieß21, sieht Jacobi in erster Linie darin begründet und zu einem guten Teil auch darin bestehen, dass nach der materialistischen Moralwissenschaft alle Bemühungen des Menschen lediglich der Verfeinerung seiner »Thierheit« dienen.22 Nur noch »Wollust und Reichtümer« zählen.23 Jacobi bringt den Hedonismus des Helvétius auch zusammen mit dem modernen, nicht mehr genügsamen Epikuräismus;24 er charakterisiert ihn als »dumme Bewunderung des Reichtums, des Ranges und der Macht, einer blinden, abgeschmackten Untertänigkeit, und einer Ängstlichkeit und Furcht«;25 als »Aberglauben an Reichtum und Begierde nach üppigem Genuß«.26 Nicht ganz zurecht, muss man sagen, angesichts der sehr nüchternen Vorstellungen, die Helvétius von realisierbaren Möglichkeiten, glücklich zu sein, gehabt hat;27 und erst recht nicht passt dieser Vorwurf Jacobis zu den asketischen Zügen der Moraltheorie Holbachs.28 Näher besehen aber berücksichtigt Jacobi auch diese Züge. Er deutet sie als Ausdruck von Resignation, die er auch in den Schriften von Helvétius wahrnimmt. In Bezug auf den Generalpächter von Frankreich lässt er Woldemar ausrufen: Wir kennen diese philosophische Resignation, dieses höchste Gut, oder vielmehr dieses Ende der Weisheit unserer Helden und Heiligen der Sinnlichkeit, derzufolge sie über den unerträglichen Ekel, der sie verzehrt, durch die Wissenschaft dieses Ekels und dieser Nichtswürdigkeit sich zu trösten suchen. Eine dürre fürchterliche Wüste! (S. 181)

Aber nicht nur Resultate werden moniert, sondern auch, dass es für den hedonistischen Eudämonismus »keine eigentliche Moral mehr gibt«, wie der britische Gast im Woldemar unter Berufung auf Bischof Butler argumentiert.29 Es gibt nur noch eine Klugheitslehre für den Menschen, »eine kluge Ökonomie seiner Lüste und Begierden«.30 Ferner: Wenn die Menschen bloß durch Neigungen und Leidenschaften, welche die Situation und die Umstände in ihnen erwecken, zu dem geführt werden, was man Tugend heisst, so können ihre (sogenannten) Tugenden »nicht anders als

|| 21 Vgl. Dichtung und Wahrheit, 11. Buch. In: Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. XXVIII. Weimar 1890, S. 68ff. 22 Vgl. Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 186. 23 Ebd., S. 177. 24 Ebd., Anhang, S. 18. 25 Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 19), S. 361. 26 Ebd., S. 383. 27 Vgl. Holbach: Système (s. Anm. 4), 8. Abschnitt, Kapitel 1. 28 Z. B. ebd., S. 370 und S. 389 (Kapitel 14 und 15). 29 Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 97. 30 Jacobi: IV/2, S. 245 (1786).

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sehr unrein und mit großen Lastern vermischt seyn«.31 In Wahrheit nämlich ist, wie Woldemar meint, »die höchste Glückseligkeit nicht eine gewisse Art des äußerlichen Zustandes, sondern eine Beschaffenheit des Gemüths, eine Eigenschaft der Person […]« (S. 182). Vor allem aber ist das Glück, auf das die materialistischen Moralwissenschaften sehen, nicht so ein klar und deutlich erkennbares Menschheitsziel, dass man von ihm zurück auf bestimmte Mittel schließen könnte, dieses Ziel zu erreichen. So müssen die Begriffe des im engeren Sinn Moralischen, d. h. die Begriffe der Tugenden und mit ihnen die Tugend selbst »hinfällig«32 und »schwankend«33 werden. Von einer Wissenschaft, die darüber belehrt, wie man sie erlangt und dauerhaft zweckmäßig betätigt, kann also gar nicht die Rede sein. Diese angebliche Wissenschaft der Moral verkennt auch, dass es keine wirkliche Tugend gibt, die nicht bereits da war, »ehe sie Namen hatte und Vorschrift«,34 während man für den rechten Gebrauch von bloßen Mitteln doch gewiss nicht ohne Vorschriften auskommt. Keine wirkliche Tugend kann man in Nützlichkeitserwägungen anhand einer »Meßkunst der Lüste« allererst errechnen. Ich denke, dass Jacobi mit dieser Kritik recht hat. 4. Einmalig allerdings sind die Einwände, soweit bis jetzt berücksichtigt, nicht. Sie sind nur originell formuliert und pointiert. Ganz eigenständig aber, soweit ich sehe, wird Jacobi mit dem nun folgenden Schritt seiner Kritik. Mit ihm trifft er das Aufklärungskonzept der Materialisten. Er macht nicht nur darauf aufmerksam, dass die Aufklärung, welche die Materialisten betreiben wollen, mit einer schlechten, unglaubwürdigen Philosophie arbeitet, die trügerische Hoffnungen weckt. Vielmehr will Jacobi nun zeigen, dass die Arbeit mit dieser Philosophie für die Aufklärung kontraproduktive, ja verhängnisvolle politische Folgen haben muss und in den anfangs der 1780er Jahre beginnenden josephinischen Reformen auch bereits zeitigt: Sie befördert ungewollt den Despotismus, anstatt ihn, wie ihre Absicht ist, einzudämmen und überwinden zu helfen, – wobei unter ›Despotismus‹ nicht mehr (wie in der aristotelischen Tradition) eine entartete Monarchie verstanden wird, sondern (wie schon bei Montesquieu) jede Willkürherrschaft, in welcher der unterschiedenen Herrschaftsformen immer sie auftreten mag – gleichgültig, ob als Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Wie sieht der Zusammenhang zwischen materialistischer Aufklärung und Despotismus aus, und was hat Jacobi gegen ihn bzw. gegen die in diesem Zusammenhang stehende Aufklärung einzuwenden? Das ist nach dem schon Ausgeführten nicht mehr schwer zu erraten. Den Schlüsselsatz, anhand dessen man entdecken kann, worin der Zusammenhang besteht, formuliert Jacobi in einem Brief an Reh-

|| 31 Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 204. 32 Ebd. 33 Vgl. Jacobi: Allwill (s. Anm. 3), S. 193. 34 Ebd., S. 72.

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berg ein Jahr vor Ausbruch der französischen Revolution, am 2. Mai 1788.35 Der Grundsatz des allgemeinen Besten, heißt es da mit Anspielung auf einen berühmten Ausspruch des Archimedes, sei »von jeher das που στω gewesen, wo der Despotismus seinen Archimedischen Hebel angesetzt hat, um Freiheit von der Stelle zu bringen und persönlicher Würde das Genick zu brechen.« Der Grundsatz des allgemeinen Besten ist das Prinzip, dass eine politische Herrschaft (welcher Herrschaftsform auch immer) ihre Tätigkeit aufs allgemeine Beste auszurichten habe. Durch die Vagheit des ›Begriffs‹ eines solchen Besten und den Ort dessen, was damit gemeint ist, der sich gleichsam außerhalb der Welt zu fixierender Handlungsziele befindet, legt es sich immer nahe, hochherrschaftliche Willkürhandlungen, die gegen Freiheit und Würde des Bürgers gerichtet sind, unter Berufung auf dieses Beste zu rechtfertigen, also die Bürger durch solche Handlungen ihrer Freiheit zu berauben und zu entmündigen. Noch unangefochtener wird der Grundsatz des allgemeinen Besten zu einem archimedischen Punkt von Willkürherrschaft, wenn man ihn – wie die materialistische Aufklärung – in Verbindung bringt mit einer angeblich wissenschaftlichen Erkenntnis dessen, was im Interesse dieses Besten moralische Forderung ist. Erst recht wird er es, wenn eine Erziehungswissenschaft, die mit der angeblichen Moralwissenschaft zugleich möglich werden soll, von Staatsgewalten in die Regie genommen wird. Dann nämlich können die Staatsgewalten – und die des aufgeklärten Absolutismus zumal, die von keinen traditionellen Vorstellungen mehr gehemmt werden – gar nicht umhin, die Menschen wie Vieh am Nasenring zu ihrem Glück schleifen zu wollen. Damit ist es um die Freiheit und persönliche Würde der Untertanen geschehen. Der Despotismus braucht dabei auch gar nicht schon im Voraus zu bestehen, wie das nach Helvétiusʼ Überzeugung in Frankreich der Fall ist. Hat er sich noch nicht etabliert, so wird er in dem umrissenen Zusammenhang unvermeidlicher Weise entstehen. Denn die materialistische Moral- und Erziehungswissenschaft will sich dem Souverän des aufgeklärten Absolutismus ja gerade dafür andienen, dass sie zum allgemeinen Besten genutzt werde. Wird ihr Angebot angenommen, so muss sie dies für den Triumph der Aufklärung halten. Aber die Verbindung zwischen einem nur höchst vage vorstellbaren kollektivem Glück und dem dafür Nützlichen, was an den Menschen als deren Tugend verstanden wird, ist nur eine der Meinung – und damit dem Belieben anheimgegeben. Sie zum einzigen Maßstab dessen zu machen, was zu geschehen hat, kann daher auch in der Gesetzgebung und Regierung nur darauf hinauslaufen, dass der Willkürherrschaft ein gutes Gewissen verschafft wird. Diese Herrschaft wird ja nun in ihrer Tätigkeit nicht mehr behindert durch eine eigenständig begründete Theorie und Kultur der Rechte des Einzelnen. Der Despotismus, wo er noch nicht besteht, ist also keine zufällige, sondern eine sys-

|| 35 F. H. Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. Hg. von Friedrich von Roth. 2 Bde. Leipzig 1825–1827, Bd. 1, S. 466f.

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temintern nahegelegte Folge des Einflusses, den eine materialistische, den Fürsten des aufgeklärten Absolutismus empfohlene Moral- und Erziehungswissenschaft bekommt und auf das öffentliche Geschehen ausübt. Ob dieses Geschehen von einem aufgeklärt absolutistischen Fürsten dominiert ist oder sich die Nation als der Despot betätigt, wie nach Helvétius im Fall der demokratischen Regierungsform36 – das ist dabei nebensächlich. Der Zusammenhang der materialistischen Aufklärung mit dem Despotismus, welcher in Jacobis Augen den Skandal ausmacht, besteht außerdem auch da, wo es das »wesentlich Wahre und Gute« ist, das bona fide mit Gewalt ausgebreitet werden soll.37 Als entscheidender Einwand ist in Jacobis Augen eben dies zu betrachten, dass der Zusammenhang nicht bemerkt wird, der zwischen Despotismus und Aufklärung einer gewissen Art besteht, obwohl doch Helvétius gegen den Despotismus in Frankreich ankämpft. Außer dem Globaleinwand gibt es noch einige speziellere Einwände gegen die Rolle, welche der materialistischen Moralauffassung zugedacht war: a) Gewalt, besonders wenn sie durch Erziehungspolitik jeden Irrtum unterdrücken soll, hat noch nirgendwo echte Wahrheit und wirkliche Wohlfahrt zustandegebracht. Aber viel Gutes ist dem Widerstand gegen sie entsprungen.38 – b) Es ist ein Frevel, dem einen – wie z. B. der Kirche im Fall der josephinischen Reformen – zu rauben und dem anderen zu geben, damit das Ganze gewinne.39 – c) Alle Menschen können irren, der König wie der Philosoph. Daher haben es sich alle Nationen zur Grundfeste ihrer Freiheit und ihres Eigentums gemacht, dass dasjenige, was ein Mensch für Recht erkennt, nie für Recht gelten soll, bevor es »das Siegel der Form« erhalten. Dazu aber, d. h. zur Form gehört, dass es von einem befugten Richter ausgesprochen und »in die Kraft Rechtens getreten« ist.40 – d) Wenn man gesteht, dass ein gemeines Wesen dem Gesetze der Gerechtigkeit gemäss verwaltet werden muss, zugleich aber will, dass die Gesetze der Willkür unterworfen werden und selbst die Ungerechtigkeit nicht scheuen sollen, so muss ein höchstes unumschränktes Ansehen ins Mittel treten, um die natürlichen sittlichen Gesetze nach Bedürfnis umzukehren; und der Inhaber solchen Ansehens muss seine Gewalt willkürlich anwenden.41 – e) Wenn der herrschende Begriff von einer Obrigkeit derjenige ist, dass diese an und für sich selbst die Quelle der Gerechtigkeit und des Eigentums selbst sei und dass sie daher Ausdehnung und Schranken aller Gattungen desselben höchstens nach Maßgabe eines unbestimmbaren allgemeinen Besten zu bestimmen habe, so kann die Obrigkeit in ihren Handlungen nur despotisch werden.42 – || 36 Helvétius: De l’homme (s. Anm. 7), Bd. VIII, S. 217 (4. Abschnitt, Kapitel 11) 37 Ebd., Jacobi: Werke II, S. 337. 38 Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 19) S. 336. 39 Jacobi: Werke VI, S. 368 (1779). 40 Jacobi: Werke II, S. 336. 41 Ebd., S. 350. 42 Ebd.

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f) Wenn statt echter Tugend und Religion kein anderes Mittel bleibt, die gemeine Wohlfahrt zu befördern, als die eigennützigen, parteiischen Neigungen der Glieder der Gesellschaft, die Leidenschaften, so müssen diese ins Gleichgewicht gebracht werden. Das aber kann nur mit äußerster Gewalt, die allen überlegen ist, erzwungen werden; und es gelingt dennoch nur auf höchst mangelhafte Weise. Menschen, welche nicht imstande sind, selbst zu erkennen, was ihnen gut ist, und nicht imstande, danach zu streben, die können noch viel weniger ihr Heil ohne Richter der Tugend eines Vormunds zu verdanken haben, welcher sie nie mündig werden lässt.43 – g) Es ist, wie uns schon Spinoza lehrte, die größte Torheit, dass einer von jemandem anderen erwartet, was niemand von sich selbst verlangen kann: seine eigenen Leidenschaften nur zu unterdrücken, um die Leidenschaften dessen zu befriedigen, der dies erwartet. Es ist auch Torheit, der Wollust, der Ehrsucht und dem Geiz zu entsagen, nur um ihre Gegenstände anderen zu verschaffen und zu sichern; oder zu erwarten, dass gerade der von keiner Leidenschaft fortgerissen werde, dessen ganzer Zustand ihn den stärksten Reiz zu allen Leidenschaften fühlen lassen muss.44

3 Der Charakter der Kritik Um Jacobis Polemik richtig einzuschätzen, muss man vor allem sehen, durch wie viele Fäden sie mit dem Kritisierten verbunden ist: längst nicht nur dadurch, dass sie im Despotismus einen gemeinsamen Feind hat. Jacobi leitet aus seiner Kritik auch nicht die Empfehlung ab, die Menschheit solle zu den religiösen und metaphysischen Autoritäten der Väter zurückkehren. Vielmehr vertritt er ausdrücklich die Überzeugung, keine Religion, und sei sie die wahre, könne Tugend und Glückseligkeit hervorbringen.45 Desgleichen widerspricht er der materialistischen Moralphilosophie nicht aus dem Bekenntnis zum Irrationalismus heraus oder aus Wissenschaftsfeindlichkeit46: Er betont, dass eine bürgerliche Vereinigung unter den Menschen und die wahre menschliche Verfassung einer solchen Vereinigung einzig und allein aus Vernunft hervorgehen kann.47 Empfindung ist unmittelbarer und früher als der Begriff; aber der ist »wichtiger, fruchtbarer, höher und besser«. Wenn er sich vollkommen gebildet hat, so werden wir der ihm vorausgehenden sinnlichen Vorstellung und ihres Gegenstandes überdrüssig.48 – Hinsichtlich des

|| 43 Ebd., S. 357. 44 Ebd., S. 375. 45 Ebd., S. 371; vgl. Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 172. 46 Vgl. ebd., S. 207. 47 Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 19), S. 340ff. 48 Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 192.

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Zusammenhangs von natürlichen Bedürfnissen und moralischen Forderungen geht Jacobi in der Frühfassung des Woldemar (1779) sogar so weit zu behaupten, aus dem physiokratisch wohlerkannten und wohlbesorgten physischen Interesse ergebe sich das moralische Interesse von selbst.49 Allerdings hat er das später revidiert, als er mit der praktischen Philosophie Kants bekannt geworden war. Die zweite Auflage des Woldemar enthält diese Behauptung jedenfalls nicht mehr.50 Die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen der materialistischen Aufklärung und ihrem Kritiker Jacobi besteht wohl darin, dass dieser – im Gegensatz zu Rousseau – nicht dem Vergangenen nachtrauert, sondern sich im Bewusstsein einer epochalen Zäsur zwischen dem Alten und dem Neuen unzweideutig auf die Seite des Neuen stellt.51 Für das epochal Neue ist Helvétius in Jacobis Augen sogar repräsentativ. Woldemars Auffassung zufolge war es || 49 Ebd., Anhang, S. 21. 50 Jacobi hat seine beiden Romane für die Ausgabe der 1790er Jahre sehr stark umgearbeitet. Im Fall des Allwill bestand die Veränderung außer in stilistischen Verbesserungen und in einer »Zugabe« vor allem in der Erweiterung um neun Briefe (von insgesamt 21!). An philosophischen, zugleich aber die Kritik der materialistischen Aufklärung betreffenden Äußerungen sind auf diese Weise jedoch nur die Einwände gegen die sensualistische Auffassung von Empfindung hinzugekommen (S. 119ff.). Im Fall des Woldemar liegen die Dinge komplizierter. Hier wurde im zweiten Teil der Schluss, den Goethe vor der Weimarer Hofgesellschaft persifliert hatte, durch einen neuen ersetzt und die ihm vorhergehende Peripetie des Romangeschehens (S. 452) viel besser als in der Erstfassung durch Wiedergabe von Gesprächen im Freundeskreis Woldemars vorbereitet (S. 362–92). Zwischen diese äußere Vorbereitung und den eigentlichen Schluss schob Jacobi außerdem – als innere Einstimmung auf den entscheidenden, der Konfliktlösung dienenden Schritt – eine 60 Seiten umfassende, gesprächsweise Untersuchung der Frage, was es ist, das die Seele in tugendhaften Menschen stark macht (S. 392–451). Denn solcher Seelenstärke bedarf es zur Auflösung des Konflikts, und an ihr vor allem mangelt es Woldemar. Alle diese erst in den neunziger Jahren vorgenommenen Änderungen modifizieren nicht die an der materialistischen Aufklärung geübte Kritik. Sie sind also hier nur insofern von Belang, als sie Jacobi offensichtlich mit dieser Kritik verträglich schienen. In den ersten Teil des Romans wurde (S. 41–55, S. 127–215) ein umfangreiches philosophisches Gespräch eingefügt. Das hatte Jacobi schon 1779 (und wieder 1781) veröffentlicht, aber nicht im Roman, sondern an anderer Stelle (vgl. S. III). Ganz neu wurde für die Ausgabe von 1794 ein Stück verfasst, das – zwischen die beiden Teile dieses Gesprächs eingeschoben – viel ausführlicher als in der Erstfassung die Geschehnisse darlegt, aus denen sich der Konflikt des Romans zusammenbraut. Wieder spielt dabei ein philosophisches Gespräch die Hauptrolle (S. 68–125). In ihm geht es unter anderem auch um Kritik an den französischen Materialisten (vgl. die obigen Zitate aus den siebziger Jahren mit den Seiten der neunziger Jahre!). Einige der Sätze, die Woldemar in den Mund gelegt werden, lassen aus der Wortwahl auf Kantlektüre des Autors schließen und moralphilosophische Überzeugungen erkennen, die im Woldemar von 1779 noch nicht geäußert wurden. Aber Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung hat davon, soweit ich sehe, keine neuen Impulse empfangen. Sie artikuliert sich auch jetzt noch ausschließlich in Kontrastierung dieser Aufklärung mit den britischen Moralisten, mit Fénelon und Spinoza. Umso weniger kann man sagen, die religiösen Überzeugungen, die in den Spinozismusstreit führten, hätten Jacobis Einstellung zur Aufklärung in weltlichen Dingen geprägt. 51 Vgl. Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 173 u. S. 176.

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in der That ein großes, den Geist seiner Zeit so zu fassen, wie es Helvétius gethan hatte; die leeren Schatten vollends zu verjagen; alle bloßen Dunstgestalten zu zerstreuen; und aus den einzig wirklich vorhandenen Materialien ein neues System von Tugend und Glückseligkeit aufzuführen, das so schön und bündig war, als es aus dergleichen Materialien nur immer werden konnte. (S. 178)

Jacobi belässt es nicht bei solcher Zustimmung und lässt seinen Woldemar, wie gezeigt, nicht darin aufgehen. Eine Aufklärung, die ihren Namen verdient, muss den Geist der Epoche auf die ihn bedrängenden, ihm immanente Probleme aufmerksam machen und an ihrer Bewältigung arbeiten. Deshalb betreibt Jacobi in beiden Romanen nicht nur Kritik an der materialistischen Aufklärung. Er zeigt auch, wie Allwill und Woldemar, welche die Protagonisten der ersten drei Hauptpunkte dieser Kritik und zugleich typische Vertreter von Sturm- und Drang-Mentalität sind, sich ihrerseits in Lebensprobleme verstricken, welche durch das Romangeschehen aufgedeckt werden. Auch sie also werden vom Verfasser kritisiert. Gerade ihre Mentalität und Haltung soll uns in der zweiten Auflage der Romane ahnen lassen, was zum Jakobinerterror disponiert hat. Die Kritik an ihnen ist freilich ein anderes Thema. Aber dass auch sie erfolgt, macht deutlich, wie durch und durch situationsbezogen und geschichtsphilosophisch Jacobis Kritik angelegt ist. Sie will dem Geist der Zeit, der nicht ohne Aufklärung angemessen zu denken ist, immanent sein, indem sie zeigt, wie er noch zu sich selbst gebracht werden muss. Das gilt auch für den vierten Hauptpunkt der Kritik, d. h. für den funktionalen, wenngleich unbeabsichtigten Zusammenhang zwischen materialistischer Aufklärung und schon vor der Revolution drohendem Despotismus. Dass dieser Punkt in einer Gelegenheitsschrift52 vorgebracht wird, soll unter anderem auch eine Situationseinschätzung zum Ausdruck bringen: nicht der Papismus, sondern die weltliche Willkürherrschaft ist dasjenige, was die Zeitgenossen nun wirklich zu befürchten haben.53 Zeitsituationsspezifische Kritik zu üben war ein Charakteristikum der französischen Aufklärung, gerade in deren hervorragendsten Zeugnissen. Es kann daher nicht verwundern, dass Jacobi seine Kritik durchaus mit einem Bekenntnis zur Aufklärung verbindet, ja sie in deren Interesse betreibt: »Ich halte jede Aufklärung für vorteilhaft« notiert sich Jacobi 1776 in einem seiner ›fliegenden‹, flüchtig hingeworfenen Blätter.54 Zwei Jahre später schreibt er: »Freiheit kann uns nur durch Gleichheit wiedergegeben werden; Gleichheit nur durch einen besser proportionierten äußern Zustand; dieser nur durch allgemeine Aufklärung« (VI, S. 197). Diese Einstellung bleibt während der ganzen von mir hier betrachteten Zeit bei Jacobi unverändert – ich glaube sogar in seinem ganzen Leben und Werk. Die Kritik

|| 52 Anlässlich Johann von Müllers Reisen der Päpste – und als ein ›Commentar‹ dazu. 53 Jacobi: Werke II, S. 401. 54 Jacobi: Werke VI, S. 188.

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an der materialistischen Moralphilosophie und ihrem helvétianischen Erziehungsfuror soll die Ideale der Aufklärung nicht unterminieren, sondern von gefährlichen, sie korrumpierenden Bestandteilen reinigen. Im Woldemar wird dazu auf den Unterschied aufmerksam gemacht, der zwischen Aufklärung des Verstandes, allgemeiner Erleuchtung einerseits und andererseits einer Verfeinerung unserer Sinnlichkeit besteht, die den Menschen immer tierischer werden lässt.55 In den aufs Politische abhebenden Schriften der frühen 1780er Jahre hingegen möchte Jacobi an etwas erinnern, was von Lessing, dem unverdächtigen Kämpfer und Zeugen für wahre Aufklärung, gesagt wurde. Sein Werk fortsetzend nämlich, will er die Aufklärung vor der Dialektik bewahren, die ihrer materialistischen Gestalt im sich anbahnenden Bündnis mit der Herrschaftsgewalt droht: »Kranke müssen freilich curiert werden! Aber Gott bewahre uns vor einer Zunft von Aerzten, welche sich das Recht anmaßten, uns ungefragt in Kur zu nehmen.« Und: »Was die Trägheit der Menschen angeht, die ich wahrhaftig nicht zu läugnen denke, so glaube ich, daß sie daraus gelockt, aber nicht gepeitscht werden dürfen.«56

4 Schlussbemerkungen 1. Man kann Jacobis Kritik an der materialistischen Aufklärung noch deutlicher profilieren, indem man wichtige Konsequenzen ins Auge fasst, die daraus gezogen werden. Wir sahen schon: Die Aufklärung darf nicht mit Zwang durchgesetzt und muss auf politische Freiheit des einzelnen ausgerichtet werden – nicht erst in utopischer Ferne, sondern jetzt und hier; und nicht nur auf die negative Freiheit von Bevormundung bezogen, sondern auch auf die positive der Teilnahme an Staatsangelegenheiten. Dazu müssen – in der politischen Philosophie – Grenzen gesetzlichen Zwangs bestimmt werden, womit im Etwas… begonnen wird. Eine – nicht zum Abschluss gekommene – Umarbeitung dieser Schrift sollte Mitte der 80er Jahre in eine größere staatsphilosophische Abhandlung münden, für welche der Titel Über die Grenzen des Zwangs vorgesehen war.57 Das Programm, alles was Aufklärung wirken soll, auf Freiheit ohne Nebenfolgen ihres Gegenteils auszurichten, verlangt jedoch eine grundsätzliche Revision des Kategoriensystems der naturalistischen Moralphilosophie. Denn in dieser werden die Freiheit und die Selbstbestimmung des menschlichen Willens aus gewichtigen Gründen verneint. Auf den Weg einer solchen Revision begibt sich Jacobi, indem er

|| 55 Jacobi: Anhang (s. Anm. 35), S. 18. 56 Ebd., S. 349; an den Pädagogen Campe, 1. November 1782. Es liegt nahe, dies vom privaten Kontext auf den politischen auszudehnen. Vgl. das materialreiche Buch von Karl Homann: F. H. Jacobis Philosophie der Freiheit. Freiburg, München 1973. S. 86f., Anm. 141. 57 Vgl. Brief an Lavater vom 27. Mai 1785.

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sich mit den frühneuzeitlichen Quellen der naturalistischen praktischen und politischen Philosophie, d. h. mit Hobbes, Spinoza und Macchiavelli, auseinandersetzt und Ergebnisse ihres Denkens mit vereinzelten, besonders plausiblen Überzeugungen der klassisch-antiken praktischen Philosophie konfrontiert. Im Zentrum des Interesses steht dabei früh schon die – auch im Woldemar wahrnehmbare – Suche nach einem inneren Zusammenhang von Willensfreiheit, überpositivem Recht und Tugend.58 Unterstellt und im Wege dieser Suche zu verifizieren ist die Voraussetzung, dass eine Staatsverfassung auf Tugend und Religion förmlich weder gegründet sein noch diese beiden sich zum Ziel setzen darf.59 Die Erkennbarkeit eines solchen Zusammenhangs aufzudecken und den Erkenntnisanspruch zu rechtfertigen, der bezüglich desselben erhoben wird, ist allerdings eine Aufgabe, welche die Möglichkeiten philosophischer Essayistik übersteigt. Die Aufgabe so wahrzunehmen, dass die materialistische Lehre vom Menschen und seinem Geist damit als überwunden oder widerlegt gelten kann (so gut sich philosophische Systeme überhaupt widerlegen lassen), würde ein eigenes systematisch-philosophisches Gedankenunternehmen erfordern, zu dem sich Jacobi nicht in der Lage sieht. – Als solche Unternehmen dann ab Mitte der 80er Jahre – im Werk Kants und seiner idealistischen Nachfolger – ans Licht traten, hat Jacobi sie mit großem Interesse und partieller Zustimmung zur Kenntnis genommen. Er hat ihnen aber ebensoviel Misstrauen entgegen gebracht, sie könnten – wie die materialistischen Systeme der Natur und des Menschen – ihre Möglichkeiten überschätzen. Für sich selbst sah Jacobi – außer in der Kritik – seine positive Aufgabe im Verfassen philosophischer Romane ganz eigener Art. Sie sollten, wie vom Allwill gesagt, einem Werk dienen, welches mit Dichtung gleichsam nur umgeben, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stellen sollte. […] Denn daß so viel ausgelassen wurde von den Philosophen, damit sie nur erklären könnten; so viel verschwiegen von den Moralisten, damit ihr allerhöchster Einfluß nicht geläugnet würde: dies eben hatte den Mann verdrossen.60

2. Was kann man aus der Kritik, die Jacobi an der materialistischen Aufklärung übt, und aus der Feststellung der Konsequenzen, die er daraus zieht, für die gegenwärtige Aufklärungsforschung lernen? Dazu sollte man sich, denke ich, Gedanken machen sowohl im Hinblick auf Jacobis Verhältnis zur Aufklärung (a) als auch (b) im Hinblick auf die Aufklärungsforschung im allgemeinen, nicht zuletzt aber auch (c) im Hinblick auf die Erfahrungen unseres Jahrhunderts. || 58 Vgl. Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 77. Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 19), S. 338; Jacobi: Werke VI, S. 194 u. S. 218. Viele Hinweise hierzu in Homann: Jacobis Philosophie (s. Anm. 56), S. 38ff; besonders S. 48ff. 59 Jacobi: Werke II, S. 427 (1783). 60 Den Herausgeber von Allwills Papieren nämlich laut der Vorrede zur Ausgabe von 1792; vgl. Jacobi: Werke I, S. XIII, XV.

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a) Die betrachtete Kritik an der materialistischen Aufklärung macht es erforderlich, den Horizont durchschnittlicher Meinungen über Jacobi zu überschreiten. Vor allem wird von ihr aus fraglich, ob Jacobi wirklich zu denen gehört, die mit der Aufklärung gebrochen und eine romantische Bewegung begründet haben. Jedenfalls gehört er dazu nicht mit seinen vor 1785 verfassten Schriften. Angesichts des Gewichts sowie der Bedeutung, welche diese Schriften für Jacobi dauerhaft gehabt haben, wird auch unplausibel, dass man den späteren Jacobi zur Gegenaufklärung rechnen darf. Falsch ist jedenfalls, ihn als Romantiker zu betrachten, welcher – wie andere unter diesen – nicht glaubte, die Vernunft könne den Menschen zu einem besseren Leben (nicht zuletzt im politischen Bereich) verhelfen; und welcher dem Gefühl, der spontanen Neigung zum Guten und der Liebe zu den Mitmenschen, eher vertraute als der Vernunft. Einen solchen Gegensatz findet man in Jacobis Einstellung zur Aufklärung nicht. Jacobi hat die Aufklärung auch nicht um der Anliegen einer Glaubensphilosophie willen oder aus einer irrationalistischen Haltung heraus kritisiert. Eher verhält es sich umgekehrt: die Glaubensphilosophie bekommt Bedeutung für ihn, weil er mit den gedanklichen Konsequenzen nicht fertig wird, die aus seiner Kritik an der materialistischen Aufklärung zu ziehen wären.61 Fragen sollte man sich auch, ob Jacobi im Streit um den Spinozismus wirklich, wie Schelling glaubte, der Bileam war, der ausritt, Israel zu verfluchen, aber nicht umhin konnte, es zu segnen.62 Unangebracht ist dieser Vergleich jedenfalls für Jacobis Verhältnis zu Spinozas politischer Philosophie. Jacobis frühe Kritik an der materialistischen Aufklärung ist diejenige eines Aufklärers am Aufklärungskonzept anderer. Dass Jacobi gleichzeitig auch ein interner Kritiker des Rousseauismus und literarischen Sturm und Drang sowie der für beide charakteristischen Mentalität war, macht deutlich, dass man intellektuelle Bewegungen wie die Aufklärung und literarische wie den Rousseauismus und Sturm und Drang nicht als Unternehmungen betrachten darf, die in ihren Repräsentanten säuberlich voneinander zu trennen sind, und dass Repräsentanten, die mehrere von diesen Bewegungen in sich vereinigen, nicht eo ipso inkonsequent sein müssen. Erst recht nicht darf man unterstellen, Kritik an einem Aufklärungskonzept sei schon ein sicheres Anzeichen von Gegenaufklärung bei demjenigen, der sie übt. Jacobis Programm ist als eines der Aufklärung nicht weniger ernst zu nehmen als dasjenige der französischen Materialisten. Was Überzeugungskraft und Konsistenz angeht, ist es demjenigen der Materialisten sogar deutlich überlegen.

|| 61 In diesem Punkt hat er später zumindest einiges von der Leistung Hegels anerkannt; und nur wenn man ihn so sieht, kann man die hohe persönliche Wertschätzung verstehen, die ihm Hegel in seiner Heidelberger Zeit bekundete. 62 Zur Geschichte der Neueren Philosophie. In: F.W. J. Schellings sämtliche Werke, Bd. X. Stuttgart 1861, S. 182.

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b) Für die Aufklärungsforschung im allgemeinen sieht man am Beispiel Jacobis vor allem, dass es offenkundig wenig Sinn macht, diese Forschung als diejenige einer ganzen Epoche zu betreiben – mit allen leidigen Folgeproblemen der Periodisierung dieser angeblichen Epoche. Vielmehr muss man sich auf die Aufklärung als eine intellektuelle Bewegung konzentrieren und den Varianten sowie Abwandlungen dieser Bewegung (in verschiedenen Regionen Europas, aber auch Amerikas) nachgehen. Im Verhältnis dazu ist es eine drittrangige Frage, ob eine ganze Epoche Europas oder wenigstens einer europäischen Region von dieser Bewegung bestimmt wurde, und unter welchen Bedingungen es gegebenenfalls dahin kam. Man muss sich jedoch auch von der Annahme frei halten, verschiedene intellektuelle oder literarische Bewegungen (wie z. B. Aufklärung und Sturm und Drang) könnten sich nicht ohne Widerspruch in einer Person oder sogar in deren Gedanken und Werk durchdringen. Ob sie der Sache nach geschieden sind oder nicht, entscheidet sich einzig daran, ob die Programmatiken der einen oder anderen Bewegung sich in deren jeweiliger Version miteinander verbinden lassen oder nicht. Dabei gilt das, was vom schriftlich Formulierten und von Überzeugungsinhalt zu sagen ist, natürlich mutatis mutandis auch fürs Involviertsein in Aktivitäten anderen Art, über welche jemand sich der einen oder anderen mentalitätsgeschichtlichen Bewegung zuordnen lässt. Freilich gibt es auch vorgebliche Aufklärung, die – als Selbstkritik der Aufklärung auftretend – in Wahrheit Gegenaufklärung betreibt. Ob ein Werk oder die Äußerung einer Person von der Art solcher Camouflage ist oder nicht, lässt sich jedoch ziemlich gut am Epochenbewusstsein des Betreffenden und an seiner Diskussion der Probleme erkennen, die als solche gesehen und bearbeitet werden. In einem Fall wie demjenigen Jacobis wäre die Zuordnung deutlich verkehrt. Für die Aufklärungsforschung ist es daher eine zentrale Aufgabe, beides sorgfältig zu unterscheiden: Gegenaufklärung, welche sich als Aufklärung tarnt oder sich ihrer Unvereinbarkeit mit dieser nicht einmal bewusst ist, und interne Kritik, durch deren Wirkung sich die Aufklärung als intellektuelle Bewegung am Leben erhält. Ausschlaggebend für solche Differenzierungen sind die aufklärungsprogrammatischen Inhalte und Überzeugungen, mit denen Autoren tätig waren oder sind. Wenn es darum geht, Aufklärung als solche zu identifizieren und dabei zu vermeiden, dass ihre Grenzen verschwimmen, sind solche Diffferenzierungen wichtiger als die Phänomene, für welche sich andere als die Ideenhistoriker, wie z. B. die Sozialhistoriker, interessieren. Sozialhistorie als Schlüssel oder Zentrum der Aufklärungsforschung zu betrachten, kann nur dazu führen, dass diese Forschung allmählich ihren Gegenstand aus den Augen verliert. c) Im Licht der Erfahrungen, die unser Jahrhundert mit seinen speziellen Despotien gemacht hat, kann man aus Jacobis Kritik mindestens drei Lehren für die Aufklärung und Aufklärungsforschung ziehen: 1. Das Interesse an Aufklärung und an der Möglichkeit ihrer Fortsetzung braucht dringend ein Bewusstsein der Gefahren, die mit einer militanten Form ihres

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Programms verbunden sind. Davon hätte man den sozialistischen und dialektischmaterialistischen Erben der französischen materialistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts im 19. und 20. Jahrhundert mehr gewünscht. Das Beispiel der Jacobi’schen Kritik kann für dieses Bewusstsein sensibilisieren. 2. Die Diskussion um Revisionsbedürftigkeit oder Unrevidierbarkeit unseres naturalistischen Kategoriensystems ist im Hinblick auf Selbsterkenntnis des Menschen und dessen Aufklärung über sich selbst weit davon entfernt, zum Abschluss zu kommen. Wahrscheinlich ist ihre Fortsetzung sogar die gewichtigste philosophische Aufgabe, welche die Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts uns hinterlassen hat. Für die Identifikation dieser Aufgabe, nicht aber für deren praktische Wahrnehmung, ist Jacobi nebst Kant eine Schlüsselfigur. Ähnlich wie Rousseau (und in noch stärkerem Maße als Kant) markiert er einen der vielen Brüche, von denen die Bemühungen der Menschen, mit sich selbst ins Reine zu kommen, durchzogen sind. Jacobis Werk kann uns darauf aufmerksam machen, wie tief und einschneidend die Selbstreflexion der Aufklärung in Selbstverständlichkeiten unseres intellektuellen Lebens eindringen muss, um nicht ihrer eigenen Dialektik zum Opfer zu fallen. Die geringe und nicht sehr gute Rolle, welche die Philosophie für die Verarbeitung der Erfahrungen unseres Jahrhunderts gespielt hat, sollte darüber belehren, dass Jacobi mit seiner Überzeugung recht hatte, es gebe neben oder vielleicht sogar vor dem Programm, mit philosophischen Gedanken Großes wirken zu wollen, noch eine andere Aufgabe: diejenige, die er nannte »Menschheit, wie sie ist […], auf das gewissenhafteste vor Augen stellen«.63 Wie sich das Bewusstsein dieser Aufgabe innerhalb der Aufklärung herausgebildet hat und was für Forderungen in ihm enthalten sind, sollte man einmal eingehend untersuchen. Alleine, also ohne Kooperation mit einer philosophiegeschichtlichen Forschung, die nicht historistisch, sondern als retrospektive Verständigung der ganzen Philosophie über sich selbst betrieben wird, werden die Literaturwissenschaften dazu nicht in der Lage sein.

|| 63 Jacobi: Werke I, S. XIII und V, S. XV.

Werner Ludwig Euler

Die Bestimmung des Menschen Philosophische Aspekte in Friedrich Heinrich Jacobis Roman Woldemar Es ist eine innerhalb eines Buchkapitels kaum befriedigend lösbare Aufgabe, über ein Romanwerk wie dasjenige von Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar verlässliche Untersuchungen anzustellen, aus dem doch, nachdem es in seinem Entstehungsprozess bereits einige zum Teil längere Unterbrechungen und dadurch bedingte Brüche und Umwandlungen durchlebt hatte, zu guter Letzt doch noch ein Ganzes hatte werden sollen.1 Um dies mit der innerlichen, das Seelenleben der Charaktere betreffenden und äußerlichen, die Darstellungsform angehenden Zerrissenheit des Romans zu dokumentieren, werde ich im 1. Kapitel über die einzelnen Entstehungs- und Umarbeitungsphasen, die sich zum Teil mit der Entwicklung des anderen Romans von Jacobi, Eduard Allwills Briefsammlung, überschneiden, und die damit verbundenen thematischen Verschiebungen informieren. Mein Hauptinteresse richtet sich zwar auf die philosophischen Inhalte, die an verschiedenen Stellen zu einer poetischen Darstellung gebracht werden, sowie auf deren – soweit erkennbare – Zusammenhänge und jeweiligen Funktionen im Romangefüge. Trotz dieser Akzentuierung ist und bleibt aber das Werkganze der wesentliche Gesichtspunkt meiner Betrachtung.

1 Plan und Ausführung des Romans Jacobis Woldemar und sein erster Roman stehen durch ihre gemeinsame Idee in einem engen Zusammenhang miteinander. Jacobi erklärt dazu, »daß sowohl bey’m Allwill, als bey dem Woldemar und dem Kunstgarten« sein Hauptgegenstand gewesen sei, »Beyträge zur Naturgeschichte der Menschheit zu liefern«.2 In der Vorrede zum Woldemar verweist Jacobi deshalb auch ganz konsequent auf die Vorrede zu Allwills Briefsammlung, in der das Wichtigste auch im Hinblick

|| 1 Für die abschließende Bearbeitung dieses Artikels standen mir in Brasilien wichtige Neueditionen, insbesondere die von Jacobis Woldemar, nicht zur Verfügung. Sie hätten die Beantwortung hier notgedrungen offen gebliebener Fragen bzw. Zitatnachweise gewiss ermöglicht. 2 Jacobi an Hamann, 16. Juni 1783. In: Aus F. H. Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und andere. Nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz. 2 Bde. Hg. von Rudolf Zoeppritz. Leipzig 1869, Bd. 1, S. 56. https://doi.org/10.1515/9783110727340-007

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auf den zweiten Roman bereits im Voraus mitgeteilt worden sei.3 Wir können demzufolge davon ausgehen, dass Jacobis ursprüngliches Roman-Programm und der damit verbundene philosophisch-moralische Zweck noch Gültigkeit besitzen bzw. dass der Woldemar-Stoff und seine Darstellung im Großen und Ganzen Allwills Verstrickungen thematisch fortsetzt. Kontinuität des philosophischen Inhalts der Dichtung besteht meiner Auffassung nach auch dort, wo andere Interpreten gerne an einen Bruch oder Wandel in den Grundansichten Jacobis glauben. Schon die kleine Fabel,4 mit der Jacobi die kurze Einführung in den Woldemar-Roman abschließt,5 belegt nämlich, dass der Autor keineswegs daran denkt, eine Abkehr von seinen (teilweise pantheistischen) Vorstellungen zugunsten eines bewusst angenommenen durchgängigen Dualismus von Gott und Welt zu vollziehen. Die Verwandlung der halbsterblichen Göttin Harmonia, die von Jupiter in die gestaltlose Echo verwandelt wird, stellt Jacobi als die Mutter des Lebens vor, die die ganze Natur durchdringt und alle natürlichen Dinge miteinander verbindet.6 Es folgt in derselben Vorrede abschließend aber doch noch die Beschreibung eines markanten Unterschiedes, den der neue Roman gegenüber dem alten haben soll, nämlich die philosophische Absicht – »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen« – finde sich in dem neuen Werk nicht mit Dichtung »bloß umgeben«; vielmehr scheine hier die »Darstellung einer Begebenheit die Hauptsache zu seyn«.7 Erläuternd fügt er hinzu, dass der genannte Zweck, von dessen Wahrheit er vollkommen überzeugt sei, ausschließlich auf diesem Wege, d. h. mit den Mitteln seiner poetischen Darstellungskunst, erreicht werden könne. Im Unterschied dazu spricht Jacobi im Vorwort zum Ersten Theil seiner Vermischte[n] Schriften (1781), im Zuge der Ankündigung seines Vorhabens, die AllwillBriefe neu ordnen zu wollen, davon, den vorhandenen »Vorrath« solcher Materialien »nicht eine dichterische, sondern nur eine philosophische Ründung zu geben«.8 Das bedeutet zunächst einmal, dass es für Jacobi nicht in Frage kommt, dem Woldemar einen anderen Weg, etwa den einer philosophisch-wissenschaftlichen Abhandlung, vorzuschreiben. Um diesen Schritt nachvollziehen zu können, kommt es natürlich darauf an, sich klarzumachen, was Jacobi eigentlich unter Darstellung in

|| 3 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobiʼs Werke. 6 Bde. Hg von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Leipzig 1812‒1825 [ND Darmstadt 1968], Bd. 5, S. XVII–XXI. 4 Sie wird wörtlich und ohne weiteren Kommentar aus Herders Pyramythien (1781–1784) übernommen, vgl. Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. Gotha 1785, Nr. IV, S. 165– 214 (Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 28. Berlin 1884, S. 127–166). 5 Vgl. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. XVII–XXI. 6 Ebd., S. XIXf. 7 Ebd., Vorrede, S. XV und S. XVI. 8 Friedrich Heinrich Jacobi: Vermischte Schriften. Erster Teil. Breslau 1781, S. 5.

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Bezug auf den Woldemar versteht. Jedenfalls muss ihre Bedeutung irgendwie darauf hinauslaufen, dass die Kunstform selbst nicht bloß die äußere Hülle philosophischer Inhalte sein kann (d. h. z. B. in Form eines Briefromans), sondern dass dieser Inhalt selbst seine adäquate Form hervorbringt. Im weiteren Verlauf wird sichtbar werden, dass Woldemar weder ein Briefroman noch ein Dialog-Roman, noch eine Erzählung sein kann. Er enthält von allen diesen Gattungen Anteile und konstruiert durch die inneren und äußeren Handlungen seiner Akteure zunächst scheinbar heterogene Formen, die im aristotelischen Sinne in einem einzigen und höchsten Ziel und Zweck (telos) allen menschlichen Handelns miteinander verbunden werden: die durch alle Zeitepochen hindurch sich selbst regenerierende und sich selbst gleich bleibende sittliche Bestimmung des Menschen. Poetische Zweckform ist eidos, nicht platonische ideia. Auf das Thema des Unterschiedes zwischen Inhalt und Form wird der Roman selbst noch Bezug nehmen (s. u. Kap. 5; JWA V, S. 172–174). Jacobi schickt im April 1777 sein druckfertiges Manuskript – die Urfassung des Woldemar, die noch den Titel Freundschaft und Liebe trägt ‒ an Wieland, den Herausgeber des Teutschen Merkur. Somit können wir das Jahr 1776 als Entstehungszeitraum des Woldemar annehmen.9 Das unfertige Werk erschien 1777 nacheinander in fünf Heften des Teutschen Merkur (Mai, Juni, Juli, September, Dezember). Schon der Ausblick auf ein »fremde[s] Ereignis« am Ende des letzten Heftes deutete auf die Fortsetzung des Romanstoffes in einem zweiten Band hin. Wieland, der als einer der ersten »Freunde« Jacobis Einblick in die Manuskriptfassung nehmen konnte, fasste das Stück im Ganzen als ein Werk der Natur auf – »nicht Kunst-, nicht Stückwerk« –, das direkt aus der Seele des Verfassers entsprungen sei. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass der große Natur- und Seelenmaler Jacobi durch nichts daran gehindert werde, »an dieser so schönen, so lebendigen, so idealischen und doch so individuellen und wahren Composition in Einem Feuer fortzuschaffen«.10 Bedeutet die Darstellungsform als Einheit des Kunstwerkes und der Seele also, dass die Natur und deren Nachbildung in der Kunst die Grundlage der substantiellen Form bilden, die die Darstellung tragen soll? || 9 Vgl. Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig 1913, S. 25. Für die weitere Beschäftigung mit Jacobis Romanen vgl. u. a. Friedrich Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt a. M. 1990; Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993; Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 1995, S. 79–100. Allgemeine neuere Untersuchungen zur Philosophie Jacobis finden sich u. a. in Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg 2013 und Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000. 10 Wieland an Jacobi, 25. April 1777. In: Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. 2 Bde. Hg. von Friedrich Roth. Leipzig 1825‒1827, Bd. 1, Nr. 92, S. 262.

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Es sollte sich indessen bald zeigen, dass, entgegen Wielands Wunsch, das schwache Feuer bald erlosch. Immerhin erschien in der Zwischenzeit die erste Buchausgabe des Woldemar-Stoffes anonym im Frühjahr 1779 unter dem Titel: »Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. Erster Band«.11 Abermals taucht hier der Begriff der Naturgeschichte auf, der in der Naturtheorie des 17. Jahrhunderts, insbesondere aber in den Anthropologie-Diskussionen des 18. Jahrhunderts, eine maßgebliche Rolle spielte.12 Laut einer knappen Vorbemerkung Jacobis in derselben Ausgabe war das Werk auf drei Bände angelegt, von denen die beiden restlichen diesem ersten Band »bald hintereinander« folgen sollten. Dieses Versprechen wurde jedoch nie eingelöst, und so handelte es sich bei dem einzigen gedruckten Band dieser Fassung um nicht viel mehr als eine Neuauflage des Fragments von 1777, in dem sich nur geringfügige Veränderungen neben im Grunde relativ unbedeutenden Ergänzungen,13 sowie eine andere formale Einteilung vorfanden.14 Auffällig ist die häufige Verwendung längerer Zitate, die den einzelnen Abschnitten als Motto vorangestellt wurden.15 Mit diesen hoffte der Autor anscheinend der darstellerischen Überzeugungskraft mehr Gewicht geben zu können. Noch während die Buchausgabe des Woldemar von 1779 in der Presse war, hatte Jacobi bereits den Aufsatz »Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande von Woldemar« für das Deutsche Museum fertiggestellt.16 Goethe störte sich an dieser Voreiligkeit und beklagte, dass Jacobi sich mit bloßen

|| 11 Zu welcher Verwirrung dieser kuriose Titel zuweilen in Leserkreisen führte, macht Frida David an einem amüsanten Beispiel deutlich; siehe dazu Mercks Bericht in einem Brief an den Herzog, 20. Oktober 1781. In: Johann Heinrich Mercks Briefe an die Herzogin-Mutter Anna Amalia und an den Herzog Carl August von Sachsen-Weimar. Hg. von Hans Gerhard Gräf. Leipzig 1911, S. 125. 12 Siehe dazu Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse. Hg. von Rainer Godel und Gideon Stiening. München 2011. 13 Dazu der Verfasser: »Von diesem ersten Bande sind einige Stücke (der Anfang und das Ende) im deutschen Merkur bekannt gemacht worden; ganz, erscheint er hier zum erstenmahl« (1779). Die im zweiten Teil dieser zweiten Ausgabe, S. 113–160, eingeschobene Erweiterung (sie schließt im Teutschen Merkur [1777, 3. Bd.] an S. 44 an) enthält im wesentlichen den Brief Woldemars an Biderthal vom 23. August (vgl. Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3], Bd. 5, S. 263–285; Ausgabe 1796, II, S. 26ff.) und dessen Antwortschreiben (Jacobiʼs Werke, Bd. 5, S. 285–290; Ausgabe 1796, II, S. 53– 58). Diese beiden Briefe wurden bis auf eine kleine Veränderung am Anfang des BiderthalSchreibens auch in den folgenden Ausgaben beibehalten. 14 Zu einer detaillierten Anzeige der Unterscheidungsmerkmale gegenüber der ersten Fassung ist das Buch von Frida David (s. Anm. 9) heranzuziehen (§ 22, S. 94–100). 15 Dieses Phänomen bedürfte einer speziellen Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Schon das Konglomerat an Zitaten (Shakespeare, Euripides, Bacon, Xenophon) am Buchanfang ist erklärungsbedürftig. 16 Deutsches Museum 1779, 1. Bd., April, S. 307–348; Mai, S. 393–427. Vgl. Heinse an Gleim, 24. Januar 1779. In: Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Hg. von Carl Schüddekopf. Bd. 9. Leipzig 1904, S. 403; vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 93.

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»Bruchstücken« zufrieden gebe.17 In der Tat wies in diesem neuerlichen Fragment außer der ganz äußerlichen Übereinstimmung des Erzählstoffes nichts darauf hin, dass das philosophische Gespräch Bestandteil des Woldemar-Romans werden sollte. Jacobi versicherte in einer Notiz an Boie sogar, »daß es nicht unumgänglich notwendig sei, den ersten Band von Woldemar gelesen zu haben, um dies Fragment zu verstehen«.18 Demzufolge handelt es sich bei dem Stück Philosophie des Lebens und dem Woldemar desselben Erscheinungsjahres um zwei selbständige und in der Darstellungsweise ziemlich heterogene Fragmente, die erst später in das Gesamtkonzept des Romans eingearbeitet wurden.19 Nach den Geschehnissen in Ettersburg, hinter denen er Goethe, den einstigen Freund, als Drahtzieher in Verdacht hatte,20 fühlte sich Jacobi gehemmt, die Arbeit am Woldemar fortzusetzen. Am 27. März 1780 teilte er Forster mit, er habe seit über einem Jahr »keine Zeile an diesem Buch geschrieben«.21 Mitte März 1781 notiert Jacobi, dass, falls er je eine Überarbeitung des Woldemar in Angriff nehme, sein Entschluss der Mahnung Lessings zu verdanken wäre.22 Dabei hatte er in seiner Antwort auf Lessings Brief am 22. Dezember 1780 noch versichert, er werde den Woldemar liegen lassen »und überhaupt von unserm Publico Abschied […] nehmen«; es wäre besser gewesen – so fügte er resignierend hinzu – er hätte sich »nie mit diesem Dinge abgegeben«.23 Entgegen diesem Bekenntnis war im August 1781 eine neue Variation des Woldemar-Stoffes von Jacobi in Druckauftrag gegeben worden. Die nur geringfügige Veränderungen aufweisende Fassung des philosophischen Gesprächs erschien noch im selben Jahr unter dem Titel Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch in der beabsichtigten Sammlung seiner Arbeiten, den Vermischten Schriften. Erster

|| 17 Siehe Forster an Jacobi, 2. November 1779. In: Johann Georg Forsters Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben. 2 Bde. Hg. von Therese Huber. Leipzig 1829, Bd. 1, Nr. XXI, S. 233. 18 »Statt der Vorrede« (Brief an Boie, 21. Februar 1779), Deutsches Museum 1779, 1. Bd., S. 308; vgl. die Vorrede zu Jacobi: Vermischte Schriften (s. Anm. 8), S. 3. 19 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), § 27, S. 117f. 20 Siehe unten Abschnitt 5. 21 Jacobi an Georg Forster, 27. März 1780. In: Jacobiʼs Nachlaß (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 26; diesem Brief ging eine Anfrage Forsters an Jacobi voraus (17. März 1780, vgl. Forsters Briefwechsel [s. Anm. 17], Bd. 1, S. 250). 22 Vgl. Jacobi an Elise Reimarus, 15. März 1781. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, Nr. 114, S. 317; vgl. dazu auch Lessings Brief an Jacobi, 4. Dezember 1780 (zitiert in Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn [Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 4.1], S. 85f. Anm.) sowie Jacobi an Sophie von La Roche, 17. August 1781 (Jacobiʼs Nachlaß [s. Anm. 2], Bd. 1, S. 47); vgl. auch David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 105– 107. 23 Jacobi an Lessing, 22. Dezember 1780. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, Nr. 120, S. 337.

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Band, mit der Jacobi zunächst seine literarische Laufbahn abschließen wollte.24 Jacobi schrieb über diese Fassung: »Der Hauptgegenstand des Kunstgartens ist, Abbreviatur der Mühseligkeiten dieses Lebens zu lehren, Data zu einer überall brauchbaren Bussole«.25 Schon 1783 beklagte Jacobi in einem aufschlussreichen Brief an Hamann erneut das Defizit, das die Woldemar-Geschichte bis dahin noch aufwies.26 Den beiden letzten Fassungen des Romans gingen die umfangreichsten und tiefgreifendsten Umarbeitungen voraus, die zugleich – nach der einhelligen Meinung der meisten Interpreten – auch einen geistigen Umbruch Jacobis, einen »der wichtigsten inneren Wendepunkte von Jacobis Philosophie« kennzeichneten.27 Dieser Einschnitt wird stets in Zusammenhang gebracht mit der Veröffentlichung der Spinoza-Briefe, durch die Jacobis »persönliche Philosophie des Anti-›Mechanismus‹« ihre prägnantesten Züge erhalten habe.28 In der Tat muss der Generalabrechnung Jacobis mit dem strengen Rationalismus der alten Metaphysik, wie sie exemplarisch an Spinozas System vorgeführt und in spezifischer Weise gegen Mendelssohn und Lessing gerichtet wird, erhebliche Bedeutung beigemessen werden. M. E. ist diese Mechanismus-Kritik gleichzeitig und ganz konsequent mit einer Hinwendung zu teleologischen Deutungsweisen verbunden. Obwohl hinreichende Belege fehlen, spricht doch Vieles dafür, dass sich Jacobi auf dem Wege zu den letzten Fassungen des Woldemar von der Ethik des Aristoteles inspirieren ließ (insbesondere die auffallende Thematik der Formen und des Zwecks der Menschheit, der Tugend und Glückseligkeit im Zusammenhang mit der Frage nach der Darstellungsweise des Romans, sowie die eingebauten umfangreichen Zitate). Natürlich ist das nicht der einzige Indikator für den behaupteten Umbruch. Andere Autoren der antiken Philosophie so wie sicher auch die erneute Hinwendung zu Goethe haben das Ihrige dazu beigetragen. Am 27. Mai 1785 äußerte Jacobi gegenüber Lavater die klare Absicht, den »Woldemar« neu zu bearbeiten.29 Aber den vielleicht entscheidenden Anreiz zur Wiederaufnahme dieser einst verschmähten Arbeit erhielt er erst durch die Publikation und Lektüre von Goethes »Tasso«,30 dessen Charakter in ihm »sonderbar […] die Erinne-

|| 24 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 119f. 25 Jacobi an Georg Forster, 5. November 1781. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, Nr.120, S. 337. 26 Jacobi an Hamann, 16. Juni 1783. In: Jacobiʼs Nachlaß (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 55–59. 27 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 122 und S. 134. 28 Vgl. ebd., S. 125. 29 Jacobi an Lavater, 27. Mai 1785. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, S. 381. 30 Vgl. die Widmung an Goethe in der Ausgabe von 1794, in der Jacobi die Auswirkung dieser Inspiration beschrieb (Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3], Bd. 5, »An Goethe«, der ›Vorrede‹ vorangestellt, S. IX–XIV: »In dieser Arbeit durch eine gänzliche Veränderung meiner Lage unterbrochen; nachher

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rung an Woldemar« hervorrief. Nach der Werther-Lektüre war dies gewissermaßen die zweite Erweckung, die Jacobi durch Goethe erlebte und ihn dem einstigen Freund wieder näher brachte. Beim Wiederdurchlesen der vorherigen WoldemarAusgabe hatte sich Jacobi unwohl und unzufrieden mit seinem Werk gefühlt: »vornehmlich empörten mich die letzten Blätter, und ließen mir einen solchen unerträglichen Nachgeschmack, daß ich gern mit einem Zauberschlage das kleine Ungeheuer vernichtet hätte«.31 Aus dieser unruhigen Lage entstand sein Verlangen, »dem Übel auf irgend eine Weise abzuhelfen«, und er war erfasst von dem Gedanken »an eine gänzliche Umarbeitung, und an eine Vollendung des Werks nach einem neuen Plan«.32 Dieser Entschluss reichte wohl zurück bis ins Jahr 1792, als Jacobi seine ursprüngliche Absicht aufgab, das Fragment bloß auszubessern, um stattdessen »ein Ganzes« daraus zu machen.33 Anscheinend war Jacobi inzwischen auf den Gedanken gekommen, dass ein ›Ganzes‹ eher als Zweck zu verwirklichen sei. Im Sommer desselben Jahres zog er für die Umgestaltung des als untauglich befundenen Schlusses im Kunstgarten Herder zu Rate.34 Im September 1793 war das neue Werk bereits »so gut als fertig«,35 aber im Oktober hatte er nach einer kurzzeitigen Unterbrechung wieder noch »ohne Unterlaß« an seiner Vollendung gearbeitet.36 Im Dezember sandte er Herder einige »ausgerissene Stellen« als Kostprobe,37 und im Januar 1794 wurde das fertige Manuskript Wilhelm von Humboldt überbracht.38 Die Handlung des Romans war in der neuen Fassung nicht erweitert worden. Der dennoch auf das Doppelte seines ursprünglichen Umfangs angeschwollene Inhalt verdankte sich weitgehend der Einführung philosophischer Reflexionen und Disputationen. In dieser Fassung verlagerte sich der Schwerpunkt von der Darstellung seelischer Konflikte und Veränderungen auf die Erörterung ethischer Probleme im Gespräch. Woldemar wurde »überwiegend zum philosophischen Dialogroman«.39

|| zu andern Geistesarbeiten, eben so unwillkührlich, hingezogen, hatte ich Woldemarn allmählich ganz vergessen. – Da erschien, nach zwölf Jahren, Dein Tasso« [S. XI]). 31 Ebd., S. XIIf. 32 Ebd., S. XI–XIII. 33 Jacobi an Elise Reimarus, 5. Mai 1792. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 210, S. 85f.; vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), § 40. 34 Jacobi an Herder, Juli 1792. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, S. 93. 35 Jacobi an Wilhelm von Humboldt, 31. Januar 1794. In: ebd., Bd. 2, S. 141. 36 Ebd. 37 Jacobi an Herder, 8. Dezember 1793. In: Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 3, S. 61. 38 Jacobi an Wilhelm von Humboldt. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm.10), Bd. 2, S. 141. 39 Heinz Nicolai: Jacobis Romane. In: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. Hg. von Klaus Hammacher. München 1969, S. 347‒360, hier S. 355.

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In den ersten Teil des Romans fügte Jacobi nun das philosophische Gespräch aus dem Kunstgarten mit einigen Abwandlungen ein40 und ergänzte den Anfang mit einer epischen Interpolation.41 In den zweiten Teil nahm er theoretische Auseinandersetzungen auf, die den moralischen Zweck des Buches fördern sollten. Nach Woldemars Brief an Allwina begann ab S. 147 bis 282 (Ausgabe von 1794, zweiter Teil) der neue Schlussteil dieser Redaktion,42 der im wesentlichen ein langes Gespräch enthielt, in welchem das moralische Wesen Woldemars erörtert und mit allgemeinen Überlegungen zur tugendhaften Charakterbildung in Zusammenhang gebracht wurde. Ferner stellte Jacobi dieser Ausgabe die schon erwähnte Widmung an Goethe voran. Einvernehmlich stellten Rezensenten und Kommentatoren die Verbesserung dieser Woldemar-Überarbeitung fest.43 Der wirtschaftliche Absatz des neuen Buches war so groß, dass bereits im Frühjahr 1795 die Auflage vergriffen war und der Verleger eine neue wünschte.44 Die Neuauflage erschien bereits ein Jahr später. Zu den geplanten Änderungen, die Jacobi dafür noch vornehmen wollte, hatte er abermals Herders Unterstützung erbeten.45 Mit den in diese letzte eigenhändige Ausgabe seines Woldemar eingeflossenen Ergänzungen wurde nun das Übel der Stoffüberlastung noch einmal vergrößert. Neben einem angelegten Umstellungsplan des philosophischen Gesprächs im zweiten Teil, der aber letzthin nicht zur Ausführung kam,46 und einigen kleineren Zusätzen,47 war diese Einfügung in einer Länge von 72 Seiten48 die Hauptveränderung gegenüber der vorhergehenden Fassung. Die Ergänzung bestand aus verschiedenen Unterredungen mit zumeist rein philosophischen Betrachtungen zur Ethik und Gesellschaftstheorie (Aristoteles, Butler, Ferguson u. a.), welche die Tendenz hatten, einer individualistischen Ethik zum Durchbruch zu verhelfen.49 Eine neue Person tritt in Erscheinung: Carl Sidney. Er entpuppt sich als Geistesverwandter Woldemars.

|| 40 Woldemar-Ausgabe von 1794, I, S. 49–164. 41 Ebd., S. 29–37. 42 Siehe dazu David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 173–185. 43 Vgl. z. B. Fichtes Brief an Jacobi vom 26. April 1796. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 256, S. 233 sowie Friedrich Schlegel: Rezension über Jacobis Roman »Woldemar« (1796). In: Friedrich-Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. von Ernst Behler u. a. Bd. 2.1. München u. a. 1967, S. 59. 44 Vgl. Jacobi an Herder, 7. Juli 1795. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 247, S. 204f. 45 Ebd. 46 Siehe im Einzelnen dazu David, die Jacobis Handexemplar des Woldemar von 1794 benutzte (David: Jacobis »Woldemar« [s. Anm. 9], S. 196f.). 47 Vgl. ebd., § 48. 48 In der Ausgabe von 1796 S. 76–148. 49 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), § 47.

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Das ehemalige Kunstgarten-Gespräch wurde durch diesen Zusatz in zwei Etappen auseinandergerissen.50 Es fehlten dagegen in dieser Ausgabe wieder die Widmung an Goethe51 und die diversen Motti der alten Ausgabe. Die posthume Ausgabe im fünften Band von Jacobis Werken, die Friedrich Roth besorgte, wich von der zuletzt betrachteten kaum ab. Die wenigen Änderungen stammten nach der Versicherung des Herausgebers noch von der Hand des Verfassers, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin auch die zuvor getilgte Widmung wieder aufgenommen worden war.52 Was die äußere Form des Romangeschehens betrifft, so lassen sich mehrere Zentren der philosophischen Auseinandersetzung und inhaltlichen Schwerpunktsetzung ausmachen. Es erscheint mir sinnvoll, diese Gliederung vor einer detaillierten Besprechung anzugeben: 1) Die Wanderung der fünf Glückseligen (ohne Beteiligung Woldemars) auf Biderthals Landsitz (S. 17–29, mit Woldemars Brief im Zentrum, S. 19–28). 2) Das Gastmahl in Hornichs Haus (neu ab 1794; S. 68–127). Das Ende der Unterredung lässt sich in diesem Falle nicht eindeutig fixieren (schon S. 107 löst sich die engere Gesellschaft auf). 3) Das Gespräch in Pappelwiesen (Clarenaus Landsitz) (S. 236–239, Fortsetzung S. 256–307), vor allem bedeutend in Hinsicht auf das Naturerleben, die Charakterbildung Woldemars und die Entstehung des Konfliktes mit Henriette; 4) Das Waldgespräch (auf Dorenburgs Landsitz) (bereits 1779 ausgearbeitet; Ausgabe 1796, S. 168–260; Werke V, S. 143–218); 5) Vorlesungen und Gespräche über Tugend in Biderthals Haus (Werke V, S. 367– 452). 6) Das Abschlussgespräch (Werke V, S. 467–482).

2 Woldemar und Henriette. Innere Dramatik einer Freundschaft Keine persönliche, freundschaftliche Beziehung im Roman ist wichtiger, gefühlsbetonter und komplizierter als die zwischen Woldemar und Henriette, denn darin wird die Bedeutung von Freundschaft und Liebe vorgelebt. Ihr Verlauf und ihr Ende werden teils durch psychologische Muster, teils durch moralische Bekenntnisse diktiert. Sie ist eingebettet in das Geschehen innerhalb der Handelsfamilie Hornich und ihres Freundeskreises. Das gutbürgerliche Ambiente des Handelshauses, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, wird eindrucksvoll beschrieben (S. 129–

|| 50 Ausgabe von 1796, I, S. 46–63 und S. 148ff. 51 Vgl. Goethe an Jacobi, 12. Juni 1796. In: Goethes Werke. 133 Bde. in 143 Tlbden. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919, Abt. IV, Bd. 11, Nr. 3318, S. 86 (im Folgenden WA). 52 Vgl. den Vorbericht in Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5.

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141). Es zeichnet sich durch ein unausgewogenes Verhältnis teils aus Luxus, teils aus Schlichtheit aus. Eine wirkliche Geschmackskultur wird dadurch nicht dokumentiert, sondern eher konterkariert. Die Charakterbildung der Hauptpersonen des Romans ist eine Voraussetzung dafür, die psychologischen Ent- und Verwicklungen des Geschehens angemessen beurteilen zu können. Allerdings ist es äußerst schwierig, ein genaues Charakterbild zu zeichnen, da es erstens immer wieder zu Verschiebungen kommt und zweitens gegensätzliche Zeugnisse aus der Selbstdarstellung und aus den Beobachtungen anderer Darsteller kein einheitliches Portrait ergeben. Die Charaktere des Clans (S. 3–9) werden repräsentiert von Eberhard Hornich, dem Familienoberhaupt und Firmeninhaber (vgl. S. 6, S. 11f., S. 35–40, S. 67, S. 80, S. 86–90, S. 93, S. 107, S. 141, S. 220, S. 247 u. S. 255), Gegenspieler Woldemars (S. 35f., S. 68, S. 86, S. 89–93 u. S. 102–104) in Bezug auf die allgemeine Weltanschauung. Er wird unterstützt von seinem Freund, Probst Alkam (S. 83, S. 90f., S. 93–95 u. S. 100f.). Beide vertreten in Tugendfragen eine strenge Vernunftmoral und bieten insofern dem Aufbegehren Woldemars eine willkommene Angriffsfläche. Für sie ist der allgemeine »schlichte gesunde Menschenverstand« das Maß aller Dinge. Er leite den Menschen zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis des Anderen (S. 39). Drei Töchter runden die Stammfamilie ab: Caroline, Henriette, und Luise. Caroline (S. 9 u. S. 15) tritt als die Ehefrau des Kaufmanns Dorenburg in Erscheinung; Luise (S. 9 u. S. 15) ist verehelicht mit Woldemars Bruder Biderthal. Ihr fällt im Ereignisablauf eine bestimmte negative Funktion zu. Henriette, die mittlere der drei Töchter des alten Handelsmannes Eberhard Hornich, nimmt in der Hornich’schen Familie eine Sonderstellung ein. Sie sucht den Weg zu ihrem Glück nicht wie ihre beiden Schwestern in der Ehe und weist alle Heiratsvorschläge strikt ab, um sich ganz der Betreuung ihres greisen Vaters zu widmen. Dieser, obwohl an sich den »Tugenden der Kargheit« ergeben (S. 6),53 beginnt durch Henriettes Fürsorge, sich der angenehmen Lebensführung anzupassen (S. 11f.). Sie ist nicht nur der ganze Stolz des alten Hornich (S. 9), sondern die weibliche Heldin des Romans, d. h. Woldemars »vertraute« Freundin, »aber in allen Ehren, welches kein Mensch begreiffen kann«, »höchst vortrefflich an Geist und Seele«.54 Woldemar nennt sie »Bruder Heinrich« (S. 222). Sie trägt ein von Schönheit freies, dafür aber Wachsamkeit und Klarheit ausstrahlendes Gesicht, in dem »tiefes Gefühl und eigene Kraft des Geistes« wohnen – ein Muster an Sittsamkeit für viele (S. 9–11). Anfangs ein »schüchterne[s] bescheidene[s] Mädchen, welches zu seinem eigensten Daseyn

|| 53 Die Seitenangaben in runden Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf den 5. Band von Jacobiʼs Werken, diejenigen in eckigen Klammern auf die Ausgabe 1796. 54 Friedrich Heinrich Jacobi: Der Kunstgarten. Ein Philosophisches Gespräch. In: ders.: Vermischte Schriften. Erster Theil. Breslau 1781, S. 7‒142, hier S. 8: »Personen des Gesprächs«.

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bisher nicht hatte gelangen können«, erwirbt sie durch den Umgang mit ihrem »in sich schon bestimmten Freunde« (Woldemar) Freiheit, Anerkennung und Gewissheit (S. 59). Es entsteht Übereinstimmung und Liebe zwischen Henriette und Woldemar (S. 60–66). Henriette wird von ihrer Freundin Allwina aufgefordert, Woldemar zu ehelichen, aber sie hat etwas anderes im Sinn (S. 58). Obwohl sie bereits vor Woldemars Ankunft von seinem Wesen begeistert gewesen ist, weist sie alle Zuneigung aus »Liebe« oder gar Spekulationen über angebliche Heiratspläne entschieden zurück (S. 29). Zudem würde ihr Vater dem von ihm anfangs verachteten (wenngleich später auch respektierten) »Grillenfänger« niemals seine Tochter als Frau überlassen (S. 107). Allwina Clarenau: Obwohl sie im Romangeschehen nur wenige Auftritte hat, kommt ihr doch eine gewisse Schlüsselrolle zu als Bindeglied zwischen Woldemar und Henriette, deren vertraute Freundin sie ist. Henriettes Vater war ihr Vormund (S. 12f.). Der Umgang mit Woldemar behagte ihr ganz außerordentlich; dennoch empfahl sie Henriette, ihn zum Gemahl zu nehmen (S. 57f.). Woldemar fühlt »keine eigentliche Liebe, nicht die erste Spur einer Leidenschaft für Allwina« (S. 230). Doch gerade diese Erklärung passt hervorragend zu seinem allgemeinen Frauenbild (S. 231). Trotz dieser leidenschaftslosen Begegnung wird in aller Stille Hochzeit gehalten (S. 259). Woldemar erlebt den »Frühling seines Daseyns […] eine zweyte Jugend, […] – Unschuld, Zuversicht und Paradies« (S. 260f.). Sie lebt von nun an das Leben einer perfekten Hausfrau. Im »höchsten Grade« besaß sie »jene Eigenschaften, wodurch eine Frau ihr Haus zu einem Himmel macht«. Sie erreichte sogar, dass Woldemars Philosophie »allmählich nur in den Hinterhalt zu stehen kam« (S. 298f.). Dorenburg und Biderthal, die beiden Schwäger, treten als Korrektiv zu Woldemars moralisch verwerflichen Verhaltensweisen und in gewissem Sinne auch als dessen Tugendlehrer auf. Beide sind von »bidermännische[r] Denkungsart« (S. 42f.): Sie würdigen und pflegen alle guten Umgangsformen der gehobenen Gesellschaft, werden dabei aber, obwohl auch geistesgeschichtlich gebildet, von herkömmlichen Meinungen beherrscht. Aus dem kritisch beobachtenden Blick Woldemars bewirken sie nichts wirklich Gutes. Sie betreiben nur »elende Spiegelfechterei«. Das ist Zeitverlust. Wahre Freundschaft fließt nicht aus ihrem Verhalten (S. 43f.), obschon das Verhältnis des Brüderpaares als Freundschaft bezeichnet wird (S. 13–16), eine Einschätzung, die von Woldemar erwidert wird (S. 20). Biderthal ist auch der Hauptzeuge für die Charakteranlagen Woldemars und deren Äußerungen in der Kindheit (S. 31). Er setzt alle Hoffnung darauf, seinen Bruder ins Hornich’sche Haus einzugliedern (S. 15). Woldemar, Biderthals jüngerer Bruder und das männliche Gegenstück zu Henriette, ist ein Amtsinhaber, hat »etwas von einem Sonderling, das er aber durchaus

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nicht seyn will«.55 Die Charakterbildung der handelnden Personen entfaltet sich des näheren durch die Kommunikation derselben, deren Leitthema nach und nach der Konflikt zwischen Woldemar und Henriette wird.56 Die Geschichte ihrer Beziehung nimmt nämlich einen krisenhaften Verlauf (beginnend mit einem auf S. 292, Werke V, geschilderten Ereignis): Henriette führt in einem Rückblick den Anfang der beobachteten Veränderungen Woldemars auf die Vorgänge in Pappelwiesen zurück (S. 346). Zu jener Zeit entwickelte sich aus der angehenden Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar durch das Hinzutreten von Allwina eine Dreiecksgeschichte (S. 236–239), die hintergründig von psychologischen Triebmustern, Charakterdispositionen und sozialen Bedingungsfaktoren bestimmt wird, jedoch vordergründig auf moralisch-religiöse Motive hinweist. Woldemars Charakterzüge zeichnen sich erst nach und nach ab, im Spiegelbild der ihn umgebenden Personen und ihrer Darstellungen. Es ist eine sehr kontrastreiche, problematische (sogar krankhaft scheinende) Persönlichkeit, die aus den Zeugnissen von Biderthal und Henriette (in starkem Kontrast zu Hornich und Alkam) resultiert (s. insbesondere S. 30–43). Das öffentliche Urteil über ihn ist schwankend. Auf der einen Seite genießt er ein »unbestrittenes Ansehen«, auf der anderen gilt er als »ein Grillenfänger« (S. 35). Für Eberhard Hornich sah er nicht wie ein »tüchtiger Geschäftsmann« oder ein »wahrer Gelehrter« aus, allenfalls wie ein kleiner geschickter Amtsmann (S. 36). Er bekennt später auf dem Sterbebett, dass er Woldemars Tun verfolgt und genau beobachtet habe und sein Misstrauen gegen ihn daher wohlfundiert sei (S. 250f.). Woldemar, den sein Bruder Biderthal, der in das Hornichʼsche Haus eingeheiratet hat, erst in diesen Verwandtenkreis einführt, wird dem Leser als ein von eigensüchtiger Leidenschaft umhergetriebener Sonderling vorgestellt, dessen Wesen von innerer Unruhe und Disharmonie gezeichnet sei. Schon in seiner Kindheit durch »eine sonderbare Vereinigung von Ungestüm und Stille, von Trotz und Nachgiebigkeit« beherrscht, hat er bisher alle ihn bedrängenden Fragen des Lebens allein der Leitung seines Herzens überlassen. Zugleich aber hat ihn die stete Steigerung dieses Forschungstriebes von dem Gegenstand seiner Sehnsucht immer weiter entfernt. Über diesen Widerspruch zwischen dem eigenen Antrieb und der Unerfüllbarkeit seines Anspruchs befällt ihn Schwermut (S. 13f.). Er sondert sich ab, zeigt wenig Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen (S. 40). Kaum dreißig Jahre alt, hat er schon keine Erwartungen mehr ans Leben (S. 21). Seine innere Unruhe treibt ihn

|| 55 Ebd. 56 Vgl. u. a. die näheren Beschreibungen in Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 140–142 (Ausgabe 1794, S. 164–166; Ausgabe 1779, Deutsches Museum, S. 335).

