Frühe sozialistische satirische Prosa [Reprint 2021 ed.] 9783112578506, 9783112578490

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German Pages 232 [233] Year 1982

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Frühe sozialistische satirische Prosa [Reprint 2021 ed.]
 9783112578506, 9783112578490

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FRÜHE SOZIALISTISCHE SATIRISCHE PROSA

TEXTAUSGABEN ZUR F R Ü H E N SOZIALISTISCHEN IN

LITERATUR

DEUTSCHLAND

Begründet von B R U N O K A I S E R und weitergeführt von U R S U L A M Ü N C H O W Herausgegeben vom Zentralinstitut f ü r Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R

BAND XXII

FRÜHE SOZIALISTISCHE SATIRISCHE PROSA

Herausgegeben von

NORBERT ROTHE

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1981

Erschienen im Akademie-Verlag DDR - 1080 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: Jutta Kolesnyk © Akademie-Verlag Berlin 1981 Lizenznummer: 202 • 100/176/81 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5518 Bestellnummer: 7536558 ( 2 1 1 9 / X X I I ) • L S V 7105 Printed in GDR DDR 1 8 , - M

INHALT

VII 1

EINLEITUNG TEXTE

Kleine satirische 3 7 14 19 45

Prosaformen

Die ersten Jahre des Deutschen Reiches (1870/71—1878) Unter dem Sozialistengesetz (1878—1890) Die „goldenen neunziger Jahre" (1890—1897/98) Im Zeichen des Imperialismus (1897/98—1905/07) A m Vorabend des Weltkrieges (1905/07—1914)

Gedanken eines arbeitslosen 52 55 59 61 63 66 67 71

Philosophen

Bürgerliche Moral Militarismus Religion und Kirchenfeste Frauenfrage Sozialphilosophisches Die Not Historische Tage Lose Gedanken

Briefe und Kommentare fiktiver Figuren 77 Herrn Anastasii Lämpelmeiers, Professors der Beredsamkeit, Abendbetrachtungen über die Freiheit 79 [Brief an den „Wahren Jakob"] Satirisch verwendete Formen der Alltagsrede 82 83 85 88 89 93 94 96

Ein amtlicher Briefwechsel O diese Dienstmädchen! Die Abschaffung des geheimen Wahlrechts Der Kolonial-Verein zu Bimbia Elf Paragraphen für biedere Staatsbürger und solche, die es werden wollen (Jeremias Gnadenreich) Was wird nun an die Reihe kommen? Was wird aus den Parteigeldern? Republik oder Monarchie

97 99 100 101 105 106 109 110 111 112 113 116 120 121 123

Offener Brief an den deutschen Michel Bekanntmachung Arbeitsordnung für das Königreich Stumm Brief aus Japan Mietkontrakt für Barmen und zum Er-Barmen Aus Bismarcks Leben Die neue deutsche Reichskunst Die japanischen Stürme auf Port Arthur Vom Neger, der auszog, sein Recht zu suchen 560 Millionen Rebbach (Cri-Cri.) Kaiser und Kanzler Die Gerechtigkeit (Lucian) Damit so was nicht wieder passiert (T.) „Von unten auf" Frisierte Weltgeschichte

Satiren und Humoresken 126 130 133 138 139 142 146 150 153 155 157 161 167 170 171 173 175 179 184 187

Eine Pfingstreise Der unglückliche Erbprinz Der weise Sokrates (Hans Flux) Der brave Esel (E. Kl.) Die Legende vom Schnapphahn (J. Sirach) Was der Derwisch wußte (A. O.-W.) Der verhängnisvolle Brief (Max Kegel) Der neue Salomo Blinde Scheiben (Ernst Klaar) Der Lügen-Derwisch König Mammon (Ernst Klaar) Die Friedenskonferenz (Tarub) Meine Künstlerlaufbahn Die Boxerbewegung im Jahre Neun Der Orden (Xaverl) Pithecanthropus erectus (Fritz) Der König und sein Wesir (Ludwig Frank) Das Gesetz (Fritz) Silvesterspuk im Winterpalast (Sous-Marin) Warum mein Freund Dagobert Schönchen nicht auf den Kriegsschauplatz ging

191

ANHANG

Anmerkungen 193

Abkürzungen

194

Anmerkungen zur Einleitung

197

Anmerkungen zu den Texten

EINLEITUNG

Vielfältige Erfahrungen aus der Geschichte der Literatur weisen darauf hin: Die Satire gewinnt zumeist an Schärfe, Bedeutung, Umfang und Qualität, wenn der Klassenkampf oder der Kampf zwischen mächtigen politischen Gruppierungen sich zuspitzt und wenn er gleichzeitig in erheblichem Maße in der ideologisch-kulturellen Sphäre ausgetragen wird. Darin kommt das kämpferische, vor allem auf Geißelung und Vernichtung des Gegners gerichtete Wesen der Satire 1 zum Ausdruck. Diese Erfahrungen bestätigt auch die Geschichte der frühen sozialistischen Literatur in Deutschland; ihre stärksten Komponenten waren die politische Lyrik und die politische Satire, wobei die politische Lyrik einen ungewöhnlich starken satirischen Einschlag hatte und im allgemeinen dort, wo sie zum Satirischen neigte, mehr überzeugte als dort, wo sie sich dem Pathos und dem Sentiment ergab. Nicht nur der Literatur der frühen deutschen Sozialisten war dieser Trend zum Satirischen eigen, sondern ebensosehr ihrer politischen Publizistik, die politische Rede eingeschlossen. Die Werke und Briefe von Marx und Engels weisen eine Vielzahl satirischer oder satirisch gefärbter Stellen oder ganzer Passagen auf, die die Freude der beiden Klassiker an diesem Mittel zur Bekämpfung des Gegners, wie auch von Abweichlern, Versagern und Verrätern aus den eigenen Reihen, zeigen. Man denke an den'Anfang des „Manifests der Kommunistischen Partei": „Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus . . . " 2 Man denke an die „Deutsche Ideologie", den „Bürgerkrieg in Frankreich" oder den „Anti-Dühring" und schließlich an Briefstellen, die charakteristische Schlaglichter auf komplizierte Vorgänge werfen, wie etwa die negative Entwicklung Freiligraths im Nachmärz: „Herr Freiligrath unterdessen ist Gemütsproduzent des national liberal philistine geworden. Und mit Recht. E r muß doch etwas in retotir geben für die Bürgerkollekte which he has IX

pocketed." 3 Die Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei bedienten sich in einigen ihrer besten Parlamentsreden, gerade auch in solchen, die von Marx und Engels lobend hervorgehoben wurden, satirischer Mittel, wie Hohn, Spott, Ironie und Sarkasmus, mit Erfolg. Viele politische Artikel, auch Leitartikel, der Arbeiterpresse hatten literarisch-satirischen Anstrich; das gilt besonders füf die siebziger Jahre. Zuweilen wurden politischsatirische Verse in solche Artikel eingefügt; nicht selten stand an der Stelle eines politischen Artikels zu einem aktuellen Problem ein politisch-satirisches Gedicht. Friedrich Engels hat sich in den achtziger und neunziger Jahren mehrfach mit der publizistischen und literarischen Arbeit der deutschen Sozialdemokratie auseinandergesetzt und dabei auch zu Fragen der Satire Stellung genommen. In seinem Brief vom 19. Juli 1884 an Karl Kautsky kritisierte er scharf jene „schriftstellernden Parteileute in Deutschland", die sich als „Opportunisten" und „Leisetreter" entpuppten, sich in „Philanthropie, Humanismus, Sentimentalität" und anderen „antirevolutionären Untugenden" übten und sich deshalb - „literarisch", wie Engels sagt — unter den Ausnahmebedingungen des Sozialistengesetzes „ganz in der richtigen Atmosphäre" befanden, denn diese Ausnahmebedingungen machten es praktisch unmöglich, ihnen ernsthaft entgegenzutreten.4 An der „Neuen Welt", der Unterhaltungszeitschrift der revolutionären Sozialdemokratie, die eine relativ wenig kämpferische Haltung zeigte, bemängelte er ihre „ertötende" Langweiligkeit 5 ; über das „Berliner Volksblatt" äußerte er sarkastisch, es würde „größtenteils im Schlaf geschrieben" und es bestünde die Gefahr, daß „unser Staatsanzeiger dem preußisch-deutschen eine gar zu unbillige Konkurrenz" machte6. Besonders bemühte sich Engels um den „Sozialdemokrat", Briefe an Eduard Bernstein aus dem Jahre 1881 - Bernstein hatte gerade die Redaktion des Blattes übernommen — enthalten Ratschläge, wie das Blatt zu gestalten war, Ratschläge, die als programmatisch für die ganze publizistische und literarische Tätigkeit der revolutionären Sozialdemokratie, und nicht nur unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, gelten konnten. In seinem Brief vom 2. Februar 1881 heißt es: „Die 5 Nrn. des .Sozialdemokrat]' seit dem Jahreswechsel bekunden einen bedeutenden Fortschritt. Der melancholische Verzweiflungston des .geschlagenen Mannes', die ihn ergänzende hochtrabende Biedermännischkeit, die fortwährend mit Mostschen RevoluX

tionsphrasen abwechselnde spießbürgerliche Zahmheit, endlich die ewige Beschäftigung mit Most haben aufgehört. Der Ton ist flott und zielbewußt geworden, das Blatt wird nicht mehr abwiegeln, wenn es so bleibt, sondern den Leuten in Deutschland zur Ermutigung dienen." 7 In seinem Brief vom 12. März 1881 kommt er noch einmal auf dieses Thema zu sprechen: „Das Blatt kann jetzt tinsern Leuten in Deutschland doch wirklich zur Aufmunterung und Erheiterung dienen, die sie, wenigstens die sog. Führer, teilweise sehr nötig haben. Ich habe wieder einige Jammerbriefe erhalten und gebührend beantwortet. Auch V[iereck] war anfangs sehr melancholisch, aber ein paar Tage in der freien Londoner Luft genügten, ihm wieder Elastizität zu geben. Diese freie Luft muß das Blatt nach Deutschland hineintragen, und dazu dient vor allem, daß der Gegner mit Verachtung behandelt, verhöhnt wird. Wenn die Leute erst wieder über Bismarck & Co. lachen lernen, ist viel gewonnen." „Erheiterung" wäre nötig, ebenso wie die „stete Erinnerung daran, daß Bismarck & Co. immer noch dieselben Esel, dieselben Kanaillen und dieselben, gegenüber der geschichtlichen Bewegung machtlosen, armen Tröpfe sind wie vor den Attentaten." „Also", so folgert Engels, „jeder Witz über dies Pack ist wertvoll." 8 Engels bekämpfte unerbittlich jede Form der Ermüdung im proletarischen Klassenkampf. Er wollte den sozialdemokratischen Publizisten und Literaten in Deutschland eine auf die historische Potenz der Arbeiterklasse gegründete kämpferischoptimistische, heiter-überlegene Haltung vermitteln; einzig eine solche Haltung verhieß Erfolg im Klassenkampf. Verschiedentlich wies Engels anerkennend auf das Beispiel klassenbewußter deutscher Arbeiter hin, die ihren Kampf gegen das Bismarcksche Ausnahmegesetz mit eben solcher heiteren Zuversicht führten. Eine solche Haltung literarisch auszudrücken, war am besten das Mittel der Satire geeignet. Folgerichtig schloß Engels auch seinen hier zuerst genannten Brief mit der Empfehlung, im „Sozialdemokrat" Georg Weerths satirisches Gedicht „Heute morgen fuhr ich nach Düsseldorf" abzudrucken.» Im übrigen verwies er auf die „Neue Rheinische Zeitung" und ihr Feuilleton, worin Marx, Engels und Weerth — publizistisch und literarisch — beispielhaft Satire im Klassenkampf eingesetzt hatten: Der Ton des Blattes, so schrieb er, war „keineswegs feierlich, ernst oder begeistert. Wir hatten lauter verächtliche Gegner und behandelten sie ausnahmslos mit der äußersten Verachtung. Das konspirieXI

rende Königtum, die Kamarilla, der Adel, die ,Kreuz-Zeitung', die gesamte .Reaktion', über die der Philister sich sittlich entrüstete — wir behandelten sie nur mit Hohn und Spott. Aber nicht minder auch die durch die Revolution aufgekommenen neuen Götzen: die Märzminister, die Frankfurter und Berliner Versammlung, Rechte wie Linke darin. Gleich die erste Nummer begann mit einem Artikel, der die Nichtigkeit des Frankfurter Parlamentes, die Zwecklosigkeit seiner langatmigen Reden, die Überflüssigkeit seiner feigen Beschlüsse verspottete." 10 Schon dieser frühe großangelegte Versuch, von sozialistischer Position aus mit der Waffe der Satire zu kämpfen, hatte zum Erfolg geführt: „Keine deutsche Zeitung, weder vorher noch nachher, hat je die Macht und den Einfluß besessen, hat es verstanden, so die proletarischen Massen zu elektrisieren wie die ,Neue Rheinische'." Ähnlich befriedigt konnte sich Engels im Jahre 1890 in seinem Abschiedsbrief an die Leser des „Sozialdemokrat" über die Leistung dieser Zeitung und ihre heiter-kämpferische, also vor allem auch satirische, Haltung äußern: „Und das Blatt war der Mühen und Gefahren wert, die seine Verbreitung kostete. Es war unbedingt das beste Blatt, das die Partei je besessen. Und zwar nicht bloß, weil es, allein von allen, volle Preßfreiheit genoß. Die Grundsätze der Partei wurden mit seltener Klarheit und Bestimmtheit dargelegt und festgehalten, und die Taktik der Redaktion war fast ausnahmslos die richtige. Dazu kam noch eins. Während unsre Bourgeoispresse sich der ertötendsten Langweiligkeit befleißigt, spiegelte sich im .Sozialdemokrat' auch der heitre Humor reichlich wider, womit unsre Arbeiter den Kampf gegen Polizeischikanen zu führen gewohnt sind." 1 2 Solche heiter-kämpferische Haltung war großen Teilen der frühen sozialistischen Satire eigen und hat sie zu beachtlichen Erfolgen geführt. Der „Wahre Jakob" erreichte eine Maximalauf läge von etwa 380000 Exemplaren, also eine fast fünfmal so hohe wie der „Simplicissimus", und auch der „Süddeutsche Postillon" konnte hinsichtlich der Auflagenhöhe mit bürgerlichen Blättern, wie dem „Simplicissimus" oder dem „Kladderadatsch", konkurrieren. 13 Wichtiger aber als die äußerlichen Erfolge ist die ideologische und ästhetische Leistung dieser Satire; durch die Schärfe ihrer Kritik am reaktionären Regime des Kaiserreiches und an dei* internationalen Reaktion, durch ihre revolutionäre Aggressivität gegenübei1 dem Klassenfeind trug sie in ihren besten Leistungen XII

entscheidend dazu bei, daß die Literatur der frühen deutschen Arbeiterklasse, von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an, in zunehmendem Maße sozialistischen Charakter und literarische Attraktivität gewann.14 Andere Faktoren trugen zu diesem Erfolg bei, so vor allem die relativ leichte „Handhabbarkeit" der Satire, die sie den erst um ideologische und ästhetische Bildung ringenden Proletariern leichter zugänglich machte, und der ausgeprägte Sinn einfacher Menschen aus dem Volke für Humor und Komik, insbesondere für engagiert und parteilich eingesetzten Witz, wie er allenthalben in der Volksliteratur festzustellen ist. Die frühe sozialistische Satire war — im ganzen gesehen — ein Ruhmesblatt in der Geschichte der frühen sozialistischen Literatur, das heißt aber nicht, daß es nicht auch ernste Probleme und Schwächen gab. Charakteristisch für diese Satire sind zwei, scheinbar miteinander im Widerspruch stehende, Erscheinungen: Auf der einen Seite gibt es offenbar einen Zusammenhang zwischen der Tendenz zum Satirischen und erreichter hoher inhaltlicher und formaler Qualität. Dafür sprechen folgende Fakten: Eine Reihe besonders profilierter Autorenpersönlichkeiten waren hauptsächlich oder teilweise Satiriker, so Max Kegel, Eduard Fuchs, Karl Kaiser, Ernst Klaar, Wilhelm Bios, August OttoWalster , und Adolf Lepp. Besonders ausgeprägt revolutionäre und vom Marxismus beeinflußte Positionen vertraten in den neunziger Jahren die Angehörigen einer Gruppe von Mitarbeitern des „Süddeutschen Postillon", Eduard Fuchs, Karl Kaiser und Ernst Klaar 15 , sie waren alle drei vorwiegend als Satiriker tätig. Zu den erfolgreichsten Publikationsorganen der revolutionären Sozialdemokratie gehörten ganz allgemein die satirischen Blätter, allen voran der „Wahre Jakob" und der „Süddeutsche Postillon"; bezeichnend ist die Tatsache, daß ein Teil der Einkünfte aus dem Vertrieb dieser beiden Blätter zur Finanzierung der Edition anderer Parteischriften verwendet werden konnte. Solche Publikationsorgane, die als revolutionäre Organisationszentren der Arbeiterbewegung und ihrer Literatur wirkten, wie etwa der „Braunschweiger Volksfreund", die „Chemnitzer freie Presse" oder der „Volksstaat", boten in der Regel in ihren Feuilletons der Satire breiten Raum; die „Neue Welt" dagegen, die eine unkämpferische, partiell am bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bildungsstreben orientierte Linie verfolgte, brachte nur wenige satirische Beiträge, und wenn, dann solche. XIII

die die bestehenden Verhältnisse nicht, grundsätzlich in Frage stellten. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß im Bereich der Satire eine Reihe von Autoren und Redakteuren eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, die in der einen oder anderen Weise von der revolutionären, marxistischen Grundlinie der Arbeiterbewegung abwichen: Ludwig Viereck, Karl Frohme, Wilhelm Hasenclever, der spätere Anarchist Johann Most u. a. Besonders aufschlußreich ist das Beispiel von Wilhelm Bios, der seit den achtziger Jahren zu den repräsentativen Vertretern des Opportunismus in der Partei zählte. Um die Entwicklung der Satire aber hat er sich sehr verdient gemacht. Das Wirken des „Mainzer Eulenspiegel" und der „Braunschweiger Leuchtkugeln" ist aufs engste mit seirtem Namen verbunden, am „Wahren Jakob" arbeitete er sicher als politisch-historischer Publizist, sehr wahrscheinlich aber auch als Satiriker mit. Aus seiner Feder stammt die episch angelegte Satire „Der Prinzipienreiter"16, die - trotz einiger ernster Schwächen, der Opportunist Bios kann sich auch hier nicht ganz verleugnen — nicht nur formal, sondern gerade auch inhaltlich mit zu den starken Leistungen der frühen sozialistischen Satire zu rechnen ist; immerhin wird hier mit einigem Erfolg versucht, historische Erkenntnisse über die bürgerliche Revolution von 1848 in satirische literarische Bilder umzusetzen und auf diese Weise einem breiteren proletarischen Leserkreis zu vermitteln. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß der ideologische Verfall seit etwa der Jahrhundertwende nicht zugleich zum allseitigen und völligen Verfall dieser Satire führte. Den Zenit seiner Auflagenhöhe erreichte der „Wahre Jakob" beispielsweise erst im Jahre 1913. Dieser Widerspruch erklärt sich aus der vereinfachenden, zu Einseitigkeit und Überbetonung neigenden Betrachtungsweise der Realität durch die Brille des Satirikers. Wird in Richtung auf das Wesentliche vereinfacht, vermag Satire Bedeutendes zur Erhellung der realen Vorgänge zu leisten; geht die Vereinfachung aber am Wesentlichen vorbei, kann Satire umgekehrt großen Schaden anrichten. Entscheidend ist die Qualität des Bewußtseins des Satirikers, bei der politischen Satire also die Qualität des Geschichtsbewußtseins. Die Geschichte des „Wahren Jakob" beweist dies nachdrücklich. So nützlich sein Wirken in den achtziger und neunziger Jahren XIV

des vorigen Jahrhunderts war, so erstaunlich war sein Abgleiten bis hin zum simplen Antikommunismus Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts. Seit dem Beginn der Burgfriedenspolitik, vor allen Dingen aber in der Zeit der Weimarer Republik war diese Zeitschrift im Grunde genommen ein anderes Organ, mit anderem Inhalt und änderet Tendenz. Ihre Mitarbeiter orientierten sich — im ganzen gesehen — stets an der Politik der Parteiführung. Solange diese, unter August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Paul Singer, revolutionär war, waren sie es in ihrer Mehrzahl auch; als zentristische und rechte Kräfte die Oberhand gewannen, änderten allmählich die meisten Satiriker ihre Haltung, auch traten neue Kräfte mit entsprechender Haltung in den Vordergrund. Ab 1918 geriet die Zeitschrift ganz unter den Einfluß der rechten SPD-Führung; die kommunistische deutsche Arbeiterbewegung entwickelte nach und nach eine eigene Satire mit eigenen Publikationsorganen und eigenen Autorenpersönlichkeiten. Was hier am Beispiel des „Wahren Jakob" und unter vergleichender Einbeziehung der Zeit der Weimarer Republik demonstriert wurde, die relative politisch-ideologische Unselbständigkeit der Satiriker, ihre relativ naive und kritiklose Orientierung an den jeweiligen Parteiführungen, so unterschiedlichen Charakters diese immer waren, das gilt grundsätzlich auch für die frühe sozialistische Satire im ganzen und durch ihre verschiedenen Entwicklungsphasen hindurch. Auf die einfachste Formel gebracht, kann festgestellt werden: Die frühe sozialistische Satire, im engeren Sinne die Satire der revolutionären Sozialdemokratie, stieg mit der revolutionären Arbeiterpartei auf und erlebte mit der ideologisch verfallenden Partei einen Niedergang, bis hin zum Zusammenbruch zu Beginn des Weltkrieges. Hinter dieser vereinfachenden, den Prozeß lediglich in seinen Grundzügen erfassenden Formel verbergen sich eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelentwicklungen von Personen und Organen, auf die an dieser Stelle nicht im einzelnen eingegangen werden kann.

Eigentlich zufällig, bedingt durch die chronologische Anordnung der Texte, beginnt dieser Band mit einem kurzen Text, der eine vernichtende Kritik der bürgerlichen satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch" beinhaltet und damit so etwas wie eine auf die kürzeste Formel gebrachte Programmerklärung der Satire der XV

revolutionären deutschen Sozialdemokratie darstellt. Der „Kladderadatsch", der 1848 gegründet worden war und in seinen ersten Jahren Beachtliches an Gesellschaftskritik geleistet hatte, war in der Folgezeit inhaltlich-ideologisch verfallen und unterstützte zu Beginn der siebziger Jahre - aus jener Zeit stammt dieser, aus den „Braunschweiger Leuchtkugeln" entnommene Text — die Politik Bismarcks. E r hatte sich also auf die „andere Seite der Barrikade" begeben und wurde bekämpft. Seine Wandlung war Teil und Widerspiegelung der Entwicklung des deutschen Bürgertums in jener Zeit, Dieses hatte 1848 das Banner des Fortschritts fallengelassen, das Proletariat hatte es aufgenommen und führte fortan in seinem Zeichen den Klassenkampf gegen die vereinten Kräfte des junkerlich-bourgeoisen Bündnisses. Nunmehr waren nur noch vereinzelt Gruppierungen des Kleinbürgertums als Bündnispartner der Arbeiterklasse zu gebrauchen. Ganz ähnlich sah es speziell in der Sphäre der Literatur aus. Symptomatisch war die Enttäuschung, die der späte Freiligrath Marx und Engels und der deutschen Arbeiterbewegung bereitete. Die bedeutenden Leistungen des späten Herwegh symbolisieren demgegenüber eher die Ausnahme. Im wesentlichen waren es die Autoren der revolutionären Sozialdemokratie, die das Erbe der fortgeschrittensten revolutionär-demokratischen Dichter und Publizisten des Vormärz antraten. Vielfältige Bemühungen um aktive Rezeption von Vormärz-Lyrik, insbesondere der von Heine, Herwegh und vom frühen Freiligrath, belegen diese Feststellung. . • .;. Andererseits nahmen immer wieder progressive, sozial engagierte bürgerliche Autoren Kontakte zur Arbeiterbewegung und zu ihrer Literatur auf. Einige von ihnen förderten ganz wesentlich die Entwicklung der frühen sozialistischen Literatur (so zum Beispiel Erich Mühsam und Karl Henckell), nicht ohne dabei auch Probleme zu erzeugen (Robert Seidel), andere traten ganz auf die Seite der Arbeiterklasse über und wurden selbst zu bedeutenden frühsozialistischen Autoren (Robert Schweichel, Karl Lübeck). Die Übernahme der führenden Rolle im Kampf um den Fortschritt durch die Arbeiterklasse und durch ihre — freilich noch über Jahrzehnte mit den Problemen und Schwierigkeiten des Anfangs belastete - Literatur mußte sich besonders deutlich im Bereich der kämpferischen Gattung der Satire zeigen. Und in der

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Tat: Während sich die meisten bürgerlichen Satiriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger in politischer Unverbindlichkeit und eigentlicher Ziellosigkeit übten und sich damit selbst zur relativen Bedeutungslosigkeit verurteilten, engagierten sich die revolutionär-sozialdemokratischen Satiriker stark, ergriffen sie nachdrücklich Partei für die Sache der Arbeiterklasse und aller Unterdrückten und stimulierten auf diese Weise die proletarischen Klassenkräfte. Was die frühe sozialistische Satire kraftvoll und farbig machte, was ihr inhaltliche Überlegenheit selbst gegenüber solchen Ausnahmeerscheinungen wie Adolf Glaßbrenner oder der Zeitschrift „Simplicissimus" gab, war nicht eigentlich das Talent ihrer Autoren und Zeichner, sondern die Verwurzelung im Kampf der proletarischen Klasse, die Verbundenheit mit ihrem nationalen und menschheitlichen Anliegen. Ein gewisses Maß an Destruktion der damals bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse vermochten auch bürgerliche Satiriker zu leisten, aber die eigentliche Zerstörung falschen Bewußtseins setzt die Fähigkeit zur Entwicklung einer revolutionären Alternative, einer sozialistischen Perspektive voraus, und diese Fähigkeit war nur bei den sozialistischen Autoren zu finden. Eine solche Perspektive in satirischen Texten zu vermitteln, ist eine schwere Aufgabe, die die Satiriker der revolutionären Sozialdemokratie unter anderem dadurch bewältigten, daß sie Satire und Nichtsatire miteinander verbanden. Dies geschah oft innerhalb eines Textes (viele Leitgedichte des „Wahren Jakob" und des „Süddeutschen Postillon" beweisen das), mehr noch aber durch die bewußte und gezielte Vermischung von satirischen mit kämpferisch-agitatorischen, pathetischen, hymnischen, zuweilen auch leicht sentimentalen, dabei aber stark sozial engagierten Texten in den einzelnen Heften der satirischen Zeitschriften. Ergänzt wurde dieses Verfahren durch die Einfügung von historischer, politischer und kulturpolitischer Publizistik. So verstanden sich der „Wahre Jakob" und der „Süddeutsche Postillon" auch nicht eigentlich als satirische Zeitschriften im landläufigen Sinne, sondern als politisch-literarische Kampforgane, in denen die Satire — als besonders geeignete literarische Waffe — einen hervorragenden Platz einnahm. Aus der Bezogenheit auf die historische Mission der Arbeiterklasse erklärt sich auch die augenfällige Aktualität der Mehrzahl der in diesem Band abgedruckten Texte. Diese Aktualität be2

Prosasatire

XVII

weist, daß hier - trotz aller nicht zu übersehenden Begrenztheit der Einsicht - Triebkräfte und Erscheinungen des modernen Geschichtsprozesses richtig erfaßt und wirkungsvoll vermittelt wurden. An folgenden Texten wird das besonders deutlich: König Mammon, Was der Derwisch wußte, Der Lügen-Derwisch, Pithecanthropus erectus, Das Gesetz, Der weise Sokrates und Gedanken eines arbeitslosen Philosophen. Insgesamt vermitteln die Texte dieses Bandes ein realistisches Bild vom Leben im kaiserlichen Deutschland. Sie greifen die negativsten Erscheinungen auf und stellen sie — kräftig koloriert — aus, geeignet, unrealistischen Vorstellungen von einer angeblich guten alten Zeit entschieden entgegenzuwirken. Der heutige Leser erfährt von der philiströsen Abweisung der unablässigen Forderung der Volksmassen nach tatsächlicher Freiheit (Herrn Anastasii Lämpelmeiers, Professors der Beredsamkeit, Abendbetrachtungen über die Freiheit, Der unglückliche Erbprinz), von der Borniertheit Angehöriger der herrschenden Klassen (O diese Dienstmädchen!), von lebensfremder und menschen verachtender Bürokratie (Ein amtlicher Briefwechsel), von reaktionären Wahlrechtsmanipulationen (Die Abschaffung des geheimen Wahlrechts), von den Ausbeutungsmethoden jener Zeit (Arbeitsordnung für das Königreich Stumm, Bünde Scheiben, König Mammon), vom Wohnungselend und von der Willkür kleinkapitalistischer Hausbesitzer (Mietkontrakt für Barmen und zum Er-Barmen), vom Mißbrauch der Kunst zu reaktionären, staatserhaltenden Zwecken (Die neue deutsche Reichskunst, Meine Künstlerlauf bahn), von der kolonialen Extremform imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung (Die Boxerbewegung im Jahre Neun, Vom Neger, der auszog, sein Recht zu suchen), von den Auswüchsen der Kriegstreiberei und des Militarismus (560 Millionen Rebbach, Brief aus Japan) und der Demagogie zur Verschleierung der Kriegsvorbereitungen (Die Friedenskonferenz), vom unverhüllten Terror der Klassenjustiz (Die Gerechtigkeit, Der neue Salomo), von den unablässigen Verfolgungen fortschrittlicher Kräfte durch die Polizei (Der verhängnisvolle Brief) und die Zensurbehörde (Von unten auf) und nicht zuletzt von parallelen Erscheinungen im Ausland, insbesondere im besonders reaktionären zaristischen Rußland (Silvesterspuk im Winterpalast). Zudem wird der heutige Leser an einige „Eigentümlichkeiten" deutscher Staatsmänner jener Zeit erinnert (Kaiser und Kanzler, Aus Bismarcks Leben), und er erlebt bei dieser Lektüre XVIII

gleichzeitig ein gutes Stück des Widerstands gegen alle diese Erscheinungen nach. Die frühe sozialistische deutsche Satire entstand im Vormärz. Mit dem Feuilleton der „Neuen Rheinischen Zeitung" und dem Schaffen Georg Weerths erlebte sie einen ersten, zugleich Maßstäbe für die spätere Entwicklung setzenden Höhepunkt. Diese erste, vormärzliche Phase wurde im vorliegenden Band ausgeklammert, um mehr Texte der späteren Phasen aufnehmen zu können, die nicht oder nur wenigen Spezialisten bekannt sind. Die wichtigsten Texte dieser ersten Phase sind anderweitig zugänglich, insbesondere gibt es einen Nachdruck der „Neuen Rheinischen Zeitung" 17 und eine fünfbändige Gesamtausgabe der Werke Georg Weerths 18 . Nach einem reichlichen Jahrzehnt der Lähmung während der nachmärzlichen Restaurationsperiode zeigten sich erste Keime einer neuen frühsozialistischen Satire in den sechziger Jahren, als sich mit der Entwicklung einer organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland eine neue sozialistische, wesentlich auch direkt aus dem Proletariat erwachsende Literatur herauszubilden begann. Sie bekam seit dem Ende der sechziger Jahre und verstärkt in den ersten siebziger Jahren ideologisch, inhaltlich und formal Gewicht. Wir bezeichnen sie als Literatur der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Der eigentliche Gegenstand dieses Bandes ist also die Satire der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, genauer: ihre Prosa. Auch in dieser zweiten Phase zeitigte die frühsozialistische Satire beachtliche Leistungen. Johann Philipp Becker (1809-1886), langjähriger Freund von Marx und Engels, Herausgeber der im Geiste des proletarischen Internationalismus geschriebenen bedeutsamen Monatsschrift „Der Vorbote" und Mitbegründer der Eisenacher Partei, veröffentlichte 1875 unter dem Titel „Neue Stunden der Andacht" einen Band mit satirischer Lyrik in der Form gereimter Psalmen 19 , mit denen er „die Gebrechen des Kapitalismus" bloßlegte20. Erwähnt werden müssen auch die beiden episch breit angelegten „Eisele-und-Beisele"- Satiren 21 von August Otto-Walster (1834-1898), dem Begründer der Dresdner Organisation der Eisenacher Partei und der ersten Arbeiterzeitung in Dresden, des „Dresdener Volksboten", einem der bedeutendsten Autoren der revolutionären Sozialdemokratie, 2*

XIX

die allerdings schon 1863 und 1864 erschienen, als Otto-Walster sich erst zum Sozialdemokraten zu entwickeln begann; sie weisen lediglich in ersten Ansätzen sozialistischen Charakter auf und sind insofern eher zu den Vorformen der sozialistischen Satire zu zählen, zusammen etwa mit manchen Beiträgen in der bürgerlich-demokratischen „Frankfurter Latern" Friedrich Stoltzes22. Die wichtigsten Zeugnisse aus dieser Entwicklungsphase sind die satirischen Blätter. Seit dem Jahre 1870 erschien im sächsischen Industriezentrum Chemnitz das erste deutsche sozialdemokratische satirische Blatt, der „Nußknacker", als Beilage der bedeutenden regionalen Arbeiterzeitung der siebziger Jahre, der „Chemnitzer freien Presse". Seine Beiträge beleuchteten noch einmal mit den Mitteln der Satire all das, was in den Spalten der Zeitung ernst und sachlich berichtet und kommentiert worden war. Der Gesichtskreis dieses Blattes war noch mehr regional als national, und nur selten wurden internationale Fragen angesprochen. Es entsprach ganz dem Entwicklungsstand der deutschen Arbeiterklasse jener Zeit, wenn der „Nußknacker" vornehmlich an Probleme anknüpfte, die das Arbeitsverhältnis und das soziale Leben des Proletariers berührten. Große Ansprüche an das Geschichtsbewußtsein der Leser konnten noch nicht gestellt werden, Ansätze zur satirischen Erörterung historisch bedeutsamer Themen gab es allerdings bereits, so wurde Jahr für Jahr aufs neue der nationalistische Sedan-Rummel entlarvt und verdammt. Hinsichtlich ihrer formalen Qualität hatten die Beiträge dieses Blattes recht unterschiedliches Niveau. Neben vielem Schwächlichen und Unzulänglichen fand sich häufig auch ausgesprochen Gelungenes, und nicht selten offenbarte sich echter Sinn für parteilich eingesetzten Witz und drastische politische Komik. Der tägliche Kleinkrieg mit den Unternehmern und die alltägliche Auseinandersetzung mit der sozialen Zwangslage erzeugten neben Erbitterung auch manchen satirischen Gedanken. Dennoch war es eine mehr von Trotz und Kampfeswillen als von Heiterkeit bestimmte Haltung, die den „Nußknacker" prägte. Die vielfältigsten Satire-Formen, bunt durcheinandergewürfelt, wurden verwendet: die bekannten kleinen Prosaformen, vom Witz und von der Glosse bis hin zur Anekdote, Spottverse und Gedichte, Skizzen und anspruchslose Erzählformen, Dialoge und Kurzszenen, fingierte Annoncen, Berichte, Kommentare und XX

Meldungen. Formen mit ästhetischem Anspruch waren selten. So findet man nur wenige überzeugend durchgestaltete Anekdoten und wirklich gelungene Aphorismen. Auffallend häufig wurden presseübliche Genres gebraucht. Das hängt mit der gleichzeitigen oder früheren journalistischen Tätigkeit von Mitarbeitern des Blattes zusammen.23 Kommentare und Briefe fiktiver Figuren, die Gelegenheit boten, knapp und anspruchslos zu verschiedenen aktuellen Fragen nacheinander Stellung zu nehmen, waren bei Lesern und Autoren gleichermaßen beliebt. Abgerundete Humoresken und Satiren finden sich so gut wie nicht. Der äußere Eindruck, den das Blatt — zumindest auf den heutigen Leser — macht, ist recht bescheiden. Der Bildanteil ist gering; aussagestarke Karikaturen oder die für den „Wahren Jakob" und den „Süddeutschen Postillon" später so typisch gewordenen satirisch-allegorischen Bilder fehlen fast ganz; das Titelblatt ziert in der Regel ein Leitgedicht. Farbdruck stand noch nicht zur Verfügung. Dafür entwickelten die Redakteure beachtliches Geschick bei der differenzierten Gestaltung des Satzspiegels. Der Umfang war noch gering, im Schnitt betrug er vier Seiten. Für seine proletarischen Leser war das eigentlich Wichtige der Inhalt; was sie brauchten, war ein Organ, das ihren Wünschen und Hoffnungen, ihrem Haß und ihrem Zorn auf munter-streitbare, zuweilen auch heiter-zuversichtliche Weise Ausdruck gab. Trotz aller polizeilichen Verfolgungen existierte der „Nußknacker" acht Jahre, 1878 wurde er Opfer des Sozialistengesetzes. Zwischendurch, von 1873 bis 1876, trug er den Namen „Chemnitzer Raketen", der Namenswechsel hing mit der Umgehung einer polizeilichen Verfügung zusammen24. Was hier zur Charakterisierung des „Nußknacker" gesagt wurde, gilt im wesentlichen auch für die beiden anderen satirischen Blätter der siebziger Jahre, für die „Braunschweiger Leuchtkugeln", die als Beilage des „Braunschweiger Volksfreund" von 1871 bis 1878 erschienen, und für den „Mainzer Eulenspiegel" (1875-1878). Die Geschichte dieser drei Blätter ist eng mit dem Schaffen einiger bedeutender sozialistischer Schriftstellerpersönlichkeiten verbunden. Max Kegel 25 (1850—1902), der vorher am „Dresdener Volksboten" bei August Otto-Walster in die Lehre gegangen war, leistete die Hauptarbeit für den „Nußknacker" bzw. für die

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„Chemnitzer Raketen", zunächst gemeinsam mit Johann Most (1846—1906), ab 1873 zusammen mit Gustav Lyser (gest. 1909). Lyser war auch der erste verantwortliche Redakteur der „Braunschweiger Leuchtkugeln", ihm folgten in dieser Funktion Wilhelm Bios (1849-1927) und Samuel Kokosky (1838-1899), der später, ab 1891, den „Neue-Welt-Kalender" leitete. Kokosky gab 1891 eine Auswahl aus den „Braunschweiger Leuchtkugeln" unter dem Titel „Raketen und Leuchtkugeln"26 heraus. Den „Mainzer Eulenspiegel" leitete Wilhelm Bios, der offensichtlich alle Beiträge dafür allein schrieb.27 Satire fand sich — gerade in den siebziger Jahren — auch in nichtsatirischen Organen. Kleine satirische, wie auch humoristische, Prosaformen bildeten einen integrierenden Bestandteil der wichtigen frühen Parteikalender der Sozialdemokratie, des Brackeschen „Volkskalenders" (Braunschweig 1875-1878), des „Deutschen Arbeiterkalenders des fNeuen Social-Demokrat'" (Berlin 1875) und des „Armen Conrad" (Leipzig 1876—1878). Das bedeutsame Feuilleton des von Wilhelm Liebknecht redigierten „Volksstaat", der „Volksstaat-Erzähler", wäre ohne seinen beträchtlichen Anteil an satirischer Lyrik nicht denkbar gewesen.28 Auch Zeitungen brachten zuweilen Gedichte, darunter satirische und solche mit deutlichem satirischen Einschlag. Zusammenfassend kann für diese zweite Entwicklungsphase festgestellt werden, daß die revolutionäre Sozialdemokratie eine hoffnungsvolle Entwicklung ihrer Parteiliteratur und gerade auch ihrer politischen Satire angebahnt hatte. Die dritte Phase umfaßt die Zeit von 1878 bis 1890. Ihr Hauptinhalt war der Einsatz der Satire im Widerstandskampf gegen das Bismarcksche Sozialistengesetz. Der Entzug der „normalen" Pressefreiheit war gerade für die politische Satire ein harter Schlag, denn scharfe Kritik und Aggressivität, gegen die bestehenden Verhältnisse gerichtet, sind ihre grundlegenden Lebenselemente. Eine normale Weiterentwicklung der Satire war deshalb in diesen zwölf Jahren nicht möglich. Doch lernten die Satiriker bald, sich mit Erfolg des Mittels der „äsopischen Redeweise"29 zu bedienen, „durch die Blume" ließ sich manches Wichtige sagen. Philisterkritik, Polizeispitzelverhöhnung und auch zuweilen eine spöttische Anspielung auf das Sozialistengesetz waren beispielsweise möglich. Mit derZeit lernte man, die Taktik der Verbindung von legalen und illegalen Kampfmethoden anzuwenden, die August Bebel bereits in seiner Reichstagsrede vom 16.9.1878 angekündigt hatte. XXII

Bereits in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes gab es drei sozialdemokratische satirische Blätter. In Leipzig gab von 1878 bis 1880 Wilhelm Hasenclever (1837-1889) das „Lämplein" heraus, in Dresden erschien von 1879 bis 1881 als Beilage der „Dresdner Abendzeitung" der von Max Kegel redigierte und von ihm fast allein geschriebene „Hiddigeigei". In Hamburg wurde 1879 von J. H. W. Dietz (1843-1922) ein Blatt unter dem Namen „Der wahre Jakob" gegründet, das aber 1881 wieder einging; zwischen diesem Blatt und dem späteren berühmten „Wahren Jakob", der 1884 in Stuttgart neu gegründet wurde, gibt es lediglich einen lockeren Zusammenhang. Alle drei Blätter hatten nur wenige Jahre Bestand, sie wurden direkt oder indirekt Opfer des Ausnahmegesetzes. Ihre Bedeutung darf dennoch nicht unterschätzt werden, sie waren sichtbare Symbole der Fortführung des Klassenkampfes auf literarischem Felde. Ein erstaunliches Phänomen ist es, daß gerade der „Wahre Jakob" und der „Süddeutsche Postillon", die später eine so günstige Entwicklung nahmen, in der Zeit des Sozialistengesetzes ins Leben gerufen wurden. Abermals war es Max Kegel, der 1882 in München, zusammen mit Louis Viereck (1851—1921), den „Süddeutschen Postillon" gründete, auch schrieb er die ersten Jahrgänge allein, erst ab 1884 kamen andere Mitarbeiter hinzu.30 1884 gründete J. H. W. Dietz in Stuttgart den „Wahren Jakob" neu. Diese beiden Organe vermochten die Kräfte der Reaktion nicht mehr aus der Welt zu schaffen, die Redakteure und Mitarbeiter hatten inzwischen gelernt, die Klippen des Ausnahmegesetzes zu umschiffen und doch für die Sache des Proletariats zu wirken. So gelang es — trotz aller Erschwernisse —, das in den siebziger Jahren Erreichte auf einem insgesamt gesehen etwas höheren Niveau fortzusetzen. Manch einer freilich gewöhnte sich in dieser Zeit auch an eine zahmere Denk- und Schreibweise. So lassen sich hie und da Ursachen für spätere Inkonsequenzen und Verirrungen bis in diese Jahre zurückverfolgen. Der Sieg über das Sozialistengesetz, an dem die Satire fraglos ihren Anteil hatte, war ein großer und verdienter, aber doch auch ein nicht ganz ungeschmälerter Erfolg. Hinsichtlich der formalen Qualität und der Gestaltung der Bildteile lassen sich für diese Zeit einige Fortschritte feststellen. Aphorismen, Sentenzen, Anekdoten und andere anspruchsvollere Formen wurden häufiger benutzt, im „Wahren Jakob" und im „Süddeutschen Postillon" fanden sich die ersten gelungeXXIII

nen Humoresken und Satiren. Der „Wahre Jakob" und - in geringerem Maße - der „Süddeutsche Postillon" brachten Karikaturen und allegorische Bilder und nicht zuletzt humoristische oder satirische Bildgeschichten. Die neunziger Jahre - sie bilden die vierte Entwicklungsphase wurden zu einer Blütezeit dieser Satire. Die Beschränkungen des Sozialistengesetzes entfielen, die Autoren konnten sich relativ frei äußern. Ausbeutung und Unterdrückung blieben aber und nahmen immer raffiniertere Formen an. Die sozialen Probleme, Kriegstreiberei, Kasernenhofdrill und die Militarisierung des gesamten Lebens, Polizeischikanen und die Urteile der reaktionären Klassenjustiz, bürgerliches Philistertum und kleinbürgerliches Spießertum, die Machenschaften der ostelbischen Junker und die anachronistischen Erscheinungen des monarchistischen Staatswesens forderten die Satire immer stärker heraus. Hinzu kamen das — satiregemäße — „persönliche" Regiment Wilhelms II., die beginnende gefährliche deutsche „Weltpolitik" und Versuche, neue Ausnahmegesetze zu schaffen (Umsturzvorlage, Zuchthausvorlage). Diese Verhältnisse machten in besonderem Maße eine auf historisch Wesentliches gerichtete, im Dienste der revolutionären Arbeiterklasse stehende politische Satire erforderlich. Andere Faktoren begünstigten die Entwicklung: Die Schreibfähigkeit war gewachsen, die Finanzlage wesentlich verbessert, der Kreis der Leser bedeutend vergrößert, die Zahl der Mitarbeiter gestiegen, und ab 1891 bzw. 1892 wurde der Farbdruck eingeführt. Nunmehr wurden im wesentlichen alle Formen gemeistert, gerade auch die epischen, die der Humoreske und der Satire. Schon äußerlich wirkten der „Wahre Jakob" und der „Süddeutsche Postillon", auf die sich von dieser Zeit an die Satire konzentrierte, ungleich attraktiver als in den siebziger und achtziger Jahren: Quartformat, auf dem Titelblatt ein ansprechendes Bild, nicht selten von beachtlicher ästhetischer Qualität, ein Umfang von acht und mehr Seiten, eiile ganze Reihe von Karikaturen, Bildgeschichten und symbolisch-allegorischen Bildern, verschiedensten Formats, abwechselnd schwarz-weiß und farbig, eingefügt in einen gekonnt durchgestalteten Satzspiegel. Neue Schriftstellerpersönlichkeiten hatten sich inzwischen entwickelt und trugen das ihre zum Gedeihen der Satire bei: Rudolf Lavant (1844-1915), Adolf Lepp (1847—1906) und G. M. Scaevola. 31 In den neunziger Jahren wurden fast alle namhaften Autoren der deutschen Sozialdemokratie Mitarbeiter der beiden bedeutenden XXIV

satirischen Zeitschriften. Max Kegel arbeitete seit dem Ende der achtziger Jahre für den „Wahren Jakob". Eduard Fuchs (18701937), Karl Kaiser (1868-?) und Ernst Klaar (1861-1920) bildeten das Rückgrat des „Süddeutschen Postillon" und unterstützten nachhaltig — und das unterscheidet sie merklich von anderen Autoren - das Ringen von Kräften um August Bebel um einen revolutionären Kurs der Partei zu Beginn der neunziger Jahre. Rudolf Lavant, Ernst Kreowski, Heinrich Kämpchen, Robert Seidel, Ludwig Lessen, Paul Enderling, Bruno Schönlank, Adolf Lepp, Otto Krille, Emil Rosenow, Ernst Preczang und Clara Müller-Jahnke stellten satirische oder nichtsatirische Beiträge zur Verfügung. Die fünfte und letzte Phase umfaßt den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zum Weltkriegsbeginn. Es war die Phase des ideologisch-inhaltlichen Verfalls der frühen sozialistischen Satire, auf den einige bedenkliche Vorzeichen bereits Ende der neunziger Jahre vorausgewiesen hatten, der nun in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts langsam, aber stetig sichtbarer wurde und nach dem Ende der russischen Revolution von 1905/07 beschleunigt vonstatten ging. Die durch diese Revolution veranlaßte verstärkte Auseinandersetzung mit dem Zarismus, die stets zugleich eine Auseinandersetzung mit der deutschen und internationalen Reaktion war, führte vorübergehend zu einem Wiederaufschwung der Satire, der jedoch den Verfallsprozeß weder verdecken noch aufhalten konnte. Gleichzeitig wurden die äußeren Bedingungen der satirischen Zeitschriften, Finanzlage, Leserzahlen usw., immer besser. Begabte und erfahrene Mitarbeiter standen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Die Entwicklung der politischen Lage, gekennzeichnet durch die weitere Zuspitzung des Klassenkampfes und die rapide zunehmende Gefahr eines imperialistischen Weltkriegs, forderte die Satire geradezu heraus, bot ihr eine große Chance, sich voll zu entfalten. Diese Faktoren wirkten dem Verfall entgegen. So kam es zu einer gegenläufigen Entwicklung: auf der einen Seite — alles in allem gesehen — ideologisch-inhaltliche Verarmung, auf der anderen Weiterentwicklung der formalen Meisterschaft. Am Ende jedoch machte sich das Ausbleiben entscheidender Impulse von neuen Inhalten her als Hemmnis auch für die Weiterentwicklung der Form bemerkbar. Was der „Wahre Jakob" und der „Süddeutsche Postillon", der sein Erscheinen 1910 einstellte und seine Leser an den „Wahren

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Jakob" verwies, im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkrieg leisteten, war immerhin noch engagierte und auch parteiliche Gesellschaftskritik, sehr oft sogar von erheblicher Schärfe, die unser Interesse durchaus verdient; aber es war weniger revolutionäre, sozialistische als vielmehr demokratisch-antimilitaristische Gesellschaftskritik mit sozialistischem Einschlag. Die Unterstützung der Burgfriedenspolitik der rechten Parteiführung zu Beginn des Weltkriegs bedeutete praktisch das Ende der frühen sozialistischen Satire. Es waren die satirischen Blätter der K P D und hervorragende Persönlichkeiten wie Weinert und Slang (Fritz Hampel), die in den zwanziger Jahren auf einer neuen Stufe der Entwicklung das Werk der Kegel, Kaiser, Fuchs und Klaar vor allem aus den siebziger bis neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts fortzusetzen begannen. Die frühe sozialistische deutsche Satire hatte einen fruchtbaren Boden bereitet, auf dem später Neues wachsen und gedeihen konnte.

Der vorliegende Band knüpft unmittelbar an den im Jahre 1977 in dieser Reihe erschienenen Band „Frühe sozialistische satirische Lyrik aus den Zeitschriften ,Der Wahre Jakob' und .Süddeutscher Postillon'"32 an. Ursprünglich bestand die Absicht, Versund Prosasatire zusammen in einem Band zu veröffentlichen. Der Charakter dieser Textausgabenreihe forderte jedoch, sollte eine ausreichende Repräsentanz der Vielfalt von Themen, Inhalten und Formen erreicht werden, mindestens zwei Bände, so daß eine Aufteilung des Materials nötig wurde. Von den sich anbietenden Aufteilungsmöglichkeiten erwies sich die in Lyrik und Prosa als die angängigste, und zwar aus praktischen Gründen. So ließen sich zwei Bände normalen Umfangs herstellen, und die umfangreiche Arbeit konnte in zwei praktikable Abschnitte geteilt werden. Auf einen betonten Gattungsunterschied weist die gewählte Aufteilung nicht hin, einen solchen gibt es nach den Erfahrungen dieser Arbeit im Bereich der frühen sozialistischen Satire nicht. Selbstverständlich zeigten sich die bekannten Gattungs- und Genremerkmale auch hier, doch dufch die satirische Verwendung eher reduziert und verwischt. Es sind im allgemeinen die gleichen Themen, Inhalte und Anliegen, bis hin zu charakteristischen Varianten, die sich gleichermaßen in Lyrik und Prosa und auch zugleich in verschiedenen Prosagenres finden; nur sind sie quantitativ etwas unterschiedlich verteilt. Eine eingehendere BeXXVI

schäftigung mit dieser Frage erscheint hier nicht sinnvoll, sie sollte einer detaillierten Untersuchung an einem umfassenderen Gegenstand vorbehalten bleiben. Wollte man die frühe sozialistische Satire dennoch nach sachlichen Gesichtspunkten gliedern, so wäre vom Grad der operativen Disponibilität, als dem wohl charakteristischsten Unterscheidungsmerkmal, auszugehen. Danach würden sich drei Gruppenin dieser Reihenfolge — ergeben: 1. der Komplex von kleinen Prosaformen, von satirisch verwendeten Formen der Alltagsrede (darunter vor allem presseübliche Genres) und von Briefen und Kommentaren, 2. die Lyrik und 3. Satiren und Humoresken. Für eine Aufteilung des Materials auf zwei Bände war diese Gliederung nicht zu gebrauchen. Auch befriedigt sie in der Sache nicht, da es andere Kriterien gibt, die zu anderen Ergebnissen führen. Wichtig ist die relative funktionale Einheit des gesamten Komplexes der frühsozialistischen Satire. Der verhältnismäßig hohe Anteil kleiner Prosa in diesem Band ist nicht zufällig, er entspricht einerseits dem Quantum im Materialfundus, andererseits drückt er aus, daß gerade die kleinen Formen relativ gut gemeistert wurden. Briefe und Kommentare nahmen in den satirischen Blättern einen sehr breiten Raum ein; sie sind aber für den heutigen Leser wenig interesssant, da er die vielen Einzelfragen und -Vorkommnisse, die in ihnen angesprochen werden, nicht kennen kann, auch bieten sie ästhetisch nur wenig Reizvolles. Folglich wurden nur zwei Beiträge dieser Art aufgenommen, lediglich um eine Grundvorstellung zu vermitteln. Sehr umfangreich ist der Abschnitt mit satirisch verwendeten Formen der Alltagsrede. Bei gründlicher vergleichender Abwägung, Text gegen Text, im Auswahlprozeß erwiesen sie sich als relativ aussagekräftig und vielgestaltig. Daß der Abschnitt mit Satiren und Humoresken keinen größeren Umfang angenommen hat, hängt vor allem damit zusammen, daß diese Formen erst relativ spät gemeistert wurden, weitgehend also zu einer Zeit, da der ideologische Verfallsprozeß schon im Gange war. Die „Gedanken eines arbeitslosen Philosophen" sind als zweiter Teil des Abschnitts „Kleine satirische Prosaformen" anzusehen. Hier handelt es sich um eine Auswahl aus Texten kleiner Prosaformen von Eduard Fuchs, die in einer ständigen Rubrik unter dem gleichen Titel viele Jahre hindurch im „Süddeutschen Postillon" erschienen. Diese Auswahl, vom Autor selbst vorgenommen, wurde hier unverändert und vollständig aufgenommen, XXVII

weil sie nicht nur Zeugnis eines ungewöhnlichen Talents ist, sondern zugleich die Leistung der revolutionären „Postillon"Gruppe wesentlich repräsentiert. Es ist zu hoffen, daß durch diesen Band das Bild von der frühen sozialistischen deutschen Satire, das die Reihe „Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland" vermittelt, einigermaßen abgerundet wird, nachdem außer dem Band mit satirischer Lyrik auch schon Bände zu einzelnen Autoren, die mehr oder weniger Satiriker waren, erschienen sind, nämlich ein Band zu Max Kegel, einer zu Adolf Lepp und einer zu G. M. Scaevola. Wichtig ist auch die neu edierte Anthologie „Aus dem Klassenkampf", die viele satirische Gedichte und Sprüche der Gruppe Kaiser-Fuchs-Klaar enthält. Dennoch harrt manches Interessante, das im Prozeß der Arbeit ins Blickfeld rückte, weiterhin der Neuveröffentlichung. Friedrich Engels hatte in einem Brief an Hermann Schlüter vom 12. 3. 1886 mit Bezug auf die englische Arbeiterzeitung „Northern Star" bemerkt: „Das ist der Fluch aller von der offiziellen Literatur ausgeschlossenen Proletarierliteratur, unterzugehn." 33 Durch viele Jahrzehnte drohte auch unserem Gegenstand, der nicht zur damals „offiziellen" Literatur gehörte, dieses Schicksal. Manches Wertvolle ist in der Tat verlorengegangen. Möge dieser Band ein wenig dazu beitragen, daß das erhalten Gebliebene bewahrt bleibt und als ein Teil unseres sozialistischen Literaturerbes gebührend beachtet und genutzt wird.

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TEXTE

Kleine satirische Prosaformen

Die ersten Jahre des Deutschen Reiches f 1870/71—1878,) Preisfrage Waren die „Gelehrten" des „Kladderadatsch" 1848 vernünftig, als sie für die Republik schrieben und besonders IHN arg mitnahmen, oder sind sie jetzt für die Charité reif, indem sie den Cäsarismus verherrlichen? BL 7.4.1872, S. 2.

„Süß ist's, für das Vaterland zu sterben", soll einmal Theodor Körner gesagt haben. Aber für das Vaterland zu leben und der Menschheit zu nützen, scheint uns auch nicht bitter zu sein. CR 1873, Nr. 2, S. 1.

Allen unseren Parteigenossen diene hiermit zur gefälligen Nachricht, daß wir mit dem heutigen Tage unsere Erholungsreise nach dem königlichen Jagdschlosse Hubertusburg angetreten haben und daselbst den übrigen fünf sozialdemokratischen Kurgästen nach Möglichkeit die Zeit vertreiben wollen. Chemnitz, 25. März 1873 Dietze und Geilhof, weiland Redakteure der „Chemnitzer freien Presse" BL 30. 3. 1873, S. 1.

Die Bewohner von Leipzig haben dem nationalliberalen Polizeipascha Rüder den Gehorsam gekündigt. Sie behaupten, einen Menschen, der gegen alles Recht gehandelt habe, wie in der Zweiten Kammer konstatiert worden sei, könnten sie nicht mehr als Obrigkeit betrachten. Sonderbare Schwärmer. CR 1874, Nr. 18, S. 2.

Die Witwen und Waisen der 1866 durch preußische Kugeln gefallenen deutschen Krieger haben an Bismarck anläßlich seines 3

Geburtstages eine Glückwunsch-Depesche gerichtet. Seine Nerven sollen dadurch etwas erregt worden sein. CR 1874, Nr. 14, S. 2.

Majestätsbeleidigung Wiealleuntugendeninunsererheutigengesellschaftzunehmensoauch diese hadenfreudeundwirdiewirebenfallsschadenfrohsindfreuenuns darüberdaßsichdiepolizeihatdieaugenverderbenmüssenumdieseshe rauszubringenundstattdermajestätsbeleidigungweiternichtsfindet alsdaßwirihrvergnügtefeiertagewünschen! CR 1874, Nr. 21, S. 2.

An dem Massenausflug Chemnitzer Arbeiter, welcher heute stattfindet, werden auch einige Polizeibeamte teilnehmen. Wir wünschen denselben viel Vergnügen. CR 1874, Nr. 23, S. 2.

Ein Schulblatt stellte unlängst die Frage auf: „Welches ist die größte Grausamkeit?" Die Antwort darauf lautete: „Wenn man einem Lehrer, welcher Frau und Kinder und nur 150 Taler Gehalt hat, einen guten Appetit wünscht." D A K 1875, S. 121.

Ein halber „Sozialdemokrat" Im „Mainzer Tagblatt" vom Freitag treibt sich ein „halber Sozialdemokrat" herum, der da glaubt, die Strafgesetz-Novelle sei gar nicht übel und müsse auch angenommen werden. Bei genauer Betrachtung haben wir gefunden, daß diesem „Halben" die obere Hälfte, also auch der Kopf, fehlt. Wo er denselben verloren hat, konnten wir nicht ergründen. Wir können ihm aber doch empfehlen, sich erst wieder einen Kopf zu verschaffen und sich nicht wieder kopflos in die politischen Fragen zu stürzen. Im übrigen danken wir auch für jene Hälfte, welche im „Tagblatt" herumfährt. Wir sind stets Feinde der „Halben" gewesen. Oder bezieht sich die Verehrung jenes Biedermannes bloß auf die „Halben", welche im Wirtshaus verabreicht werden? Dann bitten wir um Entschuldigung; solche „Halben" sind Privatsache ! ME 1875, Nr. 37, S. 3.

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Ein Volk, dem nicht verstattet ist, zu sagen, was es denkt, wird sich bald gewöhnen, nur das zu denken, was es sagen darf; und so wird die Kraft gelähmt und die Lüge zur Natur. DAK

1875, S. 125.

Wieviel große Menschen sind nicht durch Herrschsucht, Neid oder Feigheit ihrer Zeitgenossen an den Schandpfahl gestellt worden, der sich später dann in einen Schandpfahl für die jämmerlichen Neider und in eine Ehrensäule für den Gekränkten verwandelte! Wurde nicht Christus gekreuzigt? Und was ist eine Trajanssäule mit dem ganzen Prunke ihrer Triumphe gegen das Kreuz und seine höhnende Inschrift? D A K 1 8 7 5 , S. 124.

Gespräch zweier Eisensklaven E R S T E R S K L A V E : Warum säugen doch die feinen Damen ihre Kinder nicht selbst, sondern lassen sie von armen Leuten säugen? Z W E I T E R S K L A V E : Damit sie sich schon früh genug daran gewöhnen, die armen Leute auszusaugen. B L 27. 8. 1876, S. 2.

Herr Borsig soll den Arbeitern das Lesen der „Berliner freien Presse" verboten haben. Er würde darin nur den Kanonenvater Krupp nachahmen. Es ist nur die Humanität der Herren zu bewundern, daß sie Arbeitern noch gestatten, ihre Frauen auf eigne Hand zu heiraten. Wir sagen „noch", denn warum sollte es den Herren nicht einfallen, um die Gutgesinntheit der zukünftigen Nachkommenschaft zu erproben, auch noch das ius primae noctis einzuführen? Was der Feudaljunker kann, das kann doch der Schlotjunker auch. Am Vermögen fehlt es doch nicht! B L 27. 8. 1876, S. 2.

Bekanntmachung Der frühere Redakteur der „Chemnitzer freien Presse" und der „Chemnitzer Raketen", Gustav Geilhof, ist, nachdem er wegen Tessendorf-Beleidigung, Bismarck-Beleidigung, JustizbeamtenBeleidigung und anderweitiger Beleidigungen eine Gefängnisstrafe in der Dauer von einem Jahre verbüßt hat, als unverbesserlicher und unbußfertiger Sünder zu uns zurückgekehrt, was 3

Prosasatire

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allen frommen Staatsbürgern als abschreckendes Beispiel andurch zur Kenntnisnahme gebracht wird. Chemnitz, im April Die Raketen C R 1876, Nr. 15, S. 4.

Damit auf der Weltausstellung in Philadelphia nicht nur der französische Arbeiterstand, dem die Regierung die Mittel zur Vertretung gewährt hat, vertreten sei, sondern auch Verhältnisse des deutschen Arbeiterstandes dort anschaulich gemacht werden, will der jetzt in Amerika befindliche Parteigenosse Walster das Diplom seiner fünfundzwanzigmaligen Gefängnisstrafe, die er als Vertreter der Arbeitersache in Deutschland verbüßt, dort ausstellen. Dieses Erzeugnis deutscher Zivilisation wird sicher Furore machen. C R 1876, Nr. 18, S. 4.

In Freiburg ist eine Herrschaft, weil sie von ihrem Dienstmädchen fortdauernd tyrannisiert wurde, ins Wasser gesprungen. N 1877, Nr. 25, S. 3.

Hunger ist ein scharfes Schwert. D a C 1877, S. 78.

Zur Knechtschaft wird keiner gezwungen, der zu sterben bereit ist. D a C 1877, S. 78. Kulturhindernis L E H R E R : E S ist doch ein wahres Glück, daß wir in einem Lande leben, wo die Bildung weit vorgeschritten ist und jedermann lesen kann. ARBEITER: Sie irren. In unserer Stadt gibt's Tausende, die nicht lesen können. LEHRER: Wa-was? Wie wäre das möglich? A R B E I T E R : Weil sie kein Geld haben, sich Bücher zu kaufen und Zeitungen zu abonnieren. N 1877, Nr. 18, S. 3.

Ein Fürst, der viel verschwendete, machte große Auflagen in seinem Lande. Als er einmal auf der Jagd einen Bauer antraf, der ihn nicht kannte, ließ er sich mit ihm in ein Gespräch ein und erkundigte sich dann auch, was er von den neuen Steuern dächte. Der Bauer antwortete: „Das ist vollkommen die verkehrte Pas-

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sion." „Wie verstehst du das?" fragte der Fürst weiter. „Ja, das ist leicht zu verstehen", sagte der Bauer, „in der Passion leidet einer für alle, und bei uns leiden alle für einen." DaC 1878, S. 23. Liberaler Seufzer Wie wird mir doch so weinerlich, so zukunftstrüberscheinerlich, so rückwärtskonzentriererlich, so mutbeerdorresziererlich, so fortschrittspleitegeierlich, so angstvollplötzenseeerlich, so redakteuranklägerlich, so demokratenjägerlich, so despotieversucherlich, so friedrichshainverflucherlich, so gutemienezeigerlich, so bösesspielverschweigerlich, so kraftgenievertreterlich, so sinnentstelltanbeterlich, so alteweibersommerlich, so indipatschekommerlich, so halbkanossariecherlich, so energiehinsiecherlich, so politikbetreiberlich, so grenzschikanösbleiberlich, so kleinigkeitserboserlich, so laskertbumverstoßerlich, so postenhöchstvermieterlich, so portefeuilleanbieterlich, so lustigsäbelrasserlich, so druckerschwärzehasserlich, so freiheitsraumverächterlich, so paragraphenschlächterlich, so staatsgebäudeknaxerlich, so sozialismuswachserlich, so altesündenstraferlich, so industrieeinschlaferlich, so mietenpreisefallerlich, so hauswirtschreiverhallerlich, so friedensligarosterlich, so militärvielkosterlich, so kunstundwissenschnupperlich, so spartaschwarzesupperlich, so bildungseingefriererlich, so ringkampfintressiererlich, so stulpenstiefelleckerlich, so nachderdeckestreckerlich, so kanzlerhandwerkpfuscherlich, so kartenspielvertuscherlich, so ohnegrundbeneiderlich, so eignesfleischeinschneiderlich, so unglückshalbnurfasserlich, so unsbegrabenlasserlich, so mühlenflügelkämpferlich, so leitartikeldämpf erlich, so einigkeitsvermisserlich, so keinenauswegwisserlich, so rußlandunterstützerlich, so tintenflutverspritzerlich, so anteilhafterleberlich, so anderpfannekleberlich, so fingerargverbrennerlich, mit einem Wort: so flennerlich. N 1878, Nr. 16, S. 3.

Unter dem Sozialistengesetz

(1878—1890)

Im Werte gesunken Ein gewisser Dr. Max Hirsch erhielt vor einigen Tagen in Berlin zum Geschenk einen Lorbeerkranz auf weiß-seidenem Kissen. 3*

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Zur selben Stunde schüttelte in Heffters Wurst- und Fleischsalon auf der Leipziger Straße zu Berlin ein farcierter Schweinskopf mißmutig die Ohren und ließ das Lorbeerblatt aus dem Maul fallen. L

1878,

Nr.

S. 2.

1,

Petersburg, 26. Mai Der Kaiser von Rußland wird in den nächsten Tagen einen Ukas erlassen, nach welchem Tobolsk zur Hauptstadt des Reiches und Sibirien als der leitende Länderteil proklamiert werden sollen. Gründe: fortwährende Bevölkerungsabnahme im europäischen Rußland und rapide Zunahme in Sibirien. L 1879,

Nr.

22,

S. 3.

„Xaverl, warum weinst' denn? Hast Heimweh nach deiner Mutter?" L E H R L I N G : „Ach nein, Meister, ich weine bloß um den Ochsen, daß er wegen des kleinen Bröckels Fleisch ist totgeschlagen worden, das ich da im Teller hab'." VK

1879,

S. 1 9 .

Die Landlords in England und Irland haben endlich ein Mittel gefunden, die agrarischen Verbrechen gänzlich im Keime zu ersticken und Ordnung und Zufriedenheit in Irland herzustellen. Sie werden die Ländereien, welche ihre Vorfahren dem Volke abnahmen, wieder an die irischen Landleute zurückgeben und die irischen Ernten den Irländern zugute kommen lassen. Das Mittel wird als zur radikalen Heilung der Wirren absolut geeignet gehalten, und man hofft von schleuniger Anwendung das Beste. H 1880,

Nr.

37,

S. 4 .

Zur Feier des russischen Zaren-Jubiläums hat die russische Polizei, um ihre Tätigkeit zu beweisen, wieder einige GeheimdruckereiEntdeckungen veranstaltet. Man hofft, daß sie bei diesen Arrangements nichts übersehen wird. H 1880,

Nr.

10,

S. 4.

In Rußland hat man einen höheren Gerichtsbeamten verhaftet, weil er dringend verdächtig war, sich nicht bestechen zu lassen. SP 1 8 8 4 , Nr. 3 2 , S. 2.

In Spanien steht eine Revolution vor der Tür. Die Polizei hat jedoch verboten, sie hereinzulassen, S P 1884,

8

Nr.

6,

S. 2.

Herr Shakespeare, Olymp. Wir bedauern, Ihre Werke sind von der Liste des sächsischen Kolporteurs gestrichen worden, vermutlich, weil Sie im „Hamlet" ziemlich unverhüllt die Ermordung des Königs von Dänemark predigen. Andererseits haben Sie auch in dem Satze: „ E s ist vieles faul . . ." das Wort „Dänemark" nicht hinreichend betont, so daß Mißverständnisse begreiflich sind. Postillon S P 1884, Nr. 9. S. 4. Eine Koalition von Dynamit-Fabrikanten will die Führer der deutschen Sozialdemokraten wegen Geschäftsschädigung belangen, weil sie die Einführung des Anarchisten-Unfugs im Deutschen Reiche durch die Disziplin ihrer Partei verhindern und somit dem Dynamit ein reiches Absatzfeld verschließen. Damit diesen Feinden des Dynamits wenigstens auch in Zukunft die Hände möglichst gebunden sind, wollen die Dynamit-Fabrikanten gleichzeitig eine Petition an den Reichstag um Annahme der Verlängerung des Sozialistengesetzes einreichen. SP 1884, Nr. 9, S. 2. Die Franzosen sind sehr neidisch auf die Ehre, die es den Deutschen macht, daß sie die Erinnerung an eine mörderische Schlacht als Nationalfest feiern. Sie wollen daher, um gleichen Ruhm zu ernten, den Jahrestag der Schlacht bei Jena künftig durch ein Fest begehen, was gewiß ebenso zur Befestigung des europäischen Friedens beitragen wird wie das kulturfreundliche Sedanfest. SP 1884, Nr. 36, S. 2. In Ostafrika soll in den deutsch gewordenen Gebieten die Sklaverei nur nach und nach durch Übergangsmaßregeln gemildert und abgeschafft werden. Um dies zu bewerkstelligen, wird man zunächst die Sklaven für „freie Arbeiter" erklären und unter aus Sachsen und Schlesien bezogene Fabrikordnungen stellen, dann wird ihnen die Neuerung nicht allzu fühlbar sein. S P 1885, Nr. 54, S. 2. In München wurde der Herr Hauptmann Josef Müller vom 13. Infanterie-Regiment zu vierzehn Tagen Zimmerarrest verurteilt, weil er den Feldwebel beauftragt hatte, einen: Soldaten zu schikanieren, „bis er hin wird oder nach Oberhaus (ins Militärzucht-

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haus) kommt". Hoffentlich wird nun der Kerkermeister, in dessen Gewalt der Herr Hauptmann Josef Müller kommt, während der langen, schrecklichen Strafzeit nicht gleichfalls den Gefangenen bis zum Hinwerden schikanieren, damit das bayerische Offizierskorps in diesen vierzehn Tagen nicht seinen schneidigen Hauptmann verliert. Die Soldaten des Regiments beabsichtigen, sich an eine Lebensversicherungsgesellschaft zu wenden. SP 1885, Nr. 47, Beibl., S. 5. Der Sultan von Sansibar ist im Begriff, mit Deutschland einen Krieg anzufangen. Im Falle seines Sieges will er Preußen annektieren und daselbst Strafkolonien für die Sansibariten einrichten, damit sie einen Begriff von der für das öffentliche Wohl unumgänglich nötigen preußischen Zucht bekommen. SP 1885, Nr. 48, S. 2. Aus der Schule LEHRER: Warum nennt man die, welche hingerichtet werden, arme Sünder? SCHÜLER: Weil reiche Sünder nicht so leicht hingerichtet werden. DWJ 1886, S. 212. Parlamentarisches Der Reichskanzler hat den Reichstag als einen Konvent (französische Nationalversammlung von 1792) bezeichnet. Wie wir hören, sind infolgedessen einige Freisinnige über ihre eigene Gefährlichkeit als Konventsmitglieder so sehr erschrocken, daß sie ihre Mandate niederlegen wollen. DWJ 1886, S. 191. Die Räumung Ägyptens Ganz zu Unrecht wird darüber geklagt, daß England so lange zögere, Ägypten zu räumen. Die Räumung vollzieht sich schon längst, nur mit dem kleinen Nebenumstand, daß England nicht das Land selbst, sondern nur die Kassen des Landes räumt. DWJ 1887, S. 323. Der Gipfel der Vorsicht Theaterdirektor Angstwurm hat so große Furcht vor einem Theaterbrand, daß er nicht nur hinter der Bühne große Wasser-

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kübel aufstellen, sondern auch auf der Bühne nur Stücke von berüchtigten Wasserdichtern aufführen läßt. D W J 1887, S. 355.

Aus dem Reichs-Anzeiger Die unperiodische Druckschrift „Kaiserliche Botschaft, Auszug aus einer im deutschen Reichstage gehaltenen Thronrede" wird hiermit auf Grund des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878 verboten. Gründe: Die Druckschrift sucht den Glauben zu erwecken, als ob sich das arbeitende Volk in einer der Besserung bedürftigen Lage befinde, und veranlaßt trügerische Hoffnungen, an deren Erfüllung selbstverständlich nicht gedacht werden kann. Es ist begreiflich, daß dadurch eine Unzufriedenheit genährt wird, die sich möglicherweise durch Verstöße gegen den Puttkammerschen Streik-Erlaß, also in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen, gefährdenden Weise äußern könnte, wodurch unbedingt auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen zutage treten würden. Aus allen diesen Gründen war das Verbot der vorgedachten Druckschrift zu notifizieren. D r T Januar 1887, S. 3.

FELDWEBEL: Was sind Sie? EINJÄHRIG-FREIWILLIGER : A r c h i t e k t !

FELDWEBEL : Mit den verfluchten Fremdwörtern! Sagen Sie doch einfach „Orgelbauer"! D W J 1888, S. 423.

Wenn man es staatsgefährlich findet, daß Klassengegensätze betont werden, so sollte man doch zuerst das preußische Dreiklassenwahlgesetz abschaffen, welches die Klassenunterschiede offiziell proklamiert. D W J 1888, S. 491.

Die Kunst zu hungern Ein Hungerkünstler in Barcelona will an sich selbst den Nachweis führen, daß man dreißig Tage lang fasten könne. Ein alter Weber aus Sachsen will jenen Hungerkünstler jedoch vollständig aus dem Sattel heben, indem er aus Lohn- und Lebensmittel11

preistabellen den Nachweis führt, daß er schon dreißig Jahre gefastet hat. D W J 1888, S. 499.

Manche Leute glauben, sie könnten das Fortschreiten der Zeit aufhalten, indem sie die Zeiger ihrer Uhr zum Stillstand bringen. Solche Leute sind die Anhänger des Sozialistengesetzes. D W J 1888, S. 499.

Die Weltkultur schreitet unbedingt vorwärts, nur geschieht der Fortschritt manchmal am unrechten Orte. So wird das Fleisch der Schweine jeden Tag teurer, aber die Knochen der Menschen sind noch immer zu niedrigsten Lohnsätzen zu haben. D W J 1889, S. 659.

Wenn die Wanzen Philosophen hätten, würden sie spekulativ dartun, daß die Welt für die Wanzen geschaffen sei und das Menschengeschlecht lediglich die Bestimmung habe, mit seinem Blut die Wanzen zu ernähren. D W J 1889, S. 663. Stimme aus dem Elysium

Der Scheiterhaufen tötet nicht. Denn da mich die römischen Priester schier drei Jahrhunderte nach meinem angeblichen Tode immer noch verfolgen, so muß ich selber glauben, daß ich noch lebendig bin. Giordano Bruno D W J 1889, S. 670.