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ständig zu neuen Aufbrüchen. Er erschauert bei dem Gedanken, irgendwo bleiben zu müssen.57 Nach der Charakterisierung durch Biederthal glich er einem Wunderknaben, »im höchsten Grade reitzbar« (S. 31). Obwohl er »den Schleichhandel gemeiner Eigenliebe« verachtete, wurde er doch angetrieben, »sich in den Künsten des Scheins zu üben« (S. 31). Diese Beobachtung irritiert Henriette: »Woher, fragte sie, dies Aeusserliche eines abgeglätteten Weltmanns, alle diese zur größten Fertigkeit gediehenen Künste des Scheins […] – woher dies alles an dem Hasser des Nichtigen, an dem Hochgesinnten? Wie konnte er in kleinen Dingen so groß werden? – Ist sein Herz getheilt?« (S. 30). Woldemar liebt die Extreme und sucht die Mitte für sein Leben (S. 113). Diese Mitte, so hofft er, vermittle ihm das, was er eigentlich sucht: »Stille des Geistes, Ruhe des Gemüths« (S. 44) als Waffe gegen die »allgemeine Krankheit« der Zeit, nämlich »Dumpfheit des Gefühls, Verworrenheit des Herzens« (S. 47). Die Bedeutung der Mitte (die an die aristotelische Ethik erinnert) wird im Roman eindrucksvoll auseinandergelegt (S. 137–139). Die fehlende Mitte führt zu Spaltungen im eigenen Herzen, und die Auswirkung derselben wird vom Erzähler des Romans als Kern der Geschichte und als Erklärungsgrund der seltsamen Entwicklungen hervorgehoben (S. 41). Ihr natürlicher Anlass ist die allgemeine menschliche Natur, die geprägt wird von moralischen und sozialen Gewohnheiten, denen das Individuum unvermeidlich ausgesetzt ist (S. 41f.). Woldemars eigenes Menschenbild sowie das was er über Geschmack und Genie denkt, schließen sich hier an (S. 78–80). Das Ausschlagen ins Extreme bedeutet auch, dass Woldemar ein Übermaß am Gefühl des Schönen besitzt, das Schwärmerei genannt wird (S. 383). Während Biderthal und Dorenburg diesem Hang zur Lust in Woldemars Seele misstrauen, ihn gar als «geistige[n] Wollüstling« titulieren, dem es an der nötigen Zucht und Selbsterkenntnis mangele (S. 383), versucht Henriette behutsam diese Tendenz in Woldemar zu korrigieren, ihn von Lust und Leidenschaft zu befreien, und sie hat Erfolg damit (S. 60). Kraft ihrer Therapie wurde Woldemar (vorübergehend) tatsächlich offener, gleichmütiger und geselliger. Diese positive Veränderung in Woldemars Verhalten wurde von allen mit Genugtuung registriert, mit denen er Umgang pflegte (S. 66). Zunächst aber ist Woldemar für uns der Philosoph in diesem Familienkreis, zuweilen unterstützt von Carl Sidney (z. B. S. 68–71, S. 73, S. 76, S. 77, S. 80–83 u. S. 95–100), einem Philosophen aus Edinburgh, einem »Jünger« von Ferguson (der als Lieblingsphilosoph Woldemars gilt) und von Thomas Reid. Woldemar erreicht intellektuell das höchste Niveau theoretischer Reflexion, einschließlich einer Selbstdarstellung seiner Person im Rahmen einer Zeitdiagnose des Sozialen (S. 43–

|| 57 Nach Woldemars Selbstdarstellung in seinem Brief an Biderthal; Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), S. 19–28; vgl. S. 224.

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55), der er gleichwohl in seiner Lebensweise praktisch nicht nachzukommen vermag. Was von ihm reflektiert wird, steht bisweilen in scharfem Kontrast zu seinem Gefühl und besonders im Widerspruch zu den Doktrinen des alten Hornich (vgl. S. 35–40). Der konfliktreiche Verlauf seiner Tugenderziehung trägt die Hauptlast der Darstellung, die auf den Zweck des Romans – Menschheit wie sie ist – als ein Ganzes zu veranschaulichen, gerichtet ist (Vorrede, S. XV).58 Im Berufsleben war Woldemar äußerst erfolgreich und dennoch mit sich unzufrieden. Seine Perfektion betraf nur seine »glänzende Aussenseite« (S. 33). Durch seine beruflichen Erfolge genoss er öffentliches Ansehen (S. 35). Doch zugleich machte ihn das unzugänglich, so dass er bald als »Grillenfänger« ohne wahre Lebensart galt (S. 35). Aufschlussreich sind die Tage der Einsamkeit und des Schwelgens in Naturromantik, die uns während Woldemars Zurückgezogenheit auf Pappelwiesen begegnen. Der Text enthält zwei von ihm verfasste ›Aufsätze‹ (»Stücke« ohne Namen, mit Datum, aber ohne Bestimmungsort) (S. 257–259) und den Brief an den Bruder Biderthal vom 23. August (S. 263–285) (zuerst in der Woldemarfassung von 1779) – Dokumente einer Selbstbesinnung und Selbstbestimmung des Titelhelden im Naturerleben auf Pappelwiesen. Woldemar nannte sie »die Schatten seiner abgeschiedenen Stunden, in dem nemlichen Sinne, wie man auch die Seelen pflegt Schatten zu nennen« (S. 269). Die Natureindrücke und die frische (geheimgehaltene) Vermählung mit Allwina verdichten sich zu einem neuen Schöpfungserleben. Unergründbar scheint dieser Zustand, den man gemeinhin einfach Verliebtheit nennen würde, zu sein, weil er »ohne Leidenschaft« sein soll (S. 260). Es sei eine selbstlose, hingebungsvolle Liebe von Seiten Allwinas: »nur sein Wohl war ihre Sorge, ihr Wunsch; und wie das alles in ihr bestand und aus ihr hervorging – man mußte glauben, sie wäre durch eine unmittelbare Einwirkung des Himmels dazu begeistert worden« (S. 260). Vor allem der bereits erwähnte Brief Woldemars an Biderthal verdient eine nähere Beachtung. Völlig allein gelassen taucht Woldemar ein in das Leben der Natur (S. 266–269): »Nie war [s]eine Seele so in allen [s]einen Sinnen! – Lauter Genuß [s]ein ganzes Wesen! – Ewigkeit, [s]ein fliehendes Daseyn!«59 (S. 267): »ich schwebte wie in der Mitte der Schöpfung, aufgelöst, und an mich ziehend aus dem feinsten Äther eine neue Bildung« (S. 269). Dass sein Herz, nach bitteren Kindheitserfahrun-

|| 58 Eine solche anthropologische Zielsetzung mit den Mitteln der Dichtung ist durchaus keine Seltenheit unter den Philosophen des 18. Jahrhunderts. Vgl. z. B. Friedrich Bouterwek: Almusa, der Sultanssohn, ein Roman aus der Geisterwelt, nach hinterlassenen Papieren des Grafen Donamar, oder die Bestimmung des Menschen. Bremen, Frankfurt a. M. 1801. 59 Der Text von 1779 ergänzt: »Hülle der Gottheit um den Endlichen!« (S. 123). Hier zu Recht weggelassen, weil der sonst von Jacobi gebrauchte Begriff der Hülle, als der äußerlichen Form, die den Geist umgibt, dadurch entstellt würde.

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gen der Verliebtheit und der Selbstentfremdung, nun auf einmal »genesen« ist, verdankt er der Begegnung mit Allwina und Henriette (S. 271). Der genannte Brief an Biderthal enthält Einzelheiten über die erste Begegnung Woldemars mit Henriette, die ihm als »das himmlische Mädchen« vorkommt, das ihm seinen »alten Traum von Freundschaft« deutete (S. 273), einer Freundschaft, die er »die reinste, heiligste« nennt, insofern sie »nie in die Leidenschaft der Liebe ausarten könne« (S. 226): Ich sah Henriette. Sie zog mich an; aber mit einer Empfindung, die nichts mit ihrem Geschlecht zu thun hatte, und die mir ganz neu war. Ich wunderte mich, und betrachtete das Mädchen aufmerksamer. Jeder weibliche Reiz an ihr war mir sichtbar; sichtbarer, als allen andern: wie Henriette hatte noch kein Mädchen mir gefallen. Dennoch erregte sie nichts in mir von, sogenannter, eigentlicher Liebe. (S. 275)60 »Henriette war mir eben so wenig Mädchen als Mann; sie war mir Henriette, die Eine Einzige Henriette […].« (S. 282)

Er sieht in ihr wohl ebenso eine leibliche Schwester (»ganz, und wie von Mutterleibe an« (S. 284). Der ganze Freundeskreis erscheint damit als eine Familie; Dorenburg ein zweiter Bruder und die beiden Schwägerinnen seine beiden Schwestern (vgl. S. 272f.). Und es ist Henriette, die vor allem sein rückständiges Frauenbild korrigiert (S. 275f. u. S. 279). Über Allwina sagt Woldemar: »Sie war mein Urbild von reinem weiblichen Character; ganz geschaffen zur Gattin und zur Mutter; der Ausbund ihres Geschlechts« (S. 283). Seine Ehe mit Allwina wird getragen von einem nach heutigem Verständnis ganz und gar inakzeptablen Frauenbild: »Mutter Natur habe das Weib nur zu Einer, der Leidenschaft für die Kinder angewiesen; Mutterherz sey ihr wahres, eigentliches Wesen« (S. 231). In dieser (vermeintlichen) Selbstlosigkeit gegenseitiger, leidenschaftsloser Liebe kann auch das Dreiecksverhältnis keine Gefahr der Eifersucht enthalten: Jeder Blick, den ich Henrietten gab; jede Zärtlichkeit, die ich ihr bewies; jede Liebkosung, die ich ihr machte, war eine Wohlthat für meine sorgliche Allwina; sie hüpfte dann vor Freude, fuhr mir an den Hals und wollte mich drücken. (S. 284)

Und so geschah es, dass »{d]ie frohe freye volle Liebe« es war, die »bis auf den Grund« ihn erschüttert hatte, »unaussprechlich« sein Dasein erhöhte; »ein Leben wie von Ewigkeit zu Ewigkeit in [s]eine Seele geboren« (S. 284f.). Als Henriette Woldemar begegnet, sieht sie ihn so wie er sich »im täglichen Leben« zeigt, »wo der Mann im Ganzen zum Vorschein kam« (S. 34). Er war »so unverstellt, so offenherzig, so gutmüthig […] dass man unmöglich im Ernst ihm misstrau-

|| 60 In der Ausgabe von 1779 lautet der letzte Satz abweichend: »Dennoch raubte sie mir nicht das Herz« (S. 134).

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en, mit ihm hadern konnte« (S. 34). Keine Spur also von der Gebrochenheit und Disharmonie seines Innenlebens. Henriette ist sich bewusst, dass die »eigentlichen Gefühle des Herzens« den Mittelpunkt bilden, von dem aus die Eitelkeit zu besiegen sei: »Woldemar, der nach und nach sie erforschte, fühlte mit Entzücken, was ihm das Schicksal in ihr darbot. Beyder Einverständnis wurde von Tage zu Tage leiser und inniger« (S. 59). Zwei Jahre verbringen beide in gegenseitiger »reiner« (leidenschaftsloser) Liebe. Woldemars Veränderung zu offener Heiterkeit wird von jedermann wohlwollend registriert und wirkt sich auf die ganze Gesellschaft der Familienbande positiv aus: »Es konnte nicht ausbleiben, nachdem er einmal in ein menschliches Wesen ein unumschränktes Zutrauen gesetzt hatte, daß die ganze Gattung bey ihm gewinnen mußte« (S. 66). Überraschend wird die Verlobung zwischen Woldemar und Allwina Clarenau, der Freundin Henriettes, beschlossen und schließlich, nach Hornichs Tod, Hochzeit gehalten (S. 259) [1796, II, S. 21]. Henriette, die diesen Schritt eingefädelt und gut geheißen hat, glaubt dadurch nichts zu verlieren; im Gegenteil meint sie dadurch mehr von Woldemar zu gewinnen. Sie will sogar auch weiterhin im Hause ihres Freundes wohnen bleiben und die Rolle der »ledigen Tante« in der Familie spielen (S. 234) [1796, I, S. 279]. Grundlage aller freundschaftlichen Anbindungen in Jacobis Roman ist die natürliche Eigenschaft des Menschen, seiner Selbst nur mit und durch den Anderen gewahr werden zu können. Dadurch kommt ein Moment der Beschränkung der Eigenliebe ins Spiel. Woldemar erklärt ziemlich am Anfang der Geschichte (in dem Brief an seinen Bruder) den Zusammenhang zwischen Freundschaft und Liebe: Liebe muss zu Freundschaft emporsteigen. Menschen werden zu Freunden, indem sich »der Eine am Andern« vielfach erprobt. Dabei muss eine Anhänglichkeit »an den ganzen Menschen entstehen« (S. 26). Diese Erfahrung fehlt jedoch Woldemar am Anfang. Die Konsequenz ist, dass ihn die Isolation (Einsamkeit) zu zermürben droht. Über sich selbst offenbart er (in demselben Brief an seinen Bruder), dass er nach langen (sechsjährigen) Erfahrungen und Studien über den Menschen zu der Einsicht gekommen sei, dass der Mensch »überall zu viel und zu wenig: darum nichts Ganzes, nichts durchaus Bleibendes« vermöge (S. 27). Wie kann also Woldemar selbst, als Glied dieser Species, Freundschaft finden und sein Selbst regulieren? Wie kann er, aristotelisch gesprochen, die Mitte finden, ohne beständig wieder in ihre Extreme zurückzufallen? Ebenso wenig wie das Angesicht kann sich die Seele in sich selbst beschauen (S. 190) [1796, I, S.224f.]. Woldemar erklärt seinen Freunden den sozialen Aspekt der Bestimmung des Menschen: Der Mensch fühlt sich mehr im Anderen als in sich selbst. Unsere körperliche Gestalt können wir nicht gewahr werden, als in einem anderen Körper, der sie vor uns abspiegelt; unsere Seele

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kann sich nicht empfinden als mittels eines andern Geistes, der ihren Eindruck auf sie zurückwirft. (S. 48f.)

Auf diesem einfachen Mechanismus der Bespiegelung des Selbst in einem Anderen ist die ganze Psychologie der Freundesliebe in Jacobis Roman aufgebaut. In ihm verstrickt sich aber auch die Problematik dieser Beziehung. Unter dem logischen Zwang dieser Struktur werden Konflikte und Persönlichkeitskrisen hervorgerufen und ausgetragen. Das Dasein des Menschen muss für ihn selbst unerträglich werden, wenn er in den Augen der Anderen verachtet wird (S. 50). Verachtung durch die Anderen kommt der Selbstentwertung gleich, und Einsamkeit ist das höchste Elend. Doch um die edlen Absichten nicht von den Leidenschaften der Gesellschaft beschädigen zu lassen, ist der Rückzug aus dem »unselige[n] Getümmel« in die »einsame Langeweile« (wie sie Woldemar hernach in Pappelwiesen umgibt), in der »Stille des Geistes, Ruhe des Gemüths« allein bestehen können, ebenso zwingend (S. 44f.). In der vielseitigen und notwendigen Bespiegelung in Anderen liegt also auch die Gefahr, sich vom »besseren Selbst« immer weiter zu entfernen. In diesen Widerspruch nun, die Einsamkeit als letzte Zuflucht wählen zu können und ihr doch auch entfliehen zu müssen, um das eigene Selbst zu bewahren, sind alle Handlungen Woldemars verflochten. Also kommt es für ihn darauf an, von den Anderen wahrhaft geachtet zu werden, d. h. ohne mit der opportunistischen Heuchelei des bloß äußerlichen Verhaltens sich die Anerkennung zu erwerben. So gesehen ist die Geschichte der Freundschaft zwischen Woldemar und Henriette ein Kampf um innere Anerkennung, der Weg zur Verwirklichung eines sittlichen Ideals. Dies ist der Ausgangspunkt des konkreten Konflikts, der sich am Anfang des zweiten Teils des Romans, infolge des Ablebens des alten Hornich zuerst in Henriettes Gemüt entspinnt und dann auch auf Woldemars Seele übergreift. Programmatisch entwirft Woldemar selbst den Entwicklungsgang echter Freundschaft genauso wie sie dann schließlich auch als Gegenstand des Romans am Verhältnis Woldemars zu Henriette Gestalt annimmt: Da muss Mensch mit Mensch in dringenden Angelegenheiten erst offt und lange verwickelt werden, der Eine am Anderen vielfältig sich erproben, Denkungsart und Handlungsweise zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen, und jene Anhänglichkeit an den ganzen Menschen entstehen, die nach nichts mehr fragt, und von sich nicht weiß – weder woher noch wohin. (S. 26) [1796, I, S. 29]

Die Entwicklung der Freundschaft wird zugleich nicht ausschließlich als binäre Beziehung gedacht, sondern als allseitig sich durchdringende Bewegung des endlichen Lebens im gesellschaftlichen Zusammenhang. Aber sie bedarf eines Beispiels oder Musters für alle, und ebendies wird durch das Verhältnis zwischen Henriette und Woldemar sichtbar vorgelebt. Dieses Leben, das da entsteht, ist: »fortgesetzte Entsinnlichung der Körperwelt, und eine Verwandlung von Seele in Seele durch gesellschaftliche Bewegung. Wir würden unseres liebsten Freundes, wir würden

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unserer selbst überdrüßig werden, wenn in seinem oder unserem Daseyn sich ein Stillstand ereignete« (S. 192f.) [1796, I, S. 228]. Während hier also die Freundschaft als ein Entstehungsprozess eines sittlichen Verhältnisses begriffen wird, das von der Tätigkeit (als Tugend) lebt, erscheint sie dagegen an späterer Stelle als schon abgeschlossene Voraussetzung, nämlich als etabliertes »gegenseitiges Verhältniß, wie aus einem Stücke«, das sich nicht zusammensetzen lässt und »entweder da ist, oder nie da seyn wird« (S. 189) [1796, I, S. 223]. Veränderung im Sein und Handeln bedeutet hier gerade den Verlust der einzigartigen Freundschaft.61 Diese Freundschaft ist der Zweck der Menschheit im Ganzen. Als Zweck ist er eine Einheit, ein Ganzes, aus dem heraus sich die Glieder erst ergeben. Hier steht erneut der teleologische Gesichtspunkt dem mechanischen gegenüber. Der zweite Teil des Romans – nach Jacobis eigenem Urteil der interessantere62 – beginnt mit der Ausbreitung des bereits erwähnten Grundkonfliktes und den sich daran rankenden Verständnisschwierigkeiten. Biderthal ist zunehmend bestürzt darüber, dass sein Wunsch nicht in Erfüllung geht, dass Woldemar Henriette zu seiner Frau wähle (S. 243–245) [1796, II, S. 1–4]. Er vermutet nämlich nach wie vor »eigentliche Liebe« zwischen beiden (S. 288) [1796, II, S. 56]. Auch in der Bevölkerung verbreitet sich Misstrauen gegen die Hornichs. Die sogenannten »guten Leute«, die nur »nach Maaßgabe ihres Sinnes, Herzens und Verstandes urtheilen«, beginnen voller Argwohn Verleumdungen gegen die Betroffenen, insbesondere gegen Henriette, in Umlauf zu bringen.63 Solche Gerüchte erhöhen die Sensibilität und die Spannungen in und zwischen den Betroffenen. Der Konflikt verschärft sich durch den Umstand, dass der alte Hornich im Sterben liegt. Doch lässt ihm die schlimme Befürchtung, seine Lieblingstochter könnte den hitzköpfigen »Freygeist« Woldemar doch noch heiraten und dadurch seelischen Schaden nehmen, keine Ruhe (S. 250f.) [1796, II, S. 10f.]. Er verlangt deshalb von seiner Tochter ein Gelübde über den zeitlich unbegrenzten Verzicht auf eine solche Absicht. Henriette wehrt sich zunächst verzweifelt gegen dieses Begehren, da sie nicht in einen Bund gegen ihren Freund eintreten kann (S. 247f.) [1796, II, S. 6f.]. Denn sie würde ja dadurch dessen Anerkennung verlieren. Sie trägt ihrem Vater auch die Gründe ihrer Verweigerungshaltung vor; doch dieser erleidet daraufhin einen bedrohlichen Schwächeanfall (S. 252) [1796, II, S. 12f.]. Darüber gerät nun Henriette in arge Not. Sie befindet sich in dem Zwiespalt, ihren Freund nicht verraten zu dürfen, andererseits aber auch das Leben ihres Vaters nicht durch ihr Verschulden verkürzen zu wollen:

|| 61 Siehe Woldemars Brief in Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 282 [Ausgabe 1796, II, S. 49]. 62 Siehe Jacobi an Claudius, 12. April 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 228, S. 162. 63 Siehe Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3), Bd. 5, S. 296f. [1796, II, S. 66f.]; vgl. S. 321f. [II, S. 99f.].

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Jeder angstvolle Blick, den der Sterbende auf sie warf, brach ihr das Herz. (S. 254) [1796, II, S. 15].

Schließlich gibt Henriette nach und legt das geforderte Gelöbnis ab, fühlt aber sogleich auf unbestimmte Weise, dass dies ein Fehler war. Der befriedigte Vater stirbt 24 Stunden später (S. 255) [1796, II, S. 15f.]. Henriette nimmt sich vor, Woldemar von diesem Ablauf der Ereignisse keine Mitteilung zu machen. Sie weiß, dass sie schweigen muss, weil sie einen schweren Fehler begangen hat (S. 255 f.) [1796, II, S. 16f.]. Das Verschweigen aber vergrößert die Schuld. Durch einen Zufall erfährt Woldemar von dem Geheimnis. Er bedrängt Luise, eine der beiden Schwestern Henriettes, so lange, bis sie ihm alles offenbart. Bei dieser Nachricht ergreift nun Woldemar das Entsetzen. Er ist voller Sorge, nicht so sehr um sich selbst, sondern um Henriette, und fühlt Unzufriedenheit mit ihrem Verhalten, durch das sie ihm heimlich und feierlich entsagt habe (S. 292f.) [1796, II, S. 62]. Er weiß, dass dies Henriettes Selbstzerstörung bedeuten kann. In der Folgezeit bewegt sich Woldemar mit andauernder Unausgeglichenheit, die er nicht meistern kann. Seine Gefühle schwanken erneut zwischen zwei Extremen, zwischen dem Reuegeständnis über sein eigenes Misstrauen und dem Freispruch Henriettes einerseits und dem Selbstfreispruch und der schärfsten Anschuldigung gegen Henriette andererseits (S. 294f.) [1796, II, S. 65]. Sein Argwohn wächst, als er – wie es nicht anders sein kann – auch Veränderungen in Henriettes Betragen gegen ihn bemerkt (S. 302) [1796, II, S. 94]. Er stellt sie wiederholt auf die Probe und findet seine Befürchtung bestätigt. Gegen die immer peinlicher werdenden Begegnungen zwischen den Liebenden empört sich besonders Henriettes Seele. Sie sieht plötzlich der Freundschaft Grenzen gesetzt und fühlt, dass sie sich mit Woldemar aussprechen müsse (S. 304f.) [1796, II, S. 77f.]. Aber Henriette findet keine passende Gelegenheit, Woldemar zu einer Erklärung zu bewegen und damit Peinigungen zu entgehen, denn sie wird täglich aufs Neue von ihm in Angst und Schrecken versetzt (S. 307f.) [1796, II, S. 81]. Das zutiefst gestörte Vertrauensverhältnis, die Unsicherheit über die Treue des Anderen, nicht jedoch die Behinderung eines erotischen Verlangens, wird nach dem Selbstverständnis der Beteiligten zur Ursache einer Persönlichkeitskrise und wird zum Grund des Leidens, das sowohl Woldemar als auch Henriette nun zu bestehen haben. Henriette leidet »Todesangst«, und Woldemar, der »grad auf gen Himmel blickt«, als ob von dort die Rettung käme, glaubt alles verloren. »Sehnsucht, Erwartung und Furcht trieben ihn bis zur Verwirrung umher« (S. 317f.) [1796, II, S. 93f.]. Die innere Selbstauflösung und die ständig sich steigernde Verwirrung versucht Woldemar durch »gewaltsame Erheiterung« zu überspielen, wirkt dadurch aber noch auffallender und komischer: »er wurde laut; warf mit witzigen Einfällen um sich; unterbrach, bald hie bald dort, ein Gespräch; trank halb in Gedanken, halb mit Vorbedacht, von verschiedenen Weinen, und in größerer Menge, als er gewohnt war«.

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Da solches Betragen aber seinem wahren Gemütszustand ganz und gar entgegengesetzt war, wurde ihm sein innerer Zwiespalt umso deutlicher zur Gewissheit: »seine Fantasie glühte; sein Herz zerrann. Er wußte nicht zu bleiben vor all dem Widersinn, der sein ganzes Wesen aus einander trieb« (S. 318f.) [1796, II, S. 94f.]. Durch die Gespräche zwischen Henriette und Woldemar auf Pappelwiesen, in deren Verlauf auch Henriette seelisch angegriffen wird, spitzt sich der Konfliktverlauf zu. Was aber in ihrem Gesicht geschrieben steht, bildet nur das Spiegelbild von Woldemars innerer Zerrissenheit: »Woldemar glaubte in ihrer Geberde etwas von Verachtung wahrgenommen zu haben, und entfernte sich mit zerrissenem Herzen« (S. 319). Ihre Einheit ist nun ein Leiden: »Beyde folterte dieß mit Qualen der Hölle in gleichem Maaß« (S. 320). Es überwiegt der Wunsch nach Distanz und Trennung (ebd.). Die Auflösung des Freundschaftsverhältnisses führt zum Widerspruch des Menschen zu sich selbst. Die Einheit des Herzens und die vollkommene Gleichheit der Seelen Henriettes und Woldemars (als seien sie ein Wesen) werden durch die vorangegangenen und die noch folgenden Begebenheiten in Frage gestellt. Wiederannäherungen sind nur vorübergehend (s. besonders die aus der Beobachtung gefolgerte wechselseitige Entfremdung, S. 335f.). Die unmittelbare Einheit des Selbst mit dem Anderen scheint sich in eine dauerhafte Entzweiung aufzulösen. Denn um Henriette noch verstehen zu können, muss auch Woldemar aus sich selbst heraustreten, sich im Anderen anschauend finden, oder sich selbst fremd werden. Das Anderssein des Selbst, in dem es sich verliert, ist eine Störung oder gar Zerstörung der Freundschaft, ist Trennung des Verbundenen. Woldemar glaubt in Bezug auf seine Freundschaft der Täuschung zu unterliegen, dass er nicht Ein Herz und Eine Seele mit Henriette sei, nicht »Eins in allem« sich mit ihr fühlt (S. 328f.). Als Konsequenz fasst er den Vorsatz: »Ich muß aus mir hinausgehen, als aus einem Fremden, und mich in ihre Stelle versetzen!« (S. 329). Die Rettung scheint also für ihn darin zu bestehen, seine Identität im Anderen (in Henriette) zu bewahren, in dem und mit dem er sich wahrhaft identifiziert. Aber zugleich erfasst ihn der Schrecken darüber: Kann er das überhaupt? Denn sie ist sich selbst ja auch entfremdet, ist nicht mehr das was sie einst für ihn war: »Henriette ist mir ein Anderer; Henriette ist wider mich« (S. 329). Das ist die zweite Entfremdung. Das was »Anderer« hier bedeutet, unterliegt einer Bedeutungsverschiebung. Es ist nicht ein Sichselbstgleiches. Der Andere ist ein anderer Anderer geworden. Ebenso konsequent folgt daraus der weitere Vorsatz Woldemars: »um ihr gut bleiben zu können, muß ich vergessen, wie ganz ich sie für meine Freundinn hielt – wie ganz ich ihr Freund war […]« (S. 329). Der Andere erscheint in diesem Zwiespalt als ein Fremder, als ein ganz Anderer, der sich von sich selbst entfernt hat und in dem sich deshalb das eigene Selbst nicht wiederfinden kann. Er ist ein Anderer, in dem es keine Versöhnung mehr geben kann. Das Dilemma oder die Krankheit der Seele besteht hier in der Unausweichlichkeit, die Wahrheit unmittelbarer Freundschaft vergessen zu müssen, einer Unaus-

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weichlichkeit, der zum Zweck der je eigenen Selbsterhaltung (und der des Anderen) unbedingte Geltung zukommt (S. 328f.) [1796, II, S. 108]. Im Vergessen liegt eine Abstraktion. Es muss von einer vollkommenen Identität (Gleichheit) abstrahiert werden; nur eine relative Identität, die dem Anderen den nötigen Freiraum lässt, sich selbst im Verhältnis zu anderen zu verstehen und zu bestimmen (der Andere wirklich als Anderer zu sein) ist vermögend, den Gegensatz, die Zwietracht zu vermeiden. Nur in diesem, auf Freiheit beruhenden Verhältnis Verschiedener ist so etwas wie das Einheitsgefühl von Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar und darüber hinaus ganz allgemein der »ewige[] Frieden mit den Menschen« möglich (S. 329). Eigentlich müsste das selbstverständlich sein. Denn war es nicht die Freiheit, die Woldemar selbst als Grundverständnis des Menschen gefordert hatte? Die Kehrseite dieser Auflösung ist: Die andauernde Trennung lässt in Woldemar die Einsamkeit zur Hölle werden (S. 340) [1796, II, S. 121]. Wenn auch Woldemar in der Einsamkeit Mitte und Ruhe findet (vgl. S. 136f.), insofern das Gedränge der Gesellschaft ausgeblendet ist, weshalb martert ihn dann dieselbe Abgeschiedenheit? Der Grund ist, weil ein jeder des Andern zur Selbsterkenntnis oder seines Selbstgefühls bedarf, und zwar nicht bloß als eines starren Bildnisses, sondern eines tätigen, das ebenso ein freies Selbst ist, und dieses freie Selbst hat das Potential, das andere freie Selbst wieder aus der Mitte zu stoßen. Schließlich werden seine Vorwürfe gegen Henriette so mächtig, dass er glaubt, sie nicht länger seine Freundin nennen zu können: »Der Tumult in Woldemars Seele war offenbarer Aufruhr geworden« (S. 345) [1796, II, S. 120]. Er begegnet ihr kalt und interesselos und erfreut sich dabei »seiner selbst so mächtig zu seyn« (S. 351f.), lächelt Henriette zu »wie ein willig Sterbender dem Tode lächelt« (S. 353). Dabei gelangt er zu der Überzeugung, »daß er ein für allemal jene überschwengliche Idee von Freundschaft zwischen ihm und Henriette aufgeben müsse« (S. 348) [1796, II, S. 133f.]. In einem an späterer Stelle verlesenen Brief Woldemars heißt es sogar, »daß alle Freundschaft, alle Liebe nur Wahn sei« (S. 455) [1796, II, S. 265]. Henriette dagegen zeigt trotz aller seelischen Erschütterungen mehr persönliche Stärke. Sie hält unbeirrbar an ihrer Freundschaft fest und vertraut ganz auf die zuverlässige Wahrheit ihres Gewissens (S. 346f.) [1796, II, S. 131]: »Nie vorher in ihrem Leben war sie so ganz verlassen gewesen, daß sie Hülfe allein bey sich selbst, Zuflucht nur in ihrem eigenen Herzen hätte suchen müssen. Hier fand sie jetzt ein Zeugniß, welches über ihre Zweifel siegte« (S. 361) [1796, II, S. 150]. Ihre Seele wird still und friedlich. Doch selbst noch als sie »voll wahrer warmer Zärtlichkeit« ihrem Freunde alle ihre inneren Erlebnisse beichtet, ist seine ganze Erwiderung nur ein »kaltes freundliches Lächeln« (S. 351) [1796, II, S. 136]. Der heutige Leser ist geneigt, ihr alle Sympathien zu schenken. Ist sie nicht die Person im Freundschaftsgespann, die die eigentliche Stärke und Überlegenheit verkörpert? Obwohl sie in Woldemars Augen »nur ein Mädchen« ist, gelingt es ihrer mächtigen Seele öfters, einen Weg aus den Verstrickungen zu finden, in die sie Woldemars Sensibilität und übertriebene Reaktion gestürzt hat. Sie ist es, die immer wieder

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neue Initiativen ergreift, den Mut fasst, Woldemar zur Rede zu stellen und eine Aussprache zu eröffnen. Aber es ist sinnlos. Was sie erntet, sind immer wieder neue, zermürbende Niederlagen. Woldemar kostet dies aus, um sein natürlicherweise schwaches Gemüt aufzuwerten und sich über sie zu erheben. Er ist Henriette weit unterlegen. Warum nur hält sie trotzdem noch an ihm fest? Weiter in der Geschichte. Woldemar nimmt Henriettes »stille Heiterkeit« erneut mit Schrecken auf. Er findet sich nicht mehr in ihr und gibt diese Suche auf: »Was noch von Hoffnung in seiner Seele versteckt war, fuhr auf und verschwand. Die entsetzlichste aller Empfindungen: Verachtung dessen, was überschwenglich geliebt war, kam den geräumten Platz einzunehmen; sie hatte lange schon gedrängt« (S. 359) [1796, II, S. 147]. Er distanziert sich nun mehr und mehr von Henriette und »schwindelt in Wahnsinn dahin«. »Die Verwirrung seines Gemüths wurde fürchterlich« (S. 360) [1796, II, S. 148–150]. Schärfer kann sich der Konflikt eigentlich nicht mehr zuspitzen. Denn Verachtung ist ja das gerade Gegenteil von Anerkennung. Aus einer solchen Gefühlslage heraus, die zwei Personen zu Feinden macht, kann sich Freundschaft eigentlich nicht wiederherstellen. Müsste die Geschichte hier nicht als Drama enden, und zwar derart, dass der Teufel (sei es in Gestalt eines Irrenvaters oder eines Scharfrichters) den verrückten Schurken Woldemar endlich abführt, bevor sein selbstgefälliges Treiben noch mehr Personen in seinem Umfeld ansteckt und noch größeren Schaden anrichtet? Nur wenig Geschick lässt Jacobis Versuch erkennen, die Auflösung des scheinbar ausweglosen Leidens hinauszuzögern und die Dramatik dadurch zu steigern, dass er den Konflikt (zunächst) durch immer neue Selbsttäuschungen und Missverständnisse, Unsicherheiten, Befürchtungen und Ängste der Akteure des Romans, bis zum Überdruss des Lesers, noch weiter anheizt. Die äußeren Begebenheiten, die der Dichter und Philosoph zu diesem Zweck erfindet, sind insgesamt zu unbedeutend und schwach an Überzeugungskraft, um jene seelische Verwirrung in angemessener Dimension hervorzubringen, die die beiden Helden der Geschichte in den Abgrund zu reißen droht. Hier zeigt sich die ganze Schwäche der Darstellungsgabe Jacobis. Die vielen kleinen schmerzerfüllten Seelenreflexe, die sich in seinen Beschreibungen ansammeln, wirken übertrieben und in ihrer gebündelten Wirkung unglaubwürdig. Das verwirrende, zwischen Zuversicht und Verzweiflung Hin-undher-gerissen-werden der Herzen, der Wechsel individueller Launen, Enthusiasmus und Schwermut, wirkt sich entmutigend nicht nur auf die handelnden Personen sondern auch auf den teilnehmenden Leser aus und nimmt der Erzählung alle Kraft und Spannung. Jede Möglichkeit eines echten Zusammenhangs verliert sich in der Mühe der Deutungsvielfalt unendlich kleiner Seelenregungen. Schon Friedrich Schlegel bemängelte in seiner Woldemar-Rezension mit Recht die unpoetische Qualität dieser dargestellten Situationen, die aller Natürlichkeit der Begebenheiten zuwiderlaufe. So sei die maßgebliche Ursache des ganzen Missverständnisses zwischen Woldemar und Henriette überhaupt unverständlich. Denn der

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Konflikt zwischen den beiden Auserwählten hätte gar nicht ausbrechen müssen, »wenn nur so viel Zutrauen, so viel Delikatesse in ihnen wäre, als zu dem Bestehen auch des gemeinsten bloß gesellschaftlichen Verhältnisses erforderlich ist«. Anstatt ihren Vorsätzen gemäß die »schnellste Offenheit« zu zeigen, zögen sie sich unverständlicherweise in einsame Grübelei oder förmliche Erörterungen über die eigentliche Natur ihrer Beziehung zurück.64 Der Wendepunkt zum Besseren tritt erst ein, als Henriette zu Luise gerufen wird, die ihrer Schwester im Beisein aller Freunde ihren unvorsichtigen Geheimnisverrat gegenüber Woldemar gestehen will (S. 366f.) [1796, II, S. 156ff.]. Die Auflösung des durch widrige, aber ebenso seltsame Umstände herbeigeführten Konflikts scheint nun möglich, nachdem dieses erste Missverständnis, das eigentlich eine Banalität darstellt, aufgedeckt ist. Man fragt sich allerdings, wie eine solche Bagatelle überhaupt derartig überzogene Auswirkungen auf eine so edle Freundschaft haben kann. Jetzt kann Henriette jedenfalls – so scheint es – die Ursache von Woldemars leidvollen Irrungen vollkommen verstehen (S. 369) [1796, II, S. 160]. Sie erkennt aber zugleich, dass die eigentliche Schuld bei ihr liege. Bis zur physischen Erschöpfung nimmt sie die über diese Nachricht entstandene Aufregung hin: »Es war ihre letzte Kraft. Sie sank nieder wie todt« (S. 370) [1796, II, S. 161]. Die Erlösung von ihrem Leiden wird durch Selbstanklage, Reue und Buße ermöglicht (S. 375) [1796, II, S. 168]. Es folgt nun auf dem Wege der Auflösung des Freundschaftskonflikts eine breit angelegt Kritik der Geniehaltung Woldemars. Die beabsichtigte Bekehrung des Helden ist daher zugleich ein Versuch zur Überwindung des künstlerischen und sittlichen Genies.65 Zweifellos versuchte Jacobi, mit der Charakterisierung Woldemars eine Karikatur des Typus des geniehaften Denkers der Sturm und Drang-Bewegung, wie er ihn sah, nämlich als einen, der alle Kraft und Motivation des Handelns aus der schönen Natur seines inneren Gemüts schöpfte,66 zu geben. So ist Woldemar, ganz im Gegensatz zu Henriette, der »Erzwidersacherin aller Schwärmerey«,67 auch der leidenschaftlichen Verehrung der Natur verfallen. Deren Genuss allein vermag seine Selbstmordgedanken noch zu kompensieren.68

|| 64 Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 61. 65 Vgl. dazu das folgende Kapitel; vgl. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 417. 66 »Durch das Genie giebt die Natur der Kunst die Regel« (S. 78) [1796, I, S. 90]; vgl. S. 417 [1796, II, S. 219]. 67 Vgl. S. 282 [1796, II, S. 49]. 68 Siehe z. B. den Brief an Biderthal (S. 23f. [1796, II, S. 26]; oder den Brief an Biderthal vom 28. April, der am Ende des ersten Teils des Romans die Landschaft des Gutes Pappelwiesen beschreibt (S. 236–239) [1796, I, S. 282–286] oder die beiden Aufsätze über die Natur, die voll sind vom Schwelgen in der idyllischen Natur (S. 257–259) [1796, II, S. 18–20].

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Mit diesem Leitmotiv, der Suche nach Ausdruck und Einfassung des eigentlich »unsagbaren« höchsten Gefühls,69 schließt Jacobis neuer Held Woldemar direkt an die thematische Grundstimmung im Allwill an. Woldemar hat jedoch im Widerspruch zu seinem unbedingten Streben die skeptische bis resignative Haltung angenommen, dass der Mensch im Grunde nichts Ganzes und Bleibendes bewirken könne.70 Woldemars Kunstinteresse wird nur ganz am Rande erwähnt. Es heißt, die Porträt-Kunst, die er gut beherrsche, sei seine Hauptliebhaberei. Er hat damit ein Familiengemälde der Hornichs angefertigt (S. 290f.) [1796, II, S. 60]. Die Kritik an der Geniehaltung Woldemars geht jedoch auch in diesem Roman nicht so weit, dass sie das Prinzip der innersten Subjektivität außer Kraft setzte. Vielmehr wird an die bei Jacobi an sich immer schon vorhandene unmittelbare Lehre des Gewissens angeknüpft, um auf ihrer Basis dem tätigen Subjekt das an sich Gute zum Bewusstsein zu bringen. Mehr denn je hält Jacobi an seiner Überzeugung fest, dass eigentliche Tugend nicht durch begriffliche Moralsysteme gelehrt werden könne, sondern mit ihren Gesetzen einem unmittelbaren Trieb entspringe.71 So musste Jacobi auch bestreiten, dass in seinem Roman jemals Woldemars »gänzliche Sinnesänderung« behauptet worden sei.72 Nur unter dieser Voraussetzung kann auch Henriette unbeirrt fortfahren, an die Tugendhaftigkeit ihres Freundes zu glauben und sich »allein auf die Energie des Sittlichen bey Woldemar« zu verlassen, obwohl dieser »sich in einem Zustande heftiger Leidenschaft befindet, der gewiß sein Inneres schon zerrüttet hat, und gefährlich genug seyn mag«.73 Verworfen wird jedoch Woldemars Tugendlehre insofern, als sie neben der Herrschaft des besseren Triebes und des reinen und höheren Geschmacks kein höheres Gesetz anerkenne (S. 379) [1796, S. 172f.]. Von Woldemar wird daher eine Abkehr vom bloßen Selbstvertrauen und der einfachen und naiven Verlässlichkeit auf das eigene Herz verlangt: »die Lust am Guten und Schönen ist in ihm so groß, so lebhaft, so überwiegend, daß er leicht verführt werden konnte, diese Lust für Tugend, und sich, durch diese Tugend, für stark genug zu halten« (S. 380 [1796, II, S. 174]. Ebenso wie Biderthal misstraut auch Dorenburg Woldemars schöner Seele im höchsten Maße. An den »geistigen Wollüstling« ergeht die Aufforderung zu »strenger Zucht« und »Gehorsam« (S. 383) [1796, II, S. 177], denn »ob er gleich nur höheren Lüsten nachhängt, so sind es doch Lüste: und wer nur in Lüsten lebt, verdirbt«. || 69 Woldemar: »wie mir wurde […] – wenn ich Dir das sagen könnte, so wäre es des Sagens nicht werth« (S. 24) [1796, I, S. 26]. 70 S. 27 [1796, I, S. 30]. 71 Vgl. z. B. die explizite Bezugnahme auf die Ethik des Aristoteles, S. 420–422 [1796, II, S. 223–225]. 72 Vgl. Jacobi an Claudius, 12. April 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 228, S. 162. 73 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 378 [1796, II, S. 171f.]; vgl. auch ebd., S. 388 [1796, II, S. 183].

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Zwar habe Woldemar durch stetes Bemühen den »Trieb zum Guten und Schönen« in sich herrschend gemacht, aber mit dem Schönen sei zugleich auch der Reiz zur Eitelkeit und mit dem Genuss der Freiheit Stolz und Herrschsucht verbunden: »Jetzt drückt und unterdrückt der gute Woldemar sich selbst, sein eigener Wille verwirrt ihn, reibt ihn auf; sein eigenes Recht bringt ihn um« (S. 384) [1796, II, S. 179]. Das einhellige Urteil aller Freunde über Woldemars tugendhafte Gesinnung sowie ihre Erklärung gegen sein sittliches Verhalten verkörpern Jacobis Abrechnung mit der vermeintlichen Geisteshaltung des Sturm und Drang. Woldemar wird als gescheitertes Genie präsentiert. Als Grund seines Niedergangs wird ein persönliches Versagen angegeben. Nicht aus sich heraus sind die natürlichen Empfindungen, Neigungen und Affekte schlecht; unzuverlässig werden sie erst durch das Verschulden des Menschen selber, durch Missachtung und Leichtsinn (S. 385f.) [1796, II, S. 180]. Woldemar gesteht später, dass er wie jeder Mensch an sich aufrichtig gewesen sei. Nur äußerlich könne er sich täuschen, »nicht in der Tiefe seines Herzens« (S. 462) [1796, II, S. 274]. So hören wir auch von anderer Seite, dass Woldemar durch die »eigene wahrhaft schöne Kunst« getäuscht worden sei, und seine Freitätigkeit habe ihn betrogen: Er schloß aus einem minder Vergänglichen, minder Zufälligen in ihm, auf ein mögliches Unvergängliches, wahrhaft Ewiges, das der Mensch in seinem Gefühl erzeugen, und woran er, wie an einen Gott, in seinem Thun und Dichten, Leiden, Streben und Meiden, sich halten könnte. (S. 386) [1796, II, S. 18f.] (siehe auch S. 431 [1796, II, S. 231])

Der Anthropomorphismus, der nach Jacobi in der Selbstvergötterung des Menschen wie in der Vergötterung der Natur zum Ausdruck komme, erscheint hier als das Grundlaster des künstlerischen und des sittlichen Genies. Die Anmaßung des Menschen, als sei er es, der der Freiheit aus seinen eigenen Eindrücken heraus das Gesetz vorschreibe, wirkte auf Jacobi stets als Gotteslästerung. Die Kritik des geniehaften Strebens nach Erfüllung des Lebens in der Kunst und in der Natur ist im Grunde schon in Jacobis Allwill ausgesprochen worden. Entschiedener wird aber jetzt von Henriette hervorgehoben, dass der Mensch weder in der bloßen Empfindung überdauern könne, noch das Lebendige sich in Begriffen mumifizieren lasse (S. 380) [1796, II, S. 174]. Es handelt sich im Grunde um das alte Dilemma, das auch Biderthal noch einmal deutlich umschreibt: »An der einen Seite: Vernunft und Freyheit, die er [der Mensch, WE] nicht aufgeben; an der andern: ihre Formen, Äußerlichkeiten, Bestimmungen – der Sitz der Vergänglichkeit, […] – die er nicht entbehren kann« (S. 429f.) [1796, II, S. 234]. Die Grundfrage, die Woldemar an seine ganze Existenz stellt und auf deren Beantwortung sein ganzes Ringen gerichtet ist, wiederholt im Grunde die Problemstellung in Allwills Briefsammlung: »Wie entgehen wir also der Vergänglichkeit in unserm Thun und Dichten? Wie retten wir unser Selbst; wie das Selbst derer, mit denen wir Ein Herz, Eine Seele auszumachen streben?« (S. 381) [1796, II, S. 175].

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Am Ende ist es Henriettes Schuldbekenntnis gegenüber Woldemar und ihre Bitte um Verzeihung, durch die die Versöhnung herbeigeführt wird. Entsprechend ihrem Bekenntnis, der Stimme des Herzens zuwider gehandelt zu haben, empfindet sie alles ertragene Leid als gerechte Buße (S. 458) [1796, II, S. 269]. Auch Woldemar fühlt sich als »der schuldigste unter allen Menschen« und sieht die Ursache seiner Erbitterung nur in sich selbst (S. 461f. u. S. 472f.) [1796, II, S. 273 u. S. 287f.]. Rührende Szenen folgen: »Keine Feder beschreibt, was in diesem Augenblicke in Woldemar vorging. Der Himmel war ihm aufgethan in Henriettens Seele; in seiner eigenen die Hölle. Er sah nicht einen Schatten mehr von Schuld an ihr; alle Sünde nur in sich« (S. 459) [1796, II, S. 271]. Durch das zurückgewonnene reine Bild Henriettes offenbart sich ihm nun ein ewiges Leben: »Ein Leben außer mir drängt sich in dieser Gestalt an die Stelle des eigenen Lebens in mir und verzehrt es« (S. 466) [1796, II, S. 279]. »Die Fromme hatte wahrhaft gesiegt, und der Sieg blieb ihr« (S. 476) [1796, II, S. 293]. Durch die vielen Prüfungen und schmerzvollen Erfahrungen hindurch kommt das Gefühl seiner »reinen unschuldigen Liebe« zu Henriette »immer glänzender wieder hervor« (S. 468) [1796, II, S. 282]. Woldemar hat sogar Selbstmordabsichten gehegt. Dieser Gefahr nun glücklich entronnen, will er seinen harten Stolz brechen und sich im Freundeskreise in Demut üben. Der Leitung seines eigenen Herzens will Woldemar künftig nicht mehr das uneingeschränkte Vertrauen schenken. Radikal ist der Wechsel seiner Gesinnung: »Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Thor«. Mit einem Ausspruch von Fénelon, der die Moral des Gesamtwerks zum Ausdruck bringt und sinngemäß auch schon im Allwill zur Geltung kam,74 beschließt Jacobi seinen Roman: »Vertrauet der Liebe. Sie nimmt alles; aber sie giebt alles«75 (S. 482) [1796, II, S. 300].

3 Bürgerliche Gesellschaft, innerliche Sittlichkeit und die Frage nach der Bestimmung des Menschen Woldemar kommt es auf die Unterscheidung zwischen äußerlicher und innerlicher Sittlichkeit an. Am Ende des Waldgesprächs beurteilt er das »äußerlich sittliche Verhalten« als Neigung zum Opportunismus, als ein bloß aus Not und Verträglichkeit angenommenes Befolgen der Regeln der Mode. In Wahrheit werde dadurch dem || 74 Vgl. Sylli an Amalia. In: Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 1, Nr. XIX, S. 175. 75 Später bedauerte Jacobi, dass er dieses Zitat nicht gemäß seiner ursprünglichen Absicht in einer separaten Vorrede erläutert und gerechtfertigt habe (siehe Jacobi an Wilhelm von Humboldt, 2. September 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel [s. Anm. 10], Bd. 2, Nr. 234, S. 177f.).

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Sittlichen (der freiwilligen Tugend) nicht zum Sieg verholfen, die Menschen blieben trotzdem eigensüchtig, gewalttätig und »von Herzen lasterhaft«. Um des persönlichen Vorteils willen werde die »Brutalität in Freyheit« gesetzt.76 Die gewissenhafte Geschäftigkeit des bürgerlichen Alltagslebens erregt allen Anstoß Woldemars und ist in seinen Augen an sich schon sittengefährdend. Sie blockiere alle echten gesellschaftlichen Bindungen und entfremde das Individuum von sich selbst: »Die Seele ermattet unter endlosen kleinen Bestrebungen, unter endlosen kleinen Widerwärtigkeiten; wird so lange gezerrt und getrillt, bis alles mit ihr herumläuft und sie von sich selbst nichts mehr weiß« (S. 44f.) [1796, S. 51]. Was macht also das Freundschaftsband in einer menschlichen Gesellschaft (S. 43) aus? Sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen auseinandersetzen erfordert eine »gründliche Theilnehmung« und nicht bloß eine äußere Zusammenkunft (ebd.). Darum ist der propagierte Rückzug aus diesem äußeren Leben, die Selbstbestimmung des Einzelnen in der Einsamkeit, auch ein Akt des Widerstandes des eigenen Herzens gegen den Zwang jeder von außen gesetzten Regel. Die stark ausgeprägten »natürlichen und ewigen« Gesetze im Inneren des Menschen stoßen sich an den »zufälligen mechanischen Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft«. Das »sittliche Gefühl« kann einen Zustand der Sensibilität und höchsten Vollkommenheit erreichen, der das Individuum gewissermaßen außerstande setzt, Mitglied der bürgerlichen Ordnung zu werden.77 Nicht die sich auf die Sittlichkeit beziehende »Positivität« von Vernunft und Religion, d. i. die bürgerlichen Staatsgesetze, treibt den Menschen zu sittlichem Verhalten an, sondern »was gut ist, sagt dem Menschen unmittelbar und allein sein Herz« (S. 115f.) [1796, S. 134f.]. Die direkte Entscheidung des Gewissens zugunsten der Tugend und gegen das alleinige Streben nach staatlicher Wohlfahrt oder individueller Glückseligkeit ist das Gesetz der menschlichen Natur, das als Tatsache in seinem Willen selbst schon angelegt sein soll, ein unbezweifelbares »unmittelbares Wissen«, das nicht erst durch den reflektierenden Verstand erschlossen werden müsse (S. 122f.) [1796, S. 143f.]. Es beruht auf dem cartesianischen »Ich bin!«, einem Satz, der keines Beweises mehr bedürfe. Nach Woldemar hat der Mensch seine Pflichten dann erfüllt, »wenn er nur beständig, einig mit sich selbst, sich selbst gefallen kann« und »Handlungen, die nicht aus dem Gefühl der Pflicht unmittelbar und freywillig hervorgehen, die nicht auf dies Gefühl allein sich gründen, sind keine wahrhaft gute und tugendhafte Handlungen«. Das menschliche Gewissen ist und bleibt »die einzige Quelle der Moral, der Ursprung aller Rechte« – Damit erteilt Woldemar allem systematischen Anspruch auf eine Begründung durch eine universelle, dem Menschen übergeordnete Vernunft eine deutliche Absage (S. 123): »Alles abso-

|| 76 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 216f. [1796, S. 256f.]. 77 So interpretiere ich Woldemars Zustimmung zu dem Zitat von Hemsterhuis (S. 112 [1796, I, S. 130f.].

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lut Erste und Letzte liegt außer ihrem Gebiet« (S. 124). An die Stelle der Vernunft rückt »ein Trieb unerzeugter Natur in uns« (»etwas in der Seele tief verborgenes Ursprüngliches«), das uns mitteilt, dass wir göttlicher Natur sind (S. 124). »Freyheit, eigenes Urtheil, Selbstbestimmung ist der Charakter des Menschen« (S. 87f.) [1796, I, S. 100f.]. Jacobi hielt sogar die Behauptung (Lessings) für zutreffend, »die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden«, und er fügte hinzu: »Die Menschen werden erst dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen«.78 Dorenburg drückt im Roman diesen Sachverhalt auf nicht weniger drastische Weise aus: Mir verschwindet alle Idee von Sittlichkeit, wenn ich Gesetz, herrschende Meinung, irgendeine Buchstabenart, als etwas ansehen will, das über Vernunft und Gewissen herrschen, folglich sie aufheben, sie zerstören soll. (Dorenburgs Rede, S. 429) [1796, II, S. 233] (vgl. S. 115)

Es ist also die Alleinherrschaft von Gewissen und Vernunft (als dessen Mittel), die sicherstellen soll, dass wahre Sittlichkeit sich im Leben der Menschen etabliert. »Heroische Handlungen«, »Heldenleben«, die bloß äußerliche Merkmale des Handelns kennzeichnen, werden als das Wesen der Vergänglichkeit, des »in äußerliches Leben eingekleideten Todes«, gebrandmarkt. Die äußerlichen Formen »schränken das Leben ein, verzehren es, vertilgen es zuletzt, und gehen mit ihm unter« (S. 426f.). Dennoch wird nicht jede Form des Heldentums schlechthin negiert. Die wahren Heldengeister, »Menschen, die ein inneres Freyheitsgefühl Göttlich über ihr Zeitalter erhebt«, seien die neuen Heroen, durch die »das Leben der Sittlichkeit immer wieder neu geboren« werde (S. 425–427) [1796, II, S. 229f.]. In ähnlicher Weise hielt auch Friedrich Schlegel – bei aller sachlichen Differenz zu Jacobi – an diesem Punkt der Innerlichkeit und der Absage an den heroischen Freundschaftskult fest. Auch er bestimmte die Freundschaft als »rein geistige Liebe«, zu der nur fähig sei, »wer in sich ganz ruhig wurde und in Demut die Göttlichkeit des andern zu ehren weiß«.79 Woldemars uneingeschränktes Vertrauen auf die eigene Innerlichkeit geht so weit, dass er die Heilung aller Übel der Welt in die Verfolgung der Zwecke legt, die wirkliche Freude bereiten. Es komme dabei nur darauf an, »recht zu wissen«, was man wolle. Aber die wirklichen Handlungen der Menschen – so stellt Woldemar als Zeitdiagnose betrübt fest – liefen diesem Willen noch zuwider; »Dumpfheit des Gefühls, Verworrenheit des Herzens« sei die »allgemeine Krankheit«.80

|| 78 Jacobi an Elise Reimarus, 15. März 1781. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, S. 320. 79 Friedrich Schlegel: Lucinde (Kritische Ausgabe [s. Anm. 43], Bd. 1.5), »Julius an Antonio«, II, S. 86. 80 Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 47 [1796, I, S. 53]; vgl. S. 53f. [1796, I, S. 61].

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Woldemars Gesinnung (Denkungsart), insbesondere in Beziehung auf Ethik und Gesellschaft, hat ihren erbitterten Widerpart an der Einstellung des alten Hornich (und seines Freundes, des Probstes Alkam), der an den überlieferten Vorstellungen der Aufklärung hartnäckig festhält: Nicht ein gutes Herz, nicht die Einbildungskraft, sondern tägliche Erfahrung und reine Vernunft allein, d. i. der »schlichte gesunde Menschenverstand, den Alle haben«, lehren, »was zum eigenen und des Mitmenschen wahren Besten diene«. Man müsse sich in allen Fällen an den Sittengesetzen und der öffentlichen Meinung orientieren (S. 38f.) [1796, I, S. 43f.], (S. 89–91) [1796, I, S. 102–105], (S. 102f.) [1796, I, S. 119f.]. Anders als Woldemar behauptet Hornich, unterstützt von Propst Alkam, die Variabilität der Moral nach den Erfordernissen der Zeit. Der vortreffliche Mann dürfe keine unverrückbaren Grundsätze haben (S. 86) [1796, I, S. 99]. Auch im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft wird die innerste Subjektivität zum alleinigen Organisationsprinzip erhoben. Damit wird zwar zum einen eine Abstraktion von objektiven Verhältnissen vorgenommen, zum anderen aber beinhaltet das Sich-zurückziehen »in die älteste lauterste Form der Menschheit« (S. 172) [1796, S. 202], in der die Seele ihre Ruhe finden soll, eine Kritik der Gesellschaft, insofern nämlich ihre Lebensform ganz bewusst negiert wird. An die Stelle bürgerlicher Gesetze und Moralvorschriften soll allein die Form des inneren Lebens, d. i. die unbedingte Geltung des eigenen Gewissens, treten; denn das Individuum könne seinen »freien Willen« nur dann verwirklichen, und es könne nur dann »zum höchsten Genusse der Menschheit gelangen«, wenn es sich in einem Zustand absoluter Autonomie befinde (S. 171f.) [1796, I, S. 202]. Genau bei dieser Forderung hat die Gesellschaftskritik Jacobis, verkündet durch seine Moralhelden, aber auch ihre Grenze. Sie negiert nämlich nur diejenige Form der bürgerlichen Gesellschaft, die als ein ihr bloß äußerliches Phänomen ebenso abstrakt wie zufällig bleibt und ihr Wesen gar nicht berührt. An die Stelle der negierten Ordnung tritt ein Prinzip der absoluten Individuation und Privation, demzufolge die individuelle Lebenslage allein nach den subjektiven Wünschen des Einzelnen ausgerichtet sein muss (S. 171) [1796, I, S. 202]. »Zuverlässig ist allemal das Beste für uns und unsere Freunde, Anverwandten, Mitbürger, Genossen, ja für das gesammte Universum: – daß ein jeder thue sein eigenes Werk, gehe seinen eigenen Weg, besorge sein eigenes liebstes Glück« (S. 53) [1796, I, S. 60]. Ferguson, der Gewährsmann, auf den sich Jacobi gern beruft,81 hatte doch – bei Lichte besehen – ein anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen bürgerlicher || 81 Adam Ferguson ist als Repräsentant des 18. Jahrhunderts der Lieblingsphilosoph Woldemars und dazu die Basis seiner philosophischen Verbrüderung mit Sidney, dem Philosophen aus Edinburgh, einem »Jünger« Fergusons (vgl. S. 68f. [1796, S. 78f.]). Fergusons Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, in dem die »erhabensten Grundsätze« aufgestellt worden und Helvétius und Rousseau überwunden worden seien, hat nach Woldemars eigener Auskunft Epoche in seinem Leben gemacht (vgl. S. 69–72 [1796, I, S. 79–83]). Vgl. Jacobis Urteil über Ferguson in seinem

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Freiheit und Sittlichkeit. Die Sittlichkeit des Menschen war nämlich bei ihm als Zustand bloßer Innerlichkeit nicht denkbar, sondern sie war an die äußere Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft notwendig gebunden. Auf die Erhaltung der »edelsten Empfindungen seines Herzens« hatte die Form der Vergesellschaftung maßgeblichen Einfluss.82 Die Freiheit der Person bestand nach der Auffassung von Ferguson in dem gesetzlich verbrieften Recht auf Eigentum.83 Ferguson ging, wie vor ihm bereits Rousseau, sogar so weit, in die Verfassung Rechtsgarantien zur Verwirklichung der höchsten Tugend, d. i. der Gerechtigkeit, einzubauen, indem er die Abschaffung der Erbfolge, die Beschränkung des Wachstums an Privatvermögen empfahl oder auch eine Neuverteilung des Eigentums forderte, um auf diese Weise die Anhäufung und Konzentration des Besitztums in den Händen weniger zu unterbinden.84 Per Gesetz wollte er der Befriedigung der Eitelkeit zuvorkommen, die Prahlerei hemmen und das Verlangen nach Reichtum schwächen.85 Für die Sittenverderbnis in gewissen Staaten machte er in erster Linie die ungleiche Verteilung des Eigentums verantwortlich.86 Jacobis Auffassung vom Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist »aus der Erkenntniß des Innersten des Menschen selbst gezogen«.87 Das Innere des Menschen und nicht äußere Gesetze geben auch hier die Orientierungspunkte und Verhaltensmaßregeln. Jacobi machte zur Ausführung dieses Gedankens (im Gegensatz zur Romankonzeption des Woldemar) Gebrauch von einem positiven Vernunftbegriff. Die Vernunft, die »Quelle der Menschheit«,88 »das eigentliche wahre Leben unserer Natur«, »des Geistes Seele«,89 sei die einzige Basis der bürgerlichen Vereinigung.90 »Eine bürgerliche Gesellschaft ist eine menschliche Gesellschaft, und keine thierische; eine Anstalt der Vernunft, und nicht der Leidenschaften«.91 Alle Zwietracht und alle Laster können demnach nur von den Leidenschaften ausgehen.92 Vernünftiges Handeln hingegen löse alle Antagonismen auf: »ein Jeder,

|| Brief an Wieland, 17. Juni 1771. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 1, S. 45; vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat. In: Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3], Bd. 2, S. 353ff., S. 361f.; über die Verwendung der Werke Fergusons im Woldemar vgl. Jacobi an Friedrich Jacobs, 27. März 1811. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, S. 423f. 82 Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Aus dem Englischen übersetzt. Leipzig 1768, S. 78. 83 Ebd., 3. Teil, 6. Abschnitt (»Von bürgerlicher Freiheit«), S. 241ff. 84 Ebd., S. 24ff. 85 Ebd., S. 243. 86 Ebd., S. 244 und S. 247. 87 Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 81), S. 339. 88 Ebd., S. 339. 89 Ebd., S. 345. 90 Ebd., S. 341. 91 Ebd., S. 340. 92 Ebd., S. 345.

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indem er sein eigenes wahres Beste befördert, befördert nothwendig das wahre Beste auch aller andern, und ist mit Liebe gegen sie erfüllt«.93 Durch die Vernunft allein werde der Mensch dorthin geleitet, »wo sich das Beste Aller und das Beste eines Jeden unwidersprechlich« vereinigen.94 Wenn Woldemar demgegenüber seine Auffassung von pflichtgemäßem Handeln allein auf das Gefühl gründet, so liegt darin nicht notwendig ein Widerspruch zum Vernunftgebot: Der Mensch verändert nicht seine Grundsätze, sondern wohl nur sein Verhalten nach diesen Grundsätzen, wie es Zeit und Umstände von ihm fordern; allerdings schreibt er seine Pflichten, nach eigenem Gutfinden, sich selbst vor, und muß oft, indem er immer nur dasselbe will, im äußerlichen von sich selbst verschieden scheinen; allerdings hat er alles gethan, was er soll, wenn er nur beständig, einig mit sich selbst, sich selbst gefallen kann. Handlungen, die nicht aus dem Gefühl der Pflicht unmittelbar und freywillig hervorgehen, die nicht auf dies Gefühl allein sich gründen, sind keine wahrhafte pflichtmäßige, keine wahrhaft gute und tugendhafte Handlungen. (S. 86f.)

Dieses Gefühl ist das Gewissen, von dem Woldemar behauptet, es sei »die einzige Quelle der Moral, der Ursprung aller Rechte« (S. 87). Die Vernunft kann sich insofern nur in äußerlichen und mannigfaltigen Formen und Institutionen niederschlagen. Sie ist zwar notwendig, aber bloß sekundäre Quelle und Instrument des Gefühls. Wenn Jacobi also in Bezug auf das moralische Handeln aus Pflicht redet und dabei von Vernunft spricht, ist die Vernunft des Gefühls damit gemeint. Das bedeutet zugleich, dass Moralität als ein der Gesellschaft immanentes Prinzip angelegt ist. Aller Tugendauffassung liegt demnach (Aristoteles darin folgend) eine Trieblehre des Herzens zugrunde,95 allerdings einer natürlichen (wilden) Triebhaftigkeit, die zugleich die menschliche Freiheit und Selbstbestimmung ausmacht. Das ist der Kern von Jacobis Bestimmung des Menschen, wie sie der Roman vermitteln soll: »Freyheit, eigenes Urtheil, Selbstbestimmung ist der Charakter des Menschen« (S. 88). Die Vernunft ist dem Menschen nicht übergeordnet. Sie erzeugt nicht das Wahre im Menschen (S. 123), ist nicht Selbstzweck sondern nur Mittel zum Zweck: […] jedesmal wenn die Vernunft solche Wahrheiten als Vordersätze zu ihren Schlüssen nimmt, so nimmt sie nicht was sie hervorgebracht. Alles absolut Erste und Letzte liegt außer ihrem Gebiet. Ihre ganze eigenthümliche Geschäftigkeit ist eine bloß vermittelnde Geschäftigkeit für Sinn, Verstand und Herz, deren gemeinschaftliche Oekonomie sie zu verwalten hat. (S. 124)

Bei dieser abstrakten Beschreibung bürgerlicher Verhältnisse, die wesentliche inhaltliche Bestimmungen des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen äußeren

|| 93 Ebd. 94 Ebd., S. 343. 95 Vgl. dazu u. a. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 124 und S. 180.

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Vernunftgesetzen und inneren Willensbestimmungen der einzelnen Mitglieder nicht berücksichtigt, sondern vielmehr die Beförderung des allgemeinen Wohls der Menschheit in letzter Konsequenz dem subjektiven Glauben und Fürwahrhalten jedes einzelnen Gesellschaftsmitgliedes, seinen individuellen und besonderen Zwecken überlässt, führt, wie die klassischen Rechtstheorien zur Genüge gezeigt haben, im Gegenteil in einen Zustand absoluter, d. h. allseitiger Ungleichheit und Unfreiheit. Jacobis Ideal der bürgerlichen Gesellschaft als einer göttlichen Lebensordnung enthält die Vorstellung von einer auf Zwangsfreiheit beruhenden urwüchsigen Gesellschaft, in welcher alle förmliche Gesetzgebung eigentlich erübrigt werden könnte.96 Einen solchen Gottesstaat, in dem der Einzelne absolut unabhängig und frei wäre, wollte Jacobi aber für die menschliche, endlich beschränkte Gesellschaft dann doch auch wieder nicht wirklich gelten lassen.97 Er hielt ihn, um die göttliche Vollkommenheit ja nur nicht einzuschränken, nicht einmal für wünschenswert.98 Also betrachtete er auch die äußerliche Form, Gesetze und Zwangsmittel des Staates zur Sicherung des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft als notwendig.99 Aber man weiß nun nicht mehr so recht, wozu nach seiner Auffassung diese Sicherung eigentlich noch notwendig sein soll, da doch die innerliche Sittlichkeit allein den Grund und das Vermögen der menschlichen Gesellschaft ausmachen sollte. Denn dies gilt doch für Jacobi nach wie vor, dass äußerer Zwang nur einen negativen Zweck, d. i. die Verhinderung des Bösen, habe, aber niemals das Gute an sich bewirken könne.100 Das Vermögen des Menschen, seine eigensüchtigen Interessen zugunsten der ganzen Menschheit zurückzustellen, seine Leidenschaften durch die innerliche Sittlichkeit zu mäßigen,101 (um damit einen Zustand zu erreichen, den Aristoteles Selbstgenügsamkeit nennt) wird hier als für eine vollkommene und gerechte Gesellschaft allein maßgebend und hinreichend erachtet.102 Die moralische Freiheit und die politische Freiheit (»frey – nach seiner Art im allerhöchsten Grade – ist ein jeder Mensch und jeder Bürger, in so ferne er nur nicht gehindert wird seinen wahren Vortheil auf alle Weise nach Vermögen zu befördern«103) »sind in der vernünftigen Natur des Menschen einzig und allein gegründet«.104 Politische Gesetze, sofern sie noch erforderlich sind, können nur aus der innerlichen Beschaffenheit, d. i. der

|| 96 Jacobi: Etwas, das Lessing gesagt hat (s. Anm. 81), S. 346f. 97 Ebd., S. 364. 98 Ebd., S. 387f. 99 Ebd., S. 373. 100 Ebd., S. 373. 101 Ebd., S. 366. 102 Ebd., S. 353. 103 Ebd., S. 364. 104 Ebd., S. 365.

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Tugend, entspringen, an sich aber sind sie nach Jacobi bloße Äußerlichkeiten und als solche Ausdruck des Despotismus.105 Die skizzierte Gesellschaftstheorie, die aus den im Roman entwickelten Reflexionen hervorgeht, ist Bestandteil der Bestimmung des Menschen und insofern der jacobischen Anthropologie. Im Rahmen des philosophischen Gastmahls in Hornichs Haus hält Woldemar, unterstützt von Sidney, eine Opponentenrede gegen die Position des alten Hornich und dessen Freund Alkam in Bezug auf die Tugendfrage. Gemäß dieser Position ist die Frage nach Tugend, »ihrem Herkommen, und was sie gewähre und verlange« (S. 90) nicht durch die Orientierung des Lebens und der Bedürfnisse der Zeit an antiken Vorbildern des Guten und Schönen angemessen zu beantworten, da deren Ideen verworren und phantastisch seien. Tugend könne nur durch deutliche Begriffe, frei von Gefühl und Phantasie gelehrt werden, während das Herz in dieser Hinsicht unzuverlässig und sogar des Menschen unwürdig sei (S. 91). Nur allein durch Vernunft kann und soll sich der Mensch bestimmen. Das Gewissen sei demzufolge nichts Ursprüngliches, sondern werde erst durch Gebote und Verbote gemacht. Wäre das nicht so, würden die Menschen einander auffressen. Auf einen Punkt zugespitzt folgt aus Hornichs Morallehre der Standpunkt einer unbedingten Eigensucht: »Von Natur sucht der Mensch überall und in allen Dingen nur sich selbst« (S. 103). Dagegen ist für Woldemar ein Verhalten suspekt, das nur um des Genusses willen Gutes tut, aber an keine Tugend glaubt (S. 93).106 Es fehlt an Geist, der das bewegende und belebende Element der Tugend ist. Was ist also, so lautet die an Woldemar gerichtete Frage, überhaupt die »Bestimmung des Menschen?« Sie ist synonym mit der Frage, was »die wahre, erste und letzte, Absicht der bürgerlichen Gesellschaft« sei (S. 93). Auf diese teleologisch gefärbte Frage antwortet Woldemar zunächst kurz und bündig: der Zweck des Menschen, d. i. seine Bestimmung, ist »Gottes Ehre« (S. 94). Das ist durchaus nicht im theologischen Sinne zu verstehen, obwohl Sidney den Einwurf macht, Woldemar predige »wie ein Bischof«, wenn auch wie der Bischof von Durham, Joseph Butler (ein Vorläufer Fergusons)107 (S. 95). Für Woldemar bedeutet diese Zweckbestimmung vielmehr, dass Gott als ein un-

|| 105 Ebd., S. 370. 106 Woldemars Gegenposition ist nachzulesen in Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 93–96, S. 216f., S. 389f., S. 447, S. 450 und S. 451. 107 Wie Sidney erläutert, ist Butler »der erste unter den neuern Moralisten, der das Vermögen des Menschen, eigne und fremde Handlungen, innerlich und in sich selbst betrachtet, ohne Rücksicht auf ihre äußerlichen Wirkungen, auf ihre wohlthätigen oder verderblichen Folgen, zu billigen oder zu mißbilligen, wieder ganz ins Licht gestellt, und den Beweis erneuert hat, daß in diesem Vermögen der wahre Charakter der Menschheit besteht« (ebd., S. 95f.). Vgl. die Zitate aus Butlers Werk ebd., S. 97–100 (Joseph Butler: Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Laufe der Natur. Aus dem Englischen übersetzt. Leipzig 1756).

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sichtbarer Geist in unserem innersten Wesen (dem Gewissen) nach seinem eigenen Gesetz regiert, das sich zur Liebe gesellt, und zwar zu einer Liebe, die selbstgenügsam ist. Die Selbstgenügsamkeit als Merkmal der Glückseligkeit ist erneut ein aristotelisches Motiv, das aber an anderer Stelle insofern auch kritisiert wird, als es eine für den Menschen unerreichbare göttliche Qualität habe. Den »wahre[n] Charakter der Menschheit« entdeckt man folglich, wie Sidney unter Berufung auf Joseph Butler ausführt, nicht an den Wirkungen (Folgen) menschlicher Taten, sondern am Vermögen des Menschen, »eigene und fremde Handlungen, innerlich und in sich selbst betrachtet« moralisch zu billigen oder zu missbilligen (S. 96). Daran erinnert zu haben, sei das Verdienst Butlers. Gemessen an einer kritischen Zeitdiagnose (S. 216) bezieht sich Woldemar auf einen sittlichen Trieb im Menschen, der auf das Ganze der Menschheit abziele; er sei »die wahre eigentliche Menschenenergie; Gott im Menschen«. Dessen Gegenstand sei »reine Tugend, Tugend als Zweck an sich« (S. 217; s. folgendes Kap.). Diese Überzeugung hat ihr Pendant in Henriettes Glauben. Im Kreis ihrer Schwestern ruft sie dazu auf, »diese[n] verstockten Männer[n]« zu zeigen, »daß Etwas im Menschen ist, was er nicht aufzuopfern vermag«, »eine wunderbare Kraft in uns«, allen seelischen Schmerz zu ertragen (S. 389): Wir fühlen, daß wir diesem Wesen in uns mehr als uns selbst zugehören – und fühlen auch wieder, daß eben dieses Wesen unser eigenstes, innerstes Wesen ist. (S. 389f.)

Dieses innerste Wesen ist das, was weiter oben als das Andere bezeichnet wurde, über das sich das Selbst eines Menschen bestimmt. Henriette erfährt dieses Andere »in einem Wesen, das man über alles liebt; aus welchem man sein bestes Daseyn – alles Daseyn nimmt; ohne welches man nicht leben möchte – nicht leben könnte« (S. 390). Dieses Wesen ist eben Woldemar, ihr vergötterter Freund. Man kann die Urkraft oder den Trieb der Seele, die Tugend, zu der sie treibt, und die Freiheit in eins setzen. Dann macht die Freiheit die Grundbestimmung (das Wesen) des Menschen aus. Henriette stimmt einer Auslegung Dorenburgs ohne Vorbehalt zu, wenn dieser die »Freyheit der Seele« die ihr »eigenthümliche Kraft« nennt (S. 447). Sie ist das A und O der Tugend, wie Henriette sehr deutlich zum Ausdruck bringt: Freyheit ist der Tugend Wurzel; und Freyheit ist der Tugend Frucht. Sie ist die reine Liebe des Guten, und die Allmacht dieser Liebe. Ein hohes Wesen! Wie die Gottheit verborgen – und zudringlich, wie die Gottheit! Denn allein durch Freyheit fühlt sich der Mensch als Mensch; durch sie allein ist Selbstachtung und Zuversicht, Wort und Glaube, Friede, Freundschaft, feste Treue möglich, worauf unter Menschen alles beruht. (S. 447f.)