Die Koalitionsfreiheit der Arbeiter ist viel größer, als man glaubt. Wenn auch Vereine und Versammlungen häufig unterdrückt werden, so versammeln sich doch die Arbeiter tagtäglich in großen Fabriken und Werkstätten zu gemeinsamem Handeln. Die Fabriken und Werkstätten also muß man abschaffen, wenn man das Zusammenkommen der Arbeiter verhüten will. Als Übergangsstadium ließe sich vielleicht auch vorläufig die Erbauung der Arbeitslokale nach Art von Gefängniskirchen empfehlen, derart, daß kein Arbeiter den andern sieht, wohl aber jeder vom Werkführer, der die Kanzel einnimmt, gesehen wird. D W J 1889, S. 675.

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Optische Täuschungen Die „Gartenlaube" beschäftigt sich mit der Lösung der sozialen Frage und meint, die Proletarier könnten sich ihr Dasein erleichtern, wenn sie ihre Wohnräume mit lebenden Pflanzen ausschmückten. Kämen sie dann von der schweren und langen Arbeit mit schlechtem Verdienst heim, so würden die Pflanzen mit ihrem frischen Grün sie doch heiter stimmen und allen Groll, alle Unzufriedenheit aus ihrer Seele verbannen. Leider müssen wir zu diesem vortrefflichen Rezept bemerken, daß es nicht neu ist. Es rührt vielmehr von jenem berühmten Landwirt her, welcher seinen Ziegen Hobelspäne vorsetzte und sie dazu mit einer grünen Brille bewaffnete, damit sie die Hobelspäne für Grünfutter ansehen sollten. Der Landwirt hat auf seine Erfindung ein Patent genommen und gedenkt nun, wie wir hören, die „Gartenlaube" wegen Verletzung des Patentschutzes zu verklagen. DWJ 1889, S. 543.

Das Befreiungswerk A.: Was ist denn das eigentlich für eine Art von Sklavenbefreiung in Afrika, wobei immer eine Truppe Schwarzer nach der andern erschossen wird? B.: Das ist eben der einzig wirksame Modus, denn so werden die Schwarzen mit einem Male von allen ihren Leiden befreit. DWJ 1889, S. 630.

Der Walfisch In Wien hat ein als Sehenswürdigkeit ausgestellter toter Walfisch die ganze Stadt verpestet, so daß er aus der Stadt geschafft werden mußte. Einige brave Bürger, die von dem Walfisch nichts wußten, hatten geglaubt, das Archiv der Wiener Geheimpolizei sei wieder einmal gelüftet worden. DWJ 1889, S. 623.

Preßpolizeiliches A.: Wie kommt es, daß konfiszierte Zeitungen und Bücher vom Publikum immer am eifrigsten gesucht und gelesen werden? B.: Man traut der Preßpolizei den guten Geschmack zu, daß sie sich immer das Beste aussucht. DWJ 1889, S. 584.

Verspätete Tafelfreuden Das Andenken Lortzings wollen die Berliner dadurch ehren, daß 13

sie an seinem Sterbehaus eine Tafel anbringen, auf welche sie die Verkündigung seines Ruhmes setzen. Eine gut besetzte Tafel bei Lebzeiten wäre dem armen Lortzing wahrscheinlich lieber gewesen. DWJ 1889, S. 526.

Zu viel verlangt KOMITEE-VORSITZENDER: Also, Herr Gemeinde-Vorsteher, Sie wünschen sich an dem Festessen zu Schillers Geburtstag zu beteiligen? GEMEINDE-VORSTEHER: J a w o h l !

KOMITEE-VORSITZENDER : U n d neben wem wünschen Sie zu sitzen ? GEMEINDE-VORSTEHER: Neben Schiller. DWJ 1889, S. 686.

Die „goldenen

neunziger Jahre"

f 1890—1897/98,)

Für die Friedensliga Jeder der kriegslustigen Staaten sendet einen Kommissar auf den K a m p f p l a t z , in dessen Mitte ein kolossaler Behälter, eine A r t Danaidenfaß, steht. Dahinein wirft jeder Kommissar abwechselnd Goldstücke. Derjenige Staat, der dieses Hineinwerfen am längsten aushält, ist Sieger. D a s gesammelte Geld wird schließlich zur Lösung der sozialen Frage verwendet. Soldaten sind dabei höchst überflüssig. DWJ 1890, S. 907. Bei der Reform der Militärstrafprozeßordnung wird Preußen für die Öffentlichkeit des Verfahrens stimmen, doch nur unter der Bedingung, daß die Presse, das Publikum und alle sonstigen Zivilisten sowie diejenigen Militärpersonen, die nichts dabei z u suchen haben, von der Verhandlung ausgeschlossen werden. SP 1891, Nr. 18, S. 2.

Beim Eisenbahn-Überfall RÄUBERHAUPTMANN: Meine Herrschaften, wollen Sie gefälligst alle Wertsachen, die Sie bei sich haben, an mich abliefern. EIN REISENDER (besonders vornehm, gekleidet): Hier meine Brieftasche.

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HAUPTMANN: Wer sind Sie, wenn ich fragen darf? REISENDER: I c h b i n B ö r s e n j o b b e r .

HAUPTMANN: A h so, dann behalten Sie nur; von Kollegen nehme ich nichts. D W J 1891, S. 1147.

Historisches Recht Wenn sich ein Bettler ohne Erlaubnis zwei Röcke nimmt und den einen seinem Sohne gij>t, so ist das Diebstahl und Hehlerei. Wenn aber der Ahnherr einer Adelsfamilie vor Zeiten den Bauern ein Stück Land genommen hat und dies immer wieder auf das jeweilige Familienhaupt vererbt wird, so heißt dies — historisches Recht! D W J 1892, S. 1235.

Die Cholera können wir in Deutschland getrost entbehren, wir haben schon eine ganz ähnliche Landplage im Antisemitismus. D W J 1892, S. 1291.

Genußsucht Der Gipfel der Genußsucht ist, wenn ein Wirt seinen Gästen den Saal zu Versammlungen verweigert und sie dadurch zum Boykott nötigt, nur um sein ganzes Bier allein trinken zu können. D W J 1892, S. 1307.

Im Fleischerladen KLEINES MÄDCHEN : Für zwanzig Pfennig Fleischabfall für unsern Hund. FLEISCHER: Ist nicht mehr da, mein Kind. KLEINES MÄDCHEN: Ach, wie schade! Vater und Mutter haben sich schon so sehr darauf gefreut! D W J 1892, S. 1232.

Hofstil Se. Durchlaucht haben geruht, sich gestern abend beim Spaziergang einen Schnupfen holen zu lassen. S P 1893, Nr. i , S. 6.

Aus der Schule LEHRER: Was taten die Jünger, als zur Pfingstzeit der heilige Geist über sie kam?

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FRITZCHEN (Sohn eines Sozialdemokraten): Sie gingen auf die Landagitation. DWJ 1893, S. 1467.

Was ist die sogenannte Freiheit der Presse? — Die Erlaubnis, außerhalb der Festungsmauern spazieren zu gehen, einem Staatsgefangenen auf sein Ehrenwort erteilt. SP 1893, Nr. 24, S. 4.

Dem Papst hat sein Bischofsjubiläum neun Millionen an Geschenken eingebracht. Da kann man schon jubilieren. SP 1893, Nr. 8, S. 2.

Macht der Disziplin UNTEROFFIZIER : Sie glauben nicht, was die Disziplin tut. Einmal hatte ich einen Deserteur zu transportieren, der mir aber unterwegs ausriß und in vollem Lauf davonrannte. Erst wollte ich schießen —, da kam mir ein genialer Gedanke: ich kommandierte „langsamen Schritt!" Der Kerl gehorchte dem Kommando, und im nächsten Augenblick haben wir ihn erwischt. SP 1893. Nr. 3, S. 3.

Das beste Auskunftsmittel Europa wird durch den Militarismus ruiniert, weil Deutschland und Frankreich nicht einig sind. Deutschland und Frankreich sind nicht einig, weil Deutschland Elsaß-Lothringen genommen hat. Elsaß-Lothringen wurde nach Moltkes Ausspruch hauptsächlich genommen, weil es die starken Festungen Straßburg und Metz besitzt. Die Stärke von Straßburg und Metz liegt in ihren großartigen ausgedehnten Festungswällen. Also, man reiße die Wälle nieder und baue aus den Steinen Arbeiterwohnungen; dann sind Deutschland und Frankreich einig, es droht kein Krieg, man braucht keinen Militarismus; und das Volk wird nicht unzufrieden sein, wenn man ihm einmal Steine statt Brot gibt. DWJ 1893, S. 1500.

Wenn Hamlet im kapitalistischen Zeitalter lebte, so würde er seinen berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage . . ." dahin verbessern: „Geld haben oder nichts haben, das ist jetzt die Frage!" SP 1893, Nr. 23. S. 4.

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Hauptmanns „Weber" haben in Berlin einen großen Erfolg gehabt. Aber die Geschichte spielt Gott sei Dank vor vierzig Jahren, sagen die Zeitungen. SP 1894, Nr. 22, S. 6. Zeitgemäße

Variante

In meinem bekannten Gedicht „Die Arbeiter an ihre Brüder" bitte ich, den vierten Vers wie folgt abzuändern: Dann heißt's: für uns den Schrägen, Das weiche Bett dem Gauch! Dann heißt's: nichts in den Magen, Dafür den Gummischlauch! Elysium, 18. Januar 1894 Georg Herwegh DWJ 1894, S. 1649. Die Unwissenheit der Massen bildet die Macht der Machthaber. SP 1894, Nr. 4, S. 5. Wenn es bei den Staatsrettern mit der Weisheit aus ist, fangen sie mit dem Ausweisen an. SP 1894, N r- 3. S. 6. Über

Bourgeoisweiber

Zwischen mancher Frau und einer Dirne ist nur der einzige Unterschied, daß die erstere einen „höheren Preis" zu erzielen vermochte. SP 1894, Nr. 2, S. 4. Friesische

Antwort

Einen friesischen Landvogt aus dem vorigen Jahrhundert kam einst, gleich jenem morgenländischen Könige, die Lust an, zu erforschen, was das Volk von ihm denke und spreche. Er fragte zu dem Ende eine alte, treuherzige Frau, ob sie auch fleißig seiner gedenke in ihrem Gebete. „Ach jo", erwiderte die Frau, „ick bidde alle Dage, dat de Herre noch lang läwen mag!" „Dat is recht, min lewe Fruu!" sprach gerührt der Landvogt. Doch sei es, daß ein Zweifel oder ein schlecht vernarbter Gewissensbiß sich in ihm regte, genug, er fragte weiter, ob sie denn meine, daß er viel Gutes getan habe, so daß sie ihm deshalb ein langes Leben wünsche. 17

„Ach nee", antwortete die Frau, „ick heww nu all fief Vögde kennt, aawer de vorige is ümmer beter Wesen as de folgende." Da gingen dem Landvogt die Augen auf, weshalb man ihm ein langes Leben wünschte. N W K 1894, S. 72. Ein Ausweg HINZ : Warum geschieht denn gar nichts Entscheidendes für die notleidenden Agrarier? KUNZ: Was könnte für sie noch geschehen? HINZ: Man soll sie einfach, wie andere Hilfsbedürftige, in die Armenhäuser aufnehmen. D W J 1894. S. 1655.

Wie tief sinkt man oft, um zu steigen. S P 1895, Nr. 7, S. 4.

Der Kapitalismus bedarf zum Schutze seiner Privilegien zweier Armeen. Die eine ist das Kriegsheer, welches den Zweck hat, die Geldschränke gegen den „inneren Feind" zu schützen, die andere ist die Reservearmee der Arbeitslosen, welche gegen erhöhte Lohnforderungen schützt. D W J 1895, S. 1931.

„Der Tod fürs Vaterland" — unterm Absolutismus meinte man damit das Hinschlachten für die Launen eines regierenden Schwachkopfs oder einer fürstlichen Hure, unterm Konstitutionalismus versteht man darunter das Hinopfern für die Rentabilität des Kapitals. SP 1895, Nr. 18, S. 9.

In der Dachkammer GERICHTSVOLLZIEHER: Wenn Sie nicht zahlen, muß ich pfänden, Herr Student. STUDENT: So? Haben Sie dazu wenigstens einige Pfandobjekte mitgebracht ? N W K 1895, S. 77.

Dreitausend Neunkirchener Arbeiter haben unter Hunger und Entbehrungen einen gigantischen Solidaritätsstreik durchgekämpft. Die Bourgeoisie findet das frivol. Sie verstehen die Psychologie 18

der Zulukaffern merklich besser als die ihrer „Volksgenossen", unsere Bourgeois. Und es ist gut so, daß sich diese zwei Welten nicht mehr verstehen. SP 1896, S. 130.

Im Wettkampf von heute kommt der mit Gold beladene Esel als erster ans Ziel, während der edle Renner vor Hunger zusammenbricht. SP 1896, S. 186.

Ein deformierter Oppositionsmann ist wie gelöschter Kalk; er zischt nicht mehr auf, wenn er ins feindliche Wasser kommt, sondern gibt einen unschätzbaren Mörtel ab, der das Haus in seinen Fugen zusammenhält. DWJ 1896, S. 2262.

Gutes Einvernehmen A.: Zwischen Deutschland und Frankreich scheint gegenwärtig ein vortreffliches Einvernehmen zu herrschen. B.: Wieso? A.: Die Franzosen beschäftigen sich mit der Einführung neuer Kanonen, eigens zu dem Zwecke, um der deutschen Regierung die Aufstellung großer Mehrforderungen für die Artillerie zu erleichtern. DWJ 1897, S. 2363.

In Chemnitz sind fünfzehn Sozialdemokraten neu in das Stadtverordnetenkollegium gewählt worden. Auf dem Schloßteich ankern infolgedessen bereits einige Kriegsschiffe, um die Stadt zu beschießen, wenn es „losgeht". SP 1897, S. 214.

Im Zeichen des Imperialismus (1897/98—1905/07) Die deutsche Schlachtflotte ist geeignet, Schrecken zu verbreiten - unter den Steuerzahlern. DWJ 1898, S. 2793.

„Krieg!" schreit es in Amerika, „Krieg!" in Europa, „Krieg!" in Asien, „Krieg!" in Afrika - überall Krieg, nichts als Krieg!

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Aber wenn die Proletarier aller Länder sich am Ersten Mai die Hände reichen zum großen Weltfriedensbunde, da bedeutet das natürlich den „Untergang der Kultur und aller zivilisatorischen Errungenschaften". SP 1898, S. 86.

Daß die Bourgeoisie sich nicht selbst ernähren kann, sondern dazu die Ausbeutung der Arbeiter nötig hat, ist eine bekannte Tatsache. Die Geschichte des Jahres 1848 aber zeigt, daß die Bourgeoisie nicht einmal ihre Revolution selbst zu machen vermochte, sondern auch hierin auf das werktätige Volk angewiesen war. DWJ 1898, S. 2675.

Die noch lebenden Mitglieder der Wiener akademischen Legion von 1848 wollen die Revolution „in aller Stille, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter Vermeidung aller politischen Fragen" feiern. Wenn es möglich wäre, machten sie gern erst wieder eine kleine Revolution, aber wieder „in aller Stille, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter Vermeidung aller politischen Fragen". Dreckseelen! SP 1898, S. 49.

Am 18. März 1848 fielen in Berlin 187 Freiheitskämpfer. Die Leichen wurden in den Schloßhof gebracht, und der König mußte sein Haupt entblößen. Das Volk sang: „Jesus, meine Zuversicht". Etwas weniger Zuversicht wäre heilsamer gewesen: „Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück." SP 1898, S. 60.

Die sittliche Weltordnung Eine ganz kleine Fabel will ich euch hier erzählen. Es gab einmal ein großes Volk, von dem es hieß, Wahrheitsliebe sei seine erste Tugend und es sei treu und gerade wie seine Eichen. Wenn nun einer der Männer aufstand und sprach vor dem versammelten Volke von den Fürsten des Landes, so nannte er sie weise, gütig und gerecht. Wenn einer einen Prozeß hatte, so hieß es: „Noch gibt es Richter!" Und wenn man von den Priestern sprach, so sagte man, sie führten einen gottseligen Lebenswandel. Niemals hörte man auf offener Tribüne: „Unser Fürst ist ein blöder Schwätzer, ein größenwahnsinniger Tor, unsere Priester sind elende Heuchler, die nur reden, was wohlklingt in den Ohren der Reichen und 20

Mächtigen." Auch nicht: „Unsere Richter sind gewissenlose Streber, die jederzeit des Winkes von oben gewärtig sind, um das Recht zu beugen." Und doch dachten alle Verständigen des Landes so. Das wäre die kleine Fabel, die ich euch hier erzählen wollte. Leider hat sie einen großen Fehler - daß sie nämlich gar keine Fabel ist. SP 1898, S. 13.

Je tiefer ein Volk sich duckt, desto größer erscheinen ihm seine Unterdrücker. DWJ 1898, S. 2805.

Zu allem fähig A.: Glauben Sie, daß der Redakteur dieses Reptilienblattes schon jemals einen Artikel nach seiner Überzeugung geschrieben hat? B.: O ja - wenn Sie ihm Geld dafür geben - tut er Ihnen auch den Gefallen! DWJ 1898, S. 2889.

2 1/8 Millionen Stimmen A.: Die Proletarier sind jetzt doppelte Millionäre geworden. B.: Das sind die Zinsen von Marx' „Kapital". DWJ 1898, S. 2783.

Der Anarchismus ist nicht unnatürlicher als der Militarismus und die Prostitution. SP 1898, S. 201.

Aus Byzanz Ein Alpenverein hat neulich über einen Besuch einer neuerschlossenen Höhle durch den König und die Königin von Rumänien einen Bericht erstattet, der lebhaft an einen anderen in einer byzantinischen Chronik aufgefundenen Bericht erinnert: „Se. Majestät unser allergnädigster Kaiser Konstantin Monomachos und seine allerhöchste Gemahlin, unsere holdselige Kaiserin, beehrten gestern den Wasserfall mit ihrem allerhöchsten Besuch. Anfangs erschien der Katarakt durch die allerhöchste Gegenwart etwas befangen, bald aber fand er, durch einen huldvollen Blick der allergnädigsten Herrschaften gleichsam ermuntert, seine ganze Kraft wieder, und als nun gar die hohen Gäste den leut4

Prosasatire

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seligen Mund zu einer lobenden Anerkennung des herrlichen Naturschauspiels geöffnet hatten, stürzte er mit einem jähen Freudensprunge zu den Füßen des allerhöchsten Paares. Die Sonne schien zur Feier dieses Ehrentages mit fleckenlosem Glänze vom Himmel und sorgte für Kaiserwetter; auch sie erhaschte einen huldvollen Blick des hochedlen Paares und bestrahlte, als dieses sich zum Gehen wandte, die allerhöchsten Rücken mit einladendem Lichte." Wir gestatten nationalliberalen Blättern gern den Nachdruck. D W J 1898, S. 2 7 7 2 .

Deutschlands Zukunft F R I T Z : Willem, du mußt schwimmen lernen, unsere Zukunft liegt doch a u f m Wasser! W I L H E L M : Ach Quatsch! Unsere Zukunft sitzt eher im Zuchthaus! S P 1899, S. 207.

Man kann ein Komödiant sein und doch die Welt erobern, gewiß, auch Napoleon war ein großer Komödiant, aber er war außerdem noch etwas mehr. Nun gibt es aber Leute, die wollen die Welt erobern und sind nur Komödianten. S P 1899, S. 166.

Gegen die eigenen Untertanen einen Bund mit dem Ausland zu schließen, diese Untertanen aber gleichwohl im Kriegsfall zur Bekämpfung des Auslandes zu verwenden und zu allen Zeiten Vaterlandsliebe von ihnen zu verlangen, das heißt man — nach großen Zielen regieren! D W J 1899, S. 2908.

W a s ein genialer Mensch der Welt nützt, das schaden ihr zehn Plattköpfe wieder. Darum geht es so langsam vorwärts. D W J 1899, S. 3055.

Der alte Goethe, der so mancherlei wußte, hat einmal ausgerufen: „Wie selten kommt ein König zu Verstand!" Es ist ein wahres Glück, daß Goethe das gesagt hat und nicht ich. D W J 1899, S. 3061.

E s ist ein wahres Glück, daß die meisten Leute, die im Staate herrschen, Goethe nicht gelesen oder nicht verstanden haben;

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sonst müßten sie seine Werke unbedingt verbieten. Und es ist ein wahres Glück, daß er doch von so vielen gelesen wird, die ihn auch verstehen.

SP 1899, S. 137. Wenn ich die Wahl zwischen einem Drama von Wildenbruch und einem Schauspiel von Lauff habe, so wähle ich einen Vierzeiler von Heine.

SP 1899, S. 210. Die Gräber der Märzgefallenen sind den Berliner Reaktionären ein Dorn im Auge. Mir auch; ich würde lieber sehen, wenn statt der einstigen Freiheitskämpfer die heutigen Freiheitsfeinde da drunten lägen.

DWJ 1899, S. 2921. Voriges Jahr feierten wir unser fünfzigjähriges Jubiläum, das Jubiläum der glorreichen 48er Revolution. Sie wurde in Strömen von Blut erstickt; und darum feiern die andern heuer das Jubiläum der Niederwerfung der Revolution. Aber es mag nicht die richtige Festesfreude aufkommen; sie sind so betrübte Sieger, wie wir lachende Besiegte sind.

SP 1899, S. 36. E s ist statistisch erwiesen, daß von hundert weiblichen Selbstmördern neunundneunzig in der Hoffnung sind. Die Zeitungen nennen dann das Motiv „unglückliche Liebe". E s ist ein Monument von unserer Zeiten Schande, daß die Liebe unglücklich wird, wenn sie glücklich war.

SP 1899, S. 14. Ein König bemerkte eines Tages an seinem Hofe eine Persönlichkeit, die sehr starke Ähnlichkeit mit ihm aufwies. „He, mein Herr", sagte er ziemlich unbesonnenerweise zu dieser, „Sie haben ganz und gar den Typus unserer Familie. Sollte sich Ihre Mutter einstens bei Hofe aufgehalten haben?" — „Nein, Majestät", antwortete der Doppelgänger des Monarchen, „aber mein Vater hat lange Zeit hier gelebt."

SP 1899, S. 202. Ein Dreyfuß-Prozeß wäre in Deutschland nicht möglich — nicht etwa, weil bei uns solche „Irrtümer" der Militärjustiz nicht vor4»

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kommen könnten, sondern weil wir keine Öffentlichkeit haben, die ihn erzwingen könnte. S P 1899, S. 166.

Fleischnot Fleischnot gibt's nicht in Deutschland, sagen die Agrarier. Wenn man das viele Stimmvieh anschaut, das den Konservativen noch nachläuft, sollte man wirklich meinen, sie hätten recht. S P 1 8 9 9 , S . 20.

„Sehr nützliche Elemente für den Staat" sind die Streikbrecher, sagt die Zuchthausvorlage. Sehr nützliche Elemente sind Arsenik und Strychnin, sagte der Giftmischer. D W J 1899, S . 3033.

Ist schon einmal ein Krieg auf Erden zum Nutzen des Volkes geführt worden? Nein. — Denn solche Kriege nannte man allemal Revolutionen. D W J 1899. S. 3096.

„Im Namen der Humanität" hat Uncle Sam sich zum Büttel aufgeworfen und Kuba und die Philippinen von Spanien befreit. — Es dürfte bald an der Zeit sein, daß Spanien „im Namen der Humanität" die Philippinen von der amerikanischen Herrschgier befreit. Denn - eine Heuchelei ist der andern wert. S P 1899, S . 66.

Vorschlag zur Güte Das ist doch schön, daß die Regierung sogar schon an die China-Medaille gedacht hat. Wie wird das unsere tapferen Soldaten freuen! A R B E I T E R : Gewiß! Besonders wenn sie aus dem Metall der eroberten chinesischen Krupp-Kanonen gegossen würden! Dies wäre wirklich ein „sinniges" Andenken. SPIESSER:

S P 1900, S . 1 9 8 .

A.: Sie wollen als Freiwilliger nach China? Sind Sie so abenteuerlustig? B.: Ach, an den Abenteuern liegt mir wenig, aber, wissen Sie, man wird im Tropenhelm photographiert. DWJ

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1900, S . 3 2 9 8 .

Ein Frühreifer L E H R E R (im Geschichtsunterricht)'. Welche Lehre ziehen wir also aus der Weltgeschichte; woran sind die alten und auch die neueren großen Staatengebilde meistens zugrunde gegangen? D E R K L E I N E M A X : An ihrer Weltmachtsucht, welche sie zu einer Eroberungs- und uferlosen Kolonialpolitik verleitete. D W J 1900, S . 3 1 6 6 .

Der „Platz an der Sonne" macht uns doch wärmer, als sich's gewisse Leute gedacht zu haben scheinen! Ein Plätzchen im Schatten wäre jetzt vielleicht angenehmer. S P 1900, S . 1 2 1 .

Militärisches Ehrgefühl (an seinen Vater schreibend): „Un denn möchte ick Dir ooch um Jeld zu 'nen neuen Waffenrock bitten; habe mit dem alten an Zivil anjestreift." LEUTNANT

S P 1900, S . 6 2 .

Ein echter Geschichtsschreiber erniedrigt sich weder zu einem Höfling der Fürsten noch zu einem Höfling des Volkes, sondern er erhebt sich zum Richter der einen und zum Erzieher des anderen. S P 1900, S . 4 3 .

Die Hauptsache P R O F E S S O R (referiert

über eine Dissertationsarbeit):

Diese Abhand-

lung hat doch gar keinen Sinn! VORSITZENDER DES KOLLEGIUMS: DWJ

Aber Gesinnung!

1900, S . 3 2 0 7 .

Wenn die Hierarchie heute noch dieselbe Macht wie im Mittelalter hätte, so hätte auch heute noch jedes Dorf seinen Scheiterhaufen. D W J 1900, S . 3 1 7 6 .

Die Fabel vom Stier Es war einmal ein kleines Kind auf der Heide, das einen mächtigen Stier an einem dünnen Fädchen gängelte. — Und wenn es ihm so gefiel, dann stampfte das Kindlein mit den Füßchen und schrie: „Dennoch mußt du, wie ich will!" Der Stier aber trottete ruhig hinterher, und das Kindlein freute sich seiner übermenschlichen Kraft. — D W J 1900, S . 3 3 0 3 .

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Geduld bringt Rosen, aber keinen Achtstundentag. S P 1900, S. 72.

„Das Genie bricht sich immer Bahn." Gewiß, denn diejenigen, die vorher verhungert sind, kennt kein Mensch als Genies. D W J 1900, S. 3 3 1 3 .

Literarische Aufgabe Pastor Hillmann in Hamburg hat seine Kündigung vom Presbyterium erhalten, weil er wiederholt in seinen Predigten soziale Fragen berührt hat. Recht so! Aber dabei sollte man es nicht bewenden lassen. Nicht nur die Pastoren, nein, auch die ganze Bibel muß rektifiziert werden. Es finden sich fast auf jeder Seite Stellen, in denen soziale Fragen behandelt werden, und — leider — nicht immer in staatserhaltendem Sinne. Hier bietet sich dem Hamburger Presbyterium eine dankbare Aufgabe, deren Lösung ihm einen Ruf sichern wird, wie er bis heute nur erst dem Herrn Hauptpastor Goeze zu Hamburg, Lessingschen Angedenkens, zuteil wurde. D W J 1900, S. 3195-

Staatserhaltung LANDRAT: Über die Jugend dieser Gegend wird sehr geklagt. Die Burschen liegen immer auf den Tanzsälen. Messerstechereien und Raufereien sind an der Tagesordnung. Uneheliche Kinder gibt's bald mehr als eheliche. Dazu wird gestohlen, gesoffen, gespielt, gelärmt, gefaulenzt ; o, es ist eine wahre Schande ! DORFSCHULZE: Lassen's nur recht sein, Herr Landrat, die Sache hat ihr Gut's! Wenn's ihr bissei Verstand versaufen und vermenschern, bleiben's immer gut gesinnt. Bei uns gibt's noch nicht einen einzigen Roten! LANDRAT: So, so! Sehr schön! Wissen Sie — lassen wir's beim alten ! S P 1901, S. 146.

Als ein Staatsanwalt gegen einen Angeklagten wegen Totschlags fünf Jahre Gefängnis beantragte, bezeichnete der Verteidiger diese Strafe als viel zu hoch; dafür hätte sein Klient in Mitteldeutschland ein ganzes Jahr lang eine sozialdemokratische Zeitung redigieren können. DWJ 1901, S. 3 6 1 1 . 26

Eine Anzahl hervorragender Gelehrter und Professoren hat einen flammenden Protest gegen die Regierung gerichtet, nämlich gegen die Regierung in — Rußland. DWJ 1901, S. 3483. Grabstein für „König Stumm" Wir verlieren viel an Stumm! Die Sozialdemokratie einen Kämpfer, der den Kapitalismus bis auf die Knochen bloßstellte, und der „Postillon" eine dankbare Figur für seine Karikaturen. Unser Schmerz ist groß! S P 1901, S . 47. Am 1. Mai wissen wir, wieviele wir sind und wieviele uns noch fehlen. Und wir können uns ausrechnen, wann wir genug sein werden. S P 1901, S . 80. Die braven Sozialpolitiker, Nationalsozialen und Ethiker möchten ja gern mit Pflästerchen und Latwergen die Gegensätze der Klassen verschwinden machen. Aber ach, das Fleisch ist willig, und der Geist ist schwach. S P 1901, S . 192. Seine Angebetete A.: Wie ist denn die Ehe zwischen dem Leutnant v. Schmalhans und der Tochter des reichen Schlächtermeisters Wurstzipfel? B.: Musterhaft! Er ist ganz in seine junge Frau verschossen, er verehrt sie, er — bettelt sie an. N W K 1901, S . 78. Hunnen-Philosophie A rechter Schafskopf ist er g'west, der Kneißl! Schießt dahoam d' Gendarmen tot un verliert nu deretweg'n sein'n Kopf! Wär er mit nach China ganga, hätt' er's Totschieß'n umasünst g'habt, und a paar schöne Andenken und a Medaille noch extra! SP 1902, S . 12. ZURÜCKGEKEHRTER CHINAKRIEGER:

Es genügt, wenn du einen sauberen Anzug hast. Dein Gewissen und deinen Magen sieht niemand. DWJ 1902, S. 3805. 27

Der preisgekrönte Gardeleutnant Beim festlichen Diner; der preisgekrönte Leutnant mit dem Lorbeer um die Schläfen erhebt das Glas zu folgender Ansprache : „Meine Herrn Kameraden! In dieser feierlichen Stunde wollen wir auch jenes Zivilistendichters jedenken, der jewissermaßen, wenigstens sozusagen, der vorüberjehende Anlaß war, daß der Schillerpreis überhaupt einjeführt wurde. Laut hohem Befehl ist mir dieser Preis für mein feudales Epos über die Chinaexpedition zuerkannt worden. Herrn v. Schillers Dichtungen, der neben manchen peinlichen auch janz jute Stücke hat, reichen freilich an die neuen patriotischen Dichtungen absolut nicht heran. Aber da v. Schiller nu ja mal doch die Ursache jewesen ist, daß wir bei Sekt uf unseren Lorbeeren ausruhen können, so möchte ich mir jestatten, erjebenst jestatten, sie, meine Herrn Kameraden, mit mir einzustimmen: Herr v. Schiller, hurra, hurra, hurra!" SP 1902, S. 6.

In der Berliner Sieges-Allee hat man keineswegs einen Ausdruck dynastischen Hochgefühls zu erblicken, wie manche Leute behaupten. Im Gegenteil! Sie bildet ein eminentes Zeichen vom Siege des demokratischen Geistes. Früher mußten die Bürger Spalier bilden, wenn der Fürst vorbeikam, jetzt stehen dort die Fürsten Spalier, wenn die Bürger spazieren gehen. DWJ 1902, S. 3900.

Konstitutionalismus und persönliches Regiment, das heißt: Die Operation ist zwar nach allen Regeln der Kunst geglückt, aber der Kranke ist dabei gestorben. SP 1902, S. 3.

Die Regierung fordert die Getreidezölle zum Schutze der notleidenden Landwirtschaft, die ihr die besten Rekruten liefert. Sie scheint gar nicht zu ahnen, wie viele Rekruten sie uns mit ihrer Forderung liefert. DWJ 1902, S. 3691.

Der Junker von Landschaden hat eine sehr interessante Reliquiensammlung. Das hervorragendste Stück derselben ist der Strick, mit dem einer seiner Ahnen wegen Straßenräuberei gehängt worden ist. DWJ 1902, S. 3711.

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Der weise Ausspruch SERENISSIMUS : „Äh, verstehe jar nich, was Leute nur immer mit achtstündiger Arbeitszeit wollen. Volk kann nie jenug kriegen!" DWJ 1902, S. 374». Aus einer nationalliberalen Musterrede Meine Herren! Wenn die augenblicklich zur Beratung stehende Vorlage nicht die Fassung bekommt, welche meine Partei für die richtige hält, dann kann leicht eine Möglichkeit eintreten. Ich will mich hier auf die Andeutung beschränken, daß die verschiedensten Fälle sich ereignen können. Ja, ich versichere Ihnen, daß von allen Denkbarkeiten keine einzige ausgeschlossen ist. Der Nutzen des Gesetzes mag vorteilhaft sein, dann bringt er sicher keinen Schaden, im umgekehrten Falle aber gilt es, sorgsam die Chancen zu erwägen. Ob das, was ich Ihnen hier sage, etwas zu sagen hat, will ich vorläufig noch ungesagt lassen. Später ist nicht früher. Jedenfalls aber bleibt's dabei. Tun Sie, was ich nicht lassen kann, dessen seien Sie versichert! D W J 1902, S . 3815. Der dankbare Kapitalismus Englands will dem Cecil Rhodes in der Tafelbai des Kaplands ein Denkmal setzen — so groß wie die Statue der Freiheit in New York. Wenn man dem Mörder Transvaals und Oranjes aus den Schädeln der erschlagenen Buren, aus den Schädeln der in den Konzentrationslagern gemeuchelten Greise, Weiber und Kinder und aus den Schädeln der für die Habsucht der Minenspekulanten gefallenen Tommys eine Pyramide baute, sie dürfte noch erheblich größer werden als das Denkmal in New York. Und auch treffender! SP 1902, S. 66. Fürstliche Moral D E R F Ü R S T (zum Erbprinzen): Daß du eine Bürgerliche liebst, das verzeihe ich dir, daß du sie entehrt hast, ist bloß standesgemäß, aber daß du sie auch heiraten willst, das ist eine Schande für unsere ganze Familie. SP 1903, S. 19.

Serenissimus will in Gegenwart einiger Astronomen eine für den anderen Tag angesagte Sonnenfinsternis beobachten. Mehrere Stunden vorher wird er von einem leichten Unwohlsein befallen:

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„Äh, Kindermann, kann unmöglich fortgehn, lassen Sie — äh — Sonnenfinsternis für heute absagen." S P 1903, S. 22.

Religionsunterricht bei Hofe HAUSLEHRER: Nun, Königüche Hoheit, wie geruhen Hochdieselbe sich Se. Majestät den lieben Gott vorzustellen? PRINZ

(schweigt).

HAUSLEHRER: Nun, denken Hoheit sich einen schneidigen alten Herrn in großer Paradeuniform, die Brust mit hohen Orden bedeckt, auf dem Haupte eine Krone, fast so schön wie die Ihres Königlichen Herrn Vaters, um die Schultern einen großen Purpurmantel, Kanonenstiefel an den Füßen und als Zepter einen herrlichen Marschallstab —, dann haben Sie ungefähr die richtige Vorstellung. DER HERR PAPA: Gut, sehr gut! Man kann es den Kindern gar nicht anschaulich genug machen. SP 1903, S. 39.

Es gibt gar verschiedene „bahnbrechende Leistungen", solche von geistig hervorragenden Menschen und solche von willenswuchtigen und harthäutigen Rhinozerossen, die alles vor sich niedertrampeln ! S P 1903, S. 75.

In Preußen hat ein königlicher Beamter, der aus Anlaß seines Dienstjubiläums einen Orden kriegen sollte, diesen mit der Begründung zurückgewiesen, daß er nur einfach seine Pflicht getan und daher keine Auszeichnung verdient habe. Da alles Zureden umsonst blieb, wurde der Mann von den hervorragendsten Psychiatern auf seinen geistigen Gesundheitszustand untersucht und zur Fürsorge nach Dalldorf gebracht. Ein Impresario hat bedeutende Summen geboten, um dieses seltene Menschenexemplar zu erwerben und in den größten Städten des In- und Auslands zu zeigen. SP 1903, S. 187.

Das Karnickel STAATSANWALT : Es ist zwar nicht zu leugnen, daß die Betriebseinrichtungen auf dem Bahnhof mangelhaft waren, daß die Zeit zur Abfertigung der Züge zu kurz war und daß der Angeklagte 30

unter einer Überlastung mit Dienstgeschäften litt, als das Unglück eintrat, aber — und das ist der springende Punkt in der ganzen Angelegenheit! — es steht ausdrücklich in den Dienstvorschriften, daß Unfälle, durch welche Personen oder Material beschädigt werden können, unter allen Umständen zu vermeiden seien —, und gegen diese Vorschrift, meine Herren Richter, hat der Angeklagte verstoßen! Hätte er sie beachtet, so hätte das Unglück nicht eintreten können, folglich ist er nach der ganzen Strenge des Gesetzes zu bestrafen. S P 1903, S. 154.

In das Berliner Militärgefängnis wurden neulich unter schwerer Bedeckung ein paar menschliche Knochen eingeliefert, die sofort in Ketten gelegt und in eine feste, sichere Zelle gebracht wurden. Wie man hört, sind diese Knochen die letzten sterblichen Überreste eines Sozialdemokraten, der im Vorjahr zur Armee kam und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, durch fortgesetztes renitentes Betragen seine Vorgesetzten zu Mißhandlungen zu reizen und dadurch Bebeln Material zu seinen Anklagen wider den Militarismus im Reichstage zu hefern. Mit welchem Erfolg dieser Umstürzler seine teuflischen Pläne in Szene gesetzt hat, beweist der Umstand, daß eben bloß noch ein paar lumpige Knochen von ihm übrig geblieben sind; das andere liegt auf den Kasernenhöfen, Exerzierplätzen und Mannschaftsstuben verstreut. Aber schließlich ist sein Vorhaben doch mißglückt, seine konspiratorischen Absichten wurden entdeckt, und er sieht nunmehr seiner Bestrafung entgegen. Dies dürfte ein militärischer Sensationsprozeß werden, gegen welchen der Prozeß Bilse das reine Kinderspiel ist. S P 1903, S. 195.

Kannibalen wollt ihr zivilisieren? In fernen Ländern? Macht doch mit unsern heimischen Menschenfressern den Anfang! Haben wir nicht noch immer unsere Fugger und Weiser! S P 1903, S. 50.

Aus Ostelbien RITTERGUTSBESITZER

UND

SCHULPATRON : M e r k e n Sie s i c h d a s ,

Herr Lehrer, ich bin kein Freund von der Vielwisserei. Bringen Sie den Tagelöhnerkindern ordentlich Religion bei, das ist die 31

Hauptsache! Das Lesen, Schreiben und besonders das Rechnen führt schließlich doch nur zur Sozialdemokratie. D W J 1903, S . 4223.

Bürgerliche Politik SIE : Ich kann diesen Bebel nicht begreifen! Wo doch die Sozialdemokratie jetzt bereits anfängt, hoffähig zu werden, hält dieser Mann eine Rede, durch die er sich den Zugang zum Hofe ein für allemal verscherzen muß! ER : Sei doch froh! Heiratsfähige Töchter hat er doch einmal nicht! SIE: SO? Dann allerdings! Dann ist mir alles erklärlich! S P 1903, S. 22.

Politische Zoologie v. DUSELWITZ : Äh, äh, lese da von Sozial-Aristokraten — wat is denn det? Standesjemäß? v. FUSELWITZ: Nee, sozusagen politisches Maultier! v . D U S E L WITZ: Ä h , v e r s t e h e n i c h !

v. FUSEL WITZ: Doch sehr eenfach! Maultier - Kreuzung zwischen Pferd und Esel, also Sozial-Aristokraten - Kreuzung zwischen Plebs und Aristokratie, v. DUSEL WITZ: Äh, äh, aber wer ist denn da der Esel? S P 1903, S. 82.

Soziale Fürsorge POSTDIREKTOR: Ja, mein Lieber — also heiraten wollen Sie? Ja, haben Sie sich denn da zuvor auch kastrieren lassen, daß keine Kinder kommen? S P 1903, S. 63.

Im Amtsbüro RAT (zum Diurnisten): Ich denke, Müller, Sie sind schon lange zu Hause? Sie haben sich doch schon vor einer halben Stunde verabschiedet? DIURNIST MÜLLER: Ach, verzeihen gütigst, aber der Hund des Herrn Rat spielt gerade mit meinem Hut, und da wollte ich doch nicht stören. D W J 1903, S. 4223.

Radikalkur PROFESSOR (einenKranken vorstellend, zu seinen Hörern): Schwere

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Polyneuritis, meine Herren. Der Mann hat eben in seinem Berufe fortwährend mit Sorgen um das tägliche Brot zu kämpfen. Hier könnten ein paar warme Salzbäder helfen! D W J 1903, S. 4094.

Wäre Herkules ein Sozialreformer gewesen, so hätte er versucht, den Stall des Augias mit einer Zahnbürste zu reinigen. D W J 1904, S. 4284.

Harmonie Unter einem mächtigen Steine drängten tausend Keime vergeblich zum Lichte empor. „Nicht wahr", sagte eines schönen Tages der Stein zu den Keimen, „zwischen uns besteht kein Interessengegensatz?!" D W J 1904, S. 4348.

Ist es ein Wunder, wenn auf dem Boden der Armut nur stechende Disteln und brennende Nesseln wachsen? S P 1904, S. 125.

Nach neueren Forschungen soll das menschliche Blut Gold enthalten. - Eine alte Binsenweisheit! Seit undenklichen Zeiten wußte man Gold aus dem Blute des Volkes zu gewinnen. D W J 1904, S. 4378.

Die Firma Krupp hält innerhalb Deutschlands die Neutralität am zuverlässigsten hoch. Sie liefert den Russen den Stacheldrahtzaun zur Befestigung Port Arthurs und den Japanern die neuesten, zur raschen Zerschneidung dieses Zaunes geeigneten Maschinen. D W J 1904, S. 4491.

Andenken „Na, Herr Schmidt, was hat denn Ihr Sohn aus dem Hererofeldzug mitgebracht?" ,,'ne Medaille und 'n Holzbein!" D W J 1904, S. 4524.

Mißverständnisse über Mißverständnisse! Die Asche des Rebellen Riköczi, der vor bald zwei Jahrhunderten seinen grimmigen Kampf gegen die habsburgische Dynastie ge33

kämpft hat, wurde kürzlich aus fremder Erde in die Heimat überführt und im Beisein der allerhöchsten Würdenträger in Budapest bestattet. „Wir stehen nicht an", besagte das dabei verlesene kaiserliche Handschreiben, „einen Herzenswunsch unserer ungarischen Nation zu erfüllen und die Heimbringung des alten Helden zu gestatten. Wir sind überzeugt, daß die bedauerlichen Mißverständnisse von einst im Laufe der Zeit gänzlich behoben wurden, und haben keine Ursache mehr, dem verewigten Helden sein Ehrengrab zu verweigern." Möge sich auch anderwärts die gleiche versöhnliche Stimmung gegenüber den „Mißverständnissen" der Völker geltend machen! Noch heute leidet die französische Republik an den Folgen des bedauerlichen Mißverständnisses von 1789, und was wir Deutschen an sogenannten Menschenrechten besitzen, läßt sich nur aus dem Mißverständnis von anno 1848 erklären, dessen Opfer sonst ganz brave und treffliche Männer geworden sind! Irren ist eben menschlich, und darum lassen sich auch die Sklavenmißverständnisse im Altertum, die Bauernmißverständnisse des Mittelalters, das große Junimißverständnis vom Jahre 1 8 3 0 und alle anderen, die Weltgeschichte bildenden Mißverständnisse begreifen und daher — verzeihen!

DWJ 1904, S. 4368. Etwas vom Schlachten In Mecklenburg wollte ein Junge Schulurlaub haben, weil zu Hause ein Schwein geschlachtet wurde und er die Wurstmaschine drehen sollte. Der Schullehrer fand den Wunsch ordnungswidrig, der Herr Pfarrer aber hielt das Drehen der Wurstmaschine für eine nützlichere Beschäftigung als das Drücken der Schulbank und gewährte den Urlaub. Die Entscheidung des Pfarrers ist vielfach beanstandet worden. Wohl nur, weil er allzu offenherzig die Wertschätzung ausplauderte, deren sich in seinen Kreisen der Schulunterricht erfreut. Immerhin ist er uneigennütziger gewesen als jener Unteroffizier, der einem Soldaten die Gewährung des zum Schlachtfest erbetenen Urlaubs mit den Worten verkündete: „Aber der Deubel holt Sie lotweise, wenn Sie mir nicht den Beweis erbringen, daß auch wirklich geschlachtet wurde!"

DWJ 1904, S. 4424. 34

An der Berliner Universität sollen die wissenschaftlichen Vorlesungen künftig nur noch unter polizeilicher Überwachung stattfinden, welche festzustellen hat, was gelehrt werden darf und was nicht. Eine Anzahl ausgedienter Unteroffiziere sind bereits zu diesem Überwachungsdienst kommandiert. Falls ein Professor Querspäne macht, soll der Unteroffizier selber die Instruktionsstunde für die Studenten abhalten. SP 1904, S. 186. Mobilmachung A.: Wo ist denn unser Freund, der Professor Pinselmeier, hin? B.: Der ist gestern zur Front abgegangen. A.: Nicht möglich! Der war doch gar nicht Soldat! B.: Aber Maler, und da ist er zur Berliner Kunstakademie einberufen worden, um gegen die neue Richtung Front zu machen. SP 1904, S. 110. Ein Schwein ist ein nützliches Tier. Ein Hund ist ein treues Tier. Warum also bezeichnet man einen Lockspitzel durch eine Vereinigung dieser beiden Tiernamen? DWJ 1904, S. 4293. Vornehme Teilnahme BARONIN: Haben Sie sich im Palais der Gräfin nach deren Befinden erkundigt? DIENER: Ja.

BARONIN: G u t . Gehen Sie.

SP 1905, S. 161. Gerechtfertigt BESUCHER: Das ist aber ein Schwindel! Erst schwatzen Sie mir vor, Sie hätten in ihrem Extrakabinett ein ganz besonders blutdürstiges und grausames Vieh zu sehen, und nachdem ich das doppelte Eintrittsgeld dafür gezahlt habe, finde ich einen ganz gewöhnlichen Menschen! TIERBUDENBESITZER: Bittschön! Das ist kein „ganz gewöhnlicher Mensch", das ist eine französische Kolonialbestie aus dem Kongogebiet! So was Grausames und Blutdürstiges gibt's im ganzen Tierreich nicht! SP 1905, S. 60.

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Politik im Straßengraben SCHUTZMANN: O mei, Herr Sumpfhuber! Sie hier? Möchtens nit lieber a bisserl aufstehen? SUMPFHUBER (der besoffen im Straßengräben liegt): Fallt mir gar nit ei! I bin doch ka Herero nit, daß i aufstehen müßt! S P 1905, S. 154.

Republik Das Volk ist noch nicht frei. Weit davon entfernt 1 Es ist wahr, der politische König ist fort, aber der industrielle Despot bleibt noch immer. S P 1905, S. 138.

Rußland ist bereit, mit Japan Frieden zu schließen unter der Bedingung, daß dieses ihm sämtliche Kriegskosten ersetzt, sich aus der Mandschurei und Korea zurückzieht und nebenbei einige seiner eigenen Inseln abtritt. Die Petersburger Regierung ist fest überzeugt, daß bei solch weitgehendem Entgegenkommen der Friede nicht mehr lange auf sich warten läßt. S P 1905, S. 62.

Im Innern Rußlands wurden wieder verschiedene siegreiche Schlachten geschlagen. Da sich dort leider noch keine Japaner befinden, besiegt man als Ersatz einstweilen die eigenen Landeskinder, Arbeiter, Studenten, Juden usw. Man muß sich eben nur zu helfen wissen. S P 1905, S. 91.

Als dem Zaren die Mitteilung gemacht wurde, daß bei den Unruhen so viele seiner Untertanen getötet worden seien, soll er geäußert haben: „Die haben's überstanden, ich aber hab's noch zu erwarten!" D W J 1905, S. 4889.

Nachfolger Christi ERSTER PASTOR: Dieser Gapon! Wie man sich nur so weit vergessen und als Priester dem Volke zuliebe gegen die heiligen Gebote der Polizei und des Militärs sich versündigen kann! ZWEITER PASTOR: Ja, wenn Christus noch lebte, der würde ihn weit von sich weisen und sagen: „Ich kenne dich nicht!" ERSTER PASTOR: Ach der! Der machte es womöglich genauso! S P 1905, S. 30.

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Ein Gemütsmensch RENTIER BLIEMCHEN : Nu ja - ich dähd Se ja ooch gerne off de Russ'n schimf'n weg'n ihr'n färchterlich'n Grei'ldahd'n — wenn ich nur nich erseht neilich bei der groß'n Anleihe wieder so viel russ'sche Schtaatsbabiere gekooft hädde! Ich kann mich doch nich ins eegne Fleesch schneid'n unn weg'n der lab'gn Freiheed womeeglich gar d'n Zar schtärz'n! SP 1905, S. 27.

Deutschlands Zukunft SCHULZE : Was sagst du denn zu der großen Seereise nach Portugal und Marokko? MÜLLER: Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser! SCHULZE : Wenn wir nun aber wegen Marokko mit Frankreich und England in Krieg geraten? MÜLLER: Dann liegt sie im Wasser! SP 1905, S. 62.

Das Hoftheater zu Dresden wird am Schillertag den „Fiesko", das große „republikanische Trauerspiel", als Festvorstellung aufführen. Um Unzuträglichkeiten zu vermeiden, wird aber das Tragen republikanischer Abzeichen auf der Bühne wie im Publikum auf Grund des sächsischen Vereins- und Versammlungsgesetzes verboten. SP 1905, S. 66.

Realismus und, Photographie Viele der modernen Realisten unterscheiden sich nur wenig vom Photographen: Gegend und Menschen werden mit dem auf hohen, dünnen Beinen stehenden Apparat aufgenommen und fast immer wird ein — Negativ daraus! SP 1905, S. 98.

Legende An der Küste des Meeres stand der heilige Franziskus von Assisi und predigte mit lauter Stimme, die das Donnern der Brandung übertönte, von Himmel und Hölle. Da tauchten aus den flutenden Wogen die Fische in unabsehbaren Mengen auf und lauschten, wie gebannt, den mächtigen Worten. Hinter einer Düne lagen zwei arge Kinder der Welt, Morganus und Carnegius, und folgten mit gespannter Aufmerksamkeit dem unerhörten Vorgang. Aber 5 Prosasatire

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sie blieben ungerührt von der Predigt des Heiligen, die doch selbst die Herzen der unvernünftigen Kreaturen erschütterte, und der eine sprach zum andern: „Komm, laß uns diesen außergewöhnlichen Redner fangen und auf unser Schiff bringen. Die ganz an seinem Munde hängenden Tiere des Meeres werden dann unser nicht gewahr werden und unseren Netzen eine leichte Beute sein." Doch der Ältere erwiderte: „Dein R a t ist wohl gut, aber ich weiß einen besseren: L a ß ihn frei seiner Wege gehen. Den Menschen Entsagung predigend, wird er uns von viel größerem Nutzen sein." DWJ 1905, S. 4646.

Selbstbewußtsein John D . Rockefeiler, der amerikanische Petroleumkönig, 650 Millionen Dollar schwer, kam nach Europa. Ein sehr moderner Fürst ließ ihm sagen, er schätze königliche Kaufleute und wolle ihm gerne eine Audienz gewähren. „ Y e s " , sagte der ungekrönte Kollege, „ich bin zu sprechen von elf bis zwölf." DWJ 1906, S. 5118.

Das Lamm und der Wolf Eine moderne Fabel Ein Lamm begegnete einem Wolf, der selbstredend fürchterlich hungrig war und sich auch sofort anschickte, das Lamm zu fressen. Letzteres fiel auf die Knie und bat flehentlich, es zu verschonen und doch auch einmal dem Schwachen gegenüber idealistisch und nicht nur egoistisch zu handeln. „Wie kommst du auf solche Gedanken?" fragte der Wolf erstaunt. „Nun, hat nicht Graf Posadowsky im deutschen Reichstag etwas Ähnliches den Unternehmern gepredigt?" antwortete das L a m m zitternd. „Und glaubst du, daß sich die Unternehmer daran kehren werden ?" fragte der Wolf weiter. „Ich hoffe es zuversichtlich und wünschte nur, daß sie sich an deiner Großmut ein Beispiel nähmen", blökte das Lamm vertrauensselig. 38

„Das tun sie auch", erwiderte der Wolf, und — nach der Mahlzeit setzte er hinzu: „Das war wirklich ein größeres Schaf, als ich gedacht hätte!" DWJ 1906, S. 4934. Berechtigter

Zweifel

Lude: Haste schon den Automat-Menschen jesehen im Zirkus Busch? Ede: Nee! Was is mit die Kruke? Lude: Na, der looft von janz alleene, schreibt janz alleene, bewegt sich wie een Mensch unn fährt sojar Rad. Unn det allens ohne Kopp, det heeßt ohne Jehirn, ohne Nachdenken, indem det doch bloß een Automat is, wat durch Elektrizität jetrieben wird. Ede: Wenn 't weiter nischt is! Da kieck dich doch mal so'n Assessor oder Referendar an! Die machen ooch allens, wat von se verlangt wird — unn allens ohne die jeringste Spur von jeistijet Nachdenken. Lude : Donnerkiel, ja! Det wird doch nich am Ende eener von die Bürokratie sind, der sich bloß verstellen tut! SP 1906, S. 46. Ein geflügeltes

Wort

„Pöbelexzesse und Revolution werden wir nicht dulden." So sprach Fürst Bülow im preußischen Herrenhause. Das ist ein sehr richtiger Standpunkt, den die königlich preußische Staatsregierung mit diesem Ausspruch bekundete. Revolution darf überhaupt nicht geduldet werden, denn sonst reißt so etwas ein, die Schweinerei ist fertig, und nachher will's dann wieder keiner gewesen sein. Am besten, sie wird polizeilich als grober Unfug verboten. Serenissismus fragte einst, als ihn die getreuen Untertanen abgesetzt hatten, erstaunt: „Ja, derfen sie denn das?" Die königlich preußische Staatsregierung blickt weiter. Sie sagt gleich mit erfreulicher Bestimmtheit: „Nein, sie derfen nicht." Bürger Deutschlands! Ihr könnt ruhig weiter schlafen. DWJ 1906, S. 4960. Was zuviel ist.

..

Der Reichsschatzsekretär stand nachdenklich vorm Straußenhaus im zoologischen Garten. 5*

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„Was frißt so ein Vieh eigentlich den Tag über?" fragte er den Wärter. „Na, seine gehörige Portion Weizen, Kleie, Heu oder Stroh I" „Und wenn er die nicht kriegt . . . " „Dann frißt er halt die Borke von der Stallwand und den Besuchern die Hüte vom Kopf weg." „Aber wenn man da nun Draht drum herum macht, so daß er nicht 'ran kann . . . " „Dann schluckt er eben 'runter, was sonst da ist, Kieselsteine, Flaschenscherben, Mist, die eigenen Federn . . . " „Und bleibt dabei immer kreuzfidel und gemütlich?" „Immer!" „Braves Tier das", meinte der Minister, „hat 'ne Seele wie das deutsche Volk." Hierauf griff er in die Tasche und steckte ihm, weil der Wärter gerade nicht hinsah, die Entwürfe zur Reichsfinanzreform in den Schnabel. Morgens drauf war der arme Strauß verreckt. DWJ 1906, S. 4916.

In der Generalversammlung der Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik rechnete ein Aktionär vor, daß in der Großindustrie jeder Arbeiter in jedem Jahre 2000 bis 3000 Mark Mehrwert einbringen muß. Wie froh können doch die Chemnitzer Arbeiter sein, daß sie nicht nach dem Mehrwert, den sie ihren Herren einbringen, besteuert werden, sondern nur — nach ihrem Lohn! D W J 1906, S. 5262. Aus Dollaria

Pat O'Flanagan, ein braver Ire, arbeitete in Chicago beim Fleischtrust. Eines Morgens wurde seine Frau aufs Kontor bestellt: „Sehr verehrte Mistreß - Ihr Mann ist in die Wurstmaschine gefallen! Wir hatten keine Zeit, das Ding abzustellen, und können ihn selbstredend auch nicht aus der fertigen Ware heraussuchen. Seine Lohnforderung beträgt zwölf Dollar. — Hier ist die Rechnung über entstandene Begräbniskosten! Sie haben noch einen Dollar vierzig Cents draufzuzahlen und dürfen sich eine Rotwurst zum Andenken mitnehmen." D W J 1906, S. 5083.

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„Unerhörtes" aus den Kohlengebieten GRUBENPROTZ: Was? Fünfzehn Prozent wollen die Arbeiter mehr? Diese Forderung ist ja unerhört! ARBEITER : Bis jetzt, ja! Aber Sie werden sie schon noch „erhören" müssen. S P 1906, S . 188.

Wertmesser KOMMERZIENRAT: Sie wollen also meine Tochter zur Frau? Hm! — Wieviel Ahnen? L E U T N A N T VON P U M P W I T Z : Z e h n !

KOMMERZIENRAT: Und wieviel Schulden? VON PUMPWITZ: 200000 Emmchen. KOMMERZIENRAT: Tut mir leid — für die paar Ahnen sind mir die Schulden zu hoch! Schaffen Sie sich noch ein halb Dutzend Ahnen an, oder reduzieren Sie Ihre Schulden auf die Hälfte, dann können Sie das Mädel haben, sonst nicht! S P 1906, S . 29.

Höheres Ehrgefühl FUCHS

(während

Burschen):

eines Wortwechsels mit einem Herrn heimlich

zum

„Du, bin ich jetzt beleidigt?"

S P 1906, S . 1 3 .

Vom „Geiste des Christentums" spricht der satte Bürger! Ich muß lachen. Was ihm nicht paßte, hat er aus dem Christentum heraus-, und was in seinen Kram paßte, hat er hineingelogen. S P 1906, S . 1 0 9 .

Aphorismus über Heinrich Heine Fünfzig Jahre bist du nun tot, du genialer Spötter, aber — du lebst immer noch! Und andere, die dich gern totschreien möchten, sind selber tot, obwohl sie noch leben! Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit. S P 1906, S. 2 7 .

Aus der vormärzlichen Zeit So ein rechtes Gaunerwetter war's — pechfinster. Da schlich sich scheu ein Mann am Feldrain entlang, mit Schaufel und Kartoffelsack. Jetzt bückte er sich, füllte hastig so viel Ackererde hinein, wie er gerade schleppen konnte, und flüchtete, als plage ihn das böse Gewissen.

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Was war das nun? Diebstahl. . . Sachbeschädigung? Nein, es war mehr, es war Hochverrat! Der Mann hatte das Fürstentum Schnorrburg-Knickershausen gestohlen! DWJ 1906, S. 5026. Die Blutflut

Wie in Rußland das Maß der Sünden voll war, da begab sich ein Wunder. Aus zerstochenen und zerschossenen Leibern floß es stromweise, dampfend, unaufhaltsam. Die Mordbande merkte es nicht, sie berauschte sich am Blutgeruch. Schon war die weite Steppe von Mittag bis Mitternacht ein brausendes, schäumendes Meer; höher und höher wälzten sich die Wogen, dick und schwer. Jetzt stieg's ihnen bis zum Halse, lief ihnen zum Schlund hinein. Sie plärrten um Hilfe. Am meisten schrie Nikolaus. „Heiliger Wladimir — ich habe das Beste gewollt!" Da erscholl eine Stimme: „Drum ersäufst du auch standesgemäß — in deinem liebsten Getränk!" DWJ 1906, S. 5114. Bekanntmachung

Aus einem gegenwärtig in der Wuhlheide bei Köpenick stationierten Affentheater ist ein alter, einäugiger, auf dem rechten Hinterbein hinkender Pavian ausgebrochen. Derselbe war bei seiner Flucht mit einem der preußischen Gardeoffiziersuniform nicht unähnlichen Phantasiekostüm bekleidet. Wir warnen hiermit die Mannschaften und Offiziere des Gardekorps sowie die in Berlin und Umgegend sich aufhaltenden Herren Reserveleutnants und die Beamten der Sicherheitsbehörden, dem Pavian irgendwelche dienstlichen Ehrenbezeugungen zu erweisen oder seinen etwaigen Befehlen Folge zu leisten. Auch ist derselbe, wie wir ausdrücklich bemerken, zur Vornahme von Kassenrevisionen und Verhaftungen auf allerhöchsten Kabinettsbefehl nicht ermächtigt. Das Generalkommando des preußischen Gardekorps DWJ 1906, S. 5226. Stramme Disziplin

„Herr Hauptmann, der Meyer V ist schlapp geworden und . . ." „Schreiben Se'n uff, Feldwebel! Exerziert 'ne Stunde nach, mit Sandsack!" „Aber, Herr Hauptmann, der Mann ist inzwischen gestorben." 42

„So? Na, egal. Strafe muß sein! Dann zählt eben das Leichenbegängnis als Nachexerzieren!" DWJ 1907, S. 5550.

Rekrutenunterricht Am Mittwoch: „Also aufgepaßt! Beim Militär seid ihr alle wie in einer großen Familie. Der Herr Hauptmann ist der Vater der Kompanie, und der Feldwebel ist die Mutter." Am Donnerstag: „Ein guter Soldat schießt, wenn es befohlen wird, auf Vater und Mutter. — Krzyczostaniak, wiederhole das!" „Schießt sich guter Soldat auf Panje Hauptmann und auf Exzellenz Feldwebel, Herr Leitnant!" DWJ 1907, S. 5636.

Patriotismus — ein Fremdwort, das diejenigen am meisten im Munde führen, denen es am fremdesten ist. SP 1907, S. 134.

Von der besten aller Welten In dem Baumwollwarenlager einer südamerikanischen Farm wütete tagelang ein ungeheurer Brand. War das Feuer durch Zufall entstanden? Offenbar doch nicht, denn zahllose Ballen roher Ware wurden immer wieder in das Flammenmeer geworfen. Die Ernte eines ganzen Territoriums ging in Rauch und Asche auf. Ein Chicagoer Börsenblatt brachte darauf folgende Originaldepesche aus Janeiro: „Der schon stark gedrückte Kurs unfertiger Baumwolle beginnt glücklicherweise zu steigen. Parker & Co. haben der Überfüllung des Marktes vorzubeugen gewußt." Wohl waren hunderttausende Ballen vernichtet, aber dafür hielt sich der Preis fortgesetzt auf der Höhe von 28 Schilling pro Ballen. Um die gleiche Zeit wurde eine Arbeiterfamilie in einem Vorort Londons erfroren aufgefunden, weil sie nicht das Geld gehabt hatte, sich warm zu kleiden. DWJ 1907, S. 5647.

Dringlicher Mahnruf an alle Kolonialfreunde! Der Mars ist in die allernächste Nähe der Erde geraten, er wird erst in siebzehn Jahren wieder so nahe kommen! Jetzt oder nie ist die Gelegenheit da, den deutschen Adler seine Fänge in den

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jungfräulichen Marsboden schlagen zu lassen! Die da nörgelnd von Sand wüsten reden, müssen an der wissenschaftlich festgestellten Tatsache, daß der Mars eine Atmosphäre und Wasser besitzt, einfach verstummen. Hier ist ein neues Absatzgebiet für unseren Handel, ein Asyl für unsere überschüssige Bevölkerung gefunden! Aber wir müssen die ersten sein! Deutschland in der Welt voran, unter den Planeten voran! Ein Volk von Marssöhnen sind wir und wollen es bleiben! Darum auf zur Kolonisierung unseres Mutterlandes! Die deutsche Kolonialgesellschaft D W J 1907, S. 5487.

Im lothringischen Kanton Saaralben erhalten die bei der Strohflechterei beschäftigten Kinder Taglöhne von 80 Pfennig bis 1,20 Mark. Die nationalliberale Fraktion will beim nächsten Schuletat beantragen, die Saaralbener Kinder vom Schulunterricht zu befreien, damit dieser nicht der Arbeit hindernd im Wege steht! D W J 1907, S. 5620.

Kapitalistische

Krankheit

ERSTER ARBEITER: Na, was macht denn jetzt euer Kommerzienrat? ZWEITER A R B E I T E R : D e r h a t d i e G e l b s u c h t ! ERSTER ARBEITER: N a n u ?

ZWEITER ARBEITER: Jawohl! Der sucht „Gelbe", um die freien Gewerkschaften hinausschmeißen zu können. SP 1907, S. 94. Zukunftsbild BÜRGER: Warum ist denn gestern der Professor Huber verhaftet worden? REDAKTEUR: Wegen Majestätsbeleidigung! BÜRGER: Nicht möglich, der Mann ist ja streng konservativ! REDAKTEUR: Das schon, aber er ist auch Kunstkritiker! BÜRGER: Nanu, was hat denn das mit der Majestätsbeleidigung zu tun? REDAKTEUR: Ich bitt' Sie! Der Kerl hat ein Bild öffentlich schlechtgemacht, das der Kaiser gelobt hat! SP 1907, S. 159. 44

Am Vorabend des Weltkriegs (1905/07—1914,) Zweckmäßig A.: Finden Sie nicht, daß der Staatsanwalt etwas klein ist? B.: Das macht nichts. Im Gegenteil. Er stößt dann oben nicht so leicht an und sieht unten alles besser. DWJ 1908, S. 5840. Wer der Weltgeschichte allzu eifrig Knüppel in den Weg legt, wird von ihr überfahren. DWJ 1908, S. 6002. Blut ist ein ganz besonderer Saft. Das gilt aber für das Blut des Volkes ebensogut wie für das Blut der Könige. Wer ersteres nicht achtet, züchtet Attentäter, denn er lehrt das Volk, auch das letztere nicht zu achten. SP 1908, S. 35Marokko ist das Streichholz, mit dem Bülow seine Weltmachtszigarre anstecken wollte. Das glückte aber nicht; und weil er's nicht rasch genug fortwarf, verbrannte er sich obendrein noch die Finger. DWJ 1908, S. 5939.

Wenn der degenerierte kapitalistische Mensch ein nietzschischer Übermensch werden will, entsteht mit mathematischer Sicherheit ein vertierter Unmensch! SP 1908, S. 72. Ausländer in Berlin „Was für komische Bewegungen machen diese Soldaten?" „Meinen Sie, wenn ein Vorgesetzter vorbeikommt?" „Ja. Sie legen die eine Hand an die Hose und strecken das Gesäß so weit wie möglich nach hinten. Weshalb?" „Ich weiß nicht." „Wie nennt man denn diese Verrenkungen?" „Ein Offizier sagte mir, hierauf beruhe die Kraft des deutschen Heeres. Es zeichne sich schon äußerlich durch diese Bewegungen aus, die den Geist des Ganzen widerspiegelten." „Ach, dann weiß ich schon, was es ist." „Nun?" „Das ist die berühmte deutsche Mannesunzucht." SP 1908, S. 167.

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Der Menschenfreund K R Ü P P E L : Ach, Herr Kommerzienrat, könnten Sie nicht etwas für mich tun? Ich bin bei der Rettung eines Ertrinkenden verunglückt und nun vollständig erwerbslos! K O M M E R Z I E N R A T : Geschieht Ihnen schon recht, warum sind Sie so dumm! Wenn ich mich auch mit dem Retten von Menschenleben hätte befassen wollen, hätte ich's nie zu etwas gebracht! SP 1 9 0 8 , S. 4 7 .

Blitzdrahtnachricht Wien (amtlich). Wegen vorgekommener Mißverständnisse wird nochmals dringlich bekanntgegeben, daß sich die hiesigen fortgesetzten Festivitäten auf das fünfzigjährige Regierungsjubiläum Franz Josefs I. beziehen und nicht auf das sechzig jährige der Revolution von 1848. DWJ

1908, S. 5878.

Ein hoffnungsloser Fall In Ostelbien fand eine Schulvisitation statt. Da alles gut verlaufen war, faßte sich der geplagte Staatsproletarier ein Herz und trug dem gestrengen Herrn Schulrat einige persönliche Bekümmernisse vor, betreffend seine gedrückte soziale Lage. Der Schulrat besichtigte die leeren Kochtöpfe und das kaputte Dach, klopfte dem Besitzer dieser Herrlichkeiten wohlwollend auf die Schulter und sagte: „Die Regierung wird ihr Möglichstes tun, mein Lieber! Aber bis dahin trösten Sie sich nur mit der Wichtigkeit Ihres verantwortungsvollen Amtes. Vergessen Sie nicht, der preußische Schulmeister hat 1866 Königgrätz gewonnen!" „Ich habe aber kein Geld zum Lotteriespielen, Herr Schulrat!" entgegnete der Volkserzieher verzweifelt. DWJ

1908, S. 5795.

Schülerselbstmord „Haben Sie es denn nicht mal für nötig gehalten, Herr Direktor, wenigstens der Beerdigung des jungen Menschen, den Ihre pädagogische Kunst in den Tod getrieben hat, beizuwohnen?" „Nein, was soll ich da! Er hört's ja doch nicht mehr, wenn ich ihm am Grabe noch einen wohlmeinenden Tadel erteile!" DWJ

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1908, S. 5866.

Verrückte Produktionsweise MANN: Warum gehst du barfuß, mein Junge? JUNGE : Ich habe keine Stiefel. MANN: Was ist dein Vater? JUNGE: S c h u h m a c h e r .

MAN»: Warum macht er dir keine Stiefel? JUNGE : E r i s t a r b e i t s l o s .

MANN: Warum ist er arbeitslos? JUNGE : Weil es zuviele Stiefel gibt! S P 1909, S. 75.

Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln: der Verstand wird in die Zwangsjacke gesteckt und dafür die Bestie entfesselt. D W J 1909, S. 6438.

Der Soldat wird zur Schlachtbank geführt wie ein Hammel. Er fühlt sein Schicksal wohl, aber er kann ihm nicht entrinnen. Nur ein Unterschied besteht zwischen beiden: Der Hammel schreit protestierend „mäh!", der Soldat muß auch noch begeistert „hurra!" rufen. S P 1909, S. 58.

Der Krieg wird dem Sieger meist ebenso verderblich wie dem Besiegten, denn er macht ihn üppig, brutal, sorglos und bereitet dadurch dessen nächste Niederlage vor. Unrecht Gut gedeiht eben nicht. Das ist die Nemesis der Weltgeschichte. S P 1909, S. 58. „A

rbeiterfreunde"

REICHSVERBANDS-PROFESSOR : W i r w e r d e n u n e r m ü d l i c h u m d i e

Seele des Arbeiters kämpfen, so lange, bis wir diese endlich der verhaßten Sozialdemokratie entrissen haben! FABRIKANT: Und wenn dies geschehen ist? PROFESSOR: Dann treten wir sie wieder mit Füßen, denn dann haben wir nichts mehr zu fürchten! S P 1909, S. 107.

In der Türkei gärt und brodelt es allüberall, dagegen ist auf dem benachbarten Korfu alles ruhig - sogar der Kaiser. S P 1909, S . 86.

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CHEF: Müller, Sie feiern heute ihr fünfundzwanzig]ähriges Jubiläum als Buchhalter bei mir - da könnten Sie eigentlich was zum besten geben, daß ich Sie so lange beschäftigt habe! S P 1909, S . 7.

In einer Gesellschaft, wo Macht vor Recht geht, muß man folgerichtig erst die Macht erobern, wenn man zu seinem Recht kommen will. D W J 1 9 1 0 , S. 6755.

Ein Gespräch in der Wilhelmstraße „Durch was mag Herr v. Jagow nur so plötzlich zum Reichsvereinsgesetz bekehrt worden sein?" „Vielleicht durch die gesunde Vernunft, Exzellenz!" „Nee, mein Lieber, das gibt's ja gar nicht, ich glaube ganz im Gegenteil, Majestät ist es gewesen!" D W J 1 9 1 0 , S . 6627.

Militärischer Familiensinn „Musketier Hansjörg, was wissen Sie vom Beschwerderecht des Soldaten?" „Es ist zwar gestattet, sich zu beschweren, aber man soll es nicht tun, Herr Leutnant!" „Gut. Und warum nicht?" „Weil es keinen Zweck hat, den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen!" D W J 1 9 1 0 , S . 6835.

J e zahlreicher die Bajonette sind, auf denen der Staat sitzt, desto zappeliger wird er in seiner auswärtigen Politik. D W J 1 9 1 1 , S. 7055.

Die Spekulation der Kriegshetzer richtet sich dahin, daß der gesunde Menschenverstand beim Klang der Trompeten „durchgehen" soll wie ein Droschkengaul, der früher mal bei der Kavallerie gedient hat. D W J 1 9 1 1 , S. 7 2 6 3 .

Um die Eroberungslust der Alldeutschen zu befriedigen, will die Reichsregierung einige Kriegsschiffe nach dem Südpol schicken, damit sie dort die deutsche Flagge aufpflanzen. Man verspricht

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sich von dieser Aktion eine Belebung des nationalen Geistes und einen günstigen Ausfall der Reichstagswahlen. D W J 1 9 1 1 , S. 7295.

Das Scharfmachertum wird zum eifrigsten Revolutionär, sobald es damit beschäftigt ist, Barrikaden gegen eine fortschreitende Entwicklung zu errichten. D W J 1 9 1 1 , S. 7 0 7 1 .

Inserat Für mein am nächsten Donnerstag stattfindendes Diner suche als Tafeldekoration noch ein paar Gardeleutnants oder andere adlige Kavaliere. Honorar nach Vereinbarung in bar oder in Wertgegenständen. Meldungen werden an der Sammelkasse meines Warenhauses entgegengenommen. Kommerzienrat X . DWJ

1 9 1 1 , S. 7 2 6 2 .

Die „Berliner Neuesten Nachrichten" rechneten kürzlich aus, daß bereits 30000 besoldete sozialdemokratische Agitatoren vorhanden seien. Das ist richtig. Dazu kommen aber noch die unbesoldeten Agitatoren, von den Mitgliedern höherer und allerhöchster Häuser bis herab zum kleinsten Polizeipräsidenten. DWJ

1 9 1 1 , S. 7023.

Im Hinterhaus „Nicht wahr, Mama, zu uns kommen auch nur die abgelegten Weihnachtsengel ? " D W J 1 9 1 1 , S. 7 3 1 4 .

Passender Beruf Sie wollen Ihren Sohn auch Lehrer werden lassen, Wiesenbauer? Würde er sich nicht besser für die Landwirtschaft eignen? B A U E R : Nee, för de Landwirtschaft dögt hei gor nich! Hei het mi all twei Kälwer un ein Fahlen krüzlahm slan! LEHRER:

DWJ

1 9 1 1 , S. 7022.

Die freisinnige Interpellation Die Fraktion der Freisinnigen Volkspartei des preußischen Abgeordnetenhauses forderte von der Regierung Auskunft über einen

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bestimmten Fall, wo die preußische Wissenschaft offenbar ganz nach der Pfeife der preußischen Polizei getanzt hatte. Die zuständigen Ressortminister antworteten, die Wissenschaft habe in diesem Falle nach der Pfeife der Polizei überhaupt nicht getanzt, sondern nur vorschriftsmäßig Parademarsch gemacht. Die Konservativen verlangten daraufhin neben dem Parademarsch auch noch Einführung des Bauchrutschtanzes und des Hinaus wurf schuhplattlers. Das Zentrum war mit sämtlichen Tanzbewegungen der Wissenschaft einverstanden, vorausgesetzt, daß keine sittlichen Gefahren dadurch herbeigeführt würden. Die Nationalliberalen fanden, daß einerseits zwar die Wissenschaft einen schönen Parademarsch gemacht, andererseits aber die Polizei nicht gerade übermäßig schön dazu gepfiffen habe. Nachdem dann ein Sozialdemokrat die Dinge beim richtigen Namen genannt hatte, sprach die Freisinnige Volkspartei dem hohen Hause und der Regierung für die gute Behandlung der Interpellation ihren tiefgefühlten Dank aus. Und der Sozialdemokrat erhielt als einziger Störenfried nachträglich einen Ordnungsruf! DWJ 1911, S. 7103.

„Kein guter Vogel wird sein eigen Nest beschmutzen." Gewiß! Ein Staat wie der preußische ist aber leider kein Nest mehr, sondern ein K ä f i g ! DWJ 1912, S. 7532.