Einen anderen Ausdruck für das Tugendhafte im Menschen verwendet Woldemar in dem losen Blatt, welches von Henriette vorgelesen wird. Das Göttliche oder Gottähnliche im Menschen, die Kraftäußerung, ist eine Tätigkeit, die man Glückseligkeit

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nennt. Sie ist das höchste Gut, der eigentümliche Zweck des menschlichen Daseins. Das ist Aristoteles in nuce, aus der Hand von Woldemar. Dazu gibt er die folgenden Erläuterungen: 1) muss sie »aus der Natur [d. i. aus der Kraft oder dem Trieb, WE] des Wesens, das zu ihr gelangen soll, hervorgehen« (S. 450). Denn nur dann ist Freiheit mit ihr verbunden. 2) »Erwerb und Genuß der Glückseligkeit ist allein durch Tugend möglich« (ebd.). Denn Tugend kann man (nach Aristoteles) nur durch eigenes Bemühen erwerben. 3) »ihr Begriff ist der Begriff der Vollkommenheit des Menschen: sie ist Vollendung« (S. 450f.). Denn als höchste aller Tugenden muss sie ihren letzten Zweck in sich selbst haben, absolut unbedingt sein. 4) Sie ist »göttliches Leben«. Denn sie ist geistiger Natur, und der Geist im Menschen ist es, der »eigentlich allein den Menschen ausmacht« (S. 451). Demzufolge sollen wir auch »gegen das Sterbliche ankämpfen, und alles thun, um dem, was das edelste in uns ist, gemäß zu leben« (ebd.). Eben deswegen ordnet Jacobi den Trieb der Vernunft über: Nur ein Trieb in uns, der unerzeugt und ursprünglich ist, und nicht die Vernunft, vermag uns den Weg zum höchsten Gut zu ebnen (S. 124; vgl. S. 436f.). Es existiert ein menschlicher Grundtrieb, durch den der Mensch die Bestimmung seines Daseins fühlt (S. 79f.). An zentralen Stellen des Romans (in den späteren Fassungen) werden Grundgedanken aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles paraphrasiert, zitiert und diskutiert (u. a. S. 76–80, S. 420–423, S. 433–442). Sie dienen dem Autor nicht bloß als Material für den Grundriss einer Tugendlehre, die die Zustimmung Henriettes, Woldemars, Biderthals und Dorenburgs findet, sondern sind untrennbar mit dem Ideal der Freundschaft und der Bestimmung des Menschen verbunden und damit das Fundament des Romans schlechthin.108 Woldemar bekennt sich während der Gastmahl-Unterhaltung in Hornichs Haus gemeinsam mit Sidney emphatisch zur aristotelischen Tugendlehre, von der er insbesondere den Gedanken lobt, Tugend aus einem menschlichen Grundtrieb herzuleiten (S. 76–79). Es war Dorenburg, der im Gespräch mit Biderthal und Henriette (über Woldemars Tugendauffassung als freier Kunst) auf Übereinstimmungen mit dem »systematische[n] Aristoteles« deutete (S. 420)109 und Aristoteles als Vermittler

|| 108 Im Rahmen dieses Beitrages ist es leider nicht möglich, auch nur den wichtigsten Bezugnahmen auf den Originaltext der Nikomachischen Ethik nachzugehen, um ihre Authentizität zu überprüfen bzw. mögliche Divergenzen festzustellen. Insbesondere konnten keine Referenzstellen zu den Zitaten auf den Seiten 436–442 in Band 5 der Werke ermittelt werden. Es ist auch unklar, wo die anschließende Paraphrase im Text genau endet. Das Thema des Aristotelismus in Jacobis Woldemar muss einer speziellen Untersuchung vorbehalten bleiben. 109 In diesem Rekurs wird auf die nähere Quelle des Aristoteles-Studiums sowohl von Woldemar als auch von Dorenburg hingewiesen. Es handelt sich um die italienische Übersetzung der Ethik von Bernardo Segni (L’Ethica d’Aristotile tradotta in lingua volgare florentina et comentata. Florenz 1550). Ich konnte bisher nicht klären, warum diese Übersetzung bevorzugt wurde und wie sie sich zu den deutschen Zitaten im Text verhält.

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(»Mittelsmann«) in der Auseinandersetzung mit Woldemar ins Spiel brachte (S. 433). In den darauf folgenden Zitaten sind m. E. die folgenden Aspekte von größter Bedeutung für die Romankonzeption. Sie ergeben sich direkt aus Zitaten oder indirekt aus versteckten Bezugnahmen: 1) Tugend (ethische Tugend) ist eine durch den Menschen selbst, durch sein Tun und Verhalten erworbene Fähigkeit (vgl. S. 434f.).110 Begriffe und Regeln der Moral folgen erst aus der Ausübung dieser Tätigkeit. Alles Wahre und Gute, das das menschliche Leben auszeichnet, ist daher an nichts anderem zu messen und zu prüfen »als am Menschen« (S. 421). Im wahrsten Sinne des Wortes ist er darin frei und selbstbestimmend.111 Eben deswegen kommt es im Roman allein darauf an, wie Henriette und Woldemar, das Freundesgespann, miteinander umgehen. Wenig ist dagegen von den Tugendlehren Biderthals oder Dorenburgs zu erwarten. Denn sie betreffen eben nur das, was Aristoteles dianoietische (oder Verstandes-) Tugenden nennt.112 2) Alle Tugend hat damit ihren Ursprung (»Erste Quelle«) in sich selbst, d. h. in einem (vorbegrifflichen) »unmittelbaren Trieb« (S. 422) (Trieb, Streben, Appetit: ὂrexis). 3) Von der Natur verliehen (angeboren) sind allein die individuell verschiedenen Charakterdispositionen der Seele, die den mehr oder minder ausgeprägten Grad der Vollkommenheit des Triebes zur Tugend bestimmen (S. 422f. u. S. 435f.).113 4) Insbesondere ist es die Anlage zur Freundschaft, die im Menschen Bedingung der Entstehung aller Tugenden ist. Sie gilt auch für die politische Gemeinschaft, den Staat und das Verhältnis unter Staaten. Denn erst darauf beruht das, was Gerechtigkeit (Recht) ist (S. 433f.).114 5) Was Tugend ist, ist also nicht naturgegeben oder vorherbestimmt, hängt aber von der Natur des Menschen ab (S. 434f.).

|| 110 Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olaf Gigon, neu hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf 22007 (im Folgenden NE), II. Buch, 1. Kap., 1103a–1103b. 111 So heißt es bei Aristoteles an einschlägiger Stelle: »Das Handeln ist […] Zweck an sich. Denn das rechte Handeln ist ein Ziel, und das Streben geht darauf. So ist denn die Willensentscheidung entweder strebende Vernunft oder vernünftiges Streben, und das Prinzip von beiden ist der Mensch« (NE, VI. Buch, 2. Kap., 1139b). 112 Vgl. NE, I. Buch, 13. Kap., II. Buch, 1. Kap. (1103a); VI. Buch. 113 Vgl. NE, II. Buch, 1. Kap. Interessant (z. B. vor dem Hintergrund von Jacobis Spinoza-Kritik), aber hier nur am Rande erwähnt, scheint mir der von Dorenburg nachgelieferte Kommentar zu sein, dass in Hinsicht auf die Frage des Menschen »Gott und Natur« gleichwertig seien (eine Einheit bilden): »Denn beyde, Gott und Natur, sofern sie etwas für den Menschen sind, müssen ja im Menschen – müssen sein eigener Begriff, seine eigene Empfindung seyn« (Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3], Bd. 5, S. 423). 114 So ist derjenige, der der Tugend gemäß handelt, Freund der Tugend (NE, I. Buch, 9. Kap., 1099a). Da er aber zugleich in einer menschlichen Gemeinschaft lebt, bedarf er zur Verwirklichung seiner Tugendhaltung auch eines Anderen als seines Freundes (vgl. NE, Buch VIII, Buch IX).

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6) (Ohne nachgewiesenen Quellenbezug bei Aristoteles) Der eigentümlich menschliche Trieb (der Trieb zum Guten) des Menschen strebt danach, sein zweideutiges Wesen in einer Einheit und Vollendung aufzuheben, sein Leben als Einheit und Zweck, den Zweck an sich als sein höchstes Gut zu verwirklichen (S. 438). Die für den Roman wichtigste Konsequenz, die Dorenburg aus der AristotelesExegese gewinnt, besteht darin, dass wahre Freundschaft Tugend als ein göttliches Vermögen voraussetzt und beide sich auf eine natürliche Anlage im Menschen gründen, nämlich auf die Fähigkeit »zu uneigennütziger, freyer, unmittelbarer, und darum unveränderlicher Liebe« (S. 444). Auf den erklärten Zweck des Romans als eines Ganzen bezogen, bedeutet ›Menschheit wie sie ist, zur Darstellung zu bringen‹, auf der Basis der aristotelischen Ethik: sie nicht als etwas Naturgegebenes, Fertiges hinzustellen, sondern auf der Grundlage natürlicher Charakteranlagen zu zeigen, wie sie sich durch die freien Tugendhandlungen – am Beispiel der Romanhelden – selbst als tugendhaft bestimmt, m. a. W. wie der Mensch im Kontext des sozialen Lebens ein freier Mensch wird.

4 Das Waldgespräch Das Waldgespräch ist im Wesentlichen ein Gespräch über Tugend. Schon für das Deutsche Museum 1779 ausgearbeitet, durchzieht es im Roman in der Fassung von 1796 die Seiten 168 bis 260 (Werke V, S. 143–218). Beteiligt an dem Gespräch während eines verabredeten Spaziergangs sind Woldemar, dessen Bruder Biderthal, Dorenburg und die drei Schwestern Henriette, Caroline und Luise. Der Schauplatz ist Woldemar vertraut. Denn er hat darin einen bekannten »Lieblingsplatz« (S. 144). Der Wald scheint sich auf dem Gelände des dorenburgschen Landgutes zu befinden, als Verlängerung des an das Gutshaus angrenzenden Gartens, der gerodet werden soll (s. die Beschreibung S. 142f.). Man kann fragen, weshalb der Autor den Schauplatz in den Wald verlegt hat. Einen Hinweis auf die mögliche Antwort bietet die Vorrede Jacobis (S. XVII–XX), in der eine Fabel Herders zitiert wird. Darin erscheint der »einsame Wald« als von der Stimme der Echo, der verwandelten und unsichtbar gewordenen Göttin Harmonia belebt (»durchdrungen«) (S. XIX). Ihr Widerhall hält das Dasein aller Wesen zusammen; er wiederholt die Herzenstöne der Wesen, die sie als Mutter der Natur einmal geschaffen hat. D. h. sie ist als der unsichtbare Geist auf dem Waldspaziergang (und nicht nur dort, sondern überall) als das belebende Element allgegenwärtig, führt mit allen unmerklich ein Gespräch, oder anders formuliert, sie vermittelt die Gespräche der Spaziergänger, indem sie die Gedanken und Gefühle der Teilnehmer im Sinne des Geistes zur Übereinstimmung bringt: »Sie spricht aus jedem Geschöpf, aus jedem brüderlichen Wesen den Laut des Schmerzes und der Freude

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mit dem Gleichlaut einer harmonischen Saite« (S. XIX). Sie beseelt also alle Wesen der Natur gleichermaßen und ermöglicht deren Kommunikation untereinander. Die Landschaft mit zahlreichen Eingängen des Waldes, die die Spaziergänger passieren, wird beschrieben als ein abwechselndes Panorama von Tälern und Höhen, umgrenzt von Baumbewuchs, üppig ausstaffiert mit tierischem und menschlichem Leben und ihren Behausungen (S. 143f.). Die Gespräche drehen sich um verschiedene Themen, die teilweise jedoch belanglos sind und hier keiner näheren Betrachtung bedürfen: 1) Natur und Kunst. Nachahmung der Natur ist aus Woldemars Sicht sinnlos, so sinnlos wie der Gartenbau, wenn er danach strebt, mit seinen Früchten die Natur übertreffen zu wollen (»Ich kenne nichts armseligeres, als die nachgemachte, in tausend Fesseln sich windende freye Natur« [S. 145f.]). Wahre Kunst muss über das, was Natur vermag, hinausgehen (S. 146f.). Deshalb erklärt Woldemar auch, er wolle keinen eigenen Garten haben (S. 160). – 2) Luxus und Reichtum im Verhältnis zum »Adel der Seele« (S. 162). – 3) Über den wesentlichen Zusammenhang zwischen Äußerlichem und Innerlichem115 (S. 163f.). – 4) Ursprung des Sittenverfalls (S. 166f.). – 5) Gebundenheit an das Zeitalter (S. 150, S. 168 u. S. 170). – 6) Trieb zum Guten und zur Tugend. Freundschaft (S. 185–189, 192f.), ein Thema, das an späterer Stelle wieder aufgenommen wird (S. 377–379, S. 384 u. S. 440). – Eines der wichtigeren Themen scheint das Gespräch über Begriff und Bedeutung der Form zu sein (S. 172–176 u. S. 186). Da nichts ohne Form bestehen kann, eine geringe Form einem Dinge immer bleibt (S. 186) und also auch der höchste Genuss der Menschheit an eine Form gebunden ist, der Zeitgeist aber keine Form aufzuweisen hat, kommt es darauf an, sich selbst eine Form zu schaffen, zumal dann wenn ein bestimmtes Zeitalter sichtbare Deformationen aufweist. In Übereinstimmung mit der Diagnose seines Bruder Biderthal sieht Woldemar die »edelsten Formen der Menschheit« in der ihnen gegenwärtigen Zeit »zertrümmert« (S. 171f.). Deshalb ruft er zur unmittelbaren Tätigkeit »auf dem Wege der Vorsehung« auf: »die große Weltmasse voran wälzen helfen: denn zurück wälzen werden wir sie nie. – Die Zeit ist vielleicht nahe, wo aus || 115 Dieses Verhältnis wird bei Jacobi nicht hinreichend durchdacht und müsste extra untersucht werden. Auch dieses Thema gehört zu den Desideraten meiner Interpretation. Man muss sich davor hüten, dem spekulativen Denken des Aristoteles oder gar Hegels zu nahe zu treten. Es geht um die Gegensatzpaare Form / Inhalt, Äußeres / Inneres. Man kann z. B. fragen, ob die Hülle, von der im Text oft die Rede ist, der Form oder dem Inhalt entspricht. In erster Linie meint sie die äußeren Handlungen, die Beobachtungsoberfläche, d. h. das Äußerliche, insofern es an sich gleichgültig ist (vgl. Jacobiʼs Werke [s. Anm. 3], Bd. 5, S. 163); dann aber auch die von Menschenhand geschaffene Form, die die Handlungsweisen (die äußere Hülle) bestimmt. Um annähernd eine Vorstellung davon zu gewinnen, worauf Jacobi mit seinen Unterscheidungen hinauswill, sollte man vielleicht in Bezug auf den Formbegriff noch differenzieren zwischen zwei Bedeutungen: Form als äußere Hülle (Handlungen, Beobachtungen) als dem was losgelöst vom lebendigen Geist zufällig und veränderlich ist; und der inneren, organisierten Form als Werk und Darstellung des Geistes, als Form des Inneren (eidos).

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jenen zertrümmerten Formen eine neue zusammenfließen wird, – eine reinere und bessere« (S. 173). Der unsichtbare Geist, der einmal entwichen ist, wird in die verlassene Hülle nie zurück kehren; er hatte sie ausgebraucht; im Gebrauch sie zerstört. Nachbilden – ja, das können wir einigermaßen: aber was ist diese Nachbildung? – Eine hohle Wachspuppe, in welcher auch nicht einmal die innere todte Gestalt zu finden ist; – geschweige bewegender Organismus; – und geschweige die Seele! (S. 173f.)

Deshalb sei es ein Irrtum zu glauben, »ein gewisser Geist müsse nothwendig in eine gewisse Form, und in eine gewisse Form nothwendig ein gewisser Geist gebannt seyn« (S. 174). Ein und dieselbe Form (Gesellschaftsform) kann demzufolge »unter verschiedenen Umständen« an mehr als einem Ort dagewesen sein. Diese Zertrümmerung der Lebensform zeigt sich insbesondere als ein immer weiter um sich greifender »Unglauben der heutigen Welt an Tugend und bessere Menschheit«. Es ist eine Kluft erreicht, die die jetzige vor einer zukünftigen Welt und einem »vielleicht bessere[n] Leben« trennt (S. 176). Allen Formen der Menschheit sei es bisher so ergangen, dass einmal der Geist aus ihr entwichen sei (S. 186). Solange das nicht ist, ist der Mensch in seiner Lebensweise an den Geist seines Zeitalters gebunden. Deshalb mahnt Woldemar auch: »man muß sich dem Stande und dem Jahrhunderte, in dem man sich befindet, gemäß verhalten« (S. 150). Biderthal nimmt diesen Ausspruch später positiv auf und kommentiert ihn unter Hinweis auf Rousseau (S. 167– 170). Das ist im Grundriss die Idee einer Weltgeschichte, verbunden mit einer Zeitkritik. Es wird nicht explizit erläutert, wie sich der Leser den Geist einer Epoche zu denken hat. Es scheint damit die in einem Jahrhundert geltende Auffassung von Tugend (Sittlichkeit und Religion) gemeint zu sein. Die Form ist in dieser Beziehung dann die äußere Hülle, etwa die Staatsgesetze, die das gesellschaftliche Leben zusammenhalten. Während der Geist unwandelbar und zeitlos zu sein scheint, sind die Formen, in denen er die Bedingungen seines Lebens findet, veränderbar und vergänglich. Gleichwohl können sie im allgemeinen nicht willkürlich durchbrochen werden. Vielmehr ist die Teilnahme am Leben des Geistes daran geknüpft, das Leben des Individuums damit abzustimmen. Es gibt aber, laut Woldemars Einschätzung (an die er später selbst erinnert, vgl. S. 109) Ausnahmesituationen, in denen »unmittelbar durch Geist und Gewissen« entschieden werden muss (vgl. ebd. [s. u.]). Das Waldgespräch wird mit einem Beitrag Woldemars beendet, der großen Eindruck machte. Darin kritisiert Woldemar den »Geist der Zeit«, der sich in einem allgemeinen Sittenverfall zeige, und stellt ihm das Ideal reiner Tugend entgegen. Alle Veränderungen, die sich sichtbar mit der Menschheit ereignen, beträfen nur ihr »äußerliches Ansehen«. Sie tangiere nicht die Menschengattung als Ganzes (S. 216). Das was man für sittlich halte, sei eigentlich das Unsittliche:

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»Der große Haufe der Menschen bliebe in demselben Grade eigensüchtig, gewaltthätig, thierisch – von Herzen lasterhaft« (S. 216). Nur um ihrer eigensüchtigen Interessen willen, »aus Noth« und »der Verträglichkeit wegen«, »um mit sich selbst einigermaßen leben zu können«, würden sie äußerlich sittliches Verhalten an den Tag legen, während sie »im Durchschnitte« der »eigentlichen Humanität, allen möglichen Abbruch« täten, »und ihre Brutalität in Freyheit« setzten (S. 216f.). Das werde so lange fortdauern wie sich im Wesen des Menschen keine Veränderung durchsetze. Ob dies jemals wahr wird, ist für Woldemar eine offene Frage. Es gibt jedoch einen »sittliche[n] Trieb«, der im Menschen wirkt und sich »in Absicht des Ganzen der Menschheit« tätig beweist; »er wäre die wahre eigentliche Menschenenergie; Gott im Menschen«. Gegenstand dieses menschlichen Triebes wäre »Tugend in eigener Gestalt; nämlich: reine Tugend, Tugend als Zweck an sich« (S. 217). »Gott im Menschen« oder das Göttliche in ihm ist also wesentlich Energie, die dem Menschen selbst zueigen ist und bewirkt, dass sich die Menschen im Ganzen der Menschheit betrachtet, zur vollkommenen Sittlichkeit hin entwickeln. Diese Energie ist unzerstörbar. Weltlich gesprochen ist es die reine Tugend. Aber das heißt nichts anderes, als »daß Gott im Verborgenen regiere«, wie es wenig später heißt (S. 218). Es ist derselbe Gott, der als Geist verborgen in der Natur (wie hier im Wald) aus den menschlichen Herzen bzw. aus dem Gewissen spricht, zugleich der Trieb der Seele als Ursprung und Prinzip des Lebens. Es ist nicht primär der extramundane Gott, sondern das Göttliche im Menschen, das noch über dem Selbstbewusstsein steht. Der »Trieb zum Guten« ist aristotelischen Ursprungs (vgl. die Zitate S. 440f.). So erklärt Henriette, sie verlasse sich bei Woldemar ganz auf die »Energie des Sittlichen« (S. 378). Diese Energie wird durch heftige Leidenschaft eingeschränkt. Deshalb kann sie gegen alle Zweifel bekennen: »Ich glaube an des Mannes Tugend« (ebd.) Für Woldemar ist die Sittlichkeit eine freie Kunst, Produkt und Ausdruck des Geniehaften im Menschen:116 »Wie das Kunstgenie, durch den Eindruck seiner Werke, der Kunst Muster und Gesetze gebe; so das sittliche Genie, der Freyheit« (S. 379; vgl. S. 417f.; vgl. S. 78). Nicht eine Gehorsamspflicht, die ein Vernunftgesetz vorschreibt, sondern eine natürliche Kraft ist dem Menschen eigen, die ihn von sich aus zur sittlichen Freiheit führt (vgl. S. 384 u. S. 388). Es ist ebenfalls im Sinne von Aristoteles gedacht, wenn Henriette Woldemars Tugendhaltung so beschreibt, dass ihm zufolge derjenige gerecht und gut sei, der ein gerechter und guter Mensch sei und sie »seinem Charakter gemäß« ausübe und hervorbrächte und dadurch sozusagen

|| 116 Über den Begriff des Genies, wie er im 18. Jahrhundert gebraucht wurde, können hier keine weiteren Betrachtungen angestellt werden. Ich verweise auf Gideon Stiening: Die Anthropologie des Genies. Anmerkungen zu Diezʼ Beobachtungen über der sittlichen Natur des Menschen (1773). In: ders., Christoph Rauch (Hg.): Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817). Freidenker, Orientkenner, Diplomat. Berlin, Boston 2020, S. 147–166 und die dort vermerkte Literatur.

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zum Erfinder seiner eigenen Tugend werde (S. 418; vgl. S. 421, erstes AristotelesZitat). Dieser Glaube Woldemars an das Geniehafte wird jedoch durch Henriettes nüchterne Analyse seiner Stimmungslage getrübt, ja als Täuschung und Selbsttäuschung (Betrug) enttarnt. Durch Freitätigkeit brachte er »seine eigene wahrhaft schöne Kunst« nicht nur hervor sondern vermehrte sie so weit, bis er »auf ein mögliches Unvergängliches, wahrhaft Ewiges, das der Mensch in seinem Gefühl erzeugen, und woran er, wie an einen Gott, in seinem Thun und Dichten, Leiden, Streben und Meiden, sich halten könnte« (S. 386). Das ist eine Absage an den Wert der Geniehaltung. Bei Woldemar und dann auch mittelbar bei der mitfühlenden Henriette rief diese Haltung Irrungen und Missverständnisse hervor. »Er bedurfte einer gleichgestimmten freundschaftlichen Seele, um gewiß zu werden, seine Weisheit sey kein Gedicht« (S. 387). Aber eben diese Freundschaft – das ist die Pointe dieser Verstrickung – musste sein Leiden vertiefen und verstärken, insofern ja die vorsichtige Selbstkorrektur Henriettes (da sie »von Woldemars Übel mit ergriffen wurde« [S. 388]), die ganz einseitig war, zu einer Entfremdung gegenüber ihr führte. Woldemars lebhafte und tiefe Empfindungsgabe soll es also laut Henriette gewesen sein, die ihn im freien Gebrauch zu Irrtum und Täuschung, ja sogar zur Selbstvergötterung führte: Die von Natur schon wohl angezogenen Saiten seiner Empfindung, gaben bey der zartesten Berührung einen so hellen reinen Klang von sich, und tönten so lange nach, daß er unwillkührlich zum Nachsinnen über eine noch reinere Stimmung erweckt und hingezogen werden mußte. Er ergründete diese Stimmung, lernte ihren Gebrauch, und wurde seines Herzens in einem ausserordentlichen Grade mächtig. (S. 385)

Der Klang der eigenen Seele, den Woldemar vernimmt, bedarf m. a. W. jenes Echos, das von einem Anderen ausgehen muss, und ihm eine endliche Beschränkung auferlegt. Diese Beschränkung durch Nachdenken nimmt Woldemar als eine Entfremdung und Spaltung seiner eigenen Person wahr. Die Regulierung und Beherrschung der Empfindungen, Begierden und Leidenschaften ist das Werk der instrumentellen Vernunft (S. 93). Aber die Vernunft ist selbst erst Ausfluss des Tugendtriebes im Menschen (vgl. S. 191). Auf der anderen Seite spricht Woldemar deutlich genug aus, dass das eigentliche Leben nur durch »deutliche Erkenntniß« vermittelt wird oder durch das, was er »Begriff« nennt und was den Einfluss der Sinnlichkeit beschränken und die Empfindungen verwandeln soll. Begriffe aber sind nicht mehr als innere Vorstellungen, Bilder, Eindrücke, die uns von einem Anderen vermittelt werden und insofern eine gesellschaftliche Dimension haben: »Unser Leben hienieden ist nichts anders als eine fortgesetzte Entsinnlichung der Körperwelt, und eine Verwandlung von Seele in Seele durch gesellschaftliche Bewegung« (S. 192f.). Aber die Verendlichung des unendlichen Strebens durch Begriffe ist, wie Henriette später feststellen wird, auch keine Lösung. Sie ist eine Einbalsamierung des

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Lebendigen, ein (vergeblicher) Versuch, Empfindungen »in ihnen selbst, oder in Andern« dauerhaft zu machen, durch den man sich nur betrügt (S. 380f.). Aristoteles wird mit den Worten zitiert: »das Leben ist ein Gut an sich, und wir sind und leben nur durch die Aeusserungen unserer Thätigkeiten« (S. 441). Wer wohl oder angenehm leben will, der muss sich darin üben, seine Handlungen und Verhaltensweisen tugendhaft zu machen. Vorschriften und Gesetze in einer Gesellschaft erhalten ihr Leben somit erst durch diese Einübung in die Tugend (als öffentlicher Moral). Sie ist der lebendige Geist, dem die Gesetze ihren systematischen Zusammenhang verdanken (S. 445). Der menschliche Geist ist das Göttliche in uns, dem gemäß wir leben sollen (S. 451). Von Zeit zu Zeit kann sich »die Verderbniß eines Zeitalters« so ins Extreme steigern, dass eine Ausnahmesituation entsteht, in der Revolutionen (»eine gänzliche Verwandlung«) nötig sind, die »mit heftigen Erschütterungen« einhergehen (S. 109). Es handelt sich um Umstände, »wo die Laster gleichsam miteinander in einen bürgerlichen Krieg geriethen« (eine Formulierung Burkes), »wo die heiligen Bildnisse der Gerechtigkeit und Milde auf einen Augenblick verhüllt werden müßten« (ebenfalls Burkes Worte) (S. 110). Und anknüpfend an das lange Zitat von Edmund Burke aus dem Original seiner Schrift Reflections on the revolution in France, heißt es schließlich: »Die Moral selbst unterwürfe sich alsdann einer vorübergehenden Hemmung ihrer Gesetze, damit ihre Principien erhalten würden« (S. 110). Solche Ausnahmesituationen nennt er »Licenzen hoher Poesie« (S. 111). Die Poesie ist dazu da, der Geburt eines neuen Zeitalters den Weg in die ihm angemessene neue, lebendige Sprache anzuzeigen, die benötigt wird, um mit dem Geist zu verkehren. Einschlägig für eine solche gesellschaftlicher Veränderung ist die ihr unterliegende Moral als ein Allgemeines, d. h. als dasjenige, was »öffentliche Moral« genannt wird (S. 445). Sie stützt sich auf die Gesetze und Landessitten, ist der Geist eines Zeitalters, der nichts anderes als die Freiheit sein kann und der sich durch die allgemeine Stimme des Volkes, die »vox populi, als einem heiligen Echo« artikuliert (S. 446; vgl. S. 427): »Selbstbestimmung, Freyheit, ist die Seele der Natur, und auch – die Erste Quelle aller Gesetze, Einrichtungen, Sitten und Gebräuche« (S. 426). Die Freiheit ist daher auch das Leben. Im Unterschied dazu sind die äußerlichen Formen selbst vergänglich (bloß die Hülle des sittlichen Geistes): »man könnte sie die Fürstenthümer des Todes – eines verborgenen, in äusserliches Leben eingekleideten, Todes nennen. Denn sie schränken das Leben ein, verzehren es, vertilgen es zuletzt, und gehen mit ihm unter« (S. 426f.). Man muss bei dieser Tugendkonzeption, die von Woldemar und seinem Freundeskreis erörtert wird, insbesondere bei der Aufnahme des Zweck-an-sich-Prinzips, nicht erst an Kants Sittenlehre denken. Viel näher und durch die vielen ausgiebigen Aristoteles-Zitate und -bezüge abgesichert, liegt die Entnahme der wesentlichen Gesichtspunkte aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Tugend als ein Zweck an sich ist das was nicht in Rücksicht auf ein bestimmtes tätiges Verhalten oder das Produkt dieses Verhaltens als gut befunden wird (nicht das viele Gute, S. 220), son-

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dern das, was in jeder Hinsicht dem menschlichen Wohl entspricht, und das ist allein die Glückseligkeit. Sie ist Zweck an sich insofern sie bloß um ihrer selbst willen gesucht wird und nicht bloß als Mittel für andere Zwecke (Künste) dient. Wie nicht anders zu erwarten war, endet der Waldspaziergang in allseitiger Harmonie. »O Freunde!«, sagte Woldemar, » – Der Mensch ist durchaus gebrechlich und wandelbar in seinem Thun; aber wo er noch einige Größe, einige Standhaftigkeit zu beweisen vermag, da vermag er es allein durch irgend einen hohen Begriff, der in seiner Seele herrschend geworden ist; da handelt er aus Vernunft, die das Leben des Geistes – Gefühl der Gottheit und ihrer Kraft ist«. (S. 215)

»Für alle« war es »ein schöner Heimweg«. Mit den Worten des Erzählers: Das Waldgespräch, und was auf dem stillen Rückwege bey zunehmender Dämmerung, während ein Stern nach dem andern hervor kam, und man beym Zuhören gleichsam dem Himmel in die Augen sah, noch war geredet worden, hatte tiefe Eindrücke und einen lebhaften Reiz zum weiteren Nachdenken zurück gelassen. (S. 218)

5 Der verteufelte Woldemar und das Ende des Romans Im Sommer 1779 hielt Goethe im Rahmen der im Folgenden beschriebenen Geschehnisse in Ettersburg eine improvisierte Rede auf Jacobis Woldemar, die er selbst im Rückblick als »Woldemars Kreuzerhöhungsgeschichte« bezeichnete.117 Diese Parodie wurde nur wenige Monate später – wie es den Anschein hat ohne Zutun Goethes, der sich zu der nämlichen Zeit auf seiner zweiten Reise durch die Schweiz befand – von der Herzogin Anna Amalia, die dem Spektakel unter den Eichen beigewohnt hatte, auf einer Handpresse in Ettersburg gedruckt.118 Dem Privatdruck, der unter Beteiligung von Johann Joachim Christoph Bode zustande kam, diente die erste Buchausgabe des Woldemar von 1779 als Vorlage. Die Schrift nahm hauptsächlich auf den Schlussteil des Romans Bezug, das Gespräch zwischen Woldemar und Henriette, das bereits in der Urfassung von 1777 niedergeschrieben war und das – || 117 Vgl. Goethe an Lavater, 7. Mai 1781. Zu den Motiven und Folgen dieser Episode vgl. die Darstellung bei Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 126–149. 118 Brief der Herzogin Anna Amalia an Heinrich Merck, 4. November 1779; vgl. Carl Schüddekopf (Hg.): Goethes Parodie auf Fritz Jacobis »Woldemar«. Weimar 1908. Darin: »Geheime Nachrichten von den letzten Stunden Woldemars. Eines berüchtigten Freygeistes. Und wie ihn der Satan halb gequetscht, und dann in Gegenwart seiner Geliebten, unter deren Gewinsel zur Hölle gebracht. Gedruckt bey dem Nachdrucker Dodsley und Compagnie. 7777«, Kommentar S. [28] und S. [29].

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trotz einiger Abänderungen – auch in der Ausgabe von 1794 seine Merkwürdigkeit beibehielt. Insofern ist die Parodie in der Gesamtanlage auch auf die später verbesserten Ausgaben beziehbar. Schon die Aufmachung der Titelseite verriet den Tenor des Ganzen. Unter der Überschrift: »Geheime Nachrichten von den letzten Stunden Woldemars Eines berüchtigten Freygeistes. Und wie ihn der Satan halb gequetscht, und dann in Gegenwart seiner Geliebten, unter deren Gewinsel zur Hölle gebracht« – befand sich eine Vignette,119 die ein teuflisches Ungeheuer zeigte, das, einen abgetrennten Kopf (das Haupt Woldemars) in den Klauen haltend, über den bestirnten Himmel flog. Die kleinere Vignette am Ende des Textes – ein Portrait mit heraushängender Zunge – sollte wohl sinnbildlich den Ekel zum Ausdruck bringen, den Jacobis Roman im ästhetischen Geschmacksempfinden der damaligen Zeit auslöste. Von Goethe wurde der Ausspruch überliefert, er könne »nun einmahl für sich das was man den Geruch120 dieses Buchs nennen möchte (anders wisse er sich nicht auszudrücken) nicht leiden«, »so viel großer herrlicher Sinn auch darin sey«.121 Mit dem »Geruch« meinte Goethe vielleicht den stolzen Anschein von Erhabenheit der Empfindsamkeitsdichtung, welche den »einfachen Menschen« einerseits als Gesinnungsgegner aus dem Kreise der »schönen Seelen« ausschloss; andererseits gehörte es gerade zu den Umgangsformen der schöngeistigen Elite des »Pempelforter Kreis[es]«, mit einfachen alltäglichen Geschichten auch die ungebildeten Schichten ihrer Leserschaft ansprechen und zu höheren Zielen leiten zu wollen.122 Auch im Roman Woldemar ist dieser Gegensatz erkennbar. Auf der einen Seite befindet sich der kleine Kreis der Auserwählten (die Hornichʼschen Erben und deren Freunde), die – »von einem heiligen Schauer überfallen«123 – sich mitleidvoll um die armen Seelen der unkultivierten Durchschnittsmenge kümmern. Aber die in ihren sinnlichen Begierden befangenen »guten Leute«, die ihr Dasein weit entfernt vom »Wahren« fristen,124 sind bei Jacobi der »reinen« Freundschaft und »himmlischen Liebe« eigentlich gar nicht fähig und somit auch chancenlos, je in den internen Kreis des gebildetes Standes aufgenommen zu werden; denn in einem Motto zu Woldemar zitierte Jacobi Plato mit folgenden Worten:

|| 119 S. dazu die Wiedergabe der nicht nummerierten Titelseite und den Kommentar bei Schüddekopf: Goethes Parodie (s. Anm. 118), S. [42] und S. [43]. 120 Vgl. Goethes Aufzeichnung über den »Geruch« in seinem Tagebuch vom 14. Juli 1779. In: WA III,1, S. 88. 121 Johanna Fahlmer an Jacobi, 31. Oktober 1779, Auszug in: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi. Hg. von Max Jacobi. Leipzig 1846, S. 57–59. 122 Vgl. Nicolai: Goethe und Jacobi (s. Anm. 117), S. 131–137. 123 Woldemar, Ausgabe von 1779, S. 10 (Plato-Zitat). 124 Siehe ebd., S. 169f.; entsprechend die Erstfassung im Teutschen Merkur 1777, 3. Bd., S. 230.

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»Eine menschliche Bildung erhalten nur diejenigen Seelen, die das Feld der Wahrheit schon gesehen haben«.125 Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Verschriftlichung der Woldemar-Parodie nicht von Goethe persönlich vorgenommen wurde. Schon die recht banale Technik des Schreibens und die wenig anspruchsvolle künstlerische Form – die satirischen Effekte wurden durch sehr einfache Wortverdrehungen erzielt126 –, die kaum den Anforderungen einer Persiflage genügen können, legen diesen Schluss nahe. Überdies äußerte sich Goethe anscheinend nie zu diesem Schriftstück, obwohl sich ein Druckexemplar in seiner Privatbibliothek befand.127 Soweit die Textabweichungen einen einheitlichen Sinn ergeben, scheint er darin zu bestehen, gerade die Quintessenz des jacobischen Originals, den schroffen Gegensatz des durch Religion gestifteten Bandes der Freundschaft und der Herzensliebe gegen die erotischen Triebregungen überdeutlich hervorzuheben128 und dabei zugleich die sinnlichen Freuden so zu favorisieren, dass das Vertrauen in die Kraft der himmlischen (reinen) Liebe krankhafte Einbildungen hervorruft und als wirklicher Grund von Woldemars Verwirrung erscheint.129 Damit aber wird eine Verkehrung der Absicht Jacobis in das gerade Gegenteil bezweckt: durch die Absage aller sinnlichen Beimischung und durch den absoluten Geltungsanspruch der Liebe Gottes hat alle Freundschaft ein gewaltsames Ende.130 Woldemar verwirkt seinen Anspruch auf Henriette. Er ist ihrer aufrichtigen Liebe nicht wert, denn sie ist durch ihn betrogen worden, obwohl sie der aktive, Versöhnung anstrebende Teil ihrer Beziehung ist.131 Folgerichtig erscheint dann am Ende auch der Teufel, um den fluchenden Woldemar, der durch seinen guten Glauben dem wahrhaft Guten so folgenschwer entgegenwirkte, zu enthaupten.132 Dieser Ausgang der Parodie ist für den Sinn und Zweck des Romans fatal. Mit Woldemars Ende bricht zugleich sein Welt- und Menschenbild in sich zusammen. Woldemar hatte gegenüber dem alten Hornich versichert, dass wenn auch Welt und Mensch im Argen lägen, dies doch nicht den Menschen selbst beträfe. Um der Arge zu sein, müsste er schon »Satans Bild angenommen haben« und ihn allein ehren || 125 Woldemar, Fassung von 1779, S. 10 (Plato-Zitat). 126 Beispiele solcher Umbildungen sind: »Sünde« / »Religion« (Schüddekopf: Goethes Parodie [s. Anm. 118], S. [11]) anstelle von »Schande« / »Resignation« (S. [33]). Ich kann hier nicht die in der Parodie festgestellten Wortumwandlungen gegenüber der Originalausgabe von 1779 im Einzelnen kommentieren. Die Aufgabe würde sich vielleicht lohnen (vgl. dazu Schüddekopfs Kommentar ebd., S. [33]–[46]). Der Logik dieser Textänderungen entspricht es jedoch, dass am Ende »Woldemarn der Teufel hole« (ebd., S. [35]). 127 Vgl. ebd., S. [28]. 128 Siehe Goethes Woldemar-Parodie, in: Schüddekopf: Goethes Parodie (s. Anm. 118), S. [11]. 129 Ebd., S. [7]–[9], S. [12] und S. [13]. 130 Ebd., S. [12]. 131 Ebd., S. [16] und S. [17]. 132 Ebd., S. [14]–[16].

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und anbeten: »Lieber keinen Gott, als mit ihm einen Teufel […] der ihm Meister geworden wäre!« (S. 105). Den äußeren Rahmen zu dieser Farce bildete jenes improvisierte Schauspiel in Ettersburg, bei dem Jacobis Buch feierlich verurteilt und als abschreckendes Beispiel zur Schau gestellt wurde. Unter einer Eiche im Ettersburger Schlosspark hielt Goethe die parodistische Rede in Gegenwart der Hofgesellschaft, indem er den Schlussteil des Woldemar zitierte und dabei Verfremdungen vornahm, die eine Sinnesabwandlung der Geschichte ergaben. Am Ende wurde ein broschiertes Exemplar des Werkes an den Stamm jener Eiche genagelt.133 Die Eiche ist in Jacobis Romanwerk das Symbol und Monument für Unvergänglichkeit, heilige Gefühle, stille Erbauung und Stabilität (im Kontrast zur Unruhe der Seele).134 Das folgenschwere Ereignis zog schon bald die Aufmerksamkeit der gebildeten Leserkreise auf sich, so dass auch Friedrich Heinrich Jacobi, der Hauptbetroffene, schließlich über einige Zwischenträger von der geschmacklosen Schau erfuhr. In einer Anfrage von Sophie von La Roche an Wieland kamen die Einzelheiten jener Begebenheiten genauer zum Vorschein.135 Wieland, der über die gegen ihn erhobenen Verdächtigungen verstimmt war, bestritt energisch jede Beteiligung an dem Spektakel und zog sich auf den neutralen Standpunkt eines bloßen Beobachters zurück. Den Bericht über seine eigenen Nachforschungen, die er zu dieser Sache in Weimar angestellt hatte, hielt er absichtlich so knapp, dass, abgesehen von Spekulationen über seine eigene Beteiligung, alle Möglichkeiten offen blieben.136 Um dieselbe Zeit forderte Jacobi Goethe zu einer Klarstellung auf, indem er ihm die Beschuldigungen gegen ihn vortrug. Goethes Handeln interpretierte er nicht als Angriff auf sein Werk, sondern bezog es vielmehr auf seine Person und witterte Verrat der heiligen Freundschaft.137 Ganz auf seine Persönlichkeitsmerkmale war auch Jacobis Apologie ausgerichtet, als ob die reziproke Beziehung des Seins im Anderen als Vorlage gedient hätte. Jeden Versuch der Selbstvergötterung abstrei-

|| 133 Vgl. Goethes Woldemar-Parodie, in: ebd. S. [23] und S. [24]; vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), § 23. 134 Vgl. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 22–24. 135 Sophie von La Roche an Wieland, 12. September 1779. In: Briefe an und von Johann Heinrich Merck. Eine selbständige Folge der im Jahr 1835 erschienenen Briefe an J. H. Merck. Aus den Handschriften herausgegeben. Briefe an Johann Heinrich Merck von Goethe, Herder, Wieland und anderen bedeutenden Zeitgenossen. Mit Mercks biographischer Skizze (beide Teile in einem Band). Hg. von Karl Wagner. Darmstadt 1835, S. 180f. 136 Wieland an Sophie von La Roche, 12. September 1779. In: Jacobiʼs Nachlaß (s. Anm. 2), Bd. 2, Nr. 161, S. 175–177; vgl. aber auch Wielands Entrüstung über die Vorgänge in Ettersburg hinsichtlich seiner Alceste, die hier unter dem Titel »Orpheus und Eurydice« unter breiter Beobachtung gleichfalls ihre »Uraufführung« erlebte (Wieland an Merck, 21. September 1779. In: Briefe an und von Johann Heinrich Merck [s. Anm. 135], S. 179f.). 137 Vgl. Nicolai: Goethe und Jacobi (s. Anm. 117), S. 145.

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tend, gab er sich den Anschein eines völlig selbstlosen Charakters.138 Jacobi erhielt auf diese Anschuldigungen keine weitere Antwort mehr von Goethe. Nur mittelbar über Johanna Fahlmer, mit der Goethe nach Empfang der Protestnote Jacobis ein vertrauliches Gespräch führte, konnte er noch etwas über dessen Reaktion erfahren. Goethe hatte Johanna Fahlmer (verheiratete Schlosser) gestanden, »daß er manche muthwillige Parodien, nicht geschrieben, aber mündlich über deinen Woldemar geschwatzt habe«, außerdem habe er dem Kitzel nicht entgehen können, das Buch, zumahl den Schluß deßelben, so wie es ihm einmahl aufgefallen sey, zu parodieren, nehmlich, daß Woldemarn der Teufel hole. Man dürfe nur ein Paar Zeilen ändern; so sey es unausbleiblich und nicht anders, als der Teufel müße ihn da holen.139

Nur noch einmal äußerte sich Goethe über diesen Vorfall. An Johann Caspar Lavater schrieb er am 7. Mai 1781: Über Woldemars Kreuzerhöhungsgeschichte kan ich dir nichts sagen, das Facktum ist wahr, eigentlich ists eine verlegne und verjährte Albernheit, die du am klügsten ignorierst.140

Jacobi jedoch ließ die Angelegenheit nicht so einfach auf sich beruhen. In vielen Briefen an seinen Freundeskreis, in dem seine Klagerufe auf gute Resonanz stießen, erhob er schwere Vorwürfe gegen Goethe141 und warb um Stimmen gegen den einstigen Freund. Einen von Goethe angeregten Vermittlungsversuch wies Jacobi schroff zurück,142 und so blieb es bei der Unterbrechung des Briefverkehrs zwischen Jacobi und Goethe bis der letztere am 2. Oktober 1782 erneut den Versuch einer vorsichtigen Annäherung wagte, und Jacobi nahm diesmal die ausgestreckte Hand bereitwil-

|| 138 Jacobi an Goethe, 15. September 1779. In: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi (s. Anm. 121), S. 53–59. 139 Auszug aus einem Schreiben von Johanna Fahlmer (verheiratete Schlosser) an Jacobi, 31. Oktober 1779. In: ebd., S. 58. 140 Goethe an Lavater, 7. Mai 1781. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe. 4 Bde. Hg. von Karl Robert Mandelkow. München 1962‒1967, Bd. 1, S. 355f. 141 Siehe insbesondere den Auszug aus Jacobis Antwort an Madame Schlosser (Johanna, geb. Fahlmer) vom 10. November 1779. In: Max Morris: Fritz Jacobi über seinen Woldemar-Streit mit Goethe. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 1 (1914), S. 139–144. Zu weiteren Briefangaben vgl. Schüddekopf: Goethes Parodie (s. Anm. 118), Kommentar, S. [48]ff., Anm. 3; David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 103f.; Siegfried Sudhof: Friedrich Heinrich Jacobi und die »Kreuzigung« seines »Woldemar«. In: Neophilologus 43 (1959), S. 42–49. 142 Vgl. Jacobi an Heinse, 24. Oktober 1782. In: Jacobi: Briefwechsel (s. Anm. 121), S. 59f. Siehe dazu auch Goethes Brief an Sophie von La Roche, 1. September 1780. In: WA IV,4, Nr. 1008, S. 278.

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lig entgegen.143 Über den Vorfall in Ettersburg wurde allerdings, soweit die Quellen dazu schweigen, nicht mehr gesprochen. Als 1794 die neu bearbeitete Fassung des Woldemar erschien, in der u. a. auch der einst verspottete Schlussteil geändert worden war, zeigte sich Goethe angenehm überrascht über das Werk, das »ganz fürtrefflich« geschrieben sei, »wie von jedermann mit Bewunderung anerkannt« werde. Bei der Gelegenheit dankte Goethe auch für die an ihn gerichtete Widmung, die dem Buch vorangestellt worden war.144 Trotz dieser Versöhnungsgesten gestaltete sich die Beziehung Goethes zu Jacobi weiterhin recht schwierig. Der Pempelforter Kreis war und blieb ihm fremd und verschlossen. Der dort betriebene Kult poetischer Erbauung hinterließ ein beklemmendes Gefühl in ihm,145 und dies, obwohl es ihm im höheren Alter an kritischer Selbsteinschätzung, die indirekt auch seine vergangenen parodistischen Einlagen in Ettersburg berührten, nicht mangelte.146 Seine damalige Lage in der Pempelforter Gesellschaft fasste Goethe so zusammen: Zwischen diesem allen hatte ich einen wunderlichen Stand, mein Talent gab mir einen ehrenvollen Platz in der Gesellschaft, aber meine heftige Leidenschaft für das, was ich als wahr und naturgemäß erkannte, erlaubte sich manche gehässige Ungezogenheit gegen irgendein scheinbar falsches Streben; weswegen ich mich auch mit den Gliedern jenes Kreises zu Zeiten überwarf, ganz oder halb versöhnte, immer aber im Dünkel des Rechthabens auf meinem Wege fort ging.147

Um die Fremdartigkeit und auch tiefe Differenz zwischen ihm und der Anhängerschaft Jacobis zu erklären,148 deutete Goethe mit vollem Recht zurück auf seine kritische Bewältigung der »äußeren Literatur« »in jüngeren Jahren«.149 Die WoldemarParodie war dabei gewiss nur ein turbulentes Nachspiel jenes tölpisch-ironischen

|| 143 Vgl. Goethe an Jacobi, 2. Oktober 1782. In: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi (s. Anm. 121), S. 59f. (auch in WA IV,6, S. 60f.) und Jacobis Antwort, 17. Oktober 1782. In: Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi (s. Anm. 121), S. 60f. 144 Goethe an Jacobi, 26. April 1794. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe (s. Anm. 140), Bd. 2, S. 176 (auch in WA IV,10, S. 152f.). 145 Johann Wolfgang von Goethe: »Campagne in Frankreich«, überschrieben »Pempelfort, November 1792«. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 1982–2008, Bd. 10, S. 310f. 146 Ebd., S. 315. 147 Ebd., S. 311f. 148 Vgl. dazu auch Johann Wolfgang von Goethe: Rezension von »F. H. Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, in zwei Bänden« (1827). In: ders.: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden. Hg. von Walther Rehm u. a. Ulm 1982, Bd. 15, S. 756f. 149 Goethe: »Campagne in Frankreich« (s. Anm. 145), S. 313.

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Maskenspiels, in dem Goethe die Empfindsamkeitsdichtung der Wertherzeit verabschiedete.150 Das zweite Romanprojekt Jacobis kann ebensowenig wie sein erstes als ein Werk gelten, das von der lebendigen Einheit von Form und Inhalt erfüllt wäre.151 Dabei erntete es am Ende durchaus viel Beifall.152 Auch im Woldemar ist wohl die Dichtung die Hülle, die die Idee nur umgibt und – wie Friedrich Schlegel sich ausdrückte – »den unsichtbaren Gott allenthalben durchschimmern läßt«.153 Das was als göttlicher Geist die Herzen der Menschen bewohnen und ihre Handlungsweisen beflügeln und in ihren Äußerungen zur Darstellung kommen sollte, geht in der Masse der Reflexionen unter und bleibt ihnen fremd. Die äußere Handlungsweise ist demgegenüber kaum verständlich und nur ein mechanischer Reflex auf die inneren Gemütsschwankungen und seelischen Zusammenbrüche der Hauptakteure. Der Zweckgesichtspunkt, der in die Tugendlehre aus der aristotelischen Ethik importiert wird, reicht nicht aus, um dem Werk wirklich eine organische Einheit von Inhalt und Form zu vermitteln. M. a. W., der Geist durchbricht nicht jene ihm vorgeschriebene Hülle, sondern bleibt bis zuletzt in ihr als einem Strickwerk von Reflexionen, Gefühlsstimmungen und äußeren Handlungen gefangen. Wenn wir uns im Rückblick den Konfliktverlauf und das Ende der Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar noch einmal summarisch vor Augen führen, so ist er im Grunde rein äußerlich im Zweiten Teil (dem man den Titel: Der verheiratete Woldemar verpassen könnte) durch die Ausweitung der Handlung, das Hinzutreten weiterer Personen (Allwina) ausgebrochen und stetig durch neue Missverständnisse vertieft worden, Missverständnisse, die niemals auftreten würden, wenn es sich tatsächlich um Freundschaft gehandelt hätte. Im Einzelnen kann dieser Verlauf hier nur skizziert, aber nicht kommentiert werden. Folgende Stationen sind für den Konfliktverlauf maßgeblich:

|| 150 Siehe die komische Oper »Der Triumpf der Empfindsamkeit«, Ende des Ersten Aktes, in: Goethe: Gesamtausgabe (s. Anm. 148). Bd. 3, S. 748; vgl. Goethes Brief an Charlotte v. Stein, 12. September 1777. In: WA IV,3, Nr. 631, S. 174. 151 Vgl. Werner Euler: Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung. In: Poetik des Briefromans. Wissens- und Mediengeschichtliche Studien. Hg. von Gideon Stiening und Robert Vellusig. Berlin, Boston 2012, S. 181–218. 152 Z. B. von Wilhelm von Humboldt, der dem Autor ein gewisses »poetisches Talent« der Darstellungskunst nicht absprach. Auch von der dichterischen Seite sei das Ganze ein »schönes, anziehendes Gemählde interessanter Situationen« (Humboldt an Jacobi, 23. Januar 1797. In: Wilhelm von Humboldt: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. und erläutert von Albert Leitzmann. Halle a. d. S. 1892, S. 57f.); vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 191. Ähnlich lobte Herder den Roman Woldemar als ein »treffliches Buch […]. Dazu glänzend fein und äußerst wohlgearbeitet, als Kunstwerk« (Herder an Jacobi, 13. Mai 1795. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel [s. Anm. 10], Bd. 2, Nr. 244, S. 200). 153 Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 57.

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Als allgemeine Voraussetzung und Grundlage des Geschehens ist Woldemars Charakterdisposition und Lebensart zu notieren, die Spaltungen bewirkt (S. 40f., vgl. S. 463). Woldemar und Henriette finden zu Übereinstimmung und Liebe, indem jeder im Anderen einen Ausgleich hat (S. 60–66). Eberhard Hornich verlangt von Henriette das Gelübde, auf eine Verheiratung mit Woldemar zu verzichten. Henriette legt widerstrebend das Versprechen am Sterbebett ab und stürzt dadurch in einen eigenen seelischen Konflikt (S. 247, S. 255f.). Allwinas Hinzutreten und ihre Vermählung mit Woldemar (S. 260). Luise verrät Woldemar, dass Henriette ein Geheimnis vor ihm hege (das erteilte Gelöbnis). Beginn von Woldemars Zweifeln (S. 292). Woldemar stellt Henriette auf die Probe und findet seinen Argwohn bestätigt (»Gährung«) (S. 302); das wiederum löst Henriettes Empörung aus (S. 305). Woldemars Zustand verschlimmert sich; er liest »Verachtung« in Henriettes Gebährden (S. 319; vgl. S. 359). Die Anspannung foltert beide. Zerrüttung ihres Verhältnisses (S. 320). Rekonstruktion des Konflikts durch Henriette (S. 321). Wiederannäherung (S. 326). Erneute beiderseitige Entfremdung (S. 336). Henriettes Grübeln über den Anfang des Konflikts zwecks Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit (S. 346). Resignation: »Wiederherstellung« des Ausgangszustandes ist unmöglich (S. 349, S. 354). Woldemar gibt die Selbstsuche auf (S. 365). Luises Beichte vor Henriette. Dieser wird auf einmal alles klar (S. 366‒370). Wendepunkt in der Geschichte der Beziehung: Auge in Auge dem Anderen gegenüber (S. 447; vgl. S. 467). Woldemars prinzipieller Zweifel an Freundschaft und Liebe (S. 455). Henriettes Bußgang und Beichte (S. 458f.). Himmel und Hölle zwischen Woldemar und Henriette (S. 460). Woldemars Schuldeingeständnis (S. 462). Woldemars Einsicht: Die Verwirrung entstand aus innerer Feindschaft gegen sich selbst; er durchschaut den psychischen Mechanismus, ohne ihn beherrschen zu können (S. 463). Erneute Entfremdung und Distanz (S. 465). Allwinas Rückkehr. Ihre Rolle als Friedensstifterin (S. 470f.). Kniefall Henriettes und Bitte um Verzeihung (S. 471). Woldemar schwankt zwischen Sieg und Niederlage (S. 473f.). Die Fromme hat gesiegt. Der Himmel öffnet sich (S. 476). Vorzeichen eines nahenden neuen Konflikts (S. 480).

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Das Muster der persönlichen Beziehungen, die mit dem Handlungsgeschehen verwoben sind und als Kennzeichen von Tugend-Freundschaft dienen, ist das Sein im Andern. Es sei auch hier angemerkt, dass Jacobi die Vorlage dafür bei Aristoteles gefunden haben könnte. In der Nikomachischen Ethik (IV. Buch, 4. Kap., 1166b) erscheint mir Aristoteles als Schöpfer dieser Denkfigur, obwohl Jacobis Roman gerade auf diese Stelle nicht explizit Bezug nimmt: Da sich nun jedes einzelne davon bei Tugendhaften im Verhältnis zu sich selbst findet und er sich zum Freund verhält wie zu sich selbst (denn der Freund ist ein anderer [seiner] selbst), so scheint auch die Freundschaft darin zu bestehen und Freunde solche, die dies besitzen.154

Es folgt daraus, dass der schlechte Mensch der Tugend und Freundschaft nicht vermögend ist. Er ist »überall von Reue«, weil er »in sich gespalten« ist, Er empfindet »keine Freundschaft zu sich selbst«. Seine »Seele ist in Aufruhr«, »und so wird sie hin und her gezogen und wie auseinandergerissen«. Der Schlechte flieht sich selbst oder tötet sich selbst (Aristoteles, NE, ebd., S. 385). Die gesamte Logik in diesem Textabschnitt bei Aristoteles lässt sich auf die Figur des Woldemar übertragen: Untugend, Ich-Spaltung, innerer Aufruhr etc. Es ist das eigene Sein, das sich bei Woldemar im Andern spiegelt und in diesem Abbild erkennen will. Das gilt entsprechend auch für den Anderen. Wird am Anderen eine Veränderung wahrgenommen, so betrifft sie zugleich das eigene Sein, das sich fremd vorkommt. Das ist das auslösende Moment einer Verwirrung, die sich im Laufe der Zeit verstärken oder vermindern kann. Würde der Andere wirklich als Anderer (d. h. als selbstbestimmend und frei in seiner Persönlichkeit) wahrgenommen und anerkannt werden, träte diese Krisenform gar nicht erst auf, bzw. sie würde sich auflösen. Dazu gehört aber wesentlich, das Unterschiedene am jeweils anderen Geschlecht als solches anzuerkennen. Der Blick für die Veränderung am Anderen wird verstellt, wenn das Selbst abstrakt nur als Unveränderliches (»eine sichere Herrschaft über sich«) begriffen wird (Woldemars Rede, Werke V, S. 445). Hauptanliegen dieses Romans ist es, das Dasein der reinen Liebe (Liebe im nicht erotischen Sinne als tugendhafte Freundschaft) zu enthüllen. Die Selbstlosigkeit (Selbstgenügsamkeit), die eine wesentliche Ingredienz der Tugend ist, wird jedoch immer nur gefordert oder vorübergehend zur Darstellung gebracht. Sie erreicht nie ihre Erfüllung. Deshalb aber gilt die Freundschaft, die nur aus der Tugend selbst fließen kann, als »leere Freundschaft«, wenngleich es auch heißt, dass vollkommene Tugend (im aristotelischen Sinne) für den Menschen unerreichbar sei (S. 442) [1796, S. 247]. Es ist ein objektiver, der Konzeption der jacobischen Tugendlehre selbst immanenter Gegensatz, der dem Zwiespalt zwischen Tugendbefolgung und Tugendverletzung zugrunde liegt. Absicht und Resultat dieses Werkes stehen also aus diesem Grunde nicht in Einklang miteinander und können es auch nicht. Das || 154 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (s. Anm. 110), S. 383–385.

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beabsichtigte poetische Kunstwerk hat insofern keinen befriedigenden Schluss. Es ist sowohl inhaltlich unvollkommen als auch der Darstellung nach keine Einheit von Inhalt und Form erreicht: »Die Erzählung endigt mit einer unaufgelösten Dissonanz. Woldemars Innres und Äußeres ist unheilbar zerrüttet«.155 In der Tat ist dieses vernichtende Urteil Friedrich Schlegels zutreffend. Es bleibt auch in den späteren Fassungen ab 1794 noch gültig. Woldemar hat sich am Ende durch seine unerbittliche Reue und Selbstpeinigung, in deren Verharren er Seligkeit und Freundschaft zurückzugewinnen hoffte, in ein Knechtsdasein gestürzt, aus dem es für ihn kein Entrinnen gibt. Das extreme Auf und Ab seiner Gefühle, die Unstetigkeit in seiner Selbsteinschätzung, der Wechsel zwischen Himmel und Hölle muss unweigerlich in der letzteren enden. Die Quintessenz der Goethe-Parodie behält ihre Gültigkeit auch im Hinblick auf die letzte Fassung des Romans. Der ebenso aufschlussreiche wie lehrreiche Kommentar Biderthals, im Anschluss an die langen Aristoteles-Zitate (S. 431–446), enthält eine Ethik-Lektion und eine fundamentale Kritik, die an die Adresse seines Bruders Woldemar gerichtet ist. Biderthal schlüpft dabei, unterstützt von Dorenburg, in die Rolle eines aristotelischen Tugendlehrers, erfüllt aber eben damit höchstens den Zweck einer Verstandestugend (echte ethische Tugend kann man nicht lehren). Woldemars »Irrthum« wird darin gesehen, daran zu glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen einer selbstgewählten Neigung und der Bildung zu einem guten und ebenso glücklichen Menschen gebe (S. 431 u. S. 445f.). Es gibt aber keinen Weg von der Eigensucht zur Tugend. Eigensucht kennzeichnet vielmehr den Weg zur Untugend (S. 446). Der ganze Zweck dieses Ethik-Vortrages liegt also darin, Woldemar zu einer (Selbst-) Reinigung zu bewegen und ihm zur Einsicht in seinen »Irrthum« zu verhelfen. Biderthal erwartet einen Erfolg dieser Therapie: Was er gesündigt hat, wird nun bald abgebüßt sein. Gereinigt wird er da stehen. (S. 446)

Das Heilmittel ist die Moral, d. h. die Tugendauffassung, die Biderthal, Dorenburg und Henriette gemeinsam vertreten. Aber hat Woldemar sie denn am Ende wirklich mit Überzeugung übernommen? Ist aus ihm ein freier Mensch geworden? Die Abkehr vom Herzen als dem Leitorgan der Liebe lässt daran zweifeln. Seine Lebensweise ist ganz und gar nicht mit Henriettes Standhaftigkeit, Mut und Entschlossenheit zu einem wahrhaft freien Verhältnis der Freundschaft zu vereinheitlichen. Und auch Henriette wird am Ende an einem so unverbesserlichen Selbstzweifler nicht den Andern als ein zu ihr passendes Anderssein finden können. Wenn sie nicht selbst daran verzweifeln will, muss sie ihn aufgeben und ›zum Teufel‹ jagen. Dass er da auch hingehört, wurde ja in der Woldemar-Parodie des goethe-

|| 155 Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 61.

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schen Lesekreises deutlich genug zum Ausdruck gebracht (»Er ist verloren; laß ihn, rief der Teufel, in meinen Armen sterben!«).156 Jene Selbsterniedrigung Woldemars war sogar von Jacobi intendiert, wie aus einem Schreiben an Wilhelm von Humboldt hervorgeht: »Sie warfen Woldemar mit Grund vor, daß er ein Selbstpeiniger sey. Diesen Vorwurf verdient er in so hohem Grade, daß ich gefürchtet habe, Henriette möchte von dem Widerwillen leiden, den er erregt«.157 Von einer wahren Selbsterhöhung und inneren Umkehr Woldemars nach einer erfolgten »gesunden Selbstkritik«, die den befriedigenden Ausgang eines Kunstwerkes auszeichnen könnte,158 gibt es im Text keine Spur, sieht man einmal von dem losen »Blatt« ab, das von Woldemars Hand geschrieben ist und von Henriette vorgelesen und wie ein Bekenntnis zur (aristotelischen) Tugend aufgenommen, aber von niemand kommentiert wurde (S. 449–451). Blick, Gefühl und ein schwaches Echo auf die letzten Worte seitens Henriette (»Ihr zuversichtlicher Blick bey dieser Wiederholung machte alle weitere Auslegung überflüssig« [S. 451]) sind die einzigen Formen der positiven Zustimmung der Zuhörenden. Vielmehr darf man sagen, dass Woldemars pathetische Beteuerungen und Selbsterniedrigungen unbegründet und unwahrhaftig, ohne praktische Folgen, insofern auch wieder nur eitle Heucheleien sind. Die am Anfang der großen, finalen Aussprache Woldemars mit Henriette aufkeimende Hoffnung auf eine baldige, endgültige Konfliktauflösung wird rasch und bis zum Ende des Romans wiederholt enttäuscht. Was wie eine gelungene Selbsterkenntnis Woldemars als Schlüssel zur Konfliktbereinigung aussieht – das Eingeständnis eigener Fehler und Schwächen und deren Dispositionen (das Motiv einer inneren Feindschaft gegen sich selbst als Grund der geistigen Verwirrung [S. 463]) – wäre eigentlich genug gewesen, das für unaussprechlich erklärte Leiden (S. 464) intellektuell zu meistern und zu artikulieren. Die erkannte Selbstsuche im Anderen und ihre Dynamik, die dazu führen kann, dass sie gestört wird, wenn der Andere nicht mehr ist, endet in Verwirrung und Selbstverlust. Man müsste Woldemar mit der Nase darauf stoßen, dass sich ja der Andere immer verändert und also nie das bleibt was uns an seinem Wahrnehmungsbildnis beeindruckt. Eine solche Selbstsuche gelangt also prinzipiell nie an ihr Ziel. Permanente wechselseitige Entfremdungen und Selbstentfremdungen sind die natürliche (psychologische) Folge. So kann sich Woldemar in Bezug auf Henriette zwar wünschen: »ich wollte sie festhalten im Auge, im Innersten des Auges, daß sie mir nie mehr daraus verschwände!«, aber genau das passiert: »ein fremdes Wesen – und dennoch Henriette!« (S. 465). Das

|| 156 Geheime Nachrichten. In: Schüddekopf: Goethes Parodie (s. Anm. 118), S. [16]. 157 Jacobi an Wilhelm von Humboldt, 2. September 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 234, S. 178. 158 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 184.

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Auge kann nicht fassen, was der Geist ihm mitteilt. Durch die erlebte Entfremdung des Anderen, folgt notwendig – weil die Selbstsuche eine Suche in Henriettes Fremdheit ist (die ihrerseits die äußere Wirkung der seelischen Veränderungen des betrachtenden Woldemar, die von ihrem Gegenüber wahrgenommen wird, ist) – die Selbstentfremdung und der Wunsch nach Distanz, so dass sich Woldemar fragen muss: »Bin ich selbst ein Anderer geworden?« (S. 466). Die Beobachtungsszenerie dreht sich im Kreis. Der Zweifel und die Selbstentfremdung löst am jeweils Anderen den komplementären Effekt der Entfremdung aus, und das in einem unendlichen Progress. Woldemars Bekenntnisse gegenüber Henriette sind nur Ausdrucksweisen dieses einen und desselben Widerspruchs der Selbsterkenntnis mit ungeeigneten Mitteln: »Was mich von mir selbst schied, schied mich auch von dir […]« – »Ich konnte dich nicht halten, konnte dich nicht lassen!« (S. 463f.). Dabei hatte doch Woldemar in einem Brief an seinen Bruder schon vor längerer Zeit Veränderungen an seinem eigenen inneren Wesen entdeckt und daraus die allgemeine anthropologische Folgerung gezogen, dass der Mensch »in allem seinem Thun – Ach! So wandelbar, so hin und her, so unzuverläßig – ein durch und durch zweydeutiges, armes, nichtiges Wesen« sei. »Er vermag überall zu viel und zu wenig: darum nichts Ganzes, nichts durchaus Bleibendes« (S. 27). Woldemar hat also offensichtlich das Muster und das Problem dieses Konflikts im Kern erkannt, aber er ist unvermögend ihn aufzulösen, auch wenn im Verlauf der letzten Aussprache zwischen Henriette und Woldemar der Wendepunkt im Konflikt einzutreten scheint, just in dem Moment als sich die Beiden Auge in Auge gegenübertreten und Henriette Woldemar in den Blick nimmt, um ihn in der gewohnten Heiterkeit und Ruhe seines Auges wiederzuerkennen. Woldemar beteuert, ihr alles sagen zu wollen, damit sie »ganz und auf immer Friede« habe (S. 467). Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Das Bild im Auge verschwimmt. Immer wieder fällt er, anstatt im Zustand reiner »unschuldiger« (leidenschaftsloser) Liebe zu verharren, in die »tiefe Unart« seines Herzens zurück, stellt betroffen Selbsttäuschung und erneut »häßliche[n] Stolz«, »wüste Eigenliebe« bei sich fest. Gegenüber Henriette bekennt er, dass er sich »verstockte« und »lieber mit der Gottheit und der Menschheit brechen [wollte], als mit seinem satanisch gewordenen Selbst – « (S. 469). Die Instabilität der Psyche Woldemars drückt sich aus in einem ständigen Oszillieren zwischen himmlischen und höllischen Zuständen. Der Himmel, d. i. das erlebte und reflektierte Gute, die moralische Handlung; die Hölle der Sieg des Bösen als der Eigenliebe (Leiden). Durch den Selbstvorwurf findet er das Gute in Henriette, das Böse in sich: »Mein Eigenes ist böse … […] – Ich bin mir ein Abscheu!« (S. 473). Weil das Böse dadurch in ihm gesiegt hat, kann er ganz unerwartet ausrufen: »Ich habe gesiegt; nicht Henriette« (S. 473). Das bedeutet Selbsterhöhung (»Sie sprach […] von Verzeihung […]. Da frohlockte mein Hochmuth […]« (S. 473). Deshalb will, ja muss er, wie aus einem inneren, natürlichen Zwang heraus, verachtet werden (»Ich kann das nicht von euch wenden, sagte Woldemar, daß ihr mich verachten müßt«

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[S. 474]). Dieses Buhlen um die höchste Schuld ist aber nichts anderes als die Kehrseite eines Machtkampfes, der sich zwischen Henriette und Woldemar vollzieht. Die Lust zur Selbsterniedrigung (S. 475) geht bei Woldemar so weit, dass er mit der Selbsttötung (als letztem Mittel aus der Eigenliebe heraus in die Selbstlosigkeit zu finden) liebäugelt (S. 475). Ein gezielter Messerstich ins eigene Herz: Diese Vorstellung verbindet sich sowohl mit der Lebensweisheit am Ende des Buches als auch mit den letzten Reflexionen Woldemars über sein Herz. Das »verächtliche Herz« »verdiente zu bluten« (S. 475). Es habe ihn »von jeher« »nur weich gemacht« und nachgiebig gegen ihn selbst, indem es ihn lehrte, »alle Tugenden zu umgehen«, seinen Eigendünkel »über alles zu erheben« und ihn so »um alle Vernunft, um allen Seelenadel gebracht« (S. 475). Gleichzeitig »schmolz« ihm das Herz beim Anblick von Henriettes Flehen (S. 476).159 Er entdeckt in sich »immer noch de[n]selbe[n] harte[n], unbiegsame[n] Stolz« und bekennt: »Ich war nicht gut, Henriette! – Ich will es werden – ich will Demuth lernen; […]« (S. 476). Wenn der Erzähler im Anschluss an diese Szene über Henriette, »die Fromme«, behauptet, sie habe »wahrhaft gesiegt, und der Sieg blieb ihr« (S. 476), so muss diese Aussage nur wenig später wieder korrigiert werden. Das Echo des Wortes »Verzeihung« lässt auf einmal abwechselnd alle erschrecken. Jeder will schuldig sein und verachtet werden (z. B. S. 457f., S. 472 u. S. 474; Henriette: »Nein, ich habe nicht gesiegt!« [S. 474]). Alle wollen die Schuld für die Anderen tragen; alle verlangen daher nach Verzeihung, um sich vor den Anderen zu erniedrigen. Nur so scheinen sie sich in ihrer Reinheit gegen ihre Eigenliebe retten zu können. In Woldemars Haus, dem Austragungsort der letzten Szene des Romans, geht es zu wie in einer Kirche. Die Akteure sind zwecks ihres Glaubensbekenntnisses zusammengekommen. Nur eine fehlt noch, um das Bild zu vervollständigen: Allwina, Woldemars Verlobte. Als sie nach einer langen Reise plötzlich wieder erscheint, ist die Gemeinde vollzählig: »Alle erfuhren eine Erschütterung; eine Wonne und Wehmut; eine frohe und tiefe Andacht, wie noch nie in ihrem Leben« (S. 478). Allwinas Rolle scheint die eines Spiegelbildes der Unschuld zu sein, eine zweite Henriette, aber ohne Beteiligung und bisherige Verstrickung in Seelenkonflikte. Diese könnten sich nun anbahnen. Denn während sie mitfühlend der Erzählung der Herzensgeschichte Woldemars folgt, überkommt sie bereits eine Irritation: »Er that ihr weh mit seinem Eifern wider sich selbst; ihre Liebe zu ihm empörte sich dawider – schalt ihn, zürnte mit ihm« (S. 480). Hier liegt bereits der Keim eines neuen Konflikts. Das ahnt auch Woldemar, und es erfasst ihn »ein neuer Schrecken«. »Er hatte nichts verheimlichen wollen«, ihr sein »ganzes« Inneres darlegen wollen, aber nun doch nicht alles gesagt. Diese Unterlassung geschah nicht mit Absicht: »Es hatte ihn diese Zurückhaltung gleichsam überrascht. Darum erschrak er in seinem Innern; ent-

|| 159 Vgl. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 380 (1796, II, S. 174), Henriette über Woldemars Tugendauffassung: »[…] noch verläßt er sich auf sein Herz, und ist ein Thor«.

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setzte sich vor dem sonderbaren Geheimnisse, das in ihm waltete« (S. 480f.). In seiner Angst will er Henriette diesen neuen Kummer offenbaren. »Aber sein guter Geist trat zu ihm, lehrte ihn anders; richtete ihn auf« (S. 481). Trotz des Eingreifens des guten Geistes (seines Gewissens), der ihn in weiser Voraussicht von seinem Vorhaben abhielt, und trotz der edlen Vorsätze Woldemars müssen wir doch als Leser feststellen, dass die angedachte Selbstfindung und Selbstkontrolle für Woldemar wieder in weite Ferne gerückt ist. Die natürliche Unausgewogenheit seiner Psyche dauert fort. Er ist noch nicht bekehrt, und das Drama kann weitergehen. Es ist nicht leicht, den Schlüssel für die Komposition des Romans zu finden und zu durchschauen. Wenn man jedoch, wie gerade gezeigt, alle einzelnen Handlungsfolgen und Gefühlsausbrüche genau analysiert, entdeckt man eine vage Werklogik dahinter, die als Maßstab einer Beurteilung dienen kann. Das gilt auch für den Kontrapunkt, Henriettes Zitat aus Fénelon, gegen Woldemars Unart des Herzens: »Vertrauet der Liebe. Sie nimmt alles; aber sie giebt alles« (S. 482).160 Als reine (leidenschaftslose, religiöse) Liebe negiert sie alle Ansprüche auf Befriedigung des eigenen Selbst. Zugleich liegt ihr eigentlicher Reichtum in der seelischen Haltung der Uneigennützigkeit (Selbstlosigkeit); denn das bedeutet frei zu sein. Auf dieser Grundlage, die das innerste Wesen des Menschen betrifft (Gottheit, Liebe, Freiheit), dem wir »mehr als uns selbst zugehören« (S. 389f.), wird es auch verständlich, dass Henriette freimütig gestehen kann, sie habe »seinen [Woldemars, WE] Tod wünschen können! […] Aber daß ich das konnte: davon ist mir ein neuer Tag, eine hellere Aussicht geworden« (S. 390). Woldemar ist die (vergötterte) Person, aus der sie »alles Daseyn nimmt« (ebd.). Wenn sie den Wunsch nach seinem Tode (etwa durch Freitod) hegt, dann steckt darin ein absoluter Selbstverzicht, aber auch ihr eigenes Ende. Aus dieser Einsicht heraus wurde sie wie neu geboren: Die Liebe gibt alles. Da die Dichtung im Woldemar-Roman offenbar wieder nur Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck ist, so verdient das Kunstwerk nicht das Prädikat poetisch. Friedrich Schlegel zieht daraus den Schluss, dass das Kunstinteresse absichtlich einem höheren Zweck, nämlich dem philosophischen aufgeopfert worden sei.161 Doch selbst darin wird der Leser enttäuscht. Streng genommen ist Woldemar auch kein philosophisches (gedankliches) Kunstprodukt. Denn die wesentliche Anforderung dafür – eine »vollständige philosophische Einheit« – ist, trotz der Betonung des ganzen Menschen, nicht erfüllt. Sie zerfällt in den bloßen Gegensatz zwischen weiblicher und männlicher Natur. Die Lebensweisheit, die der Grundsatz am Ende ent-

|| 160 Zitiert nach Fénelon, siehe dazu den folgenden Exkurs. 161 Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 67. Jacobi räumte gegenüber Wilhelm von Humboldt ein, »daß im Woldemar der Dichter mehr im Dienste des Philosophen, als der Philosoph im Dienste des Dichters ist« (an Wilhelm von Humboldt, 2. September 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel [s. Anm. 10], Bd. 2, Nr. 234, S. 177).