Wenn die Staaten sich gegenseitig als Mörder zu Leibe gehen, sind ihre Völker erstens das Werkzeug, zweitens das Opfer und drittens sogar noch die „strafende Gerechtigkeit" in einer Person! DWJ 1912, S. 7723.

Sprachverlotterung Als der Kaiser neulich im Landwirtschaftsrat das Wort nehmen wollte, kündigte das der Vorsitzende, Graf Schwerin-Löwitz, mit den Worten an: „Seine Majestät haben allergnädigst geruht zu befehlen, selbst das Wort ergreifen zu wollen." Das verrät einen bedenklichen Mangel an Achtung vor der allerhöchsten Person und ist obendrein ein grober Verstoß gegen die 50

Logik der deutschen Sprache. Dem Kaiser hat niemand etwas zu befehlen, selbst der Kaiser nicht. Die Adresse, an die der kaiserliche Befehl sich richtete, war natürlich nicht der Kaiser, sondern das Wort. Ein echt deutscher Mann hätte sich in diesem Fall so ausdrücken müssen: „Seine Majestät haben allergnädigst geruht, dem Wort zu befehlen, sich von allerhöchst Dero Person ergreifen lassen zu wollen." DWJ 1913, S. 7850.

Des Weltkriegs Ausbruch war die Explosion der Weltrüstung! Und all die aufgespeicherten Pulvervorräte waren so lange eine „Garantie des Weltfriedens", bis die serbische Streichholzschachtel in Aktion trat. DWJ 1914, S. 8475.

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Gedanken eines arbeitslosen Philosophen

Bürgerliche Moral Was ist die bürgerliche Moral? Eine Scheuklappe, die die Moralität nicht hebt und die Unmoralität nicht hindert. Eine Dirne, die die Tugend verhöhnt, wenn sie nichts einträgt, und dem Laster nachläuft, wenn es Erfolg hat. Eine Ausrede, das Vernünftige nicht zu tun und das Unvernünftige zu dulden. Ein Spinnengewebe gegen die Gelüste der Mächtigen und ein Panzer gegen die Mahnungen der Billigkeit. Alles in allem: Ein verblaßter Fetzen, morsch genug, um unter das Kehricht der Weltgeschichte geworfen zu werden. Objektivität ist die Tugend der Satten. Nicht immer ist derjenige taktvoll, der den Takt gibt. Gar manches Bourgeoisjüngferchen denkt wohl nicht daran, wie der Mantel entstand, der sie so prächtig kleidet, wie er gewebt ist aus Tuch, darin tausend Flüche gewirkt sind. Wie er genäßt ist mit Schweiß und Blut und der Preisgabe der Jungfräulichkeit und einem Leben der Schande. Aber er ist doch schön, und kein Mensch sieht ihm's an. Eine warme Suppe, eine warme Stube und ein warmer Pelz hüten die Moral besser als die wärmsten Predigten. Der Minister Schönstedt ist nun einmal eine profunde Natur, dafür gehört er ja dem Volke der Dichter und Denker an. Vielleicht entdeckt er noch mehrere solche „alte Rechtsgrundsätze" wie den: wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe; ich könnte ihm einige empfehlen: Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen. 52

Sei im Besitze, und du bist im Recht. Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus. Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein. Suum cuique, zu deutsch: Behalte, was du hast, und nimm, was du bekommen kannst. Gewalt geht vor Recht. Und last not least: Suprema lex regis voluntas. Das Altertum gab seinen Umstürzlern den Schierlingsbecher; das gab glatte und reinliche Arbeit, und alle Welt sah, daß der Staat sich einen gefährlichen Menschen formal rechtens vom Halse geschafft hatte. Heute läßt man die gefährlichen Leute verhungern. Die Welt merkt es nicht und sagt: Der Lump ist lieber verhungert, als daß er gearbeitet hätte. Eigentum, Ehre und Familie sollen nicht mehr herabgewürdigt werden dürfen. Ganz recht; die beste Sicherstellung dieser idealen Güter wäre aber — ihre Abschaffung. Ich bin der Zivilisation immer um einen Schritt voraus. Da hat sich neulich ein Mann erschossen, weil seine Liebe aussichtslos war, denn er war ein armer Teufel. Wie man auch heiraten wollen kann, wenn man nichts zu beißen hat! Oder verstehe ich am Ende nichts von der Liebe?! Stehlen heißt es, wenn es unter hundert Mark ist. Man kann auf dreierlei Arten Karriere machen: 1. mit dem Kopf, 2. mit dem Hintern, 3. durch die „Liebe". 1 . a) durch seinen eigenen Kopf; b) durch den Kopf eines andern. 2. a) Man bleibt auf seinem eigenen Hintern sitzen; b) man „küßt" den Hintern eines andern. 3. a) Man „hebt" die Frau seines Vorgesetzten; b) man läßt seine eigene Frau von seinem Vorgesetzten „lieben". Hm, ich würde mich für 3 a entscheiden, wenn ich schon Karriere machen wollte. Spinne am Morgen! Das sei dein Losungswort. Spinne am Abend, das vergiß nicht! 6

Prosasatire

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Spinne bei Tag, jahraus, jahrein, bis du blind wirst. Das nimmt dem Brotherrn die „Sorgen" und ist für ihn erquickend und labend. Und du, dummer Teufel? Wer hat nach dir gefragt?! Der Philister stößt sich an dem Wort „freie Liebe". Lieber Hinz und lieber Kunz, man kann es ja auch morganatische Ehe oder Trauung zur linken Hand nennen. Siehst du wohl, das klingt viel schöner und ist das nämliche. Ich war neulich beim Komitee eines Wohltätigkeitsballes. „Ich bin arbeitslos", sagte ich, „und möchte um meinen Anteil ersuchen", sagte ich. „Wenn es nur zehn Mark wären", sagte ich. „ J a , guter Freund", sagte man mir, „das wird schlecht gehen. Wir haben das ganze Geld für Dekoration des Saales, Bouquets, Drucksachen, Kutschenfahrten etc. ausgegeben. So 300 Mark würden wir noch für das Souper des Komitees brauchen." Sagte man mir. Da wurde ich grob. Und da ließ man mich einsperren. Ich kenne mich wirklich nicht mehr aus in dieser schönen Welt. Ich habe gestern mein Liebchen wiedergesehen, chen, das mir alles gegeben hatte. Satt wurden davon. Aber jetzt muß es ihr sehr gut gehen, superb kostümiert und nickt vertraulich gar Herren zu.

mein erstes Liebwir freilich nicht denn sie ist sehr fein gekleideten

Ihr mögt mich immerhin verachten, ihr Schöngekleideten. Ich habe wenigstens ein Schicksal. Ein regierender deutscher Fürst wünscht eine getaufte Israelitin mit zwei Millionen Mitgift zu heiraten. O Heiligkeit der Ehe! O Gottesgnadentum! Bleibt die ergebene Anfrage: Wieviel Millionen muß eine Ungetaufte haben? Der Fanatismus der Ehrlichkeit muß doch das größte Verbrechen in dieser besten aller Welten sein, denn er wird mit dem Hungertode bestraft. Kommt mir nicht mit den ewigen Wahrheiten; mein Magen ist hungrig und würde nicht einmal Vernunftgründe vertragen. 54

Oh, über die bürgerliche Moral! Was der junge Herr tut, das ist wohlgetan; Jugend muß austoben. Und von der Amme verlangen sie am Ende gar, daß sie noch Jungfrau ist. Die bürgerliche Wohlanständigkeit ist eine Tugend, die nur im Schatten eines feisten Schmerbauches gedeiht. Man sollte sie nach dem Gewicht taxieren. Ein leeres Knopfloch ist manchen unangenehmer als ein leerer Kopf. Armut ist keine Schande, bewahre, aber etwas Schändliches. Man braucht sich der Armut nicht zu schämen, wenigstens nicht der anderer; man braucht sich wirklich nicht zu schämen, wenn man arm ist; es schämen sich schon die andern, mit einem zu verkehren, wenn man arm ist. Die Armut ist bei Lichte besehen also gar nicht so schlimm. Gebt Kunzen eine Million oder noch weniger, und er wird schwören, daß die Armut eine ganz vorzügliche Sache ist. Man sagt, dem Ehrlichen schmeckt Essen und Trinken, ist auch was Rechts, ehrlich zu bleiben, wenn man zu essen und zu trinken hat. Es ist Undankbar, störrische Pferde zu reiten, denn sie werfen einen ab; es ist aber noch undankbarer, Prinzipien zu reiten, denn die werfen nichts ab. Idealismus, allgemeine Menschenliebe, Freigeisterei: Phrasenschwall, Dunst! Aus dem Hunger wird die neue Welt geboren werden. Das Elend und der Luxus bedecken beide ihre Blößen nicht; beim einen nennt man es dekolletiert, beim andern zerlumpt. Der Hunger kennt keine Moral, sondern nur Bedürfnisse.

Militarismus Wofür kämpft der Soldat? - Fürs Vaterland! Was ist sein Vaterland? Der Fleck, wo er geboren ist, das Land, das ihn verhungern 6*

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läßt! - Also kämpft der Soldat für das Recht, auf dem angestammten Fleck Erde verhungern zu dürfen. „Der Krieg offenbart die herrlichsten Tugenden des Mannes." - Jawohl, als da sind: Raub, Mord, Totschlag, Notzucht und gänzliche Vertierung. Der Krieg ist oft nichts anderes als eine in Menschenblut umgesetzte Börsenspekulation. Die französischen Arbeiter hungern, und die deutschen Arbeiter hungern, und beiden ziehen die jeweiligen Kapitalisten das Fell über die Ohren. - Und wenn die deutschen Arbeiter im Waffenrock und die französischen sich die Köpfe blutig schlagen für besagte Jeweilige, so nennt man das einen heiligen Krieg. Mein seliger Großvater hat mir oft von der herrlichen deutschen Militärgerichtsordnung erzählt. Er hatte immer einen großen Respekt vor der Ehrwürdigkeit. Na, am Ende, was sich schon durch drei Jahrhunderte bewährt hat, muß ja auch gut sein. Jeder Krieg hat mehr oder weniger seinen Redakteur der Emser Depesche. Fanatiker erklären, der Krieg sei eine ewige Einrichtung. I du meine Güte, Läuse und Wanzen sind von alters her da; aber man setzt ihnen deshalb doch keine Monumente! „Mit Gott für König und Vaterland!" so hieß Anno 70 das Feldgeschrei. Warum doch nicht gleich „Pour le roi de Prusse" ? „Gott will es! Gott will es!" ruft das betörte Volk, wenn ein neuer Krieg losbricht. Es sieht die Fäden der schmutzigen Habsucht nicht, die hinter der Bühne von sehr zweifelhaften Halbgöttern gezogen werden. Man hat den Krieg ein Stahlbad der sittlichen Tugenden der Völker genannt; dann sind die Soldatenmißhandlungen das „Stahlbad" der Disziplin. Es gibt äußere und innere Sedans. Ihr feiert zur Erinnerung an die Ströme Blut, die Anno 70 flössen, mit Strömen Wein und Bier 56

das äußere Sedan - und merkt gar nicht, ihr Verblendeten, wie sich das innere langsam, aber sicher über euren Köpfen vollzieht ! Ein Münchner Soldat hat einen Offizier geprügelt, der ihn gestoßen hat. Das will ich den „Fliegenden Blättern" als Kasernenhofblüte einschicken, aber ich fürchte, sie nehmen's nicht. In Belgien hat sich heuer der Kongreß der „Jungen sozialistischen Garden" mit der „Unterstützung der sozialistischen Soldaten" und dem „Soldatenstreik" befaßt. Ich muß doch einmal auf der Landkarte nachsehen, ob Belgien in Europa liegt. In der französischen Armee ist ein neuer, leichterer Tornister eingeführt worden. „Das wird mich wieder ein schönes Geld kosten", seufzte Michel, als er das in der Zeitung las. Endlich haben sie eine Schnellfeuerkanone ausgetüftelt: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!" So ein Manöver ist ein Krieg im kleinen und mancher Krieg ein Manöver der Großen. Überall, wo der Zar hinkommt, hinterläßt er Orden als die sichtbaren Spuren seiner Anwesenheit. Es ist, wie wenn die Hühner über die Wäsche gehen. Womit ich die Wäsche wegen des unreinlichen Vergleichs um Entschuldigung bitte. Der richtige Friedensfreund stößt auf dem internationalen Kongreß mit Champagner auf die Völkerverbrüderung an und stimmt zu Hause für das Militärbudget. Der Zar will den Frieden, Frankreich will den Frieden, Österreich will den Frieden, Deutschland will den Frieden, und die Friedensfreunde wollen den Frieden. Und ebendeshalb müssen die stehenden Heere vermehrt werden. Ich will in die psychiatrische Klinik gehen und mir den Zusammenhang erklären lassen. Solange nur solche Friedenskongreßler den Weltfrieden herbeiführen wollen, die ihre Reden mit Schaumwein begießen, wird die Hoffnung auf den Weltfrieden immer wieder zu Wasser werden. 57

Ich war unter einem großen, schönen, alten Nußbaum eingeschlafen. Und da träumte ich, die Zweige des Baumes überschatteten die ganze Welt und von den Blättern tropfte milder Tau und fiel in die Herzen der Menschen und es ward Friede auf dem weiten Erdball. Da rauschte es in den Zweigen, und ich erwachte. Holzfäller kamen. Der Baum war verkauft, und aus seinem Holz wurden tausend Flintenkolben gemacht. Eines ist charakteristisch für den Geist der modernen Militärjustiz: Die Strafen werden nicht „vollzogen", sondern „ausgestanden". In sonstigen Strafgesetzbüchern findet sich dieser Ausdruck zum letzten Male in den Gerichtsordnungen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Ein schneidiger Jagdhund ist der, der alles niederbeißt, was ihm in die Quere kommt. Und ein schneidiger Leutnant ist der, der alles niedersticht, was ihm in die Quere kommt. Pardon, ihr Herren Jagdhunde. Ein Offizier verführt die Frau eines Zivilisten und wird ertappt. Der Verführer bekommt seine Prügel . . . , o nein, er fordert den Hahnrei und schießt ihn nieder. Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit nach militärischen Ehrbegriffen. Der bürgerliche Freiheitsdrang legt sich gegenüber dem Militarismus gar viel Reserve auf. Kein Wunder, denn die Söhne des Bürgertums erblicken den Gipfel des Erstrebenswerten im Patent des Reserveleutnants. In England sagte jüngst der Staatssekretär, es fiele den Engländern nicht ein, sich in ein ähnliches Sklavereiverhältnis vor dem Militarismus zu begeben wie in Deutschland. Und die Engländer wollen eine zivilisierte Nation sein! — Die Wehrpflicht soll noch mehr verallgemeinert werden; die allgemeine Nährpflicht wäre mir lieber. Es ist ein gefährlich Ding, sich auf die Bajonette zu setzen. Denn es kommt nur auf die Zusammensetzung des herrlichen Kriegsheeres an, in wem es den inneren Feind erblickt. 58

Religion und Kirchenfeste Weihnachten steht vor der Tür. Meinen Winterrock tät ich versetzen, wenn ich einen hätt', damit ich meine Stube heizen könnte, wenn ich eine hätt'! In der Weihnacht sind soundsoviel Menschen erfroren: „Ehre sei Gott in der Höhe!" Ich wünsche jedermann ein so vergnügtes neues Jahr, wie ich es mir selber wünsche. Meinen Feinden, unsern Feinden aber wünsche ich ein neues Jahr, wie ich es mir nicht wünsche, aber wie ich es haben werde. Das Menschenleben währet siebenzig Jahre, heißt es in der Bibel; jawohl, wenn man nicht früher verhungert. Die Legende von den heiligen drei Königen hat ihren tiefen Sinn: wie bald sich die Könige der Kirche bemächtigten und das Volk draußen vor dem Stalle bleiben mußte. Ostern, die große Leidenswoche! Tief bewegt ist der gute Christ. Ob er wohl bedenkt, daß die Leidenswoche von Millionen das ganze Jahr währt? Was ihr da von der Heiligkeit des Weihwassers und des Salböls faselt! Dreimal heiliger ist jeder Tropfen Schweiß, den ihr den Entrechteten ausgepreßt habt in harter Fron. Und wir werden mit der Rechnung kommen, um die Differenz auszugleichen. In Niederösterreich will man den Religionsunterricht für die Oberrealschulen einführen. Das ist ganz die richtige Methode: von 8 bis 9 Uhr naturwissenschaftlicher Unterricht, von 9 bis 10 Uhr Dogmenlehre. Da muß doch dem blindesten Oberrealschüler klar werden, daß sie ein Riesenunsinn ist, die — Darwinsche Theorie. Ich wollte, ich wüßte bestimmt, ob ich eine Seele hätte. Hätte ich eine, würde ich sie dem Teufel verpfänden und den Versatzzettel einer frommen Gesellschaft verkaufen. 59

Das Privateigentum ist eine weise Einrichtung Gottes. Gottlob, die Ketzerverbrennungen, die Hexenprozesse und der Kirchenstaat waren auch weise Einrichtungen Gottes. Zu Allerseelen um Mitternacht gehen die Geister um; das ist die einzige Zeit, wo sich in Deutschland die Geister regen. Der Tod hat für denjenigen seine Schrecken verloren, für den das Leben sie verloren hat. Umsonst ist der Tod, aber wenigstens besteuern sollte man ihn. Ich weiß nicht, was die Leute zu Allerseelen immer so dumme traurige Gesichter machen. So ein Toter hat oft ein schöneres Leben als unsereiner. Blumenkränze den Toten und Dornenkronen den Lebendigen, das ist die Signatur der bürgerlichen Gesellschaft. Narrenkappen im Fasching nicht zu vergessen. Nach den Weihnachtsfeiertagen ging ich in die Spitäler und sah mir die Leute an, die sich ihre überfressenen Mägen kurieren ließen — Schadenfreude ist halt auch was Schönes. Das kanonische Recht verbietet, Zins zu nehmen. „Und auf diese Weise", so meinte ein naiver Ehrlichkeitsfanatiker auf dem österreichischen Katholikentage, „könnte die katholische Kirche mit dem Kollektivismus ihren Frieden schließen." Da trat ein Paterlein auf und sagte, da der heilige Vater selber Zins nehmen müsse, sei wohl das kanonische Recht aufgehoben. Ich halte das für eine prächtige Methode. Da verschiedene Päpste sich Kebsweiber beilegten, so ist wohl das Konkubinat eine weise Einrichtung Gottes? Ich hätte auch über Simonie, Giftmord und andere Schönheiten, die ich in der Schule aus der Kirchengeschichte lernte, meine losen Gedanken, aber aber — auch die modernen Ketzergerichte sind offenbar ein gar gottgefälliges Institut. Und da will ich euch nur noch verraten, daß er glücklicherweise vom Katholikentag ausgeschlossen wurde, der naive Ehrlichkeitsfanatiker nämlich, und nicht das dummdreiste Paterlein. Denn Zins nehmen ist seliger als geben. Der famosen Miß Vaughan erschien öfter der Teufel Asmodäus in wunderschöner Gestalt. Eines Tages verwandelte er sich in 60

eine häßliche Fratze mit Schweif und Hörnern. Ob ihm die erst Miß Vaughan aufgesetzt hatte? Kurz und gut, als ihr der Teufel nicht mehr schön genug war, bekehrte sie sich zur alleinseligmachenden Kirche, und hoffentlich durch einen schönen Bekehrer. Kaserne, Kirche und Kerker — auch eine heilige Dreieinigkeit. Die modernen Seelenhirten geben lieber ein Zehntel ihrer Dogmen auf als ein Hundertstel ihrer Einkünfte. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!" sagte Christus. „Aber der heilige Vater muß einen Kirchenstaat haben", seufzen die Nachfolger Petri. Sie haben aber recht. Denn das Reich Christi war so wenig von dieser Welt, als die Welt seiner Nachfolger von seinem Reiche. Wir sind die Erben der wahren Gottesleute, nur modernisiert: den Glauben an uns selbst, die Liebe zur Menschheit und die Hoffnung auf ein besseres Diesseits. Ein Spatz auf dieser Welt ist mir lieber als eine Taube in der andern. „Gehet hin und lehret alle Völker!" Gebet aber acht, daß ihr nicht ausgewiesen werdet. Armut, Keuschheit und Gehorsam! Wohlgemerkt: für die Schafe und nicht für die Hirten. Mancher fromme Christ hat den religiösen Wahnsinn, daß er am Freitag nur Backfische küssen darf. Glauben heißt nichts wissen, folglich heißt wissen nichts glauben.

Frauenfrage Für die bürgerliche Klasse ist der Inhalt der Frauenbewegung in einem Wort vollständig erschöpft: Mädchengymnasium. Hm, es ist recht hübsch, daß es immerhin auch außerhalb des Mädchengymnasiums eine Frauenbewegung gibt. Und das ist gut, 61

denn die bürgerlichen Frauen werden mit ihrem Latein bald zu Ende sein. Der Unterrichtsminister in Österreich hat sich gegen das Frauenstudium ausgesprochen und gemeint, die Schulen sollten das junge Mädchen auf ihren künftigen Beruf als Gattin und Mutter vorbereiten. Ich fürchte sehr für die Sittlichkeit, wenn man die jungen Mädchen solche Sachen lehrt. Und es ist überflüssig, denn das ist rasch gelernt. Ich begreife nicht, warum ein Teil des Frauenkongresses die Frau Braun-Gycicki ausgezischt hat. Sie ist der Eitelkeit der Teilnehmerinnen doch weit genug entgegengekommen, sie hat ihnen sogar einen Spiegel vorgehalten. Einer richtigen Frauenemanzipanzlerin ist der geteilte Rock wichtiger als der ungeteilte Kampf gegen die Unterdrückung. Eins hat der bürgerliche Frauenkongreß gezeigt: daß unter den bürgerlichen Frauen mehr ganze Männer sind als unter den Bürgerlichen masculini generis. Die Prostitution ist Unnatur. Aber unnatürlicher nicht als die Tugend, die ihr das Dasein verdankt. Eins ist das Stigma der bürgerlichen Gesellschaft: Sie gründet Bordelle, um die Sittlichkeit zu erhalten. Die Ehen werden im Himmel geschlossen. Dann sind Börsenspekulationen offenbar die gottgefälligsten Werke, Rothschild der allerchristlichste Oberpriester und seine Comptoirs die Tempel der reinen Gottesverehrung. Die „deutsche Hausfrau" putzt im Sommer das Gemüse, und im Winter stopft sie Strümpfe. Für solche Idealgestalten gibt es freilich keine Frauenfrage. „Die Frauen sollen heiraten, das ist die Lösung der Frauenfrage." Und wenn sich alle Menschen ordentlich nährten, gäbe es keinen Hungertyphus; das ist die Lösung der sozialen Frage. Einfach und probat. 62

Wer über die Zerstörung der Weiblichkeit jammert, zeigt, daß es ihm selber an Männlichkeit mangelt. Gebt den Männern Raum zur Entfaltung männlichen Wesens, und ihr werdet sehen, daß auch die Weiblichkeit nicht verkümmern wird; nur dürft ihr nicht weiblich mit weibisch verwechseln. Ihr begründet die Inferiorität der Frau mit der verhältnismäßig geringen Anzahl weiblicher Genies, welche die Weltgeschichte gezeitigt hat. Selbst wenn das nicht eine Unterschlagung wäre, erlaubt die eine Frage: Habt ihr schon einen schwimmen sehen, der nie im Wasser gewesen ist?! Die Frau wird einmal das Weib des Mannes sein, und nicht das Weibchen eines Männchens.

Sozialphilosophisches Es wird sicher die Zeit kommen, da sich die Menschen wundern werden, daß es einmal der Inhalt eines Menschenlebens war, zu sorgen, daß man wenigstens ein Stück Brot hat, um nicht zu verhungern, und daß alle Lust an der Schönheit dieser Erde für die Millionen nicht existierte. Zwar zeigt sich schon der Purpurstreif der Morgenröte am Horizont; aber es ist wie mit der Reise von München nach Amerika: bis Augsburg tut sich's, dann aber zieht sich der Weg. Kopf hoch! Wir kommen doch nach Amerika. Ich bat neulich einen Bäckergesellen um ein Stück Brot. Er habe selber keins, sagte er, und der Hunger grinste aus seinen Augen. Ich bat dann einen Gehilfen der ehrsamen Schusterzunft um ein Paar Stiefel. Da sah ich, daß ihm die fünf Zehen durch die zerrissenen Schuhe guckten. Drum bettelte ich schnell ein Schneiderlein um ein Wams an. Da zeigte es mir das seine, das voller Flicken und Flecken war. Zum Schluß wollte ich mit einem Maurer unterhandeln, er möge mir ein ganz kleines Zimmer ablassen in dem Palaste, den er soeben fertig bauen geholfen hatte. Der sah mich groß an, als ob ich einen Tintenklecks im Gesicht hätte. Da kam ein Dickwanst in einer Karosse hergefahren, stieg vor dem Palast ab, und, weiß der Teufel, wie es kam, er rief einen Schutzmann, und ich wurde arretiert.

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Auf die großbürgerliche Götterdämmerung folgt die ängstlichrosenrote kleinbürgerliche Abendröte, die Abendröte eines siegverheißenden flammenden Morgenrots. Und die Nächte sind kurz jetzt. Eines tröstet mich immer: Auch Rom ist nicht an einem Tage zerstört worden. Mit Seufzern wird keine Weltgeschichte gemacht. Es haben allemal Orkane gebraust, wenn die Luft zu schwül geworden war. Peter Zapfl erfand neulich das künstliche Eiweiß. „Hurra", riefen ein paar Enthusiasten, „die soziale Frage ist gelöst." Aber ach! Peter Zapfl ging unter die Gründer und gründete eine „Aktiengesellschaft für Volksernährung". Es ist ein Trost, im Unglück einen Genossen zu haben, heißt es im Sprichwort. Wenn man aber Millionen Genossen hat, das ist kein Trost, das ist eine Verheißung. Öl, Gas, elektrisches Licht; Handwerk, Manufaktur, Dampfbetrieb; Feudalismus, Liberalismus . . . Na, Michel, ermanne dich und setze den Schlußpunkt! Die Machthaber haben so lange keine Ursache, ihr Spiel verloren zu geben, wie die Leute, die nur ihr Leben zu verHeren haben, nicht wissen, daß sie eine Welt zu gewinnen haben. Wenn in Südafrika die Goldminen krachen, knallen an allen Börsen Europas die Revolver verunglückter Börsenspekulanten : das ist das Echo unserer herrlichen Gesellschaftsordnung. Deutschland hat eine miserable Lohnstatistik, aber man gehe auf die Friedhöfe der Fabrikorte und sehe die zahllosen Reihen von Kindergräbern mit den kleinen Kreuzen: Ist das nicht auch eine Lohnstatistik?! Auf den Wangen der Schwindsüchtigen blühen noch einmal vor der Auflösung die trügerischen Rosen. Die Staaten Europas blühen heute gar prächtig, und manche nehmen es für einen Anfang. Und es ist auch ein Anfang: der Anfang vom Ende. 64

Wenn Hinz einen Stiefel machen will, und er ist kein Schuster, oder eine Hose, und er ist kein Schneider, so wird ihn manch einer auslachen. Dabei kann er ein ganz guter Seifensieder sein; aber seine Stiefel und seine Hosen, die er selbst macht, werden zum Erbarmen ausschauen .Wenn aber derselbige Hinz von sozialpolitischen Dingen redet, von denen er soviel versteht wie der Esel vom Lautenschlagen, wird alle Welt ihn ob seiner profunden Weisheit anstaunen, sofern er nur gegen den Sozialismus kannegießert. Warum? Nun, weil er ein guter Seifensieder ist! Die soziale Frage ist eine Magenfrage, und bei Magenkrankheiten gibt es nur eine Radikalkur: 'raus, was den Magen drückt! Das Leben schildern, wie wir es leben, das nennt ihr Kunst; aber das Leben leben, wie wir es leben, das ist eine Kunst. Es ist eine billige Philosophie, gemütlich das „Morgen" zu erwarten und derweil die Hände in den Schoß zu legen. Man verschläft es gar leicht. Darum laßt uns wachen; denn es dämmert schon. Ich habe kein philosophisches System, ich habe keinen „. . . ismus" und bin kein „ . . . aner". Aber Hunger habe ich, und Ketten trage ich. Und nicht die Lebensweisheit spricht aus mir, sondern der Zorn und die Ungeduld. Allemal, wenn eine Gesellschaft zugrunde ging, nahm sie den Modergeruch für ein Parfüm. Ihr kämpft gegen die ökonomische Geschichtsauffassung. Das macht nichts. Nicht ob wir die Geschichte der Vergangenheit richtig deuten, ist maßgebend, sondern ob wir die Gegenwart erfassen. Und die Zukunft wird es lehren, daß sie die treue Tochter unserer Gegenwart ist. Wir wollen eine Welt erobern. Das wollten vor uns andere auch schon, und die Mächtigen lachten übermütig, weil sie wußten, daß die Sklaven umsonst an ihren Ketten rüttelten. Aber wir wollen nicht nur, wir können auch; und darum lachen die andern nicht mehr, sondern sie fluchen. Und ihr Fluchen schadet uns soviel, als jenen der Segen ihrer Heiligen nützt. 65

Die Not Leute mit zerrissenen Röcken haben Kinder mit zerrissenen Röcken; und hungernde Väter haben hungernde Söhne: es geht nichts gegen die Wahrheit der Vererbungstheorie. Winter wird's. Ich muß mein Quartier unter der Brücke aufgeben und in den Kanal ziehen. Wenn nur die Übersiedlung nicht immer so verdammt umständlich wäre. Die kalte Jahreszeit kommt. Ich brauche ein wärmeres Quartier als die Uferauen. Ich habe schon die Auslagefenster in den Hauptstraßen inspiziert. Ich bin ein höflicher Mann und will erst fragen, ob sie auch versichert sind. Es ist mir gelungen, ich habe vier Wochen Obdach und Nahrung. Aber zu dumm, ich vergaß, die Handschuhe anzuziehen, und da habe ich mir am Auslagefenster die Hände blutig geschlagen. Zum Teufel auch, wo hatte ich denn nur meine Glacehandschuhe? „Hunger ist der beste Koch." — Ich will mich, sowie ich wieder frei bin, bei der Fürstin Metternich vorstellen. Die Medizin ist auf einem falschen Wege. Sie kann nur die Magenleiden kurieren, die von zu vielem Essen stammen. Gott ist die Gnade und Barmherzigkeit; ich meine, daß ich der Gnade und Barmherzigkeit nun genug habe. Ich möchte jetzt auch einmal etwas zu essen haben. Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß . . . — Wenn man aber gar nur Tränen ohne Brot und in der Nacht kein Bett hat?! Mit den Ratten am Kanal habe ich mich gründlich zerschlagen; jetzt ziehe ich wieder zur grünen Bettfrau. Daß es im Frühjahr gar so kalt ist, verbitte ich mir; ich habe schon meine Sommerwohnung bei der „grünen Bettfrau" bezogen. Ich bin eine alte Kundschaft und verdiene Rücksicht.

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Ich sah, wie neulich ein Mann arretiert wurde, der aus Hunger in einer Bäckerei eine Semmel gestohlen hatte. Ich begreife die Polizei nicht, wo hätte er denn die Semmel hernehmen sollen, als aus einem Bäckerladen? Julius v. Payer will wieder eine Nordpolexpedition unternehmen. Er braucht Leute, die gegen Kälte und Hunger abgehärtet sind: Ob er wohl genug Schiffe bekommen wird, um alle Tauglichen aufzunehmen? Es gibt nichts Besseres als Wasser, wenn man nichts Besseres hat. Den ganzen Mai habe ich nichts zu essen gehabt. Ich will mich in einem Töchterinstitut sehen lassen und sagen, ich hätte dreißig Tage lang nur von Lenz und Liebe gelebt. Wenn der Wochenlohn sechs Mark beträgt, was kostet da das Pfund Rindfleisch? Zum Teufel auch, ich werde ganz verwirrt und kann mir's nicht ausrechnen! Das Heimatrecht ist eine Anweisung auf den Schubwagen. Verbrechen und Überfluß stehen in engem verwandtschaftlichem Verhältnis. Denn der Überfluß der einen ist der Vater des Hungers der Massen und das Verbrechen der Sohn des Hungers. Der Hunger ist ein gar lendenstarker Vater, denn er zeugt die Bezwingerin der Gegenwart. Not lehrt nicht nur beten, sondern auch denken.

Historische Tage Ein herrlich Bild, ein klassisch Bild, die Zeiten der Pariser Kommune : Der preußische Militarismus auf der einen und die französische Bourgeoisie auf der andern Seite, ihren Gegensatz vergessend und das todesmutige Proletariat der Kommune in tödlicher Umarmung zermalmend. — Glaubt ihr wirklich, daß ihr den Mann drosseln könnt, weil ihr das Kind erwürgt habt?

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Waren schlechte Gründer, die dummen Teufel, die da die Kommune gründeten. Blieb gar kein Geld hängen an ihren Händen bei dieser Gründung, ihr Erbteil war Exil, Kerker und Füsilierung. Kommunarden nannte man euch, um euch verächtlich zu machen. Aber auch der Name Geusen war ein Spottname. Und wer ist reiner vor der Nachwelt, die Geusen oder die Schranzen? Tröstet euch nur damit, daß die Sozialdemokratie friedlicher geworden ist, tröstet euch nur; glaubt ihr, die Mauer der Föderierten ist aus unserem Gedächtnis verschwunden? Eine nichtswürdige Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, verhöhnt die Kommunefeier des Proletariats. Aber wir zürnen dieser Rotte nicht, wir verlachen sie. Die Kommune, das war die Diktatur des Proletariats! — Jawohl, es war ein kleiner Versuch; wir haben aber mittlerweile noch besser diktieren gelernt. Die erste Kommune mißglückte, was hegt daran! Aller Anfang ist schwer. Wir werden es besser treffen. Vivat sequens! Kommune! Ein historisch Wort, denn sie war wohl das größte Ereignis des 19. Jahrhunderts. Kommune! Ein schrecklich Wort, denn es erzittern beim Klange deines Namens die Geldsackseelen von der Südspitze Kalabriens bis zum eisigen Norden des Zarenreiches. Kommune! Ein erlösend Wort, das birgt den Stolz und die Hoffnung derer, die da sind und sein werden. Das „rote Quartal" hat Johannes Scherr verächtlich die Kommune genannt. Und damit schläft der satte Bürger ein. Sein Schlaf ist nicht ungestört von schrecklichen Träumen. Ihm schwant, das rote Säkulum wird ausgiebiger sein. Der Name Sozialist klingt euch gewohnter, und ihr erschreckt nicht mehr so heftig, wenn ihr das Wort hört. Aber wir wollen es euch verraten: Kommunisten sind wir, rote Kommunisten, und kommunistischere Kommunisten als die Kommunisten der weiland Kommune. 68

Errichtung des deutschen Reiches und die Niederwerfung der Kommune feierten heuer ihr fünfundzwanzig]ähriges Jubiläum. Merk's, deutsches Volk! Ich habe mich, meiner Seel', bei der Märzdemonstration erkältet. Das kommt von dem Leichtsinn, wenn man die Anschaffung eines Winterrocks vom Herbst bis in den Frühling hinausschiebt. Auf einem Berliner Friedhof steht auf dem Grabstein eines Märzr gefallenen: Ein unbekannter Mann. Er hat viele Nachfolger bekommen — sie leben aber noch. Prügel hat die Bourgeoisie ja immer bekommen; nur wußte sie sie früher mit Anstand zu ertragen, und sie wehrte sich. Heute bittet sie um Verzeihung, wenn sie einen Tritt in den Hintern bekommt, und behauptet, daß es regnet, wenn man ihr ins Gesicht spuckt. Die revolutionäre Bourgeoisie hatte ihre „klirrende Nachtigall"! Heute krächzen heisere Raben ihre servilen Schlachtgesänge. Die Bürger schämen sich der Tage, die die ruhmreichsten ihrer Geschichte sind; wir feiern ihre Feste: das ist die Nemesis der Weltgeschichte. Wir sind halt noch fröhliche Totengräber! Wo ist denn die schwarz-rot-goldene Fahne, die so kühn im Winde flatterte? Ach, ach, ich sah sie neulich im Trödlerladen stehen; aber das Schwarz war scheckig und das Rot verblaßt und das Gold gestohlen. Wo sind die stolzen Kämpen, die nimmer ihren Nacken beugten? Tot sind sie, und ihre Nachfolger sitzen hinterm Ofen und katzbuckeln ! Und wo ist denn die freche Junkerschaft, die 1848 gar kleinlaut wurde? Ei, ei, ei! Die befindet sich so wohl wie noch nie. Das von den toten i848ern ist nicht wörtlich zu nehmen; manche sind sogar Finanzminister. Am 18. März gehe ich auf den Friedhof demonstrieren; und jedem Bürgersmann will ich versichern, daß er sich nicht zu beun7

Prosasatire

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ruhigen braucht: „Guter Mann, was ihr damals angefangen habt, ist in guten Händen." Und so fröhlich will ich sein, daß er wohl merken soll, daß ich ein lachender Erbe bin. Am 1. April feierte die Bourgeoisie ihren Blut- und Eisenheros: die Sterbenden ihren Toten. Wir begehen am Ersten Mai das Fest einer zukunftverheißenden Gegenwart. Seneca sagte einmal: Wehe uns, wenn die Sklaven sich zu zählen anfangen. Und wir zählen uns am Ersten Mai. Warum wir gerade den Ersten Mai feiern? Dumme Frage! Weil wir wollen! Ihr wollt mit eurem Umsturzgesetz das Jahrhundert aufhalten. Arme Toren, die ihr nicht einmal verhindern könnt, daß auf den letzten April der Erste Mai kommt! Wenn wir den Ersten Mai feiern, hört die Esse auf zu rauchen, die Spindel steht still: alle Arbeit ruht. Und wenn ihr die Arbeit einstellt? Es geht auch ohne euch. Jetzt haben sie mich wieder zu vierzehn Tagen verknackst. Ich komme am Ersten Mai gerade um neun Uhr heraus. Da werde ich mich aber tummeln müssen, daß ich zur rechten Zeit in die Volksversammlung komme. Am Ersten Mai feiern Proletarier deutscher, slawischer und romanischer Zunge ihr Fest. Ich verstehe kein Wort italienisch, französisch, tschechisch oder polnisch, aber wir verstehen uns! Die Knospen platzen, die Blätter entfalten sich, die Säfte treiben, das Volk erwacht: es wird doch Frühling! Ein wohlwollender Spießer meinte neulich, der Achtstundentag sei ja im Grunde genommen kein so unbilliges Verlangen. „Trösten Sie sich, guter Freund", sagte ich, „wir haben noch Nebenabsichten, die uns die Hauptsache sind!" In der Nacht vom letzten April zum Ersten Mai feiern die Hexen auf dem Blocksberg mit dem Teufel ihre Walpurgisnacht. Es 70

kommt noch eine klassische Walpurgisnacht, wo wir euch alle zum Teufel jagen werden! Ich habe das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des Deutschen Reiches gar sinnig gefeiert. Ich bin nämlich auch am 18. Januar 1871 geboren. Es war ein erhebender Geburtstag. Ich habe zur Feier des Tages gefastet. Das war zwar schon öfter der Fall, aber ich habe es nie mit so erhebendem Bewußtsein getan. Durch die Kleider pfiff der Wind, der frische Luftzug der neuen Ära. Und geschlafen habe ich im Asyl für Obdachlose zusammen mit Bayern, Schwaben und Preußen, Sachsen und Reichsländern. Um Mitternacht stießen wir mit den Wasserkrügen an: Hoch lebe das geeinte, neue deutsche Reich! Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Das mag wohl Blut und Eisen gewesen sein. Robert Blum - Hans Blum: das ist die greifbare Entwicklung der deutschen Bourgeoisie. Eher kriegt eine alte Hure ihre Jungfernschaft wieder als der Liberalismus seine Grundsätze. Wo ist denn das Schlachtschwert, das der „rote Hecker" so trotzig schwang? Ach, ach, es ist gar stumpf und rostig, und Eugen Richter fuchtelt damit in der Luft herum. Wenn ein deutscher Liberaler sich der Freiheit annimmt, sollte man die Freiheit eigentlich der Sodomie anklagen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das war die Losung des Bürgertums im Jahre 1848. Und heute? Faulheit, Geilheit und Borniertheit.

Lose Gedanken Gesetze geben ist seliger als nehmen. Ein rechter „Freiheitsheld" verleugnet seine Prinzipien niemals um momentaner Vorteile willen, sondern nur um dauernder. 7»

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Aller Anfang ist schwer. Die erste Million stiehlt sich schwerer als alle folgenden zusammen. Alles Aufreizende ist streng verboten. Nur die Schaufenster der Fleischselcher dürfen ihre Pracht ungehindert entfalten. Die Bourgeoisie findet, daß wir alle Jahre gemütlicher werden. Nur Geduld, ungemütlich werden wir schon werden, wenn es an der Zeit sein wird. Arbeit macht das Leben süß; die asketischen Reichen, die alle Süßigkeit dem Pöbel überlassen! Es gibt nichts Dümmeres als einen Vollblutliberalen, seine Wähler ausgenommen. Immer und immer werde ich politischer Delikte wegen eingesperrt, ich muß endlich einmal etwas stehlen, Abwechslung ist doch das doppelte Leben. Die bürgerliche Presse ist schlimmer als eine Metze, denn sie gibt sich selbst dem hin, vor dem ihr graut — wenn er zahlt, wohlverstanden. Im deutschen Parlament ist ein artiges Glockenspiel eingerichtet, um die „Fraktion Schultze" aus dem Büffet abzurufen. Damit also ein Volksvertreter kapiert, wieviel es geschlagen hat, muß erst alles an die große Glocke gehängt werden. A propos, könnte man nicht jedesmal einen Narren ins Büffet schicken, der mit der Schellenkappe rasselt? Neulich verliebte sich einer unglücklich; da ging er hin und wurde ein Dichter. Die schlechte Welt verdient's nicht besser. Eins macht mir mächtig Kopfzerbrechen: wo ich den heurigen Sommer zubringen soll. Soll ich nach Tirol oder Pontresina oder Zermatt oder Montreux oder nach Rügen oder nach Blankenberge?! Teufel, Teufel, macht mir das Kopfschmerzen! Ich werde wieder zu hastig denken, und man wird mich wieder einsperren.

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Wer sich gegen den Staat auflehnt, ist ein Staatsverbrecher; ich wüßte ein gutes Mittel, daß die Staatsverbrechen mit einem Male aufhören. Es ist ein wahres Glück, daß Kant, Fichte und Hegel schon tot sind, denn die Toten kann man selbst nach dem Umsturzgesetz nicht einsperren. Es ist nichts so fein gesponnen, daß der Fabrikant dem armen Spinner nicht einen Lohnabzug machen könnte. Ich las neulich, daß eine Mutter, die obdachlos umherirrte, auf der Straße einen Knaben geboren hätte. Dem armen Wurm kann wenigstens sein Schicksal nicht an der Wiege gesungen werden. Die armen reichen Leute, wie sie mir leid getan haben: während des ganzen Faschings nicht aus dem reinen Hemd zu kommen. Bei Gott, ich hatte auch manchmal anarchistische Anwandlungen. Wenn ich aber sah, wie freundlich die bürgerliche Presse die Anarchisten gegen die Sozialdemokraten in Schutz nahm, wurde ich immer wieder marxgläubig! Man spricht von der Haltlosigkeit unserer Regierung. Unsinn, ich wüßte mir gar keine bessere für den Fasching! Die bürgerliche Presse ist auf den Hund gekommen, sie kann nicht einmal mehr ordentlich lügen. Wer den Taler verehrt, ist keinen Pfennig wert. Der neue Zar hat die konstitutionellen Ideen absurde Träume genannt. Wenn der Mann nicht einen so guten Posten hätte, könnte er noch einmal Minister des Innern von Preußen werden. Es hat immer Reiche und Arme gegeben, predigen die Moralphilister. Gut, darum wollen wir einmal etwas Abwechslung in die Weltgeschichte bringen. Das deutsche Bürgertum ist eine umgekehrte Penelope. Die trennte bei Nacht auf, was sie am Tage gewebt. Das Bürgertum 73

will die Fesseln, die es Anno 1848 — açh so wenig! — gelockert, wieder zusammenschmieden. Die Edelsten der Nation, die Bimetallisten, haben an die französische Ligue nationale bimétallique einç Begrüßungsadresse gerichtet, in welcher sie die Hoffnung ausdrücken, sie würden zusammen gute Freundschaft halten. O ihr Sozialdemokraten, was seid ihr dagegen für ein vaterlandsloses Gesindel ! Bismarck will eine Proskriptionsliste der Sozialdemokratie angelegt wissen. Ich wüßte was einfacheres, man sollte eine Proskriptionsliste der NichtSozialdemokraten anlegen. Das gäbe weniger Arbeit. Das wirkliche Panama ist eine Landenge von ein paar Meilen Breite, dafür umfaßt das bürgerliche die ganze „zivilisierte" Welt. Ich habe neulich einen großen liberalen Redner gehört. Da fiel mir ein, daß das Reden doch eine dreifache große Kunst sei: sagen zu können, was man reden will, zu verschweigen, was man nicht sagen will, und zu reden, ohne etwas zu sagen. Wenn ich goldene Hemdknöpfe hätt', würde ich sie in ein feines Batisthemd stecken, wenn ich eins hätt' ! Im Deutschen Reichstag wurde gesagt, das sächsische Vereiiisgesetz sei „geradezu ein Juwel". Jawohl, ein in Ketten gefaßtes. Man sagt, die besten Monarchen seien die, von denen man am wenigsten spricht. Die Chinesen sagen das auch von den Frauen. Dann sind die schlimmsten Frauen die, die am meisten von sich reden machen. Oh, ihr neunmal weisen Chinesen! Wenn ein amerikanischer Präsident über die Währungsfrage redet, wiegt jedes Wort ein paar Millionen Dollar. Daß da nicht manche Leute neidisch werden! Gar manche Deutsche gleichen wirklich den Eichen: was sie liefern, ist Schweinefutter. 74

Was ein rechter Liberaler ist, der mag Fußtritte kriegen, soviel er will, Opposition macht er justament keine. Suprema lex regis Stumm voluntas! König Milans Reisen sind verdammt umständlich. Seine Bagage beträgt achtzig Koffer, ihn nicht mitgerechnet. Unsern täglichen Majestätsbeleidigungs-Prozeß gib uns heute! Und führe uns nicht in Versuchung — sondern erlöse uns von dem Übel! Wenn es schneit, freuen sich die Zeitungen, daß die Armen Beschäftigung bekommen. Ach, es ist gar so bequem, die soziale Frage durch den Himmel lösen zu lassen. Wie ich neulich las, leben auf der Insel Tristan da Cunha 6 1 Einwohner in einem wohlhabenden, geordneten Gemeinwesen. Ich wollte schon hinziehen. Aber die Zustände sind mir nicht sicher genug: Sie haben nicht einmal einen einzigen Schutzmann! Ich las neulich irgendwo, zwischen den Leistungen der Arbeiter und der Unternehmer bestehe das Verhältnis der Arbeitsteilung. Jawohl, die einen haben die Arbeit und die andern die Teilung. Herr Bamberger und noch mehrere alte Herren haben sich beim Jubiläumsbankett mit Austern den Magen verdorben. Pfui, wie kann man auch Austern essen! Ich esse niemals Austern. Ägir ist nun angedichtet, besungen und hoffentlich auch bald gemalt. Jetzt braucht er nur noch ausgehauen zu werden. Die Zeit der Bälle beginnt; die Damen tanzen halbnackt; ob sie damit andeuten wollen, daß der Reinertrag zur Bekleidung frierender Armer dienen soll? Wer haussucht, der findet — daß er sich blamiert hat, nämlich. Ich teile die Prinzipien der Ethiker nicht, denn geteilte Prinzipien sind halbe Prinzipien.

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Es gibt einen tiefgehenden Unterschied zwischen unseren Volksvertretern und meinem Barvermögen. Letzteres kann mir nämlich nicht gestohlen werden. Adelig sein heißt nachweisen können, daß ein Urahn ein ritterlicher Straßenräuber gewesen ist. Ich hätte euch noch manches zu sagen. Aber Schweigen ist Gold, und Reden ist — Zuchthaus.

Briefe und Kommentare fiktiver

Figuren

Herrn Anastasii Lämpelmeiers, Professors der Beredsamkeit, Abendbetrachtungen über die Freiheit Nein, Karoline, du hast unrecht, entschieden unrecht, sage ich, wenn du mit der euch Weibern eigenen Siegesgewißheit behauptest, politische Betrachtungen gehörten nicht in die Schlafstube. Gerade hier sind sie am Platze, mehr als irgendwo sonst. Wo kann man sich eher verständigen als da, wo zwei miteinander ganz ungestört und allein sind? Wo kann man außerdem eher den Mut einer eigenen Meinung haben, meine liebe Karoline, als hier. Ein schöner Mut, meinst du, wäre das! In gewisser Beziehung hast du da recht, mein Kind, nur drückst du dich nicht ganz korrekt aus — der schönste Mut ist es, weil es der einzige Mut ist, den ein bescheidener Privatmann in einem geordneten und in Frieden lebenden Staatswesen überhaupt zur Geltung bringen kann. Was soll mir der Mut auf der Straße, überhaupt in der Öffentlichkeit? Er könnte mich höchstens zu waghalsigen und darum leichtsinnigen und verdammlichen Unternehmungen verleiten, zu hochmütiger Behandlung meiner Mitmenschen, zu Konflikten mit der hochlöblichen Polizei — und davor behüte uns alle der Himmel in Gnaden, teure Karoline. Der Mut, der sich vor der Öffentlichkeit breitmacht, ist der Zwillingsbruder des Übermuts und der Vater der Frechheit, jener schamlosen Dirne, die immer von neuem versucht, sich mit der Visitenkarte der nie entweihten Jungfrau Freiheit in die anständigste Gesellschaft einzuschleichen. Dieser Mut ist so gefährlich, daß ihn die Obrigkeit weislich an der Kette vielverschlungener Gesetze, künstlich gedrehter Polizeiverordnungen in der Hundehütte des Althergebrachten festhält und ihn nur losläßt, wenn es gilt, irgendwelchen bösen Nachbarn die Zähne zu weisen. Faule Redensarten, sagst du, seien das? Was nützt die Freiheit, wenn man von ihr nicht Gebrauch macht? Bezüglich dieses schwierigen Themas will ich mich dir mit Hilfe eines Gleichnisses klarzumachen suchen. Entsinnst du dich, Karoline, des 77

schönen Glasschranks, welchen deine seligen Eltern im Putzgemach stehen hatten? In diesem Glasschrank standen die schönsten und deinen braven und verständigen Eltern wertvollsten Sachen - Porzellan von Sèvres und Meißen, Kelche und Schalen aus englischem Kristallglas, goldene und silberne Filigranarbeiten und dergleichen mehr —, und diese schönen Dinge waren der Stolz der ganzen Familie, ohne daß sie jemals in Gebrauch genommen wurden. Man freute sich an ihrem Anblick, man Heß sich's genügen mit dem Bewußtsein, sie zu besitzen. Und wie töricht wäre man gewesen, wenn man sich von dieser weisen Genügsamkeit mit moderner Täppigkeit emanzipiert hätte. Das zarte, durchsichtige Sèvresporzellan wäre beim Gebrauch in kurzer Zeit zerbrochen, die Kristallkelche wären gelegentlich einer unachtsamen Hand entfallen und auf dem Estrich zerschellt, der Gold- und Silberdraht wäre beschmutzt, abgenutzt und zerrissen worden, und von dem Schatz der Familie, der Freude ganzer Generationen, wären in kurzer Frist nur Scherben und Fetzen übrig gewesen. Siehst du jetzt ein, meine liebe Karoline, daß es kindisch ist von den Leuten, nach einer geschenkten Kostbarkeit gleich die plumpen Hände auszustrecken, sie zu betasten und in den täglichen Gebrauch zu nehmen? Und sind die Freiheiten zum Beispiel nicht die allerkostbarsten Sachen und von den Regierungen ihren Völkern geschenkt? War es nicht in hohem Grade töricht, Dinge wie die Preßfreiheit täglich von früh bis abends gebrauchen, das heißt mißbrauchen, zu wollen, oder die Koalitionsfreiheit, oder gar auch das freie, gleiche und allgemeine Wahlrecht? Was sagst du, Karoline? Die Freiheiten und die Freiheit sollen eben nicht von Glas, von Porzellan oder Filigran sein, sondern von dauerhaftem Metall, das den Gebrauch vertragen kann? Du redest aber, wie du es verstehst, mein Kind. Weißt du noch, wie unser Nachbar, der Materialwarenhändler, auf den törichten Gedanken kam, seinen Kindern Spielwaren aus Eisen anfertigen zu lassen, weil sie die aus minder handfestem Material angefertigten stets innerhalb des ersten Tages zerbrochen oder zerrissen hatten? Die armen Kleinen bekamen zwar die Spielwaren nicht entzwei, aber sie zerschlugen sich gegenseitig die Köpfe. Und ist das Volk etwas anderes als ein großes Kind, gute Karoline, das sich in schlecht beherrschter Leidenschaftlichkeit leicht in die Haare und an die Köpfe gerät? Die Regierungen könnten doch durch die Schulen dafür sorgen, daß das Volk endlich aus den 78

Kinderschuhen herauskommt, meinst du, Karoline? Bei der Behandlung solcher Fragen muß man sich vor Einseitigkeit hüten, meine Gute. Bei der großen Masse würde eine forcierte Pflege des Verstandes gar leicht eine Einbuße der Gemütsempfänglichkeit mit sich bringen, und das muß auf das sorgfältigste von einer weisen Regierung vermieden werden. Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich; du hast doch diesen herrlichen Spruch aus dem Neuen Testament nicht vergessen, mein Kind? Du sagst, das könntest du beinahe glauben, Karoline? Du setzt mich in Erstaunen, dein Widerspruchsgeist gibt sich sonst so leicht nicht gefangen. Du willst deine Gläubigkeit motivieren? Laß doch hören, mein Kind! Weil — weil, bei euch, bei uns, denen der Verstand gestopft wird wie eine Gans, die auf der Mast hegt, das Gemüt so sehr in die Brüche gegangen ist, daß wir für die dringendsten Bedürfnisse der ganzen Menschheit nichts weiter übrig haben als hohle Redensarten und nichtsnutzige Sophistik? — Karoline, da du persönlich wirst und unparlamentarisch, schließe ich die Debatte und kann nicht umhin, dir meine Entrüstung über die Frivolität deiner Ausdrucksweise und die ganz unweibliche Roheit deiner Anschauungen auszusprechen. Es fragt sich, wo die Frivolität im Grunde zu suchen ist zwischen uns beiden? - Du mußt natürlich immer das letzte Wort haben, Karoline! L 29. 11. 1878, S. 2.

[Brief an den „Wahren

Jakob"] Berlin, Anfang Dezember

Lieber Jakob! Nu sind wir dicke 'raus, mit siebzig un een Freiloos, Jakob, un nu kann uns ieberhaupt so leichte keener mehr an de Wimpern klimpern. Wat sagste denn eijentlich nu zu Robert Kochn? Wat, da stehste paff un weeßt nich, wat De sagen sollst. Ick kann Dir ja nu verraten, det ick eijentlich zuerst, wie ick von det jlorreiche Ereignis heerte, ooch nich so recht wußte, wat ick sagen sollte, objleich ick sonst nich im jeringsten perplex bin, weil 79

ick een beeser Anhänger von det elfte Jebot bin, wat bekanntlich heeßt: Laß dir nich verbliffen. Aber wir haben nu een Mittel jejen de Schwindsucht, un de Bazillen sollen nu vor Angst far nich wissen, wat se anfangen sollen. Robert Koch is heite der beriehmteste Mann, un Forckenbeck soll sich schon seine Feder spitz jemacht haben, um vor Kochn eenen Ehrenbirjerbrief vor de Stadt Berlin zu schreiben. Ick weeß nu in meinen dämlichen Untertansverstand natierlich nich, ob man damit den beriehmten Forscher eenen besonderen Jefallen erweisen wirde, indem ick selbst heechstens die Aussicht habe, mal in spätere Zeiten Ehrenbirjer von Plötzensee werden zu können; aber wenn de Stadt Berlin mit ihren Oberbirjermeester an de Spitze weiter nischt weeß, als wie so'n Ehrenbirjerdiplom auszustellen, denn kann se sich, objleich se sich von de Schwindsucht mit een paar Spritzen voll Schwindsuchtstinktur befreien kann, man janz ruhig in eenen Ehrennasenquetscher bejraben lassen. Also die Dage der Schwindsucht sind jezählt. Es wird bald 'ne Zeit kommen, wo man jar nich mehr weeß, wat eijentlich de Schwindsucht war, aber det Kapital wird woll denn irjend eene andere Krankheit erfunden haben, die davor sorgt, det de Proletarier nich zu ippig werden. Un det hat ja iebrijens Koch ooch schon jesagt, det sein Heilmittel alleene den Menschen ooch nich widder uff de Strimpe helfen kann; da jeheert denn nachher doch 'n bisken mehr zu. Seehste, Jakob, dazu jeheert jesunde Luft, 'n orndlicher Happen-Pappen, jute Jetränke, verstehste, so'n Pulleken Rotspohn, nich zu ville zu dun, keene Sorjen, keen Ärjer, keen Kummer, 'ne scheene Wohnung un wat ieberhaupt so zu'n anständijet, jemietlichet menschlichet Dasein jeheert. Un, siehste, Jakob, da liegt der Hund nu bejraben. Vorleifig wollen wir nu mal abwarten, wie der Hase looft, un wir wollen noch nischt sagen, weil se uns beede vielleicht sonst nachreden, wir hätten den janzen Spaß verdorben. Aber eene kleene Bitte hätte ick vor meine Person doch an Robert Kochn, un vor ihn, der mit alle Bazillen uff'n Dutzfuß steht, wäre et vielleicht jar nich schlimm, mir meine Bitte zu erfillen. Ick kenne Kochn zwar nich persönlich, aber ick denke doch, er wird keen Unmensch sein. Ick meene nämlich den Dalles-Bazillus. Weeßte, Jakob, wenn wir jejen den erst een Mittel hätten, det wäre beinahe so jut wie det Mittel jejen den Schwindsuchtbazillus. Ville Proletarier 80

wäre nämlich damit ooch jeholfen. Ick bin een Jemietsmensch, Jakob, det weeßt Du doch ooch, aber ick will Dir zeijen, det ick ooch vor jroßartije Sache inkliniere: ick will Robert Kochn mein Portemonnaie jratis als Versuchsobjekt anbieten. Wenn der aus meinem Schwindsuchtsportemonnaie Rothschildn seinen Jeldschrank macht, denn hat er bei mir vor alle Zeiten jewonnen. Vor den Dallesbazillus wird woll aber keen Doktor jewachsen sein, den Dalles werden wir wahrscheinlich wohl alleene aus der Welt schaffen missen. Doch nu wat änderet, Jakob. Jetzt wird et nämlich beese hier in Berlin, denn nu wird et nich bloß Winter, nee, nu is schon Winter, un nu hilft keen Maulspitzen mehr, nu muß jefiffen sind. E t is wirküch 'ne schlimme Zeit, un de Preise werden immer deirer, un alles, wat De ankiekst, kost't Jeld, un de Innahmen, na, von die wollen wir man erst jar nich reden, denn man dut am besten, wenn man von sonne Kleinigkeiten erst jar nich spricht. Wie det ieberhaupt noch werden soll, det möjen de Jötter wissen, ick versteh keenen Happen davon, Det eenzige, wat uns erquickt un uffrischt, det is immer noch een Blick uff unsere Kolonialpolitik: Heere jetzt mal bloß zu, lieber Jakob, wie Emin Pascha uff Peters un Peters uff Stanleyn schimpt, un denn jehe mal in de Markthalle bei de dicken Schlächterfrauen, denn wirste wissen, wie der Hase looft — womit ick verbleibe erjebenst un mit ville Jrieße Dein treier Jotthilf Naucke, an'n Jörlitzer Bahnhof jleich links DWJ 1890, S. 914—915.

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Satirisch verwendete Formen der Alltagsrede

Ein amtlicher Briefwechsel Wohllöbliches Schulzenamt in X. ersuche ich geziemend, zum Behufe der Feststellung der Sterblichkeitsverhältnisse mir gefälligst mitteilen zu wollen, wieviele von den dortigen Einwohnern jährlich ungefähr sterben mögen. Mit Achtung usw. N., den l. April 1874 Kreisphysikus Dr. Z. Auf Vorstehendes hat unterzeichnete Stelle zu bemerken, daß von den hiesigen Einwohnern, soviel bekannt ist, keiner sterben mag. Sich damit usw. X., den 3. April 1874 Schulzenamt A.

Wohllöbliches Schulzenamt in X. scheint meine Frage in Betreff der Sterblichkeit mißverstanden zu haben. Ich wünschte eigentlich zu wissen, wieviele der dortigen Einwohner jährlich sterben können, worüber gefälliger Auskunft entgegensieht N.( den 7. April 1874 Kreisphysikus Dr. Z. Auf Vorstehendes hat das unterzeichnete Schulzenamt die Auskunft zu geben, daß von den hiesigen Einwohnern möglicherweise alle sterben können. Sich damit usw. X., den 9. April 1874 Schulzenamt A.

Wohllöbliches Schulzenamt in X. wolle gefälligst einfach hierher berichten, wieviele der dortigen Einwohner im verflossenen Jahre gestorben sind. N., den 11. April 1874 Kreisphysikus Dr. Z. 82

In fraglicher Sache ist sich an das K. Pfarramt dahier zu wenden, wo derlei Vorkommnisse aufgeschrieben werden. Sich damit usw. X., den 12. April 1874 Schulzenamt A.

Königliches Pfarramt in X. erlaube ich mir gefälligst um Auskunft darüber zu bitten, wieviele der dortigen Einwohner im Jahre 1873 gestorben sind. Achtungsvollst usw. N., den 13. April 1874 Kreisphysikus Dr. Z. Im verflossenen Jahr sind hier des Todes verblichen: 22 Seelen und 1 Leineweber. X., den 15. April 1874 Pfarramt M. D. V K 1875, S. 95.

0 diese Dienstmädchen! „O diese Dienstmädchen!" seufzte die Frau Geheimrat X . „Nicht genug, daß wir die Launen unserer lieben Männer zu ertragen haben und über ihre — Schwächen manches Auge zudrücken müssen, daß uns die Herren Söhne mit ihren Passionen und Verlegenheiten Kummer und Verdruß genug bereiten, daß wir doch sorgen müssen, daß unsere Töchter eine gute Partie machen, nun noch dieser ewige Ärger mit den Dienstboten!" „Und die Frechheit, welche diese Mädchen besitzen!" seufzte die Frau Bankdirektor Y . und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Da sage ich neulich zu meinem Stubenmädchen im sanftesten Tone: .Weißt du, Anna, Liederlichkeit dulde ich in meinem Hause nicht. Es schickt sich nicht für ein anständiges Mädchen, fortwährend mit Männern vor der Tür zu stehen.' Wissen Sie, was mir die freche Person geradezu ins Gesicht sagte? Sie wäre ein anständiges Mädchen, und von Liederlichkeit könne bei ihr nicht die Rede sein, und mit Männern gebe sie sich nicht ab, und daß ihr Bräutigam abends bei ihr vorspreche und sehe, was sie mache, finde sie ganz in der Ordnung. Wenn von Liederlichkeit gesprochen würde, so möchte man dann davon reden, 83

wenn ein gnädiges Fräulein sich von einem Leutnant auf dem dunklen Hausflur abküssen läßt. Wenn sie bei ihren Eltern zu Hause wäre, dann brauchte sie nicht mit ihrem Bräutigam vor der Tür zu stehen. Und wenn die gnädige Frau keine Liederlichkeit im Hause wolle, so möchte sie doch dem Herrn Direktor verbieten, daß er ihr immer auf den Hacken sitze und ihr in die Backen kneife. Das ist ja alles von der unverschämten Person frech erlogen, und das flog ihr noch alles so von den Lippen, und dabei heulte und schluchzte sie, als wenn man ihr das himmelschreiendste Unrecht getan hätte. Nein, das Mädchen muß mir aus dem Hause, und eine Junge nehme ich nie wieder." „Glauben Sie nicht, daß die alten Mädchen besser sind", fiel die Frau Kommerzienrat Z. ein. „Ich glaubte wunderweichen Schatz gefunden zu haben, als ich ein älteres und viel gerühmtes Mädchen nahm. Sie war zuletzt fünf Jahre bei der Frau Geheimrat v. Kränklich gewesen und hatte dort den ganzen Haushalt geführt. Sie hat es ja auch bei mir ganz gut, ich habe ihr sogar ein ganz nettes Stübchen auf dem Boden angewiesen. Neulich um neun Uhr abends wollte ich noch eine Tasse Tee trinken. Ich klingele also nach dem Mädchen, und sie kommt auch herunter. Da hätten Sie sie einmal hören sollen, als ich ihr sagte, was sie sollte: .Also darum lassen Sie mich zwei Treppen herunterlaufen! Ich bin gern bereit, alles zu tun, was nötig ist, ob es bei Tag oder bei Nacht ist. Aber wenn ich des Abends mit meiner Arbeit fertig bin und mich etwas zu ruhen gedenke und meine Schwester bei mir zu Besuch ist und Sie oder das gnädige Fräulein nur nötig haben, nebenan nach der Küche zu gehen, um ein bißchen Wasser für den Samowar zu holen, dann könnten Sie mich doch wohl oben ruhig sitzen lassen.*" „Man mag es mit den Mädchen noch so gut meinen, einen Dank hat man nie", meinte die Frau Oberstleutnant v. V.-W. „Ich beteilige mich an allen Anstalten für die sittliche Hebung der Dienstmädchen. Vorigen Mittwoch hörte ich einen sehr erbaulichen Vortrag des Herrn Pastor Stöckrich, der mir so recht aus der Seele gesprochen war. Er schilderte die sittliche Verwahrlosung des Volkes und, wie eine Besserung nur möglich sei, wenn man dem Volke die Religiosität wiedergebe. Es müsse das patriarchalische Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesinde wiederhergestellt werden. Der Tanzboden sei der Verderb der Mädchen. Viel Schuld trage die Herrschaft. Sie solle selbst ihre Mädchen anhalten, daß sie die Kirche besuchen. Hier würden die Mäd84

chen von dem Geiste der Frömmigkeit, der Demut erfüllt, die Gott gibt, was Gottes ist, und der Herrschaft, was der Herrschaft gebührt. Als ich nach Hause kam, erzählte ich der Köchin — ich bin zu gut zu dem Mädchen —, wie schön der Herr Pastor gesprochen hatte. Das Mädchen hörte ruhig zu und nickte nur mit dem Kopfe. Am Sonntag morgen bin ich nun in der Küche. Ich wundere mich, daß das Mädchen nicht da ist. Ich warte eine Weile; endlich erscheint sie — im vollen Sonntagsstaat. ,Nanu!' sag' ich. ,Ach, gnädige Frau, ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich heute in die Kirche gehen möchte.' Ich glaubte, mich rührt der Schlag. Se. Exzellenz der Divisionär hatte sich gerade an jenem Tage bei mir melden lassen, und ich hatte ihn, nebst Frau Gemahlin, den Oberst und die Frau Oberst, den Major und den Adjutanten zu Tisch gebeten. Ich mußte dem Mädchen noch alle möglichen guten Worte geben, damit sie mich nicht im Stich lasse. Als sie nun ihren Sonntagsstaat abgelegt hatte, sagte sie noch in ganz trockenem Tone: , Ja, gnädige Frau, niemand kann zween Herren dienen. Mit der Kirche ist es also wieder nischt. Da will ich wenigstens den Abend mit meinem Willem auf dem Tanzboden mich amüsieren.'" RuL, S. 38-41.

Die Abschaffung des geheimen Wahlrechts* Der Herr Reichskanzler wird dem Reichstag einen Gesetz-Entwurf, betreffend die Beseitigung des geheimen Wahlrechts, vorlegen, wie Herr von Puttkamer seinerzeit im preußischen Abgeordnetenhaus angekündigt hat. Die Oppositionsparteien haben darüber natürlich wieder einen großen Lärm erhoben. Jedem vernünftigen und denkenden Menschen aber muß der Vorschlag auf Abschaffung des Wahlgeheimnisses höchst zeitgemäß erscheinen, und man kann nur verwundert fragen, warum man nicht früher auf diesen vortrefflichen Gedanken gekommen ist. Die Philosophen haben uns längst nachgewiesen, daß der Mensch keinen freien Willen hat. Und das ist unser Glück, denn wohin kämen wir, wenn jeder tun könnte, was er immer wollte? Da würde der eine stehlen, der andere morden, der dritte Häuser anzünden. Wenn also eine weise Vorsehung den Menschen nicht

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überhaupt tun läßt, was er will, so darf sie ihn auch nicht wählen lassen, wen er will. Die erste Christenpflicht des Menschen ist die Zügelung seiner schlechten Leidenschaften. E r soll sich zwingen, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Und bei den Wahlen sollte dieser oberste und herrlichste Moralsatz wegfallen? Das kann nur ein im rohen Materialismus unserer Zeit versunkener Mensch verlangen. Aber selbst da, wo der Geist willig ist, da ist das Fleisch schwach. Der brave Staatsbürger geht oft zur Wahl mit dem besten Vorsatz, nur einem gesinnungstüchtigen Manne seine Stimme zu geben. Unterwegs aber kehrt er in eine jener modernen Gift-, Pestund Lasterhöhlen, in ein Wirtshaus, ein, er trinkt Wein, Bier oder gar Schnaps, und nun ist er dem Bösen verfallen. Ein Agent der volksverführerischen und regierungsfeindlichen Partei begegnet ihm, und er ist verloren; die böse Leidenschaft treibt den sonst guten Staatsbürger, einem Volksverführer seine Stimme zu geben. Da aber greift der starke Arm des Staates schützend ein, um den leiblich und geistig Bedrohten zu retten. Jeder Wähler muß laut den Namen dessen nennen, dem er seine Stimme gibt. Im Wahllokal müssen dann — hoffentlich wird man dies im neuen Gesetz nicht vergessen — Polizei-Kommissare in voller Uniform anwesend sein, welche sich genau notieren, wem die einzelnen Wähler ihre Stimme geben. Daraus wird dann für jeden Wahlbezirk eine Liste angefertigt, aus welcher zu ersehen ist, wie jeder einzelne gewählt hat. Besonders für Vorgesetzte von Staatsbeamten, für die Regierung selbst, für Arbeitgeber und Prinzipale, für Hausbesitzer und für die hohe Polizei werden diese Listen von nicht zu unterschätzendem Interesse sein. Die Sache ist um so praktischer, als man weiß, daß sich das alles sehr ruhig abspielen wird und daß alle bisherigen Ausschreitungen unterbleiben werden. Angesichts der von Gott eingesetzten Obrigkeit regt sich immer der bessere Teil im Menschen. Der ordentliche Wähler mag mit den bösesten Vorsätzen in das Wahllokal treten — wenn er den überwachenden Polizei-Kommissar in glänzender Uniform feierlich die Abstimmungen notieren sieht, wird sein Gewissen erwachen; er kehrt zur guten Sache zurück und nennt einen Namen, der seine Regierung, seinen Vorgesetzten, seinen Arbeitgeber mit inniger Freude erfüllt. So erscheint der Polizei-Kommissar als schützender und rettender Engel, was

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dazu beitragen wird, diese mit Unrecht von der Opposition angefeindeten Beamten in das schönste Licht zu stellen. Aber es gibt auch Elemente, bei denen sich die Böswilligkeit und die Sucht nach staatsfeindlichen Umtrieben so sehr festgesetzt hat, daß auch der Anblick eines ihre Abstimmung notierenden Polizei-Kommissars sie nicht zum Besseren bewegen kann. Leider ist auch eine große Zahl dieser Leute unabhängig und kann in keiner Weise hinterher für ihre staatsfeindlichen Abstimmungen zur Rede gestellt oder zur Rechenschaft gezogen werden. Hier hört eben die wohlwollende und väterliche Fürsorge des Staates vollständig auf. Zum Glück befinden sich aber diese unverbesserlichen und der staatlichen Belehrung nicht zugänglichen Elemente weitaus in der Minorität, und damit wird der eigentliche Zweck des neuen Gesetzes erreicht sein, wenn das verderbliche Wahlgeheimnis die guten Elemente nicht mehr verführen kann. Denn die Hauptsache ist, daß sich in allen parlamentarischen Körperschaften eine feste Majorität für die Regierung vorfindet. Wozu hätten wir auch Wahlen, wenn sie nicht dazu bestimmt wären, der Regierung eine Majorität zu verschaffen? Die öffentliche Wahl wird noch eine Menge von Vorteilen mit sich bringen. Es wird nicht mehr vorkommen, daß man Leute zu Abgeordneten wählt, die gar nichts haben, die ohne Handschuhe ausgehen und die nicht einmal die nötige Garderobe besitzen, um von einem Minister zur Soirée geladen werden zu können. Eine gute Regierung braucht viele Einnahmen; viele Einnahmen erfordern viele Steuern, arme Teufel aber bewilligen die Steuern ebenso ungern, wie sie dieselben zahlen. Die öffentliche Wahl wird uns lauter wohlhabende Leute bringen, denen ihre Steuern selbst keinen Kummer machen und die darum auch ohne Bedenken die Steuerpflichten anderer erhöhen. So wäre einer der größten Krebsschäden unseres Staatslebens, die zeitraubenden und überflüssigen Debatten wegen der neuen und der zu erhöhenden Steuern, aus der Welt geschafft. Es würde zu weit führen, alle die Vorzüge im Gefolge des neuen Wahlsystems aufzuzählen. Daß das geheime Wahlrecht sich nicht bewähren kann, dürfte nach dem Gesagten niemand mehr zweifelhaft sein. Wir begrüßen deshalb den Vorschlag zur Abschaffung des Wahlgeheimnisses aufs freudigste und haben nur noch den Wunsch hinzuzufügen, man möge, um allen Streitereien einer unfruchtbaren Opposition ein Ende zu machen, für die Wahl staatsfeindlicher Kandidaten eine Geldbuße ansetzen, 8»

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was zugleich für den Staat eine nicht zu verachtende Einnahmequelle wäre. * Vorstehender Artikel, den wir mit Vergnügen abdrucken, ist uns von einem Mitarbeiter in Berliner Regierungskreisen

zugegangen.

Derselbe wünscht, wir möchten der „Norddeutschen

Allgemeinen

Zeitung" den Nachdruck ohne Quellenangabe gestatten, was unsererseits gern geschieht. Die Redaktion D W J 1884, S. 2.

Der Kolonial-Verein zu Bimbia Die tapferen Häuptlinge der afrikanischen Stämme in den Landen von Kamerun bis Groß-Popo traten kürzlich in Bimbia zu einer Generalversammlung zusammen, um die Kolonialfrage einer eingehenden Würdigung zu unterziehen. Häuptling SlaukOpf als Referent führte aus, daß die Bimbianer und ihre Nachbarn an der ganzen Westküste Afrikas sich zu einer achtunggebietenden Stellung emporgearbeitet hätten und hinsichtlich ihrer kommerziellen Bedeutung schon längst mit allen Raubstaaten des afrikanischen Nordens, mit dem bankrotten Ägypten und mit dem Krämervolke der Kapstadt konkurrieren könnten. Bloß eines fehle ihnen noch: der überseeische Absatzmarkt für ihre Jagdbeute und die Mineralien ihres Landes. Es sei daher nötig, gleich andern Kulturvölkern eine gesunde Kolonialpolitik zu treiben, um dahinten in den unwirtlichen Gegenden Europas neue Absatzmärkte zu erschließen. Man habe erst an das sogenannte Russische Reich gedacht, allein das dortige kalte Klima sei dem an schönes Wetter und Sonnenschein gewöhnten bimbianischen Kulturmenschen wenig zuträglich. D a habe ein gelehrter Europareisender auf ein Land verwiesen, welches zur Kolonisation wie geschaffen sei. Es liege vollständig öde und brach inmitten bewohnter Ländereien im Norden Deutschlands, und man nenne es die Lüneburger Heide. Dasselbe lasse sich durch Anlegung von Wasserstraßen, Austrocknung der Moore und Anpflanzung von Bäumen und Getreide ohne allzu große Opfer in eine bewohnbare Gegend verwandeln, und namentlich die Mineralien des Bodens böten reiche Ausbeute für mutige Kolonisten. Es habe bereits vor Jahren der Plan bestanden, die-

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ses Land urbar zu machen; ein deutscher Häuptling, „landwirtschaftlicher Minister Friedenthal" genannt, habe einen Plan dazu vorgelegt; allein das kriegerische Volk der Preußen, welches die umliegenden Distrikte bevölkert, habe keinen Sinn für solche Kulturtaten, es habe den Häuptling Friedenthal im Stich gelassen; und die „Lüneburger Heide" sei nach wie vor von Heidekraut überwuchert, eine unwirtliche Einöde, so recht geeignet für die Kolonisationsversuche der strebsamen Kulturvölker des Südens. Das Land würde sich, wenn Bimbia dort eine Niederlassung besäße, auch ganz vorzüglich zur Errichtung einer Strafkolonie eignen, denn das rauhe Klima des Nordens sei geeignet, das heiße Blut der Verbrecher abzukühlen, und die harte Arbeit als Pioniere einer gesunden Wirtschaftspolitik sowie der Anblick europäischer Sitten und Gebräuche würden ernüchternd auf ihre Gemüter wirken. Der Redner schloß mit der Aufforderung zur Errichtung eines bimbianischen Kolonialvereins, welcher sofort Schritte zu tun habe, um die Verwirklichung des in Rede stehenden Projekts in Angriff zu nehmen. Die Versammlung trat den Ausführungen des Redners bei, der Verein konstituierte sich, und mit dem nächsten Postdampfer werden bimbianische Gelehrte und Landwirte nach Deutschland abreisen. — So stehen wir also an der Schwelle einer neuen Kulturepoche. DWJ 1884. S. 7.