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hält – »Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Thor – Richtet nicht!« (S. 482) – ist zu trivial, um als befriedigendes philosophisches Resultat zu gelten und zu überzeugen.162 Überdies ist in Jacobis Woldemar die Auflösung des Konfliktes, sofern sie intendiert ist, unglaubhaft. Es ist kaum zu verstehen, dass am Ende die Offenheit der gegenseitigen Beichte die Erlösung aus den schmerzhaften Verstrickungen der Seelen bringen soll, weil der Konflikt auf diese Weise als erkünstelt und auf eine in der Tat unwahrhafte Weise herbeigeführt erscheint. Denn in der ganzen Geschichte der Freundschaft gibt es kein wirkliches Hindernis, das diese Offenheit nicht schon früher erlaubt und überhaupt die ganze Kette von Missverständnissen, Verstimmungen, Enttäuschungen und Wiederaufrichtungen erübrigt hätte.163 Kaum ein Leser wird es ertragen, sich von dem unwürdigen Seelenjammer, dem Woldemar am Ende der Geschichte verfällt, »sympathisch« unterhalten zu lassen.164 Das Pathos, das im Schlussteil aufgewandt wird, »um Woldemars Bekehrung die gewünschte Erbaulichkeit zu verleihen, nimmt ihr die Würde und den Ernst, anstatt sie ihr zu geben«.165 Die Moral am Ende enthält alles andere als eine Lösung. Sie ist kein Balsam für kränkelnde Seelen, sondern eine trostlose Lebensweisheit, die überdies nur eine Halbwahrheit enthält, insofern sie in dieser radikalen Version mit den sittlichen Reflexionen der handelnden Personen des Romans oder dessen Autors nicht in Einklang steht.166 Sie ist geradezu ins Gegenteil verkehrt und die Negation zu der Geisteshaltung, zu der sich die Helden des Romans, Woldemar und Henriette, durchweg bekannt haben: ihre Tugendgesinnung allein vom Herzen (Gewissen) abhängig zu machen. So äußert Woldemar in seinem Disput mit Hornich einmal die Überzeugung: »Wen sein eigenes Herz über Gutes und Böses nicht unmittelbar belehrt, den kann weder göttlicher noch menschlicher Unterricht bessern« (S. 101; vgl. S. 115). Es ist die Absage an eine Ethik, die gelehrt werden kann, die Absage an eine Verstandes- oder Gesetzesmoral nach den Überzeugungen von Hornich und Alkam, die Woldemar leitet. Der Mensch soll konsequent den Trieben seines Herzens folgen – das ist Woldemars allgemeine Einstellung – und nur daraus lasse sich genuin menschliches sittliches Handeln erklären (vgl. S. 76, unter Berufung auf Aristoteles): Was gut ist, sagt dem Menschen unmittelbar und allein sein Herz; kann allein sein Herz, sein Trieb unmittelbar ihm sagen: es zu lieben ist sein Leben. (S. 115; vgl. S. 180)

|| 162 Vgl. Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 68. 163 Vgl. ebd., S. 61. 164 Vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 188f. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 65.

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Henriette lebt Woldemar dieses Vertrauen ins eigene Herz vor und überwindet so alle Zweifel (S. 361). Dennoch war sie es, die im Gespräch mit Biderthal und Dorenburg feststellen musste, dass es Woldemar an einem echten Tugendbekenntnis fehle: »noch verläßt er sich auf sein Herz, und ist ein Thor« (S. 380). Freilich kommt es darauf an, sein Herz richtig zu gebrauchen und sich nicht etwa an der Lust am Guten und Schönen zu orientieren, weil sie dazu verführt, »diese Lust für Tugend« zu halten (ebd.). Es könnte damit implizit eine Distanzierung von der platonischen Liebe als Eros (in der Bedeutung der Liebe zum Schönen) verbunden sein.167 Die Absage an das eigene Herz als Entscheidungsgrundlage in moralischen Fragen am Ende des Romans muss demnach relativiert werden. Denn sie ist gleichbedeutend mit der Negation aller Tugend, Sittlichkeit und Freiheit, also das gerade Gegenteil dessen, was der Roman zur Absicht hatte. Im Grunde landet Woldemar damit bei der Hornich’schen Ablehnung des Herzens. Deshalb kann das Ende des zweiten Teils eigentlich nur ein unvollkommener (vorläufiger) Schluss sein. Die allgemeine Verwerfung des eigenen Herzens als moralischer Entscheidungsinstanz wird nur insoweit plausibel als Woldemar sich seine Erfahrungen mit seinen eigenen Entscheidungsschwächen und -fehlern vor Augen führt. Nicht das Herzen im allgemeinen sondern die Spaltung seines eigenen Herzens müsste er überwinden, um die Tugendfreundschaft mit sich selbst und mit Henriette erreichen zu können. Ansonsten bleibt der Gegensatz als unvermittelt bestehen. Aus einem Entzweiten lässt sich, solange es entzweit ist, keine harmonische Einheit bilden – wie bereits Plato auseinandergesetzt hat. Es bedarf (laut Plato) deshalb eines zweifachen Eros, des himmlischen, sittlichen Eros auf beiden Seiten, um die gegenseitigen Liebesregungen ins Gleichgewicht zu bringen.168 Liebe heißt »Trachten nach dem Ganzen«, Rückkehr zur ursprünglichen Einheit. Das bedeutet, dass Woldemar von demselben sittlichen Gefühl beseelt sein muss wie Henriette. Das ist aber dem Ausgang des Zweiten Buches des Romans zufolge nicht der Fall.169 Aber wir wollen nicht ungerecht sein im Umgang mit dem Verfasser des Woldemar. Wir sollten uns daran erinnern, dass Jacobi im Vorspann zur Ausgabe von 1779 zwei weitere Bände – also auch noch einen dritten – ankündigte (obwohl mir keine spätere Äußerung Jacobis in Erinnerung geblieben ist, an der er noch einmal auf

|| 167 Vgl. Platon: Das Gastmahl. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Hg. von Gunther Eigler u. a. Darmstadt 31990, Bd. 3, 204a, 209e–212e (S. 163, S. 343–353). 168 Ebd., Rede des Arztes Eryximachos, 186a–188e (S. 255‒263) und des Aristophanes, 191d–193d (S. 275–283). 169 Verblüffend übrigens die Nähe zum frühen Hegel: »Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fragment: Religion, eine Religion stiften [1797/98]. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 bis 1845 neu ediert. Red. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969–1971, Bd. 1, S. 243; vgl. ebd., S. 244–246.

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den einstigen Plan einer dreibändigen Ausgabe des Buches Bezug genommen hätte). Unter diesem Gesichtspunkt ist das Urteil über den Ausgang der beiden publizierten Bände vielleicht zu relativieren. Die Skepsis in das Vertrauen ins eigene Herz erscheint so in einem anderen Licht. Sie lässt sich passend mit einer anderen Stelle auf der vorletzten Seite (S. 481) verbinden: »Ihm [Woldemar, WE] schauderte vor dem Abgrunde – an dem er noch stand: vor den Tiefen seines Herzens!« Diese Tiefe scheint noch nicht ausgemessen oder gar überwunden zu sein, obwohl er doch gegenüber Allwina nach ihrem Wiedersehen »die ganze Geschichte seines Herzens« dargelegt haben wollte (S. 480). Der Abgrund des Herzens – das wäre etwa das Thema des dritten Bandes, zu dem Woldemars Schlusswort zum zweiten Band erst den Auftakt gibt. Ohne Zweifel hätte die Lösung dieses Konfliktes nochmals einer intellektuellen Steigerung des Autors in inhaltlicher und formaler Hinsicht bedurft. Der Roman ist also Fragment. Das Ende (der dritte Teil) fehlt. Dieser hätte zu zeigen, was unmöglich zu sein scheint: dass der Andere nahtlos mit dem eigenen Selbst übereinstimmt, ohne in ihm zu verschwinden oder unterzugehen, m. a. W. dass er der Andere für den Anderen bleibt und zugleich auch den Anderen als sein Anderssein einschließt. Unmöglich ist das schon deshalb, weil die eigene Selbstbestimmung durch die Freiheit des Anderen, die für die Selbstbestimmung konstitutiv ist, immer wieder beschränkt wird. Das Herz schließt aus, was die Vernunft fordert. Woldemar nimmt am Ende die Warnung Henriettes auf und verallgemeinert sie: er ist ein Tor, solange er sich bloß auf sein eigenes Herz verlässt. Denn das (einseitige) Herz scheint diesen Widerspruch permanent zu reproduzieren. Zugleich muss er dem eigenen Herzen vertrauen, wenn er mit Henriette übereinstimmen soll. Das kann er nur, wenn er der Liebe dabei vertraut, d. h. dem ethischen, nicht dem erotischen oder lustvollen Umgang mit dem Herzen. Nur so lässt sich das Ideal der Freundschaft durchhalten und nur dann kann Woldemar sein Menschenbild, mehr im Andern als in sich selbst zu sein (S. 48f.), aufrecht erhalten.

Exkurs über die reine Liebe170 Mit seinem Begriff von reiner Liebe beruft sich Jacobi, gleich seinem Gewährsmann Fénelon, auf das platonische Eros.171 Die wahre Liebe wird von ihm als Begierde betrachtet, welche vor aller sinnlichen Erfahrung vorhergeht bzw. die einfache Empfindung transzendiert. Sie ist die Seele selbst, die göttliche Natur, das Maß aller Dinge.172 || 170 Dieser Exkurs ist ein verkürzter Ausschnitt aus einem ausgearbeiteten Kapitel, für das in ganzer Länge hier kein Platz ist. 171 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: An Schlosser über dessen Fortsetzung des Platonischen Gastmales (25. April 1796). In: Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 6, S. 66ff. 172 Ebd., S. 68f.

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Dieser Inbegriff der Liebe besteht in ihrer Uneigennützigkeit,173 d. h. darin, die Empfindungen des Selbst »der Empfindung eines Andern, welches nicht das Selbst ist«, nachzusetzen. Dieses »Urbild freier Liebe«, das dem Egoismus ganz entgegenwirken soll, nennt Jacobi ein »Ideal«.174 Er begreift es als Prinzip der göttlichen Schöpfung: »Liebe wird genannt, was Erzeugung bewirkt«.175 Die Seele besitzt nach Plato auch Zeugungsvermögen.176 Insbesondere erzeugt sie die Liebe »im Schönen«.177 Im Menschen soll nun eine irdische mit einer überirdischen Begierde bzw. eine sinnliche mit einer intellektuellen Liebe verknüpft sein,178 und »Liebestrieb und Lebenstrieb sind Eins«.179 Die Liebe selbst soll diese Gegensätze vereinen, sie soll das Bindeglied zwischen Himmel und Erde, der einzige Weg zur ewigen Glückseligkeit sein: »Die Liebe ist ein Mittel der Erhebung aus dem Sinnlichen zum Übersinnlichen, aus dem Sterblichen zum Unsterblichen; dieses Mittel geht durch die ganze Weltbildung, belebt sie, ist das lebendige Mittelglied zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf«.180 Doch diese lebendige Vereinigung ist in der Vorstellung Jacobis ein vollkommenes Beherrschtwerden der Leidenschaften durch die Gewalt des Geistigen. Schon das erste unerwartete Auftreten einer lustvollen Liebesregung ist ihm zufolge untrennbar verbunden mit dem Gesicht des Göttlichen, so dass der Liebende tief aus seinem Inneren heraus Scham wegen »seiner thierischen Natur« und »Abscheu an allem Unreinen« empfinden müsse.181 Demnach ist die Liebe bei Jacobi in Wahrheit nicht die Vereinigung von sinnlicher und geistiger Begierde, sondern sie ist als Ausschließung der Begierde im »gemeinen Sinne«, demzufolge der Mensch zum Geschlecht der Tiere gehöre, zu betrachten. Die Liebe ist nur dadurch rein, dass sie sich von selbstsüchtigen Neigungen absolut unterscheidet und trennt.182 Eben deswegen soll es für Woldemar kein Aufsteigen von der Sinneslust (Leibesfreude) zur ethischen Glückseligkeit geben. Dieselbe Konzeption reiner Liebe, einschließlich der ihr anhaftenden Wider|| 173 Ebd., Bruchstücke der Fortsetzung, S. 91. 174 Ebd., S. 78, S. 92. 175 Ebd., S. 75; vgl. ebd., S. 94: »Gott, um zu lieben, muß gewissermaßen aus sich herausgehen und Mensch werden. Wenn er nicht geschaffen hätte, ließe sich in ihm keine Liebe denken«. 176 Platon: Das Gastmahl (s. Anm. 167), 209a (S. 339). 177 Ebd., 206e (S. 331). 178 Jacobi: An Schlosser (s. Anm. 171), S. 75; vgl. zu dem Doppelaspekt der reinen Liebe als eines göttlichen und eines menschlichen Prinzips Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 107–111 sowie zur unsterblichen Freundschaft ebd., S. 111–163. 179 Jacobi: An Schlosser (s. Anm. 171), S. 78. 180 Ebd., S. 93. 181 Ebd., S. 77; vgl. Platon: Das Gastmahl (s. Anm. 167), Rede des Phaidros, 178b–179a (S. 231–233). 182 Vgl. Jacobi: An Schlosser (s. Anm. 171), S. 82, S. 83 und S. 90.

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sprüche, wurde von dem cartesianischen Kirchenphilosophen Fénelon, der geistigen Leitperson der Romanhelden Jacobis, entworfen.183 Fénelons Abhandlung von der reinen Liebe184 – sie wurde von Jacobi mehrfach zustimmend erwähnt185 – ist im Grunde ein theologisches Lehrstück. Denn die Tugend als der höchste Zweck des Menschen ist hier identisch mit der Herrlichkeit Gottes. Demgegenüber ist die Glückseligkeit (le bonheur) nur ein untergeordneter Zweck.186 Der wesentliche Zweck der Schöpfung ist nur realisierbar durch die reine, d. i. vollkommen selbstlose Liebe. Ein sittliches Verhältnis unter den Menschen ist also nur durch die Überwindung jeglicher Spur von Eigennutz (intérêt propre) und Eigenliebe (l’amour propre) im und durch den Menschen selbst herstellbar. Dies bedeutet in letzter Konsequenz bei Fénelon immer, dass der Herrlichkeit Gottes gegenüber dem eigenen Selbst Vorrang gebühre, und dass die Selbstvergötterung der Gottlosen durch ein freiwilliges Martyrium zu bezwingen sei. Nur der freiwillige Selbstverzicht auf das eigene Leben – Schmerz, Entsagung und Tod – vermag die göttliche Seite des Menschen in ihm selbst zum ewigen Leben zu erwecken.187 Fénelon bringt hier unter Bezugnahme auf Plato als Beispiel aus der »heidnischen Antike« den Opfergang der Alceste (Alkestis).188 In diesen Überlegungen, nach denen der Lohn der Ewigkeit nur demjenigen winkt, der in seiner Selbstlosigkeit keine Belohnung erwartet, ist genau die Moral des Liebesromans Woldemar ausgesprochen.189 Die Liebe ist rein nur kraft der Qualität ihres Gegenstandes, nämlich als Liebe zu Gott, und zwar dies wiederum nicht des menschlichen Selbst zuliebe, sondern einzig und allein um seiner selbst willen, auf Grund seiner Vollkommenheit.190 Gott allein soll sie alles geben, und dem Menschen lässt sie nichts.191 Das vollkommene Sein, in dem das Schöne, das Wahre und das Gute unmittelbar in Eins gesetzt werden, ist unveränderlich.192

|| 183 Vgl. z. B. Friedrich Heinrich Jacobi: Allwill. In: Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 173f.; Jacobi: Woldemar, Henriettes Schlusswort (ebd., Bd. 5, S. 482). 184 François de Salignac-Fénelon: Instructions et Avis sur Divers Points de la Morale, et de la Perfection Chrétienne, Abschnitt XIX: Sur le Pur Amour. In: Œuvres spirituelles de Fénelon. Bd. 1. Paris 1836. 185 Vgl. Jacobi an Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, 29. Januar 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, S. 144; Jacobi an Wilhelm von Humboldt, 2. September 1794. In: ebd., S. 178; ein längeres Zitat aus dieser Schrift führt Jacobi in seinem Schreiben An Schlosser (s. Anm. 171) an (S. 73f.). 186 Fénelon: Sur le Pur Amour (s. Anm. 184), S. 303, 2. Spalte; desgleichen, ebd., S. 304, 1. Spalte. 187 Ebd., S. 306, 1. Spalte; S. 308, 2. Spalte. 188 Ebd., S. 308, 2. Spalte; S. 310, 1. Spalte. Vgl. Platon: Das Gastmahl (s. Anm. 167), Rede des Phaidros, 179b–180b (S. 233–237). 189 Vgl. Jacobiʼs Werke (s. Anm. 3), Bd. 5, S. 482, der Ausspruch Henriettes am Ende des Romans. 190 Fénelon: Sur le Pur Amour (s. Anm. 184), S. 304, 2. Spalte. 191 Ebd., S. 305, 1. Spalte. 192 Ebd., S. 308, 2. Spalte.

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Diese Liebe ist also vollkommen nur insofern, als sie jedes Motiv des Eigennutzes und des individuellen Glücks absolut ausschließt, denn es darf nicht mit der Eigenliebe vermischt werden.193 Selbst durch die Annahme seiner ewigen Vernichtung kann der Mensch nicht von der Pflicht zu dieser Liebe entbunden werden.194 Die uneigennützige Liebe der Menschen untereinander – ein Abkömmling der göttlichen Liebe – nennt Fénelon Freundschaft.195 Auch von ihm wird die Freundschaft als ein Verhältnis gedacht, in welchem sich das Selbst bloß verdoppelt: »celui-là est notre véritable ami qui est comme un autre nous-même«.196 Nicht der Eigennutz, sondern die Vollkommenheit in sich selbst ist der Grund der Freundschaft. In dem selbstvergessenen Akt der Liebe, nicht im passiven Empfangen oder Erwarten der Liebe, liegt das Göttliche, die Idee reiner Freundschaft.197 Die Vollkommenheit menschlicher Tugend besteht darin, sich ganz in die einfache Liebe des unendlichen Schönen zu versenken.198

6 Schlussbetrachtung Vor dem Hintergrund dieser eingeschobenen Quellenbetrachtung entspricht die Auflösung der Woldemar-Problematik am Ende dem Wunder, das Jacobi seiner eigenen Philosophie verordnet, indem er sie in Theologie übergehen lässt und ihren inneren Widerspruch darin verewigt. Dieser Sachverhalt war bereits zu seinen Lebzeiten dem kritischen Blick Friedrich Schlegels nicht entgangen: »Woldemar ist also eigentlich eine Einladungsschrift zur Bekanntschaft mit Gott […], und das theologische Kunstwerk endigt, wie alle moralischen Debauchen endigen, mit einem Salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit«.199 Jacobi selbst hatte ja ganz ungeniert erklärt, dass der bestimmteste Zweck seiner Philosophie darin bestehe, »Gott als den ersten Grund aller Wissenschaft zu entdecken und überall wieder zu finden«.200 Die unergründbare Einwirkung Gottes auf den Menschen verleiht den menschlichen Handlungen in letzter Konsequenz erst ihre Sittlichkeit. Die Liebe ist erst rein

|| 193 Ebd., S. 305, 1. Spalte; S. 306, 1. Spalte. 194 Ebd., S. 306, 1. Spalte. 195 Ebd., S. 307, 1. Spalte. 196 Ebd., S. 307, 2. Spalte (Zitat aus Ciceros De Amicitia, cap. V und VI). 197 »[C]ette idée […] est le fondement de toute amitié et de toute justice« (Fénelon: Sur le Pur Amour [s. Anm. 184], S. 309, 2. Spalte; vgl. S. 308, 1. Spalte). 198 Ebd., S. 309, 1. Spalte. 199 Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 77. 200 Jacobi: Spinoza-Briefe (s. Anm. 22), Vorbericht, S. XVIf., vgl. ebd., S. XXf.

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als die religiöse Liebe, die von dem göttlichen Wesen ausgehe.201 Philosophische Wissenschaft und Wahrheit bilden also hier, wie gezeigt, nicht den letzten Zweck, sondern sie werden einer (vermeintlich) höheren Absicht geopfert, zu der auch die Philosophie nur Mittel ist. Folgt man der Einschätzung Friedrich Schlegels, dann ist der letzte Zweck der Dichtung Jacobis die subjektive »individuelle Einheit« des Menschen Friedrich Heinrich Jacobi und nicht das vorgebliche »objektive« Interesse an der »Menschheit«.202 Ein Indiz hierfür mag wohl sein, dass er Kritik an seinem Romanhelden mit persönlicher Kränkung aufnahm und sich gegen die Unterstellung zur Wehr setzte, er habe die Charaktere der idealen Personen seines Romans nur aus seiner eigenen Seele geschöpft.203 Aber gerade von solchen Freunden erhielt Jacobi Unterstützung und Anerkennung für seinen Roman, die im Woldemar nichts weiter zu sehen glaubten als den höchst individuellen Seelenabdruck ihres Verfassers, an den sie über das geschaffene Kunstmedium Anbindung suchten. Der Roman diente ihnen als bloßes Mittel zur Überprüfung der Konformität ihrer eigenen Gesinnung mit der Überzeugung Jacobis.204 Die Aufblähung der Kunsthülle (der äußeren Form), durch die der Geist scheinen soll, mit philosophischen Reflexionen ist im Woldemar erheblich stärkerer als im Allwill. Die Stoffüberladung wird nicht zuletzt durch die Formverschiebung mit verursacht: Woldemar ist kein Briefroman mehr. Dialogische Gespräche, oft ermüdende Solo-Vorträge, lange Exposés und Zitate, Traktätchen, die die Verpackung der Reflexion erleichtern sollen, eingeschobene Briefe, lose Blätter, monotone Naturbeschreibungen und Erzählungen über Geschehnisse, die von keinem besonderen Einfallsreichtum zeugen und poetisch bedeutungslos sind, wechseln einander in loser Folge ohne jedes erkennbare Schema ab.205 Am ehesten kann man Woldemar noch als psychologischen Roman (Seelenroman) bezeichnen. Jacobi betreibt das Gedankenwerk eines empirischen Psychologen, dem das Selbstgefühl zugrunde

|| 201 Vgl. Jacobi: Woldemar (s. Anm. 3), S. 65f., S. 94f.; Jacobi: Spinoza-Briefe (s. Anm. 22), §§ XLIII– XLVI, S. 33. 202 Vgl. Schlegel: Woldemar-Rezension (s. Anm. 43), S. 68–70. 203 Vgl. Jacobi an Lavater, 17. Mai 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 231, S. 169. 204 Vgl. Georg Forster an Jacobi, 23. April 1779. In: Forsters Briefwechsel (s. Anm. 17), Bd. 1, Nr. XV, S. 200, S. 204, S. 205; Forster an Jacobi, 17. März 1780. In: ebd., Nr. XXV, S. 250 (Forsters Urteil bezog sich soweit nur auf den ersten Teil der Urfassung im Teutschen Merkur); Lavater an Jacobi, 3. Mai 1794. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 230, S. 166; Fichte an Jacobi, 26. April 1796. In: ebd., Bd. 2, Nr. 256, S. 223f.; Carl Truemann (Pseudonym für Graf d’Angviller) an Jacobi, 17. August 1796. In: ebd., Bd. 2, Nr. 259, S. 231, S. 234f.; Wieland an Jacobi (zur ersten Manuskriptfassung), 25. April 1777. In: ebd., Bd. 1, Nr. 92, S. 261f. 205 Zur Schriftform im Woldemar vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 95–131.

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liegt, wie es über Bacon und Locke in die deutsche Metaphysik Einzug gehalten hatte.206 Auffällig ist vor allem im frühesten Fragment die Schilderung von geradezu hysterischen Verhaltensweisen und Zwangshandlungen als Ausdruck der seelischen Verklemmung, des Schmerzes und der Angst,207 deren jämmerliche Komik vom Autor gewiss nicht intendiert war, sondern einfach misslungen ist, sowie die ausufernde Aneinanderreihung hektisch betriebener Liebeshandlungen.208 In den Augen Jacobis war es einem durch die Vollkommenheit himmlischer Liebe begnadeten Künstler, der nur ein Werkzeug in der unsichtbaren Hand Gottes sei, unmöglich, durch eine Formveränderung eine Verbesserung des Inhalts zu bewirken. Die Materie musste notwendig wahr sein, weil sie unmittelbar gegeben sei. Ihre Negation oder bloße Modifikation käme ja einem Verstoß gegen die göttliche Ordnung gleich. Deshalb ist es auch gar nicht verwunderlich, dass alle Überarbeitungen und Ergänzungen in den folgenden Woldemar-Fassungen keine wesentlichen Verbesserungen für die Gestaltung des Werkes mit sich brachten. Wenn alles wahrhaft Gute und Schöne göttlicher Herkunft ist, dann kann es eben nur dadurch rein erhalten werden, dass es für sich selber spricht.209 An dieser Vorstellung hielt Jacobi sein Leben lang fest. Noch im hohen Alter erklärte er:

|| 206 In zeitlicher Nähe zur Entstehung des Woldemar vielleicht durch Johann Nikolaus Tetensʼ Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (2 Bde. Leipzig 1777. Bd. 1, S. 190 u. ö.). Siehe dazu die jüngst vorgelegte ausgezeichnete Dissertation (Promotion im Fach Psychologie) von Monalisa Maria Lauro: O Estato da Psicologia empírica no projeto filosófico de Johann Nicolaus Tetens (1736–1807). Juiz de Fora 2020, S. 62. Vgl. Gideon Stiening, Udo Thiel (Hg.): Johann Nikolaus Tetens (1736–1807). Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus. Berlin 2014. 207 Z. B. Woldemar, als er Henriettes Geheimnis vor ihm bemerkte, »fuhr in die Höhe, stieß in der Angst, um sich zu betäuben, allerhand Töne aus der Brust, zerdrückte mit beyden Händen sich die Stirne, krümmte sich ineinander, – wußte nicht zu bleiben« (Teutscher Merkur 1777, 3. Bd., S. 47; schon in der folgenden Ausgabe vom Jahre 1779 wurde die Passage gekürzt; vgl. David: Jacobis »Woldemar« [s. Anm. 9], S. 84); oder die Schlussszene: Henriette belauschte Woldemar hinter der Tür und »hörte etlichemal daß er gewaltsame Bewegungen machte und fürchterliche Töne ausstieß. Hernach wurd es ganz still. Darauf hörte sie Weinen und Schluchzen. – Und nun wieder Stille wie todt«. Sie betritt das Zimmer: »Er saß, den Kopf umgedreht, nach der Wand, gegen die er das Gesicht gequetscht hatte, wie aus Begierde sie mit den Zähnen zu fassen; die Arme vorwärts steif ausgestreckt, und die Hände los gefalten; die Beine hiengen, gezuckt, längs dem Sessel, so daß sie nur mit der Spitze den Boden berührten« (Teutscher Merkur 1777, 4. Bd., S. 262). 208 »Biederthal küßte Dorenburg noch einmal und gieng. Henriette haschte bey’m Vorübergehen ihm die Hand, und küßte ihn; er umarmte Caroline; herzte sein Weib, setzte sich dann, und erzählte weiter« (Teutscher Merkur 1777, 2. Bd., S. 105; vgl. David: Jacobis »Woldemar« [s. Anm. 9], S. 85). 209 »Schönheiten von einer gewissen Gattung sind unnennbar, wie die Gottheit, die unendlich in jeder Bestimmung ihres Wesens, allein durch und in sich selbst dargestellt werden kann« (Jacobi an Heinse, 20. Oktober 1780. In: Jacobiʼs Nachlaß [s. Anm. 2], Bd. 1, S. 30).

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Meine Kunst, meine Manier, mein Styl, alles ist mir unwillkührlich und auf eine so nothwendige Weise geworden, daß es mir nicht anders werden konnte. Ich werde schwanger, und wenn das Ziel erfüllt ist, tritt mir aus dem Dunkel, in dem er gebildet wurde, ein Sohn ans Licht […]. Die Form meines Vortrages ist über all die Form meiner Empfängniß. Ich bemühe mich zu bewirken, daß dem Leser eben so geschehe, wie mir. Daß mir dieß zuweilen in einem hohen Grade gelingt, darin besteht mein Talent, meine Individualität und Originalität. Zum eigentlichen Lehrer tauge ich nicht; ich kann mich nur hingeben, daß andere nicht von, sondern aus mir und durch mich lernen, nach Maßgabe ihres Bedürfnisses und ihrer Fassungskraft.210

|| 210 Jacobi an Johann Neeb, 7. Januar 1813. In: Jacobiʼs auserlesener Briefwechsel (s. Anm. 10), Bd. 2, Nr. 346, S. 433; vgl. David: Jacobis »Woldemar« (s. Anm. 9), S. 92f.

Gideon Stiening

»Der geheime Handgriff des Schöpfers« Jacobis theonome Epistemologie

1 Einleitung: Theologie der Ahndung In seiner als Dialog gestalteten Abhandlung David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus spannt Friedrich Heinrich Jacobi den Leser lange auf die Folter im Hinblick darauf, was eigentlich genau das Nachweisziel der mäandernden Argumentationsbewegung darstellt. Tatsächlich hat der Dialog ein apologetisches, ein kritisches und ein systematisches Telos: Die Apologie entspinnt sich an der Auseinandersetzung mit einer anonymen Publikation, die Jacobi anhand einer kurzen Analyse der Spinozabriefe des Neo-Jesuitismus bezichtigt hatte,1 kritisch ist der Text in seiner zentralen Kontroverse mit Kant,2 systematisch aber zielt die Argumentation auf eine spezifische Theologie. Allerdings heißt es erst kurz vor Schluss mit einiger Emphase: Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und extensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Personalität, das ist, unserer Geisteshöhe. Mit dieser köstlichen Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottesahndung; Ahndung dessen, DER DA IST: eines Wesens, das sein Leben in ihm selbst hat. – Von da her weht Freyheit die Seele an, und die Gefilde der Unsterblichkeit thun sich auf.3

Nichts Geringeres als die Existenz der Gottesinstanz als eines an ihm und durch sich selbst lebenden Wesens ist es, auf die die Begründungswege des Essays zusteuerten. Allerdings ist der Modus der Gewissheit über Existenz und Essenz dieser Instanz nicht rationales Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung, sondern die »Ahndung« als eine Form von Bewusstsein, die zwar aus der Vernunft erwächst, nicht aber mit dieser identisch ist. Dabei ist das ›ahndende Bewusstsein‹ weder auf Ver-

|| 1 Siehe hierzu Anon.: Vorläufige Darstellung des heutigen Jesuitismus, Rosenkreuzerei, Proselytenmacherey und Religionsvereinigung. Deutschland (sic) 1786, S. 173, wo Jacobi eines »unbedingten, blinden Glaubens« bezichtigt wird. 2 Zu den Grundzügen dieser Auseinandersetzung mit Kant vgl. Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1991, S. 53–68. 3 Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Rationalismus. Auf der Grundlage der Ausgabe von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Piske hg. und eingeleitet von Oliver Koch. Hamburg 2019, S. 99. https://doi.org/10.1515/9783110727340-008

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gangenheit noch auf Zukunft ausgerichtet,4 sondern auf einen ›Gegenstand‹, der – weil u. a. raum-zeitlich indifferent – nach Jacobi gar nicht erkannt, sondern als Erweiterung der in der Empfindung substantiierten Vernunft nur gefühlt werden kann. Eine präzise Bestimmung solcher ›Ahndung‹ im Sinne Jacobis liefert 1805 Jakob Friedrich Fries in seiner Monographie Wissen, Glaube und Ahndung: Die Erkenntniss durch reines Gefühl nenne ich Ahndung des Ewigen im Endlichen. Ein Gegenstand unsers Wissens, und unsrer Anschauung wird nur das Einzelne und Endliche in der Natur; für den Glauben hingegen können wir das Ewige nur durch die Idee des Nicht-Endlichen denken, […]. Eine positive Vorstellung des Ewigen haben wir unmittelbar gar nicht, aber durch die Vereinigung des Wissens und Glaubens in demselben Bewustseyn entsteht die Überzeugung, dass das Endliche nur eine Erscheinung des Ewigen sey, und daraus ein Gefühl der Anerkennung des Ewigen im Endlichen, welches wir Ahndung nennen.5

Aus dieser Ahndung Gottes als einer Vermittlung der eigentlich unvermittelbaren Sphären des Endlichen und des Unendlichen ergibt sich – Jacobi wechselt im obigen Zitat in die Metapher des ›Anwehens‹ – die geahndete Überzeugung von Freiheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Es sind also die Ahndung Gottes und das ›Anwehen‹ von Freiheit und Unsterblichkeit, auf die Jacobis Überlegungen im David Hume, wie schon in den Spinoza-Briefen, abzielen.6 Unbestreitbar hat Jacobi mit diesem Entwurf die ›Kronjuwelen der traditionellen Metaphysik‹7 in einer Weise gefasst, die die Ergebnisse der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft dergestalt berücksichtigt, dass auch im Rahmen dieser ›Ahndungs‹-Philosophie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zwar bewusst sein, nicht aber gewusst werden, mithin Gegenstand eines rationalen Wissens sein können; zugleich kehrt er Kants Absichten in ihr Gegenteil, indem er das Ahnden dieser ›Gegenstände‹ zur Grundlage allen Wissens erhebt. Zu diesem Zweck muss er allerdings eine Vermögenslehre entwickeln, die sich nicht allein von Hume oder Leibniz, auf deren Empirismus und Rationalismus er sich beruft, sondern auch von Kant und dessen transzendentalphilosophischer Alternative substanziell unterscheidet. Die Konturen dieser im David Hume vorgestellten Epistemologie sollen im Folgenden rekonstruiert werden.

|| 4 Vgl. hierzu Stefan Willer: Ahnen und Ahnden. Zur historischen Semantik des Vorgefühls um 1800. In: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 6 (2017), S. 31–40. 5 Vgl. Jakob Friedrich Fries: Wissen, Glaube und Ahndung. Jena 1805, S. 176f. 6 Zu den Spinoza-Briefen vgl. insbesondere Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974, S. 136– 225. 7 So Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979, S. 469: »Das alte Kronjuwel der Metaphysik, die Unsterblichkeit, hatte auch den Aspekt einer durch keine Macht verletzlichen Konstante.«

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2 Jacobis Kritik einer »Critik der reinen Vernunft« Axel Hutter hat darauf aufmerksam gemacht, dass »es ein charakteristischer Wesenszug und zugleich eine Stärke des Jacobischen Denkens ist, die eigene Position vermittels einer genauen und zugleich kritischen Darstellung der Gegenposition zu gewinnen«.8 Tatsächlich ist die polemische oder vielmehr kontroverstheologische Kontur der Argumentationsbewegungen auch im David Hume nicht zu verkennen; das Ziel ist nämlich, die oben zitierte, spezifische Überzeugung von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu begründen, und zu diesem Zweck wird am gesamten Spektrum der zeitgenössischen Erkenntnistheorien die eigene »Gegenposition« entworfen. Das geschieht mal explizit, mal eher verdeckt: Der – allerdings mehr verstellende als genaue9 – Bezug auf Hume zu Beginn des Dialogs und die ebenso überraschende wie eigentümliche Referenz auf Leibniz erfolgen ausdrücklich affirmativ, die Bezugnahme auf Kant dagegen ausschließlich kritisch und häufig implizit. In allen drei Fällen aber geht es Jacobi darum, die Grundfeste seiner Theologie – Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – sowohl gegen deren empiristische Depotenzierung als auch gegen deren rationalistische Beweise sowie letztlich gegen ihre transzendentalphilosophische Indifferenzerklärung für alle rationale Argumentation zu verteidigen. Für dieses Nachweisziel entwirft er im dritten Teil des Dialogs10 eine Erkenntnislehre, die zunächst und zumeist in einem Verständnis von Empfindung gründet. Diese sensualistische Prämisse zieht ein Konzept der menschlichen Vernunft nach sich, das allererst das Vermögen der Ahndung als fundamentum inconcussum aller Vorstellung ermöglichen soll, aber auch notwendig macht. Schon kurz vor Beginn des dritten, vornehmlich doktrinalen Teils hatte Jacobi seinen grundlegenden Anti-Apriorismus an einer drastischen Kritik an Kant deutlich gemacht. Zwar hatte er am Terminus der Erkenntnisse a priori festgehalten, jedoch die Annahme ihres erfahrungsunabhängigen Status – und damit ihres durch Leibniz und Kant formierten begrifflichen Gehaltes – nachdrücklich zurückgewiesen: Wir brauchen also nicht, damit diese Grundbegriffe und Urtheile von der Erfahrung unabhängig werden, sie zu bloßen Vorurtheilen des Verstandes zu machen; zu Vorurtheilen, von welchen wir geheilt werden müssen, indem wir erkennen lernen, daß sie sich auf nichts, was den

|| 8 Axel Hutter: Vernunftglaube. Kants Votum im Streit um Vernunft und Glauben. In: Walter Jaeschke, Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 241–256, hier S. 252. 9 Vgl. hierzu u. a. Gottfried Gabriel: Von der Vorstellung zur Darstellung. Realismus in Jacobis »David Hume«. In: ebd., S. 145–158. 10 Zu einer überzeugenden inhaltlichen Einteilung des Dialogs vgl. Oliver Koch: Einleitung. In: Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (s. Anm. 3). S. VII–LVIII, hier S. XVIII.

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Gegenständen an sich zukommt, beziehen, folglich keine wahre objective Bedeutung haben: ich sage, wir brauchen dieses nicht, weil die Grundbegriffe und Urtheile, weder von ihrer Allgemeinheit, noch von ihrer Nothwendigkeit etwas verlieren, wenn sie aus dem, was allen Erfahrungen gemeinseyn und ihnen zum Grunde liegen muß, genommen sind: sie gewinnen im Gegentheil einen weit höheren Grad von unbedingter Allgemeinheit, wenn sie aus dem Wesen und der Gemeinschaft einzelner Dinge überhaupt können hergeleitet werden. Als bloße Vorurtheile des menschlichen Verstandes gölten sie nur für den Menschen und seine eigenthümliche Sinnlichkeit; und zwar unter Bedingungen, die ihnen, nach meinem Urtheile, allen Werth benehmen würden.11

Die Begriffe der kantischen Kategorientafel werden hier als »Vorurtheile« verworfen, weil sie streng erfahrungsunabhängig durch eine »Critik der reinen Vernunft« gewonnen würden, was für Jacobi ein irrationales Unterfangen ist. Bedenkt man die Stellung der Vorurteilskritik für die Aufklärung und deren Systematisierung durch Kant,12 dann ist die Zuweisung des Prädikats des Vorurteils ausgerechnet auf das Herzstück der Kritik der reinen Vernunft durchaus als ›starker Toback‹ zu bezeichnen, wenngleich der sachliche Gehalt dieser Kritik auch von anderen Kritikern in der zweiten Hälfte der 1780er Jahren vorgetragen wurde.13 Gleichwohl trifft das Argument – weniger Kant als – den Kern des jacobischen Anliegens, denn eine reine Vernunft, also eine solche, deren Begriffe, Urteile und Schlüsse mehr oder anderes als einen Anspruch auf empirische Allgemeinheit erheben, ist für Jacobi leer; zwar behauptet er, dass in einem fortlaufenden Abstraktionsprozess aus den Ergebnissen einer vergleichenden, also empirischen Allgemeinheit Formen einer »unbedingten Allgemeinheit« gewonnen werden könnten. Gleichwohl seien Vernunftbegriffe, die ohne Bindung an die Erfahrung ermittelt würden, Hirngespinste und leisteten einem subjektiven Idealismus Vorschub: Wenn unsere Sinne uns gar nichts von den Beschaffenheiten der Dinge lehren; nichts von ihren gegenseitigen Verhältnissen und Beziehungen; ja nicht einmal, daß sie ausser uns (im transcendentalen Verstande) würklich vorhanden sind: und wenn unser Verstand sich blos auf eine solche gar nichts von den Dingen selbst darstellende, objectiv platterdings leere Sinnlichkeit bezieht, um durchaus subjectiven Anschauungen, nach durchaus subjectiven Regeln, durchaus subjective Formen zu verschaffen: so weiß ich nicht, was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Verstande habe, als daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe. Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von Etwas;

|| 11 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 60. 12 Vgl. hierzu Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983. 13 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: »Ganzer Mensch« statt »reiner Vernunft«. Feders Zeitschriftenprojekt Philosophische Bibliothek und seine Rezension der Kritik der praktischen Vernunft. In: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Berlin, Boston 2018, S. 209–234.

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die Form einer Form; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze.14

Der Vorwurf des subjektiven Idealismus an die Adresse Kants, auf die der Königsberger in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft energisch in Richtung Jacobi antworten wird,15 war, wie die Rezension der Erstauflage des kantischen opus magnum durch Christian Garve gezeigt hatte, nicht ganz unüblich.16 Anders aber als bei Garves Empirio-Rationalismus ist der entscheidende Grund für diese Kritik kein primär erkenntnistheoretischer, sondern erneut ein theologischer: Denn eine »Critik der reinen Vernunft« ist für Jacobi deshalb die »Critik eines Dinges, das nicht ist«, weil eine solche ›reine‹ Vernunft nur dem Schöpfer zukommen könne: Ich möchte nicht gern über einen so wichtigen Punkt wie dieser, auch nur einen Augenblick mißverstanden werden, und erinnere deswegen vorläufig, was sich in der Folge des Gesprächs klar genug entwickeln wird, nemlich, daß die absolut reine Vernunft eine absolut reine Persönlichkeit voraussetzt, die Gott allein, und gar keinem erschaffenen Wesen zukommen kann. Eine reine Vernunft aber, die nicht eine absolut reine Vernunft wäre, ist ein Gedicht oder ein bloßes Abstractum. Grade der Annäherung finden hier nicht statt, weil der Unterschied absolut und entgegenstehend ist, wie der des Endlichen und des Unendlichen des Zusammengesetzten und des Einfachen, des Geschöpfs und des Schöpfers. Die erschaffenen Wesen alle sind zusammengesetzte Wesen und gegenseitig abhängig von einander in ihrem Daseyn.17

Eine ›reine Vernunft‹ als eine solche, die von allen Formen der Sinnlichkeit unberührt ist, kann für Jacobi dem Menschen nicht zugeschrieben werden, weil er als endliches und damit geschöpfliches Wesen an seine leib-seelische Einheit gebunden ist und bleibt, weshalb alle Erkenntnis auf Sinnlichkeit gegründet sein muss; ›reine Vernunft‹ ist daher nur als absolute möglich und dieses Vermögen kann nur Gott innehaben. Kants transzendentaler Idealismus ist für Jacobi mithin nicht allein als Rückfall in überwunden geglaubte Metaphysik falsch, sondern als Anmaßung göttlicher Fähigkeiten zugleich eine Sünde.

|| 14 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 61. 15 Vgl. KrV B XXXIX: »Der Idealism mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig gehalten werden (das er in der That nicht ist), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis entgegenstellen zu können.« 16 Anon. [Christian Garve]: Rezension der Kritik der reinen Vernunft. In: Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1782, 3. St., S. 40–48. 17 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 62, Anm.

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3 Mit und gegen Sulzer – Jacobis ›Zergliederung der Vernunft‹ In dieser Weise vorbereitet, kann der Autor den dritten Teil seines Dialogs beginnen, in dem er seinen eigenen Begriff der Vernunft entwickelt, und dies erneut in dem von Hutter beobachteten Verfahren, auf andere Konzepte zu referieren. In diesem Fall zitiert er Johann Georg Sulzers Essay Zergliederung des Begriffs der Vernunft aus dem Jahre 1758,18 der mehrfach zustimmend aufgerufen wird. Dabei geht es der Sache nach zunächst um zwei Prämissen, deren Geltung Jacobi mit seinem Bezug auf Sulzer legitimieren will: Erstens betont Jacobi die Identität der Prinzipien der Vernunft mit den Prinzipien des Lebens: [L]esen Sie Sulzers Zergliederung des Begriffs der Vernunft […]. Sie werden finden, daß Sie entweder das Principium der Vernunft, mit dem Principio des Lebens für einerley halten, oder die Vernunft zu einem bloßen Accidens einer gewissen Organisation machen müssen. Was mich betrifft, so halte ich das Principium der Vernunft mit dem Principio des Lebens für einerley.19

Die eigentümliche Identifizierung des Prinzips der Vernunft mit dem des Lebens und insbesondere die Bestimmung des Lebensbegriffes20 ist mit einem kurzen Seitenblick auf die VII. Beilage der zweiten Auflage der Spinozabriefe näherhin zu erläutern. Hier heißt es nämlich in einer vergleichbaren Engführung beider Prinzipien: Dennoch gehört schon etwas Nichtmechanisches zu der Möglichkeit einer Vorstellung überhaupt, und kein Mensch ist im Stande sich das Prinzip des Lebens, die innere Quelle des Verstandes und des Willens, als ein Resultat mechanischer Verknüpfung, das ist, als etwas bloß Vermitteltes vorzustellen. Noch weniger kann Kausalität überhaupt als etwas bloß Vermitteltes, oder auf Mechanismus Beruhendes gedacht werden. Und da wir nun von Kausalität nicht die geringste Ahndung haben, ausgenommen unmittelbar durch das Bewußtsein unserer eigenen Kausalität, das ist, unseres Lebensprinzips, welches sich zugleich als das Prinzip aller Vernunft offenbar darstellt, so sehe ich nicht, wie es umgangen werden kann, überhaupt Intelligenz, und zwar eine allerhöchste reale, die nicht wieder unter dem Bilde des Mechanismus,

|| 18 Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft. In: Johann Georg Sulzers vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/81, Bd. 1, S. 244–281. 19 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 65. 20 Vgl. hierzu u. a. Birgit Sandkaulen: Der Begriff des Lebens in der Klassischen deutschen Philosophie – eine naturphilosophische oder lebensweltliche Frage? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67 (2019), S. 911–929.

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sondern als ein durchaus unabhängiges, supranaturales und persönliches Wesen gedacht werden muß, als das erste und einzige Prinzip, als das wahre Urwesen anzunehmen.21

Auch in diesem für Jacobis Theorie zentralen Text22 werden das Lebensprinzip und das Vernunftprinzip identifiziert, und zwar insofern, als sowohl für die Vernunft als auch für das Leben (des Menschen) prinzipiierend ist, dass sie als von einer Gottesinstanz abhängig gedacht werden müssen, mithin als Geschöpfe eines »unabhängigen, supranaturalen und persönlichen Wesens«. Das Prinzip des Lebens und das Prinzip der Vernunft ist und kann nur sein der Gott als Schöpfer. Es bedarf kaum des Hinweises, dass diese Ausführungen mit Sulzers Analyse des Vernunftbegriffes wenig zu tun haben. Eine der gewichtigsten Konsequenzen dieser Prämisse besteht gleichwohl darin, dass es auf der Grundlage jener Identität von Vernunft und Leben in ihrer Geschöpflichkeit keinerlei substanzielle Unvernunft geben kann: »[U]nd ich glaube an keine innerliche und absolute Unvernunft.« Wie für Christian Wolff oder dessen Schüler Sulzer23 ist mithin die Abweichung von der Norm der Vernunft – sei es in theoretischer, sei es in praktischer Hinsicht – nur als Privatio, als Mangel an Rationalität zu denken.24 Den begründungstheoretischen Hintergrund für diese Identifikation von Leben und Vernunft liefert auch im David Hume allerdings weniger die von Jacobi explizit aufgerufene Monaden- und Krafttheorie Leibnizens,25 als vielmehr – wie schon angedeutet – eine bestimmte Variante der Schöpfungstheologie, in der Gott nicht allein die »Quelle aller Wahrheit« ist26, sondern auch die »Quelle des Lebens«. Es ist dieser Gott, der die Identität der Prinzipien des Lebens und der Vernunft garantiert, ja ist: Derjenige Geist aber, der das All zu Einem macht, den Haufen der Wesen bindet zu einem Ganzen, ist unmöglich ein Geist der nur eine Seele wäre. Die Quelle des Lebens bedarf keines Gefäßes. Sie ist nicht wie der Tropfe, der es bedarf, daß ein Gefäß ihn sondernd fasse und bewahre.

|| 21 Fiedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg 2000, S. 290. 22 Zur Bedeutung der VII. Beilage vgl. u. a. Thomas Leinkauf: Friedrich Heinrich Jacobi. In: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. 1. Halbbd. Basel 2014, S. 584–606. 23 Zu Sulzers ausdrücklicher Anbindung an Wolff vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 18), S. 245f. 24 Vgl. hierzu Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr [WGW I.2]. Hildesheim 1983, S. 241f. (§§ 395ff.). 25 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 65. 26 Ebd., S. 71.

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SCHOEPFER ist dieser Geist; und das ist seine Schöpfung, daß er Seelen eingesetzt, endliches Leben gestiftet, und Unsterblichkeit bereitet hat.27

Nicht allein die Überlegungen zur Unsterblichkeit, sondern insbesondere die Ausführungen zur Schöpfung und zum Schöpfer spielen in Sulzers Analyse des Vernunftbegriffs von 1758 allerdings keine Rolle. Jacobi geht es gleichwohl darum, die auch bei Sulzer schlicht vorausgesetzte Existenz und rationale Essenz einer Außenwelt und deren durch die Vernunft des Menschen zu erfassende Ordnung und Struktur in ihrer nur durch den Schöpfer zu garantierenden Identität darzulegen. Die Identität von Leben und Vernunft kann nur durch ihren gleichen Ursprung in der Schöpfung hinreichend begründet werden und so Gewissheit erlangen. Sulzers Autorität wird von Jacobi folglich an dieser Stelle für seine theologische Fundierung des Vernunftbegriffes schlicht benutzt. Mit der zweiten Prämisse ist er allerdings zweitens dem einige Jahre zuvor verstorbenen Berliner Gelehrten deutlich näher; denn im unmittelbaren Anschluss an die oben zitierte Zurückweisung ›innerer Unvernunft‹ heißt es: Wir schreiben einem Menschen vor dem andern einen höheren Grad der Vernunft zu, in demselbigen Maaße, wie er einen höheren Grad von Vorstellungskraft äußert. Die Vorstellungskraft äußert sich aber nur reagierend, und entspricht genau der Fähigkeit, von den Gegenständen mehr oder weniger vollkommne Eindrücke anzunehmen; oder, die Spontaneität des Menschen ist wie seine Receptivität. Ich verweise Sie, besonders was diesen letzten Punkt angeht, nochmals auf Sulzers vortreffliche Zergliederung des Begriffs der Vernunft.28

Komplexer als im Falle der ersten Prämisse bindet Jacobi Sulzers Überlegungen mit diesem zweiten Argument in den eigenen Beweisgang ein, um ihn zugleich kritisch zu distanzieren. Denn unbestreitbar gründete auch Sulzer seine Analyse der Vernunft auf den Begriff der Vorstellungskraft: Die erste Eigenschaft aller empfindenden Wesen, die zugleich die Quelle aller übrigen zu seyn scheint, ist die Vorstellungskraft, wie sie Leibnitz und Wolff genannt haben, oder das Principium von Thätigkeit, das uns bewegt und gewissermaßen zwingt, auf die durch die Sinne in uns erweckten Eindrücke zu merken. Diese Kraft ist es, die den verständigen Wesen Thätigkeit, Lebhaftigkeit und Empfindlichkeit giebt, sie ist es, die alle in dem Innern der Substanzen vorgehende Veränderungen hervorzubringen scheint.29

Nicht zufällig bindet Sulzer seinen Begriff der Vorstellungskraft an die Konzepte Leibnizens und Wolffs zu dieser vis, denn für beide Rationalisten ist jene zentrale Potenz der Seele als Substanz eine »Thätigkeit«, eine ständige, ununterbrochene

|| 27 Ebd., S. 92. 28 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 65f. 29 Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 18), S. 246.

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Aktivität der Psyche,30 die auch die rein passiv aufgenommen Sinneseindrücke in ihren Status als Vorstellung transformieren muss. Jacobi dagegen reduziert die Vorstellungskraft auf eine reine Passivität, die er mit Kant als Rezeptivität bezeichnet, welche jedoch mit der Spontaneität resp. Aktivität – ganz unkantisch – in eins gesetzt wird. Das führt zunächst zu einer streng sensualistischen Identifikation von Vernunft und Sinnlichkeit auf der Grundlage sulzerscher Distinktionen: Ich kenne diese Abhandlung, und erinnere mich unter andern, daß Sulzer den Umfang der Vernunft von dem Umfange des Geschmacks abhängen läßt, und ihren wahren Grund in der durch die Deutlichkeit der Vorstellungen verursachten Aufmerksamkeit findet. Nun muß nothwendig diese Deutlichkeit der Vorstellungen, die eine Ursache der Aufmerksamkeit ist, zu ihrer Ursache die Vollkommenheit der Eindrücke haben; welches denn allerdings darauf hinausläuft, daß die Vernunft, als auszeichnender Character des Menschen vor den Thieren, nur der Character seiner besondern Sinnlichkeit sey.31

Auch wenn die Ausführungen zum Geschmack,32 zur Deutlichkeit und zur Aufmerksamkeit durchaus den Ausführungen Sulzers entsprechen, muss doch die Konklusio als Fehldeutung – womöglich auch als produktives Missverständnis – erkannt werden. Denn zum einen hatte Sulzer die differentia specifia zwischen Mensch und Tier in die Befähigung des humanum zur Sprache gelegt.33 Zum anderen hatte er zwar die größere oder geringere Vollkommenheit der Sinne als Bedingung der mehr oder weniger ausgebildeten Vernunft des Menschen erhoben, gleichwohl mit Nachdruck auf die substanzielle Verschiedenheit der beiden Vermögen hingewiesen: Allein, ob gleich die Vollkommenheit der Sinne nothwendig ist, um zur Vernunft zu gelangen, und ob gleich sie dieselbe natürlicher weise herbeyzubringen scheint; so lehrt uns doch die Erfahrung, daß dieses allein noch nicht genug ist, um uns vernünftig zu machen. […] Es gehöret also etwas mehr, als recht gute Sinne dazu, um zur Vernunft zu gelangen.34

Dieses «etwas mehr« ist für Sulzer die menschliche Sprache, die aber bei Jacobi – zumindest im David Hume – eine andere Rolle spielt.35 Vielmehr betont er einen auch bei Sulzer zu findenden Strang der Argumentation, nach dem der Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Vernunft gradualisierend zu überwinden ist und genau || 30 Vgl. hierzu Christian Wolff: Psychologia rationalis methodo scientia pertractata [WGW II.6]. Hildesheim 1994, S. 17ff. (§§ 23ff.) sowie Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer. Hamburg 31971, S. 86. 31 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 66. 32 Vgl. Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 18), S. 276: »Man sieht folglich, daß der Umfang der Vernunft von dem Umfange des Geschmacks abhängt.« 33 Ebd., S. 267: »Mich dünkt also, daß das große Hinderniß, warum die Thiere nicht zur Vernunft gelangen, der Mangel der Sprache ist.« 34 Ebd., S. 252. 35 Vgl. ebd., S. 273f.

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deshalb beide Vermögen als Momente einer Kraft zu verstehen sind; im direkten Anschluss an das letzte Zitat zur besonderen Sinnlichkeit des Menschen als Grund seiner Vernunft heißt es denn auch: ICH. Dies behauptet Sulzer auch mit klaren Worten. Und wo lebt die Philosophie, aus deren Grundsätzen sich nicht dasselbige ergäbe; die es nicht auch, in dieser oder jener Form als Lehre vortrüge, und ihre Lieblingshypothesen darnach bildete? Nur daß wir meistens hinterher diese aus der Sinnlichkeit hervorgegangene Vernunft, ich weiß nicht was für ein Junges wunderbar gebähren lassen, das mit ganz eigenen Gaben und Kräften ausgerüſtet seyn soll, um uns weit über die Sphäre unserer Empfindungen zu erheben. – Ich lästre doch wohl nicht, was auch Sie anbeten? ER. Darüber können Sie ruhig seyn. Sie müssen bemerkt haben, daß wenn ich von einem Menschen das Höchste sagen will, ich von seinem Sinne rede. Man hat nie mehr Verstand als man Sinn hat. (S. 66f.; Hvhg. im Orig.)

Eben das hatte Sulzer nicht behauptet; vielmehr hatte er an einer leibnizianischen Form der Zwei-Vermögenslehre festgehalten, die er späterhin gar zu Vorstufen einer Drei-Vermögenslehre ausbaute, die auf die kantische Theorieentwicklung einigen Einfluss ausüben sollte.36 Allerdings hatte Sulzer in seinem Aufsatz zur Analyse des Vernunftbegriffes im Zusammenhang der »freyen Aufmerksamkeit«, einer Art empirischen Bewusstseins in der Nachfolge Meiers,37 die »das wesentliche Stück unsrer Untersuchung, indem diese Aufmerksamkeit der wahre Grund der Vernunft ist«, ausmache,38 gradualisierende Argumente aufgeführt: Ueberhaupt scheint es, daß diejenigen Thiere, deren Organisation der Organisation des Menschen am nächsten kömmt, die verständigsten sind; und daß sich der Schatten von Vernunft, der sich in den mit unsern fünf Sinnen begabten Thieren zeiget, nach dem Grade vermindert, nach welchem sich ihre Organisation von der Organisation des Menschen, welche die vollkommenste zu seyn scheint, entfernet.39

Die Bedeutung der Gradualisierbarkeit der Sinnlichkeit – konstituiert durch den Grad der körperlichen Beschaffenheit oder Organisation – nähert folglich hochorganisierte Tiere, für die diese Argumentation einzig gilt, dem Menschen an; das gilt analog auch für den Menschen – ohne dass die Grenze zwischen Mensch und Tier oder die zwischen Sinnlichkeit und Vernunft für Sulzer vollständig quantifizierbar wäre. Genau das aber behauptet Jacobi.

|| 36 Vgl. hierzu Marion Heinz: Johann Georg Sulzer und die Anfänge der Dreivermögenslehre bei Kant. In: Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011, S. 83–100. 37 Vgl. hierzu u. a. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1765, Bd. 2, S. 56–73. 38 Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft (s. Anm. 18), S. 255. 39 Ebd., S. 259.

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4 Kant als »philosophischer Magnetisierer« Denn eben diese Konzeption, nach der die Vernunft als Moment der Sinnlichkeit von deren Ausdifferenzierungsgrad unmittelbar dependiert und daher keineswegs »ich weiß nicht was für ein Junges wunderbar gebähren« lässt – also keine kantische Kategorientafel –, entwickelt Jacobi mit Bezug auf Sulzer, um im Folgenden das aus diesem Sensualismus notwendig entstehende Problem der Außenweltwirklichkeit anzugehen. Er bedient sich hierbei einer markanten Phänomenologie des Verhältnisses von Träumen und Wachen, weil der Traum wie der Wahn eine unabhängige Wirklichkeit der vorgestellten Dinge lediglich imaginiert. Zwar wüssten wir im Traum häufig, dass wir träumten, häufiger aber nähmen wir im Träumen an, das wir wachen. Im Zustand der Wachheit jedoch nähmen wir stets an, dass wir nicht träumten, sondern wachten, ein Zustand, der mit der Voraussetzung einhergehe, die vorgestellten Dinge existierten unabhängig von unserer Vorstellung. Für Jacobi ist diese vorausgesetzte Annahme aber grundlos, weil die in der Vorstellung »nachgemachten Wesen von würklichen Wesen nur durch Vergleichung mit dem Würklichen selbst unterschieden werden können«.40 Kant hatte diesen Begriff des »Würklichen selbst«, weil unmöglich nachzuweisen, zurückgewiesen.41 Jacobi hingegen setzt an eben dieser Stelle seine theonome Erkenntnis- und Wahrheitstheorie in Gang: Also muß in der Wahrnehmung des Würklichen etwas seyn, was in den bloßen Vorstellungen nicht ist, sonst könnte beydes nicht von einander unterschieden werden. Nun betrifft aber dieser Unterschied gerade das Würkliche und sonst gar nichts. Also kann in der bloßen Vorstellung das Würkliche selbst nie dargestellt werden.42

Dieses Argument entspricht noch durchaus den kantischen Eingrenzungen; aber schon der nächste, zentrale Beweisgang bewegt sich außerhalb der Bahnen einer jeden Transzendentalphilosophie: Ich sage, die Vorstellungen können das Würkliche, als solches, nie darstellen. Sie enthalten nur Beschaffenheiten der würklichen Dinge, nicht das Würkliche selbst. Das Würkliche kann ausser der unmittelbaren Wahrnehmung desselben eben so wenig dargestellt werden, als das Bewustseyn ausser dem Bewustseyn, das Leben ausser dem Leben, die Wahrheit ausser der Wahrheit. Wahrnehmung des Würklichen und Gefühl der Wahrheit, Bewustseyn und Leben, sind Eine und Dieselbe Sache. Der Schlaf ist des Todes Bruder, und der Traum nur des Lebens Schatten. Wer nie gewacht hätte, könnte nie träumen, und es ist unmöglich, daß es ursprüngliche Träume, einen ursprünglichen Wahn geben könne. Diese Wahrheit scheint mir von der größten Wichtigkeit zu seyn, und deswegen bat ich Sie vorhin so sehr, den Erkenntnißgrund

|| 40 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 69. 41 Vgl. KrV B 49ff.; vgl. aber auch ebd. B 275ff. 42 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 69.

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derselben, welcher der Erkenntnißgrund der Gewißheit selbst, und ihre einzige Quelle ist, recht festzuhalten.43

Es ist der letztlich nur korrelative Status von Traum und Wahn, ihrer beider Abhängigkeit von einem vorgängig wachen Bewusstsein, auf das hin sie zu entschlüsseln sind und durch das ihr stets mangelnder Wirklichkeitsbezug zu erkennen ist. Diese Abkünftigkeit des Träumens vom wachen Bewusstsein, dieses gleichsam logische wie ontologische Primat des Wachens legt sodann die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeitsadäquanz, wacher Vorstellungen in einem ersten Schritt nahe, gerade weil die Wirklichkeit der Gegenstände in Traum- und Wahnzuständen ungewiss ist und daher die vorausgesetzte Adäquanz der wachen Vorstellungen zu den in ihnen vorgestellten Gegenständen an Plausibilität gewinnt. Weil Traum und Wahn Irrtümer produzieren, muss das ihnen vorgeordnete Wachen der Wahrheit näher sein – so Jacobi. Dennoch bleibt die Annahme einer Wirklichkeit der ›Dinge selbst‹ stets nur vorausgesetzt; bevor Jacobi jedoch dieses Problem löst, sucht er aus seiner Phänomenologie der Traum-Wachen-Korrelation kritisches Potential zu schlagen, und zwar erneut gegen Kant: Denn alle Versuche aus der Abgeschlossenheit der Vorstellungswelten durch Selbstreflexion herauskommen – und so wird Kant interpretiert – müssen als ›Träume von Geistersehern‹, von »philosophischen Magnetisierer[n]« erkannt und bestimmt werden: Darum, mein Freund, was die philosophischen Magnetisierer auch von ihren Manipulationen, und dem dadurch erregten divinatorischen Schlaf rühmen mögen: wir wollen lieber allen Schlaf uns aus den Augen reiben, und anstatt diesen eine Klemme zu erkünsteln, sie so weit aufthun als wir können; lieber das Wachen verbessern, als das Träumen, und für keinen Preis uns desorganisieren lassen. Wer über seinen Vorstellungen, und den Vorstellungen von seinen Vorstellungen aufhört die Dinge selbst wahrzunehmen, der fängt an zu träumen.44

Die Transzendentale Apperzeption wird hier auf einen divinatorischen Schlaf reduziert, weil sie sich mit den »Dingen selbst«, dem ›Ding an sich‹ nicht beschäftigen kann und will. Kant wird daher zu einem jener ›Magnetisierer‹ erklärt, die seit dem europaweiten Erfolg Franz Anton Mesmers Furore machten, indem sie Patienten in Traumzustände versetzten.45 Allerdings grenzt Jacobi diese für ihn durchaus glaubhaften medizinischen von den von ihm so genannten ›philosophischen Magnetisierern‹ ab, die mit ihren theoretischen Manipulationen nicht nur einzelne Patienten, sondern die ganze Menschheit in Trance und Traum versetzen: Kant als

|| 43 Ebd., S. 69f. 44 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 70. 45 Vgl. hierzu u. a. Anneliese Ego: »Animalischer Magnetismus« oder »Aufklärung«. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zum Konflikt um ein Heilkonzept im 18. Jahrhundert. Würzburg 1991.

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philosophischer Mesmer, die Transzendentalphilosophie als Traumtheorie – eine bemerkenswerte Polemik. Doch Jacobi führt diese Auseinandersetzung mit dem »wunderbarsten Somnambulismus«46 noch einen Schritt weiter, um sich dadurch eine systematische Positionierung zu ermöglichen. Zwar könnten die Verknüpfungen jener Vorstellungen von Vorstellungen zu Begriffen führen, diese würden aber aufgrund des Abstraktionsvorganges, den sie bedeuteten, stets ärmer an objektiven Inhalten. Im Hintergrund steht eine Theorie der menschlichen Sprache, die zwar eine anthropologische Konstante ausbilde, doch den »Dingen selbst« aufgrund der menschlichen Endlichkeit und Begrenzung nicht näher käme: Wohl ist das ein großer Vorzug unserer Natur, daß wir fähig sind, von den Dingen solche Eindrücke, die uns ihr Mannichfaltiges unterscheidend darstellen, anzunehmen, und so das innere Wort, den Begriff, zu empfangen, dem wir alsdann ein äusseres Wesen durch einen Schall unseres Mundes erschaffen, und ihm die flüchtige Seele einhauchen. Aber diese aus endlichem Saamen gezeugten Worte, sind nicht wie die Worte des der da ist, und ihr Leben ist nicht wie das Leben des aus dem Nichts hervorrufenden Geistes. Lassen wir diesen unendlichen Unterschied ausser Acht, so entfernen wir uns in demselben Augenblicke von der Quelle aller Wahrheit, verlieren Gott, die Natur, und uns selbst.47

Im Gegensatz also zu den Worten Gottes, der die Dinge, die er benennt, auch schöpft und ihnen damit Realität gibt,48 bleibt die Sprache des Menschen davon unendlich unterschieden, d. h. von Gottes Wortmacht und damit von den Dingen selbst. Dabei führen die Abstraktionsvorgänge der Vorstellungssphäre zu einer immer größeren Distanz zur Realität, weil »die Dinge selbst davon verdunkelt, und am Ende gar nicht mehr gesehen werden«.49 Dies sei der Moment – und erneut muss die kantische Philosophie damit verbunden werden –, an dem die »Wahrheit vom Wahn verschlungen« werde.50 Kants Manipulationen führen mithin nicht allein in Traum-, sondern auch in Wahnzustände. In einer eigentümlichen Wendung beruft sich Jacobi an dieser Stelle auf Leibniz.

|| 46 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 70. 47 Ebd., S. 70f. 48 Vgl. hierzu Gen 1,3ff. 49 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 71. 50 Ebd.

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5 Erste Lösung: Leibnizʼ Monade als lebendiges Individuum Es ist gar nicht erforderlich, die im Übrigen gut erforschte Leibniz-Referenz Jacobis im David Hume vollständig zu rekonstruieren,51 um festzustellen, dass zwei der konstitutiven Theoreme der leibnizschen Philosophie an dieser Stelle der Argumentationsbewegung eine besondere Rolle spielen: Das ist zum einen die prästabilierte Harmonie, die der auch durch die menschliche Sprache nicht zu überwindenden Selbstreferenz der menschlichen Vorstellungwelt ein Ende machen könnte, indem sie festsetzt, das jeder Bewegung der menschlichen Seele eine solche des Körpers entspricht und somit nicht allein das menschliche Leib-Seele-Problem ›gelöst‹ wird, sondern auch die Wirklichkeit der Außenwelt garantieren könnte. Doch bleibt diese in den 1780er Jahren kaum mehr geteilte Hypothese auch für Jacobi eher eine »metaphysische Fiktion«52 als ein erstzunehmendes Instrument zur Lösung des Außenweltproblems. Tragfähiger scheint den beiden Diskutanten vielmehr zum anderen die Monadentheorie des Hannoveraner Gelehrten, und dies aus folgendem Grund: Es gibt unterschiedliche Formen, in denen die Einheit des Mannigfaltigen vom vorstellenden Menschen konstituiert wird: Zum einen gibt es solche Einheiten, die ausschließlich durch das synthetisierende Subjekt hergestellt werden und auch nur in ihm existieren, so die zufällige Zusammenstellung einzelner Gegenstände auf einem Tisch, oder die Idee, d. h. hier der Darstellungszweck eines Gemäldes, der ausschließlich im Produzenten und Rezipienten, nicht aber im Bild selber enthalten sei. Zum anderen aber gibt es Einheiten, die an ihnen selbst so gefasst sind und bestimmt werden müssen, dass ihnen notwendig mehr als nur eine subjektive bzw. »blos ideale Einheit« zukommt; reichlich unvermittelt nach dem negativen Beispiel vom Gemälde heißt es: »Vollkommen richtig. Den organischen Maschinen allein können wir eine solche innerliche Einheit zuschreiben, die wahrhaft objektiv und real ist.«53 Mit Leibniz werden diese Einheiten Compositum substantiale genannt, weil ihre Einheiten den Teilen vorgängig sind. Diese substanziellen Einheiten können nach Jacobi u. a. auf den Menschen angewandt werden, der, nur weil er eine solche organische Einheit ist, ein emotives Existenzbewusstsein haben kann:

|| 51 Vgl. hierzu u. a. Klaus Hammacher: »Die Vernunft hat also nicht nur Vorstellungen, sondern wirkliche Dinge zu Gegenständen«. Zur nachkantischen Leibniz-Rezeption, vornehmlich bei F. H. Jacobi. In: Albert Heinekamp (Hg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart, Wiesbaden 1986, S. 213–224. 52 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 79. 53 Ebd., S. 82.

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Das [d. i. das Denken seiner selbst als organische Einheit] ist in Ihnen schon lange ohne mich bewürkt, da Sie selbst ein Compositum substantiale sind, und zu dem Gefühl Ihres Daseyns gewiß nie gekommen wären, wenn Sie dasjenige, was Ihre Einheit ausmacht, nicht zuerst empfunden hätten. Sicher sind Sie nicht aus der Peripherie in das Centrum, sondern aus dem Centro in die Peripherie gekommen.54

Das nach Jacobi untrügliche Gefühl des Daseins, das mehr als nur Vorstellung ist, ist nur in einem Compositum substanziale möglich, weil nur diese organische Entität den garstig breiten Graben zwischen Vorstellung und Wirklichkeit je schon überwunden hat. Warum das so ist, bleibt unklar. Nun ist schon allein der menschliche Körper nach Jacobi eine solche Einheit als eine substanzielle Form, die aber im Ich ihren »einzigen, unveränderlichen, untheilbaren Punkt«, ihre synthetische Einheit mithin hat. Damit hat schon der menschliche Körper eine Einheit, die als organische zugleich das Körper-SeeleVerhältnis und die Trennung von Vorstellung und Wirklichkeit je schon vermittelt bzw. überwunden hat: Etwas muß unser Ich doch seyn, wenn es anders mit dem, was wir eben ausgemacht haben, seine Richtigkeit behält, nemlich, daß aus der Vielheit nie eine wahre objective Einheit entspringen kann. Dieses Etwas nun, das unmöglich etwas nicht reales ist, wird von Leibnitz die substanzielle Form des organischen Wesens; das vinculum Compositionis essentiale, oder die Monade genannt. Und in so weit bin ich der Monadenlehre mit ganzer Seele zugethan.55

Das ist, wie der Gesprächspartner mehrfach wiederholt, durchaus überraschend. Es ist allerdings festzuhalten, dass Jacobi bislang nicht ein einziges Argument dafür angeführt hat, warum ausgerecht dieser höchst abstrakten und komplexen Vorstellung notwendig eine Realität zugeschrieben werden müsse. Nicht zufällig gibt Jacobi daher in der Folge dieser Lehre von der substanziellen Form des organischen Wesens eine spezifische Wendung, die sich von Leibniz grundlegend entfernt: Eigentlich kann ich mir gar keine Vorstellung von ihr machen, denn das Eigenthümliche ihres Wesens ist, sich von allen Empfindungen und Vorstellungen zu unterscheiden. Sie ist dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande mich selbst nenne, und von dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subjekt aller seiner Veränderungen ist. Die Seele, um eine Vorstellung von sich zu haben, müßte sich von sich selbst unterscheiden, sich selbst äusserlich werden können. Von dem, was Leben ist, haben wir gewiß das innigste Bewustseyn; aber wer kann sich vom Leben eine Vorstellung machen.56

Erneut trennt Jacobi das Bewusstsein einer Sache von ihrer Vorstellung; von dem Grund seines eigenen Daseins, d. h. von der substanziellen Form des eigenen orga|| 54 Ebd. 55 Ebd., S. 83. 56 Ebd., S. 83f.

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nischen Wesens kann der Mensch keine Vorstellung, also keine Empfindung und daher keine Verstandeserkenntnis haben, sondern lediglich ein – nicht- oder vorrationales – Bewusstsein ihrer notwendigen Existenz – hier wird schon ersichtlich, was denn genau ›Ahndung‹ sein könnte. Mit dieser Unterscheidung, die recht eigentlich einen Gegensatz von Bewusstsein und Vorstellung formuliert, ist der erste entscheidende Schritt zu Jacobis eigener Konzeption getan; der zweite besteht darin, nur individuellen organischen Wesen überhaupt Dasein zuzuschreiben, »denn das Mannichfaltige kann im Lebendigen allein sich durchdringen und Eins werden«. Nur organische Wesen sind hiernach »würkliche Dinge in der Natur« und diesen Wesen muss mit Notwendigkeit Individualität zukommen; aus diesen – an keiner Stelle hinreichend begründeten – Ableitungen kann Jacobi eine Konklusion ziehen, die das Außenweltproblem endgültig zu lösen scheint: Alle wahrhaft würkliche Dinge sind Individua oder einzelne Dinge, und als solche, lebendige Wesen, principia perceptiva & activa, und ausser einander. Folglich, wie ein Individuum gesetzt wird, so müssen nothwendig zugleich in ihm die Begriffe von Einheit und Vielheit, von Thun und Leiden, von Ausdehnung und Succeßion gesetzt werden; das heißt, es sind diese Begriffe jedem Individuo angebohrne oder anerschaffene Begriffe. Diese Begriffe unterscheiden sich von allen übrigen Begriffen dadurch, daß ihre Gegenstände unmittelbar und in allen Dingen vollkommen und auf gleiche Weise gegeben sind. Es sind uns also die Gegenstände dieser Begriffe nie blos in der Vorstellung, sondern immer auch würklich gegenwärtig, und können durch keine Verrückung, wie sie Namen haben mögen, je nur einen Augenblick der unmittelbaren Wahrnehmung, und der nothwendigen Vereinigung im Begriff entzogen werden. Auch ist der ärgste Wahnsinn nicht vermögend, diese Wurzel des Verstandes auszurotten.57

Wenig überraschend hält Jacobi diese, die Trennung von Vorstellung einerseits und die Wirklichkeit je schon überwunden habenden Begriffen andererseits, mit dem Konzept der ideae innatae in ihrer leibnizianischen Variante für kompatibel. Das ist jedoch nicht der Fall; garantiert bei Leibniz die Geltung und Wirksamkeit der ideae innatae die Eigenständigkeit der Seele als ens rationis und deren Vermittlung mit der Außenwelt die prästabilierte Harmonie, so ist es bei Jacobi das unhintergehbare Faktum des Daseinsgefühls, das auf die substanziellen Formen organischer Wesen schließen lassen muss, die allererst jene Begriffe hervorbringen, die je schon Vorstellung und Wirklichkeit sind. Und es ist dieses Verständnis der eingeborenen Ideen, die dem »Wahnsinn« der Transzendentalphilosophie seine Grenzen zu setzen vermag. Gleichwohl ist Jacobi nun gezwungen, diesen Rationalismus der angeborenen Ideen mit seinem vorgängigen Empirismus zu vermitteln.

|| 57 Ebd., S. 85.

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6 Zweite Lösung: Die »Kraft des Sinnes« und der »geheime Handgriff des Schöpfers« Das Bekenntnis zu solchen ideae innatae, die den Graben zwischen den Vorstellungen und den Dingen selbst überwunden haben und damit die Wirklichkeit einer Außenwelt garantieren, wird vom Gesprächspartner fortgesetzt und in eine weitere konstitutive Distinktion überführt: Auf diese Weise habe ich gegen Ihre angebohrnen Ideen nichts einzuwenden. Es ist klar, daß wir zu dem Bewustseyn unseres Bewustseyns, dem Gefühl von uns selbst nicht gelangen können, als indem wir uns von etwas ausser uns unterscheiden. Dieses Etwas ist ein Mannichfaltiges Unendliches, in dem wir selbst mit begriffen sind. Die Begriffe von Einem, von Vielem und von Allem, nebst ihren Grundeigenschaften und Verhältnissen, müssen also in jedem, auch dem schwächsten Bewustseyn, schon gegeben seyn, und, dem Wesentlichen nach, unter allen möglichen Verwandlungen des Individui dieselbigen bleiben. Ihre Deutlichkeit aber hängt von der Deutlichkeit des Bewustseyns ab, das ist, von dem Grade in dem wir uns, intensiv und extensiv, von den Dingen ausser uns unterscheiden.58

Selbstbewusstsein und Selbstgefühl sind nach Jacobi also nur möglich durch Differenzierungsprozesse des Ich von Sachverhalten, die notwendig außerhalb seiner liegen; auch sind die Tatsachen des Selbstbewusstseins und des Selbstgefühls Ausgangspunkte für einen Schluss auf die Wirklichkeit der Außenwelt. Im Hintergrund dieser Ausführungen stehen im Übrigen wolffsche Reflexionen zur Korrelation von Gegenstands- und Selbstbewusstsein durch Unterscheidungshandlungen.59 Der entscheidende neue Schritt besteht allerdings in der Behauptung, die in jedem Individuum vorhandenen Allgemeinbegriffe hätten mehr oder weniger Deutlichkeit, d. h. sie seien mehr oder weniger bewusst. Die Grade ihrer Bewusstheit dependieren nach Jacobi unmittelbar von dem Grade des Unterscheidens von den Dingen der Außenwelt. Je mehr sich folglich das menschliche Individuum von der Außenwelt zu unterscheiden vermag, desto deutlicher, d. h. bewusster sind ihm nach Jacobi jene Begriffe, die die Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit je schon überwunden haben. Die Gradualisierbarkeit des Bewusstseins der Außenwelt und damit der ideae innatae wird im folgenden Argumentationsschritt auf eine allgemeine Anthropologie ausgeweitet, indem zunächst die Grade an Vernunft und Leben als Kriterien der Einordnung der »Geschöpfe« auf der scala naturae eingeführt werden. Weil aber – wie schon oben gesehen – auch Leben und Bewusstsein nach Jacobi »Eins« sind,

|| 58 Ebd., S. 85f. 59 Vgl. hierzu Udo Thiel: Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. 4 Bde. Hildesheim 2007, Bd. 2, S. 377–390.

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können die Gesprächspartner nun eine vollständig gradualisierbare Ordnung der Welt entwickeln: Das vernünftige Wesen ist also von dem unvernünftigen durch einen höheren Grad des Bewustseyns, folglich des Lebens unterschieden, und dieser Grad muß in demselbigen Verhältniß steigen, wie das Vermögen steigt, sich von andern Dingen extensiv und intensiv zu unterscheiden. – Gott unterscheidet sich von allen Dingen auf das vollkommenste, und muß die höchste Personalität, und allein eine ganz reine Vernunft besitzen.60

Erneut wird die Gottesinstanz als Grenzwert dieser scala naturae als scala conscientiae aufgerufen, die allein eine ganz reine Vernunft und Persönlichkeit und damit das höchste Bewusstsein und Selbstbewusstsein innehaben kann. Zugleich positioniert sich Jacobi innerhalb einer Debatte, die mit Rousseaus Discours sur lʼinégalité und der Histoire naturelle Buffons erheblich an Fahrt aufgenommen hatte: die Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Tier als einer qualitativen oder lediglich quantitativen Differenz.61 Für Jacobi besteht wie für Rousseau oder auch Georg Forster ein nur gradueller Unterschied zwischen den Bewusstseinsstufen der vernünftigen und unvernünftigen Wesen. Dabei ist sein Argument für diese Option kein naturgeschichtliches, sondern ein theologisches: Nur der Schöpfer ist von seiner in sich geschlossenen, weil durch graduelle Unterschiede zu einer Einheit gefügten Schöpfung qualitativ unterschieden. Ein weiteres Mal wird die theonome Substanz der Philosophie Jacobis auch in dieser Bewusstseinsanthropologie ersichtlich. Dieser Grundzug wird in der folgenden Präzisierung des Vernunftbegriffes noch deutlicher herausgearbeitet, der – wie zu Beginn dieses dritten Dialog-Abschnittes der Begriff der Vorstellung – einer sensualistischen Grundlegung unterzogen wird. Hier geht es nun ums Ganze der vorgelegten Epistemologie, weil dieser Empirismus mit dem Rationalismus der substanziellen Formen vermittelt werden muss. Nach einer subkutan antikantischen Kulturkritik an den Verwerfungen der zeitgenössischen, nämlich aufklärerischen Vernunftvorstellungen, wird die Erfordernis der Grundlegung der Vernunft in der Erfahrung emphatisch postuliert: Die Vernunft gehöre in die Hände der Erfahrung, weil lediglich das Vermögen der Wahrnehmung einen »positiven« und »unmittelbaren« Bezug zu den Dingen herstellen könne, indem schon sie allein Unterscheidungen bewusst machen könne, weil diese als »Theile der Schöpfung« wahrzunehmen sind.62 Daher ist die Menge an Wahrnehmungen zugleich Indikator für den Grad des Bewusstseins und damit der Vernunft:

|| 60 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 86f. 61 Vgl. hierzu u. a. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976; Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. München 22013, S. 171ff. 62 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 89.

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»Die vollkommnere Perception, und der höhere Grad des Bewußtseins der damit verknüpft ist, darinn besteht das wesentliche desjenigen Vorzugs unserer Natur, den wir Vernunft heissen.«63 Aus dieser ›ursprünglichen Perception‹ ergeben sich nach Jacobi durch Abstraktion die Begriffe des komparativen und apriorischen Allgemeinen, die zwar nicht klar, sondern verworren, aber für den Erkenntnisprozess notwendig sind und deren Nähe oder Ferne zu den Dingen Wahrheit und Irrtum der Erkenntnis hervorrufen. Nur sollte sich der Mensch darüber bewusst bleiben, dass auch diese Begriffe nicht spontan, sondern wie jede Erfahrung passiv und rezeptiv seien. Damit ist die menschliche Vernunft nichts anderes als dessen Erfahrung, die aber im Hinblick auf individuelle und gattungsspezifische Unterschiede erneut quantifiziert wird: Die reinste und reichste Empfindung hat die reinste und reichste Vernunft zur Folge. Jeden sich selbst beobachtenden Forscher muß die eigene Erfahrung gelehrt haben, daß er bey seinem Forschen keine Kraft des Unterscheidens, des Vergleichens, des Urtheilens und Schließens, sondern einzig und allein die Kraft seines Sinnes anstrengt, um seine Vorstellungen so deutlich zu machen als sie werden können.64

Die Sinnlichkeit selbst ist zur analytischen Betrachtung der Gegenstände fähig und bedarf daher nicht einer von ihr verschiedenen Vernunft, um die Dinge selbst zur Vorstellung zu bringen, und sie mit anderen Vorstellungen zu einer Erkenntnis zu synthetisieren. Damit wird aber nicht allein die Sinnlichkeit zur Grundkraft der menschlichen Seele erhoben, die Vernunft wird zugleich zu einem ihrer Epiphänomene erklärt, die durch die Sinne von außen in den Menschen gelange. Die allfällige Vermittlung zur Theorie der ideae innatae muss dann, ja kann nicht anders als theologisch erfolgen: Und so muß man nicht allein von den Erkenntnissen, die a priori heissen, sondern überhaupt von aller Erkenntniß sagen, daß sie nicht durch die Sinne gegeben, sondern allein durch das lebendige und thätige Vermögen der Seele bewürkt werden könne. Sinnlichkeit, wenn etwas anders als ein Mittel zugleich der Trennung und der Vereinigung, wobey das zu scheidende und zu verbindende Substanzielle schon vorausgesetzt wird, verstanden werden soll, ist nur ein leeres Wort. Als ein solches Mittel aber ist sie das Werkzeug der allmächtige Liebe, oder (Sie dulden einen kühnen Ausdruck) der geheime Handgriff des Schöpfers.65

Es ist der »geheime Handgriff des Schöpfers«, der die Sinnlichkeit zu einer analytischen und zugleich die Schöpfung liebenden Kraft macht und mit dem scheidenden und verbindenden Substanziellen vermittelt. Erst im Eingedenken dieser Leistung des Schöpfers und damit des klaren und deutlichen Bewusstseins der eigenen Geschöpflichkeit ist die Befähigung der menschlichen Sinnlichkeit zur Vernunft zu || 63 Ebd., S. 90. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 90f.

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begreifen – dem hätte Kant vermutlich gar zugestimmt: Nur für und durch einen allmächtigen Schöpfer können Sinnlichkeit und Vernunft identifiziert werden.66 Für Jacobi aber ist das entscheidende Beweisziel erreicht: Allein durch dieses Mittel konnte die Wohlthat des Lebens; die Wohlthat des sich unterscheidenden, und dadurch sich selbst genießenden Daseyns einer unendlichen Schaar von Wesen verliehen, und eine Welt aus dem Nichts hervorgerufen werden. – Ein Schauer ergreift mich, so oft ich dieses denke; mir ist jedesmal, als empfienge ich in dem Augenblick unmittelbar aus der Hand des Schöpfers meine Seele.67

Wie genau aber der Schöpfer die universalisierte Sinnlichkeit mit den ideae innatae vermittelt, wird nicht ausgeführt; das letztlich kaum kohärente Konzept hat aber seine Funktion vor allem darin, neben der anfangs zitierten Lobpreisung »dessen, der da ist«, die auch an dieser Stelle zu beobachten ist und von der aus es nur einen kleinen Schritt noch bis zur anfangs zitierten ›Theologie der Ahndung‹ braucht, alle Überlegungen zu den ›Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung‹, die selbst nicht der Erfahrung entspringen, obsolet erscheinen zu lassen. Vor diesem Hintergrund bleibt lediglich die These Axel Hutters, nach der Jacobi seine eigene Konzeption an der kritischen Darstellung und Abstoßung von alternativen Theorien gewinnt, insofern zu ergänzen, als – zumindest im Hinblick auf Kant – im Zentrum der eigenen jacobischen Theorie das apologetische Interesse wider die ebenso falsche wie sündhafte »Critik der reinen Vernunft« steht.68 Für diesen Kampf im ›Namen des Schöpfers‹ nimmt man dann auch massive Inkohärenzen in Kauf. Kants Erkenntnistheorie aber wird in keiner nur denkbaren Dimension tatsächlich getroffen.

|| 66 Vgl. hierzu KrV B 68ff., spez. B 72; vgl. hierzu u. a. Stefan Klingner: Kants Begriff einer intellektuellen Anschauung und die rationalistische Rechtfertigung philosophischen Wissens. In: KantStudien 107 (2016), S. 617–650. 67 Jacobi: David Hume (s. Anm. 3), S. 91. 68 Dass dieser Perspektive nach wie vor systematische Valenz zugeschrieben wird, lässt sich nachlesen bei Stefan Schick: Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi. Frankfurt a. M. 2019, S. 210ff.

Christoph Binkelmann

Denn sie wissen nur, was sie tun Der Spinoza-Streit zwischen Jacobi und Herder Es ist ein Gemeinplatz, dass Friedrich Heinrich Jacobi, dessen 200. Todestag wir 2019 feierlich begehen, freundlich ausgedrückt: Urheber, missmutiger formuliert: Katalysator des Spinoza-Streits war, der dann weiter in den Deutschen Idealismus führte. Ein Katalysator ist nach dem Duden ein »Stoff, der (chemische) Reaktionen herbeiführt oder beeinflusst, selbst aber unverändert bleibt«. Der Missmutigste unter den Philosophen, Arthur Schopenhauer, beschrieb daher Jacobi – ein Jahr vor dessen Tod ‒ als eine[n] noch lebenden großen Philosophen, welcher wahrhaft rührende Bücher geschrieben und nur die kleine Schwachheit hat, alles, was er vor seinem funfzehnten Jahre gelernt und approbiert hat, für angeborne Grundgedanken des menschlichen Geistes zu halten.1

Anders, nämlich freundlicher ausgedrückt: Je nach dem, mit wem Jacobi jeweils stritt, er blieb konsequent bei seiner Position und vertrat stets mit Matthäus (12,30): »Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich«. Dieses radikale Entweder-Oder führte viele seiner vermeintlichen Gegner, die eigentlich Bewunderer oder zumindest Sympathisanten sein wollten, zur Verzweiflung. Denn sie bemühten sich häufig nicht um Streit, vielmehr um Versöhnung, statt Entweder-Oder wollten sie das Sowohl-als-auch. Mit dieser sturen Haltung hat Jacobi vielleicht am eindrücklichsten zur Ausprägung der Dialektik im Deutschen Idealismus beigetragen.2 Trotz der konstanten Position ist eine nähere Betrachtung der jeweiligen Gefechte, die Jacobi führte, durchaus gewinnbringend; denn sie verdeutlicht sowohl die gedankliche Entwicklung des jeweiligen Gesprächspartners als auch der daran anknüpfenden folgenden Philosophen. Zu dem hier darzustellenden Streitgespräch ließe sich beispielsweise eine Fortentwicklung der Diskussion in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling demonstrieren. Durch die historisch-kritische Edition dieser Schrift im Jahr 2018 ist deutlich geworden, dass Schelling darin nicht nur eine Auseinandersetzung mit Jacobi führt, sondern dabei auch stark von Johann Gottfried

|| 1 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 2004, S. 12. 2 Vgl. speziell dazu Jacobis Einfluss auf Hegels Dialektik in Christoph Binkelmann: A nihilo nihil fit. Das Nichts im Spinoza-Streit zwischen Kreativität und Rationalität. In: Nichts – Negation – Nihilismus. Die europäische Moderne als Erkenntnis und Erfahrung des Nichts. Hg. von Alessandro Bertinetto und Christoph Binkelmann. Frankfurt a. M. 2010, S. 43–66. https://doi.org/10.1515/9783110727340-009

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Herder beeinflusst ist.3 Dies lässt zumindest vermuten, dass der Streit zwischen Jacobi und Herder bereits die zentralen Grundlagen für die folgenden Auseinandersetzungen zwischen einem sturen Theismus und einem mit der Persönlichkeit oder Individualität Gottes (und des Menschen) kompatiblen Pantheismus beinhaltet und entwickelt. Diese Vermutungen sollen im Folgenden bestätigt werden; allerdings habe ich in diesem Beitrag selbst davon abgesehen, die Entwicklungslinien zu Schelling auszuführen. Das hätte nicht nur den Umfang des Kommenden gesprengt, sondern auch den traurigen Jubilar zu sehr zur Nebensache werden lassen. Folglich bleibe ich ausschließlich beim Streit zwischen Herder und Jacobi, den ich unter erneuter Verwendung eines leicht abgewandelten biblischen Zitats zusammenfassen möchte, um den beiden hochreligiösen Denkern gerecht zu werden. Es lautet: Denn sie wissen nur, was sie tun – ein Streit in fünf Akten.

1 Erster Akt: Die verbriefte Vorgeschichte (1783/84) Der Spinoza-Streit zwischen Jacobi und Herder hebt an mit Jacobis Übersendung einer Abschrift seines ersten Briefes an Mendelssohn vom 22. November 1783, den Herder erst am 6. Februar 1784 beantwortet. Es ist allgemein bekannt – deshalb halte ich mich kurz –, dass Jacobi im mitgeschickten Brief die Vermutung, »Lessing sei ein Spinozist gewesen«, dazu benutzt, seine Kritik an Spinozas Substanzphilosophie zu äußern. Unter den plakativen Vorwürfen, Spinozas System führe zu Fatalismus, Determinismus und Atheismus, enthüllt Jacobi eine Kritik an Spinozas Vorstellung einer substantiellen Gottheit; diese sei dort das lautere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich. Die Einheit dieses Gottes beruhet auf der Identität des nicht zu unterscheidenden, und schließet folglich eine Art der Mehrheit nicht aus. Blos in dieser transzendentalen Einheit angesehen, muß die Gottheit aber schlechterdings der Würklichkeit entbehren, die nur im bestimmten Einzelnen sich ausgedrückt befinden kann.4

|| 3 Vgl. die Herder-Bezüge in Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit. In: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I.17. Hg. von Christoph Binkelmann u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 2018. Zu Schellings Verhältnis zu Jacobi vgl. dort den ›Editorischen Bericht‹, S. 45–48. Ausführlich zum Verhältnis Schelling-Herder vgl. Christoph Binkelmann: Über Gott (und die Welt). Ein mögliches Gespräch zwischen Herder und Schelling. In: Herder und die klassische deutsche Philosophie. Festschrift für Marion Heinz. Hg. von Dieter Hüning, Gideon Stiening und Violetta Stolz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 205–234. 4 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), JWA I,1, S. 39.

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Lessing teilt demnach die Überzeugung Spinozas, dass die höchste Ursache der Welt von dieser nicht unterschieden sei. Da sie die Welt als Mehrheit nicht aus-, sondern in sich schließt, ist sie zugleich eins und alles, Identität und Totalität. Im Gegenzug verliert sie jedoch nach Jacobi alle diejenigen Attribute, die allererst durch externe Unterscheidung zustande kommen, nämlich Wirklichkeit, Bestimmtheit und Individualität. Insofern alles Wirkliche, Bestimmte und Individuelle nur in Gott vorkommt, ist dieser selbst keines davon. Er ist nur das lautere, d. h. reine und abstrakte Prinzip von diesen und damit nicht kompatibel mit einer außerhalb der Welt befindlichen »verständige[n], persönliche[n] Ursache der Welt«,5 wie sie in Jacobis Theismus vorgesehen ist. Herders Antwort ist überschrieben mit der Formel ›ἕν καὶ πᾶν‹ und drückt die Überraschung aus, »an Leßing einen Glaubensgenoßen meines philosophischen Credo gefunden«6 zu haben. Auch wenn vieles in Spinozas Philosophie noch unentwickelt sei und auf Irrtümern beruhe – wie insbesondere der Ausgang vom cartesischen Dualismus –, verteidigt Herder im Brief Spinoza gegen Jacobi, den er als »lieber bester extramundaner Personalist« anspricht. Spinozas Gott sei kein »abstrakter Begrif«, wie Jacobi vermutet, mithin kein logischer, sondern ein lebendiger Grund: »das aller reellste, thätigste Eins, das allein zu sich spricht: Ich bin der ich bin u. werde […] seyn, was ich seyn werde.«7 Damit gibt er Jacobi zum Teil recht, indem er Gott eine nicht zu unterscheidende Identität zuspricht, die Herder mit derjenigen Formel des Identitätsgesetzes ausdrückt, welche er sich bereits in der Metaphyik-Vorlesung Immanuel Kants notiert hatte: ›quidquid est, illud est‹.8 Wie diese Identität den Vorwürfen Jacobis zu entgehen vermag, deutet Herder bloß an und verweist auf eine schon seit sieben Jahren geplante Schrift über »Spinoza, Shaftesburi, Leibniz«, die er drei Jahre später unter dem Titel Gott herausgeben wird. Allerdings kritisiert er gegenüber Jacobi bereits die Idee der Personalität Gottes, die – wie Jacobi ja selbst zugab – auf Unterscheidung, mithin auf Einschränkung desselben beruhe: »Eingeschränkte Personalität paßt aufs unendliche Wesen eben so wenig, da Person bei uns nur durch Einschränkung wird«.9

|| 5 Ebd., S. 20. 6 Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. Bd. 5. Hg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1986, S. 27. 7 Ebd., S. 28f. 8 Vgl. Immanuel Kant: Metaphysik Herder. In: Kant‘s gesammelte Schriften. Bd. 28,1. Hg. von Gerhard Lehmann. Berlin 1968, S. 8f. 9 Herder: Briefe (s. Anm. 6), S. 29.

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2 Zweiter Akt: Die erste Auflage des SpinozaBüchleins (1785) 1785 erscheint die erste Auflage von Über die Lehre des Spinoza, worin Herder neben dem schon bekannten ersten Brief an Mendelssohn noch weitere Ausführungen Jacobis erfährt. Eine interessante Präzisierung betrifft die Unterscheidung von Finalund Wirkursachen. Bereits im ersten Brief hatte Jacobi moniert, dass in Spinozas System die Welt zu einem Schauplatz bloßer mechanischer Kausalität gerate, worin Freiheit nach im Denken vorherbestimmten Zwecken nicht möglich sei. Dies betrifft gleichermaßen den Menschen wie Gott, aus dessen notwendiger Natur und nicht aus einem vorhergehenden Denkakt die Welt nach Spinoza entstehe. Dem Denken bleibt bei Spinoza nur das Zu- oder besser: das Nachsehen; »sein einziges Geschäfte ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten.«10 Während für den Menschen das Denken oder die Einsicht nach Spinoza zwar eine wichtige, wenn nicht die höchste Rolle – nämlich als Erkenntnis Gottes – spielt, gilt dies zumindest für die Substanz nicht. Schuld daran sei, dass diese »kein bestimmtes oder vollständiges [in der zweiten Auflage heißt es: »kein eigenes oder besonderes«] Dasein« hat. »Hätte sie für ihre Einheit […] eine eigene, besondre, individuelle Würklichkeit; hätte sie Persönlichkeit und Leben: so wäre Einsicht auch an ihr der beste Teil.«11 Bei Spinoza hingegen gilt: »Das Denken ist nicht die Quelle der Substanz; sondern die Substanz ist die Quelle des Denkens. Also muß vor dem Denken etwas nicht Denkendes als das Erste angenommen werden«.12 Der Substanz als etwas Vordenklichem, die einen Primat des Handelns oder allgemeiner: der Wirklichkeit vor dem Denken repräsentiert, widerspricht Jacobi an dieser Stelle durch den umgekehrten Primat nach dem Konzept der Finalursache, worin – ganz nach Kant – der Begriff (als Zweckbegriff) der Wirklichkeit (als dem Handeln) vorhergeht. Dabei gibt er zu: »Freilich muss ich dabei eine Quelle des Denkens und Handelns annehmen, die mir durchaus unerklärlich bleibt.«13 – eben die Person als das einzig wahre Vordenkliche, das im Falle Gottes aus ›reiner Selbstbestimmung‹ zunächst im Denken, dann im Handeln die Welt erschafft.14 Da Spinozas Gott jedoch ein Bewusstsein fehle und der Mensch mit seinem Bewusstsein nur das Nachsehen habe, laufe alles auf einen Fatalismus hinaus. Die Einsicht gilt

|| 10 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 4), S. 26. 11 Ebd., S. 28. 12 Ebd., S. 32. 13 Ebd., S. 34. 14 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. In: JWA II,1, S. 94: Dort findet sich ein Kommentar Jacobis, der sich affirmativ auf ein Zitat aus Herders Erläuterungen zum neuen Testamente (1775) bezieht: »Eine reine Selbstbestimmung ist aber geschaffenen Wesen unmöglich. Ein veranlassendes Objectives muß dazu gegeben werden.«

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zwar für Spinoza als das Höchste in den Menschen, jedoch nur als Folge der Wirklichkeit im Handeln. Denn sie wissen nur, was sie tun: »so finden wir, daß in allen Dingen die Handlung vor der Überlegung vorhergeht, die nur die Handlung im Fortgange ist. Kurz, wir wissen was wir tun, und weiter nichts.«15 Der Vorrang der Wirklichkeit bzw. des Handelns vor dem Denken bei Spinoza wird vor allem dadurch deutlich, dass dieser zwar besonderes Wollen und einzelne Begierden dem Menschen zuspricht, ihn aber nicht noch über diese verfügen lässt. Kurz: der Mensch hat nicht noch ein »Vermögen zu wollen«,16 vielmehr ist er durch seine existenten, wirklichen Wünsche determiniert und kann sich nicht selbst bestimmen, welche Wünsche er realisiert und welche er verwirft. Harry Frankfurt hat diese Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Stufe im letzten Jahrhundert populär gemacht: Der Mensch hat immer schon vielfache wirkliche Wünsche, doch wie er sich zu ihnen verhält – ob und wie er sie befriedigt –, steht allein in seiner Macht. Wahre Selbstbestimmung ist für Jacobi nur dann möglich, wenn die Person einen »absoluten, reinen Anfang einer Handlung«17 im Denken setzt und daraus erfährt, »daß ich tue was ich denke«18 – und eben nicht umgekehrt. Damit die Person allerdings erstursächlich handeln kann, darf sie sich wie schon nicht durch die kausale Welt ebensowenig durch ›Vernunftgründe‹ (wie etwa den Kategorischen Imperativ) bestimmen lassen. Das Denken, welches dem Handeln ursächlich vorhergehen muss, ist für Jacobi infolgedessen eher Ausdruck von unmittelbaren Gewissheiten oder Überzeugungen aus Glauben,19 für welche keine rationalen Gründe angegeben werden müssen. Auch hier zeigt sich wieder, dass es eigentlich etwas Vordenkliches ist, nämlich die Person, welche erstursächlich für das Handeln verantwortlich ist, indem sie auf ihr Gefühl oder Gewissen hört und danach ihr Handeln ausrichtet. (Schelling hat sich später darüber aufgeregt, dass Jacobi diese unmittelbare Instanz ›Vernunft‹ nennt – im Gegensatz zum reflexiven Verstand. Für Schelling handelt es sich dabei um Glauben, nicht um Denken.)

3 Dritter Akt: Die erste Auflage von Herders Gott (1787) In Gott expliziert Herder seine Apologie des Spinozismus. Jacobis Doppelvorwurf, dass bei Spinoza Gott alles (›ἕν καὶ πᾶν‹) und nichts, genauer: nichts Wirkliches, ist,

|| 15 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 4), S. 80. 16 Ebd., S. 73. 17 Ebd., S. 80. 18 Ebd., S. 34. 19 Ebd., S. 113.

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mutet erst einmal für Herder widersprüchlich an. Wie kann ein Pantheismus, wonach die göttliche Reichweite auf das gesamte Universum ausgeweitet wird, zugleich Gott gänzlich leugnen? Aufgrund dieser augenscheinlichen Unvereinbarkeit der Vorwürfe schenkt Herder dem Atheismusvorwurf zunächst keine Beachtung, scheint doch die »Idee von Gott«20 omnipräsent in Spinozas System zu sein; mithin hat der Akosmismusvorwurf (der Vorwurf, dass die Welt nichts ist) eine weitaus größere Berechtigung und stellt eine größere Bedrohung dar. Wenn Gott alles ist, dann besteht die Gefahr, dass die Welt im Nichts verschwindet. Deutlich wird dies in Spinozas Bezeichnung Gottes als einziger Substanz, d. h. als ein »Ding, das für sich besteht, das die Ursache seines Daseins in sich selbst hat«,21 während die Welt und mit ihr der Mensch lediglich den Status einer Modifikation der Substanz zugesprochen bekommt. Auf philosophisch-begrifflicher (›geometrischer‹) Ebene hält Herder diese Unterscheidung für durchaus berechtigt. Denn die strenge Definition der Substanz als In-sich-Sein und Ursache-ihrer-selbst-Sein kann nur auf Gott allein und nur für eine einzige Entität zutreffen. Doch in philosophisch-populärer Hinsicht, für den ›common sense‹ oder den »gesunden Verstand« – wie es bei Herder heißt –, scheint diese Behauptung anstößig zu sein, »weil wir uns bei aller unsrer Abhängigkeit dennoch für selbstständig halten und auf gewisse Weise auch halten können«.22 Diese Ansicht übernimmt Herder, wenn er schreibt: »Die Substanzen der Welt werden allesamt von göttlicher Kraft erhalten, wie sie nur durch göttliche Kraft ihr Dasein bekamen; sie bilden also, wenn man will, modifizierte Erscheinungen göttlicher Kräfte«.23 Bereits die Bezeichnung der Modi als »Substanzen der Welt« deutet darauf hin, dass Herder den (geometrisch) strengen Substanzbegriff Spinozas vermeidet, um zu zeigen, dass die Welt nach Spinoza gerade nicht nichts ist. Diese Aufwertung der Modifikation nimmt bekanntlich Anleihen bei Leibniz, genauer: bei dessen Kraft- und Erscheinungsbegriff. Die göttliche Substanz ist demnach eine Urkraft, die auch in der Welt zur Geltung kommt, nämlich in Form ihrer Erscheinung oder Offenbarung; dabei ist es jeweils die eine göttliche Kraft, die sich »in unendlichen Kräften auf unendliche Weise offenbare.«24 Dass sich Gott in den erscheinenden Kräften ausdrückt, zeigt sich vor allem in deren Selbstständigkeit (die quasi ein Ausdruck für die Ebenbildlichkeit ist). Als Erscheinung (Bild) Gottes weisen sie die analoge Eigenschaft der Einheit als Allheit auf, womit sie eben auch bis

|| 20 Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche. In: Werke. Bd. 4. Hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994, S. 702. 21 Ebd., S. 703. 22 Ebd., S. 703. Dieses Begriffspaar (Abhängigkeit und Selbstständigkeit) wird Schelling in seinen Philosophischen Untersuchungen in eben diesem Verhältnis wieder aufgreifen; vgl. Schelling: Philosophische Untersuchungen (s. Anm. 3), S. 119; ferner Binkelmann: Über Gott (s. Anm. 3), S. 212. 23 Herder: Gott (s. Anm. 20), S. 703. Eigene Hervorhebung. 24 Ebd., S. 709.

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zu einem gewissen Grad Gottes Selbstständigkeit erlangen. Herder spricht daher von »organischen Kräften«, da in jeglicher Art von Organismen, im »Bau eines Tieres«25 bis hin zur organischen Verfasstheit des Weltganzen, dieser Ausdruck hervortritt: Organismen sind für sich bestehende Totalitäten oder Ganzheiten, die – wie die göttliche Substanz – unteilbar, d. h. Individuen sind. Die ganze Natur bis hin zum höchsten ihrer Geschöpfe, den Menschen, lässt sich als Entfaltung der göttlichen Urkraft auffassen. Durch Spinozas Gott verlieren die Dinge gerade nicht ihre Individualität im Sinne der Un(zer)teilbarkeit und Selbstständigkeit, vielmehr erhalten sie diese. Dieser »Mittelbegriff« der organischen Kräfte überwindet nun auch Spinozas cartesischen Grundfehler – nämlich den Dualismus von Denken und Ausdehnung –, wodurch Herder zugleich eine Vereinbarung von Final- und Kausalursachen anstrebt. Nach diesem organologischen Verständnis geht ebenfalls der Begriff dem Sein (oder Handeln) vorher – wie von Jacobi gefordert. Allerdings ist es kein reflexiv-bewusster, vielmehr ein vordenklicher Begriff, die Natur oder das Wesen der Dinge, die nur dem Menschen durch Einsicht in dieses Wesen (und letztlich in Gott) bewusst werden kann; diese Einsicht in die »innere« oder »heilige Notwendigkeit« beschert dem Menschen das Gefühl der Freiheit.26 Neben dem Wesen (der Natur der Dinge) tritt noch ein weiterer zentraler Begriff in den Vordergrund, derjenige des Daseins, der die Selbstständigkeit oder Quasisubstantialität der Dinge verdeutlicht. Gott teilt den Dingen der Welt dadurch Selbstständigkeit mit, dass er ihnen das Höchste gibt, das er selbst besitzt, nämlich Dasein.27 So lässt sich auch das Gefühl der Freiheit im Menschen erklären: »Aller unsrer Abhängigkeit ohngeachtet sind oder dünken auch wir uns Substanz und fühlen unser Dasein mit so inniger Gewißheit«.28 Das Dasein, das der Mensch von Gott erhält, offenbart sich als Geschenk der Substantialität. Dabei bleibt die Abhängigkeit insofern unangetastet, als Gott den Grund seines Daseins in sich selbst hat, während der Mensch und alle weltlichen Dinge diesen Grund außer sich, nämlich in Gott haben: »Seine Existenz ist der Urgrund aller Wirklichkeit, der Inbegriff aller Kräfte, ein Genuß, der über alle Begriffe geht.«29 Mit dem Topos des Genusses spielt Herder nicht nur auf dessen Verwendung bei Lessing an, vielmehr geht der Gebrauch auf Frans Hemsterhuis zurück, dessen Abhandlung Sur les désirs (Über das Verlangen) Herder einige Jahre zuvor übersetzt und mit einem Kommentar (Liebe und Selbstheit) versehen hatte:30 Genuss entsteht durch Vereinigung von Subjekt || 25 Ebd., S. 712. 26 Ebd., S. 741f. 27 Ebd., S. 767. 28 Ebd., S. 767. 29 Ebd., S. 744. 30 Vgl. dazu Christoph Binkelmann: ›Liebe und Selbstheit‹. In: Herder Handbuch. Hg. von Stefan Greif, Marion Heinz und Heinrich Clairmont. Paderborn 2016, S. 232–240.

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und Objekt in ersterem als Gefühl der Identität. Gottes Genuss ist folglich das Bewusstsein seiner eigenen Identität; so dass er sagen kann: »ich bin der ich bin u. werde sein, der ich sein werde.«31 Auch das Verhältnis des göttlichen Urgrundes zu den Dingen bezeichnet Herder mittels des Begriffs der Identität, wodurch zudem dessen Verhältnis zum Denken deutlich wird. Gott wird als die Identität manifest in der »Harmonie und Ordnung«, die das Dasein der Dinge einschließt: »Zwischen jedem Subjekt und Prädikat stehet ein Ist oder Ist nicht und dies Ist, diese Formel der Gleichung und Übereinstimmung verschiedner Begriffe, das bloß Zeichen = ist meine Demonstration von Gott.«32 Gott als Identität seiner selbst und der Welt offenbart sich gleichsam als die Kopula in Urteilen. Die Vernunft als »Verknüpfung des Denkbaren« besitzt darin ihren »wesentlichen Grund dieser Verknüpfung«, mithin fungiert hier die Substanz – wie Jacobi moniert hatte – als Quelle des Denkens. Im Satz ›Das Eine ist alles‹ (›ἕν πᾶν ἐστι‹) wird diese Identität in ihrer höchsten und reinsten Form als Identität Gottes ausgesprochen, die zugleich eine unmittelbare Selbsterkenntnis (den reinen Genuss Gottes) ausdrückt.

4 Vierter Akt: Die zweite Auflage des SpinozaBüchleins (1789) Vor allem in der vierten und fünften Beilage der Zweitauflage des Spinoza-Büchleins wendet sich Jacobi gegen Herders apologetische Transformation des Spinozismus. Denn anstelle des jacobischen Tertium-non-daturs: Entweder Final- oder Kausalursachen – entweder Jacobi oder Spinoza, setze Herder ein illegitimes Mittelsystem, das »dichterisch« zwischen Theismus und Spinozismus schwebe. Hier spielt Jacobi nicht nur auf Herders zentralen »Mittelbegriff« der organischen Kräfte an, sondern nimmt ferner die folgenden Konzeptionen einer schwebenden Einbildungskraft (bei Fichte und der Frühromantik) vorweg, die allesamt im dialektischen Ausgleich die starre Entgegensetzung des Entweder-Oder zu überwinden trachten. Er benennt damit Herder als den Begründer eines dialektischen Weltbildes, wie es im Deutschen Idealismus zur Blüte gelangen wird. Die illegitime Mittelstellung zeigt sich insbesondere am herderschen Versuch, der Substanz Spinozas Bewusstsein zuzuschreiben. Jacobi zitiert Herder: »Die höchste Kraft muß sich selbst kennen; sonst ist sie eine blinde Macht, die von der denkenden gewiß überwunden würde; mithin nicht Gottheit wäre.«33 Daher gebührt

|| 31 Herder: Gott (s. Anm. 20), S. 759. 32 Ebd., S. 753. 33 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 4), S. 225.

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Gott ebenso Weisheit wie Güte; letzteres, insofern die Wirklichkeit diejenige Ordnung und Harmonie aufweist, die bereits in der göttlichen Identität (dem IST) begründet ist. Damit scheint für Jacobi bei Herder ein paradoxes Verhältnis von Substanz und Denken intendiert; deutlich in Herders Aussage: »denn die Vorstellungskraft ist nur eine seiner Kräfte, der viele andere Kräfte gehorchen«.34 Insofern die Vorstellungskraft, mithin die Vernunft als höchstes Vermögen, die Ordnung des Seins bloß ausdrückt, kann sie keine Leitungsfunktion für diese Ordnung übernehmen, daher ist die Aussage, dass die Wirklichkeit dem Denken gehorcht, widersinnig. Vielmehr gilt umgekehrt, dass das Denken der Substanz folgt; ihm bleibt weiterhin das Zu- und Nachsehen. Konsequenterweise ist Gott bei Herder keine Person im Sinne »eines durch Vernunft sich selbst bestimmenden Wesens«,35 wie Jacobi hervorhebt und Herder als »anthropopathische«36 Ansicht (wie sie schon Leibniz benutzte) abtut. Jacobi unterscheidet in der vierten Beilage das Prinzip der Personalität von der Person: »jedes Wesen, welches das Bewußtsein seiner Identität hat, ist eine Person«;37 dazu bedarf es »deutlicher Erkenntnis«, welche den Tieren abgehe. Bezieht man diese Unterscheidung auf das zuvor Ausgeführte, dann kann sich der Mensch durch rationale Zwecke zum Handeln bestimmen, während das Tier lediglich über sinnliche Impulse (Instinkte, Selbstgefühle etc.) zum Handeln kommt. Bei beiden gilt indes, dass aus einem inneren Antrieb heraus die Handlung resultiert und nicht durch eine lediglich äußere, kausale Ursache; daher verfügen beide Akteure über das Prinzip der Personalität, auch wenn sie – wie im Falle der Tiere – keine Personen sind.

5 Letzter Akt: Die zweite Auflage von Herders Gott (1800) Nach einem großen Zeitsprung von elf Jahren meldet sich Herder erneut zu Wort. Auch wenn in der Herder-Forschung der These von Claas Cordemann grundsätzlich beigepflichtet wird, dass Herder in der Zweitauflage vor allem auf die Einwände von Karl Heinrich Heydenreichs Buch Natur und Gott nach Spinoza (1789) reagiert,38 sind Antworten auf Jacobi ebenso wenig zu übersehen. Dies betrifft nicht nur Herders erweiterte Kritik am Personenbegriff, die allerdings äußerst polemisch und wenig aussagekräftig ist, sondern insbesondere die Präzisierung der Verbindung von Da|| 34 Ebd., S. 227. 35 Ebd., S. 220. 36 Herder: Gott (s. Anm. 20), S. 741. 37 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 4), S. 220. 38 Vgl. Claas Cordemann: Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal. Tübingen 2010, S. 113–119.

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sein und Individualität. Den Begriff der Person lehnt Herder aufgrund seiner etymologischen Herkunft aus dem theatralischen Bereich, seiner umgangssprachlichen Verwendung als Eigentümlichkeit eines Menschen sowie seiner juristischen Funktion ab. In allen diesen Gebräuchen ist Person durch das Verhältnis zu anderen definiert; mithin durch Einschränkung. Herder bleibt hier also bei seiner Kritik, ohne dadurch, wie wir gesehen haben, Gott die Selbsterkenntnis abzusprechen. Interessanter sind die Ausführungen über das Dasein: Zunächst fällt auf, dass Herder das »Daseyn«, die Substantialität schlechthin, die sowohl Gott als auch die weltlichen Dinge auszeichnen, an zahlreichen Stellen durch den Begriff der Wirklichkeit ergänzt (einfach als Apposition schreibt er: »Wirklichkeit, Daseyn«39). Damit beabsichtigt er sicherlich hervorzuheben, dass das Prinzip der Wirklichkeit selbst Wirklichkeit ist – gegen den Vorwurf Jacobis, dass dies bei Spinoza und mit ihm bei Herder nicht so sei. Das Dasein ist das wirkende Prinzip in einem jeden Ding, diejenige Urkraft, in welcher alle Kräfte unzerteilt gebündelt sind oder aus welcher diese Kräfte als Ausdruck ›ausfließen‹ (Herder scheut jedoch jede emanationstheoretische Redeweise). Das Dasein ist daher gleichbedeutend mit der Natur oder dem Wesen eines Dinges: es ist das wirkende Wesen (deshalb ersetzt Herder auch an einer Stelle »Wesen« durch »Daseyn«40). Hier fällt eine weitere Maßnahme gegen den cartesischen Dualismus Spinozas auf: Wie dessen inkompatible Attribute ›Ausdehnung‹ und ›Denken‹ durch den Kraftbegriff auf ihre Einheit zurückgeführt werden, so unterläuft Herder die starre Trennung von Existenz und Wesen durch die Gleichsetzung von Wirklichkeit, Wesen und Dasein. Dadurch wird auch klar, dass jedes Ding durch Zuteilung des Daseins nicht nur seine Natur zugesprochen erhält, sondern diese Natur als innerhalb der Ordnung und Harmonie der Welt stehend oder wirkend. Das ›Ist‹, welches in der Aussage ›S ist P‹ für Herder Ausgangspunkt einer Demonstration Gottes darstellt, bezeichnet sowohl die Existenz, die jedem Subjekt zugeteilt wird (im Sinne ›S ist da‹) als auch dessen Einfügung in eine weltliche Ordnung, die sich für seine wesentlichen Eigenschaften (P1, P2, …) ergibt (›S ist P‹). Als drittes – und mit diesem Zusatz endet die Zweitauflage von Herders Gott – drückt sich mit dem Dasein auch die Identität oder Selbstheit eines jeden Dinges aus. Hier gelangen wir also neben Existenz und Wesensprädikation zur dritten Verwendung der Seinsaussage (›A ist A‹). Während für Gott diese Identität trivialerweise gilt – da nichts außerhalb seiner ist, ist er das Ununterschiedene schlechthin (›quidquid est, illud est‹) –, überträgt sich die Identität auch auf die Dinge der Welt. Das »Selbst« entsteht indes für Herder nicht aus einer reflexiven Identifizierung des

|| 39 Vgl. z. B. Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System [1800]. In: Sämmtliche Werke. Bd. XVI. Berlin 1887, S. 541 [die Änderungen der Zweitauflage stehen hier immer in den Fußnoten]. 40 Ebd., S. 539.

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Subjekts mit sich, vielmehr liegt es dieser noch zugrunde. Das zugeteilte Dasein eines Dinges ist die einheitliche, unzerteilbare, d. h. individuelle Urkraft, aus welcher heraus das Subjekt Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit entfaltet.41 Die Urkraft und die daraus hervorgehenden Kräfte sind für Herder aber nicht voneinander zu trennen, so als wäre die Urkraft bloße Potentialität, aus welcher heraus die wirklichen Kräfte resultieren können oder auch nicht. Vielmehr besteht die Urkraft als Wirklichkeit nur in diesen Kräften. Die Urkraft, das Dasein, nennt er daher nicht eine »einzelne, höhere Kraft«, sondern den »reellen Begriff«, d. h. den lebendigen Inbegriff oder die Ganzheit aller reellen einzelnen Kräfte.42 Da darunter auch die Kraft des Denkens oder der Selbstkenntnis fällt, ist mit einer Zunahme derselben die Zunahme der Selbstheit verbunden, wie Herder im Übergang von Pflanze zu Tier und Mensch aufzeigt.43 Umgekehrt gilt ebenso, dass Dinge, insbesondere Lebewesen umso mehr Selbstheit und Selbstbewusstsein erhalten, je mehr sie sich mit dem Ganzen der Welt (d. h. letztlich Gott) identifizieren: »Je mehr Leben und Wirklichkeit, d. i. je eine verständigere, mächtigere, vollkommnere Energie ein Wesen zur Erhaltung eines Ganzen hat, das es sich angehörig fühlt, dem es sich innig und ganz mittheilet, desto mehr ist es Individuum, Selbst.«44 Diese Theorie der Selbsterweiterung, die letztlich auf eine fortschreitende Apotheose des Menschen hinauslaufen wird, bedeutet dabei ebenso, dass nur Gott allein die Urkraft im höchsten Sinne innehat und entfaltet, d. h. Selbst und Selbstbewusstsein ist: Je mehr Geist und Wahrheit, d. i. je mehr thätige Wirklichkeit, Erkenntniß und Liebe des Alls zum All in uns ist, desto mehr haben und genießen wir Gott, als wirksame Individuen, unsterblich, unzertheilbar. Nur Der, in dem Alles ist, der Alles hält und träget, darf sagen: ›Ich bin das Selbst, außer mir ist Keiner.‹45 Wer außer ihm sagt: Ich! ist ein Teufel.46

Dieser letzte Zusatz, den ich von einer anderen Stelle aus Herders Gott übernommen habe, zeigt an, dass der Mensch nur in Gott, nicht außerhalb desselben zu wahrem Selbstsein und Selbstbewusstsein gelangen kann – letztlich über die Entfaltung der Kräfte Handeln und Denken, Liebe und Erkenntnis, Güte und Weisheit.47

|| 41 Ebd., S. 574. 42 Ebd., S. 502. 43 Ebd., S. 574. 44 Ebd., S. 575. 45 Ebd., S. 575. 46 Herder: Gott (s. Anm. 20), S. 719. 47 Und freilich zeigt diese Stelle eine interessante Parallele zu Schellings Erklärung des Bösen in der Freiheitsschrift.

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Epilog Fragen wir uns am Ende, worin der eigentliche Streitpunkt zwischen Jacobi und Herder liegt. Lässt er sich auf die Unterscheidung von Personalität und Individualität, Person und Individuum bringen? Nicht ohne Grund habe ich im Zurückliegenden die Differenzen weniger hervorgehoben; denn vieles deutet auf einen bloßen Streit um Wörter hin; der Sache nach bestehen zahlreiche Gemeinsamkeiten: Jacobi wie Herder bezeichnen mit Person oder Individuum die der Vernunft zugrundeliegende Einheit des Selbstbewusstseins, die zugleich Bewusstsein der Einheit ist. Diese Einheit ist die Quelle des Denkens (und Handelns) – bei Jacobi wie bei Herder. Individuum und Person sind letztlich beide vordenklich, d. h. unergründlich. Ihre Äußerung im Handeln oder Denken ist nur eine partielle, wenn auch zentrale: Erst durch deutliche Erkenntnis wird sie vollständig aktiviert und das Prinzip der Personalität zur Person oder das Individuum zum Selbst. Herder scheint am Begriff der Personalität die anthropopathische Ausdrucksweise zu stören; allerdings zieht er es selbst vor, den streng wissenschaftlichen Sprachduktus Spinozas (›more geometrico‹) durch den gesunden Menschenverstand aufzuweichen. Indes gibt es für Herder die zwei Ebenen einer wissenschaftlichen und populären Sprache, die beide auf ihre Weise die Wahrheit ausdrücken, während Jacobi die Wissenschaften in der Gestalt des Spinoza als Irrtum oder Verkehrung der Wahrheit verwirft. Befreit man unter dieser Perspektive Herders Einwände, dass eine Person eingeschränkt und daher Gott keine Person zu nennen sei, dass das Wort ›Person‹ von der Bezeichnung einer Maske im Theater herrühre, von ihrer polemischen Hülle, die sich gegen den Kinderglauben Jacobis richtet, den ihm auch Schopenhauer vorwarf, dann verdeutlicht sich die Differenz zwischen beiden Autoren: Für Herder darf die Welt und vor allem der Mensch nur in Gott ›Ich‹ sagen, d. h. ein Selbst sein, sonst ist er des Teufels, also böse. Einen extra- oder supramundanen Gott darf es aus diesem (menschlichen) Grund für Herder nicht geben. In Gott ›Ich‹ zu sagen, verlangt nun, einen Begriff Gottes zu entwickeln, wie es sowohl in einem wissenschaftlichen System als auch in populärer Form, die Jacobi als »Predigt« beschimpft,48 möglich ist. Die Einsicht in die göttliche »Harmonie und Ordnung« beschert dem Menschen nach Herder Selbstständigkeit und Freiheit, kurz: Individualität. Erst wenn sich der Mensch mit dieser Ordnung und der sie erkennenden Vernunft identifiziert, wird er zum wahren Individuum. Es ist freilich eine Einsicht, die der Wirklichkeit folgt. In dieser Hinsicht behält der Ausspruch für die Menschen seine völlige Gültigkeit: Denn sie wissen nur, was sie tun.

|| 48 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 4), S. 222.

Denn sie wissen nur, was sie tun | 203

Nach Jacobi konstituiert sich die Person durch Selbstbestimmung mittels einer Vernunft, die sich gegen die vermittelnde, diskursive Vernunft (später ›Verstand‹ genannt), gegen Vernunftgründe, stellt und aus unmittelbarer Einsicht, einem »Vernehmen« des Wahren, besteht: »Mit seiner Vernunft ist dem Menschen nicht das Vermögen einer Wißenschaft des Wahren; sondern nur das Gefühl und Bewusstseyn seiner Unwißenheit desselben: Ahndung des Wahren gegeben.«49 Die eigentlichen Motive des Handelns können so weder im Falle Gottes noch des Menschen von (anderen) Menschen diskursiv nachvollzogen werden; gleichermaßen ist es schwer für den Menschen, seine eigenen Motive zu kommunizieren. Die Unergründlichkeit personalen Handelns ergibt sich daraus, dass die Person per se Maskenträger ist – hier ist Herders polemischer Einwand doch treffend. Auf diese Weise wirken die Handlungen selbst freilich schöpferischer, da sie nicht eine nachvollziehbare Ordnung reproduzieren oder aufrechterhalten, sondern die Ordnung quasi aus dem Nichts herstellen. Wie aber die Person anderen, so ist sie auch sich selbst letztlich verborgen. Sie darf keine rational explizierbaren Gründe für ihr Handeln kennen, um frei zu handeln; zwar tut sie, was sie fühlt, aber nicht, was sie weiß. Wenn daher für Herder der Ausspruch gilt ›Denn sie wissen nur, was sie tun‹, gilt für Jacobis Personen der Satz: ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹ (Lukas 23,34). Die Person nach Jacobi und – wie sich in vielen Streitszenarien gezeigt hat – auch dieser selbst ist notwendigerweise Handelnde ohne Gründe – ›a Rebel without a Cause‹.

|| 49 Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte. In: JWA II,1, S. 208.

| 3 Spekulation und Theologie

Wilhelm G. Jacobs

Das Wesen der Freiheit in der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Schelling In seinem Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen geht Schelling unter anderem auf Jacobis Unterscheidung des Grundes von der Ursache ein und zitiert aus dem neuen Teil von dessen Schrift Von den göttlichen Dingen: »›Man hat nur die Wahl anzunehmen, daß das Absolute ein Grund, oder, daß es eine Ursache sey. Daß es Grund sey und nicht Ursache, behauptet der Naturalismus; daß es Ursache sey und nicht Grund, der Theismus‹.«1 Diese Unterscheidung gehört zu denjenigen Überzeugungen, von denen Jacobi zu Anfang betont, dass sie ganz die seien, die er im Spinozabüchlein und im David Hume dargelegt habe. Klaus Hammacher bemerkt, dass beide, Jacobi und Schelling, »mit der Unterscheidung von Ursache und Grund«2 arbeiten, und hält diese für »Jacobis bedeutendste [...] systematische Leistung«.3 Birgit Sandkaulen hat dann Jacobis Verwendung dieser Begriffe zum Gegenstand einer ausführlichen und gründlichen Untersuchung mit genau dem Titel Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis4 gemacht, auf die hier gerne Bezug genommen wird. Angesichts der zentralen Bedeutung dieser Begriffe für Jacobi und, wie sich zeigen wird, auch für Schelling beschränkt sich meine Abhandlung auf deren Erörterung. Die Schwierigkeit besteht darin, dass beide Philosophen dieselben Worte benutzen, darunter aber nicht dasselbe verstehen. Das ist um so bedauerlicher, als deren Erörterung den Freiheitsbegriff beider Philosophen thematisieren muss und somit mitten in die Streitfrage hineinführt. Da sich Schelling auf Jacobis Begriffe bezieht, ist in einem ersten Teil Jacobis Verständnis von Ursache und Grund darzustellen. In einem zweiten Teil ist dann auf

|| Der Text wurde 2012 auf einer Tagung, die sich mit dem Streit Jacobis und Schellings um die göttlichen Dinge befasste, und deren Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, vorgetragen. Er erscheint hier bis auf Geringfügigkeiten unverändert. 1 Schelling wird nach der Historisch-kritischen Ausgabe zitiert. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Hg. von Hans Michael Baumgartner u. a. Stuttgart BadCannstatt 1976ff. Im Folgenden AA, hier AA I,18. Hg. von Christopher Arnold, Christian Danz und Michael Hackl. Stuttgart 2019, S. 172. Hinzugefügt sind die Angaben der älteren Ausgabe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. 14 Bde. Hg. von Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart, Augsburg 1856‒1861 (im Folgenden SW), hier SW VIII, S. 71. 2 Klaus Hammacher: Jacobis Schrift ›Von den Göttlichen Dingen‹. In: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Hg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1994 (Philosophische-literarische Streitsachen 3), S. 129–141, hier S. 140. 3 Ebd., S. 141. 4 Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000. https://doi.org/10.1515/9783110727340-010

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Schellings Verständnis von Ursache, in einem dritten auf dessen Verständnis von Grund und zuletzt in einem vierten auf die Selbstbestimmung einzugehen.

1 Jacobis Unterscheidung von Grund und Ursache Jacobi äußert sich schon früh zu den Begriffen Grund und Ursache, nämlich insbesondere in der VII. Beilage, die er 1789 der zweiten Auflage seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn beigegeben hat. Jacobis Unterscheidung ist Bestandteil seiner Argumentation gegen die Philosophie Spinozas, genauer gegen dessen Kausalitätsbegriff. Dieser bestimmt die Substanz als causa sui und die Weise, in der die Modi zusammenhängen, als causa efficiens. Die Wirkursache ist somit die Form, in der die causa sui in den Modi erscheint. Eine weitere Form von Kausalität kennt Spinoza nicht; er leugnet ja die causa finalis und damit Willensfreiheit. Das will Jacobi nicht einleuchten. Die essentia der causa sui kann nach Spinoza nicht begriffen werden, denn existierend.5 Folglich eignet ihr Ewigkeit; diese ist nämlich zu bestimmen als »ipsam existentiam quatenus ex soli rei aeternae definitione necessario sequi concipitur«,6 Da Modi nicht ohne Substanz gedacht werden können, diese aber – de facto jedenfalls – nicht ohne Modi ist, schließt Jacobi, Spinoza interpretierend, wie schon in der ersten Auflage von 1785 seines Büchleins: »Das Werden [die Bewegung der Modi] kann ebenso wenig geworden seyn oder angefangen haben, als das Seyn«;7 denn, so darf man erläutern, jeder Modus, der als Ursache bestimmt werden kann, ist seinerseits Wirkung und so ins Unendliche, sowohl vorwärts in der Reihe wie rückwärts. Den gerade zitierten Satz erläutert Jacobi in der Beilage VII. Die Bewegung der Modi ist für Spinoza ausnahmslos bestimmt durch die Wirkursache; diese ist also, wie Jacobi sagt, die »allgemeine ewige unveränderliche Form der einzelnen Dinge und ihres unaufhörlichen Wechsels«.8 Wenn aber jede Ursache als Wirkung einer ihr vorangehenden Ursache begriffen werden muss, dann ist kein Anfang, das heißt: keine die ganze Bewegung erklärende Ursache gedacht. So gesehen, löst sich, wie Jacobi 1811 schreibt, Kausalität auf in den Satz »Nichts ist unbedingt; es giebt kein [...] Erstes, [...] kein Anhebendes, absolut Beginnendes«.9

|| 5 Vgl. Eth. P. I. def. 1. 6 Eth. P. I. def. 8. 7 JWA I,1, S. 93. 8 Ebd., S.253. 9 JWA III, S. 110.

Das Wesen der Freiheit in der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Schelling | 209

Soll Ursächlichkeit sich nicht auflösen, so ist sie gemäß Jacobi als eine solche zu verstehen, die eine Bewegung unverursacht aus sich in Gang setzt, eine Handlung.10 Eine solche denkt Spinoza, da er die causa finalis leugnet, konsequent nicht. Jacobi wendet gegen Spinoza ein: »Hatte nun die Bewegung nie angefangen; so konnten auch die einzelnen Dinge keinen Anfang genommen haben.«11 Wenn es keinen ersten Anfang gibt, so ist nicht zu denken, wie eine reale Kraftübertragung von einer Ursache auf eine Wirkung geschehen könne. Es verändert sich dann auch nichts in der Zeit; es geschieht im Grunde immer dasselbe. Spinozas Modi sind in Jacobis Augen »nicht allein dem Ursprunge nach von Ewigkeit her; sondern auch [...] dem Vernunftbegriffe nach, alle zugleich vorhanden«.12 Für die Vernunft gibt es nämlich nach Jacobi keine Zeit. Umgekehrt heißt dies: Die causa efficiens kann nur, und zwar in der Zeit, erfahren werden. Diese hält, wie Sandkaulen schreibt, Ursache und Wirkung »auseinander«.13 Nicht erfahren, sondern gedacht wird das Verhältnis von Grund und Folge, und zwar außer der Zeit, also zusammenfallend. Jacobi verweist zur Erläuterung auf geometrische Verhältnisse: Der Begriff Dreieck ist Grund für die ihm gleichzeitige Folge der Winkelsumme. Spinoza aber habe fälschlich reale Erfahrungsbegriffe »zu Vernunftbegriffen erhoben«.14 Damit würden, wie Sandkaulen formuliert, die »Verhältnisse von logischer und realer Sukzession«15 verwechselt. Nach Jacobis Behauptung kann Kausalität nur erfahren werden. Er weiß, dass wir außer uns zwar Sukzession beobachten, aber keine Kausalität. Soweit geht er mit David Hume einig, nach dem er ja auch sein 1787 erschienenes, hier einschlägiges Gespräch benannt hat. Wenn Kausalität nicht außer uns erfahrbar ist, dann nur in uns, nämlich durch unsere Praxis: »wir können ja auch handeln!«16 Handelnd fühlen wir uns als freie Ursache, die als solche auch Widerstand erleidet. Somit unterscheiden sich für Jacobi Ursache und Grund dadurch, dass der Begriff der Ursache »ein Erfahrungsbegriff ist, den wir dem Bewußtseyn unserer Causalität und Paßivität zu verdanken haben, und der sich eben so wenig aus dem blos idealischen Begriffe des Grundes herleiten, als in denselben auflösen läßt«.17 Damit ist letztlich, wie Siegbert Peetz zeigt, der Begriff der Ursache einer der praktischen Philosophie, der des Grundes einer der theoretischen.18

|| 10 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache (s. Anm. 4), S. 185. 11 JWA I,1, S. 253. 12 Ebd., S. 253. 13 Sandkaulen: Grund und Ursache (s. Anm. 4), S. 189. 14 JWA I,1, S. 253. 15 Sandkaulen: Grund und Ursache (s. Anm. 4), S. 175. 16 JWA II,1, S. 53. 17 JWA I,1, S. 256. 18 Vgl. Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Sendlings Konzept der Rationalität. Frankfurt a. M. 1995, S. 168.

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Der Begriff der Ursache bedarf, insofern Jacobi vom Handeln aus argumentiert, genauerer Erläuterung. Als handelnd verstehen wir eine Person, die aus sich etwas in der sinnlich wahrnehmbaren Welt verändert. Die Handlung des Täters wird als Ereignis in der Zeit angesehen. Jacobi sagt es ausdrücklich: Man sitzt »mit dem Begriffe der Ursache, durch welchen der Begriff einer Handlung nothwendig gesetzt wird, in der Zeit unbeweglich fest; denn eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding.«19 Jacobi beruft sich auf die Selbsterfahrung, dass wir im Handeln uns als frei wissen. Wir wissen uns im Gefühl unserer Existenz, Identität und Selbständigkeit als verantwortliche Personen.20 Da Jacobi die Ursache von der Handlung her versteht, bedeutet Ursache zu sein zugleich, dass sie »eo ipso in einem Verhältnis zu demjenigen steht, was durch sie ursächlich getan wird«.21 Damit hat der Handelnde am Anfang einer Handlung das Ende, das Ziel im Auge. Sandkaulen zitiert aus Jacobis Kladde VII: »Ursache ist Anfang – Anfang ist Handlung – Endursache, wo der Anfang am Ende ist, oder vom Ende kom[m]t«.22 Das, was erreicht werden soll, das Telos, bestimmt das anfängliche Handeln. Menschliches, d. i. zwecksetzendes Handeln greift in der Konzeption des Zieles über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft vor und ist insofern außerzeitlich. Im Handeln sind causa finalis und causa efficiens miteinander verbunden. Zwecke werden durch ein Wesen gesetzt, das sich selbst als Eines immer schon vorfindet. Dieses Wesen muss sich nicht erst als Eines konstituieren, ehe es dies könnte, muss es sich als solches schon finden, nämlich, wie es in den Göttlichen Dingen heißt, »durch ein unmittelbares [...] Wesenheitsgefühl, nicht durch [ich füge ein: vermittelte] Erkenntniß; er weiß, er ist dieser Eine und derselbe, [...] weil unmittelbare Geistes-Gewißheit von dem Geiste, von der Selbstheit, von der Substantivität unzertrennlich ist.23 In der zugehörigen Fußnote nennt Jacobi dieses Wesen eine Person, die er beschreibt als »in sich Seyendes«, »Selbst-Wesen«, »Selbst-Ursache«, und »Außerzeitliches«, welches »im Besitz eines außerzeitlichen blos inwendigen Bewußtseyns« ist.24 Sandkaulen erläutert die Zeitlosigkeit der Person so: »Wenn der Handelnde selbst der Zeit vollständig unterworfen wäre, wäre er auch nur ein bedingtes Glied in der Kette naturaler Verhältnisse und folglich nicht der, der – unbedingt – etwas anfangen könnte.«25 Da die Person aber handelt, ist sie andererseits zeitlich, »so gewiß [...] das ist, was wir Willen nennen und [...] Vorsatz und Ausführung, Selbstbilligung und Reue [...] und ein menschliches Gewissen.«26 Die Außer-

|| 19 JWA I,1, S. 257. 20 Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache (s. Anm. 4), S. 191f. 21 Ebd., S. 195. 22 Ebd., S. 199. Kladde VII, S. 12. 23 JWA III, S. 26f. 24 Ebd., S. 27. 25 Sandkaulen: Grund und Ursache (s. Anm. 4), S. 200. 26 JWA III, S. 108.

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zeitlichkeit der Person versteht Jacobi also als integralen Bestandteil von deren zeitlichem Handeln. Freiheit begreift Jacobi von der Handlung her, und er hat gewiss recht zu behaupten, dass diese nicht ohne Zeit zu denken sei. Mittels der Unterscheidung von Grund und Ursache kritisiert Jacobi Spinoza derart, dass dieser die Tatsächlichkeit der menschlichen Freiheit wegdiskutiere und an die Stelle eines lebendigen, freien Gottes die innere Notwendigkeit der Substanz setze. Die Lehre vom freien Gott nennt Jacobi Theismus, die andere Naturalismus. Beide behaupten, dem Endlichen sei »ein nicht bedingtes Absolutes«27 vorauszudenken. Den Unterschied sieht Jacobi so, dass im Naturalismus Gott als Grund, im Theismus als Ursache behauptet werde. Der Naturalismus behauptet mit Jacobis Worten: »Das Unbedingte oder Absolute, welches die Vernunft voraussetzt, sey nur das Substrat des Bedingten, das Eine des Alls«.28 Der Theismus setzt dagegen vor die Natur einen in jeder Hinsicht freien Gott, wiederum mit Jacobis Worten: »Dieses Unbedingte oder Absolute sey eine selbstbewußte freye, dem vernünftigen Willen analoge Ursache, eine nach Zwecken wirkende allerhöchste Intelligenz«.29 Die Differenz stellt Jacobi deutlich heraus, entweder denke man dies oder jenes, Gott als Grund oder als Ursache. So wie er ansetzt, ist er damit konsequent. Jacobi versteht sich als Theist, denkt also Gott als Ursache, und damit Freiheit. Der Naturalismus ist damit Atheismus und, obwohl Schellings Name nicht genannt wird, ist auch seine Philosophie gemeint.

2 Schellings Verständnis von Ursache Schelling lässt die Voraussetzung von Jacobis Kritik, Gott – und damit überhaupt Freiheit – sei entweder Grund oder Ursache, nicht gelten; er behauptet, beides sei sowohl Ursache als auch Grund. Da er mit Jacobi darin übereinstimmt, dass Gott als Ursache zu denken ist, argumentiert er nur dafür, ihn auch als Grund zu denken. Das bedeutet aber keineswegs, dass er den Begriff der Ursache ebenso denkt wie Jacobi, ganz im Gegenteil. Will man die Differenzen zwischen den beiden Philosophen genauer fassen, so ist auch die Differenz im Begriff der Ursache zu erörtern. Eine erste Differenz zu Jacobi liegt im Verständnis der Denkgeschichte. Das rationale Denken, das sich bewusst der Kategorie der Kausalität bedient, ist, wie Jacobi weiß, eine spätere Stufe menschlicher Entwicklung. Rationalität, wie sie uns bekannt ist, ist geworden. Es »entsteht eine Vernunftwelt […]. Wir eignen uns das Universum zu, indem wir es zerreißen, und eine unseren Fähigkeiten angemessene,

|| 27 Ebd., S. 105. 28 Ebd., S. 108. 29 Ebd.

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der wirklichen ganz unähnliche Bilder- Ideen- und Wort-Welt erschaffen.«30 Der frühe Mensch habe dagegen die Naturvorgänge als Handlungen, also durch den Begriff der Ursache verstanden. Erst die spätere Rationalisierung ermöglicht demnach den Naturalismus und zeigt sich aus dieser Perspektive als unzulängliche Abstraktion. Den Unterschied zwischen alter, mythischer und neuer, rationaler Welt hat Schelling 1793 schon gekannt. Ihm, der als Student der Theologie uralte Texte als sinnvoll und wahr zu begreifen suchte, war aber klar, dass nur unter derjenigen Voraussetzung diese Texte zu verstehen sind und in ihnen Sinn und Verstand zu erkennen ist, dass die Rationalität zu aller, früher oder später Zeit dieselbe ist, jedoch anfänglich nicht als Rationalität selbst erkannt wird, so dass die frühen Menschen auch über diese nicht so verfügen konnten, wie es spätere können. Gewiss wird in der alten Welt vieles Unverstandene als Handlung der Götter oder anderer Wesen angenommen; aber auch der mythische Mensch muss, um selbst handeln zu können, eine konstante regelmäßige, d. i. kausal geordnete Natur, auch ohne über diese Regelmäßigkeit nachzudenken, voraussetzen. Daher ist Jacobis Einsicht, dass die Rationalität eine späte Frucht sei, kein Argument für eine beschränkte Geltung von Rationalität. Sie könnte diese späte Frucht nicht sein, wenn sie nicht im frühen Keim – natürlich unentwickelt – gelegen hätte. Ohne diese Voraussetzung wäre zwischen der alten und neueren Welt keine Kontinuität denkbar, sondern nur ein Bruch. Rationalität muss demnach, als bewusste oder unbewusste, zu aller Zeit vorausgesetzt werden. Nach Jacobi »sitzt man mit dem Begriffe der Ursache [...] in der Zeit unbeweglich fest«.31 Diese These bedarf für Schelling, der hier Kant folgt, der Differenzierung – einer, die deutlich über die soeben genannte hinausgeht. Kants Kategorie der Kausalität ist die Form des hypothetischen Urteils. Das Verhältnis des Denkens ist in diesem Urteil das »des Grundes zur Folge«.32 Von Zeit ist, solange das Denken als solches Thema ist, noch keine Rede. Erst falls die Kategorie mit der Zeit verbunden wird, nämlich im Schema, kann und muss für Kant von einer in der Zeit festsitzenden Kausalität die Rede sein. Weil die Kategorie Form des Denkens ist, das Denken aber nicht darin aufgeht, im Schema mit der Zeit verbunden zu sein, ist für Kant ebenso wie für Schelling Kausalität und damit auch Ursächlichkeit ohne Bindung an die Zeit denkbar. Darüber alsbald mehr. Was in der Zeit erscheint, ist der Naturkausalität unterworfen, ob wir das im einzelnen Fall nachvollziehen können oder nicht. Insofern wir Menschen Erscheinung sind, und das sind wir auch, wenn uns unser Innenleben erscheint, erscheinen wir uns gemäß den Kategorien, also auch gemäß der Kausalität. Daher kann

|| 30 JWA I,1, S. 249. 31 Ebd., S. 257. 32 KrV A 73, B 98. Vgl. Logik § 25. Schriften IX, S. 105.

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Kant behaupten, wenn uns jede Triebfeder des Verhaltens eines Menschen bekannt wäre, so wäre sein »Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mondoder Sonnenfinsterniß«33 auszurechnen. Was uns als unser Seelenleben bewusst wird, etwa die von Jacobi vorhin zitierte Selbstbilligung oder Reue, ist, nach Kant Erscheinung, damit kausal bestimmt und erscheint unfrei. Freiheit ist nur außerhalb der Zeit denkbar. Sie ist nicht einzelne erfahrbare Entscheidung oder Handlung, vielmehr liegt sie jeder derselben voraus, und zwar als jene Grundmaxime, durch die wir uns als gut oder böse bestimmen. Kants diesbezügliche Lehre übernimmt Schelling; es ist nur an die Freiheitsschrift zu erinnern, in der dem Wollen »Ewigkeit [und] Unabhängigkeit von der Zeit«35 zugesprochen wird. Wollen versteht Schelling als Selbstbestimmung aus sich selbst, also als unverursachte Kausalität. Diese kann er mit Kant nur als unzeitlich verstehen. Deutlich ist, dass Schelling mit Kant zweierlei unterscheiden muss, einmal die Kausalität in den Erscheinungen, die Naturkausalität, und andererseits die Kausalität des Willens, einmal eine gebundene und zum anderen eine freie Kausalität. Worin Schelling, Kant und Jacobi übereinstimmen, ist das im Begriff der freien Ursache mitgedachte unverursachte Anfangenkönnen. Dieses Anfangenkönnen muss Schelling aber, Kant folgend, im Gegensatz zu Jacobi als unzeitlich verstehen. Somit gehört für Kant wie auch für Schelling die Tat, welche das Leben des Menschen bestimmt, nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an. Schelling wehrt ein Missverständnis ab: Diese Tat »geht dem Leben [...] nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit, (unergriffen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That«.36 Die Tat geht so durch die Zeit hindurch, wie etwa der Wille, eine Ehe zu führen, durch die Zeit, also oft Jahrzehnte lang, hindurchgeht. Er tritt in einzelnen Entscheidungen und Handlungen in Erscheinung, liegt aber als Ding an sich, bzw. schellingsch als ewige Tat diesen zu Grunde. Dieser Wille kann auch nicht als Handlungsziel vorgestellt werden, vielmehr differenziert sich der Wille in eine Fülle einzelner Handlungsziele. Er muss als Maxime gedacht werden, also als Regel höherer Ordnung. Schelling denkt mit Kant und Jacobi den Willen als unverursachten Anfang, aber nicht wie Jacobi als unmittelbare Erfahrung in der Zeit. Im Gegenteil, der Wille hält sich durch die Zeit hin durch, er liegt dem, was im Einzelnen getan wird, zu Grunde. Als zu Grunde liegender ist er ewiger Wille; d. i. genauer: Ein die Zeit begründender, also in Beziehung auf sie gedachter ewiger Wille. Wille vollzieht sich als Selbstbestimmung. In dieser denkt Schelling beides zusammen, die Aseität des Willens und den durch den Willen gelegten, die Zeit hindurch währenden Grund. Unmittelbar nachdem Schelling Jacobis zu Anfang des Beitrags angeführten Satz bezüglich Grund und Ursache zitiert hat, antwortet er,

|| 33 KpV 177. Schriften V, S. 99. 35 AA I,17, S. 123. SW VII, S. 350. 36 AA I,17, S. 153. SW VII, S. 385f.

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»daß hier schlechterdings keine Wahl sey, daß das Absolute sowohl Grund als Ursache sey, und als beydes gedacht werden müsse«.37 Was für das Absolute gilt, gilt überhaupt für Freiheit. In der Selbstbestimmung ist der Wille Ursache bzw. unverursachter Anfang, der sich bestimmt, Grund zu sein für das, wozu sich der Wille ursächlich bestimmt. Was Schelling unter Grund versteht, ist nun genauer darzulegen.

3 Schelling Verständnis des Grundes Selbstbestimmung setzt im Willen, sei er göttlich, sei er menschlich, eine Differenz, nämlich von Bestimmendem und Bestimmbarem. Diese Unterscheidung kennt Schelling seit seinem Timaeus-Manuskript von 1794 aus Platons Philebos. Schon dort setzt er das apeiron mit dem Begriff der Materie gleich;38 er denkt diese völlig unbestimmt, bzw. formlos, damit eben nicht in irgendeiner Weise gegenständlich, sondern als Moment eines Existierenden. Diese Materie der Bestimmung aber ist von Schelling als Wille gedacht, also als ein Wille ohne jede Bestimmung. Da ein Wille aber seinem Wesen nach ein Ziel will, also eine Bestimmung hat, ist ein solcher Wille kein wirklicher, wirkender Wille. Ein solcher Wille ist ein Wille, der nichts will. Dieser Wille kann somit nicht als sich vollziehender Wille gedacht werden, sondern wie die Materie als ein Moment oder eine Potenz eines wirklichen Willens. Schelling beschreibt diesen bestimmungslosen Willen in der Freiheitsschrift als »ein wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich«.39 Schelling versteht Wille als Selbstbestimmung. Von dieser ist sinnvoll nur zu reden, wenn etwas Unbestimmtes bestimmt werden kann. Dieses Unbestimmte liegt notwendig der Bestimmung zu Grunde; es ist das Fundament oder, wie Schelling auch sagt, die Basis der Bestimmung. Da Schelling so denkt, verwendet er bisweilen auch die Wörter Substanz und Subjekt ihrem ursprünglichen Wortsinn entsprechend gleichbedeutend mit Grund. Nicht nur das platonische Modell ist hier deutlich, sondern auch wie Schellings Begriff des Grundes sich von dem Jacobis unterscheidet. Grund ist für diesen, wie zuvor ausgeführt, ein theoretischer Begriff, der logische Verhältnisse expliziert. Schelling dagegen fasst diesen Begriff praktisch auf und nennt Grund dasjenige, worauf etwas stehen, woraus sich etwas entwickeln kann. Damit ist Schellings Rede von Grund doppelt. Einmal ist das Bestimmbare Grund für das Bestimmen; dieses muss frei sein, also wie im Philebos als Ursache gedacht werden. Sodann aber ist das Bestimmte Grund, indem es als nunmehr bestimmter Wille den Vollzug des Willens in der Zeit trägt. || 37 AA I,18, S. 172. SW VIII, S. 71. 38 Vgl. Kommentar zum Timaeus (1794) AA II,5, S. 181f. 39 AA I,17, S. 132. SW VII, S. 360.