Jeremias Gnadenreich Elf Paragraphen für biedere Staatsbürger und solche, die es werden wollen Merke, mein Söhnlein, auf meine Rede! Zeuch an das Gnadenwams und striegele deine Härlein mit dem Gnadenkamme. So du nun bisher auf dem Sündenpfade gewandelt bist, gehe in dich und schlage das Weglein ein, das dich hindannen führet zum Paradiese. Höre nun zuerst, was dir berichtet wird Von des Reiches Erzfeinden § 1. Seyndt dir viel schreckliche Mordgesellen, so genannt werden Sozialisten, davon die Zigeuner herkommen und anderes Gesindel der Art, das auf den Straßen fährt und im Heidekraute zur 89

Nacht speist. Treiben viel Mord und Brand, schaden auch besonders dem Vieh und den Kartoffeln. So du nun unter solchen Gesellen sitzest, merke dir wohl, was aus ihrem bösen Maul fähret. Denn sie lieben nichts mehr als den Becher und das Würfelspiel, und wenn sie trunken sind und taumeln, führen sie oft gar lästerliche Reden und schimpfen gern auf die hochlöbliche Obrigkeit. Was du dann hörst, das schreibe dir wohl auf und hinterbringe es dem Richter, auf daß sie gestrafet werden, also es Gesetz und Recht ist. § 2. Die aber von ihnen die schlimmsten sind, werden die Jüden genennet, und vermagst du sie leicht auf der Straße zu erkennen, weil sie von natura gar böslich und grevlich zu schauen sind. Haben kleine, listige Augen wie die Schweine und eine krumbe Nase als wie ein Geier oder anderer schevslicher Raubvogel. Riechen auch gar absunderlich, dieweil sie nichts lieber essen als die Zwiebul, zu allen Tageszeiten. Nun wisse, daß die Juden nichts tun denn Teufelswerk. Schmoren die Waisenkinder, rupfen die Wittib und nehmen den Christenmägdlein auf der Straße die Ringlein aus den Ohren. So sie aber an einer Kirche oder Kaserne vorbeigehen, rauchen sie gar trotziglich und hochmütig. Dahero sie denn auch von Philippo secundo von Hispanien weidlich gesenget und gebrennet wurden. Das waren gar ehrsame und christliche Lustbarkeiten, wie sie leider in unsrer sündlichen Zeit immer mehr abkommen und nur noch in den Chronicis zu lesen sein werden. Vom guten Betragen § 3. Lebe schlecht und recht und schmücke dich nicht mit prangenden Kleidern, wie es die Wühler tun. Zeuch an ein einfaches Wämslein oder ein Leibröcklein. Knöpfe zu dein Wams von oben bis unten und von unten bis oben, auf daß du dich nicht brüstest mit einem gleißenden Vorhemdchen, wie es die Heiden tun. So du nun auf der Straße gehest, mache ein einfältiges Gesicht und schlage die Äuglein nieder. Denn es liegt da oft ein Gröschlein, über das der Hochmütige fortsieht. So du aber aufblickst, drehe die Äuglein in deinem Kopfe, also daß nur das Weiße zu sehen ist, denn das ist gnadenrecht und bescheiden. § 4. So in deinem Städtlein ein Volksfest gefeiert wird, sei es, daß einem der vielen lieben Prinzen ein Knäblein geboren wurde oder daß ein Jüde am Galgen gehenket wird zum Lohn seiner Missetaten, dann zeuch an dein Sonntagsröcklein und mache ein frohes 90

Gesichtlein. Und wimmele hin und her auf den Straßen und bekunde deine Freude durch lautes Hei!-hei¡-Rufen. Und wenn du deinesgleichen findest, so wimmele mit ihnen zusammen und berede sie, daß ihr ein Liedlein anstimmt zur Feier des Festes. Wenn du also handelst, wird es dir wohl gehn, und du wirst Wurst und Branntwein genug bekommen, ohne daß du den Säckel zu ziehen brauchst. Das ist eine feine und ehrbare Feier und kommt von Herzen. Die Wühler aber, wenn sie feiern, treiben es wie die Türken mit Saus und Braus und Prassen und Schlampampen. Und halten Mordreden und schwingen die Barrikadenfahnen, also daß ein Christenmensch vermeinen sollte, Diabolus selber hielte seinen Einzug ins Städtlein. § 5. So du nun Genossen findest, und ihr seid euer viele, so sehet zu, wie ihr die Sozialisten strafet und ihre Tücke zu Schanden macht. Umzingelt sie und haut sie auf den Kopf, wo das Leben sitzt. Und werft ihnen die Fenster ein und zerschlagt ihnen den sündigen Hausrat. Wenn ihr aber selbst dabei gehauen werdet oder die Polizei aus Versehen euch faßt und einsteckt, so tröstet euch mit dem heiligen Laurentio, der ein frummer Mann war und dafür von den Sozialisten auf gar erschreckliche Weise bei lebendigem Leibe geröstet wurde. Vom Wissen § 6. Belade deinen Geist nicht mit unnützem Wissen, davon dein Untertanenverstand verdorben und deine Gesinnung versäuert wird. Die meisten Bücher sind von Mordbrennern und Gaudieben geschrieben, und was darinnen stehet, ist alles Schevslichkeit. Darumb laß dir genügen an der Heiligen Schrift und etlichen Tractätchen oder Kernliedern. Denn fast alles, was über das Einmaleins geht, ist schon Hochverrat. Glaube nicht, daß es dir fromme, wenn du viel aus der Historia wissest. Denn alle Historienbücher sind von den Fortschrittlern gefälschet. D a lieset man ad exemplum in Beckeri Weltgeschichte von Loyola, Philippo II. von Hispanien und Carolo I X . von Frankenland allerlei Greveltaten, als ob es Erzbösewichter gewesen wären. Darumb sollst du dich fern von dem Bücherkram halten, und wenn du überhaupt nicht lesen kannst, so ist es für dein Seelenheil am besten. § 7. Alle Kunst ist nicht einen Dreier wert; wie denn auch die Künstler gemeiniglich Lotterbuben und Bummler sind, die ihren Beruf verfehlt haben. Und sind eine große Plage für den Staat

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und die konservativen Bürger, daher es denn am besten wäre, daß man sie alle miteinander über die Grenze schaffte. Besonders schevslich ist, was man die alte Kunst nennt und was von den Griechen und Römern, welche grimmige Heyden waren, erfunden ist. D a ist alles gemein und splitternackicht, und ist leider vieles ejusdem generis auch noch in unsern Zeitläuften gemacht worden, so daß ein sittsames Mägdlein, wenn sie über die Berliner Schloßbrücke geht, nicht weiß, wo sie die Augen lassen soll, und in ihrer Verlegenheit gewöhnlich von den Omnibussen überfahren wird. Alles dergleichen darfst du nicht anschauen, sondern gehe vorüber und schlage ein Kreuzlein. Kannst du aber ein Heiligenbildchen, etwa Stöckers oder auch Nenricis Konterfei, bekommen, das hebe dir wohl auf, um dich daran zu ergetzen, und hänge dir auf die Hauptleute der Christenheit in deinem Zimmer. § 8. Machen da die Juden viel Geschrei von einem quasi Fortschritt der Zeit und allerlei herrlichen Erfindungen der Menschen. Wisse, daß Diabolus selbst das Buchdrucken, die Dampfschiffe und die andern Künste der Fortschrittler erfunden hat. Die Augen gehen einem über, wenn man sieht, wie sie's treiben. Bauen sie gar noch Eisenbahnen, als ob sie nicht zu Fuße schnell ad Satanum kommen; ziehen Telegraphen- und Telephondrähte, daran die Vöglein sich die Köpfe einrennen; führen Paläste auf, daß man denken sollte, der Kaiser oder gar der Papst müsse da wohnen, wenn man nicht die Juden aus den Fenstern herausgucken sähe. — Von den Lebensregeln § 9. Höre nun, mein Söhnlein, wie du deinen Tag zubringen sollst in Frummheit und Dummheit. So du des Morgens aus deinem Bettlein gekreuchet bist, sollst du es nicht wie die Wühler machen, die sogleich zur Arbeit stürzen und den ganzen lieben Tag unter Rasseln, Hämmern und Scharren zubringen. Sondern singe ein Kernliedlein und noch eins und dann noch eins und so lange, bis daß es allmählich Mittag wird. Dann hast du dein Essen brav verdient, und es wird dir wohl schmecken. Und wenn du gesättigt bist, singe wieder ein paar Kernlieder und fülle damit die Zeit aus, bis daß es dunkel wird. So wird dir das Essen wohl bekommen, und du wirst fett werden. § 10. Wenn nun abends der Tau auf die Violen fällt und die Eule fleucht, dann wird dein Zünglein dir trocken sein von den vielen Kernliedern. Alsdann denke daran, daß du dein Tagewerklein

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vollbracht hast, und ziehe unter deinem Bettlein hervor ein Fäßlein alten Branntweins und stich es an und trinke davon, daß du froh werdest. Und schlage die Cymbel und lasse dir eine Herzensfreundin rufen oder zwo, damit du dich in ehrsamer Lustbarkeit ergetzest. So wirst du dich besser erlustigen als die Demokraten, welche die ganze liebe Nacht bis zum Hahnenkrähn auf der Bierbank sitzen oder in dem Bezirks verein, wo sie sich die Revolutionen ausdenken und allerlei Un-, Mord- und Schandtaten besprechen. § 11. So aber in dem Städtlein, da du hausest, etwa am Mäuerlein ein frummes Mütterchen wohnet, das da Bier verzapft, so magst du mit deinesgleichen auch dorthin gehen, so es dunkelt, auf daß du deinen Durst stillst. Da möget ihr euch denn wie ehrsame Untertanen erlustigen mit Bier und Kümmelblättchen. Wenn ihr dann bemerket, daß ein Demokrat oder Jude sich unter euch geschlichen hat, so merzet ihn aus und werfet ihn vor die Türe. Und behaltet sein Wams und seinen Hut, und jeder von euch erhebe von ihm einen Groschen oder auch zwo. DWJ 1884, S. 30-31.

Was wird nun an die Reihe

kommen?

Nachdem vor einiger Zeit die wichtige Frage nach der Lieblingssuppe des deutschen Kaisers zur Befriedigung aller gutgesinnten deutschen Untertanen ihre Erledigung gefunden, ist jetzt auch die brennende Frage unserer Zeit: Raucht Kaiser Wilhelm? zur Entscheidung gelangt. Wir finden darüber in der nationalservilen „Elberfelder Zeitung" folgende wunderschöne Notiz: „Raucht Kaiser Wilhelm? Auf diese gewiß weitere Kreise interessierende Frage finden wir die Antwort in einem Schreiben, welches aus dem Zivilkabinette des Kaisers durch den Wirkl. Geh. Rat v. Wilmowski an den .Zentralverein für Handelsgeographie' gerichtet worden ist. Durch Vermittlung des genannten Vereins, der dem Kaiser gleichzeitig einen Katalog der 1886er südamerikanischen Ausstellung überreichen ließ, hat der Aussteller, Herr Aug. Krauel aus Belgrano (Buenos-Aires), eine Probe der von ihm in der erwähnten Ausstellung zur Schau gebrachten Zigarren an den Kaiser übersandt. Der letztere stattet nun dafür in einem an den .Zentralverein für Handelsgeographie' gerichte-

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ten Schreiben seinen verbindlichsten Dank ab. Dann heißt es weiter: ,Da Se. Majestät jedoch nicht rauchen und deshalb die sicher vorzüglichen Zigarren persönlich nicht zu würdigen vermögen, haben Allerhöchstdieselben solche Allerhöchstihrem Enkel, dem Prinzen Wilhelm von Preußen Kgl. Hoheit, zu verehren geruht.' Der deutsche Kaiser ist also Nichtraucher." Die „weiteren Kreise" werden sich hoffentlich damit nicht beruhigen, sondern weiter forschen: Schnupft Kaiser Wilhelm? Kaut er Tabak? Usw. usw. Nur so beweist man die deutsche Gründlichkeit und die deutsche — Hundsknechtigkeit. Nur eine Frage wird streng verbeten: Schnapst Kaiser Wilhelm, und wieviel? SD 8. l. 1887, S. 2.

Was wird aus den

Parteigeldem?

Ein Blick hinter die Kulissen der Sozialdemokratie Von unserm Privatspitzel Dr. Lügenmaul Das „Fränkische Arbeiterblatt", ein sonst absolut zuverlässiges Kapitalistenblatt, weiß über diese Frage zu berichten, daß an Gehalt jährlich für 50 der oberen Führer 500000 Mark, für 300 Führer zweiten Ranges 1500000 Mark, für 500, die zu Wanderpredigern und Reichstagsabgeordneten ausgebildet werden sollen, 1500000 Mark sowie an Diäten für Reichstagsabgeordnete 120000 Mark ausgegeben werden. Dazu kämen noch einige kleine Beträge von 3590000 Mark für Bearbeitung der Wahlkreise und 1880000 Mark für Broschüren, Flugblätter und sonstige Agitationskosten — macht summa summarum 9 Millionen Mark. Die noch übrigbleibende Million (um die runden 10 Millionen zu erreichen) erhielten die sogenannten Parteibummler. So zuverlässig das „Fränkische Arbeiterblatt" sonst ist, ist es doch in diesem Falle nur ungenügend unterrichtet. Es sind noch mindestens 10 Millionen jährlich vorhanden, die nur unter den allerobersten Führern verteilt werden, von denen aber außer mir niemand etwas weiß. In Berlin leben ja diese obersten Führer bescheiden, um die Massen nicht stutzig zu machen, aber auswärts leben sie wie die Grafen und Herren. Bebel zum Beispiel

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besitzt in Schlesien unter dem Namen „Graf v. Kladderadatsch" ausgedehnte Besitzungen, auf denen er der Jagd, dem Spiel und sonstigen noblen Passionen frönt. Sein Rennstall weist nur englisches und arabisches Vollblut auf, und in seinem Weinkeller zählt Steinberger Kabinett 1842 zu den geringsten Sorten. E r fährt nur vierspännig aus, mit einem Leibjäger auf dem Bock und zwei Negern mit Nilpferdpeitschen hinten auf dem Tritt. Zum Frühstück ißt er einige Dutzend Austern, mittags eine große Schüssel voll indischer Vogelnester und abends Schnepfendreck. Braten usw. ist ihm viel zu gewöhnlich. Ähnlich treibt es Liebknecht. Auf seiner Reise durch die Vereinigten Staaten hat er sich dort eine Farm von zehn Quadratmeilen gekauft, auf der er unumschränkt herrscht. Er ißt nur von goldenen Schüsseln, und der Hof seiner Besitzung soll mit Edelsteinen gepflastert sein. Bei seinen Reisen durch sein Gebiet läßt er sich durch Sklaven in einer Sänfte tragen, und zwei gezähmte Löwen bewachen den Eingang zu seinem Arbeitszimmer. Den „Vorwärts" sowie sonstige Blätter läßt er sich alltäglich von Berlin per Kabel herübertelegrafieren, ebenso kabelt er seine Leitartikel wieder hinüber. Singer hat sich irgendwo im Orient angesiedelt, wo er einen Harem hält, der noch einmal so groß ist wie der des Sultans. Er unterhält durch ganz Europa eine eigene Geheimpolizei, die heimlich Antisemiten wegfängt und nach seinem Palast transportiert. Dort werden sie gesäckt, geköpft oder mit seidenen Schnuren an den Bäumen aufgehängt, ganz nach den Launen Singers. Für seine Reisen außerhalb Deutschlands hat er eigene Salonwagen, da ihm die erste Klasse schon längst nicht mehr genügt, und mit seiner aus den teuersten Hölzern erbauten Privat-Yacht unternimmt er allwöchentlich Spazierfahrten nach dem Roten Meer. In einer goldenen Schaukel läßt er sich abends in den Schlaf wiegen, und morgens badet er sich in echtem Champagner. Von Vollmar ist zuverlässig bekannt, daß er der geheime Besitzer der Prachtschlösser Ludwigs II. ist und dort seine Agitationsreden für die oberbayerischen Bauern ausarbeitet. Es ließe sich noch vieles über die Wirtschaft in den Kreisen der obersten Führer mitteilen, aber das Gesagte wird genügen, um unsern Lesern ein Bild davon zu geben. Es wird höchste Zeit, daß die Arbeitergroschen eine andere Verwendung finden, denn wenn erst einmal bekannt wird, wie die obersten Führer der Sozialdemokratie leben, werden die strebsamen Führer der anderen Parteien mit Sack und Pack zur Sozialdemokratie übergehen,

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und dann ist die „Ordnung" futsch. Für die Richtigkeit dieser Mitteilungen bürgt mein ehrlicher Name. S P 1894, Nr. 11, S. 6.

Republik oder Monarchie Durch die Vorschrift über den Schutz der Monarchie wird die Propaganda für die Republik nicht gehindert. E s kann die Ersetzung der Monarchie durch die Republik in anständiger Weise verlangt werden. v. Bennigsen, Umsturzdebatte

Allerdurchlauchtigster, Allergroßmächtigster, Allergnädigster König und Herr! Der alleruntertänigst unterzeichnete republikanische Ausschuß naht dem Angesichte Ew. Majestät mit der ebenso verwegenen als treugehorsamen Bitte, Ew. Majestät wollen die gänzlich unverdiente Gnade haben, die Krone, die Allerhöchst Sie zum Wohle und Ruhme des Vaterlandes getragen haben, Allergnädigst in die Hände des souveränen Volkes zurückzulegen zu geruhen. Ew. Majestät wollen nicht die gänzlich unmotivierte Ansicht hegen, daß etwa irgendwelche Begehrlichkeit oder gar sündhafte Unzufriedenheit mit Allerhöchst Ihrem glorreichen Regiment den Anstoß gegeben habe, ein so frevelhaftes Verlangen an Ew. Majestät alleruntertänigst zu richten. Im Gegenteil: Ew. Majestät allergetreueste Opposition ist der unerschütterlichen Überzeugung, daß es einen weiseren, gerechteren und gnädigeren Fürsten als Ew. Majestät auf Gottes Erdboden weder gegeben hat noch gegenwärtig gibt noch jemals geben wird. Einzig und allein die gänzlich veraltete und von allen neueren Staatslehrern gründlich verworfene Anschauung, daß in einer Republik möglicherweise das Wohl des Volkes ein ganz klein wenig besser gewahrt sein möchte, sintemalen in einer Monarchie auch Fürsten an die Regierung kommen könnten, die Ew. Majestät auch nicht entfernt gleichen an Gnade, Weisheit und Verstand, läßt uns die alleruntertänigste Bitte wagen, vom Regiment Allerhöchsten Landes zurückzutreten. Sollten Ew. Majestät aber der gewiß wohlbegründeten Meinung sein, daß es für das so sehr der Leitung bedürftige Volk besser sei, noch länger unter der glorrei-

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chen Regierung Ew. Majestät zu stehen, so bescheiden wir uns dessen gerne und bleiben auch in Zukunft Ew. Majestät treugehorsamster Republikanischer Ausschuß v. Bennigsen, Vorsitzender SP 1895, Nr. 4, S. 4.

Offener Brief an den deutschen Michel Mein lieber Michel! Hast Du Dich denn auch schon mit dem nötigen Quantum patriotischer Begeisterung versorgt? Wenn nicht, dann tu es nur bald, denn Du wirst in diesen Tagen der fünfundzwanzigsten Wiederkehr der großen Menschenschlachtfeste von Anno siebzig und einundsiebzig von diesem Artikel viel brauchen. Vor allen Dingen schrei tüchtig „Hoch!" und „Hurra!", wie es befohlen wird. Je lauter Du schreist, desto patriotischer bist Du; und der Patriotismus macht heute vor Gott und den Menschen angenehm. Sodann schimpfe tüchtig auf die Franzosen und lasse kein gutes Haar an ihnen; je schlechter Du sie machst, desto besser. Desto lauter aber mußt Du alles herausstreichen, was deutsch ist; das Deutsche ist für einen echten Patrioten der Inbegriff des Guten, das Französische der Inbegriff des Schlechten. Wenn von Bismarck die Rede ist, so zerdrücke still eine heilige Krokodilsträne in Deinen blauen Germanenaugen, aber äußere Dich nicht weiter, denn der Bismarck ist heute in Ungnade gefallen und kann Dir, lieber Michel, gar nichts mehr nützen, wohl aber kann die Begeisterung für ihn Dir schaden. Wenn Du eine Kanone siehst oder eine Fahne, die den Eichenkranz trägt, so ziehe demütig Deinen Hut und neige Dich bis zur Erde, oder, noch besser, stehe stramm und präsentiere Deinen Schirm oder Stock oder, was Du sonst gerade in der Hand trägst, das verrät den alten Soldaten und verschafft Dir die Anerkennung aller Gutgesinnten. Offiziere und Militärvereinsvorstände hast Du in diesen Tagen glorreicher Erinnerung gleichfalls stets durch Hutziehen, durch das militärische Honneur zu grüßen. Vor Schlachtenbildern stehe bewundernd still, und wenn Du an einem Siegesdenkmal vorüber kommst und fällst andächtig davor in die Knie, so wird Dich niemand darob für verrückt halten. Am Sedantag beteilige Dich, sofern Du Kampfgenosse bist,

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unbedingt am Festzug, denn es warten daselbst Deiner ganz besondere Ehren und Du erhältst zur leiblichen Atzung mindestens ein warmes Würstchen und eine Dreiersemmel. Wenn Dich jemand nach Deinen Kriegserlebnissen fragt, so schneide tüchtig auf, weniger als ein halbes hundert Franzosen darfst Du nicht umgebracht haben. Glücklich Du, wenn Du ein altes Wundenmal oder gar eine Medaille hast, da kannst Du Dich noch einmal so dick aufblasen wie sonst, und die ärgsten Münchhausiaden werden Dir geglaubt. Gib Dir Mühe, Dir das militärische Schnarren oder das noch vornehmere Näseln anzugewöhnen, da halten Dich die Leute für einen Reserveoffizier und liegen vor Dir auf dem Bauch. Aufs strengste aber hüte Dich vor jedem Umgang mit den Sozialdemokraten; diese Kerle nennen den Krieg einen Massenmord, halten den Militäretat für weggeworfenes Geld und überhaupt den ganzen Militarismus für eine verderbliche Institution. Sie haben keinen Respekt vor dem Waffenruhm und keine Liebe zu unserem schwarz-weiß-rot angestrichenen Vaterland. Suche sie durch Dein martialisches Aussehen so einzuschüchtern, daß sie Dir mindestens zehn Schritt vom Leibe bleiben, und tun sie das nicht, so weiche Du ihnen aus oder rufe nach einem Schutzmann. Ist ein Zusammentreffen aber unvermeidlich, so achte auf ihre Rede, und wenn Dir etwas verfänglich erscheint oder bei Dir Ärgernis erregt, so denunziere es dem Staatsanwalt, der wird Dir schon helfen. So kannst D u Dich und den Staat zugleich retten. Und wenn der Steuerbote mit dem großen Steuerzettel kommt, so nimm ihn freundlich auf und murre ja nicht, wenn die Steuern von Jahr zu Jahr jeweils um ein großes Stück größer werden; bedenke, daß sie hauptsächlich dem lieben Militär zugute kommen. Und wenn Dich im Alter Dein Herr zum Teufel jagt oder Dein Konkurrent Dir die Kehle zuschnürt, so lasse Dir's ruhig gefallen, denn das gehört zur göttlichen Weltordnung, wie sie von den Bajonetten und Kanonen beschützt wird. Erst, wenn Du auch mit hungrigem Magen Hurra schreien kannst, hast Du die ganze Größe des Patriotismus erklommen, und wenn Du daran gestorben bist, wird Dir das dankbare Vaterland dreimal über das Grab sch-ießen. Postillon SP 1895, Nr. 18, S. 4.

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Bekanntmachung Sintemalen es in unseren Landen üblich geworden zu sein scheinet, Worte und Redensarten, so Se. Majestät in den Mund zu nehmen geruhet hat, ohne hohe obrigkeitliche Genehmigung von gemeinen Bürgers- und Arbeitsleuten auch zu gebrauchen und so sie zu profanieren, ja sogar schandbaren Spott damit zu treiben, siehet sich das unterzeichnete Ministerio veranlasset, hinfüro bei derber Leibesstrafe und harter Pön den Gebrauch solcher Worte und Redensarten, so aus kaiserlichem Munde stammen, denen gemeinen Bürgersleuten und Volk strengstens zu verbieten. So soll in alle Zukunft nicht mehr die Rede sein von einer Rotte, so nicht wert ist, den Namen Deutscher zu tragen, dieweilen daran Ärgernis genommen werden könnte. Auch ist strengstens untersaget, den Staub von den Pantoffeln zu schütteln, sintemalen solches eine Majestätsbeleidigung involvieret. Desgleichen soll keiner reden von Ordnung, Sitte und Religion, noch von Zerschmettern und ähnlichen Dingen. Auch kann hinfüro nicht mehr gestattet werden, die Rekruten zum Schießen auf Vater und Mutter geneigt zu machen oder auf der Strecke liegenzubleiben. Des ferneren ist noch die größte Vorsicht zu beobachten bei lateinischen Brocken und Zitaten, und sollen diejenigen, so nicht das Latein ganz genau beherrschen, lieber die Hände davon lassen, als sich leichtlich in Not und Fährnis zu begeben. Es ist geplanet, ein Verzeichnis herauszugeben, das alle die Worte und Redensarten aufweiset, so auf den Index gesetzet sind, zu Nutz und Frommen unserer Untertanen, auf daß sie nicht aus Unachtsamkeit im Kerker auf den Podex gesetzet werden; soll auch alljährlich ein Nachtrag erscheinen und auf den Universitäten, Gymnasien, Seminarien, Real- und Volksschulen ein besonderer Unterricht geschaffen werden, auf daß niemand zu Schaden kommen mag. Einstweilen tun wir dieses kund und zu wissen zur allgemeinen Darnachachtung, und fordern alle getreuen Untertanen auf, mit Eifer darauf zu merken, ob etwan ihre Freunde und Nachbarn, Gesinde und Tagelöhner wider solches Gebot sich versündigen. Diese sollen sie anzeigen beim Büttel oder Gerichtsschreiber und sich des Dankes der Behörden versichert halten. 99

Gegeben zu Neu-Byzanz, im Herbstmonat des 25. Jahres nach der Gründung des Reiches. Das Polizei-Ministerium, v. Schnüffelwitz SP 1895, Nr. 22, S. 2-3.

Arbeitsordnung für das Königreich

Stumm

Wir, König Stumm von Geldsacks Gnaden, verordnen, was folgt : § 1. Jeder Arbeiter hat morgens vor Beginn der Arbeit seinem Herrgott auf den Knien dafür zu danken, daß er bei uns arbeiten darf. Wer dies unterläßt, wird entlassen. § 2. Allwöchentlich findet eine Ohrenbeichte statt, die von den Werkmeistern und Aufsehern abgenommen wird. Wer das Geringste verschweigt, wird entlassen; wer den Beamten etwas vorschwindelt, kommt wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen ins Gefängnis. § 3. Mindestens einmal im Monat ist von jedem Arbeiter eine Röntgen-Photographie aufzunehmen, um auch dessen Inneres zu erforschen. § 4. Wer öfter als einmal jährlich tanzt, kneipt oder spazierengeht, wird wegen Völlerei entlassen. Diese Bestimmung findet auf patriotische Feste, zu denen die Arbeiter kommandiert werden, keine Anwendung. § 5. Für Handlungen, die geeignet sind, die Zahl der Kinder zu vermehren, ist die Genehmigung der vorgesetzten Beamten einzuholen. Dieselben können jederzeit verlangen, daß diese Handlungen in ihrer Gegenwart vorgenommen werden. § 6. Über die Verwendung des Lohnes ist genau Buch zu führen. Die Anschaffung neuer Hosen, Hemden, Stiefel und sonstiger Kleidungsstücke muß vier Wochen vorher gemeldet werden, behufs Prüfung der Bedürfnisfrage. Ausgaben unter einem Pfennig brauchen nicht gebucht zu werden. § 7. Es ist den Arbeitern nicht gestattet, eigenmächtig zu sterben, damit die Begräbniskasse nicht unnötig in Anspruch genommen wird. Wer dies gleichwohl tut, kommt auf die schwarze Liste 100

und findet auf unseren wie auf den befreundeten Werken keine Anstellung wieder. Gegeben zu Halberg, am 30. Februar 1896. Carl Ferdinand, König von Neunkirchen S P 1896, S. 50.

Brief aus Japan Nicht immer, mein lieber Jakob, ist es im östlichen Asien besser als bei Euch bestellt, und heute gedenke ich Dir eine Geschichte zu erzählen, wie sie in unserem deutschen Vaterlande glücklicherweise vollkommen ausgeschlossen ist. Zu der Garnison Kumamoto in unserem japanischen Kaiserreich zählte unter anderen auch der Gemeine Yamashiro, der von der Polizei als „ein vaterlandsloser Kerl" denunziert worden war. Eines schönen Sonntagmorgens, nicht lange vorm Tempeldienst, lag nun der Herr Unteroffizier Katsuyama, gleichfalls der genannten Garnison angehörig, auf seinem Bett und wartete darauf, daß der Gemeine Yamashiro ihm seinen Appellanzug für den Tempelgang in Ordnung bringe. Er führte dabei lieblicherbauliche Reden mit Yamashiro und zwei anderen im Zimmer anwesenden Soldaten, wie zum Beispiel: „Yamashiro, wenn du verfluchter Saukerl nun nicht gleich fertig bist, dann kannst du deine Fußlappen so lange kauen, bis sie nach Vanille schmekken" oder: „Jonesawa, du Erz-Chinese, du hast die Stube nicht ordentlich gefegt; ich werde dir Hundesohn so lange die Fußsohlen kitzeln, bis du usw." oder: „Kodzuke, du vermaledeites Kamel, machst du noch mal so krumme Beine beim Parademarsch, dann trete ich dir in den Bauch, daß dir die Därme usw.". Das Unglück wollte, daß Yamashiro in seiner Naivität niemals hinreichend erbleichte und mit den Knien schlotterte, wenn der Herr Unteroffizier ihn anredete, ihm vielmehr mit dem festen, allerdings schwer auszuhaltenden Blick eines anständigen Mannes in die Augen sah. Der Herr Unteroffizier fand nun, daß ein Knopf an seinem Waffenrock nicht genügend geputzt sei, und trat dieserhalb dem armen Yamashiro so schneidig in den Leib, daß der sogleich zu Boden fiel und ohnmächtig liegenblieb. Nun wurde freilich Katsuyama etwas blaß um die Lippen; 9

Prosasatire

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aber er besaß doch Geistesgegenwart genug, den beiden anderen Soldaten zu befehlen, daß sie vorschriftsmäßig nichts gesehen hätten, und durchblicken zu lassen, was ihnen andernfalls bevorstehe. Nachdem er ihnen noch aufgetragen, den Ohnmächtigen aufs Bett zu legen und nötigenfalls den Arzt zu holen, entfernte er sich mit einer gewissen Eile. In der Tat mußte bald der Arzt geholt werden. Dieser war schon ohne Untersuchung in der Lage zu erklären, das Schwein sei wohl besoffen, ließ sich dann aber doch herbei, Yamashiro ins Lazarett zu schreiben, wo die Ärzte sich eingehender mit ihm befaßten. Endlich aber besserte sich der Zustand des „an Magenund Darmkatarrh" leidenden Patienten, und nun erzählte er unaufgefordert dem Stabsarzt den Hergang und sprach die Absicht aus, sich zu beschweren. Der Stabsarzt schnauzte ihn in gerechter disziplinarischer Entrüstung an: Ob er nicht wisse, an wen er sich zu wenden habe, wenn er sich beschweren wolle, und übrigens sei es eine Hornochsendummheit, sich wegen solcher Bagatelle zu beschweren. Yamashiro ließ sich jedoch von seinem Vorhaben nicht abbringen. E r erstattete beim Feldwebel (ich wähle hier des besseren Verständnisses wegen immer die ungefähr entsprechenden deutschen Bezeichnungen für die betreffenden Chargen) die Anzeige von seiner Mißhandlung. Der Feldwebel aber fragte ihn, ob er verrückt sei, daß er sich wegen solcher Lumperei beschweren wolle; der Hauptmann werde ihm eklig auf den Zopf spucken, wenn so ein Nihilist ihm auch noch mit Beschwerden komme. Als Yamashiro trotzdem auf seinem Vorhaben beharrte, rief der Feldwebel: „Na warte, du Aas, wir wollen dir schon das Beschwerdeführen abgewöhnen. Wir bringen dich noch in die Strafabteilung! Wie kommst du frecher Dreckkopf überhaupt dazu, hier mit einem ungebürsteten Rock hereinzukommen. (Auf Yamashiros Schulter lag in der Tat ein weißes Fädchen.) Acht Tage lang trittst du hier jeden Abend um acht Uhr mit einem gebürsteten Rock an. 'raus!!" Den Tag darauf ließ der Herr Hauptmann den Yamashiro in das Zimmer des Feldwebels kommen. Als ein frommer und gebildeter Mann suchte der Herr Hauptmann den Gemeinen jetzt durch freundliches Zureden zu christlicher Gesinnung umzustimmen. E r sprach vom guten Ruf der Kompanie, zu dessen Erhaltung jeder beitragen müsse und an dem ihm, dem Yamashiro, doch auch liegen müsse, wenn er ein ehrliebender Kerl sei, und das sei er ja 102

doch auch im Grunde; seine freisinnigen Mucken seien ihm nun wohl vergangen, und da könne er sich des besonderen Wohlwollens seiner Vorgesetzten ja versichert halten. J a , schließlich ließ sich der Herr Hauptmann sogar zu der Bitte herab, Yamashiro solle ihm den Gefallen tun, über diese Lappahe weiter keinen Krach zu machen. Als er ihm darauf kameradschaftlich die Hand auf die Schulter legte und freundlichen Blickes fragte, ob er seine Beschwerde „also" zurückziehe, da sagte Yamashiro: „Nein, Herr Hauptmann." „Na", sagte der Hauptmann hierauf in auffallend ruhigem Tone, „die Beschwerde wird also weitergehen. Aber paß auf, mein Junge, bist du genau, dann sind wir noch'n bißchen genauer. Wundere dich also nicht, wenn wir dich von jetzt an ,tief nehmen'!" Nach zwei Tagen hatte Yamashiro das Unglück, während des Exerzierens einen interessanten Einfall zu haben, der ihn für drei Sekunden beschäftigte, und infolgedessen linksum statt rechtsum zu machen. Er war eben — was von einem Rekruten ja auch kaum zu verlangen ist — noch nicht militärisch durchgebildet und hatte deshalb zuweilen noch Einfälle. Der Herr Hauptmann verurteilte die ganze Kompanie zu einer Stunde Nachexerzieren mit dem unterstrichenen Hinweis, die Kompanie möchte sich bei dem Saukerl, dem Yamashiro, dafür bedanken. Der darauffolgende Abend auf der Stube war für Yamashiro nicht angenehm; der eine beschimpfte, der andere verspottete ihn, der dritte trat ihm absichtlich auf den Fuß, der vierte zog ihm den Schemel fort, als er sich setzen wollte, und unter dröhnendem Gelächter stürzte er zu Boden. Der gute Geist der Truppe war gegen ihn aufgebracht. Für den folgenden Sonntag wurde der ganzen Kompanie der übliche Urlaub entzogen, weil durch die Schuld dieses verfluchten Lumpen Yamashiro am Sonnabend kein ordentlicher Parademarsch vor dem Herrn Major zustande gekommen war. Wenn die Kompanie nicht eingreife, um solche Elemente zu tüchtigen und ehrenwerten Soldaten zu erziehen, dann sei eben nicht der rechte Geist in der Kompanie, und es müßten dann eben alle darunter leiden. Am Abend dieses Tages wurde Yamashiro von vier handfesten, militärisch durchgebildeten Leuten auf einen Tisch gelegt und von zwei anderen durchgeprügelt. Natürlich nahm inzwischen — bei dem ausgezeichnet geordneten Beschwerdewesen in der japanischen Armee — die Gerechtigkeit ihren geraden Lauf, und nach stramm militärischer Ordnung 9*

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ging die Beschwerde ihren Weg. Selbstverständlich wäre diese Sache auch in aller gebührenden Heimlichkeit entschieden worden, denn den militärischen Richtern war unbedingtes Vertrauen zu schenken; leider aber wurde die ganze Angelegenheit dadurch in Unordnung gebracht, daß der disziplinlose Yamashiro sich, mit Überspringung mehrerer Instanzen, an einen höheren Richter wandte, indem er sich am Sonntagmorgen nach jenem Sonnabend in der Bedürfnisanstalt erhängte. Leider konnte er wegen Nichteinhaltung des Instanzenweges nicht mehr bestraft werden. Als der Abgeordnete Kanagawa den Kriegsminister Bijatsu im Unterhaus wegen dieses Falles interpellierte, sprach der Herr Minister in humorvoller Weise etwa folgendes: „Der Abgeordnete Kanagawa ist wieder einmal ein Opfer seiner Leichtgläubigkeit geworden. Der Musketier Yamashiro war ein notorisch radikaler Mensch und ein sehr renitenter und beschwerdesüchtiger Soldat, der sich während seiner halbjährigen Dienstzeit wiederholt Disziplinarstrafen zugezogen hat. (Aha! rechts.) Von Mißhandlungen kann natürlich nicht die Rede sein, Herr Kanagawa müßte denn solche in einigen Rippenstößen und Ohrfeigen erblicken, die doch jungen Leuten, welche den schlechten Einflüssen der Partei des Herrn Kanagawa ausgesetzt waren, nur heilsam sein können und zuweilen einen überraschenden Wandel in der ,Gesinnung' herbeiführen. (Stürmische Heiterkeit rechts und Bravo!) Die Krankheit Yamashiros war nach dem Bericht der Ärzte ein leichter Unterleibstyphus. Der Verstorbene hatte sich gegen seinen Unteroffizier tätlich vergangen und machte wahrscheinlich aus Furcht vor der sicher zu gewärtigenden schweren Strafe seinem Leben ein Ende. Daß er von seinen Kameraden geprügelt wurde, will ich nicht als unmöglich hinstellen. Schlechte Elemente, die die Kompanie in Mißkredit bringen, werden eben .vertobackt*. (Langanhaltende Heiterkeit

rechts und Sehr gut!)