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Weil Schelling Wille als Selbstbestimmung denkt, weist er auch in seinem Denkmal Jacobis Zurückweisung derjenigen Philosophen, »welche das Vollkommnere aus dem Unvollkommneren hervorgehen«40 lassen, seinerseits zurück. Das Unvollkommenere wird doch erst durch die Bestimmung zum Vollkommeneren, es muss ihr zu Grunde liegen. Denkt Jacobi dieses Verhältnis nicht, so kann er keine Selbstbestimmung, d. i. keine Freiheit (zureichend) denken. Weil aber das Bestimmbare einer Selbstbestimmung nichts Fremdes ist, sondern etwas, das zu dem Selbst gehört, muss dieses Bestimmbare als der unbestimmte Wille gedacht werden. In Gott nennt Schelling diesen Willen die Natur in Gott. Es versteht sich, dass mit diesem Ausdruck eine Potenz, nicht aber ein Gegenstand gemeint ist. Diese Natur ist also bestimmungsloser Wille. Er hat nichts, was er wollen könnte. Er kreist in sich selbst ohne jedes Telos. Er kann nicht einmal sich selbst wollen, nicht einmal Eigenwille sein. Dazu bedürfte es der Bestimmung, des Telos, sich zu wollen. Bestimmung ist Unterscheidung und damit Begriff, dieser liegt im Allgemeinwillen. Nicht umsonst nennt Schelling den Allgemeinwillen auch Logos, weil ein Wort immer über den Aussprechenden hinausgeht. Der bestimmungslose Wille wird also erst in der Konfrontation mit dem Allgemeinwillen zum Eigenwillen, indem der Allgemeinwille über das Eigene hinausgeht. Da der nun als Eigenwille anzusprechende Wille dem Logos entgegengesetzt ist, will er sich nicht auf geistige, sondern auf natürliche Weise. Er kann nicht über sich hinausgehen; könnte er das, wäre er Logos. Daher kann er einzig sein Sein, seine Selbsterhaltung wollen. Ohne das natürliche Wollen des Selbst wäre umgekehrt der Allgemeinwille nicht möglich; denn er bedarf des Eigenwillens, da er ja nicht hinausgehen kann, wenn er kein Eigenes ist. Beide Formen oder Potenzen des Willens sind, wie Thomas Buchheim in etwas anderem Zusammenhang schreibt, komplex.41 Bestimmung ist also nur durch den Allgemeinwillen, den Logos, möglich. Dieser differenziert damit auch den Eigenwillen. Dieser kann sich von sich aus nicht differenzieren, weil er ungeistige Natur ist. Diese äußert sich im Menschen als Lust oder Unlust, welche an sich nichts Böses ist. Sie wird dies erst, wenn der Eigenwille sich vom Allgemeinwillen löst. Wohl aber wird dann die eine Lust zu den unterscheidbaren bestimmten Lüsten, bzw. der Selbsterhaltungstrieb zu den differenten Trieben. Durch Lust und entsprechend Schmerz sind wir mit der ganzen Natur verbunden. Wenn wir mit dieser durch unsere Gefühle verbunden sind, so hängen wir mit der ganzen Natur durch unsere Triebnatur zusammen. Diese aber wiederum ist nur

|| 40 AA I,18, S. 165. SW VIII, S. 62. 41 Vgl. Thomas Buchheim: Der Begriff der ›menschlichen Freiheit‹ nach Schellings Freiheitsschrift. In: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist Freiheit!« Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung. Hg. von Friedrich Hermanni, Dietmar Koch und Julia Peterson. Tübingen 2012, S. 187–217, hier S. 196.

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sie selbst durch ihr Gegenüber, den Allgemeinwillen. Hier nähert sich Schelling Fichtes Wort vom Material der Pflicht. Die Natur, in der wir leben, ist durchaus geregelt. Auch für sie gilt, dass sie Bestimmung eines Bestimmbaren ist, und so liegt immer noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, [...] das, was [...] ewig im Grunde bleibt.42

Jacobi übersieht, dass Selbstbestimmung ein Bestimmbares im Selbst erfordert, bzw. ein Existierendes einen Grund seiner Existenz,43 oder mit anderen Worten, eine Natur in sich haben müsse. Selbstbestimmung aber ist Schellings Begriff, durch den er den Vollzug von Freiheit bzw. Willen versteht. »Wollen ist Urseyn«,44 Selbstbestimmung also die Grundverfassung des Seins. Diese birgt aber noch ein Problem, das wir bisher sorgsam umschifft, nun aber anzugehen haben.

4 Selbstbestimmung In einer Selbstbestimmung wird eine Differenz gedacht; nicht nur zwischen Bestimmendem und Bestimmten, sondern auch zwischen den Zuständen der Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Es wird also eine Veränderung des sich selbst Bestimmenden gedacht, damit zwei Zustände, die einander widersprechen. Darin läge kein Problem, wenn Schelling nicht mit Kant den Willen außer der Zeit in die Ewigkeit gesetzt hätte. Nun haben beide aber den Willen außerhalb der Zeit gesetzt. Zeit aber ist – nach Kant jedenfalls – die einzige Bedingung, »die Möglichkeit einer Veränderung, d. i. einer Verbindung contradictorisch entgegengesetzter Prädicate [...] in einem und demselben Objecte, begreiflich«45 zu machen. Was für ein Objekt gilt, gilt erst recht für ein Subjekt. Hat also nicht doch Jacobi die Trümpfe in der Hand, wenn er Kausalität der Handlung, die in der Zeit festsitzt, zuschreibt? Es nutzt nichts, darauf hinzuweisen, dass Kant hier von der theoretischen Philosophie spricht. Für unsere Frage gilt dasselbe. In der Selbstbestimmung müssen zwei entgegengesetzte Prädikate demselben Subjekt zugeschrieben werden, und zwar so, dass sie widerspruchslos auseinander gehalten werden. Wenn dem so ist,

|| 42 AA I,17, S. 131. SW VII, S. 359. 43 Vgl. AA I,17, S. 129f. SW VII, S. 358. 44 AA, I,17, S. 123. SW VII, S. 350. 45 KrV B 48.

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kann Ewigkeit von Schelling nicht als »Einerley«,46 wie Fichte in der Anweisung vom ewigen Gott sagt, gefasst werden. Ewigkeit kann dann nicht als unveränderlich, eben einerlei, gedacht werden. Wolfgang Wieland47 unterscheidet eine uneigentliche Zeit, die Anschauungsform Kants, von einer eigentlichen. Wäre die erste ein Begriff der theoretischen, so die zweite einer der praktischen Philosophie. Diese wäre dann die Ewigkeit. Wenn nun nicht die der theoretischen Philosophie angehörende Anschauungsform Zeit gedacht werden soll, der zufolge jedem Zeitpunkt ein anderer vorangeht, der auch noch durch die Verbindung der Zeit mit der Kategorie der Kausalität im Schema kausal bestimmt ist, dann kann die hier zu denkende Zeit oder Ewigkeit keine gegebene Größe sein, kein Schema, das eine Reihenfolge festlegt. Der Wille kann demnach nicht in der Zeit sein. Außer der Zeit kann er aber auch nicht gedacht werden, wenn denn der Widerspruch vermieden werden soll. Dann bleibt nur übrig, den Willen so zu denken, dass er, weil er sich vollziehen will, den Widerspruch, der seinen Vollzug unmöglich machen würde, vermeiden will. Wenn wir dann vom Vollzug des Willens her denken, ihn als Tätigkeit begreifen, dann muss er als Anfang gedacht werden. Anfang heißt dann unverursachte Ursache, welche, indem sie sich bestimmt, die Unbestimmtheit ausschließt, in den Worten der Weltalter: sie in die Vergangenheit setzt. Da aber Bestimmung eine zu etwas ist, also das Telos den Anfang bestimmt, ist ebenso die Zukunft gesetzt. Damit ist Zeit von der Tätigkeit, vom Willen her verstanden, und Gegenwart ist der primäre Modus, von dem aus Vergangenheit und Zukunft gesetzt sind. Für Jacobi sitzt die Ursache fest in der Zeit, für Schelling begründet sie Zeit, und zwar indem sie, wie der Ausdruck begründet sagt, ihr den Grund legt in der Tätigkeit des Wollens. Wenn demnach der Mensch nicht in der Zeit lebt, sondern sie generiert, so ist er damit, wie Schelling behauptet, »außer aller Zeit«.48 Will er, so entscheidet er sich, er scheidet seine Vergangenheit von sich. Das kann man psychologisch verstehen, ist aber hier grundsätzlich gedacht. Er trennt sich, nämlich von seiner Unentschiedenheit, die ihm die freie Entscheidung ermöglicht. Diese Unentschiedenheit ist aber nicht das Erste, sie wird erst durch die Entscheidung. Die Entscheidung zu einer von mehreren Möglichkeiten scheidet von allen diesen außer der einen, zu der man sich entschieden hat. Das gilt kantisch gesprochen für die Grundmaxime unseres Lebens, entweder dem Gesetz als Gesetz, d. i. ausnahmslos zu folgen, oder eben nicht. Es versteht sich, dass ein solcher Entschluss nicht in der Zeit erfahren wird; || 46 Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisung zum seeligen Leben, oder auch die Religionslehre. Berlin 1806. In: J. G. Fichte-Gesamtausgabe. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Bd. I,9. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 90. 47 Wolfgang Wieland: Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie. Heidelberg 1956, z. B. S. 64f. 48 AA I,17, S. 153. SW VII, S. 385.

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was erfahren wird, kann höchstens auf eine solche Tat, die den Charakter des Menschen ausmacht, schließen lassen. Die Einsichten Kants und Schellings lassen die Lebenszeit verstehen als sukzessive Entfaltung von Entschlüssen, die zu verstehen sind als Erscheinungen der ewigen Tat. Daher ist es auch kein mythisches Gerede, wenn Schelling sagt, diese Tat falle »mit der ersten Schöpfung, (wenn gleich als eine von ihr verschiedne That), zusammen«.49 Mythisches Gerede würde bedeuten, dass die Tat, die wir sind, vor Jahrmillionen sich vollzogen habe. Dann aber setzt man diese Tat in die Anschauungsform der Zeit und verfehlt damit Schellings Intention völlig. Die erste Schöpfung ist die ursprüngliche Schöpfung, die nicht in die Zeit fällt, sondern sie begründet. Sie geht durch die Zeit hindurch. In dieser ist der Mensch als freier, d. i. als ein Wesen, das sich selbst ursprünglich schaffen muss, gewollt. Die ursprüngliche Tat des Menschen reicht »bis an den Anfang der Schöpfung; daher er durch sie auch außer dem Erschaffnen, frey und selbst ewiger Anfang ist«.50 Die Tat reicht deshalb an den Anfang, weil der Mensch sich mit seiner Tat selbst schafft und damit außer dem Erschaffenen ist, also kein ungeistiges Geschöpf. Er ist wie Gott, wenn auch nicht Gott, denn er reicht an den Anfang, nicht vor ihn. Er schafft sich, indem er sich entscheidet; die Möglichkeit der Entscheidung schafft er nicht. Schelling denkt Freiheit als Selbstbestimmung radikal durch. Für Jacobi ist Freiheit im unmittelbaren Bewusstsein, er sagt Gefühl, unbezweifelbar gegeben. Das unterscheidet beide. Jacobi lässt sich nicht von seinem Gefühl abbringen. Dem scheint Schelling Respekt zu zollen, wenn er am Beginn der Freiheitsschrift schreibt: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit können theils den richtigen Begriff derselben angehen; indem die Thatsache der Freyheit, so unmittelbar das Gefühl derselben einem jeden eingeprägt ist, doch keineswegs so sehr an der Oberfläche liegt, daß nicht, um sie auch nur in Worten auszudrücken, eine mehr als gewöhnliche Reinheit und Tiefe des Sinns erfordert würde;

diese Worte kann man als eine Anerkennung nicht nur des Denkens sondern auch der Person Jacobis lesen. Die eigene Bemühung formuliert Schelling in unmittelbarem Anschluss so: »theils können sie den Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht betreffen.«51 Dieses Bemühen geht seiner Natur nach weit über das Denken Jacobis hinaus. Seine Verteidigung der Freiheit ist durch Schellings Philosophieren in einer Weise begründet, welche die bloße Behauptung und den Rekurs auf unmittelbares Bewusstsein hinter sich lässt. Jacobis Philosophie lässt sich nur schwer gegen die heutigen Einreden der Psychologie und der Hirnforschung verteidigen, während die Argumente Kants und Schel-

|| 49 AA I,17, S. 153. SW VII, S. 385. 50 AA I,17, S. 153. SW VII, S. 386. 51 AA I,17, S. 111. SW VII, S. 336.

Das Wesen der Freiheit in der Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Schelling | 219

lings davon gar nicht betroffen sind. Freiheit, so argumentieren Kant und Schelling, lässt sich, weil sie nicht Natur ist, nicht erfahren, sie setzt sich, wie es ihr Begriff ist, allem als Ursache und Grund voraus.

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Ungenießbare Götter Der Streit um den Gottesgedanken in der ›Sattelzeit der Moderne‹ Am 4. Februar 1795 schrieb der junge Schelling, gerade 20 Jahre alt geworden und am Ende seines Theologiestudiums stehend, im Tübinger Stift an seinen ehemaligen Kommilitonen Hegel. Dieser hatte sich zuvor nach den theologischen und philosophischen Studien des jungen Stiftlers erkundigt. In seiner Antwort berichtet Schelling denn auch über die theologische Lage in Tübingen und gibt sich erstaunt über eine Frage seines Freundes nach der Reichweite des ›moralischen Beweises‹ vom Dasein Gottes. Von einem »Vertrauten Leßings«, so der junge Theologe, hätte er jene Frage nicht erwartet. Doch »Du«, so fährt er fort, hast sie wohl nur gethan, um zu erfahren, ob Sie bei mir ganz entschieden sei, für Dich ist sie gewiß schon längst entschieden. Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nichts mehr. – Meine Antwort ist: wir reichen weiter noch, als zu einem pers[ö]n[liche]n Wesen. Ich bin indeßen Spinozist geworden!1

›Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nichts mehr.‹ – Mit seiner Wendung greift der Tübinger Stiftler einen Topos auf, den Friedrich Heinrich Jacobi in seiner 1785 publizierten Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn dem Wolfenbütteler ›Liebhaber der Theologie‹ Gotthold Ephraim Lessing in den Mund gelegt hatte, um dessen vermeintlichen Spinozismus dem gelehrten Publikum auszuplaudern. Jacobis Bericht über seinen Besuch bei dem theologisch gebildeten Bibliothekar vom Sommer 1780 lässt den Leser an einer Unterredung zwischen beiden über Goethes Gedicht Prometheus teilnehmen. Nach der Lektüre, so berichtet es Jacobi, äußerte Lessing: »Der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt […]. Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Εν και παν! Ich weiß nichts anders.«2 Wie auch immer es um den Wahrheitsgehalt der von Jacobi überlieferten Unterredung mit Lessing bestellt sein mag, deutlich ist, dass den gebildeten Zeitgenossen am Ende des 18. Jahrhunderts die überlieferten Begriffe von Gott ungenießbar geworden waren. Das gilt nicht nur für den Wolfenbütteler Bibliothekar und den jun|| 1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 2. April 1795. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Reihe III, Bd. 1. Hg. im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 20–23, hier S. 22. 2 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Hg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Darmstadt 2000, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110727340-011

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gen Tübinger Theologen, der nach seiner Lektüre von Jacobis Spinoza-Büchlein die Wendung von den ungenießbaren Göttern aufgreift, auch für den Autor der Briefe, also Jacobi selbst, trifft das nicht weniger zu. Infolge der im 18. Jahrhundert voranschreitenden kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung, dem, wie es Ernst Troeltsch diagnostiziert hatte, Übergang vom Alt- zum Neuprotestantismus, verloren sowohl der Gottesgedanke der lutherischen Lehrtradition als auch der der aufgeklärt rationalistischen Schulphilosophie zunehmend an Plausibilität. Ein extramundanes Wesen, welches die Welt ex nihilo geschaffen hatte, ließ sich nur noch schwer mit dem Naturbild vermitteln, das sich in der Neuzeit etablierte und zunehmend von den Vorgaben der theologia naturalis emanzipierte. Seinen literarischen Niederschlag fand dieses Schalwerden des orthodoxen Gottes in den großen Streitsachen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dem sogenannten Pantheismusstreit, dem Atheismusstreit und schließlich dem Theismusstreit.3 Im Streit um den Gottesgedanken in der ›Sattelzeit der Moderne‹, der sich in den genannten literarischen Fehden manifestiert, artikuliert sich, so die im Folgenden zu diskutierende These, nicht nur der Plausibilitätsverlust überlieferter Gotteslehren, sondern vor allem ein Streit über die Grundlagen der Sinndeutung einer modernen, sich zunehmend ausdifferenzierenden Kultur. Das macht die Kontroversen so symptomatisch für die Selbstverständigungsdebatten der Moderne. Jacobi war bekanntlich an allen drei Streitsachen beteiligt, die erste und die letzte brach er selbst vom Zaun. Seine Volte gegenüber dem Spinozismus wirkte, das lässt nicht nur das Votum des jungen Schelling erkennen, als vielfacher Anreger für Reformulierungsvorschläge des ungenießbar gewordenen orthodoxen Gottes. Freilich, Ironie der Geschichte, die Gespenster, die Jacobi beschwören wollte, rief er mit der von ihm ausgelösten Spinoza-Renaissance am Ende des 18. Jahrhunderts selbst erst hervor.4 Die angedeutete These, im Streit über die göttlichen Dinge in der Sattelzeit der Moderne gehe es um eine Kontroverse über die Grundlagen der Sinndeutung der modernen Kultur, kann im Folgenden nur exemplarisch abgehandelt werden. Ich beschränke mich auf Fichtes Religionsphilosophie zur Zeit des Atheismusstreits sowie auf Schleiermachers auf dem Höhepunkt der Streitsache um Fichte erschienene Reden Über die Religion. Beide arbeiten Alternativvorschläge für die von Jacobi diagnostizierte Krise des Theismus aus und bei beiden rückt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, der Religionsbegriff an die Funktionsstelle des ungenießbaren orthodoxen Gottes. Einzusetzen ist mit Jacobi und seiner Kritik an einem Gottesgedanken, der als Grundlage eines Systems des Wissens fungieren soll. Auf Immanuel || 3 Vgl. hierzu Georg Essen, Christian Danz (Hg.): Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012. 4 Vgl. hierzu Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974; Eva Schürmann, Norbert Waszek, Frank Weinreich (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.

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Kant, das lässt sich in der Kürze dieses Beitrags nicht vermeiden, kann nur en passant eingegangen werden.

1 Jacobis Gott, oder: über Gespenster der Wissenschaft »Ein Gespenst […] geht unter allerhand Gestalten seit geraumer Zeit in Deutschland um, und wird von Abergläubigen und Ungläubigen mit gleicher Reverenz betrachtet«.5 Die zitierte Stelle ist nicht dem Kommunistischen Manifest entnommen. Sie gilt einem anderen Gespenst, nämlich dem des Spinozismus, und stammt aus Jacobis Briefen an den Berliner Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn. Einsetzend mit der Frage nach dem vermeintlichen Spinozismus Lessings weitete sich die Kontroverse schnell zu einer grundsätzlichen Debatte über den Pantheismus und seine Konsequenzen aus.6 Worum ging es in der Streitsache? Im Rückblick auf seine Auseinandersetzung mit Mendelssohn anlässlich der Neuausgabe der Briefe im vierten Band der Werke Jacobis im Jahre 1819 äußerte dieser sich folgendermaßen hierzu: Meine Briefe über die Lehre des Spinoza wurden deshalb nicht geschrieben um Ein System durch das Andre zu verdrängen, sondern um die Unüberwindlichkeit des Spinozismus von Seiten des logischen Verstandesgebrauchs darzutun, und wie man ganz folgerecht verfahre, wenn man bei dem Ziele dieser Wissenschaft, daß kein Gott sei, anlange. Sie war aus sich selber nicht zu widerlegen.7

In seiner Kritik am Spinozismus ging es – jedenfalls Jacobis rückblickender Selbstdeutung zufolge – um eine grundsätzliche Alternative, nämlich die zwischen Gottesglauben und Spinozismus. Diese liegt freilich schon der Schrift von 1785 zugrunde und – wie es die Kontroverse mit Mendelssohn erkennen lässt – es ist gerade diese Alternative, in die Jacobi seine Gegner förmlich hineinzwängt. Doch was versteht Jacobi unter Gottesglaube und unter Spinozismus? Was letzteren betrifft, so spitzt Jacobi in seinen Briefen die gut einhundertjährige kontroverstheologische Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas

|| 5 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 2), S. 117. 6 Leicht zugänglich sind die wichtigsten Texte zur Kontroverse in der Ausgabe von Heinrich Scholz (Hg.): Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Berlin 1916 (ND Waltrop 2004). 7 Friedrich Heinrich Jacobi: Vorbericht der dritten Auflage (1819). In: ders.: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 2), S. 299–321, hier S. 313.

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auf die These zu,8 dessen System sei das einzig mögliche konsequente System einer Philosophie. Mit anderen Worten: Spinozismus ist das System der Vernunft par excellence, da in einem solchen alles in einem durchgehenden begrifflichen Vermittlungszusammenhang steht. Systematische Philosophie, wenn sie sich nur selbst richtig versteht, muss ein in sich begrifflich vermitteltes, mithin geschlossenes und selbstbezügliches System sein. Das aber, so Jacobi, sei Fatalismus und Atheismus,9 da in einem solchen System das Bedingte stets als aus dem Prinzip Abgeleitetes begriffen ist, wobei das Prinzip, welches als Grundlage fungiert, selbst ein Bestandteil des Systems sein muss.10 Fatalismus und Atheismus ist ein konsequentes philosophisches System also darum, weil es ebenso eine Freiheit des Konkreten und Bedingten ausschließt wie die des Prinzips.11 Der Begründungszusammenhang, der mittels Demonstration und Ableitung zwischen Prinzip, also dem Absoluten, und dem Abgeleiteten, dem Bedingten, hergestellt wird, hebt die Eigenständigkeit von beiden auf. Deshalb sei es ungereimt, Bedingungen des Unbedingten aufzustellen, da jene dieses als solches auflösen.12 Jedes Begreifen des Unbedingten stellt dieses in eine »Kette bedingter Bedingungen«,13 einen Ableitungsmechanismus, der ineins mit dem Absoluten das Konkrete in ein Begreifliches transformiert. Der Gott des Spinoza, damit der aller konsequenten Philosophie, die sich als in sich begründetes System verstehen muss, ist ein Gespenst, aber, wie es Jacobi in seiner Stellungnahme zum Atheimusstreit vierzehn Jahre später formulieren wird, kein Gespenst von »Etwas; sondern ein Gespenst AN SICH; ein reales Nichts; ein Nichts der Realität«.14 Der wahren Philosophie des Systems, deren Paradigma Spinoza repräsentiert, stellt Jacobi schroff den wahren Gottesglauben gegenüber, jenen »Salto mortale«, für dessen »Kopfunter« Lessing sich zu alt fühlte.15 Schon in der Kontroverse mit

|| 8 Zur Vorgeschichte der Kontroverse über die Philosophie Spinozas vgl. Michael Murrmann-Kahl: Pantheismusstreit. In: Essen, Danz (Hg.): Philosophisch-theologische Streitsachen (s. Anm. 3), S. 93–134. 9 Vgl. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 2), S. 118: »Spinozismus ist Atheismus.« 10 Vgl. ebd., S. 121: »Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« 11 Vgl. ebd., S. 254f.: »In seinem System [sc. Spinozas] sind folglich die Individua oder einzelnen Dinge eben so ewig, als die Gottheit selbst, welche auf eine schlechterdings notwendige Weise Unendliches aus Unendlichem hervorbringt.« 12 Vgl. ebd., S. 287f.: »Bedingungen des Unbedingten entdecken, dem absolut Notwendigen eine Möglichkeit erfinden, und es konstruieren zu wollen, um es begreifen zu können, scheint als ein ungereimtes Unternehmen sogleich einleuchten zu müssen. Und doch ist es eben dieses, was wir unternehmen, wenn wir uns bemühen, der Natur ein uns begreifliches, das ist ein bloß natürliches Dasein auszumachen, und den Mechanismus des Prinzips des Mechanismus an den Tag zu bringen.« 13 Ebd., S. 288. 14 Friedrich Heinrich Jacobi: An Fichte. In: Walter Jaeschke (Hg.): Transzendentalphilosophie und Spekulation. Quellenband. Hamburg 1993, S. 14. 15 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 2), S. 26.

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Mendelssohn in den 1780er Jahren ist der Vorläufer dem Sohn der Verheißung, also dem Messias der spekulativen Vernunft, vorzuziehen.16 Für seine Alternative zum System der Vernunft mit seinen fatalen Konsequenzen beruft sich der Pempelforter Briefschreiber auch auf den Königsberger Täufer. Dessen kritische Restriktion der Grenzen der Erkenntnis nimmt Jacobi ebenso auf wie Kants Auflösung der Freiheitsantinomie in der Kritik der reinen Vernunft.17 Seine Glaubensphilosophie, die Jacobi dem Spinozismus gegenüberstellt, gibt mit den bekannten Worten aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik das Wissen auf, um für den Glauben Platz zu bekommen. Freilich, es ist ein anderer Glaube als der, den der Königsberger im Sinn hatte. Denn Jacobi teilt zwar Kants Beschränkung intersubjektiv geltender Erkenntnis auf die Erfahrung, nicht aber dessen Grundsatz der transzendentalen Ästhetik. Ohne die Annahme eines Dings an sich lasse sich eine Affiziertheit der Affekte des Gemüts nicht verstehen. Dem kritischen Idealismus der Transzendentalphilosophie müsse ein Realismus zugrunde gelegt werden, andernfalls hätte er es mit Erscheinungen zu tun, in denen nichts erscheint.18 Auch Kants Kritizismus, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht den metaphysischen Gottesgedanken als Schlussstein eines Systems aus reinen Begriffen zu Recht über die Klinge hat springen lassen, ist vor dem Gespenst des Nihilismus nicht gefeit. Sein Gott, in der theoretischen Philosophie lediglich eine regulative Idee, steht auf den äußerst wackeligen Füßen der Moral. Jacobis Alternative zu den in seinen Augen nihilistischen Konsequenzen des Spinozismus baut auf einem Gott auf, der nicht gewusst werden kann und darf. Begründung des Konkreten kann dieser Gott nur sein, wenn anders er sich selbst jeder Begründung entzieht. Der Modus des Inneseins Gottes besteht, wenn er das Göttliche nicht in einen begrifflichen Vermittlungszusammenhang einrücken soll, nicht im diskursiven Wissen. Jacobi rekurriert auf den Glauben und das Gefühl als Weisen eines unmittelbaren Inneseins Gottes. Zur »Erkenntnis des Überirdischen« gelange man nur »durch Annahme überirdischer Gesinnungen: – daß sich dem Herzen kund tue, und sich denen verberge, die ihn mit dem Verstand allein suchen: – daß die Gesetze Gottes Flügel für die Seele sind, sich in seine Gegenwart hinauf zu schwingen«.19

|| 16 Jacobi: An Fichte (s. Anm. 14), S. 6. 17 Vgl. hierzu Ulrich Barth: Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen. In: Klaus-Michael Kodalle, Martin Ohst (Hg.): Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren. Würzburg 1999, S. 101–123, bes. S. 104f. 18 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kriticismus die Vernunft zu Verstande zu bringen und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben. In: ders.: Werke. Bd. 3. Leipzig 1816, S. 61–243, bes. S. 111. Vgl. hierzu Barth: Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen (s. Anm. 17), S. 105. 19 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (s. Anm. 2), S. 139.

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Glaube versus Wissen, Unmittelbarkeit versus Vermittlung – so lautet Jacobis Alternative, die er im Pantheismusstreit mit Mendelssohn ins Felde führt und in den weiteren Streitsachen variiert zur Geltung bringt. Ohne die Inanspruchnahme eines Gottes als freiem Schöpfer der Welt sei auch ein auf Sinn basierendes Verstehen der Wirklichkeit nicht mehr möglich. Behalte der Kausalmechanismus des Verstandesdenkens das letzte Wort, dann verschwindet mit dem Sinn des Lebens auch jede Inanspruchnahme einer menschlichen Freiheit. Allein deshalb ist es das Interesse von Wissenschaft und Vernunft, dass Gott nicht gewusst werden könne. In der Rettung Gottes vor dem begrifflichen Denken artikuliert sich die Freiheit des Menschen. »Aus dem Genuß der Tugend entspringt die Idee eines Tugendhaften; aus dem Genuß der Freiheit, die Idee eines Freien; aus dem Genuß des Lebens, die Idee eines Lebendigen; aus dem Genuß des Göttlichen, die Idee eines Gott Ähnlichen – und Gottes.«20 Aber dieser Gott, den Jacobi allein zu genießen vermag, unterscheidet sich sowohl von dem ungenießbaren Gott der theologischen Lehrtradition als auch dem der rationalistischen Schulphilosophie.

2 Die Notwendigkeit Gottes, oder: Fichtes Atheismus »Jacobi scheint in seinem Eifer mich oft für Mendelssohn oder seines Gleichen anzusehen, die eine Religion in die Menschen hineinraisonniren wollten.«21 Die zitierte Bemerkung ist einem Schreiben Fichtes an Karl Leonhard Reinhold vom 8. Januar 1800 entnommen, mit der er auf Jacobis Stellungnahme zum Atheismusstreit vom Jahr zuvor zurückblickt. Fichte hat nicht nur der Brief Jacobis, in dem dieser dem Wissenschaftslehrer durch seine Proklamation zum Messias der spekulativen Vernunft unverhohlen den Judaskuss gab, entsetzt, auch die eben in Erinnerung gerufene Bemerkung hat ihn getroffen. Denn Fichtes Religionsphilosophie geht es gerade um die Zurückweisung der Vorstellung, dass man Religion in den Menschen hineinräsonieren könne. Fichtes Religionsphilosophie zur Zeit des Atheismusstreits stellt eine Antwort auf die Krise des Theismus am Ende des 18. Jahrhunderts dar.22 Ähnlich wie für Lessing und Jacobi waren dem Wissenschaftslehrer die überlieferten Begriffe von der Gottheit ungenießbar geworden. Allein, die orthodoxen Begriffe sind nicht nur nicht || 20 Ebd., S. 140. 21 Fichte an Karl Leonhard Reinhold, 8. Januar 1800; in: Jaeschke (Hg.): Transzendentalphilosophie (s. Anm. 14), S. 65. 22 Zu Fichtes Religionsphilosophie zur Zeit des Atheismusstreits vgl. Christian Danz: Der Atheismusstreit um Fichte. In: Essen, Danz (Hg.): Philosophisch-theologische Streitsachen (s. Anm. 3), S. 135–213.

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mehr zu genießen, sie sind, wie Fichte im zweiten Teil seiner Appellationsschrift ausführt, selbst Ausdruck des Atheismus. Aber warum sind die Gottesbegriffe von Fichtes Gegnern, die ihn, den Wissenschaftslehrer, des Atheismus beschuldigen, selbst atheistisch? Die religionsphilosophische Konzeption, die Fichte in seinem Journal-Aufsatz Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung als Korrektur an der cum grano salis kantischen Religionstheorie Friedrich Karl Forbergs mehr andeutet als ausführt, stellt eine Weiterentwicklung seiner frühen Religionsphilosophie aus der Offenbarungsschrift dar. Bereits dort hatte er Verschiebungen an Kants Zuordnung von Religion und Moral im Horizont der Anwendung der reinen praktischen Vernunft auf den Menschen als sinnlich-endlichem Vernunftwesen vorgenommen.23 Die einzelnen Stationen der Umformung der frühen Position, vor allem in den Platner-Vorlesungen vor dem Hintergrund der Ausgestaltung der Wissenschaftslehre sowie der Sittenlehre können im Folgenden auf sich beruhen.24 In seinem Aufsatz von 1798, der den Atheismusstreit mit heraufbeschwor, versteht Fichte Religion als einen Bestandteil des moralischen Selbstbewusstseins. Die Eigenart seiner Konzeption resultiert aus der gegenüber Kant veränderten Zuordnung von Moralität und Ausrichtung auf den Endzweckgedanken der reinen praktischen Vernunft. Und auch erst hieraus ergibt sich Fichtes These, der Gottesgedanke sei ein notwendiger Bestandteil des praktischen Bewusstseins und kein subjektives Bedürfnis wie für den Königsberger Denker. In der Moralität, verstanden als Autonomie, die selbst zur Zielbestimmung des Handelns wird,25 liegt die Forderung des Endzwecks der praktischen Vernunft selbst bereits beschlossen. Was bedeutet das für die Religion und ihre transzendentalphilosophische Grundlegung, um die es Fichte zu tun ist? In seinem Aufsatz Ueber den Grund unseres Glaubens schreibt er: Ich muß, wenn ich nicht mein eignes Wesen verläugnen will, das erste, die Ausführung jenes Zwecks mir voraussetzen, ich muß sonach auch das zweite, seine Ausführbarkeit annehmen; ja es ist hier nicht eigentlich ein erstes und ein zweites, sondern es ist Eins; beides sind in der That nicht zwei Acte, sondern ein und ebenderselbe untheilbare Act des Gemüths.26

Der Glaube bezieht sich auf die Gewissheit der Ausführbarkeit des Endzwecks und ist in dieser Form sowohl ein Bestandteil der Moral als auch ein eigenes Element gegenüber dieser. Fichte ordnet also die Religion so in das sittliche Selbstverhältnis ein, dass sie als Gewissheit der Realisierung des Endzwecks, nämlich der Selbsterfassung des Ichs als autonome Selbstbestimmung verstanden wird, die gleichwohl

|| 23 Vgl. ebd., S. 140–146. 24 Vgl. ebd., S. 146–160. 25 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. In: ders.: Werke. Bd. 5: Zur Religionsphilosophie. Berlin 1971, S. 177–189, hier S. 181. 26 Ebd., S. 183.

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von der Moralität, also dem Bestimmtsein des Ichs durch das Sittengesetz, unterschieden ist. Fichtes Gottesgedanke, die moralische Weltordnung, nimmt den eben angedeuteten Zusammenhang von Handlung und Zweck, der ja gerade nicht in der Hand des handelnden Subjekts liegt, auf. In diesem Sinne ist der Gottesgedanke ein notwendiger unmittelbarer Bestandteil des moralischen Selbstverhältnisses, in dem er einmal den Zusammenhang der sittlichen Handlungen bei der Verwirklichung des Endzwecks stiftet und sodann eine Individuierungsfunktion innehat. Religion ist für Fichte ein unmittelbarer Bestandteil des sittlichen Selbstverhältnisses. Wo dieses sich konstituiert hat, der Einzelne sich also als ein freies, unter dem Sittengesetz als seiner Bestimmung stehendes Wesen innegeworden ist, da liegt auch Religion vor. Ausgeschlossen ist damit, dass die Religion in den Menschen hineinräsoniert werden kann. Die Transzendentalphilosophie stiftet nicht Religion, sie rekonstruiert ihren Ort im Aufbau des sittlichen Bewusstseins. Fichtes Gott resultiert aus einer Übertragung des kantischen Gottesgedankens auf die Religion. Als notwendiger und unmittelbarer Bestandteil des sittlich-religiösen Handlungsbewusstseins bezeichnet er gleichsam auf struktureller Ebene die Evidenz des moralischen Gefühls. Demgegenüber ist jede inhaltliche Fassung des Gottesgedankens bereits ein sekundärer theoretischer Akt, der, wie Fichte notiert, auch unterbleiben kann. »Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen.«27 Mit dem zuletzt genannten Gedanken entkoppelt Fichte den Gottesgedanken von der Religion, so dass jener für diese nicht mehr konstitutiv ist. Bekanntlich war es jene Konsequenz, verbunden mit der Kritik an der Persönlichkeit Gottes, die im weiteren Verlauf der Streitsache dem Wissenschaftslehrer den Atheismusvorwurf eingetragen hat. In seiner Religionsphilosophie zur Zeit des Atheismusstreits konstruiert Fichte eine transzendentalphilosophische Religionsbegründung, die Religion als ein selbstreflexives moralisches Selbstbewusstsein versteht. Sie, die Religion, ist die Weise, wie der moralische Charakter von Gewissheit evident, lebensweltlich dargestellt und bewusst gehalten wird. Damit steht der Gottesgedanke für die sich dem Einzelnen in der pflichtmäßigen Entscheidung eröffnende moralische Sinnwelt.28 Fichtes Übertragung des Atheismusvorwurfs auf seine Gegner in der Appellationsschrift baut hierauf auf. Der sinnliche Gottesgedanke, den diese gegen seine Neufassung Gottes geltend machen, verhindere geradezu, so sieht es Fichte, eine Selbstdurchsichtigkeit des menschlichen Lebens. Deshalb seien sie – und nicht er – die wahren Atheisten.

|| 27 Ebd., S. 186. 28 Vgl. Folkart Wittekind: Die »Retorsion des Atheismus« – Der Atheismusstreit im Kontext von Fichtes früher Religionstheorie. In: Kodalle, Ohst (Hg.): Fichtes Entlassung (s. Anm. 17), S. 61–79, bes. S. 71.

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Ähnlich wie der von Jacobi losgetretene Pantheismusstreit ist, wie wir gesehen haben, der Streit um Fichtes Gott eine Kontroverse über die Grundlage der Sinndeutung der modernen Kultur, die im Medium des Gottesgedankens ausgetragen wird. Den gegen den Jenaer Messias der spekulativen Vernunft in Stellung gebrachten aufgeklärten rationalen Gottesgedanken hat freilich auch unser Pempelforter Briefschreiber nicht geteilt. Allerdings auch nicht den Fichtes. Ob seiner transzendentalphilosophischen Grundlegung sei der Gott Fichtes ein Gespenst, Ausdruck eines bodenlosen Nihilismus.

3 Dass »eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott«, oder: Schleiermachers Religion Damit Ihr aber nicht denket ich fürchte mich ein ordentliches Wort über die Gottheit zu sagen, weil es gefährlich werden will davon zu reden, bevor eine zu Recht und Gericht beständige Definition von Gott und Dasein ans Licht gebracht und im deutschen Reich sankzionirt worden ist; […] so will ich Euch noch einen Augenblik Rede stehen, und Euch deutlich zu machen suchen, daß für mich die Gottheit nichts anders sein kann, als eine einzelne religiöse Anschauungsart.29

Schleiermacher, dessen Reden Über die Religion die eben zitierte Stellungnahme entnommen ist, spielt mit ihr ziemlich unumwunden auf den Streit um Fichtes Gott an. An der zweiten Rede, in der der Redner auf die Causa zu sprechen kommt, hatte er im Februar 1799 gearbeitet, also einen Monat, nachdem der Jenaer Wissenschaftslehrer seine Appellation an das Publicum veröffentlichte und – veranlasst dadurch – die Streitsache gleichsam an Fahrt zugelegt hatte. Schleiermacher teilt sowohl Jacobis Diagnose einer Krise des Theismus als auch Kants und ebenso Fichtes Kritik an dem metaphysischen Gottesgedanken der philosophischen und theologischen Lehrtradition. Auch dem jungen Theologen, Prediger an der Charité, waren die orthodoxen Begriffe von der Gottheit ungenießbar geworden. Gleich in der ersten Rede distanziert er sich von »den altgläubigen und barbarischen Wehklagen«, mit denen er nichts zu schaffen habe.30 Aus Schleiermachers Zustimmung zur Diagnose Jacobis folgt jedoch nicht, dass er dessen Konsequenzen geteilt hat, auch wenn der Theologe mit dem Gefühl ein Element in das Zentrum seiner Religionstheorie rückt, dem auch bei Jacobi eine grundlegende Bedeutung zukommt. Schleiermacher, das hat bereits die eingangs zitierte Passage aus den Reden erkennen lassen, entkoppelt || 29 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hg. von Günter Meckenstock. Berlin, New York 1999, S. 111. 30 Vgl. ebd., S. 58.

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Religion und Gott. Prima vista folgt er damit der Religionsphilosophie Fichtes aus der Zeit des Atheismusstreits, allerdings unter Zurückweisung von dessen und Kants Grundlegung der Religion im Horizont der Anwendung der Moral. Was versteht Schleiermacher unter Religion und welche Funktion hat der Gottesgedanke in seiner Religionstheorie? Schleiermacher – darin besteht seine Bedeutung für die religionsphilosophische Debatte – arbeitet in den Reden Religion als ein reflexives Bewusstsein aus, in dem das Allgemeine an das Individuelle gebunden ist. Sie wird also verstanden als ein individueller Vollzug eines allgemeingültigen Selbstverhältnisses, das sich in symbolischen Formen darstellt, in denen das Besondere zur Darstellung des Ganzen, nämlich des, wie es der Redner formuliert, Universums wird.31 Diese Reflexivität unterscheidet die Religion von Denken und Handeln und macht sie zu einer eigenen Provinz im Gemüt. Schleiermacher entkoppelt das religiöse Bewusstsein damit sowohl von der Metaphysik und ihrer modernen Nachfolgegestalt, der Transzendentalphilosophie, als auch von der Ethikotheologie Kants und deren modifizierter Weiterführung durch Fichte. Vielmehr sei das Wesen der Religion Anschauung und Gefühl, wobei in der Erstauflage der Reden noch der Anschauungsbegriff die »Angel« des Ganzen ist.32 Folglich ist Religion weder Lehre noch Dogma oder Bekenntnis, sondern ein im Einzelnen unableitbar entspringender Vollzug von Reflexivität, in dem das geistige Leben überhaupt erst entsteht und sich darstellt. Anschauung und Gefühl sind Schleiermachers Strukturbegriffe, um die Eigenart des religiösen Bewusstseins zu beschreiben, wobei die eigentliche Religion in der unmittelbaren Einheit von Anschauung und Gefühl besteht, die allerdings im Bewusstsein selbst nicht zugänglich ist. In den einzelnen religiösen Anschauungen und Gefühlen stellt sich auf diese Weise die Religion selbst dar, die strikt allgemeingültig ist, da sie ein individueller Vollzug eines allgemeingültigen Selbstverhältnisses ist, welches zum Menschen gehört. Vor dem Hintergrund der angedeuteten Grundlegung der Religion im transzendentallogischen Aufbau des Bewusstseins unterzieht Schleiermacher den überlieferten Gottesgedanken einer kritischen Revision. Zunächst löst er, wie schon zuvor Fichte, den Zusammenhang von Religion und Gott auf. Der Gottesgedanke, seit der Antike Definitionsmoment der Religion, fungiert nicht mehr als konstitutiver Bestandteil des Religionsbegriffs.33 Sodann stuft der Redner die Gottesvorstellung als eine »einzelne religiöse Anschauungsart« neben anderen ein.34 Das bedeutet drittens, dass Schleiermacher den Gottesgedanken mit Fichte und in Absetzung von Jacobi als ein sekundäres Produkt der Einbildungskraft versteht, das ganz von der

|| 31 Vgl. ebd., S. 82. 32 Ebd., S. 81. 33 Vgl. ebd., S. 111. 34 Ebd.

Ungenießbare Götter | 231

Richtung der Phantasie abhängt. Gott ist nicht die Grundlage der Religion, aus der sie abgeleitet werden könnte, sondern genau umgekehrt, das religiöse Bewusstsein, sofern es überhaupt eine Gottesvorstellung ausgebildet hat, artikuliert sich mit und in der Gottesvorstellung als Religion. »Religion haben, heißt das Universum anschauen, und der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen findet, beruht der Werth Eurer Religion.«35 In den Kontroversen über den in der Sattelzeit der Moderne ungenießbar gewordenen Gott der theologischen und philosophischen Lehrtradition votiert Schleiermacher, wie wir gesehen haben, für eine Neubestimmung des Gottesgedankens als Bestandteil des religiösen Bewusstseins. Die Gottesvorstellung ist ein Bild der Religion von sich selbst als Religion. Mit Gott ist also weder eine metaphysischkosmologische Erklärung der Welt noch eine Fundierung des sittlichen Handelns gemeint, sondern die Religion selbst als eine eigene Sphäre in der Kultur. Dieser Vorschlag erwies sich – der spinozistischen Anklänge seiner Religionstheorie ungeachtet – im Unterschied zu Jacobi als auch zu Fichte für die weiteren Debatten als ungemein anschlussfähiger. Denn die Reden arbeiten nicht nur die Eigenständigkeit der Religion in der sich ausdifferenzierenden Kultur heraus, sie geben zugleich eine vermögenstheoretische Begründung für die Allgemeingeltung der Religion, die es erlaubte, jedes menschliche Bewusstsein als religiös in Anspruch zu nehmen, nachdem der überlieferte supramundane Gott für die gebildeten Zeitgenossen seine Plausibilität verloren hatte. Die Religion als individueller Vollzug eines allgemeingültigen Selbstverhältnisses, das sich in der Reflexivität seines Selbstverstehens innegeworden ist, ist die Grundlage der modernen, durch Ausdifferenzierung charakterisierten Kultur. Eine solche reflexive Selbstdeutung zu stiften und sich dadurch überflüssig zu machen, ist die Intention, die Schleiermacher in seinen Reden von 1799 auf dem Höhepunkt des Streits um den Gott Fichtes verfolgt. Schelling, der – wie eingangs erwähnt – die überlieferten Begriffe von der Gottheit nicht mehr genießen konnte, hatte sich, wie wir wissen, zunächst sehr abschlägig zu den Reden des Berliner Charité-Predigers geäußert. Schleiermachers symboltheoretische Religionsauffassung, die das Allgemeine an das Individuelle bindet, scheint gleichwohl dennoch einen bleibenden Eindruck bei dem Leonberger hinterlassen zu haben. Seine um 1800 ausgearbeitete Identitätsphilosophie, die, das braucht nicht erwähnt zu werden, ebenfalls eine Stellungnahme zu dem Streit über die göttlichen Dinge in der Moderne darstellt, rückt jedenfalls diesen Gedanken in das Zentrum eines symbolischen Verständnisses von Philosophie. Doch dies näher zu erläutern, würde eines eigenen Beitrags bedürfen.

|| 35 Ebd., S. 112.

Burkhard Nonnenmacher

Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist Zu Hegels später Auseinandersetzung mit Jacobis Gotteslehre und Epistemologie des religiösen Bewusstseins Die folgenden Überlegungen möchten einen Beitrag zur Würdigung Jacobis die Theologie betreffendem Denken leisten und zwar mit Blick auf seine Vermittlungsfunktion für das Denken Hegels. Bekanntlich setzt sich bereits der Jenaer Hegel 1802 in Glauben und Wissen mit Jacobi auseinander. Im Vordergrund steht die Nichtentgegensetzbarkeit von Absolutem und Endlichem, die Hegel dann in der Phänomenologie des Geistes (1806) und der Wissenschaft der Logik (1812–16) weiter entfaltet. Der als ›Jenseits‹ gesetzte Gott wird selbst zum Endlichen, weil er so am Endlichen eine Grenze hat. Das ist Hegels zentrales Argument.1 Läuft Hegel damit aber nicht genau in die Anti-Theismus-, All-Einheits- und Naturalismusfalle, die Jacobis Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung2 (1811) gegenüber Fichte und Schelling zuschnappen lassen will? Denn wird Hegel über das eben genannte Argument nicht auch zum Anti-Theisten, der letztlich keine Differenz von Gott und Mensch mehr kennen will oder kennen kann? Stellt man sich diese Frage, ist nicht zu vergessen, dass auch der Berliner Hegel noch an prominenten Stellen seines reifen Systems auf Jacobi Bezug nimmt, um die eigene Position in der Auseinandersetzung mit ihm zu schärfen, so z. B. in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1821, 1824 und 1827.3 Von zentraler Bedeutung für Hegel ist auch hier immer noch die Verknüpfung offenbarungstheologischer und die Gotteslehre betreffender Prämissen im Denken Jacobis, an denen sich abzuarbeiten Hegel nicht müde wird. Dies wird auch und gerade deutlich in der über Hegels Jacobi-Rezension (1817) nicht zu vernachlässigenden Göschel-Rezension von 1829. Nicht nur bieten nämlich Carl Friedrich Göschels ebenfalls 1829 erschienene Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christli-

|| 1 Vgl. Burkhard Nonnenmacher: Hegels Philosophie des Absoluten. In: Systemkonzeptionen im Horizont des Theismusstreites (1811–1821). Reihe: System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus, Bd. 5. Hg. von Christian Danz, Jürgen Stolzenberg und Violetta Waibel. Hamburg 2018, S. 239–262. 2 Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811. 3 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bde. 3–5: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1–3. Hg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1983–1985. Im Folgenden = Hegel: VPR 1–3, hier VPR 1, S. 162, S. 168 und S. 284. https://doi.org/10.1515/9783110727340-012

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chen Glaubensbekenntnis4 ein interessantes Zeugnis hegelianisch gefärbter Auseinandersetzung mit Jacobis Von den göttlichen Dingen.5 Vielmehr veranlasst Göschels Schrift Hegel selbst dazu, sich zwei Jahre vor seinem Tod noch einmal mit Jacobi auseinanderzusetzen. Um die in diesem Zuge diskutierten Argumente soll es im Folgenden gehen. Gezeigt wird, wie jene nochmalige Auseinandersetzung mit Jacobi Hegel dazu veranlasst, noch rund sechs Jahre vor dem Erscheinen von David Friedrich Strauß’ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36) deutlich zu machen, dass er selbst, Hegel, kein Linkshegelianer sein will, dem Apg 17,28 zu jener Immanenz Gottes verkommt, die in der Hegelrezeption bereits früh unter den Stichworten Pantheismus und Atheismus gebrandmarkt wurde.6 Systematisch im Zentrum stehen soll im Folgenden der in der GöschelRezension ausführlich entfaltete Gedanke Hegels, dass die Aussage, dass der Mensch in Gott ist, nicht gleichgesetzt werden darf mit der Aussage, dass der Mensch Gott ist. Hegel verwahrt sich mit diesem Gedanken gegenüber jenem Vorwurf, den Jacobis Von den göttlichen Dingen Fichtes Wissenschaftslehre und Schellings Identitätsphilosophie jeweils in unterschiedlicher Form macht, nämlich dass ihnen Gott nicht länger ein von der Welt geschiedener Gott ist und dass sich ihnen die Trennung von Gott und Mensch aufhebt. Fichte, so Jacobi, wird die »moralische Ordnung« selbst zu Gott, und zwar zu einem Gott ausdrücklich ohne Bewußtseyn und Selbstseyn; ein Gott, der kein von der Welt und dem Menschen unterschiedenes besonderes Wesen, und nicht die Ursache der moralischen Weltordnung, sondern diese, außer sich selbst weder Grund noch irgend eine Bedingung ihrer Wirksamkeit habende, rein und schlechthin notwendig seyende Weltordnung selbst ist.7

|| 4 Carl Friedrich Göschel: Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christlichen Glaubensbekenntnis. Ein Beytrag zum Verständnisse der Philosophie unserer Zeit. Berlin 1829. 5 Zur Motivation der Schrift vgl. Peter Jonkers: Umittelbares Wissen und absolutes Wissen. Göschels Aphorismen über Jacobis Nichtwissen. In: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Hamburg 2004, S. 359– 375. 6 Strauß soll damit freilich nicht in die Ecke jenes platten Linkshegelianismus gestellt werden, der sich nicht mehr um materialdogmatische Diskussionen bei Hegel schert und glaubt, hier ruhig ahnungslos sein zu dürfen. Gleichwohl gibt es gewichtige Differenzen zwischen Hegels Christologie und dem Bild, das Strauß von ihr zeichnet. Darauf kann hier jedoch nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Friedrich Hermanni: Hegels Philosophie der vollendeten Religion. In: Wozu Metaphysik? Historisch-systematische Perspektiven. Hg. von Christopher Erhard, David Meißner und Jörg Noller. Freiburg 2017, S. 381–424, hier: S. 412. 7 Jacobi: Von den göttlichen Dingen (s. Anm. 2), S. 116.

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Schellings »System der Alleinheit oder absoluten Identität«8 wirft Jacobi ebenfalls den Mangel einer Trennung von Gott und Welt vor und sagt: Von der Kantischen Entdeckung aus: daß wir nur das vollkommen einsehen und begreifen, was wir zu construiren im Stande sind – war es nur ein Schritt bis zum Identitätssystem. Der mit strenger Consequenz durchgeführte Kantische Criticismus mußte die Wissenschaftslehre, diese, wiederum streng durchgeführt, Alleinheitslehre, einen umgekehrten oder verklärten Spinozismus, Idealmaterialismus zur Folge haben.9

Das sind schwere Geschütze. Auch Kant wird hier sieben Jahre nach seinem Tod noch der Vorwurf gemacht, Wegbereiter von Pantheismus und Anti-Theismus zu sein. Und das auf eine Art und Weise, die Kants scharfer Jacobi-Kritik im Rahmen seiner kleinen Schrift Was heißt sich im Denken orientiren?10 von 1786 noch einmal zu kontern versucht. Ich beginne deshalb mit einer kurzen Rückerinnerung an diese Auseinandersetzung Kants und Jacobis, weil, wie sich zeigen wird, gerade dieser Vorwurf Jacobis an Kant auch für Hegels Göschel-Rezension noch von großer Bedeutung ist.

1 Zu Jacobis Kant-Kritik in Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung Kant sagt im Orientierungsaufsatz, sich von Jacobi abgrenzend: Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein und wirkt durch den Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses. Es ist hiemit, wie mit dem moralischen Gefühl bewandt, welches kein moralisches Gesetz verursacht, denn dieses entspringt gänzlich aus der Vernunft; sondern durch moralische Gesetze, mithin durch die Vernunft verursacht oder gewirkt wird, indem der rege und doch freie Wille bestimmter Gründe bedarf.11

Anlass, sich so zu äußern, gab Kant Jacobis 1785 erschienene Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn.12 Nicht nur gibt dieser Text nämlich vor, Mendelssohn ein Gespräch Jacobis mit Lessing aus dem Jahr 1780 zu überliefern, in dem sich Lessing zur Philosophie Spinozas bekannt habe, und nicht

|| 8 Ebd., S. 119. 9 Ebd., S. 124. 10 AA VIII, S. 133–147. 11 Ebd., S. 139f. Anm. 12 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg 2004.

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nur geht es dieser Schrift darum, im »salto mortale«13 gegen allen »Pantheismus«14 und »Fatalismus«15 für eine »verständige persönliche Ursache der Welt«16 zu argumentieren und Spinoza des »Atheismus« zu bezichtigen. Vielmehr weitet sich Jacobis Schrift zu einer allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Rationalismus aus, in der Jacobi Vernunft und Glaube einander entgegensetzt, nämlich in der Aussage, dass der »Glaube« dasjenige »für Wahr halten« ist, das gerade »nicht aus Vernunftgründen entspringt«17, verknüpft mit der zusätzlichen Behauptung, dass nicht nur nicht der Glaube aus der Vernunft entspringt, sondern vielmehr umgekehrt alle »Überzeugung aus Gründen« als »eine Gewissheit aus der zweiten Hand« aufzufassen ist, die umgekehrt »ihre Kraft«18 selbst erst aus dem Glauben empfangen soll. Jacobis berühmte Aussage »Das Element aller menschlichen Erkenntnis und Würksamkeit, ist Glaube«19 markiert deshalb die Gegenposition zu Kant. Während bei Kant der Glaube ausschließlich in der Vernunft gründet, soll bei Jacobi genau umgekehrt der Glaube allererst die Kraft verleihen, aus Gründen heraus zu argumentieren, und zwar das aus einem im »Gefühl« und in der »Intuition« liegen sollenden »Wahrheitssinn« heraus,20 der nicht wie der »Weg der Demonstration«21 stets bereits »Erwiesenes« voraussetzen muss und nach Jacobi deshalb nur »Ähnlichkeiten demonstrieren« kann, sondern der vielmehr »das Prinzipium Offenbarung«22 anerkennt und bezeugt. Solange man unter der Anerkennung des »Prinzipium Offenbarung« lediglich den Verweis auf die Alleinwirksamkeit Gottes sieht, ist Jacobis Position freilich berechtigt. Denn wenn mit 1 Kor 12,6 Gott alles in allem wirkt, dann ist jedwede Rede von Gott durch Gott vermittelt, auch die der sogenannten Natürlichen Theologie, die dann selbst als Moment göttlicher Offenbarung zu begreifen ist. Doch darum geht es Jacobi nicht. Ihm geht es um die Entgegensetzung von Offenbarung und Diskursivität, und der springende Punkt ist deshalb, ob diese von Jacobi vorausgesetzte Entgegensetzung von Vernunft und Offenbarung eigentlich haltbar ist oder nicht.23 Hegel hat diese Position nicht geteilt. Kant ebenso wenig. Denn auch Kant glaubt

|| 13 Ebd., S. 26. 14 Ebd., S. 23. 15 Ebd., S. 24. 16 Ebd., S. 26. 17 Ebd., S. 113. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 124. 20 Ebd., S. 124f. Anm. 21 Ebd., S. 122. 22 Ebd., S. 123. 23 Vgl. Burkhard Nonnenmacher: Natürliche Theologie und Offenbarung. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 59 (2017), S. 311–330.

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nicht, dass göttliche Offenbarung als ein Alternativkonzept zum Nachdenken über Prämissen und Schlüsse etabliert werden kann, eben weil die Differenzierung von vermeintlicher und tatsächlicher Offenbarung stets selbst Prämissen investieren muss, die zugrunde legend der Mensch allein urteilen kann. Deshalb spricht Kants Orientierungsaufsatz auch Mendelsohn das »Verdienst« zu, »den letzten Probirstein der Zulässigkeit eines Urtheils hier wie allerwärts nirgends, als allein in der Vernunft zu suchen, sie mochte nun durch Einsicht oder bloßes Bedürfniß und die Maxime ihrer eigenen Zuträglichkeit in der Wahl ihrer Sätze geleitet werden«.24 Jacobis Idee einer »unter dem Namen des Glaubens« firmierenden »überschwengliche[n] Anschauung«25 wird dagegen eine Absage erteilt. Niemand urteilt nach Kant ohne Prinzipien. Das ist Kants Votum für die notwendige Diskursivität in Glaubenssachen.26 – 1811 versucht nun Jacobi aber das Blatt noch einmal zu wenden und sagt über Kants Postulatenlehre und Moraltheologie: Darin besteht nun Kants Zwiespalt mit sich selbst, und die Verschiedenheit des Geistes seiner Lehre von ihrem Buchstaben, daß er, als Mensch, den unmittelbaren positiven Offenbarungen der Vernunft, ihren Grundurtheilen, unbedingt vertraute, und auch dieses Vertrauen nie, wenigstens nie ganz und entschieden, verlor; als Lehrer der Philosophie aber dieses rein offenbarte selbstständige Wissen in ein unselbstständiges aus Beweisen, das unmittelbar Erkannte in ein mittelbar Erkanntes zu verwandeln für nöthig achtete.27

Kurz darauf folgt dann die eigentliche Kritik: Und so nahe wäre denn unser großer Kritiker der Einsicht, und dem die Absicht der Philosophie wirklich erfüllenden Resultat gekommen ‒ dem entscheidenden: Es habe der Mensch nur diese Wahl: anzunehmen ‒ entweder überall ein offenbares Nichts; oder über Allem einen wahrhaften allein alles wahrmachenden Gott. ‒ So nahe dieser Einsicht, ohne sie dennoch in der That und Wahrheit zu gewinnen; so nahe diesem entscheidenden Resultat, ohne es zu ergreifen, es sich anzueignen, und als die Summe seiner Lehre zu offenbaren!28

Behauptet ist von Jacobi hiermit Folgendes: Auch Kants Moraltheologie lebt in Wahrheit von unmittelbaren Offenbarungen, nicht von Kants filigran am unbedingten Bedürfnis des praktischen Vernunftgebrauchs orientierter »Architektonik der reinen Vernunft«.29 Während Kant 1786 Jacobi vorwarf, dass auch dessen Intuition

|| 24 Kant: Was heißt sich am Denken orientiren (s. Anm. 10), S. 140. 25 Ebd., S. 138. 26 Es ist in diesem Zusammenhang auch daran zu erinnern, wie hart Kant über Jacobi im Brief an Marcus Herz vom 7. April 1786 urteilt: »Die Jacobische Grille ist keine ernstliche, sondern nur eine affectirte Genieschwärmerey, um sich einen Nahmen zu machen, und ist daher kaum einer ernstlichen Wiederlegung werth« (vgl. AA X, S. 442). 27 Jacobi: Von den göttlichen Dingen (s. Anm. 2): S. 138. 28 Ebd., S. 140f. 29 Vgl. Burkhard Nonnenmacher: Vernunft und Glaube bei Kant. Tübingen 2018, S. 1–220.

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von investierten Prämissen lebt, nach denen vermeintliche von tatsächlicher Offenbarung unterschieden wird, wirft nun also Jacobi 1811 Kant umgekehrt vor, in seiner Moraltheologie letztlich doch unmittelbaren Eingebungen zu folgen und diese nur mit diskursiven Girlanden zu schmücken, wenn er seine Moraltheologie unter der Lehre vom Primat des praktischen Vernunftgebrauchs entfaltet und die Architektonik der reinen Vernunft am unbedingten Bedürfnis des praktischen Vernunftgebrauchs orientiert. Inwieweit Kant diese Beschreibung trifft, kann hier nicht diskutiert werden. Kant hätte ihr unter Bekräftigung der bereits 1786 artikulierten Position widersprochen. Denn die Orientierung am Bedürfnis des praktischen Vernunftgebrauchs und die in dieser Orientierung entwickelten Inhalte des praktischen Vernunftglaubens sind für Kant freilich gerade nichts Unmittelbares. Den Schuh, dass in Wahrheit seinem System eine ganz andere Epistemologie zugrunde liege, hätte Kant sich deshalb nicht angezogen.

2 Hegels Auseinandersetzung mit Jacobi in der Göschel-Rezension Man muss den geschilderten Zusammenhang im Blick haben, um verstehen zu können, weshalb Hegel in der Göschel-Rezension nicht nur zur Differenz von Gott und Mensch Stellung bezieht, sondern auch zu Jacobis These, dass nicht das diskursive Denken, sondern das Bekenntnis zu unvermittelter Offenbarung der einzige Weg sei, adäquat von Gott zu reden. Der 1811 von Jacobi gegen Kant gerichtete Vorwurf, Wegbereiter der bei Fichte und Schelling nicht mehr vorhandenen Differenz von Gott und Mensch zu sein, folgt exakt dieser These. Denn der eigentliche Vorwurf, den Jacobi Kant macht, ist ja nicht nur, dass er nicht zum Intuitionismus durchgedrungen sei, sondern vielmehr, dass dem Einsicht in die göttlichen Dinge haben wollenden Menschen, der nur das, was er konstruieren kann, einsehen können will, notwendig die Differenz von Gott und Mensch zu nichts verkommt. Das ist Jacobis These, die er 1811 nicht nur gegen Fichte und Schelling, sondern auch noch gegen Kant wendet. Wem folglich die Differenz von Gott und Mensch nicht zu nichts verkommen soll, der muss etwas an seiner Epistemologie ändern, an seinem Konstruktionsbegriff, vom Diskursiven ins Intuitive, vom diskursiven Denken ins unmittelbare Fühlen wechseln, so der von Jacobi nahegelegte Umkehrschluss.30 Und exakt vor

|| 30 Auf das Verhältnis dieses Umkehrschlusses Jacobis zu seiner Naturalismuskritik kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu Jacobi: Von den göttlichen Dingen (s. Anm. 2), S. 145ff. Mit der Diskursivität im Denken macht sich Jacobi letztlich genau dessen schuldig, was er dem Naturalismus so erbittert vorwirft: »daß die Natur selbstständig, in sich allgenugsam: daß sie Eines und Alles und außer ihr nichts sey« (ebd., S. 155).

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diesem Hintergrund ist es denn für Hegel in der Göschel-Rezension auch nicht damit getan, nur die Differenz zwischen einem In-Gott-Sein des Menschen und einem Gott-Sein des Menschen in seiner eigenen Position zu markieren. Vielmehr muss Hegel in der Göschel-Rezension auch noch ein Argument gegen Jacobis Epistemologie liefern, was Hegel, wie sich am Ende des zweiten Teils der vorliegenden Überlegungen zeigen wird, über einen indirekten Beweis zu liefern versucht, indem er aufzuzeigen versucht, dass Jacobis Epistemologie absurde Konsequenzen nach sich zieht, sowohl in der christlichen Dogmatik als auch der Philosophie des Absoluten.

2.1 »Entweder ist Gott außer mir oder ich bin Gott«.31 Hegel und die Frage nach der Vollständigkeit der Disjunktion Jacobis Hegel widerspricht in der Göschel-Rezension Jacobis These, dass Gott entweder außer uns ist oder wir Gott sind, und zwar darüber, dass er der These widerspricht, dass der, der Gott weiß, auch Gott ist. Wie jene zweite These mit Jacobis These zusammenhängt, gilt es jetzt zu entfalten. Hegels Argumentation folgt dabei folgender Struktur: Wenn wir in Gott sind, ist Gott nicht außer uns. Wenn wir in Gott sein können, indem wir ihn erkennen, ist Gott also auch nicht außer uns, wenn wir ihn erkennen. Falls wir nun aber Gott erkennend in Gott sein können, ohne dass wir Gott sind, dann ist Jacobis Disjunktion auch nicht vollständig und damit Jacobis Schlussfolgerung auch nicht zwingend, dass Gott nur dann nicht mit uns identisch gesetzt ist, wenn wir ihn nicht erkennen. Ich gehe nun genauer auf Hegels These ein, dass der Mensch, nur weil er in Gott ist, nicht Gott ist. Hegel führt sie ein, indem er Göschel zustimmend sagt: »Er zeigt, daß darin, daß der Mensch Gott erkenne, nicht nur dies liegt, daß Gott im Menschen ist, sondern auch dies, daß der Mensch in Gott ist, aber nur dies, daß der Mensch in Gott ist, nicht daß der Mensch Gott ist; [...].«32 Hierin sind zwei Gedanken enthalten. Der erste ist, dass Gott im Menschen ist, wenn der Mensch Gott erkennt. Das besagt m. E. Folgendes: Wenn Gott alles in allem wirkt, vermag der Mensch nichts aus sich. Gottes Offenbarsein für den Menschen ist deshalb nicht etwas, was der Mensch herstellt, sondern ein Sein Gottes im Menschen. Unter diesem Sein Gottes im Menschen ist dabei nur so viel zu verstehen: Gottes Geist stellt einen Anklang33 im menschlichen Geist her, findet dieser Anklang im Menschen statt, ist Gott im Men-

|| 31 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Bd. 3. Leipzig 1816, S. 49. 32 Hegel: Göschel-Rezension, S. 334, Z. 29–33. 33 Den Begriff Anklang, den ich in diesem Zusammenhang sehr gut finde, übernehme ich von Friedrich Hermanni.

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schen.34 Der zweite Gedanke ist, dass der Mensch damit in Gott ist. Das besagt m. E. Folgendes: Der Mensch ist, wenn Gott im beschriebenen Sinne in ihm ist, umgekehrt ebenso dergestalt in Gott, dass er Teil hat am göttlichen Geist. In dieser Teilhabe ist der Mensch aber dann nicht noch etwas für sich, sondern er ist eben soweit göttlicher Geist, wie der göttliche Geist in ihm ist. Nicht soll dies aber bedeuten, dass der Mensch Gott ist. Nimmt man dies ernst, kann man Hegels Position nicht so wiedergeben, dass der göttliche Geist nur das ist, als was er dem Menschen erscheint, und dass der göttliche Geist nur darin wirklich ist, dass er dem Menschen als göttlicher Geist erscheint. Gerade solchen Identitätsbehauptungen gegenüber verwahrt sich Hegel. Dass der Mensch in Gott ist, wenn Gott in ihm ist, beschreibt Hegel in der GöschelRezension deshalb durch den Begriff der »Immanenz« und grenzt diesen scharf vom Begriff der »Identität« ab.35 Dies ist keine Wortspielerei. Der Geist Gottes im Menschen bedeutet nicht, dass er auf sein Sein im Menschen reduziert werden kann. Deshalb wendet sich Hegel gegen den Begriff »Identität«. Wohl aber ist der Geist Gottes, der im Menschen ist, der Geist Gottes selbst, sodass der Mensch, in dem der Geist Gottes ist, nicht vom Geist Gottes geschieden ist, wenn er in ihm Anklang findet. Exakt das will Hegel darunter verstehen, dass wir in Gott sind, und verwendet hierfür den Begriff »Immanenz«. Allen Bedenken gegenüber einer »Selbstvergötterung des Wissens«36 im spekulativen Denken, die der Selbstvergötterung des Menschen nur in unmittelbare Intuition flüchtend entgehen zu können glauben, begegnet Hegel mit genau dieser Unterscheidung und wirft ihnen vor, Immanenz mit Identität gleichzusetzen. Noch einmal wendet er sich damit gegen Jacobis oben bereits verkürzt zitierten, 1799 im Brief an Fichte vorgebrachten Satz: »Gott ist, und ist außer mir ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder ich bin Gott. Es gibt kein Drittes.«37 Aufgegriffen hatte

|| 34 Dieser Anklang muss deshalb nicht nur eine »gegebene Einsicht« in dem Sinne sein, dass sie als unmittelbare Intuition vom Himmel fällt. Vielmehr kann sie genau jene diskursive Erkenntnis sein, die für sich herstellen zu können Anselm im Proslogion bittet. Vgl. hierzu auch Friedrich Hermanni: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen. Tübingen 22017, S. 47. Allein daraus, dass alle Erkenntnis durch Gott vermittelt ist, folgt also mitnichten, dass es keine diskursive Erkenntnis mehr gibt. Nur ist eben auch das Gelingen diskursiver Erkenntnis durch Gott vermittelt und eben deshalb bittet ja Anselm auch darum, dass sich ihm nicht nur »Inseln des Scheins« auftun, wenn er sich an sein unum argumentum macht, sondern dass das, was er begründet einzusehen glaubt, nicht nur Irrglaube ist. Damit ist gerade nicht gesagt, dass es letztlich keine diskursiv entwickelte Einsicht im Menschen gibt. Wohl aber, dass wir nicht davor gefeit sind, zu irren in dem, was wir uns diskursiv als Einsicht erschließen und herstellen. 35 Hegel: Göschel-Rezension, S. 335, Z. 1–4. 36 Ebd., S. 334, Z. 21. 37 Jacobi: Werke, Bd. 3 (s. Anm. 31), S. 49.

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Hegel diesen Satz bereits in Glauben und Wissen38 und in der Jacobi-Rezension.39 In letzterer sagt er allerdings eher nur wohlwollend: »Man wird diesen Gegensatz vielmehr als dem ganzen übrigen Sinn Jacobi’s widersprechend ansehen können«. Ganz anders sah es in Glauben und Wissen aus, und so ist es auch wieder in der Göschel-Rezension: Es gibt für Hegel ein Drittes, wie er bereits in Glauben und Wissen40 gesagt hat: Wir sind nicht Gott, nur weil Gott nicht außer uns ist. Wir können Gott immanent sein, ohne dass Gott identisch mit uns ist. Doch wie ist das zu verstehen? Will Hegel sagen, dass der Immanenzgedanke nicht dem Gedanken widerspricht, dass Gott auch noch etwas für sich ist? Widerspräche einem solchen Fürsichsein Gottes nun aber nicht wiederum Hegel reifes System? Denn ist Gott als die absolute Idee verstanden denn gerade nicht das System ihres Erscheinens in besonderer Bestimmtheit? Es kommt viel darauf an, hier nicht zu schnell zu schießen. Bereits in Glauben und Wissen sagt Hegel zum von Jacobi ausgeschlossenen Dritten: Es gibt ein Drittes, sagt dagegen die Philosophie, und es ist dadurch Philosophie, daß ein Drittes ist, ‒ indem sie von Gott bloß nicht nur ein Seyn, sondern auch Denken, d. h. Ich prädicirt, und ihn als die absolute Identität von beydem erkennt, kein Außer für Gott und darum eben so wenig ihn als ein solches für sich bestehendes Wesen, was durch ein: außer-ihm bestimmt, das heißt außer welchen noch anderes Bestehen wäre, sondern außer Gott gar kein Bestehen und Nichts anerkennt, also das Entweder, Oder, was ein Princip aller formalen Logik und des der Vernunft entsagenden Verstandes ist, in der absoluten Mitte schlechthin vertilgt.41

Ich verstehe dieses Zitat folgendermaßen: Nicht gilt nach Hegel, dass entweder Gott außer uns ist, oder wir Gott sind, sondern vielmehr soll gelten, dass wir nicht Gott sind, obwohl Gott in uns ist. Hegel will also weder ein triviale Identität von Gott und Mensch, die das In-Gott-Sein des Menschen als ein solches Im-Menschen-Sein Gottes versteht, mit dem Gott zum bloßen Attribut des Menschen verkommt, noch will Hegel einen dem Menschen abstrakt entgegengesetzten Gott. Beides freilich hat sich Hegel in der Dialektik von Endlichem und Unendlichem bereits früh ergeben und noch in der Überarbeitung der Seinslogik wird sie ihn weiter beschäftigen. Das Unendliche, das am Endlichen seine Grenze hat, ist selbst ein Endliches. Das ist das Problem der einseitig auf die Transzendenz Gottes setzenden, Gott als »Jenseits« setzenden Theologie. Ein »wahrhaft Unendliches«42 hat man deshalb aber natürlich auch noch nicht damit, dass man nur das Endliche selbst zum Unendlichen erklärt, also nur das Endliche als unendlich setzt, denn das sich

|| 38 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff. (= GW), hier GW 4, S. 399. 39 Hegel: Jacobi Rezension, GW 15, S. 27. 40 Hegel: Glauben und Wissen, GW 4, S. 399. 41 Ebd. 42 Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein, GW 21, S. 136.

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iterierende Endliche ist für Hegel nur das »schlechte Unendliche«.43 Das ist die Torheit jenes Linkhegelianismus, der die Einheit von Gott und Mensch auf die Seite des Menschen hin aufzulösen versucht, indem er Gott zum Attribut des Menschen macht und das Endliche darin in einem schlechten Sinne verunendlicht, dass er mit Feuerbach glaubt, dass das Unendliche schlechthin selbst als ein verunendlichtes Endliches begriffen werden muss. Hegels Drittes, das Jacobi ausschließt, ist dagegen das sich selbst als Endliches setzende Unendliche, dass sich darin als Endliches setzt, dass es sich dem Endlichen entgegensetzt und dieses Sich-selbst-Entgegensetzen aufhebt, indem es in seinem Anderen für sich ist.44 Für sich ist das Unendliche dabei fürs erste gerade darin, dass es in der Reflexion seines Sich-selbst-Entgegengesetztseins dieses Sichselbst-Entgegengesetztseins aufhebt, indem es sich so nicht länger als Entgegengesetztes denkt, das etwas außer sich hat, sondern vielmehr alles, was als außer ihm gesetzt ist, als ein Entgegengesetztes begreift, in dem das sich das Endliche entgegensetzende Unendliche sich als sich selbst entgegengesetzt reflektieren und hierin bestimmt setzen kann. Begriffslogisch aufgehoben bedeutet dies schließlich, dass das Allgemeine im Besonderen für sich ist, bzw. dass der Begriff des Begriffs von sich begreift, dass er Allgemeines und Einziges zugleich ist.45 Doch zurück zur Göschel-Rezension und Jacobi. Ist nicht genau das eben beschriebene, im Endlichen für sich seiende Unendliche aber nicht doch eine Vergötterung des Endlichen dergestalt, dass es so selbst zum Moment des Göttlichen gemacht wird und hierin Gott in einer Art und Weise alles in allem wird, die dann doch wieder als anti-theistisch und pantheistisch gebrandmarkt werden kann, auch wenn der Positivismus und Atheismus umschifft ist? ‒ Natürlich sind es diese Fragen, die im Kielwasser Jacobis interessieren müssen. Das weiß auch Hegel und ergreift in der Göschel-Rezension deshalb noch einmal die Gelegenheit, sein Drittes vor dem Vorwurf des Anti-Theismus und Pantheismus in Schutz zu nehmen. Wie sich gleich zeigen wird, ist Hegels Strategie in der Göschel-Rezension dabei eng verknüpft mit genau jenem Gedanken, auf den auch bereits das angeführte Zitat aus Glauben und Wissen seinen Finger legt: Es wird nicht einfach nur behauptet, dass es außer Gott nichts gibt, sondern es wird behauptet, dass wir in dem Sinne in Gott sind und gleichwohl nicht Gott sind, dass Gott Einheit von Denken und Sein ist und dass es dieser Einheit widerspräche, wenn wir uns als außer Gott seiende verstehen würden. Was es damit genauer auf sich hat, wird jetzt in den beiden nächsten Abschnitten ausgeführt.

|| 43 Ebd., S. 137. 44 Ebd., S. 116ff. 45 Vgl. Burkhard Nonnenmacher: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels »Wissenschaft der Logik« und reifem System. Tübingen 2013, S. 1–96.

Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist | 243

2.2 »Gott wird nur durch Gott erkannt«.46 Zur Übereinstimmung Hegels mit Jacobi und ihren Grenzen Hegel zufolge weiß ich »Gott nur durch Gott […], also mit andern Worten Gott nur […], insofern ich in Gott, also nicht dieser Ich für mich bin«.47 Hegel behauptet damit: Der sich in Gott wissende Mensch ist nicht dieses oder jenes Subjekt, das Gott weiß, sondern es ist selbst der Gott wissende Geist. Hegel beschreibt dies folgendermaßen: Der spekulative Begriff stellt alles auf den Prozeß der Selbstentäußerung des natürlichen Seins und Wissens des Menschen und macht diesen Prozeß der geistigen Wiedergeburt zum richtigen Inhalt der Exposition wahrhaften Wissens wie zur einzigen Wirklichkeit des Geistes. Aber im Schlafe des Gedankens macht der sinnliche, abstrakte Verstand die unvermerkte Verfälschung, wie seine Identität an die Stelle der Begriffsidentität, so an die Stelle des Begriffs der Subjektivität und des Wissens und ihres Prozesses, das unmittelbare Subjekt, Ich diesen Wissenden, die natürliche Geburt und das unmittelbare, natürliche Meinen und Wissen zu setzen.48

Das hier Gesagte sei versuchsweise mit einem Beispiel erläutert: Wenn wir Euklids Beweis, das die Winkelsumme eines Dreiecks (im euklidischen Raum) notwendig 180 Grad beträgt, nachvollziehen, dann erkennen wir die Winkel jedes beliebigen Dreiecks durch Spiegel- und Stufenwinkel als addierbar zu einem Halbkreis. Wir sind in diesem Erkennen die geistige Durchdringung dieses Gedankens und sonst nichts. Ebenso ist es Hegel zufolge, wenn uns der Geist Gottes durchdringt. Wir sind dann nicht diese, oder jene, sondern schlicht die geistige Durchdringung eines bestimmten Gedankens, das Offenbarsein eines bestimmten Gedankens, eine bestimmte Einsicht. Als die diese Einsicht Habenden unterscheiden wir uns in nichts. Indem wir in jener Einsicht übereinkommen, sind wir vielmehr ein Geist.49 || 46 Vgl. Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik. Zürich 1932–1967 (= KD), Bd. II/1, S. 205. 47 Hegel: Göschel-Rezension, S. 337, Z. 14f. 48 Ebd., S. 337, Z. 20–31. 49 So z. B. in einer Diskussion auf einer wissenschaftlichen Tagung, wenn zwei ums Argument Streitende in einem bestimmten Punkt argumentativ übereinkommen: dann sind sie ein Geist. Auf die Frage, inwiefern Hegel hierüber die Frage nach dem pro me Gottes nicht vergisst, kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden. Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass Hegel in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion viel Aufmerksamkeit darauf verwendet, zu verhandeln, wie auf der Ebene des Gefühls und der Vorstellung auf individuell unterschiedlichen Wegen ein Anklangfinden des absoluten Geistes im menschlichen Geist stattfindet. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass es auch hier um ein geistiges Anklangfinden geht und dass auch hier immer gilt, wie Hegel in der Vorlesung von 1827 sagt: »der Boden, auf dem dieser Inhalt ebenso aufgefaßt wird wie erzeugt wird, ist das Denken« (Hegel: VPR 1, S. 290, Z. 692f.). Zugrunde liegt dem folgendes Modell: »Der Mensch ist nicht nur rein denkend, sondern das Denken selbst manifestiert sich als Anschauen, als Vorstellen; die absolute Wahrheit, die dem Menschen geoffenbart ist, muß also auch für ihn als Vorstellenden, als Anschauenden, für ihn als fühlenden, empfindenden Menschen sein« (Hegel: VPR 3, S. 276, Z. 183–187).

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Hegels nächster Gedanke ist nun, dass wir uns nicht nur, wenn wir ein Geist sind, nicht unterscheiden in unserem Geist-Sein, sondern dass wir darüber hinaus in unserem Wissen von Gott, in unserem »Gott-Haben«, wie Hegel auch sagt, selbst durch Gott vermittelt sind. Hegel sagt deshalb, dass »zuallererst Gott mich wissen muss, eh ich Gott und in Gott mich wissen kann«.50 Weder wissen wir Gott also durch uns noch sind wir Gott, wenn er im Wissen für uns ist, sondern vielmehr gilt umgekehrt: Wir sind in Gott durch Gott, ohne dass unser In-Gott-Sein mit Gottes Sein identisch ist. Gott und Mensch, Unendliches und Endliches, werden für Hegel hierüber allerdings gerade nicht einfach zu einer Einheit, die man dann selbst wieder als göttlich (Pantheismus) oder menschlich (Atheismus) akzentuieren kann. Auch geht es Hegel nicht nur um eine reflexionslogische Einheit der Momente Unendliches und Endliches, die schlechtunendlich auf einander verweisen, denn das wahre Unendliche ist nach Hegel eben das Unendliche, das sich sich selbst entgegensetzt, hierin für sich wird und in diesem Für-sich-Werden und Sich-Realisieren wirklich ist. Der Atheismus stellt diese Figur auf den Kopf, indem er Gott als Selbstvermittlungsversuch des Menschen begreift. Der Pantheismusvorwurf an Hegel dagegen verkennt, dass Hegels Absolutes als dreieiniger Gott gerade nicht nur eine Einheit von Momenten ist, nicht Geist als nur wechselseitiges Sich-im-Anderen-Reflektieren von Vater und Sohn, sondern absoluter Geist als ewiges Fürsichsein des Vaters im Sohn, das mit sich selbst als Im-Anderen-bei-sich-Sein »ernst macht«51 in der »Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes«.52 Zwischen »Immanenz« und »Identität« zu unterscheiden,53 also zwischen dem Menschen, der in Gott ist, aber doch nicht Gott ist, bedeutet für Hegel deshalb, die Alleinwirksamkeit Gottes anerkennen zu können, ohne Pantheist werden zu müssen. Gottes Alleinwirksamkeit dagegen nur darin anzuerkennen, dass wir unsere Vermögen begrenzt setzen, ist Hegel zu wenig. Denn Gott außer uns zu setzen in einem Sinne, dass wir außer Gott sind, ist Hegel zu viel. Das wirft er Jacobi gerade vor. Gegen Jacobi bringt Hegel deshalb vor, dass sich das menschliche Subjekt zweifach negieren muss: nicht nur in seinem Vermögen, sondern in seinem ganzen Sein als selbständige Instanz. Auch Jacobi sagt nun aber freilich gerade: »Mensch entschließe dich, höre selbst zu seyn auf, und lasse Gott allein seyn, so ist dir geholfen, so bist zu selig.«54 Vorgeworfen wird Jacobi von Hegel jedoch, dass er genau das mit seinem Ansatz nicht umsetzt. Jacobi schließt seine Schrift mit Lk 23,46 und den Worten des ver-

|| 50 Hegel: Göschel-Rezension, S. 337, Z. 7f. 51 Hegel: VPR 3, S. 216, Z. 121–123. 52 Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein, GW 21, S. 34. 53 Hegel: Göschel-Rezension, S. 335, Z. 1f. 54 Jacobi: Von den göttlichen Dingen (s. Anm. 2), S. 165.

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scheidenden Christus am Kreuz »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist«55 und beteuert: »So der Mächtigste unter den Reinen, der Reinste unter den Mächtigen. Dieser Kampf und dieser Sieg ist Christenthum. Zu diesem Christenthum bekennet sich der Verfasser dieser Schrift, und schließet mit diesem Bekenntnis sein Werk.«56 Hegel widerspricht diesem Bekenntnis freilich nicht, wohl aber streitet er darüber, wann es zum Lippenbekenntnis wird. Der nächste Abschnitt ist den diesbezüglichen Überlegungen in der Göschel-Rezension gewidmet.

2.3 »Sein = Nichtwissen oder Nichtwissen = Nichtsein?«57 Hegels Argumente gegen Jacobis Epistemologie und Gotteslehre In der Literatur ist behauptet worden, dass die Jacobi-Rezension Hegels von 1817 einen »Umschwung«58 im Vergleich zum gegen Jacobi in Glauben und Wissen angeschlagenen Ton bedeute. Und in der Tat: Hegel lobt Jacobi und seine Kritik an Spinoza in der Jacobi-Rezension entschieden: »Jacobi hatte diesen Uebergang von der absoluten Substanz zum absoluten Geiste, in seinem Innersten gemacht, und mit unwiderstehlichem Gefühle der Gewißheit ausgerufen: Gott ist Geist, das Absolute ist frey und persönlich.«59 Jedoch folgt auch hier die Kritik auf dem Fuß. Denn Hegel sagt eben nicht nur: »So hat Jacobi von der Vernunft, als dem Uebernatürlichen und Göttlichen im Menschen, welches von Gott weiß, behauptet, dass sie Anschauen ist«,60 sondern Hegel sagt zudem: Ein todtes, sinnliches Ding ist allein ein Unmittelbares nicht durch die Vermittlung seiner mit sich selbst. – Jedoch hat bey J. der Uebergang von der Vermittlung zur Unmittelbarkeit, mehr die Gestalt einer äußerlichen Wegwerfung und Verwerfung der Vermittlung. Es ist in sofern das refectirende Bewußtsein, welches getrennt von der Vernunftanschauung [ist]; ja er geht noch weiter und erklärt sie sogar für etwas, was dieser Anschauung hinderlich und verderblich sey.61

Hegel hält diese Entscheidung Jacobis für falsch. Denn für ihn kann alle Unmittelbarkeit, sofern sie nicht tot, sondern lebendig und geistig sein soll, nur »in einer sich selbst aufhebenden Vermittlung hervorgeh[en]«.62 Freilich baut Hegel diesen Punkt in der Jacobi-Rezension nicht weiter aus. Freilich ist er in ihr um einen ver-

|| 55 Ebd., S. 191f. 56 Ebd., S. 192. 57 Hegel: Göschel-Rezension, S. 331, Z. 35–37. 58 Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Stuttgart 2003, S. 254. 59 Hegel: Jacobi-Rezension, GW 15, S. 11. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd.

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söhnlichen Ton bemüht. Doch auch wenn Hegel 1817 die 1802 an Jacobi geäußerte Kritik einer abstrakten Entgegensetzung von Absolutem und Endlichem nicht wiederholt, nie verliert er seine Überzeugung, dass die Aufhebung aller abstrakten Entgegensetzung vom Absolutem und Endlichen allein im Begriff vollendet werden kann. Wer genau liest, findet deshalb auch in der Jacobi-Rezension von 1817 ein dickes Fragezeichen hinter Jacobis Position gesetzt. So heißt es z. B.: »Wenn die Dämmerung des Geistreichen darum lieblich ist, weil das Licht der Idee in derselben scheint, so verliert sie dies Verdienst da, wo das Licht der Vernunft leuchtet, und was ihr gegen dieses eigenthümlich zukommt, ist dann nur Dunkelheit […].«63 Hegel positioniert sich mit dieser Aussage erneut gegenüber Jacobi und setzt seine Kritik an Jacobi, wie wir jetzt sehen werden, in der Göschel-Rezension noch einmal fort. Ziel der Überlegungen Hegels in der Göschel-Rezension ist es dabei erstens zu zeigen, dass aus dem Satz »Gott wird nur durch Gott erkannt« keineswegs zwingend die Unerkennbarkeit oder »Verborgenheit Gottes« folgt,64 sowie zweitens zu zeigen, dass dann, wenn dies gefolgert wird, Prämissen im Spiel sind, die höchst problematisch sind. Diese reductio ad absurdum vorzunehmen, ist Hegel dabei m. E. nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil er gerade auch die Argumentation Jacobis gegen Kant noch entkräften will, die darin bestand, dass Kant zwar nicht die Differenz von Gott und Mensch in jenem Sinne aufhebt, den Jacobi an Fichte und Schelling moniert, wohl aber zu deren Systemen hinführt, weil Jacobi der Ansicht ist, dass dem Einsicht in die göttlichen Dinge haben wollenden Menschen, der nur das, was er konstruieren kann, einsehen können will, letztlich notwendig alle Differenz von Gott und Mensch verkommen muss, weil er sich so nur noch in seinem Begründungssystem im Kreis dreht und sich hierin selbst verabsolutiert. Wem folglich die Differenz von Gott und Mensch nicht zu nichts verkommen soll, der muss etwas an seiner Epistemologie ändern, an seinem Konstruktionsbegriff, vom Diskursiven ins Intuitive, vom diskursiven Denken ins unmittelbare Fühlen wechseln, so der bereits oben genannte Umkehrschluss. Diese These Jacobis, dieser Umkehrschluss, ist nun mit dem in den letzten beiden Abschnitten (2.1 und 2.2) Gesagten nun freilich noch nicht entkräftet. Denn auch wenn in ihnen noch sehr dagegen argumentiert wird, dass die Unterscheidung

|| 63 Ebd. 64 Interessant ist dies auch für die Auseinandersetzung zwischen Hegel und Barth. Barths Aussage »Gott wird nur durch Gott erkannt, Gott kann nur durch Gott erkannt werden« (KD II/1, S. 205) teilt Hegel. Barths Folgerung, dass damit »unsere Erkenntnis Gottes allen Ernstes beginnt mit der Erkenntnis der Verborgenheit Gottes« (ebd.) und Gottes Verborgenheit als »eine seiner Eigenschaften« (KD II/1, S. 206) zu begreifen ist, teilt Hegel jedoch nicht. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass Hegels Argumente gegen Jacobi notwendig auch Argumente gegen Barth sind, wohl aber, dass sie auch in der systematischen Diskussion der Auseinandersetzung Barths mit Hegel zu berücksichtigen sind.

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»entweder ist Gott außer uns oder wir sind Gott« keine vollständige Disjunktion ist, und auch wenn noch so sehr der Finger darauf gelegt wird, dass Gott uns auch für Hegel nur durch Gott offenbar ist, steht immer noch der Vorwurf im Raum, dass ein System, wie dasjenige Hegels, ein Begründungssystem sei, das letztlich genau jene Selbstvergötterung des Wissens des Menschen darstelle, mit der alle Differenz von Gott und Mensch dadurch aufgehoben wird, dass letztlich in diesem System alles zu menschlichem Wissen wird. Hegel ist klar, dass er hiergegen mit dem zuvor Verhandelten noch kein Argument geliefert hat. Liefern will er es vielmehr erst, indem er umgekehrt die Prämissen seiner Position zu den Prämissen derjenigen Jacobis in Beziehung setzt. Ins Zentrum dieser Argumentation stellt Hegel dabei eine pointierte Alternative, nämlich entweder das Sein mit dem Nichtwissen zu identifizieren oder das Nichtwissen mit dem Nichtsein. Letzteres nimmt er für sich in Anspruch. Ersteres wirft er Jacobi vor und versucht so, Jacobis Ontologie und Epistemologie sowie Gotteslehre und Offenbarungsbegriff ad absurdum zu führen. Dies beginnt mit dem Zitat folgender Beschreibung der nach Göschels Ansicht von Jacobi in Von den göttlichen Dingen vertretenen Position: Gott ist; das ist das Erste. Gott ist Gott; das ist das Zweite und das LETZTE; er ist allein Sich selbst gleich und außer Ihm ist Ihm Nichts gleich (nach dem Prinzip der abstrakten Identität des Verstandes). Hiermit ist die Wahrheit unmittelbar gewiß; und es folgt daraus das übrige; Gott ist – alles, was wir nicht wissen können, er ist von dem geschieden und verschieden toto coelo, was Er nicht Selbst ist, außerweltlich, transzendent – und doch auch in und mit uns; ist wirklich, kein Individuum, kein Einzelner – und doch Person, ja die Persönlichkeit selbst; Person und doch schlechthin unendlich, grenzenlos, überall und nirgends. – Daß sich dieses Satz für Satz aufhebt und widerspricht, entgeht dem Nichtwissen nicht; es folgert aber daraus nur, daß Gott unbegreiflich, unaussprechlich, unsichtbar ist, was schon in dem obersten Satz liegt, daß Gott nur sich selbst gleich ist.65

Hegel geht es um die Konsequenzen der hiermit umrissenen Transzendenz Gottes. Das Unendliche nicht im Endlichen ausgedrückt finden zu können66 und nicht mehr über Gott aussagen zu können als dass wir eben nichts über Gott aussagen können,

|| 65 Vgl. Göschel: Aphorismen (s. Anm. 4), S. 14. Hegel zitiert mit einigen nicht kenntlich gemachten Auslassungen sowie eingefügten Hervorhebungen, auch die Klammer ist seine Ergänzung. 66 In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass Schleiermacher, so sehr ihn Jacobis Epistemologie und Gefühlbegriff beeinflussen mag, entgegen Jacobi in den Reden über die Religion (1. Aufl. 1799) dezidiert für ein Auffinden des Unendlichen im Endlichen votiert und sagt: »Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche grade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesezte außerhalb deßen zu suchen dem es entgegengesezt wird [...].« Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Reden über die Religion. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans-Joachim Birkner u. a. Berlin, New York 1980ff., Bd. I/2, S. 252, Z. 42–S. 253, Z. 1. Vgl. hierzu auch Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich. Göttingen 1997, S. 51.

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das ist Hegel zu wenig. Und zwar das aus Gründen, die die christliche Dogmatik wie die Philosophie des Absoluten gleichermaßen betreffen. Deutlich wird dies erstens, wenn Hegel in diesem Zusammenhang folgenden Satz Göschels zustimmend zitiert: Diese Philosophie des Nichtwissens hat gelehrt, Gott kennen heiße, Gott verendlichen, erniedrigen; nun konnten WIR freilich Gott nicht erniedrigen, folglich auch nicht erkennen. Jetzt erniedrigt Er aber Sich Selbst zu Seiner Offenbarung, und nun nehmen wir wieder in unserem Stolze an Seiner Niedrigkeit Anstoß.67

Göschel argumentiert hier mit christologischen Mitteln gegen Jacobi. Dass wir Gott nicht erniedrigen können, gibt er Jacobi zu. Entgegen hält er ihm, dass Gott sich aber selbst erniedrigt »zu seiner Offenbarung«. An dieser »Niedrigkeit Anstoß zu nehmen«, heißt deshalb, die Offenbarung Gottes in seinem Sich-Erniedrigen nicht ernst zu nehmen. Hiermit aber ist Jacobis Bekenntnis zum Christentum am Ende Von den göttlichen Dingen68 scharf attackiert. Zweitens gewährt Hegel Göschels Argument zudem noch weitere Schützenhilfe mit folgender Aussage: Diejenigen, welche dem Glauben an die Offenbarung treu bleiben, aber in der Behauptung, daß Gott nicht zu erkennen sei, mit dem Nichtwissen übereinstimmen, behaupten so in Einem Flusse der Rede, Gott habe sich in Christus dem Menschen geoffenbart, und zwar habe er dies von sich geoffenbart, daß er sich nicht geoffenbart, daß er sich nicht zu erkennen gegeben habe.69

Hegel greift hier Jacobis Offenbarungsbegriff mit dem Argument an, dass die einzige Offenbarung, die ihm noch übrig bleibt, die ist, dass Gott sich in Christus als der sich nicht offenbarende Gott offenbart. Jacobi ist damit der Vorwurf gemacht, die Christologie zu einer bloßen Offenbarung des Sich-nicht-Offenbarens verkommen zu lassen. Und dieser Vorwurf hat es freilich in sich. Denn in der Tat ist damit vorgeführt, dass es in der Konsequenz des jacobischen Denkens um Stellen wie Hebr 1,3 oder Kol 1,15 schlecht bestellt ist, die besagen, dass der Sohn das Ebenbild des Wesens des Vaters ist (χαρακτὴρ τῆς ὑποστάσεως αὐτοῦ), bzw. das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (εἰκὼν τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου). Erschwerend hinzu kommt, dass auch die Göttlichkeit jenes Sohnes mit der Einzigkeit Gottes dann nicht mehr ernsthaft zusammengedacht ist, wenn man den wahren Gott gleichsam unabhängig von seiner Selbstoffenbarung im Sohn setzt und damit, wenn nicht gleich ganz die innere Trinität, so doch zumindest leugnet, dass die Erniedrigung des ewigen Sohnes in der ökonomischen Trinität als ratio cognoscendi der inneren Trinität zu begreifen

|| 67 Hegel: Göschel-Rezension, S. 327, Z. 31–36. Vgl. Göschel: Aphorismen (s. Anm. 4), S. 25f. 68 Vgl. die Zitate am Ende von 2.2. 69 Hegel: Göschel-Rezension, S. 327, Z. 37–S. 328, Z. 6.

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ist, die für Hegel wiederum die ratio essendi der ökonomischen Trinität ist, wie Friedrich Hermanni gezeigt hat.70 Auch und gerade das will Hegel deutlich machen, wenn er schließlich drittens auf das zuletzt Zitierte die Aussage folgen lässt: »Sie nehmen an, Gott habe sich zum Menschen verendlicht, die Endlichkeit in sich und sich in die Endlichkeit gesetzt, er sei aber nur das abstrakte Unendliche, das von der Endlichkeit ganz entfernt gefaßt werden müsse.«71 Unterstrichen ist hiermit noch einmal, woran Jacobis Ansatz in Hegels Augen seit jeher krankt: an einer abstrakten Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem. An dieser festzuhalten, bedeutet für Hegel letztlich, auch nichts mit der Trinitätslehre und Gottes Offenbarung in Christus anfangen zu können. Das machen die letzten drei Zitate deutlich, also Hegels Göschel-Zitat und die beiden Kommentare Hegels zu diesem. Wer folglich die Christologie und Trinitätslehre nicht zu nichts verkommen lassen will, muss die Weichen anders stellen als Jacobi. Das ist wiederum Hegels Umkehrschluss, den er in der Göschel-Rezension Jacobis Atheismus-, Anti-Theismusund Pantheismus-Vermeidungsstrategien entgegensetzt. Nicht will Hegel damit allerdings sagen, dass Jacobi falsch damit liege, als Hüter des Theismus gegen Pantheismus und Atheismus an einer Differenz von Gott und Mensch festhalten zu wollen. Nur will Hegel zeigen, dass Jacobi dieses Programm unter Prämissen verfolgt, die nicht nur nicht alternativlos sind, sondern überdies in der christlichen Dogmatik wie in der Philosophie des Absoluten zu Konsequenzen führen, die höchst problematisch sind. Ich komme damit zur entscheidenden Weggabelung oder Weichenstellung, an der sich Hegels und Jacobis Weg Hegel zufolge trennen. Hegel entfaltet diese Weichenstellung ebenfalls im Ausgang von einer lobenden Bezugnahme auf Göschel: Scharfsinnig vergleicht nun der Hr. Verf. Nichtwissen und absolutes Wissen in Ansehung ihres Verhaltens zum Sein; beide kommen darin überein, daß sie dem Sein eine Unerkennbarkeit zuschreiben; sie unterscheiden sich aber dadurch, daß das Nichtwissen diesem Sein die Wirklichkeit zuschreibt, das absolute Wissen aber dem bloßen Sein nicht nur die Erkennbarkeit, sondern auch die Wirklichkeit abspricht; dem Nichtwissen ist Sein und Nichtwissen, dem absoluten Wissen Nichtsein und Nichtwissen identisch.72

Damit ist folgende Alternative aufgemacht: Im einen Fall ist der ungewusste Gott der wirkliche Gott, im anderen Fall ist der nicht gewusste Gott der unwirkliche Gott. Die letztere Position reklamiert Hegel für sich, die erstere findet er in Jacobi wieder. Die Schlagkraft dieser Weichenstellung entfaltet Hegel kurz darauf. Nicht nur geht es Hegel nämlich nur darum, mit dieser Unterscheidung es als bloße Setzung zu

|| 70 Vgl. Friedrich Hermanni: Hegels Philosophie der vollendeten Religion (s. Anm. 6), S. 418. 71 Hegel: Göschel-Rezension, S. 328, Z. 6–11. 72 Ebd., S. 331, Z. 28–37.

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bezeichnen, ob einem der wirkliche Gott das Unerkennbare oder gerade nicht das Unerkennbare ist. Vielmehr geht es Hegel um eine Weichenstellung, die das Verhältnis von Denken und Sein generell betrifft, auch in Gott. Auch der sich nicht wissende Gott ist nicht wirklich, sagt Hegel. Denn wenn Gott Geist ist, dann ist er nicht einfach nur, sondern dann ist er nur wirklich in seinem Fürsichsein. Hegel drückt dies in der Göschel-Rezension folgendermaßen aus: Gott ist nur insofern wirklich, als Er Sich selbst weiß; mit seinem Bewußtsein wird und verschwindet sein Dasein; hiermit, dieser Beziehung des Seins und Wissens auf Gott als das absolute Objekt, welches sich selbst absolutes Subjekt ist, stimmt die Schrift überein.73

Darauf aufbauend entfaltet Hegel nun einen Syllogismus, der das eben Konstatierte als Obersatz verwendet. Sein Untersatz lautet dagegen schlicht, dass Gott wirklich im Menschen sein kann, d. h. dass der Geist Gottes Anklang im Menschen finden kann. Hegel präsentiert diesen Untersatz zugleich mit der conclusio, die er aus beiden Sätzen ziehen will: »Wenn Gott wirklich in und mit seinen Kreaturen ist, welches die Schrift lehrt, so ist auch das Wissen Gottes in ihnen – weil er nur ist, indem er sich weiß«.74 Folgender Schluss ist von Hegel damit also gegen die Unerkennbarkeit Gottes Jacobis ins Feld geführt: p1: Gott ist nicht wirklich, ohne dass er sich selbst weiß. p2: Gott ist wirklich in mir. c: Also ist in mir auch ein Wissen Gottes. Weder der ersten noch der zweiten Prämisse kann nach Hegel, ohne der Schrift zu widersprechen, widersprochen werden. Einzig ist für Hegel noch zu bedenken die Frage, ob jenes Wissen Gottes in mir, das wirklich ist, wenn Gott in mir ist, nicht nur ein Sichwissen Gottes ist, welches Gott in mir hat, sondern auch eine »Erkenntnis, die ich von ihm habe«.75 Wäre letzteres nicht der Fall, könnte freilich noch immer eingewendet werden, dass für Gott zwar Nichtwissen und Nichtsein identisch sind, nicht jedoch für mich, indem angenommen wird, dass er gerade in uns für uns sein kann, ohne dass dies ein Wissen ist, sondern vielmehr nur ein Fühlen oder Ahnden, dass gerade kein Wissen sein oder werden kann. So könnte freilich noch immer gelten, dass dem Menschen Gottes Wirklichkeit mit ihrem Nichtgewusstsein zusammenfällt. Exakt diese Option (sofern wir nicht nur fühlen oder vorstellen, sondern auch denken) schließt Hegel nun aber noch durch eine weitere Prämisse aus, mit der er endgültig gegen Jacobis Position zu votieren versucht. Diese Prämisse lautet: Das »Wissen Gottes im Menschen ist eben die allgemeine Vernunft, die nicht meine

|| 73 Ebd., S. 333, Z. 13–15. 74 Ebd., S. 333, Z. 26–29. 75 Ebd., S. 333, Z. 35.

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Vernunft, auch nicht ein gemeinschaftliches Vermögen, sondern das Sein selbst ist, die Identität des Seins und Wissens [...]«.76 Unsere Vernunft und Gottes Vernunft ist Hegel zufolge also nicht different, – ganz im Sinne des oben gegebenen Beispiels mit dem Winkelsummenbeweis im Dreieck. Gott ist vielmehr die Vernunft selbst. So können wir eins mit Gott sein, insoweit (!) Gott in uns ist. Doch was bedeutet das? Wer hierin mit Jacobi nun abermals nur eine die Vernunft des Menschen zu Gott erklärende Aufklärungsreligion wittert, wird von Hegel unmittelbar auf das Gesagte folgend eines besseren belehrt. Hegel sagt nämlich, dass die Erkenntnis von Gott, die ich habe, »durch das Ich getrübt werden kann, je mehr oder weniger sie aus der Identität mit der Erkenntnis Gottes von mir heraustritt«77. Hier geht es nicht einfach nur darum, dass Gott und Mensch darin getrennt sind, dass der Mensch nicht immer vernünftig ist und auch irren kann. Vielmehr erkennt der Mensch Gott nur so scharf, wie er weiß, wie sich Gott in ihm erkennt. Zugrunde liegt dem der Gedanke, dass das Wissen, in dem der Mensch Gott weiß, sub specie aeternitatis das »Sichwissen [Gottes] außerhalb seiner [ist], [d. h.] das Bewußtsein Gottes in der Welt, in den einzelnen Wesen als Kreaturen Gottes«.78 Wie steht es damit nun aber um die Differenz von Gott und Mensch? Wird sie so nicht doch zu gering geschätzt? Dass dies in Hegels Augen nicht der Fall ist, bringt er in folgendem dreigliedrigen Gedankengang zum Ausdruck: 1. »Gott weiß die Welt, die Menschheit nur insofern, als er in ihr ist, oder, wenn sie nicht in Ihm geblieben ist, sich in sie versetzt.«79 Dem scheint folgender Gedanke zugrunde zu liegen: Der alles in allem wirkende Gott ist das alles wirkende Sein Gottes, das ein Sichwissen Gottes ist. Also ist alles, was außer Gott ist, auch ein Wissen Gottes, oder ein Sichwissen Gottes außerhalb seiner. Auch das getrübte Wissen Gottes ist damit ein Sichversetzen Gottes in sein getrübtes Gewusstsein außer sich. 2. »Der Mensch weiß Gott nur insofern, als er in Ihm ist oder, wenn er abgefallen ist, wieder in ihn versetzt wird.«80 Nicht nur der Fall des Menschen in Gen 3, sondern auch der Mensch im Urstand ist damit nicht einfach mit dem Sichwissen Gottes identisch gesetzt, denn auch der Urstand ist eingeschränkt durch ein »insofern«. 3. Auf diese kurze, die theologische Anthropologie und die Hamartiologie betreffende Bemerkung folgt sodann noch eine zentrale, die Soteriologie und Christologie betreffende Bemerkung: Der Mensch kann aber nur durch Gott in Gott sein, und wenn er solches einmal aufgehört hat, nur durch Gott in Gott versetzt werden, und zwar nur insofern, als sich Gott zuvor in ihn ver-

|| 76 Ebd., S. 333, Z. 29–33. 77 Ebd., S. 333, Z. 36–S. 334, Z. 1. 78 Ebd., S. 333, Z. 19–21. 79 Ebd., S. 334, Z. 5–7. 80 Ebd., S. 334, Z. 8f.

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setzt und selbst Mensch wird und sich ihm offenbart. Nur in dieser Offenbarung, nur in Jesu Christo erkennt der Mensch Gott und hat keinen Namen, in dem er Gott anbeten soll, als den Namen des Menschensohnes.81

Es kann hier nicht auf Hegels Christologie ausführlicher eingegangen werden. Nur eines soll der referierte Dreischritt deutlich machen: Es gibt auch für Hegel eine Differenz von Gott und Mensch, nur bedeutet das für Hegel genau nicht, dass Gott nicht in uns sein kann. Im Gegenteil: Gott ist essentiell in uns, wenn er alles in allem wirkt und Einheit von Denken und Sein ist. Different ist der Mensch von Gott deshalb im Außer-sich-sein-Gottes im einzelnen Menschen, das zugleich des Menschen Sein außer Gott ist. Die Differenz zwischen Gott und Mensch soll so nicht nur zu einem Akzidenz verkommen, das in ach so frommer Betonung der Endlichkeit des Erkenntnisvermögens des Menschen eitel besungen werden kann, sondern vielmehr versucht Hegel zu denken, dass die beschriebene geistige Differenz die ganze Wirklichkeit des Menschen bestimmt. Freilich kann dem nun aber noch entgegen gehalten werden, dass sich Hegel je schon über dieser Differenz stehend denkt, wenn er die innere Trinität mit seiner spekulativen Logik rekapitulieren zu können glaubt. Zwei Dinge sind an dieser Stelle jedoch nicht zu vergessen: Erstens die Frage, inwiefern sich Hegel selbst dem »dritten Element« der »vollendeten Religion«, dem geistigen Anziehen82 des zuvor entfalteten Verhältnisses von innerer Trinität und ökonomischer Trinität überhoben sieht. Hier ist Vorsicht geboten. Zweitens ist zudem die Frage ernst zu nehmen, inwiefern Hegel nicht recht damit hat, Jacobi mit Göschel vorzuwerfen, letztlich das Sein mit dem Nichtwissen zu identifizieren. Beides gilt es deshalb weiter zu diskutieren. Ich komme damit zu folgendem Zwischenfazit: Die von Hegel in der GöschelRezension markierte Differenz von Gott und Mensch gilt es ernst zu nehmen, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Aussagen wie der folgenden Jacobis in »Beylage A« zu Von den göttlichen Dingen: »Ist die Vernunft aber keine Lügnerin, so hat sie den Begriff des Absoluten nicht aus sich, sondern sie selbst wird erst aus ihm und durch ihn; er ist ihr gegeben, und sie ist sich selbst gegeben mit ihm.«83 Was

|| 81 Ebd., S. 334, Z. 9–16. 82 Vgl. hierzu in der Vorlesung von 1827, VPR 3, S. 252, Z. 28–39: »Der Geist [ist es,] der diese in der Erscheinung vorgehende Geschichte geistig auffaßt, darin die Idee Gottes, sein Leben, seine Bewegung erkennt. Die Gemeinde sind die einzelnen empirischen Subjekte, die im Geiste Gottes sind, von denen aber dieser Inhalt, diese Geschichte, die Wahrheit zugleich unterschieden ist und ihnen gegenübersteht. Der Glaube an diese Geschichte, an die Versöhnung ist einerseits ein unmittelbares Wissen, ein Glauben; das andere ist aber, daß die Natur des Geistes an ihr selbst dieser Prozeß ist, der in der allgemeinen Idee und in der Idee der Erscheinung betrachtet worden ist, so daß das Subjekt selbst Geist und damit Bürger des Reiches Gottes wird dadurch, daß es an ihm selbst diesen Prozeß durchläuft.« 83 Jacobi: Von den göttlichen Dingen (s. Anm. 2), S. 204.

Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist | 253

sagt Hegel hierzu? Auch für Hegel hat die Vernunft den Begriff des Absoluten nicht aus etwas, was der Mensch selbständig aus sich und unabhängig vom Absoluten hat. Aber der Begriff des Absoluten und das Absolute sind Hegel eben nicht zweierlei, und zwar ohne dass das bei Hegel zur Folge hat, dass das Absolute auf eine angeblich nur menschliche Vernunft zu reduzieren ist. Jacobi freilich behauptet: Wenn man versucht die Gewißheit aus der ersten Hand, die wir, aus Mangel eines besseren Ausdrucks, Glaube nennen, in eine Gewißheit nur aus der zweyten, die unbedingte Überzeugung in eine bedingte [zu verwandeln]: so entsteht […] leerer Formalismus, eine unmögliche Philosophie durch bloße Logik.84

Auch dem jedoch widerspricht Hegel entschieden. Jacobis erste Hand gibt es bei Hegel noch nicht einmal in Gott. Das bedeutet für Hegel jedoch mitnichten, dass die oben markierte Differenz von Gott und Mensch in seinem Denken aufgehoben ist. Ansonsten müsste Hegel behaupten, dass sein »System des Absoluten« Gott ist und nicht nur Darstellung des Absoluten. Doch behauptet das Hegel? Hieran ändert auch nichts die Tatsache, dass sich mit Hegel jedwede Darstellung des Absoluten als Selbstdarstellung des Absoluten begreifen muss, wenn sie sich ernst nehmen will. Denn so sehr dies gilt und so sehr zudem für Hegel die Selbstrealisierung des Begriffs Gottes (= der inneren Trinität) mit der Wirklichkeit als Heilsgeschichte (= der ökonomischen Trinität) zusammenfällt, so wenig ist damit zwingend, dass Hegels System und Darstellung des Absoluten von sich beanspruchen muss, Gott selbst zu sein. Dies zeigt die Göschel-Rezension. Nicht nur ist sie für diese Gleichsetzung nämlich kein Zeugnis. Vielmehr votiert sie entschieden dagegen und macht damit im Grunde genommen gar nichts Besonderes, denn Hegels System muss freilich ebensowenig wie jeder andere dogmatische Entwurf von sich behaupten, Gott und die ganze Wirklichkeit selbst zu sein, nur weil er den Versuch unternimmt, als ein bestimmter Entwurf in einer bestimmten Tradition unter bestimmten Prämissen Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit zu denken. Ich sage dasselbe noch einmal anders: Am Ende der großen Logik heißt es: »die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.«85 Muss das denn bedeuten, dass der als absolute Idee entfaltete christliche Gott Hegels Hegel selbst, »dieser Ich« sein soll? Glaubt Hegel das? Oder glaubt er auch nur, dass die absolute Idee nur in ihrem Gedachtsein und Sichentwickeln in der Natur und endlichen Geistern wirklich ist? Wäre dem so, wären wir freilich alle, wenn wir im Sinne des hegelschen Systems in Gott sind, nicht nur in Gott, sondern Gott selbst. Nun sagt aber Hegel in der Göschel-Rezension nicht nur, dass ich, wenn ich in Gott bin, »nicht dieser Ich für mich bin«,86 sondern legt

|| 84 Ebd. 85 Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff, GW 12, S. 236. 86 Hegel: Göschel-Rezension, S. 337, Z. 14.

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darüber hinaus größten Wert darauf, dass die Gleichung »Gottwissen = Gottsein«87 falsch sei. Dieser Gleichung entgegen setzt Hegel die Gleichung »Gottwissen = Gotthaben«.88 Nämlich das unter Betonung des folgenden Umstandes: »Haben ist ein Sein, das das nicht selbst ist, was es hat.«89 Auch wenn wir in Gott sind in dem Sinne, dass wir im Gedanken mit ihm ein Geist sind, sind wir also für Hegel nicht Gott selbst. Das sagt Hegel hier klipp und klar, und das gilt es auch ernst zu nehmen. Noch einmal lässt sich vor diesem Hintergrund so aber freilich auch fragen, worin denn die Differenz von Gott und Mensch für Hegel dann eigentlich noch besteht. Offenbar doch gerade nicht nur darin, dass wir nur den, dessen Außer-sich-Sein in uns wirklich ist, nicht an und für sich begreifen. – Freilich sagte ich oben, dass der Mensch durch seine Differenz zu Gott bestimmt ist, d. h. durch das Außer-sich-seinGottes im einzelnen Menschen, das des Menschen Sein außer Gott ist. – Aber auch hierzu ist Hegel, wie das letzte Zitat eindrücklich deutlich macht, noch eine Ergänzung wichtig, nämlich die Ergänzung einer Differenz, die er in der GöschelRezension mit der eben zitierten Unterscheidung von Haben und Sein markiert. – Auch der von sich als »dieser Ich« absehende, denkende Mensch also, der Gott denkend in Gott ist, hat also Gott nur im Wissen, ist aber nicht Gott selbst. Dem widerspricht freilich auch gerade nicht, dass es Hegel wichtig ist, zu betonen, dass Gott »erst mich wissen muß, eh ich sein kann, ja zuallererst Gott mich wissen muß, eh ich Gott und in Gott mich wissen kann«.90 In der Tat ist hiermit nämlich nur noch einmal verdeutlicht, dass auch unser Gott-Haben durch Gott vermittelt ist. Nicht ist hiermit aber die Identität mit Gott behauptet, sondern im Gegenteil unsere Differenz zu Gott nur noch einmal unterstrichen, auch wenn noch so sehr gilt, dass wir »nicht dieser Ich«91 sind, insofern wir in Gott und mit Gott ein Geist sind. Deutlich geworden ist damit Folgendes: Offenbar gibt es für Hegel auch noch eine Differenz von uns zu Gott, wenn wir mit Gott ein Geist sind, ansonsten machte seine Rede vom Gott-Haben überhaupt keinen Sinn. Macht sie Sinn, dann aber hat sie nur den: dass Gott nicht in unserem In-ihm-Sein aufgeht und genau das ist es ja, was der Satz sagen will, dass wir, indem wir in Gott sind, nicht Gott sind. Ohne diese Differenzierung könnte man freilich süffisant fragen, inwiefern a) für Hegel außer Gott zu sein, damit gleichzusetzen ist, wie weit man außer Hegels System ist, bzw. inwiefern sich b) umgekehrt für Hegel nicht doch im Denken seines Systems das In-Gott-Sein zum Gott-Sein steigern lässt.

|| 87 Ebd., S. 336, Z. 35f. 88 Ebd., S. 336, Z. 33f. 89 Ebd., S. 336, Z. 34f. 90 Ebd., S. 337, Z. 6–8. 91 Ebd., S. 337, Z. 14f.

Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist | 255

Nun soll offenbar Hegels System für Hegel aber nicht nur nicht Gott selbst sein, sondern zudem ist für ihn das In-oder-außer-Gott-Sein auch nicht damit identisch, inwiefern sich Menschen dem Buchstaben nach dazu bekennen, Hegelianer zu sein. Denn wer den zweiten Teil von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Die bestimmte Religion, ernst nimmt, der wird nicht vorschnell urteilen, dass es hier kein In-Gott-Sein gibt nach Hegel.92 Ebenso gilt jedoch, dass derjenige, der den dritten Teil der Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Die vollendete Religion ernst nimmt, nicht vergessen kann, dass Hegel hier sein christliches Verständnis von Gott, Welt und Mensch in der Tradition dogmatischer Entwürfe als ein Wirklichkeitsverständnis entwickelt, das sich seiner Ansicht nach erfolgreich kritisch inklusivistisch93 mit sich selbst vermitteln kann.

3 Jacobi, Hegel und der Linkshegelianismus Was ist mit dem Entwickelten an Jacobis Denken gewürdigt? Dies, dass Jacobi Hegel Anlass zu folgender, entscheidenden Positionierung gegeben hat, die bis heute von großer Wichtigkeit ist: Es ist, nimmt man Hegels Göschel-Rezension ernst, keine vollständige Disjunktion, dass man sich in der Hegelinterpretation zwischen einem alle Materialdogmatik bei Hegel verabschiedenden Linkshegelianismus und einem nur Begriffsgirlanden schwingen wollenden Kryptokatechismus entscheiden muss. Was nämlich, wenn Hegel einen neuen Entwurf christlicher Dogmatik zu entwickeln versucht, der gerade nicht diejenigen Inhalte der Tradition über den Haufen werfen will, die Kant über den Haufen warf? Lässt sich denn nicht dieses Unternehmen gerade in Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion eindrücklich verfolgen?94 Das ernsthaft zu erwägen, gefällt einer Lesart Hegels, die theologischen Inhalten prinzipiell abhold ist, freilich ebenso wenig, wie jener Lesart Hegels, die weiter jene Karte gegen Hegel zücken können will, die Jacobi gegen Fichte und Schelling gezückt hat: das Monieren einer nicht vorhandenen Differenz von Gott und Schöpfung. Nun verdanken wir es aber gerade Jacobi, dass Hegel zu dieser Frage in der || 92 Vgl. Friedrich Hermanni: Arbeit am Göttlichen. Hegel über die Evolution des religiösen Bewusstseins. In: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling. Hg. von Friedrich Hermanni, Burkhard Nonnenmacher und Friedrike Schick. Tübingen 2015, S. 155– 183; Friedrike Schick: Zur Logik der Formen bestimmter Religion in Hegels Manuskript zur Religionsphilosophie von 1821. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 55 (2013), S. 407–436. 93 Vgl. Friedrich Hermanni: Kritischer Inklusivismus. Hegels Begriff der Religion und seine Theologie der Religionen. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 55 (2013), S. 136–160. 94 Vgl. Friedrich Hermanni: Hegels Philosophie der vollendeten Religion (s. Anm. 6), S. 381–424.

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Göschel-Rezension noch einmal Stellung bezieht. Was also ist von dieser Stellungnahme zu halten? Will Hegel mit ihr nur dem Atheismus-, Pantheismus- und AntiTheismusvorwurf entgehen, ohne dass der in der Göschel-Rezension markierten Differenz von Gott und Mensch weitere Beachtung zu schenken ist? Freilich ist dies zu unterstellen gleichermaßen bequem für Hegelinterpreten aus der Philosophie, die nichts mit Theologie zu tun haben wollen, wie für Theologen, die in Hegel genau jene Schießbudenfigur sehen wollen, die zu sein Hegel sich in der GöschelRezension verbittet. Und gerade deshalb gibt Letztere auch bleibenden Anlass zu folgenden Fragen: Lebt nicht das Misstrauen, das Hegel in der Frage nach der Trennung von Gott und Schöpfung entgegengebracht worden ist, auch und gerade von Vermengungen linkshegelianischer Positionen mit Hegel selbst? Muss man nicht deshalb dem genannten Misstrauen selbst mit einem Misstrauen begegnen? Macht nicht gerade das Hegels Göschel-Rezension in hervorragender Art und Weise deutlich? – In der Tat sollte im Vorausgegangenen genau dafür argumentiert werden. Denn mit der Differenzierung von einem In-Gott-Sein des Menschen von einem angeblichen Gott-Sein des Menschen verwahrt sich Hegel eben explizit gegenüber einer einseitig auf die Seite des Menschen hin aufgelösten Einheit von Gott und Mensch, die glaubt, dass das Absolute dergestalt nur im Menschen ist, dass es letztlich zu einem Attribut des Endlichen erklärt werden kann. Hegel versucht dies in der Göschel-Rezension als irrtümliche Interpretation seiner philosophischen Theologie zu entkräften ‒ und zwar deshalb, weil Jacobi sich nachzufragen traute und recht damit hatte, den großen Systemen nach Kant die Frage zu stellen, wie sie es denn nun mit dem Verhältnis von Gott und Mensch halten. In der Tat ist das ein wichtiges und keinesfalls geringes Verdienst des die Theologie betreffenden Denkens Jacobis – ganz gleich wie man sich zu Jacobis eigener Position und Motivation stellen mag. Aber freilich nicht nur daran sollte hier erinnert werden, sondern auch daran, zu welcher Antwort bei Hegel dies im Rahmen seiner Göschel-Rezension führte. Nicht vergessen sei gleichwohl Folgendes: Darüber, wie gelingend Hegel sein Drittes, das es nach Jacobi nicht gibt, ausbuchstabiert, ist mit dem oben Entwickelten noch nichts entschieden. Und ebensowenig entschieden ist damit die Frage, was von Hegels, mit dem dritten Teil seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion gelieferten materialdogmatischen Entwurf theologisch zu halten ist. Dies alles zu diskutieren bleibt weiter wünschenswert. Verschüttet wird diese Diskussion durch all jene, die Gott in Hegels Entwurf ungeprüft im Menschen aufgehen sehen wollen und die Vollständigkeit der Disjunktion Jacobis fraglos voraussetzen. Die Frage nach einem Dritten zu Jacobis Disjunktion wird so von zwei Seiten begraben: Die eine Seite will weiter jene Transzendenz Gottes, die Hegel nicht wollte, weil sie – an die Vollständigkeit der jacobischen Disjunktion glaubend – diesen Weg für die einzige Alternative zum Linkshegelianismus hält. Die andere Seite ist diejenige linkshegelianische Tradition selbst, die eine kritische Auseinandersetzung mit Strauß für unnötig hält und für eine Immanenz Gottes eintritt, die Hegels Differenzierung von Immanenz und Identität in der Göschel-

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Rezension unterläuft. Beide Seiten sind sich dabei in einer geradezu irrwitzigen Allianz darin einig, dass Hegels Auseinandersetzung mit Inhalten der materialen Dogmatik nicht allzu ernst zu nehmen ist. Hegels Göschel-Rezension ist ein eindrucksvoller Text, der bezeugt, dass – zumindest Hegels eigenem Anspruch nach – beide Seiten seiner Position unrecht tun.

Gunther Wenz

Spinozismus substanzloser Subjektivität Jacobi und Jean Paul wider Fichtes Ichphilosophie

1 Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798). Vom Pantheismus- zum Atheismusstreit Die Urszene, die den Pantheismusstreit auslösen und eine ganze Generation von Denkern beeindrucken sollte,1 spielt in Wolfenbüttel. Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)2 war dort am 5. Juli 1780 in der Absicht eingetroffen, Lessing (1729–1781) zu sehen. Nach einer ersten Begegnung besuchte ihn dieser am nächsten Tag in seiner Logis (vgl. JWA I/1, 15, 20ff.), um alsbald Goethes Prometheus-Ode3 mit der

|| 1 Vgl. etwa Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a. M. 1974. 2 Friedrich Heinrich Jacobi wurde am 25. Januar 1743 als zweiter Sohn eines gebildeten und wohlhabenden Inhabers eines Manufakturwarengeschäfts in Düsseldorf geboren. Bereits während seiner Kaufmannsausbildung in Frankfurt (1759) und Genf (1759–1762) widmete er sich in starkem Maße der Philosophie seiner Zeit. Er lernte Voltaire kennen, knüpfte Kontakte mit Rousseauisten und las u. a. die Werke des Naturforschers und Naturphilosophen Charles de Bonnet, der Lessing, Lavater und Goethe beeinflusste, sowie des geistlichen Schriftstellers, Sekretärs der Académie Française und Förderers der Gruppe der Enzyklopädisten Charles Pino-Duclos. 1764 übernahm er in Düsseldorf das väterliche Handelsgeschäft, aus dem er sich aber bald schon zurückzog, nachdem er durch seine Heirat mit der aus Aachen stammenden Elisabeth von Clermont seinen Vermögensstand beträchtlich hatte steigern können. 1772 wurde Jacobi Hofkammerrat im Herzogtum Berg, wo er rege wirtschaftspolitische Aktivitäten entwickelte. 1779 erfolgte die Berufung als Geheimrat und Ministerialreferent für das Zoll- und Handelswesen durch den bayerischen Kurfürsten Karl Theodor in das Innenministerium nach München. Als Wirtschaftsliberaler und Anhänger der Lehren von Adam Smith hatte Jacobi zwar anfangs Erfolge aufzuweisen, zog sich aber bald schon viele Feindschaften zu, die ihn zur Rückkehr nach Düsseldorf zwangen. Neben dem dortigen Stadthaus bewohnte er das nahegelegene Gut Pempelfort, das er von seinem Vater überschrieben bekommen hatte und das er zu einer Begegnungsstätte bedeutender Geister der Zeit machte. Zur weiteren Lebensgeschichte und zum Werk Jacobis vgl. Günther Baum: Jacobi, Friedrich Heinrich. In: TRE 16, S. 434–438. Zitiert werden die Werke Jacobis nach der von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke herausgegebenen Gesamtausgabe (= JWA). 3 Zu ihrer Geschichte und zur Frage, warum sie zum »Zündkraut einer Explosion« (vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. Fünfzehntes Buch; dazu den Kommentar zu JWA I,1, S. 45, S. 32f. in JWA I,2, S. 427f., ferner S. 425f.) werden sollte, vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979, S. 438– 466. https://doi.org/10.1515/9783110727340-013

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provozierenden Bemerkung gereicht zu bekommen: »Sie haben so manches Aergerniß gegeben, so mögen Sie auch wohl einmal eins nehmen« (JWA I/1, 16, 10f.). Daraufhin entspann sich folgender Disput: Leßing. (Nachdem er das Gedicht gelesen, und indem er mir’s zurück gab) Ich habe kein Aergerniß genommen; ich habe das schon lange aus der ersten Hand. Ich. Sie kennen das Gedicht? Leßing. Das Gedicht hab’ ich nie gelesen; aber ich find’ es gut. Ich. In seiner Art, ich auch, sonst hätte ich es Ihnen nicht gezeigt. Leßing. Ich meyn’ es anders ... Der Gesichtspunct, aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt ... Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan! Ich weiß nichts anders. Dahin geht auch dieß Gedicht; und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr. Ich. Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden. Leßing. Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen andern. Ich. Spinoza ist mir gut genug: aber doch ein schlechtes Heil das wir in seinem Namen finden! Leßing. Ja! Wenn Sie wollen! ... Und doch ... Wissen Sie etwas besseres? ... (JWA I/1, 16,12–17,6)

Nachdem er ihn in Briefen an den jüdischen Gelehrten Moses Mendelssohn veröffentlicht hatte, machte Jacobis Wolfenbüttler Disput mit Lessing Geschichte. Während sich anfangs das Interesse des Publikums vor allem auf die Frage richtete, ob Lessing am Ende seines Lebens heimlicher Spinozist gewesen sei oder nicht, wandelte sich der Streit um Lessings Spinozismus rasch zu einem Streit um Gott, zum sog. Pantheismusstreit. Die Devise der Antispinozisten hatte Jacobi selbst mit dem Schlagwort angegeben: »Spinozismus ist Atheismus« (JWA I/1, 120, 19). Ob man ihn als Kosmotheismus, akosmistischen Pantheismus oder wie auch immer bezeichne, mache letztlich keinen Unterschied: denn offenkundig sei, dass der Glaube an einen welttranszendenten persönlichen Gott, der als frei wollende und wirkende Intelligenz die Welt verursacht hat und erhält, im Spinozismus keinen Platz habe. In seiner antitheistischen Leugnung der überkommenen Gottesvorstellung ist der Spinozismus nach Jacobis Urteil kein Einzel- oder Spezialfall, sondern exemplarisch für dasjenige, was unter modernen Bedingungen Wissenschaft heißt. Alle konsequent betriebene moderne Wissenschaft laufe auf die Annahme hinaus, »dass kein Gott sey« (JWA I/1, 347, 8). Wissenschaft, die sich folgerichtig an die sie leitenden Verstandesgesetze hält, ersetzt nach Jacobi mit innerer Notwendigkeit die Vorstellung einer persönlichen Gottheit jenseits der Welt durch den Gedanken eines nach Analogie eines Organismus bestimmten kosmischen Ganzen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine von der Welt unterschiedene Ursache der Dinge werde nicht nur nicht mehr in Anschlag gebracht, sondern geleugnet oder durch einen Grund substituiert, der den Kosmos innerlich durchwirkt und nur in diesem Sinne als seine Seele gelten kann. Freiheit könne dieser Seele nicht bzw. nur in einer Form zuerkannt werden, welche mit substantieller Notwendigkeit koinzidiere. Die Idee eines göttlichen Personsubjekts, welches die Welt mittels eines Willens begründe

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und durchwalte, der jedwede Form von verstandeseinsichtiger Notwendigkeit transzendiere, sei in jedem Falle preisgegeben. Diese Preisgabe aber komme einer atheistischen Verabschiedung des Theismus gleich. Der spinozistische Atheismus ist nach Jacobi beispielhaft für moderne Wissenschaft, weil er in typischer und vollendeter Realisierung ihrer Ideale alles aus einer inneren Natur der Dinge heraus entwickle, der nichts vorausgehe und mit der alles seinen anfanglosen Anfang nehme. Das All der Dinge gründe und bestehe danach in einem in sich geschlossenen Mechanismus (vgl. JWA III, 95, 21f.), der »außer sich weder Ursache noch Zweck« habe (vgl. JWA III, 95, 23). Im Sinne eines autopoetischen Systems, das, allgenugsam in sich, die Bedingungen seines Bestands und Erhalts in sich trage, werde Natur zum Inbegriff allen Seins erklärt, zum Ein und Alles, außer welchem nichts sei. Wie moderne Wissenschaft, deren Ideal er repräsentiere, sei Spinozismus Naturalismus und als Naturalismus Inbegriff eines monistischen, aus einem Prinzip abgeleiteten, in sich vollendeten, alles Erkennbare umfassenden Systems, das von jeder externen Weltursache absehe und dessen methodisches Interesse es sein müsse, dass kein übernatürliches, kein außerweltliches Wesen, kurzum: dass kein Gott sei. Jacobi setzt dem spinozistischen Naturalismus, in dem er das Ideal moderner Rationalität und Wissenschaft sieht, in scharfem Kontrast sein theistisches Glaubensbekenntnis zu Gott als einem trans- und supranaturalen Personwesen entgegen, welches die Welt und alles, was in ihr ist, mit Vernunft und willentlich begründet, erhält und regiert. Nach Maßgabe des wissenschaftlichen Verstandes und der ihm eigenen Rationalität entbehre der theistische Glaube zwar jedweden argumentativ ausweisbaren Grundes; gleichwohl sei er vernünftig, freilich nicht im Sinne rationaler Verständigkeit, deren Logik durch Berechnung und durch den Mechanismus der Zählung bestimmt sei, sondern im Sinne jenes Vernunftgefühls, dem mit unmittelbarer Evidenz einleuchte und zur Glaubensgewissheit werde, was Grundlage aller humanen Theorie und Praxis zu sein habe und tatsächlich sei, obwohl es durch beständiges Denken und verstandesgeleitetes Handeln nicht erfasst werden könne. »Lieber Mendelssohn«, schreibt Jacobi in einem seiner Briefe über die Lehre des Spinoza, wir alle werden im Glauben gebohren, und müssen im Glauben bleiben, wie wir alle in Gesellschaft gebohren werden, und in Gesellschaft bleiben müssen: Totum parte prius esse necesse est. − Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn uns Gewißheit nicht zum voraus schon bekannt ist; und wie kann sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas das wir mit Gewißheit schon erkennen?4

|| 4 JWA I,5, S. 151.

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So wie die Realität der Außenwelt in Form ursprünglichen Fühlens auf nichtfalsifizierbare Weise wahrgenommen wird, so wird das Ich des transzendenten Grundes, auf dem sein Selbst und seine Welt basieren, mit unmittelbarer Gewissheit inne, ohne für seinen Ursprungsglauben zusätzlicher Beglaubigungen zu bedürfen, die stets nur Operationen »aus der zweyten Hand« (JWA I/1, 115, 26) zu sein vermögen. Einen durch rationale Metaphysik ausweisbaren Grund für seinen theistischen Gottesglauben zu haben behauptet Jacobi nicht nur nicht, sondern stellt er ausdrücklich in Abrede. Der Grund von Selbst und Welt ist ihm zufolge nur im Gefühl und in der Unmittelbarkeit des Glaubens offenbar. Im Gefühl freilich ist er nicht nur mit jener Gewissheit präsent, die als die Grundlage aller sinnvollen und vernünftigen Wissens- und Handlungsvollzüge zu gelten habe, sondern zugleich so gegenwärtig, dass seine Welt- und Selbsttranszendenz sowie seine Personalität unmittelbar einleuchten. Ist doch nach Jacobi im gläubigen Ursprungsgefühl das Innewerden bzw. Innesein der Endlichkeit von Selbst und Welt ebenso mitgesetzt wie das Empfinden, das der selbst- und welttranszendente Grund kein apersonales, sondern nur ein solches Wesen sein kann, das mit Sein zugleich Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu begründen, zu erhalten und vernünftig und willentlich zu steuern vermag. Im Glauben, der nach Jacobi mit dem ursprünglichen Vernunftgefühl eins ist, nimmt die Menschenseele mit derselben Gewissheit, mit der sie weiß, dass sie ist und dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, wahr, dass weder sie noch die leibhafte Welt und alles, was in ihr ist, unmittelbar in sich gründen. Weder Selbst noch Welt können daher das Ein und Alles sein. Indem die Menschenseele dessen inne wird, wird sie zugleich in Form unmittelbaren Daseinsgefühls des transzendenten Gottes gewahr, ohne von ihm und seiner Transzendenz einen wissenschaftlichen, metaphysischen Begriff zu haben. Angemessen von ihm die Rede sein kann nur in religiöser Metaphorik und in einer Gleichnissprache, die von Herzen kommt und zu Herzen geht. Knapp zwei Jahrzehnte nach Beginn des Pantheismusstreits um Spinoza und den Spinozismus nahm der sog. Atheismusstreit seinen Anfang. Ausgelöst wurde er durch Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) Schrift Ueber den Grund unsres Glaubens an eine göttliche WeltRegierung,5 die im Oktober 1798 zusammen mit einem Text des Fichteschülers Friedrich Karl Forberg zur «Entwickelung des Begriffs der Religion« im ersten Heft des achten Bandes des von Fichte und Friedrich Immanuel Niethammer gemeinsam herausgegebenen Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten publiziert wurde. Darin wurde die Rechtmäßigkeit der Anwen-

|| 5 In: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (= Fichte, Akad.-Ausg.). Werke Bd. I, 5: Werke 1798–1799. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 347–357.

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dung des Begriffs sowohl der Substanz als auch der Person auf Gott bestritten und mit ihr die gedankliche Legitimität, ihm selbstbewusste Vernunft, vernünftigen Willen und entsprechende Selbsttätigkeit zuzuschreiben. Gott, so Fichte, sei kein transzendentes Personwesen, sondern der Inbegriff der moralischen Weltordnung, wie sie praktischer Vernunft unmittelbar erschlossen und im kategorischen Imperativ des Sittengesetzes in unbedingt verbindlicher Weise zum Ausdruck gebracht werde. Für Fichte ergab sich die Position, die er in seiner erwähnten Schrift von 1798 einnahm, konsequent aus seinem Kantianismus, auf dem das im Werden begriffene System der Ichphilosophie aufbaute. Erstmals skizziert ist es in einer 1794 in Weimar publizierten Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie.6 Die konzeptionelle Ausführung der Systemskizze ließ er noch im selben Jahr unter der Überschrift Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre7 als Handschrift für seine Zuhörer in Leipzig erscheinen. Erklärtes Ziel war es, die Philosophie Kants, als deren authentischer Repräsentant Fichte seit seinem Versuch einer Critik aller Offenbarung8 von 1792 galt, dadurch zu vollenden, dass er die Sonderung ihrer Prinzipien überwinde bzw. verhindere und sie auf einen fundierenden Grund zurückführe, um hieraus die gesamte Philosophie als Wissenschaft der Wissenschaft zu entwickeln. Fichtes philosophische Wissenschaftslehre, von der er neben Einleitungen in sie fast jedes Jahr eine neue Fassung entworfen hat, basiert auf dem – bereits in der im Februar 1794 erschienenen sog. Aenesidemusrezension vertretenen – Grundsatz von dem in absoluter Selbsttätigkeit sich selbst setzenden Ich, »das durch seine Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich bestimme«.9 Was Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre gesagt wird, ergibt sich hieraus. Alles philosophische Streben ist

|| 6 Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft. Weimar 1794. In: Fichte: Akad.-Ausg., I/2 (1793–1795), S. 107–172; zur Einführung vgl. S. 93ff. 7 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. Leipzig 1794. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/2, S. 249–451; zur Einführung S. 175ff., zur Haltung Jacobis S. 230ff. 8 Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Critik aller Offenbarung. Königsberg 1792. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/1, S. 17–123; zur Einführung vgl. S. 1ff., zur Zweitauflage von 1793 vgl. S. 125ff. Der zunächst anonym erschienene Text wurde anfangs für die erwartete Religionsschrift Kants gehalten. 9 Johann Gottlieb Fichte: Rez. Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik, 1792. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/2, S. 41–67, hier S. 65; zur Einleitung vgl. S. 33ff. Hinter dem Namen des antiken Skeptikers Aenesidemus verbarg sich der Philosoph Gottlob Ernst Schulze (1761–1833), der Lehrer Arthur Schopenhauers. AenesidemusSchulze war ein entschiedener Gegner der von Karl Leonhard Reinhold weitergebildeten Transzendentalphilosophie.

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in Theorie und Praxis auf ein absolutes Ich ausgerichtet, das in, mit und durch sich selbst zugleich dasjenige setzt, was es nicht unmittelbar selbst ist, und in der unendlichen Selbsttätigkeit seiner Freiheit mit dem Nicht-Ich auch dessen Differenz zu jedem von ihm unterschiedenen Ich umgreift. Als Fluchtpunkt endlichen Denkens und Tuns bedingt das unendliche Ich nicht nur die Möglichkeit jedes konkreten Wissens- und Handlungsvollzugs, sondern begründet zugleich die Wissenschaft von der Wissenschaft, um als Prinzip der Philosophie zu fungieren. Nachdem im Schlussteil der Studie über ihren Begriff bereits eine »[h]ypothetische Eintheilung der Wissenschaftslehre« (Fichte, Akad.-Ausg. I/2, 150) gegeben worden war, wurden in der Schrift über ihre Grundlage sowohl diejenige des theoretischen Wissens als auch der Wissenschaft des Praktischen genau entwickelt und zwar auf der Basis dreier Grundsätze der sog. Wissenschaftslehre, deren erster – schlechthin unbedingter, in seiner Absolutheit weder zu beweisender, noch zu bestimmender, sondern sich von selbst verstehender und zu verstehen gebender – auf diejenige Tathandlung bezogen ist, »die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, vielmehr allem Bewustseyn zu Grunde liegt, und allein es möglich macht« (Fichte, Akad.-Ausg. I/2, 255). Dieser »absoluterst[e] Grundsaz« (ebd.) lautet dahingehend, dass das Ich sich selbst setzt, um vermöge dieses Setzens zu sein, wie denn umgekehrt sein Sein in nichts anderem besteht als im Setzen seiner selbst. Aus dem Prinzip des absoluten Ich ergeben sich die beiden Folgegrundsätze, deren erster als Satz des Entgegensetzens auf das Nicht-Ich als auf dasjenige bezogen ist, was nicht Ich bzw. Ich nicht ist, und deren zweiter als »nicht wie jener, von Einem, sondern von Zwey Sätzen« (Fichte, Akad.-Ausg. I/2, 268) bestimmter sich nach Fichte in folgender Formel ausdrücken lässt: »Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen« (Fichte, Akad.-Ausg. I/2, 272). Damit ist gesagt, dass das absolute Ich im Vollzug seiner Selbstsetzung die Voraussetzung sowohl von Nicht-Ich als auch des durch den Unterschied von diesem bestimmten Ich ist, deren relative Differenz es sowohl begründet als auch in sich begreift. In seiner unbedingten Selbsttätigkeit fungiert das absolute Ich als Negationsfähigkeit überhaupt, als alles bestimmende Wirklichkeit, die als fundierender Grund von Selbst und Welt deren Unterschied in sich befasst. Das absolute Ich ist kraft seiner unbedingten Tathandlung in sich eins, aber als Identität von Identität und Differenz, welche das Streben des Ich und das Gegenstreben des Nicht-Ich in sich birgt, jedoch auf ichhafte Weise und mithin dergestalt, dass das vom Nicht-Ich unterschiedene Ich mit Grund gewiss sein kann, sich auch unter den Bedingungen von Nicht-Ich auf Vollendung hin realisieren zu können, weil es in dem, was es nicht unmittelbar selbst ist, auf keine definitive Schranke stößt. In den Jahren nach 1794 arbeitete Fichte mit der ihm eigenen Energie kontinuierlich an der Befestigung und Explikation seines Systems. Nach Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten gab er Ende Juli 1795 als Handschrift für seine Zuhörer einen Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das

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theoretische Vermögen heraus, der einen Systemteil der Wissenschaftslehre ansatzweise ausführt. Auf der Basis des in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre fundierten Satzes: »das Ich sezt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich«10 sucht er mit der Deduktion von Raum und Zeit die Notwendigkeit der im Nicht-Ich inbegriffenen Mannigfaltigkeit zu beweisen, mit der es das Ich zu tun bekommt, ohne deshalb aufzuhören, Prinzip der Einheit des Verschiedenen zu sein. Im darauffolgenden Jahr wurde die Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre11 entwickelt und zwar in drei Hauptstücken, deren erstes die Deduktion des Begriffs des Rechts anhand dreier Leitsätze zur Aufgabe hatte. Danach kann ein endliches Vernunftwesen sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben, wobei hinzuzufügen ist, dass es durch das Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit eine Sinnenwelt außer sich setzt, um sie zu bestimmen (vgl. Fichte, Akad.-Ausg. I/3, 329ff., 335ff.). Zugleich ist es ihm unmöglich, sich selbst eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuzuschreiben, ohne dies in entsprechender Weise auch in Bezug auf andere endliche Vernunftwesen zu tun, deren externe Existenz anzunehmen sei. Daraus ergibt sich der Begriff der Gerechtigkeit nach Maßgabe des dritten Lehrsatzes des ersten Hauptstücks, welcher besagt, dass ein endliches Vernunftwesen andere endliche Vernunftwesen außer sich nicht annehmen kann, ohne sich als in einem bestimmten Rechtsverhältnis zu ihnen stehend zu setzen. Es gilt die Maxime: »Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken« (Fichte: Akad.-Ausg. I/3, 358; bei Fichte kursiv). Die verbleibende Aufgabe der beiden folgenden Hauptstücke der nach Prinzipien der Wissenschaftslehre entwickelten Grundlage des Naturrechts besteht darin, die Anwendbarkeit des seiner Bestimmung zugeführten Rechtsbegriff auf individuelle Personen in ihrer leibhaften Verfassung zu deduzieren und ihn schließlich zur konsequenten Anwendung zu bringen durch Statuierung dessen, was Fichte Urrecht nennt, durch Errichtung eines gesetzlichen Zwangsrechts sowie das Staatsrecht als geltendes Recht in einem Gemeinwesen. 1797 hat Fichte dem Staatsrecht als angewandtem Naturrecht in Fortführung und als zweiten Teil der Grundlegung eine eigene Untersuchung gewidmet.12 Noch im Laufe des Jahres 1797 erschien dann bis zu Anfang 1798 in verschiedenen Lieferungen der Zeitschrift Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, die Fichte gemeinsam mit Friedrich Immanuel Niethammer herausgab, ein weiterer Versuch einer neuen Darstellung der || 10 Johann Gottlieb Fichte: Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer. Jena, Leipzig 1796. In: Fichte: Akad.Ausg. I/3, S. 137–208, hier: S. 143; zur Einführung S. 129ff. 11 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Jena, Leipzig 1796. In: Fichte. Akad.-Ausg. I/3, S. 311–460; zur Einführung S. 291ff. 12 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht. Jena, Leipzig 1797. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/4, S. 1–165.

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Wissenschaftslehre, allerdings ohne vollendet zu werden. Fichte erstrebte darin eine bessere Fasslichkeit seiner Darstellung – wie er denn überhaupt darum bemüht war, die, um mit der Vorlesungsankündigung für Wintersemester 1796/97 zu reden, »fundamenta philosophiae transcendentalis nova methodo« zu entfalten, ohne freilich wegen der neuen Methode die ursprüngliche Einsicht seiner Wissenschaftslehre zur Disposition zu stellen. Sie bleibt erhalten und wird bestätigt, wie man anhand der zur Ostermesse 1798 erschienenen umfangreichen Monographie Das System der Sittenlehre nach den Prinicipien der Wissenschaftslehre13 exemplarisch studieren kann, die nur deshalb nicht die zu erwartende Aufmerksamkeit des gelehrten Publikums auf sich zog, weil bald danach der sog. Atheismusstreit ausbrach. Inhaltlich bleibt es bei dem Grundsatz der absoluten Identität von Subjekt und Objekt im Ich, auf den Fichte im ersten Abschnitt der Einleitung seines Systems der Sittenlehre sogleich zu sprechen kommt. Zwar könne die Richtigkeit dieses Satzes nicht unmittelbar als Tatsache des Realbewusstseins nachgewiesen werden; aber dies sei nachgerade deshalb der Fall, weil die absolute Icheinheit von Subjekt und Objekt allen wirklichen Bewusstseinsvollzügen bereits zugrunde liege und die Basis tatsächlichen Selbstbewusstseins bilde (vgl. Fichte: Akad.-Ausg. I/5, 21). Fichtes ursprüngliche Einsicht ist damit noch einmal umschrieben. Wie gelangt man zu ihr? Die Antwort darauf ist in der Vorrede der 1800/1801 in zwei Auflagen erschienen Schrift über Die Bestimmung des Menschen gegeben, mit der sich Fichte erstmals nicht an ein professionell geschultes, sondern an ein an Fragen der Philosophie interessiertes Allgemeinpublikum gewendet hat. Sie besagt, daß der Ich, welcher im Buche redet, keinesweges der Verfasser ist, sondern daß dieser wünscht, sein Leser möge es werden; – dieser möge nicht bloß historisch fassen, was hier gesagt wird, sondern wirklich und in der That während des Lesens mit sich selbst reden, hin und her überlegen, Resultate ziehen, Entschließungen fassen, wie sein Repräsentant im Buche, und durch eigne Arbeit und Nachdenken, rein aus sich selbst, diejenige Denkart entwickeln, und sie in sich aufbauen, deren bloßes Bild ihm im Buche vorgelegt wird.14

Damit ist der hermeneutische Schlüssel zum Werk nach Maßgabe seines Autors umschrieben und zugleich die Regel angegeben, wie endliche Ichwesen zum absoluten Ich ins Verhältnis zu setzen sind. Fichtes Philosophie hatte, wie Heinrich Heine in seinen Notizen Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland schreibt, »immer viel von der Satyre

|| 13 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinicipien der Wissenschaftslehre. Jena, Leipzig 1798. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/5, S. 19–317; zur Einführung S. 1ff. 14 Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Berlin 1800. In: Fichte: Akad.-Ausg. I/6, S. 183–309, hier: S. 189f.; zur Einführung S. 147ff.

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auszustehen«.15 Dabei kam Spöttern, wie er hinzufügt, ein Missverständnis zustatten, das auf der Verkennung der hermeneutischen Anweisung Fichtes beruhte, zwischen Ichphilosophie und Philosophenich (sowie allen anderen empirischen Subjekten) sorgsam zu unterscheiden. Der große Haufe meinte nemlich, das Fichtesche Ich, das sey das Ich von Johann Gottlieb Fichte, und dieses individuelle Ich läugne alle anderen Existenzen. Welche Unverschämtheit! riefen die guten Leute, dieser Mensch glaubt nicht daß wir existiren, wir die wir weit korpulenter als er und als Bürgermeister und Amtsaktuare sogar seine Vorgesetzten sind! Die Damen fragten: glaubt er nicht wenigstens an die Existenz seiner Frau? Nein? Und das läßt Madame Fichte so hingehn?16

2 Brief an Fichte (1799) und Clavis Fichtiana (1800). Gegen den transzendental-philosophischen Nihilismus Friedrich Heinrich Jacobi war nicht nur ein ehrbarer, sondern auf seine Weise auch ein friedfertiger Mann. Dies hinderte ihn nicht, in heftige intellektuelle Auseinandersetzungen und akademische Kriege einzutreten, wenn ihm dies als sachlich geboten erschien. Was seine Rolle im Atheismusstreit17 anbelangt, so schaltete er || 15 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf (= DHA). Bd. 8/1. Hamburg 1979, S. 93. Heine gibt mit seiner Fichtedarstellung selbst eine Bestätigung dieser Aussage. Die Operation, wonach das Ich über seine intellektuellen Handlungen Betrachtungen anstellen solle, während es sie ausführe, mahne uns, so heißt es, »an den Affen, der am Feuerheerde vor einem kupfernen Kessel sitzt und seinen eigenen Schwanz kocht. Denn er meinte: die wahre Kochkunst besteht nicht darin, daß man bloß objektiv kocht, sondern auch subjektiv des Kochens bewußt wird« (ebd.). 16 Ebd.: »Das Fichtesche Ich ist aber kein individuelles Ich, sondern das zum Bewußtseyn gekommene allgemeine Welt-Ich. Das Fichtesche Denken ist nicht das Denken eines Individuums, eines bestimmten Menschen, der Johann Gottlieb Fichte heißt; es ist vielmehr ein allgemeines Denken, das sich in einem Individuum manifestirt. So wie man sagt: es regnet, es blitzt u. s. w., so sollte auch Fichte nicht sagen ›ich denke‹, sondern ›es denkt‹, ›das allgemeine Weltdenken denkt in mir‹« (DHA 8/1, S. 94). Es folgt ein Vergleich Fichtes mit Napoleon, der sich zur Französischen Revolution ähnlich verhalte wie die Ichphilosophie zu Kants Revolution der Denkungsart. Hierzu und zu Heines Beschäftigung mit Fichte vgl. DHA 8/2, S. 900ff. 17 Zum genauen Verlauf der Ereignisse und zu näheren Angaben bezüglich der einschlägigen Schriften vgl. Gunther Wenz: Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer. Göttingen 2008, bes. S. 149ff. Den sog. Theismusstreit Jacobis und Schellings habe ich kurz dargestellt in der Studie: Der Glaubensphilosoph. Eine Erinnerung an Friedrich Heinrich Jacobi und seinen Streit mit Schelling 1811/12. In: Kerygma und Dogma 57 (2011), S. 112–139. Eine sehr viel ausführlichere Darstellung ist im 2. Heft des Jahrgangs 2011 der Sitzungsberichte der Philosophisch-

268 | Gunther Wenz sich in ihn in den Märztagen des Jahres 1799 in Form eines Briefes18 ein, der zunächst »unmittelbar und allein für den Mann« (JWA II/1, 191, 4) bestimmt sein sollte, an den er gerichtet war, nämlich Fichte, und erst rund ein halbes Jahr später veröffentlicht wurde. In dem der Publikation beigegebenen Vorbericht scheint es so, als wolle Jacobi die Philosophie Fichtes, die für ihn vor allem durch die Wissenschaftslehre repräsentiert wird, vor dem Atheismusvorwurf in Schutz nehmen: »Man hat«, heißt es, seine Philosophie des Atheismus beschuldigt, mit Unrecht, weil Transcendentalphilosophie, als solche, so wenig atheistisch seyn kann, als es Geometrie und Arithmetik seyn können. Nur kann sie, aus demselben Grunde, auch schlechterdings nicht Theistisch seyn. (JWA II/1, 192, 17–21).

Vordergründig betrachtet kann man mit Jacobis Diktum eine apologetische Absicht verbinden. Hintergründig dagegen zielt sie darauf, die Causa Fichte zu einem Fall zu erklären, der die gesamte Transzendentalphilosophie betrifft. Über die Form, die Kant der Transzendentalphilosophie gegeben hat, urteilt Jacobi ambivalent, wie man u. a. einer Beilage über den transzendentalen Idealismus in dem ›Gespräch‹ David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (JWA II/1, 5–112, hier: 103ff.) entnehmen kann. Begründet ist diese Ambivalenz eigenen Angaben zufolge in einer Zweideutigkeit, welche zur Eigenart kantschen Denkens gehöre. Sie trete sowohl innerhalb der theoretischen als auch innerhalb der praktischen Philosophie, am offenkundigsten aber in der Bestimmung des Verhältnisses beider zutage, wie Kant sie vornehme. Das Grundproblem, das Jacobi mit dem Ansatz von Kants Kritik der reinen Vernunft verbindet, besteht in der Annahme objektiv gegebener Realität, die systemintern ebenso unverzichtbar wie unhaltbar sei. Dieses Problem hat in dem Bekenntnis sprichwörtlichen Ausdruck gefunden, beim Kantstudium unaufhörlich darüber irre geworden zu sein, »daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte« (JWA II/1, 109, 24–26).

|| Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gegeben: Gunther Wenz: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Zum Streit Jacobis mit Schelling 1811/12. München 2011. 18 Vgl. Jacobi an Fichte, Hamburg 1799. In: JWA II/1, S. 187–225. S. 227ff.: Beylagen. Die Entstehungsgeschichte des Schreibens an Fichte ist genauestens rekonstruiert in JWA II/2, S. 471–480 und zwar unter widerholter Bezugnahme auf Jean Paul, dem Jacobi am 19. Februar 1799 mitteilte, er werde ihm seinen Fichtebrief zusenden, sobald dieser geschrieben sei. Der Hauptteil des Briefs ist im März des Jahres fertiggestellt worden, ohne dass der Autor bereits eine Publikation ins Auge gefasst hatte. Der Entschluss zu ihr wird auf Anregung des Philosophen Karl Leonhard Reinhold erst einige Zeit später gefasst. Vor der Drucklegung sind einige Modifikationen vorgenommen worden, zum Teil auf ausdrücklichen Wunsch Fichtes. Erschienen ist Jacobi an Fichte mit einem Vorbericht, drei Beilagen und Anhangstudien versehen im Herbst 1799.

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Eine Lösung des Dilemmas ist nach Jacobi nur durch Anerkennung dessen zu erwarten, was er das ursprüngliche, Realität in unmittelbarer Evidenz vergewissernde Vernunftgefühl nennt, wohingegen die Erkenntnis des sich selbst überlassenen Verstandes sich darin erschöpfen muss, ein bloßes »Bewußtseyn verknüpfter Bestimmungen unseres eigenen Selbstes [zu sein], woraus auf gar nichts anderes geschlossen werden kann« (JWA II/1, 110, 30f.): »Kurz unsere ganze Erkenntniß enthält nichts, platterdings nichts, was irgend eine wahrhaft objective Bedeutung hätte.« (JWA II/1, 111, 6–8) Jacobi schließt mit der Feststellung, dass der transzendentale Idealist nur dann nicht in wahrhaft unaussprechliche Widersprüche gerate, wenn er den Mut besitze, »den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten, und selbst vor dem Vorwurfe des spekulativen Egoismus sich nicht zu fürchten« (JWA II/1, 112, 15–18). Diesen Mut zur äußersten Konsequenz wird Jacobi erst bei Fichte gegeben sehen, welcher den Kritizismus nach seinem Urteil folgerichtig in den Nihilismus treiben sollte, was Kant selbst wegen seiner hintergründig wirksamen Elementarüberzeugungen unter allen Umständen und sogar um den Preis systematischer Inkonsequenz zu vermeiden gesucht habe.19 Nach Jacobi verhält sich Fichte zu Kant wie Jesus Christus zu Johannes dem Täufer, wenngleich im Modus der Verkehrung. Als Messias spekulativer Vernunft habe dieser vollendet, was durch jenen verheißen worden sei, wenngleich in der für Verheißungen charakteristischen Uneindeutigkeit. Fichte habe den bei Kant noch begrenzten transzendentalphilosophischen Ansatz entgrenzt und zu einem Ideal-

|| 19 Kants System ist uneinig mit sich selbst: Diese Diagnose bestätigt sich Jacobi in Ansehung der transzendentalen Dialektik Kants, die nur einen regulativen, keinen objektiven Gebrauch der Gottesidee erlaube, ebenso wie im Hinblick auf die Kritik der praktischen Vernunft und die ihr zugeordnete Religionsphilosophie. Beide bewertet er als Verlegenheitslösungen und den halbherzigen Versuch, den Verlust der theoretischen Realitätsbeweise der traditionellen metaphysischen Ideen durch eine moralische Postulatenlehre zu ersetzen. Was diese fordere, könne sie nicht einlösen. Es war daher nach Jacobis Auffassung kein Zufall, dass »schon die leibliche Tochter der kritischen Philosophie, die Wissenschaftslehre, […] die vom Vater ausgedachte Hülfe zu gebrauchen [verschmähte]. Ohne Kantische Postulate brachte sie ein reineres und bündigeres System der Sittenlehre als das von dem Urheber der kritischen Philosophie aufgestellte hervor, und nahm damit der neuerfundenen Moraltheologie ihren Grund und Boden« (JWA III, S. 75, 31–36). Einerseits im Gegensatz zu Kant, andererseits durchaus in seiner Nachfolge und unter Berufung auf ihn habe Fichte die moralische Weltordnung selbst zum Gotte erklärt, zu einem Gott »ausdrücklich ohne Bewußtseyn und Selbstseyn« (JWA III, S. 75, 37–76, 1). Der fichtesche Gott ist »kein von der Welt und dem Menschen unterschiedenes besonderes Wesen, und nicht die Ursache der moralischen Weltordnung, sondern diese, außer sich selbst weder Grund noch irgend eine Bedingung ihrer Wirksamkeit habende, rein und schlechthin nothwendig seyende Weltordnung selbst« (JWA III, S. 76, 1–5). Die Möglichkeit, Gott Persönlichkeit, Selbstsein, Wissen und Wollen zuzuschreiben, werde von Fichte dezidiert in Abrede gestellt. Denn solche Zuschreibung mache Gott nach seinem Urteil zu einem endlichen Wesen, da sich Personsein nur im Modus der Beschränkung denken lasse. Dem in sich widersprüchlichen Gedanken eines persönlichen Gottes sei daher wissenschaftlich der Abschied zu geben.

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materialismus totalisiert, der nichts anderes sei als Spinozismus substanzloser Subjektivität. Fichtes ichphilosophische Wissenschaftslehre mache dies offenkundig: Eine Wißenschaft, die sich selbst, als Wißenschaft allein zum Gegenstande, und außer diesem keinen Inhalt hat, ist eine Wißenschaft an sich. Das Ich ist eine Wißenschaft an sich, und die Einzige: Sich Selbst weiß es, und es widerspricht seinem Begriffe, daß es außer sich selbst etwas wiße oder vernehme, usw. usw. … Das Ich ist also nothwendig Princip aller anderen Wißenschaften, und ein unfehlbares Menstruum, womit sie alle können aufgelöset und verflüchtiget werden in ICH, ohne irgend etwas von einem Caput mortuum – NICHT-ICH – zu hinterlaßen. – Es kann nicht fehlen: Wenn ICH allen Wißenschaften ihre Grundsätze giebt, daß alle Wißenschaften aus ICH müßen deduciert werden können: Können sie aus ICH allein deduciert werden; so müßen in und durch ICH allein auch alle construirt werden können, in sofern sie construirbar, d. i. in sofern sie Wißenschaften sind. (JWA II/1, 202, 21–203, 5)

Spinozismus ist Atheismus, ließ Jacobi einst kurz und bündig verlauten, um hinzuzufügen: Er sei dies als konsequenter Rationalismus. Diese These wird nun unter veränderten Bedingungen in Bezug auf Fichtes Denken wiederholt und in einer Weise generalisiert und gesteigert, wie dies nach Jacobis Urteil vom Zeitgeist selbst gefordert werde. Sei zu Zeiten des Pantheismusstreits der Theismus im öffentlichen Bewusstsein fest verankert und von der Philosophie weithin geteilt worden, so habe die geistesgeschichtliche Entwicklung inzwischen eine gegenläufige Entwicklung genommen und just an denjenigen Punkt geführt, der durch die Ichphilosophie der fichteschen Wissenschaftslehre repräsentiert und gekennzeichnet sei. Atheistisch war nach Jacobi bereits der Spinozismus, wenngleich als ein Phänomen von beschränkter geistesgeschichtlicher Reichweite. Mittlerweile aber habe sich der Atheismus nicht nur über seine einstigen Grenzen hinaus entschränkt, sondern zugleich eine Form angenommen, welche die pantheistische Gestalt des spinozistischen Atheismus an Abgründigkeit übertreffe bzw. unterbiete. Habe der Rationalismus des Spinoza noch ein materiales Substrat beinhaltet, so sei dieses nach Maßgabe des Mottos, wo Substanz ist, soll Ich werden, in Fichtes Wissenschaftslehre in vollständiger Auflösung begriffen mit der Konsequenz eines, wie Jacobi es nennt, Egoismus, der bodenlos im reinen Nichts gründe. Der fichtesche Atheismus, in dem sich die Spinozarenaissance im Modus der Selbstaufhebung vollende, ist nach seinem Urteil als Negation des Theismus zugleich Negation des Seins überhaupt, kurzum: schierer Nihilismus.20 || 20 Der Nihilismusbegriff stammt zwar nicht von Jacobi, doch hat er ihn »in seinem Brief an Fichte 1799 als erster in die Philosophie eingeführt« (Baum: Jacobi [s. Anm. 2], S. 437). Vgl. Walter MüllerLauter: Art. Nihilismus. In: HWPh 6, Sp. 836–854, hier: Sp. 847; Claudius Strube: Art. Nihilismus. In: TRE 24, S. 524–535, hier S. 525. Ferner: Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin. München 2016. Die Transformation des Indefinitpronomens »nichts« zum nominalisierten »Nichts« (»Nihil«) wird sprachlich im Wesentlichen dadurch nahegelegt, dass »nichts« »zwar in verschiednen grammatikalischen Stellungen, aber mit einem gleichbleibenden Gehalt« (S. 75) auftritt. »Nichts« bezeichnet seiner buchstäblichen Ursprungsbedeutung gemäß die

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Damit war ein Wort in die Welt gesetzt, das aufhorchen ließ und den Nerv der Zeit traf. War der Nihilismus in Jean Pauls (1763–1825) berühmter Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei im ersten Blumenstück des Siebenkäs, das der Dichter im Revolutionsjahr 1789 zehn Jahre vor Ausbruch des Atheismusstreits zu Papier gebracht hatte, noch ein böser Traum, aus dem es ein freudiges Erwachen geben sollte, so schien die nihilistische Leugnung Gottes nun salonfähig geworden zu sein, um immer mehr das allgemeine Bewusstsein zu bestimmen. Jean Paul reagierte und zwar ganz im Sinne Jacobis, dem er als dem 20 Jahre älteren Freund und Ratgeber die Fichtesatire Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana widmete, die im Winter 1799/1800 in kürzester Zeit zu Papier gebracht wurde.21 Zum Titel der den Ernst der Lage in Spott hüllenden Schrift ist folgendes zu bemerken: Im vierten Kapitel des ersten Bandes von Jean Pauls Siebenkäs erhält der Titelheld einen als ›Adams Hochzeitsrede‹ gestalteten Brief seines Freundes, eines gewissen Leibgebers, in dem dieser in die Rolle des Protoplasten schlüpft und überlegt, ob er mit seiner Eva das Urelternpaar des Menschengeschlechts werden wolle oder nicht. Für und Wider werden erwogen. Zunächst scheint alles dafür zu spre-

|| Negation von etwas. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem Negationspartikel ›n‹, aus der Sequenz ›icht‹, die im Althochdeutschen für ›etwas‹ stand, und aus einem ›s‹ als der verbleibenden Spur eines Genitivs, der ehemals der Verstärkung im Sinne von »ganz und gar nicht(s)« diente. Das Pronomen ›nichts‹ steht sonach einerseits für ›nicht etwas‹ wie das englische ›nothing‹ oder – um eine analoge Wortbildung im Deutschen zu benennen – wie niemand für ›kein jemand‹, tendiert aber andererseits dazu, sich vom Bezug auf irgendetwas überhaupt zu lösen, um ein nihil pure negativum zu bezeichnen. Diese Tendenz hat nach Henrich die Nominalisierung von ›nichts‹ und die Rede von dem Nichts befördert, in dem die Relation auf irgendein Bestimmtes völlig zum Verschwinden gebracht werden soll, um die Nichtigkeit von schlechterdings allem auszudrücken. Mag es mehrere geben, die lauter Nichtse sind, so kann für das reine und absolute Nichts sprachlich kein Plural, sondern nur ein Singular infrage kommen, der in seiner Singularität nur mit dem Sein selbst zu vergleichen ist, dem das Nichts entgegensteht. Das Nichts, so Henrich, ist als sprachlicher Ausdruck zugleich Gedankenprogramm, da es einer Denkungsart zugehört, »die über alles hinausgreift, was wahrgenommen werden oder in irgendeiner anderen Weise bestimmt gedacht werden kann« (S. 61; bei Henrich kursiv). Man könnte daraus, wie das bei manchen sprachanalytischen Philosophen der Fall ist, folgern, der Prozess der Transformationen des Indefinitpronomens ›nichts‹ zum Hauptwort sei abwegig, die Rede von ›dem Nichts‹ nicht nur unbestimmt, sondern bedeutungslos. Henrich verweigert sich diesem Schluss mit der Begründung, ›das Nichts‹ sei zwar mit keiner bestimmten Bedeutung zu versehen, aber gerade so Ausdruck eines abgründigen Sinnlosigkeits- bzw. Sinnwidrigkeitsempfindens, von dem man sich keinen vernünftigen Begriff machen könne, weil es aller Vernunft entgegenstehe und Vernünftigkeit selbst zu falsifizieren im Begriffe stehe. 21 Vgl. Karl Brose: Jean Pauls Verhältnis zu Fichte. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 66–93; Till Dembeck: Fichte dem Buchstaben nach auslegen. Jean Pauls Konjektural-Philosophie. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 44 (2009), S. 113–140.

272 | Gunther Wenz chen, »die Erde nicht zu besamen, sondern heute noch auszuwandern«,22 der eine in diese, die andere in die entgegengesetzte Richtung. Doch dann beschließt man doch, »zu heiraten« (Jean Paul, SW I/2, 121), »sich zu kopulieren und dem Schicksal zur Säe- und Spinnmaschine des Leins und Hanfes, des Flachses und Wergs zu dienen, dessen unübersehliches Netzwerk und Zuggarn es um die Erdkugel windet« (Jean Paul, SW I/2, 125f.). Die Menschheit soll gezeugt, dem potentiell Angelegten konkrete Gestalt gegeben werden. So will es Leibgeber in seiner Eigenschaft als Urautor, Prinzip und Prinzipal des Menschengeschlechts, und seine bessere Hälfte fügt sich, um zur Urmutter aller Menschenkinder zu werden. Wenn Leibgeber im Titel der Clavis23 mit Fichte zusammengespannt wird, dann will das nicht weniger besagen, als dass sich in dessen Ichphilosophie der alte

|| 22 Jean Paul: Sämtliche Werke (= Jean Paul, SW). Abteilung I. Zweiter Band: Siebenkäs. Flegeljahre. Darmstadt 2000, S. 121; zur ›Rede des toten Christus‹ vgl. Jean Paul, SW I/2, S. 270–275. 23 In der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie) und der Jean-Paul-Gesellschaft edierten historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Werke Jean Pauls ist die Clavis im annus horribilis 1933 im neunten Band der ersten Abteilung (zu Lebzeiten des Dichters publizierte Werke) in Weimar erschienen (= Jean Paul: AA I/9) und zwar in AA I/9, S. 457–501. Herausgegeben hat die dem Titan beigefügte Schrift Eduard Berend, von dem auch eine ausführliche Einleitung in den Text im vorhergehenden Band stammt (vgl. Jean Paul, AA I/8, S. XCVI–CIV). Ihm zufolge hat Jean Paul erstmals in seinem Brief über die Philosophie (Jean Paul: AA I/7, S. 439– 449; vgl. S. XXXVIf.) auf Fichte als »einen großen Philosophen von zweischneidigem Scharfsinn« (AA I/7, S. 447) Bezug genommen, von dessen Schriften er damals erst den Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797 und das System der Sittenlehre von 1798 gekannt habe. Er kritisierte darin v. a. das Beweisverfahren des Ich-Philosophen und den Schluss auf eine prästabilierte Harmonie von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, der ihm als ein Fehler erscheint, »den Fichte schärfer ahnden würde, hätt’ ihn nicht – Fichte begangen« (ebd.). Angeregt nicht zuletzt durch Jacobis Brief an Fichte, den ihm sein verehrter Gewährsmann in philosophischen Fragen schon vor Drucklegung hatte zukommen lassen, beginnt Jean Paul die Schriften des Wissenschaftslehrers systematisch zu studieren. Das Ergebnis seines Studiums hat er in satirischer Form im Dezember 1799 innerhalb von nur zwei Wochen zu Papier gebracht. Ihr Titel ist nach Vorbild der Clavis Ciceroniana J. A. Ernestis aus dem Jahr 1739 gestaltet. (Zum Grund seiner lateinischen Fassung und zur Identifikation Leibgebers mit Fichte vgl. Jean Paul: AA I/8, S. XCVIIf.) Auf Anraten u. a. Jacobis, »dem er am 26. Dezember das Manuskript mit der Bitte um schleunige Durchsicht und Rücksendung zuschickte« (Jean Paul: AA I/8, S. XCIX), modifizierte Jean Paul die Erstfassung und gab den erheblich erweiterten Text Anfang Februar 1800 in den Druck (zu Details und zur Dedikation für Jacobi vgl. Jean Paul: AA I/8, Cf.). Im Mai lagen die ersten Exemplare vor; die Vorrede der Clavis ist auf den 7. März 1800 datiert. Von den Einwänden der Kritiker lautete einer der bemerkenswertesten, der Dichter »habe Fichtes absolutes Ich als ein empirisches genommen« (Jean Paul, AA I/8, CII; vgl. dazu Emil Staiger: Jean Paul: »Titan«: Vorstudien zu einer Auslegung [1942]. In: Uwe Schweikert (Hg.): Jean Paul. Darmstadt 1974, S. 115–154, hier: S. 135ff.). Reaktionen blieben aus, auch von Seiten Fichtes und seiner Anhänger (Jean Paul: AA I/8, S. CIIf.). Die oder der Clavis, wie Jean Paul lieber sagt, weil er ein Wort aus einer Fremdsprache in der Regel mit dem Genus des entsprechenden deutschen versieht, wird im Folgenden nicht nach Jean Paul, AA I/9, S. 457–501 (zu den kommentierenden Anmerkungen vgl. S. 585–589) zitiert, sondern nach dem dritten Band der Studien-

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Adam manifestiere und zwar in statu corruptionis bzw. im Augenblick seines Falls. Am Höhenflug und Absturz des Luftschiffers Giannozzo wird sich diese Deutung bestätigen. Zwar hat in der Clavis Leibgeber mehrere Rollen, nämlich diejenige eines Fichtianers, des Verfassers der Clavis, von Fichtes leibhafter Person und last but not least die Partie des absoluten Ich (Leibgeber. »Es frappiert mich selber,« [sagtʼ ich, als ich mein System während eines Fußbades flüchtig überblickte, und sah bedeutend auf die Fußzehen, deren Nägel man mir beschnitt], »daß ich das All und Universum bin; mehr kann man nicht werden in der Welt als die Welt selber … und Gott … und die Geisterwelt … dazu« [Jean Paul, SW I/3, 1037]); aber der egologiekritische Skopus ist bei allen Rollenunterschieden stets ein und derselbe, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte.24 Der bzw. dem eigentlichen Clavis, als deren bzw. dessen Verfasser Jean Paul den Fichtianer Leibgeber einführt (vgl. Jean Paul, SW I/3, 1016), ist neben einer vom Dichter »Weimar, den 7. März 1800« (Jean Paul, SW I/3, 1018) unterschriebenen Vorrede ein Protektorium für den Herausgeber vorgeschaltet, das ein »Handschreiben« (Jean Paul, SW I/3, 1020) Leibgebers und »Exercitationes« (ebd.) des Editors enthält. Die sog. Clavis selbst ist in fichtescher Manier in Paragraphen eingeteilt und zwar in insgesamt 15, wobei die drei letzten die umfänglichsten sind. In der Vorrede erklärt sich der Dichter zum Status der Clavis und ihrem Verhältnis zum Titan, um dann »dem eignen Kinde Lorbeerkränze aufzusetzen« (Jean Paul, SW I/3, 1013), deren erster und größter derjenige ist, »daß das Kind meines Dafürhaltens überall recht hat; besonders darin, daß es den fichtischen Idealismus mit dem apodiktischen Dasein fremder Mit-Ichs, das ihn gerade stützen soll, umzubrechen sucht« (ebd.). In diesem Zusammenhang fällt erstmals der Name des »geliebte[n] Friedrich Heinrich Jacobi« (Jean Paul, SW I/3, 1018),25 dem Jean Paul das Büchlein am Schluss seiner Vorrede zueignet »wie mein Inneres schon so lange dem deinigen« (ebd.). Aus seiner Hand habe er »die von der Schönheit damaszierte Waffe [empfangen], an der die gegen das Leben gezuckten Zergliederungsmesser der Zeit zerspringen« (ebd.). Auch in der Auseinandersetzung mit Fichte habe sich die jacobische Waffe schon bewährt, deren Einsatz der Kommandodevise folge: »Nur von der Seite der

|| ausgabe der Werke Jean Pauls SW I/3, S. 1011–1056. Der dort wiedergegebene Text der Clavis basiert in erster Linie auf demjenigen der Akademieausgabe; »doch wurden die Originalausgaben sorgsam verglichen« (Jean Paul: SW I/3, S. 1138). Die kommentierenden Anmerkungen (SW I/3, S. 1130–1137) beruhen zum Teil auf Angaben in: Ludwig Storz: Studien zu Jean Pauls Clavis Fichtiana. Zürich 1951. 24 Gunther Wenz: Schlüssel zur Clavis. Kontexte einer F. H. Jacobi gewidmeten Fichte-Satire Jean Pauls. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 52 (2017), S. 117–141; zu Leibgebers Doppelgänger Schoppe S. 129f. 25 Vgl. Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg 2013.

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Individuation, sagt Jacobi, ist in den Spinozismus einzubrechen; das gilt auch von der Wissenschaftslehre und von jeder Philosophie, insofern sie rein oder absolut wäre; – was aber außer der des unendlichen Genius keine ist« (Jean Paul, SW I/3, 1014): [D]er sozusagen idealische Idealismus Fichtes lebt und webt dergestalt im Absoluten, daß – da sich im Zentrum seines existierenden Universums die Existenz, wie im Schwerpunkt einer Welt die Schwere, durch die Bestimmungslosigkeit aufhebt – daß nun gar kein Weg mehr herein in die Endlichkeit und Existenz geht (so wenig als rückwärts aus dieser ins Absolute) ohne die unermeßlichen dogmatischen Sprünge, Flüge und Unbegreiflichkeiten, die eben zu erklären waren, aber hier erklären wollen. (ebd.)

Fichtes System, so der Zentraleinwand der Vorrede Jean Pauls, den er in Leibgebers Clavis nicht hinreichend zur Geltung gebracht sieht, indifferenziere alle Unterschiede und ende in einer bestimmungslosen Indifferenz, die alles Endliche zum Verschwinden bringe und an sich selbst nichts anderes sei als nichts. Indes wäre auch damit noch zu viel gesagt, falls man bei nämlichem Nichts an ein durch den Unterschied zu etwas bestimmtes Nichts statt an das nihil pure negativum dächte, welches unausdenklich ist. Kurzum: Fichtes »ertrotzte Ob-Subjektivität des Ichs« (ebd.) besteht in nichts als in ihrer eigenen Grundlosigkeit, auf die sie sich versteift, ohne Anhalt an ihr zu finden. So bereitet sich »das absolute Ich (dieses unbestimmt Unbestimmende, diese logische Nachgeburt und absolute Mutter der ObSubjektivität)« (Jean Paul, SW I/3, 1015), indem es auf sich besteht, den eigenen Untergang und endet in just jenem Nihilismus, von dem es seinen Anfang nahm. Im Grunde ist bei Fichte alles eins wie bei Spinoza – nur auf eine noch einmal grundlosere, der »Grundlosigkeit der Grundlosigkeit« (ebd.) verfallene Weise. Nachdem das Nihilismusverdikt im Bezug auf die Lehre von sich selbst samt dem Nicht-Ich setzenden Ich ausgesprochen sowie »Leibgeber, der Fichtianer« (Jean Paul, SW I/3, 1016), als »Verfasser des folgenden Clavis« (ebd.) vorgestellt und in Form eines Briefzitats kurz zu Wort gekommen ist, flicht Jean Paul in der Vorrede zur Clavis seinem Kinde noch weitere Lorbeerkränze sowie einen Strohkranz für »Leibgebers Zusammenschütten des Spaßes und Ernstes« (Jean Paul, SW I/3, 1017), was mit dem Hinweis an potentielle Rezensenten versehen wird, sie möchten »Spaß verstehe(n) und dadurch den Ernst« (ebd.).

3 Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch (1801). Vom Fall des überheblichen Ich Großhans alias Giannozzo will hoch hinaus, um als Aeronaut alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, hinter und unter sich lassend über den Dingen zu schweben und der Welt enthoben zu sein. Vierzehn seiner Luftschifffahrten durch das Wol-

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kenmeer sind durch einen Text geschildert, den Jean Paul im Komischen Anhang seinem Titan beigefügt hat, ohne deshalb mit dem hochfahrenden Himmelsstürmer in eins gesetzt werden zu wollen.26 Ausdrücklich ersucht der Dichter in einer auf den 1sten Ostertag 1801 datierten Vorrede (Jean Paul, SW I/3, 905–907) »weniger den Leser von Verstand als den andern«, wie es heißt, »dass er zuweilen einen Unterschied mache zwischen den Meinungen des Luftfahrers Giannozzo und meinen eigenen« (Jean Paul, SW I, 3, 905). Er, Jean Paul, habe »den rauhen Seemann der Luft rein ausreden [lassen], unbekümmert um die prosaische Voraussetzung, daß der Verfasser immer so denke wie sein Held« (ebd.). Giannozzos Luftschifffahrt hebt im »antigenialischen Pleiß-Hanse-Athen« (Jean Paul, SW I/3, 930) in Umkehr pneumatischer Niederkunft an (ebd.: »Vorgestern am ersten Pfingsttag, wo der heilige Geist aus dem Himmel niederkam, verfügt‘ ich mich aus Leipzig zu demselben und stieg«). Dem Überflieger, der sich von den Himmelswinden eine Zeitlang »über Sachsen hin- und herwürfeln« (Jean Paul, SW I/3, 931) lässt, erscheinen die irdischen Belange als verschwindend gering. Was unter ihm vorüberzieht, läuft wie im Film ab bzw. gleicht einem theatrum mundi. Um es weniger anachronistisch zu formulieren: Viertehalbtausend Fuß tief rannte die weite Erde – ich glaubte festzuschweben – unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Holzungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jagdhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen, daß ein vernünftiger Mann denken mußte, das seien nur umhergerollte Baumaterialien, die man erst zu einem schönen Park auseinanderziehe. (Jean Paul, SW I/3, 959)

In den irdischen Kulissen und hinter ihnen spielt sich das Menschenleben auf der »auf allen Seiten ins Unendliche« (ebd.) hinausfließenden Erdoberfläche ab: »Einer wird hier unter mir des Landes verwiesen – drüben desertiert einer, und Glocken läuten herauf zum fürstlichen Empfang desselben – hier in den brennend-farbigen Wiesen wird gemähet – dort werden die Feuersprützen probiert« (Jean Paul, SW I/3, 950f.) usw. usf. Die »verschiedenen Theater des Lebens« (Jean Paul, SW I/3, 959) nehmen ihren Verlauf, um von oben herab betrachtet allesamt als mehr oder minder belanglos zu erscheinen. In der »stillen heiligen Region« (Jean Paul, SW I/3, 928), die er mit seinem Luftschiff bereist, wähnt sich Giannozzo über alles erhaben, »was unten quäkt und schwillt« (ebd.). Mit den »Ameisen-Kongressen der Menschen« (ebd.) und ihren wie auf Raupenfüßen dahinschleichenden Prozessionen (vgl. Jean Paul, SW I/3, 959) will er nichts mehr gemein habe. Er gefällt sich in solipsistischer Einsamkeit

|| 26 Vgl. Jean Paul: SW I/3, S. 925–1010. Zu vergleichen ist ferner Jean Pauls Schilderung einer illustren Montgolfierenexkursion gegen Ende der 507. Station seiner 1797 entstandenen Schrift Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele (Jean Paul, SW I/4, S. 561–626, hier: S. 622ff.).

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und in ihr allein. Wird er bei gelegentlichen Zwischenlandungen auf den harten Boden irdischer Tatsachen zurückgeholt, fasst er umgehend den Entschluss: »auf – und davon« (Jean Paul, SW I/3, 941). Ab und an wird es Großhans-Giannozzo in den luftigen Höhen, die er befährt, und in seinem »alles zusammenspinnenden Weberschiffe miserable, leer und wehmütig zumute« (Jean Paul, SW I/3, 961), und er kommt sich selbst wie »ein böser Geist« (Jean Paul, SW I/3, 966) vor, dessen heißkalter Blick die Welt und die Menschheit annihiliert. Als er am Brocken strandet und es mit seinem Alter Ego zu tun bekommt, stellen sich Selbstzweifel ein und aus der Himmelfahrt droht ein Sturz in die Hölle zu werden, von der »Imprimatur und Vorrede des Teufels zum Brockenbuch« (Jean Paul, vgl. SW I/3, 962–965) künden. Doch Giannozzo fängt sich noch einmal und schwebt weiter wie im Traum dahin in der Gewissheit, dass nur über den Wolken grenzenlose Freiheit zu finden sei, wohingegen in den Niederungen des irdischen Daseins der Einzelne in formloser Materie und Masse gefangen bleibe. »Die Erde war mir jetzt ein Meersboden voll ungestalter Seetiere, zu welchem ich mit meiner Täucherglocke gar nicht mehr herunterwollte …« (Jean Paul, SW I/3 3, 979). In den dunklen Tiefen des Meeres walten die Chaosmächte; kosmische Ordnung und geistige Klarheit ist nur in jenen lichten Höhen zu finden, in welchen das Ich seiner selbst unmittelbar gewahr und ganz und gar durchsichtig wird für sich. Um die ursprüngliche Einsicht Giannozzos in der Sprache der Philosophie und insbesondere desjenigen Philosophen zu formulieren, als dessen Ebenbild Jean Paul ihn zeichnet: Das autonome Ich ist nicht nur Möglichkeitsbedingung seiner selbst, sondern auch transzendentaler Bestimmungsgrund des Nicht-Ich, der Welt samt aller möglichen Unterwelten grundsätzlich mächtig. Wie der Leib für es nichts anderes ist als sein »Ich-Besteck« (Jean Paul, SW I/3, 983), so fungiert das leibhaft gegebene Sein der sinnlichen Welt als nichts weiter denn als Medium theoretischer Selbsterkenntnis und als Material praktischer Selbsttätigkeit. Mag es in der Erfahrungswelt und im Leben des empirischen Ich auf und ab gehen, das transzendentale Ego bleibt stets auf der Höhe und identisch mit sich: Ich = Ich. An der Gleichung, wonach das Ich identisch mit sich selbst sei, hält Giannozzo auch bei seiner letzten Auffahrt und angesichts seines bevorstehenden Absturzes fest. Als die Gewitter sich um ihn türmen, die Blitze züngeln und der »Zeigefinger des Todes» (Jean Paul, SW I/3, 1005) auf den Ablauf der Zeit und das bevorstehende Ende verweist, da steht sein Wille fest, »jetzt mit meinem Posthörnchen wütig ins Wetter (zu) blasen, wie ihr Mozart drunten im Don Juan« (Jean Paul, SW I/3, 1010). Wie Herr Johannes in der gleichnamigen Mozartoper ist auch Großhans-Giannozzo nicht willens und bereit, klein beizugeben; selbst die Hölle kann sein Ich nicht schrecken. Dass Giannozzo mit Jean Paul nicht gleichzusetzen sei, wurde vom Dichter, wie erwähnt, in seiner Vorrede eigens betont. Doch auch des Luftschiffers Ich ist schon zu Lebzeiten reflexiv insofern gebrochen, als ihm ein – signifikanterweise in sich selbst entzweites (Jean Paul, SW I/3, 1010: »Graul oder Leibgeber«) – Alter Ego zugesellt ist, dass am Blocksberg des Brocken als »träumende[r] Nachtwandler« (ebd.;

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vgl. Jean Paul, SW I/3, 961ff.) erscheint, um dann am Ende des letzten Akts erneut aufzutreten und der Nachwelt vom Tod des Aeronauten Bericht zu erstatten: Auf dem Wege nach Bern – wo ich meinen Clavis gemacht – stand ich gerade am Rheinfall zu Schaffhausen, als er oben blies. Das Gewitter wütete fürchterlich und nahe an der Erde und stürzte zugleich mit dem Rhein herunter. Wirklich vernahm ich und noch einige ein sonderbares, aber unharmonisches, abgestoßenes, schneidendes Tönen droben aus dem finstern Wolkengewölbe. Endlich durchbrach dieses ein schmetternder Schlag: Unweit von uns flog die zerschlitzte Kugel und die Sänfte daran auf einer Wiese nieder. Ich erkannte sogleich meinen teuern Freund, sein rechter Arm und sein Mund waren weggerissen, das Horn zum Teil geschmolzen, seine langhängenden Augenbrauen auf den hohen Augenknochen kahl weggebrannt und sein Gesicht sehr zornig verzogen; alles andere aber unversehrt. (Jean Paul, SW I/3, 1010)

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch von Jean Paul ist große Literatur mit einer bemerkenswerten Wirkungsgeschichte. Man lese dazu beispielsweise die triste Erzählung von der nur anfangs kühnen, bald aber vom Höhenschwindel übermannten, dem Wahnsinn nahen und schließlich der Ohnmacht verfallen Aeronautin Kornelia in Adalbert Stifters früher Novelle Der Kondor: Drei Tage und Nächte dauert es, bis sie aus der Unheimlichkeit unendlicher Weiten in ihre Heimat und irdische Wohnstadt zurückfindet. Doch nicht nur literatur-, sondern auch philosophiegeschichtlich27 sind die Aufzeichnungen von Giannozzos Auffahrt und Absturz in hohem Maße bedeutsam, sofern man sie als poetische Auseinandersetzung mit Fichtes Egologie lesen kann. Der im Bericht des – Graul oder Leibgeber genannten – Freun|| 27 Niklas Hebing, der Herausgeber von Nachschriften zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst der Jahre 1820/21 und 1823 in der von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste edierten Gesammelten Werke (GW 28,1), hat auf die Nähe der Fichte-Kritik Jean Pauls zu derjenigen Hegels und fernerhin darauf hingewiesen, dass beide der frühromantischen Bewegung distanziert und mit Reserve begegneten, deren Repräsentanten den Ich-Philosophen nicht von ungefähr zu ihrem geistigen ›Mentor‹ (Niklas Hebing: Hegels Ästhetik des Komischen. Hamburg 2015, S. 330) erkoren hatten. Giannozzos Aufstieg und Fall, wie Jean Paul ihn nachzeichne (vgl. S. 330ff.), entspreche der Selbstbewegung des Begriffs im Denken Hegels. Es sei »eine geradezu hegelianische Pointe, dass dieser moderne Ikarus mit seinem Luftschiff in ein Unwetter hineinfliegt und abstürzt, auf die Erde aufschlägt und zerfetzt« (S. 338). So ergehe es nach Hegels Urteil mit innerer Notwendigkeit zuletzt auch dem romantischen Ironiker in der Nachfolge fichtescher Egologie. Seine Freiheit unmittelbarer Selbstbestimmung sei auf nichts denn auf Negationsfähigkeit überhaupt gegründet und ende im schieren Nihilismus. Was ihm fehle, sei Selbstironie als die Anwendung der Negierungspotenz des Ich auf es selbst, wie sie im Humor Ereignis werde. »Zwar ist Hegel der Humor das Prinzip des omnipräsenten Verlachens von der Warte des subjektiven Selbstgefühls, doch dieses Prinzip ist allumgreifend, so dass es auch sich und sein Verlachen verlacht.« (S. 345) Zu Jean Pauls »Spiel zwischen Fiktionalität und Faktualität« (S. 305) und seiner »Erzähltechnik der ›fortschreitenden Ausschweifung‹« (ebd.) vgl. S. 304ff., wo zu Beginn ein Bezug zu Jacobi hergestellt wird. Interessant sind ferner die Bemerkungen zur »Wandlung der Bedeutung von ›Witz‹ um 1800« (S. 312); wirklich witzig ist ein Witz allerdings auch heute noch erst dann, wenn er mit geistreicher Gewitztheit einhergeht.

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des vom Tod Giannozzos versteckte, an anderer Stelle offen ausgesprochene Hinweis auf die Clavis Fichtiana seu Leibgeriana (Jean Paul, SW I/3, 1011–1056) bestätigt dies. Nach Jean Pauls Urteil endet Fichtes Ich-Philosophie mit fataler Konsequenz in einem Egoismus, der abgründig und bodenlos im reinen Nichts gründe.28 Mit der theistischen Annahme eines transzendenten Gottes jenseits von Selbst und Welt, wie er im religiösen Gefühl geahnt werde, schwinde jede Gewissheit einer objektiven Wirklichkeit dahin und an ihre Stelle trete schierer Nihilismus – sei es derjenige des »weiße[n]« (Jean Paul, SW I/3, 1021) oder des »schwarze[n] Nichts« (ebd.), in welchem die Nichtigkeit des Nichts mit allem andern auch sich selbst vernichte. Das überhebliche Ich verfalle dem Abgrund, welcher es selbst sei: »Der Gottähnliche ist am Ende ein Stück Lehm.«29 Mit dem Verdikt, Fichtes Spinozismus substanzloser Subjektivität basiere auf reinem Nichts, wiederholt Jean Paul auf seine Weise den Zentraleinwand seines »geliebte[n] Friedrich Heinrich Jacobi« (Jean Paul, SW I/3, 1018), dem der bzw. die Clavis sinnigerweise dediziert und zugeeignet ist. »Verehrtester Lehrer meines Innersten! So oft dieses in der Philosophie einen Feind antrifft, so denkʼ ich an Sie, als an den königlichen Beschützer seines Glaubens …«30 Mit diesen Worten hatte Jean Paul am 13. Oktober 1798 den Briefwechsel mit dem zwanzig Jahre älteren »Glaubensphilosophen« begonnen, der über Jahre hin fortgesetzt wurde und an Intensität gewann, auch wenn das ersehnte persönliche Treffen auf sich warten ließ (Jean Paul, SW I/3, 1018: »Und darum lieb‘ ich dich immer so fort; aber warum hab‘ ich dich denn noch nicht gesehen, mein Heinrich?«).31

|| 28 »In der Forschung ist immer wieder die Auffassung vertreten worden, Jean Paul missverstehe in seiner Darstellung und Kritik den eigentlichen Ansatz Fichtes; bisweilen wird dabei betont, er habe ihn bewusst missverstehen wollen« (Hebig: Hegels Ästhetik [s. Anm. 26], S. 334 mit Verweis auf entsprechende Literatur). Neuerdings ist demgegenüber »eine Interpretationsweise erarbeitet worden, die in Jean Pauls Fichte-Lektüre gerade keine laienphilosophischen Irrtümer, sondern ein durchaus produktives Verständnis der Wissenschaftslehre in der Auseinandersetzung mit Jacobi erblickt« (ebd. mit diesbezüglichen Hinweisen). 29 Ebd., S. 339 Anm. 142. 30 Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. In zwei Bänden. Zweiter Band. Leipzig 1827 (= Jacobi‘s Briefwechsel II), S. 256. Vgl. ferner u. a. Jean Paul: Briefe an Friedrich Heinrich Jacobi. Berlin 1828; Aus F. H. Jacobis Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere. Hg. von Rudolf Zoeppritz. 2 Bde. Leipzig 1869; Ungedrucktes. Zum Druck befördert von Albert Cohn. Berlin 1878. – Eine von Michael Brüggen und Siegfried Sudhof begründete Gesamtausgabe des Briefwechsels von Jacobi ist mit einer Kommentarreihe versehen seit 1981 bei Frommann-Holzboog in Stuttgart-Bad Cannstatt sukzessive erschienen, aber noch nicht zum Abschluss gebracht worden. 31 Die »langgewünschte« (Kurt Wölfel: Jean Paul-Studien. Frankfurt a. M. 1989, S. 16) persönliche Begegnung mit Jacobi, dem der Dichter seit fast eineinhalb Jahrzehnten in enger Brieffreundschaft verbunden war, fand erst im Juni 1812 in Nürnberg statt und verlief enttäuschend. Jacobi »war weder daran interessiert, Persönliches von Jean Paul zu erfahren, noch Persönliches preiszugeben, sprach vielmehr dauernd von seinen eigenen Werken und trug sämtliche Rezensionen zu diesen

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Anlass des Schreibens war damals schon, was Jean Paul mit Jacobi den »Fichteschen Spinozismus« (Jacobi’s Briefwechsel II, 256) nennt, jenen »Fohismus, der gern jeden Welten- und Cometen-Kern in einen Nebel zertreiben will« (ebd.).32 Der Adressat fühlt sich verstanden: »Was Sie von Ihrer Traurigkeit und Beklemmung über die jetzige fuga pleni, über den transcendentalen« – Jean Paul hatte versehentlich transzendent geschrieben – »Fohismus … äußern, hat eine neue, Muth gebärende Freude in mir erregt …« (Jacobi’s Briefwechsel II, 259). Was Fichte angeht, ist man sich philosophisch einig, wobei Jacobi die Rolle des Anführers (ebd.: »Ich habe bei der ersten Erscheinung der kritischen Philosophie auf das bestimmteste vorausgesagt, was sich heute zuträgt …«), Jean Paul diejenige des Gefolgsmanns zukommt (Jacobi’s Briefwechsel II, 264: »Noch keine Philosophie, außer der der Alten, hat mich so tief angefaßt und das Licht in den düstersten Schacht so reinigend gesenkt, als die Ihre, und keine studirte ich wiederholter …«).33 Bleibt zuletzt nur noch zu fragen, worum es sich bei Jacobis Philosophie näherhin handelt, die sich in seiner im Pantheismus-, Atheismus- und im späteren Theismusstreit mit Schelling geübten Kritik konstruktiv zur Geltung brachte. Die übliche Antwort lautet: um eine Glaubensphilosophie. Dies kann zu Missverständnissen führen. Denn was der Philosoph gefühlsunmittelbare Gottesgewissheit || immer mit sich herum« (Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 2013, S. 270). 32 Fohismus, ursprüngliche Bezeichnung einer Variante des Buddhismus, tendiert zu Nihilismus als der letzten Konsequenz transzendentaler Philosophie. »Es mußte«, heißt es, » nach dem zermalmenden Kant, der noch große Stücke, wie die Dinge an sich, übrig ließ, der vernichtende Leibgeber aufstehen (denn ob ich Fichten moralisch postuliere, das wird sich im Clavis zeigen), der auch jene verkalkte und nichts stehen ließ als das weiße Nichts (nihilum album, wie die Chemiker den feuerbeständigen Zinnkalk nennen), nämlich die ideale Endlichkeit der Unendlichkeit. Brächte man auch jene gar weg (und Fichte gibt einen Wink dazu): so bliebe nur das schwarze Nichts übrig, die Unendlichkeit, und die Vernunft brauchte nichts mehr zu erklären, weil sie selber nicht einmal mehr da wäre; – das erst, dünkt mich, würde der echte philosophische Fohismus sein, nach welchem sämtliche Schulen und wir alle so ringen« (Jean Paul, SW I/3, S. 1021f.). 33 »Weimar den 22sten Dec. 1792«, richtig muss es heißen: 1799 – Jean Paul Friedrich Richter an Jacobi: »Theuerster! Ich habe die Wissenschaftslehre nun gelesen; das Product meiner Ergrimmung liegt hier bei; sey Richter der Voraussetzungen oder Mißverständnisse.« (Jacobi’s Briefwechsel II, S. 289) »Eutin den 11ten Jän. 1800« – Jacobi an Jean Paul Friedrich Richter: »Wie fange ich an, Lieber! um Dich genug zu loben und zu preisen, wegen Deines Clavis? Denke Dir meinen Beifall im vollsten Maße; Du hast ihn erworben und verdient. Ich kann es nicht erwarten, diesen Aufsatz gedruckt zu sehen« (Jacobi’s Briefwechsel II, S. 290). Man ist sich, wie gesagt, einig, und man bleibt es auch: »Deine Exercitationes über das Philosophiren insgemein in der Clavis Fichtiana, und die herrliche Vorrede, habe ich von Neuem wiederholt gelesen mit unsäglichem Genuß« (Jacobi’s Briefwechsel II, S. 463), schreibt Jacobi Jean Paul am 11. Mai 1817 von München nach Bayreuth, von wo aus jener im Jahr zuvor ein weiteres Mal seine Hochachtung und Zuneigung zugesichert und in bemerkenswerter Kürze seine philosophische Denkungsart dargelegt hatte, um zu dem Schluss zu gelangen: »Doch, ich sage Dir mit allem kein anderes Wort als höchstens Dein eigenes« (Jacobi’s Briefwechsel II, S. 450).

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nennt, ist mit dem Glaubensbegriff der theologischen Tradition nicht ohne weiteres gleichzusetzen. Zwar wurde insbesondere in der reformatorischen Tradition der untrennbare Zusammenhang von Glauben und Gottesgewissheit betont hervorgehoben. Glauben heißt keineswegs nur notitia, und er erschöpft sich nicht in der Kenntnisnahme und willentlichen Affirmation objektiv vorgegebener Gehalte. Als Gottvertrauen erfasst und umfasst der Glaube das Innerste des Glaubenden, der, indem er sich auf Gott verlässt, zugleich zum rechten Bewusstsein seiner selbst und zur Wahrnehmung seiner eigenen Bestimmung gelangt. Dennoch hält auch die traditionelle reformatorische Glaubenslehre an der Unterscheidung von fides qua und fides quae fest und bindet den subjektiven Glaubensvollzug an objektive Vorgaben, die durch Offenbarung auf supranaturale und suprarationale Weise erschlossen werden. Jacobis Theismus ist supranatural und suprarational. Dennoch unterscheidet er sich wesentlich vom traditionellen Supranaturalismus und Suprarationalismus, wie er nicht nur in der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie, sondern auch noch im Umkreis Kants etwa in der Tübinger Schule Gottlob Christian Storrs vertreten wurde. Am Offenbarungsbegriff lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen. Nach überkommener Lehre vermittelt Offenbarung autoritativ und auf nicht selten wunderbeglaubigte Weise Wissensgehalte und Einsichten, die auf natürlichem und rationalem Wege nicht zu erlangen sind. Als Offenbarungsmedien fungieren gemäß christlicher Überlieferung insonderheit die kirchliche Verkündigung in Wort und Sakrament, wobei über die Bedeutung kirchlicher Amtsautorität konfessionell kontrovers geurteilt wird, die kanonischen Schriften Alten und Neuen Testaments sowie vor allem und entscheidend die Erscheinungsgestalt Jesu Christi, in dem sich nach dogmatischer Lehre der göttliche Logos inkarniert hat, um leibhaft auf die Welt zu kommen und sich der Menschheit zu erschließen. Jacobi sucht zwar Anschluss an die christliche Überlieferung, marginalisiert aber im Grundsatz alle jene Bestände in ihr, welche nicht mit demjenigen, was er Vernunftgewissheit oder innere Glaubenserfahrung nennt, unmittelbar koinzidieren oder doch zumindest tendenziell konvergieren. Von zeitgenössischen Theologen, seinem vertrauten Freund Matthias Claudius oder von dem aus romantischer Autoritätssehnsucht römisch-katholisch gewordenen Friedrich Schlegel, ist Jacobi diese Reserve wiederholt zum Vorwurf gemacht worden, was ihn freilich wenig beeindruckte. Der Grund von Selbst und Welt ist seiner Überzeugung gemäß allein im Gefühl offenbar, das mit unmittelbarer Evidenz seine Realität vergewissert und beglaubigt. Andere Weisen der Beglaubigung hält Jacobi für äußerlich, letztlich für unvernünftig und wahrheitswidrig. Supranaturaler Wunderglaube und Versuche, die Offenbarung auf die Autorität heiliger Schriften, kirchlicher Amtsautorität oder die Autorität von Dogmen etc. zu gründen, werden mit dem Verdikt eines religiösen Materialismus belegt. Als religiösen Materialismus wertet Jacobi zugleich jede Form von Bindung gläubigen Gefühls an sinnliche Erscheinungen und ihre Erfahrung. Christologisch hat das zur Folge, dass die Menschwerdung Gottes aus der sinnlichen

Spinozismus substanzloser Subjektivität | 281

Erfahrungswelt herausgenommen und ganz ins Innere der fühlenden Menschenseele verlegt wird. Eine Offenbarung durch äußere Erscheinungsgestalten der sinnlichen Welt findet nicht bzw. nur insoweit statt, als durch sie äußerlich abgebildet oder nachträglich symbolisiert wird, was im Inneren mit Evidenz ursprünglich erschlossen ist. Christus will im Geiste erkannt sein und nicht in der sinnlichen Äußerlichkeit seiner Jesuserscheinung. Nur so kann er nach Jacobi als Manifestationsgestalt dessen wahrgenommen werden, worin jeder Christ, ja nicht nur jeder Christ, sondern jeder Mensch mitsamt seiner Welt im Innersten gründet. Recht verstanden ist Christus das Urbild eines jeden Ich. Als solcher ist er der wahrhafte Logos, wie er in jeder Menschenseele als fundierende Basis und Zielursache waltet, ohne mit einer sinnlichen Erscheinung der äußeren Welt verwechselt werden zu dürfen. Wenn der in seinem Inneren manifeste Logos dem Ich gleichwohl als inkarnierte Gestalt, also auf leibhafte Weise vorstellig werde, dann komme dieser Vorstellung lediglich gleichnishafte bzw. die Funktion zu, den offenbaren Grund des Glaubens metaphorisch als in sich gründend vom Glaubensich zu unterscheiden, wie dieses sich reflexiv selbst wahrnimmt. In anderer Hinsicht, die dem namhaft gemachten Aspekt vergleichbar, aber dennoch anders gelagert ist, kann Jacobi die religiöse Vorstellungsform auch damit in Verbindung bringen, dass Religiosität einerseits ein anthropologisches Universale und andererseits und zugleich von schlechterdings individueller Natur sei. Religion als kultivierter Umgang mit dem, worin Selbst und Welt gründen und was allem Denken und Handeln vorausgeht, ist von humaner Allgemeinheit und doch notwendigerweise individualitätsbezogen, was nach Jacobi verständlich macht, weshalb der göttliche Logos nicht nur in der Form eines generellen Grundes von Selbst und Welt, sondern in singulärer Gestalt vorstellig wird. Gleichwohl müsse auch unter diesem Gesichtspunkt eine Verwechslung der Manifestation des göttlichen Grundes mit einer sinnlichen Erscheinung strikt ferngehalten werden. Wo dies nicht der Fall sei, degeneriere Religion zu einem religiösen Materialismus, der in Wahrheit irreligiös und religionswidrig sei. Es kommt nach Jacobi zwar nicht von ungefähr, sondern hat ein fundamentum in re, wenn das Christentum die Offenbarung Gottes unveräußerlich mit einem Einzelnen verbindet und Christus als individuellen Offenbarer, ja als denjenigen bezeugt, in dem allein Gott als er selbst offenbar ist. Doch müsse der solus Christus in seiner Alleinigkeit so erfasst werden, dass in dem Einen alles beschlossen und erschlossen sei. Dessen gewahr zu werden, sei weder die Sinnlichkeit, noch der Verstand, sondern allein das Vernunftgefühl in der Lage. Durch die äußeren Sinne vermag der Mensch Gott nicht zu erfassen, und wo mit der Möglichkeit und Wirklichkeit einer sinnlichen Erfassung der Gottheit gerechnet wird, da zieht nach Jacobi Götzendienst in den Tempel ein. Als derjenige, welcher er in Wirklichkeit ist, wird Gott nur im Heiligtum des Menschenherzens offenbar. Den Vorwurf, damit werde die Gottesoffenbarung um ihre Objektivität gebracht und als

282 | Gunther Wenz

bloß subjektives Datum dem Fiktionsverdacht preisgegeben, weist Jacobi als haltlos zurück. Sei doch Gott im Innersten des Menschenherzens als Grund von Selbst und Welt und mit einer Evidenz, die schlechterdings nicht falsifiziert werden könne, als eine Voraussetzung präsent, die auf keine menschliche Setzung zurückgeführt zu werden vermöge, weil sie die sich selbst voraussetzende Voraussetzung aller Setzungen sei. Gott gibt sich im Vernunftgefühl als das schlechthin Selbstverständliche zu verstehen, und er ist nur verstanden, wenn er als das Selbstverständlichste, als derjenige verstanden wird, der sich selbst zu verstehen gibt. An der Realität seiner Offenbarung im Herzen kann es daher nach Jacobi keinen Zweifel geben. Religion, wie er sie versteht, ist unmittelbares Geistbewusstsein im Gefühl. In diesem wird das Ich des Grundes seiner selbst, seines Sichgegebenseins und der in der Wahrnehmung jenes Sichgegebenseins unmittelbar mitgesetzten Differenz inne, die es in zweifacher Hinsicht von allem unterscheidet, was es nicht unmittelbar selbst ist. Im Geistgefühl wird das Ich, wie Jacobi sagt, eines Wesens über sich und einer Natur neben und unter sich gewärtig und zwar in einem Nu, dessen Bestimmungsmomente erst durch reflexives Denken gesondert werden.34

|| 34 Ein vergleichbarer Ansatz findet sich in der Religionstheorie Schleiermachers. Vgl. dazu Gunther Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. München 1999 (Sitzungsberichte der PhilosophischHistorischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Heft 3/1999). Schleiermacher hatte die Absicht, seine Glaubenslehre (Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Berlin 1821/22 [21830/31]) Jacobi zu widmen.

| 4 Anhang

Zeittafel 25. Januar 1743

Friedrich Heinrich Jacobi wird als zweiter Sohn des Düsseldorfer Kaufmanns Johann Konrad Jacobi (1715–1788) und dessen Frau Marie, geb. Fahlmer (1713–1746) in Düsseldorf geboren; sein Bruder ist der Schriftsteller und Übersetzer Johann Georg Jacobi (1740–1814)

1759

Jacobi wird nach einer kurzen Zeit als Kaufmannslehrling in Frankfurt am Main von seinem Vater zur weiteren Ausbildung nach Genf geschickt; dort lernt er bei seinem Mentor, dem Mathematiker Georges-Louis Le Sage (1724–1803), die Werke von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Charles Bonnet (1720– 1793), Voltaire (1694–1778), Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Immanuel Kant (1724–1804) kennen

1763/64

Rückkehr nach Düsseldorf und Übernahme des väterlichen Handelshauses

1764

Hochzeit mit Helene Elisabeth von Clermont (1743–1784) in Aachen

1765

Jacobi wird Freimaurer und zum Schatzmeister der Loge ›La Parfaite Amitié‹ in Düsseldorf ernannt; Geburt des Sohnes Johann Friedrich

1767

Geburt der Tochter Johanne Juliane Marie; sie lebt nur fünf Tage

1768

Geburt des Sohnes Georg Arnold

1769

Geburt der Tochter Wilhelmine Gleminde Juliane; sie wird nur ein Jahr alt

1770

Beginn der Freundschaft und Korrespondenz mit Christoph Martin Wieland (1733–1813); es folgen weitere Briefwechsel mit Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), Johann Gottfried Herder (1744–1803), Matthias Claudius (1740–1815) und Sophie von La Roche (1730–1807)

1771

Geburt des Sohnes Carl Maximilian, der nur ein Jahr alt wird

1772

Mitglied des Hofkammerrats des Herzogtums Jülich-Berg, Leiter des Zollwesens; gemeinsam mit Wieland plant Jacobi die Herausgabe einer deutschen Zeitschrift. Im folgenden Jahr geht daraus der Teutsche Merkur hervor

https://doi.org/10.1515/9783110727340-014

286 | Zeittafel

1773

Geburt des Sohnes Franz Theodor; er stirbt bereits nach einem Jahr

22. Juli 1774

erste persönliche Begegnung mit Johann Wolfgang Goethe

1775

erscheint Aus Eduard Allwills Papieren, zuerst anonym in der Zeitschrift Iris; Geburt des Sohnes Carl Wigand Maximilian

1776

die Fortsetzung von Eduard Allwills Papieren erscheint im Teutschen Merkur

1777

erscheint der Roman Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren im Teutschen Merkur als Fragment, daraus entsteht der Woldemar; Geburt der Tochter Clara Franziska

1779

Geheimrat und Referent für das Zollwesen im bayrischen Innenministerium; aufgrund seiner politischen und wirtschaftstheoretischen Schriften sowie deren Nähe zu Adam Smiths liberaler Lehre muss er diese Stelle noch im selben Jahr aufgeben; Woldemar, eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. Erster Band erscheint anonym, die Fortsetzung Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweyten Bande von Woldemar erscheint im Deutschen Museum; Zwei politische Rhapsodien

1780

Besuch bei Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in Wolfenbüttel, bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und Hermann Samuel Reimarus (1694–1768)

1781

erscheint Vermischte Schriften von Friedrich Heinrich Jacobi. Erster Theil

1782

erscheint Etwas das Leßing gesagt hat. Ein Commentar zu den Reisen der Päpste nebst Betrachtungen von einem Dritten

1784

Tod der Ehefrau Elisabeth

1785

erscheint Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn

1786

erscheint Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre Spinozas

1787

erscheint David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus

1792

erscheint Eduard Allwills Briefsammlung

Zeittafel | 287

1794

weicht Jacobi vor den anrückenden französischen Revolutionstruppen von Düsseldorf nach Holstein; dort erhält er Asyl von Matthias Claudius (1740–1815) in Wandsbek; Woldemar. Ergänzt um eine Beilage

1795

lässt sich Jacobi in Eutin nieder; es erscheint eine französische Ausgabe des Woldemar

1796

erscheint Woldemar. Neue verbesserte Ausgabe

1797

erscheint eine niederländische Ausgabe des Woldemar

1799

Jacobi an Fichte sowie Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft

1802

Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben

1. Januar 1805

feierliche Aufnahme in die Bayerische Akademie der Wissenschaften

1807

Ernennung zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck

1811

erscheint die Schrift Von den göttlichen Dingen; daraufhin entsteht ein Streit mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775‒1854)

18. September 1812 Versetzung in den Ruhestand aufgrund des Streits um seine Philosophie und des Bekanntwerdens der Kontakte zu den Freimaurern und den Illuminaten um Adam Weishaupt (1748– 1830) ab 1812

erscheint die sechsbändige Ausgabe seiner Werke

1813

Verleihung des bayerischen Personaladelstitels Friedrich Heinrich Ritter von Jacobi

1815

Wahl zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften; Einleitung in des Verfassers sämtliche Schriften

10. März 1819

Jacobi stirbt in München; im selben Jahr erscheint der Vorbericht zur Werkausgabe des Spinozabriefs

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (AA Band, Seitenzahl)

CPH

Christian August Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. 4 Bde. Hg. von Sonia Carboncini und Reinhard Finster. Hildesheim 1964‒1987. (CPH Band, Seitenzahl)

FA

Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u. a. Frankfurt a. M. 1989‒2013. (FA Band, Seitenzahl)

G

Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875‒1890 [ND Hildesheim 1961]. (G Band, Seitenzahl)

GGW

Christian Garve: Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000. (GGW Band, Seitenzahl)

HT

David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford University Press 2000.

HW

Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984– 2002. (HW Band, Seitenzahl)

JBW

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart 1981ff. (JBW Band, Seitenzahl)

JWA

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart 1998ff. (JWA Band, Seitenzahl)

LPS

Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. 10 Bde. Begonnen von Hans Werner Arndt, fortgeführt von Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1965–2008 sowie 2 Suppl.-Bde. Hildesheim 2020 [Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu hg., eingel., komment. und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel]. (LPS, Band, Seitenzahl bzw. LPS Suppl., Band, Seitenzahl)

LW

Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970‒1979 [Darmstadt 1996]. (LW Band, Seitenzahl)

MGS

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel und Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)

SSW

Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke Lateinisch - Deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)

https://doi.org/10.1515/9783110727340-015

290 | Siglenverzeichnis

TAW

Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Werner Schneiders und Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)

WGW

Christian Wolff: Gesammelt Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg von Jean Ecole u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band, Seitenzahl)

WOA

Christoph Martin Wieland: Werke. (Oßmannstedter Ausgabe) Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)

WP

Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening in Zusammenarbeit mit Udo Roth. Berlin, New York 2011ff. (WP Band, Seitenzahl)

Bibliographie Ausgaben Vermischte Schriften von Friedrich Heinrich Jacobi. Breslau 1781. Jacobiʼs Werke. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. 6 Bde. Leipzig 1812–1825. Friedrich Heinrich Jacobiʼs ausgewählte Werke. Neue Ausgabe. 3 Bde. Leipzig 1854. Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hg. und mit historisch-kritischer Einleitung versehen von Heinrich Scholz. Berlin 1916. Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. 7 Bde. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998–2007.

Monographien Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. Erster Band. Flensburg, Leipzig 1779. Woldemar. Ergänzt um eine Beilage. 2 Thle. Königsberg 1794. Woldemar. 2 Thle. Neue verbesserte Ausgabe. Königsberg 1796. Vermischte Schriften. Breslau 1781. Etwas das Leßing gesagt hat. Ein Commentar zu den Reisen der Päpste nebst Betrachtungen von einem Dritten. Berlin 1782. Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Breslau 1785. Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. 2. Auflage. Breslau 1785. Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinozas. Leipzig 1786. David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Zwei Gespräche. Ulm 1787. Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Neue, vermehrte Ausgabe. Breslau 1789. David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1795. Woldemar. 2 Theile. Haarlem 1797–1799. Jacobi an Fichte. Hamburg 1799. Woldemar. 2 Teile. Amsterdam 1799. Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden? Eine Gelegenheitsschrift von Friedrich Heinrich Jacobi. Leipzig 1806. Über gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und ihren Zweck. Eine Abhandlung, vorgelesen bey der feyerlichen Ernennung der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu München von dem Präsidenten der Akademie. München 1807. Friedrich Heinrich Jacobi von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811. Über die Lehre des Spinoza. Erweiterung der dritten Auflage. Breslau 1819. Woldemar. Von Friedrich Heinrich Jacobi. Neueste Ausgabe. Zwei Theile 1826. Sylli und Clerdon, oder Liebe und Verhängniss. Ein geistreicher Roman von Friedrich Heinrich Jacobi. Wien 1821. Friedrich Heinrich Jacobi von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. 2., wohlfeile Ausgabe. Leipzig 1822.

https://doi.org/10.1515/9783110727340-016

292 | Bibliographie

Herausgeberschaften Isabelle-Agnès-Élisabeth van Tuyll van Serooskernen van Zuylen: Le Noble, Conte. Londres [statt richtig: Amsterdam] 1771. Thomas Wizenmann. Die Geschichte Jesu nach dem Matthäus, als Selbstbeweis ihrer Zuverlässigkeit betrachtet; nebst einem Vorbereitungsaufsatze über das Verhältnis der israelitischen Geschichte zur christlichen. Mit einer Vorrede von Johann Friedrich Kleuker. Hg. von Friedrich Heinrich Jacobi. Leipzig 1789. Eduard Allwills Briefsammlung. Hg. von Friedrich Heinrich Jacobi mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Erster Band. Königsberg 1792. Eduard Allwills Briefsammlung. Hg. von Friedrich Heinrich Jacobi mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Ausgabe letzter Hand. Leipzig 1826.

Beiträge in Zeitschriften Discours préliminaire. In: Isabelle-Agnès-Élisabeth van Tuyll van Serooskernen van Zuylen: Le Noble, Conte. Londres [statt richtig: Amsterdam] 1771, S. V–VIII. Préface. In: Traductions de Diverses Œuvres. Composées en Allemand en Vers & en Prose. Par Mr. Jacobi, Chanoine d’Halberstat. Paris 1771, S. III–XVI. Betrachtung über die von Herrn Herder in seiner Abhandlung vom Ursprung der Sprache vorgelegte genetische Erklärung der thierischen Kunstfertigkeiten und Kunsttriebe. In: Der Teutsche Merkur (1771), 1. Bd., Februar, S. 99–121. Briefe an eine junge Dame. In: Der Teutsche Merkur (1773), 2. Bd., April, S. 59–75; Mai, S. 113–119; Juni, S. 235–247. An den Herausgeber des Teutschen Merkurs. In: Der Teutsche Merkur (1773), 4. Bd., September, S. 220–222. Briefe über die Recherches Philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois, Par Mrs. De P***. In: Der Teutsche Merkur (1773), 4. Bd., Oktober, S. 175–192; 1774, 5. Bd., Januar, S. 259–286; 6. Bd., April, S. 57–75; 7. Bd., Juli, S. 228–251. Litterarische Neuigkeiten aus Frankreich. In: Der Teutsche Merkur (1774), 5. Bd., Januar, S. 287– 309. Fragment einer Reisen nach Spanien, [Übersetzung aus Beaumarchais] »De mon voyage d’Espagne«. In: Der Teutsche Merkur (1774), 7. Bd., Juli, S. 153–213. Eduard Allwills Papiere. In: Iris (1775), 4. Bd., Düsseldorf, 3. St., S. 193–236. Eduard Allwills Papiere. In: Der Teutsche Merkur (1776), 14. Bd., April, S. 14–75; 15. Bd., Juli, S. 57– 71; 16. Bd., December, S. 229–262. Briefe des Königs von Preussen an D’Alembert. In: Der Teutsche Merkur (1777), 17. Bd., Februar, S. 154–165. Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren. In: Der Teutsche Merkur (1777), 18. Bd., April, S. 7–117, S. 204–231; 19. Bd., Juli, S. 32–49, S. 229–259; 20. Bd., Oktober, S. 246–267. Eine politische Rhapsodie. Aus einem Aktenstocke entwendet. Ein eingesandtes Stück. In: Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur 1 (1779), 1. Bd., 5. St., Mai, S. 407– 418.

Bibliographie | 293

Noch eine politische Rhapsodie, worinn sich verschiedene Plagia befinden; betittelt: Es ist nicht recht, und es ist nicht klug. In: Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur 1 (1779), 1. Bd., 5. St., Mai, S. 418–448. Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande des Woldemar. In: Deutsches Museum (1779), 1. Bd., April, S. 307–348; Mai, S. 393–427. An Voss. In einer Bibliothek, worin alle deutsche Kritiken befindlich waren. In: Deutsches Museum (1781), Juli, S. 289. Über Recht und Gewalt, oder philosophische Erwägung eines Aufsatzes von dem Herrn Hofrath Wieland, über das göttliche Recht der Obrigkeit, im Deutschen Merkur, November 1777. In: Deutsches Museum (1781), 1. Bd., Juni, S. 552–554. Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch. In: Vermischte Schriften von Friedrich Heinrich Jacobi. Erster Theil. Breslau 1781, S. 7–142. Schreiben des Hrn. Geheimenrathes Jacobi in Düssseldorf. In: Deutsches Museum (1781), 2. Bd., Juli, S. 95–96. Erinnerungen gegen die in den Januar des Museums eingerückten Gedanken über eine merkwürdige Schrift. In: Deutsches Museum (1783), 1. Bd., S. 97–105. Gedanken Verschiedener bey Gelegenheit einer merkwürdigen Schrift. In: Deutsches Museum (1783), 1. Bd., S. 3–9. Über und bei Gelegenheit des kürzlich erschienenen Werkes, des Lettres de Cachet et des prison d’état. In: Deutsches Museum (1783), 1. Bd., April, S. 361–394; Mai, S. 435–476. Nöthige Erklärung über eine Zudringlichkeit. In: Berlinische Monatsschrift (1786), 7. Bd., März, S. 279–288. Die beste von den Haderkünsten. Eine Erzählung. In: Deutsches Museum (1787), 1. Bd., S. 49–51. Berichtigung eines philologischen, eines historischen und eines pragmatischen Punktes in der Recension des Gespräches über Idealismus und Realismus. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 24 (1788), Sp. 209–213. Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. In: Deutsches Museum (1788), 1. Bd., S. 153–184. Eine kleine Unachtsamkeit der Berliner Monatsschrift, in dem Aufsatze: Über die Anonymität der Schriftsteller. Februar 1788, S. 137–147. In: Deutsches Museum (1788), 1. Bd., April, S. 293– 299. Vorwort zu: Thomas Wizenmann: Philosophische Verknüpfung der Hauptmomente hebräischer Geschichte, in Beziehung auf Geschichte der Menschheit. In: Deutsches Museum (1788), 1. Bd., Februar, S. 191–192. Swifts Meditation über einen Besenstiel, und wie sie entstanden ist. In: Neues Deutsches Museum (1789), 1. Bd., Oktober, S. 405–417. Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers, in Briefen an vertraute Freunde. In: Die Horen (1795), 3. Bd., August, S. 1–34. Vorrede. Von F. H. Jacobi. Wird überschlagen! In: Überflüssiges Taschenbuch für das Jahr 1800. Hg. von J. G. Jacobi. Hamburg 1799, S. 1–37. Über eine Weissagung Lichtenbergs. In: Taschenbuch für das Jahr 1802. Hg. von J. G. Jacobi. Hamburg 1801, S. 3–46. Friedrich Heinrich Jacobi über drei von ihm bei Gelegenheit des Stolbergischen Übertritts zur Römisch-Katholischen Kirche geschriebene Briefe und die unverantwortliche Gemeinmachung derselben in den Neuen Theologischen Annalen. In: Neuer Teutscher Merkur (1802), 3. Bd., 11. St., November, S. 161–171. Über das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben. In: Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der

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Personenregister Anna Amalia 32, 147 Aristoteles 19, 21, 22, 110, 112, 135f., 139‒141, 144‒146, 155f. Augustinus 18 Bacon, Francis 60, 168 Basedow, Johann Bernhard 26 Berkeley, George 75, 92 Bode, Johann Joachim Christoph 147 Bonnet, Charles 46, 48, 56 Boyle, Robert 74‒78 Brentano, Clemens 63, 81 Brentano, Bettine 63, 81 Brion, Friederike 25, 29 Buff, Charlotte 29 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 20, 188 Burke, Edmund 19, 146 Butler, Joseph 19, 92f., 112, 137, 138 Claudius, Matthias 38, 280 Euklid 243 Fahlmer, Johanna 151 Fénelon, François 92, 130, 160, 163, 165f. Ferguson, Adam 17‒19, 90, 112, 117, 133f., 137 Feuerbach, Ludwig Andreas 242 Fichte, Johann Gottlieb 1, 2, 5, 72, 74, 78, 80, 198, 216f., 222, 226-231, 233f., 238, 240, 246, 255, 259, 262‒274, 277‒279 Forberg, Friedrich Karl 227, 262 Forster, Georg 1, 67, 109, 188 Frankfurt, Harry 195 Fries, Jakob Friedrich 172 Garve, Christian 175 Gellert, Christian Fürchtegott 29 Gleim, Johann Ludwig Wilhelm 11, 26, 28 Göschel, Carl Friedrich 233‒235, 238‒242, 245‒250, 252‒257 Goethe, Johann Wolfgang 1, 7, 9, 15, 22, 2543, 45, 63f., 68, 79, 93, 108‒113, 147‒153, 156, 221, 259 Gottsched, Johann Christoph 29

https://doi.org/10.1515/9783110727340-017

Hamann, Johann Georg 8, 54f., 64, 67f., 79f., 110 Helvétius, Claude Adrien 46, 86f., 89, 90‒93, 95f., 98‒100 Hippias 46f., 49‒51 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 221, 233‒236, 238‒257 Heine, Heinrich 266 Heinse, Wilhelm 8, 11 Hemsterhuis, Frans 45, 57‒60, 197 Herder, Johann Gottfried 26, 28f., 37, 45, 56‒62, 111f., 141, 191‒203 Hermanni, Friedrich 249 Herodot 69f. Heydenreich, Karl Heinrich 199 Hobbes, Thomas 101 Holbach, Paul Henri Thiry de 86, 91, 93 Homer 29 Humboldt, Alexander von 1 Humboldt, Wilhelm von 1, 111, 157 Hume, David 5, 22, 55, 171‒173, 177, 179, 184, 207, 209, 268 Jacobi, Friedrich Heinrich 1f., 5‒8, 10‒12, 15‒17, 22, 25‒43, 45‒82, 85‒88, 90‒93, 96‒113, 120‒122, 126‒130, 132‒137, 139, 141, 147‒153, 155, 157, 161‒168, 171‒195, 197‒200, 202f., 207‒218, 221‒226, 229‒231, 233‒253, 255f., 259‒262, 267‒271, 273f., 278‒282 Jacobi, Johann Georg 8, 26, 47, 63 Jacobi, Helene Elisabeth 26 Jean Paul 2, 259, 271‒279 Jung-Stilling, Johann Heinrich 26 Kant, Immanuel 1, 6f., 9, 50, 54, 57, 98, 101, 104, 146, 171‒175, 179‒183, 190, 193f., 212f., 216‒219, 223, 225, 227‒230, 235‒238, 246, 255f., 263, 268f. 280 Klinger, Friedrich Maximilian 29 Kleuker, Johann Friedrich 60 Klopstock, Friedrich Gottlieb 29 Knebel, Karl Ludwig von 29 Körte, Wilhelm 11

310 | Personenregister

La Mettrie, Julien Offray de 86 Lange, Samuel Gotthold 11 La Roche, Sophie von 15, 28‒30, 51, 150 Lavater, Johann Caspar 26, 30, 32, 38, 66, 68, 79, 110, 151 Leibniz, Gottfried Wilhelm 5, 172f., 177‒180, 183‒186, 193, 196, 199 Lenz, Johann Michael Reinhold 29 Lessing, Gotthold Ephraim 1, 29, 34, 45f., 56, 61, 85, 90, 100, 109f., 132, 192f., 197, 221, 223f., 235, 259f. Locke, John 87, 168 Luther, Martin 56, 222

Spinoza, Baruch de 1, 27, 34, 38, 43, 45, 54‒57, 60‒62, 85, 87, 92, 97, 101f., 110, 171f., 176, 191‒200, 202, 207‒209, 211, 221‒224, 235f., 245, 260‒262, 270, 274 Stamford, Heinrich 8 Sterne, Laurence 29f., 78 Stifter, Adalbert 277 Stolberg, Friedrich 30 Storr, Gottlob Christian 280 Strauß, David Friedrich 234, 256 Sulzer, Johann Georg 11, 176‒181 Swift, Jonathan 63‒82

Macchiavelli, Niccolò 101 Meier, Georg Friedrich 180 Mendelssohn, Moses 1, 5, 34, 110, 192, 194, 208, 221, 223, 225f., 235, 260f. Merck, Johann Heinrich 26, 29, Mesmer, Franz Anton 182f. Mozart, Wolfgang Amadeus 276

Winckelmann, Johann Joachim 29 Wieland, Christoph Martin 1, 15, 26, 28, 30, 45‒52, 57, 107f., 150 Wieland, Wolfgang 217 Wolff, Christian 53, 177f., 187

Newton, Isaac 35 Niethammer, Friedrich Immanuel 262, 265 Pascal, Blaise 54f. Platon 16f., 19, 57, 148, 162, 164f., 214 Plutarch 19‒21 Richardson, Samuel 10, 14 Pope, Alexander 65f., 70 Reid, Thomas 19, 117 Reinhold, Karl Leonhard 226 Roth, Friedrich 113 Rousseau, Jean-Jacques 10, 14f., 17, 19, 51, 58, 80, 98, 102, 104, 134, 143, 188 Sachs, Hans 8 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2, 5, 38, 85, 102, 191f., 195, 207f., 211‒219, 221f., 231, 233‒235, 238, 246, 255, 279 Schlegel, Friedrich 1, 126, 132, 153, 156, 160, 166f., 280 Schleiermacher, Friedrich 222, 229‒231 Schlosser, Johann Georg 29 Schmidt, Klamer 8 Schmoll, Georg Friedrich 26 Schopenhauer, Arthur 191, 202 Shakespeare, William 14, 29