D a ß der Abgeordnete

Kanagawa für solche Beweise militärischer Zucht kein Verständnis hat, ist mir ja sehr begreiflich. Wenn hier und da in der Armee einmal kleine Unregelmäßigkeiten vorkommen, so werden sie streng geahndet; auf Gerechtigkeit und Ordnung beruhen die Kraft und das Ansehen der japanischen Armee, die sich allen Lügenberichten zum Trotz usw." (Stürmischer Beifall rechts.)

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Nicht wahr, lieber Jakob, das ist in dieser trostlosen Zeit doch wenigstens ein Trost, daß bei Euch in Deutschland solche Dinge unmöglich sind?! Tokio, Pfingsten 1896

Dein Clemens Knieper

D W J 1896, S. 2248-2249.

Mietkontrakt für Barmen und zum Er-Barmen § 1. Besuch darf nur mit Erlaubnis des Hauswirts empfangen werden. § 2. Jeder Mieter hat bis neun Uhr abends zu Hause zu sein, widrigenfalls er ausgesperrt wird. § 3. Niesen ist aus baupolizeilichen Gründen verboten. § 4. Die Bedürfnisanstalten sind nur in Notfällen zu benutzen. Die Erlaubnis hierzu ist mindestens 24 Stunden vorher vom Hauswirt zu erbitten. § 5. Kinder, Hunde, Kanarienvögel und ähnliches Viehzeug dürfen, selbst mit Erlaubnis des Hauswirts, nicht in die Wohnung gebracht werden. § 6. Die Mieter haben den Hauswirt und seine gesamte Familie militärisch zu grüßen. Diese Vorschrift gilt auch für Frauen und Säuglinge. § 7. Das Verlangen nach einem Hausschlüssel wird durch sofortige Exmission geahndet. § 8. Der Hauswirt darf sämtliche vermieteten Räume zu jeder Tages- und Nachtstunde besichtigen, sobald und sooft es ihm beliebt. Schlafzimmer und Mädchenkammern sind hiervon nicht ausgeschlossen. § 9. Die Miete ist pünktlich im voraus zu bezahlen und außerdem noch so oft, wie der Hauswirt Geld braucht. § 10. Wer das Haus, wenn auch nur geringfügig, beschmutzt oder beschädigt, ist verpflichtet, dem Hauswirt ein neues Haus zu kaufen. § 1 1 . Unverheiratete Mieter, sofern sie sich in günstiger Lebensstellung befinden, haben ohne Widerrede die etwaigen unversorgten Töchter ihres Hauswirts zu heiraten. Schon die Frage nach Alter oder Mitgift zieht die sofortige Exmission nach sich. § 12. Die Mieter haben nur solche Speisen zu kochen, deren Duft

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dem Hauswirt und seinen Familienmitgliedern nicht unangenehm ist. § 13. Den Frauen und Töchtern der Mieter ist es strengstens verboten, ein besseres Kleid zu tragen als die weiblichen Angehörigen des Hauswirts. SP 1898, S. 11.

Aus Bismarcks

Leben

Von unserem Spezial-Busch Wie der Siebziger Krieg entstand Der Kanzler setzte seine lange Pfeife in Brand und erzählte: „Ich hatte Friedrichsruh und den Sachsenwald gesehen, und beides gefiel mir so sehr, daß ich es gern gehabt hätte. Woher aber nehmen und nicht stehlen? Ich hatte damals gerade, wie gewöhnlich, kein Geld, und Bismarck-Spenden gab es zu jener Zeit noch nicht. Ich beschloß also, einen Krieg mit Frankreich anzuzetteln, um Friedrichsruh und den Sachsenwald nebst dem nötigen Bargeld als Nationalgeschenk zu erhalten. Als ich dem König von diesem Plan Mitteilung machte, wollte er zunächst nichts davon wissen, denn er war nun einmal in solchen Sachen etwas penibel. Ich steckte mich aber hinter den französischen Botschafter Benedetti, dem ich jährlich einige feiste Rehböcke aus dem Sachsenwald als Belohnung versprach, und — der Mann ging darauf ein. Er belästigte den König in Ems, und das Resultat war die berühmte Emser Depesche. Aber beinahe wäre die Geschichte doch noch fehlgeschlagen, denn ich hatte leider keinen Blaustift bei mir, um die Depesche zu redigieren. Glücklicherweise hatte Bucher einen, den er mir borgen mußte. So konnte der Krieg losgehen. Hätte auch Bucher keinen Blaustift gehabt, so gäbe es heute weder ein Deutsches Reich noch einen deutschen Kaiser. Ich habe dem Manne später für seine hochherzige Tat einen anderen Blaustift geschenkt, der noch nicht einmal angespitzt war." Von der deutschen Kaiserkrone Ein andermal erzählte Bismarck: „Nachdem ich einmal beschlossen hatte, ein deutsches Kaiserreich zu gründen, mußte ich auch für die entsprechende Kaiserkrone sorgen. Ich bestellte eine

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solche bei einem Frankfurter Goldschmied, der aber wohl in diesen Artikel noch nicht so recht eingearbeitet war, denn als das Dings nach Versailles kam und ausgepackt wurde, paßte es niemandem. Dem König war sie zu groß und dem Kronprinzen zu klein. Mir hätte sie gepaßt, denn ich hatte sie nach meinem Kopfmaß bestellt, aber für mich, meinte der alte Herr, sei der Kürassierhelm gut genug. Als er hinaus war, warf ich das Dings ärgerlich in die Ecke. Das muß aber wohl etwas zu heftig geschehen sein, denn die Krone kriegte davon solche Beulen, daß sie dem König nunmehr paßte, als er sie wieder aufprobierte. Infolgedessen ließ er sich nun nicht mehr länger nötigen und wurde deutscher Kaiser; ich aber war es, der ihm eigentlich die Krone geschmiedet hatte, denn ohne mich wäre sie ihm über die Ohren gerutscht." Vom Hofe Bei Gelegenheit eines Kaffeeklatsches erzählte der Kanzler einmal, natürlich unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit: „Mir tut der alte Herr recht leid, denn zu Hause hat er es nicht zum Besten. Vom Kochen versteht seine Frau absolut nichts, so daß er immer versalzene Suppen und angebrannte Gemüse zu essen kriegt. Mit der Wäsche ist es nicht besser; seine Frau drückt eben beim Waschen nicht ordentlich auf, und mit der Seife spart sie auch, so daß die Wäsche immer katergrau aussieht. D a ß die Frau weder Strümpfe stopft noch Hosenknöpfe annäht, ist nach dem Gesagten wohl selbstverständlich. Ich traf ihn kürzlich in seinem Arbeitskabinett in Unterhosen, wie er schnell etwas vor mir verbarg. D a ich wegen dieser Heimlichtuerei sogleich mit meiner Demission drohte, enthüllte er mir sein Geheimnis : Der hohe Herr hatte nämlich seine Hosen selber flicken müssen. Wo bleibt denn aber da die Liebe?" Bismarcks politische Überzeugung Bei einem parlamentarischen Bierabend gab der Fürst über seinen politischen Standpunkt folgendes zum Besten: „Ich bin eigentlich von Natur aus wütender Republikaner, aber ich kann die Republik ohne monarchische Spitze nicht leiden. A m meisten schwärme ich für den Absolutismus, gemildert durch die Konstitution. Unser Heil liegt in einer liberalen Gesetzgebung, wie sie den Bedürfnissen des Feudalismus und Junkertums entspricht. Ich bin ein begeisterter Freidenker, aber Frömmigkeit muß sein,

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weshalb ich auch den Kulturkampf begonnen habe. Vom Partikularismus mag ich nichts wissen, denn er schädigt das Preußent u m , und mein P o m m e r n geht mir nun einmal über alles. Ich würde sogar Sozialdemokrat werden, wenn sich diese Partei entschließen könnte, gut königstreu und w a h r h a f t kapitalistenfreundlich zu werden. So aber bleibt mir weiter nichts übrig, als unter die Antisemiten zu gehen und mich mit den J u d e n möglichst gut zu stellen." Das Sozialistengesetz Über diesen Gegenstand ließ sich der Kanzler bei Tische einmal folgendermaßen a u s : „Dieses Gesetz war mir in tiefster Seele zuwider, aber der Reichstag wollte es haben, und so ist es mir von ihm gegen meinen Willen aufgezwungen worden. Zwar habe ich den Reichstag aufgelöst, weil er es nicht bewilligen wollte, das geschah aber nur, u m den Reichstag gegen seine Wähler zu decken, denn die schlechten Kerle h ä t t e n sonst womöglich überh a u p t keinen Reichstag wieder gewählt. Damit aber wäre eine Grundsäule der Verfassung geborsten gewesen, und u m die Verfassung nicht in so schwerer Weise zu schädigen, habe ich die verfassungsmäßige Rechtsgleichheit aufgehoben u n d durch ein Ausnahmegesetz ersetzt. Später aber gewöhnte ich mich so sehr daran, daß ich es gar nicht wieder hergeben wollte, denn der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier und gewöhnt sich an alles." Bismarcks Rücktritt Über dieses Thema pflegte der Fürst nicht gern zu sprechen, aber mitunter t a t er es doch. So sagte er einmal nach dem zehnten K o g n a k : „Ich wußte, d a ß der Kaiser gern sein eigner Kanzler sein wollte, und dieser Wunsch war mir Befehl, den ich dann auch auf das strikteste ausführte. Schon a m Tage seines Regierungsantritts h a t t e ich mein Rücktrittsgesuch fix u n d fertig in der Tasche, aber diese Tasche befand sich leider in einem Rock, den ich zu Hause gelassen hatte. Ich habe diesen Rock nie wieder angezogen, und so k a m es, d a ß ich nie Gelegenheit h a t t e , dieses Gesuch zu übergeben. Um so mehr überraschte es mich, als ich plötzlich einen Tritt in den Rücken kriegte, denn ein solcher . R ü c k t r i t t ' war entschieden nicht nach meinem Geschmack. Ich setzte mich auf die Hinterbeine, aber es ließ sich nichts mehr dagegen tun, und so k a m ich denn dem Kaiser zuvor und be108

gehrte trotzig meine Entlassung. Der Kaiser war über diesen Entschluß tief betrübt und schrieb unter das Entlassungsgesuch jenes berühmte .Niemals!', aber schließlich mußte er sich doch meinem eisernen Willen beugen und selber regieren." SP 1898, S. 186.

Die neue deutsche Reichskunst Die trostlosen Zustände auf dem Gebiet des Kunstschaffens erfordern dringend Abhilfe. Eine wahre Anarchie ist eingerissen; sogenannte moderne, sezessionistische, naturalistische, symbolistische und sonstige umstürzlerische Tendenzen machen sich geltend. Das kommt daher, daß das künstlerische Schaffen nicht staatlich organisiert, sondern dem Gutdünken und der Willkür unreifer und unlauterer Elemente überlassen ist. Hier muß ein Wandel eintreten. Die gesamte Künstlerschaft muß eine Organisation nach militärischem Muster erhalten. Es werden Dichter-, Maler-, Bildhauer-, Musikerkorps gebildet, an deren Spitze pensionierte Offiziere stehen, die sich durch einen Schnellkursus bei Lauff, Begas, Werner usf. die nötige Befähigung erworben haben. Alle Künstler haben ihre Werke ihren Vorgesetzten zur Prüfung vorzulegen; von diesen werden sie, falls sie den offiziellen Vorschriften entsprechen, gestempelt und damit für die Öffentlichkeit approbiert. Nicht approbierte Kunsterzeugnisse dürfen bei Strafe nicht veröffentlicht werden. Solche Künstler, die sich die Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten erwerben, werden befördert; zunächst werden sie Kunstgefreite, später erhalten sie entsprechend höhere Chargen. Den gewöhnlichen Abschluß ihrer Karriere bildet die Ernennung zum Kunstfeldwebel. Doch ist es der höchsten Stelle vorbehalten, einzelne besonders bewährte Kräfte zu Kunstoffizieren zu ernennen. Jede Betätigung modernanarchistischer Kunstbestrebungen ist verboten und wird eventuell bestraft. Zunächst mit Verwarnungen, dann mit Geld- und Haftstrafen. In besonders schweren Fällen tritt zugleich Degradation (Versetzung in die zweite Klasse des Künstlerstandes) oder auch Entziehung der Konzession ein. Wir sind überzeugt, daß auf diese Weise sich eine durchgreifende Besserung erzielen und das Kunstschaffen in moralischem und staatserhaltendem Sinne fruchtbar gemacht werden kann. DWJ »903, S. 4115.

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Die japanischen Stürme auf Port Arthur Von unserem eigenen Russen-Aufbinder Derselbe schreibt uns unterm 22. August aus Liaujang: Am 16. Juli machten die Japaner verzweifelte Anstrengungen, die Festung zu nehmen. Zu Hunderttausenden gingen sie in den Tod, um den Widerstand der Verteidiger zu brechen. Sieben wütende Angriffe auf den Japilasu zerschellten wie faule Eier an dem harten Schädel eines ausgepfiffenen Schauspielers. Fünf Angriffe auf die Grünen Berge wurden mit solcher Gewalt zurückgeschlagen, daß es zum Stiefelausziehen war, indem die Japaner in wilder Flucht nicht nur Gewehre und Patronentaschen fortwarfen, sondern auch die Stiefel von den Füßen zogen, um schneller laufen zu können. Auf einem einzigen Quadratmeter blieben allein 20000 tote und verwundete Japaner, die sofort durch etliche Millionen neuer Truppen ersetzt wurden. Am 27. Juli erfolgten summa summarum zehn Angriffe in so erbitterter Weise, daß die Verteidiger während des ganzen Kampfes nicht einmal Zeit hatten, auch nur einen einzigen Schluck aus der Schnapsflasche zu nehmen oder zur Mutter Gottes von Kasan zu beten. Am 16. Juli waren die Japaner so siegessicher, daß sie nicht nur die Siegestelegramme gedruckt in der Tasche hatten, sondern auch bereits die Mandschurei und Korea von ihren Truppen entblößten, weil sie den Krieg für beendet hielten. Am 20. Juli nachts zwei Uhr rückten sie aber schon wieder mit 600000 Mann gegen einen einzelnen Vorposten an, der sie so lange in Schach hielt, bis aus Rußland frische Verstärkungen eintrafen. Von den Angreifern wurden mindestens fünf Viertel vernichtet, die anderen fuhren vor Angst aus der Haut, um schneller flüchten zu können. Überhaupt soll der bisherige Verlust der Japaner vor Port Arthur, schlecht gerechnet, fünf bis sechs Millionen betragen, ohne die Lahmen und Zerquetschten. Am tapfersten ist auf russischer Seite der General Fock. Derselbe hat sich jetzt in dreißig Teile zerteilt, von denen immer zwanzig in den einzelnen Forts tätig sind, während das letzte Drittel ausruht, so daß der Held also ununterbrochen, bei Tag und Nacht, auf zwanzig verschiedenen Positionen kämpfen kann. Am 16. Juli gerieten sechs feindliche Armeekorps, nebst etlichen Landpanzerschiffen, auf Flatterminen und wurden samt und sonders in die Luft gesprengt. Der Feuerschein war zehnmal so groß wie beim Ausbruch des

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Mont Pelee. In Petersburg zersplitterten von dem Luftdruck die Fenster des Winterpalastes, und ein Granitsplitter zerschmetterte noch nach zirka drei Wochen den Minister Plehwe. Auch auf dem Mond und den nächstgelegenen Himmelskörpern wurden massenhafte Überreste zerfetzter Japaner gefunden. Der Feind ließ so zahlreiche Gewehre und Patronen zurück, daß die Belagerten noch für etliche Jahrhunderte reichlich damit versehen sind. Am 8. August hatten die Japaner auf den Wolfsbergen etliche tausend Belagerungsgeschütze, deren Wirkung geradezu entsetzlich war. Ihre Geschosse verursachten beim Aufschlagen große Trichter von weitem Durchmesser, die aber von unseren Truppen sofort ausgegraben und nach Nürnberg geschickt wurden. Einen derselben lege ich hiermit der verehrten Redaktion bei, für den Fall, daß sie die wahrheitsgemäßen Angaben dieses Berichts nicht kapieren sollte. SP 1904, S. 147.

Vom Neger, der auszog, sein Recht zu suchen Es war einmal ein Neger. Der ging zum weißen Mann, weil der ihm seine beste Kuh gestohlen hatte, und forderte sie wieder. Er wurde hinausgeworfen. Darauf ging er zur Polizei. Die nahm ihn fest und sperrte ihn vierzehn Tage ins Loch, weil der weiße Mann derweil angezeigt hatte, daß er ihn um eine Kuh angebettelt hätte. Als der Neger wieder herauskam, beschwerte er sich bei der vorgesetzten Behörde und wurde postwendend wieder hinausgeworfen. Darauf ging er höher und höher, sogar nach Europa, bekam aber nirgends recht, sondern im ganzen zwölf Jahre Gefängnis. Aber da zufällig ein großes Gedenkfest war, erließ man sie ihm gnadenhalber, sonst hätte er rettungslos brummen müssen. Man tat noch ein übriges und schickte ihn zum lieben Gott, da bekäme er sicher recht. Der Neger wollte aber nicht hin, denn er meinte, wenn es hier unten schon so sei . . . Und ging heim in sein Kaff. Da führte ihn seine Frau vor das alte Mausergewehr, das an der Wand lehnte.

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E r grinste, verstand und knallte den weißen Mann nieder. Da hatte er recht! DWJ 1906, S. 4940.

Cri-Cri. 560 Millionen

Rebbach

Aus einer ungehaltenen Rede vom Bankiertag in Hamburg „. . . Kriegsbereitschaft, meine Herren, ist ein Ding, aufs innigste zu wünschen nicht nur für den Staat, von dem wir Bankiers mit Ludwig X I V . sagen können: L'état c'est nous, sondern auch für uns, die wir in solchem Falle dem Staate, das heißt uns selber, das Geld vorstrecken, natürlich gegen gute Zinsen, die in unsere oder, was dasselbe besagen will, in des Staates Kasse fließen. Und woher kommen diese Zinsen? Wer zahlt sie? Natürlich wieder der Staat, dem wir auch die Zinsen für die Zinsen borgen, natürlich wieder gegen gute Zinsen, die wieder in unsere Taschen fließen oder, was dasselbe heißt, in die Staatskasse. Sie sehen hier also, meine Herren, aufs deutlichste den circulus vitiosus des Kapitals. Gläubiger und Schuldner sind eins. Der Gerichtsvollzieher ist zugleich der Gepfändete. Der Wucherer wird zum Opfer seiner selbstlosen Wohltätigkeit. Der Bestohlene ist zugleich der Dieb, und der Betrogene genießt die Früchte des an ihm verübten Betrugs. Möchte daher so bald wie möglich der Herr der Heerscharen ein Einsehen haben und uns einen frischfrei-fröhlichen Krieg senden! Einen Krieg zu Wasser und zu Lande und hoch oben in der Luft, mit recht vielen Toten und Verwundeten und einer Unzahl von zerstörten Städten und Dörfern, Eisenbahnen, Telegrafen und vernichteten Wunderwerken der Technik und der Kunst ! Welch erhabene nationale Perspektive für den wahren Patrioten, der in aller Herren Länder zu Hause ist ! Welche glänzenden Aussichten für den internationalen Geldmarkt, der kein Opfer scheut, um hüben und drüben die nationale Begeisterung und den Haß gegen den Erbfeind bis zur Siedehitze zu entflammen und die beiderseitige Hingabe an das vom Feind bedrohte Vaterland und den Heldentod auf dem Felde der Ehre als das erhabene Ideal des Staatsbürgers und die Vernichtung des Gegners und den Massen112

mord auf Erden, auf dem Wasser und in der Luft als das höchste Gebot der christlichen Liebe zu feiern! Denken Sie doch, meine Herren: Zwanzig Millionen verpulvertes Kapital pro Tag bei jeder der beiden sich bekriegenden Parteien! Das macht im ganzen täglich vierzig Millionen Minimum! Pro Jahr vierzehn Milliarden, die wir aufzubringen haben! Das macht, zu nur vier Prozent gerechnet, 560 Millionen Rebbach an jährlichen Zinsen! Bedenken Sie, meine Herren, 560 Millionen jährlicher Reingewinn für uns Großbankiers! Und da behaupte noch einer, daß solch ein Krieg nicht eine nationale Notwendigkeit, ein patriotisches Ideal, eine Kulturtat ersten Ranges sei! 560 Millionen Rebbach Jahr für Jahr in unsere Tasche! Müssen wir da nicht von Herzen wünschen, daß es bald losgehe und recht lange dauere?! Wer siegen wird, das steht in Gottes Hand. Er wird wissen, auf wessen Seite das Unrecht ist. Uns geht diese religiöse Frage nichts an. Daß wir keine Schuld haben, daß an unseren Händen kein Unrecht klebt, geht schon daraus hervor, daß wir in jedem Fall unser Geschäft machen. Siegt Deutschland — gut! So haben wir es durch unsere finanzielle Unterstützung gerettet. Wird Deutschland geschlagen — auch gut! So zahlen wir als gute Patrioten die Kriegsentschädigung und werden seine ewigen Gläubiger. 560 Millionen Rebbach Jahr für Jahr — wem da das Herz nicht überfließt vor Liebe zu unserem engeren und weiteren Vaterland, vor Liebe zu unserer herrlichen Armee, zu unserer prächtigen Flotte und zu unseren glorreichen Luftschiffen, der verdient nicht, ein deutscher Bankier zu heißen. Darum fordere ich Sie auf, meine Herren, mit mir einzustimmen in das Hoch auf unseren allergnädigsten . . . " D W J 1907, S. 5572.

Kaiser und Kanzler Ein glücklicher Zufall führte uns das amtliche Aktenstück über das Zwiegespräch zu, das zwischen Wilhelm II. und Herrn v. Bethmann-Hollweg am Tage der Übernahme der Kanzlerschaft geführt wurde. Die Aussprache fand bekanntlich im Hinund Herwandeln auf der Terrasse des Berliner Schlosses statt. Um die Protokollierung der hochwichtigen Staatsaktion zu er-

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möglichen, mußten einige Stenographen in Abständen von etwa zehn Metern hinter dem Buschwerk postiert werden. Leider erwiesen sich die Abstände aber als zu groß. V o n den Worten des Kaisers, der, wie immer, sehr schnell sprach, ging einiges verloren. Doch ließ sich der Zusammenhang nicht unschwer herstellen. Die authentischen Worte des Kaisers sind durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Die Äußerungen des neugebackenen Reichskanzlers konnten glücklicherweise ganz lückenlos aufgezeichnet werden. Der Kaiser begrüßte den Kanzler mit freundlichem Händedruck und forderte ihn auf, ihm freimütig seine Meinung über die innere und äußere Lage mitzuteilen. E r lege Wert darauf, zu hören, nach welchen Grundsätzen Herr v. Bethmann das Kanzleramt führen wolle. Zunächst möge er sich über die seit November vergangene, öfter in der Presse behandelte Frage der Verfassungsreform äußern. DER KANZLER: „Eure Majestät wollen mir gütigst gestatten, in dieser Hinsicht folgendes zu bemerken . . . " DER KAISER (lebhaft einfallend): „Wie einst der erste König von Preußen sagte, e x mea nata Corona (meine Krone habe ich mir selbst geschaffen), und sein großer Sohn seine Autorität als einen rocher de bronce (ehernen Fels) stabilierte, so vertrete auch ich gleich meinem kaiserlichen Großvater das K ö n i g t u m aus Gottes Gnaden . . . Einer nur ist Herr im Reich, keinen anderen dulde ich . . . Suprema lex regis voluntas (Des Königs Wille ist das höchste Gesetz) . . . Nemo me impune lacessit (Niemand reizt mich ungestraft) . . . Oderint dum metuant (Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten)." Plötzlich abbrechend, ersuchte er sodann Herrn v. Bethmann, sich über die innezuhaltende allgemeine Richtung der Politik zu äußern. DER KANZLER: „Der Aufforderung Eurer kaiserlichen und königlichen Majestät folgend . . . " DER KAISER (lebhaft einfallend): „Mein K u r s ist der richtige, und er wird weiter gesteuert . . . Z u Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen . . . Schwarzseher dulde ich nicht . . . " Plötzüch abbrechend, forderte der Kaiser den Reichskanzler alsdann auf, ihm seine Meinung über die Behandlung der Sozialdemokratie darzulegen. DER KANZLER : „In bezug darauf erlaube ich mir gehorsamst. . ."

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DER KAISER (lebhaft einfallend): „Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich . . . Wir werden nicht nachlassen im K a m p f e , um unser Land von dieser Krankheit zu befreien, die nicht nur unser Volk durchseucht, sondern auch das Familienleben, vor allen Dingen aber das Heiligste, was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu erschüttern trachtet" . . . Diese „vaterlandslosen Feinde der göttlichen Weltordnung", diese „ R o t t e von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen", müssen „ausgerottet werden bis auf den letzten Stumpf . . . Die Sozialdemokratie betrachte ich als eine vorübergehende Erscheinung; sie wird sich austoben . . . " Plötzlich abbrechend, wünschte der Kaiser hierauf die Ansichten des neuen Reichskanzlers über die Wirtschaftspolitik zu hören. DER KANZLER: „In dieser Hinsicht möge mir vergönnt sein, Eurer Majestät folgendes zu unterbreiten . . ." DER KAISER (lebhaft einfallend): „Ich glaube, d a ß die T a t , die durch Einleitung und Abschluß der Handelsverträge von 1891 für alle Mit- und Nachwelt als eines der bedeutendsten geschichtlichen Ereignisse dastehen wird, geradezu eine rettende zu nennen ist . . . Kein Stand darf beanspruchen, auf Kosten der anderen besonders bevorzugt zu werden . . . Sie können mir nicht zumuten, daß ich Korn wucher treibe . . . " Plötzlich abbrechend — was wir gerade bei diesem P u n k t lebhaft bedauern —, ersuchte er sodann den Kanzler um eine Meinungsäußerung über die auswärtige Politik. DER KANZLER: „Majestät dürfen versichert sein . . ." DER KAISER (lebhaft einfallend): „Ich weiß wohl, daß im großen Publikum und speziell im Auslande mir leichtsinnige, nach R u h m lüsterne Kriegsgedanken imputiert werden. Gott bewahre mich vor solch verbrecherischem Leichtsinn . . . Ich habe mir gelobt, auf Grund meiner Erfahrungen aus der Geschichte, niemals nach einer öden Weltherrschaft zu streben . . . Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe. Aber der Ozean beweist auch, daß auf ihm in der Ferne, jenseits von ihm, ohne Deutschland und ohne den deutschen Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf . . . Der Dreizack gehört in unsere Faust . . . W o der deutsche A a r Besitz ergriffen und die Krallen in ein Land hineingesetzt hat, das ist deutsch und wird deutsch bleiben . . ." Plötzlich abbrechend, fragte der Kaiser den Kanzler dann, ob man nicht die jungtürkische Regierung ersuchen solle, den Ehrensäbel, den er seinerzeit „seinem Freunde A b d u l H a m i d " verehrt

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habe, zurückzugeben. Auch möge ihm der Kanzler doch eingehend seine Auffassung über die Beziehungen zu Rußland und den Besuch des Zaren auseinandersetzen. DER KANZLER: „Wenn Eure kaiserliche und königliche Majestät mir gnädigst gestatten wollen, meine Meinung darüber vorzutragen, so . . DER KAISER

(lebhaft einfallend):

„ U n s e r N a c h b a r i m Osten, ein

lieber und getreuer Freund von mir, hat dieselben politischen Ansichten wie ich . . . Sein gütiges, warmes Herz schlägt für seine, wenn auch noch so entfernten, Untertanen . . ." Der Kaiser verlas dann folgenden Entwurf einer Ansprache zur Begrüßung des Zaren und der Zarin bei dem damals noch bevorstehenden Besuch: „Gestatten Eure Majestät, daß ich meinen herzlichsten und innigsten D a n k Euren Majestäten zu Füßen lege für den würdevollen Besuch, den Sie beide mir heute abstatten . . . Der Jubel, der aus Breslau* Eurer Majestät entgegengeschlagen ist, ist ihr Dolmetscher der Gefühle, nicht nur der Stadt, nicht nur der Provinz, sondern meines gesamten Volkes. E s begrüßt in Eurer Majestät den Träger alter Tradition, den Hort des Friedens . . . Die Gefühle, die wir und unser ganzes Volk für Eure Majestät hegen, darf ich zusammenfassen in dem R u f : Gott segne, schütze und erhalte Eure Majestät zum Wohle Europas!" Plötzlich abbrechend, reichte der Kaiser dem Kanzler die Hand zum Abschied, indem er seiner Freude darüber Ausdruck gab, daß dessen Auffassungen sich so ganz mit den seinigen deckten. Herr v. Bethmann verbeugte sich schweigend und zog sich zurück, tief gerührt von der gnädigen Gesinnung seines hohen Herrn. * Das ist offenbar ein Hörfehler des Stenographen; sollte wohl Kiel heißen. D W J 1909, S. 6342-6343.

Lucian Die Gerechtigkeit Strafkammer. Fünf Richter, der Staatsanwalt, der Gerichtsschreiber. A u i der Anklagebank ein schmächtiges, verhutzeltes Männchen mit einem Verband am Hinterkopf. Friedrich Wilhelm Maier wird

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er aufgerufen. Anklage: Einfacher Landfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Friedrich Wilhelm Maier sinkt, wenn möglich, noch mehr in sich zusammen, als ihm seine Straftat vorgehalten wird. Einen Augenblick mustern ihn Staatsanwalt und Richter neugierig, aber kalt. Dann blättert der Vorsitzende eine kleine Weile in den Akten und beginnt die Vernehmung: „Sie haben am Sonntag, dem 20. Februar, an der sogenannten Wahlrechtsdemonstration teilgenommen, an sich schon mindestens grober Unfug, haben mit einer Menschenmenge ohne polizeiliche Genehmigung mehrere Straßen der Stadt durchzogen unter dem bei diesen pöbelhaften Unternehmungen üblichen Lärm, haben mit einem halben Ziegelstein nach den in Ausübung ihres Amtes befindlichen königlichen Schutzleuten geworfen und sich dann, als zu Ihrer Verhaftung geschritten werden mußte, widersetzt, den Schutzmann Plempowski in die Hand gebissen und dem Schutzmann Bietendüwel die linke Wange zerkratzt; unterwegs nach der Wache haben Sie sich losgerissen und abermals Widerstand geleistet, indem Sie den inzwischen hinzugekommenen Wachtmeister Patzig durch einen Fußtritt am Schienbein erheblich verletzten. Was haben Sie dazu zu sagen, Angeklagter?" Das Häufchen Unglück auf der Anklagebank ist fast zu nichts zusammengeschrumpft. In einem merkwürdig unnatürlichen Ton wimmert es durch den Saal: „I-i-ich bin ja gar ni-i-icht dab-b-b-bei gewesen; i-i-ich wollte vom Ba-ba-barbier in meine Wohnung gehen und beka-ka-kam einen S-s-s-säbelhieb und wurde nach dem S-s-s-spital gebracht." Streng blickt der Vorsitzende den armen Sünder an; man kennt das! Unschuldig sind sie alle, diese Sozialdemokraten, wenn sie erst vor Gericht stehen. Sonst haben sie natürlich das große Maul, halten Reden, wollen Thron und Altar umstürzen, die Richter umbringen und die Polizisten ins Zuchthaus stecken. J a , man kennt das. Von den vier beisitzenden Richtern verfolgt einer mit gespanntem Interesse die Exolutionen einer halblahmen Fliege am Fenster, der zweite unterzeichnet unablässig Akten, die in einem hohen Stoß vor ihm liegen, die anderen beiden dämmern halb schlafend vor sich hin, denn sie sind Junggesellen und haben sich in höchst animierter Gesellschaft die vergangene Nacht um die Ohren geschlagen. 10

Prouutire

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„Sie leugnen also die Ihnen zur Last gelegten Straftaten?" herrscht der Vorsitzende den Angeklagten an. „I-i-ich war beim Ba-ba-barbier und wollte . . . " „Sie leugnen also?! Gut, wir werden die Zeugen hören. Gerichtsdiener, rufen Sie den Zeugen Plempowski herein!" Der Gerichtsdiener bleibt merkwürdigerweise ruhig stehen und sucht durch Zeichen den Vorsitzenden auf den neben ihm stehenden Schreiber aus der Kanzlei aufmerksam zu machen. Des Schreibers Gesicht ist hoch gerötet, und große Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Der Vorsitzende sieht die Gestikulation des Gerichtsdieners, runzelt mißbilligend die Stirn und wiederholt in strengem Ton: „Gerichtsdiener, rufen Sie den Zeugen Plempowski herein!" Im nächsten Augenblick tritt der Schutzmann Plempowski ein, salutiert militärisch, tritt laut trappend drei Schritte vor und steht stramm. „Zeuge Plempowski, haben Sie den Angeklagten am 20. Februar in der demonstrierenden Menschenmenge gesehen?" „Zu Befehl, Herrrr Richterrrr!" „Antworten Sie mit J a oder Nein! Wir sind hier nicht auf dem Exerzierplatz. Also, haben Sie den Angeklagten an dem bewußten Tag unter den Demonstranten gesehen?" „Jawoll, Herrrr Richterrrr! War sich in vorderstes Reihe!" „Haben Sie ihn gesehen Steine werfen?" „Jawoll, hat sich gewerfft mit Klamotten." „Waren Sie an seiner Verhaftung beteiligt?" „Jawoll!" „Hat er Widerstand geleistet?" „Jawoll, hat sich gebissen in meinerrr Hand." Der Vorsitzende schaut wieder strafend den Gerichtsdiener an, der abermals mit den Fingern, ja mit den ganzen Armen aufgeregt telegrafiert und die Aufmerksamkeit auf den immer noch neben ihm stehenden Schreiber lenken möchte. Der ernste, drohende Blick des Richters bringt ihn aber sofort zur Ruhe. Die Vernehmung der Zeugen wird fortgesetzt. Schutzmann Plempowski beendigt seine genau mit der Anklage übereinstimmende Aussage, Schutzmann Bietendüwel schildert die Vorgänge in allen Einzelheiten mit amtlicher Bestimmtheit, Wachmeister Patzig gibt überdies von höheren politischen Gesichtspunkten aus eine plastische Darstellung des gefährlichen Landfriedensbruchs, der in eine offene Revolution umzuschlagen drohte. 118

Von dem Angeklagten Friedrich Wilhelm Maier ist fast nichts mehr zu sehen. Offenbar aus Scham hat er sich beinahe dematerialisiert, ein umgekehrtes Spiritistenphänomen. Nur als der Staatsanwalt ohne eigentliches Plädoyer, lediglich mit dem Hinweis auf das notwendige abschreckende Exempel, fünfzehn Monate Gefängnis beantragt, fährt er jäh in die Höhe und stottert wieder etwas vom „Barbier". Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück, kehrt nach zwei Minuten wieder, und der Vorsitzende verkündet das Urteil: anderthalb Jahre Gefängnis. Jetzt ist von Friedrich Wilhelm Maier gar nichts mehr zu sehen, es wimmert nur noch von der Anklagebank her. Aber ein handfester Polizist macht auch dem ein Ende, indem er den Delinquenten unter den Arm nimmt und abgeht. „Der nächste Fall: Meyer!" ruft der Vorsitzende. Aber nun drängt der Gerichtsdiener bis zum Richtertisch, trotz alles Stirnrunzeins. „Herr Direktor, eine unglückliche Verwechslung! Der Meyer, der jetzt kommen soll, wird wohl der Schuldige sein und das begangen haben, weshalb der Maier verurteilt worden ist. Der Maier ist aus dem Spital heraus, wo er sich verbinden ließ, verhaftet worden, weil alle Verwundeten verhaftet worden sind. Der Schreiber des Untersuchungsrichters hat Maier mit Meyer verwechselt . . . " Der Gerichtshof zieht sich abermals zurück. Der Staatsanwalt wird auch ins Beratungszimmer gerufen, ebenso der Gerichtsschreiber. Der eine Beisitzer, der immer Akten unterzeichnet hatte, ist sehr erregt: „Schöne Geschichte! Wenn man sich nicht einmal mehr auf die Schreiber verlassen kann." Der andere Beisitzer, der Fliegenbeobachter, findet es komisch, daß die Schutzleute die Personenverwechslung nicht gemerkt haben. Der Staatsanwalt meint aber, der Diensteifer erkläre solche kleinen Fehler. Was nun aber zu machen sei, fragt einer der fidelen Junggesellen. „ J a , die Sache ist schlimm", sagt schließlich der Herr Landgerichtsdirektor, „aber ohne Bloßstellung von Polizei und Justiz nicht mehr zu redressieren. Das beste ist, der Herr Staatsanwalt legt Berufung ein, und dann sprechen wir den Maier frei." Der Staatsanwalt nickt zustimmend; die Beisitzer murmeln: „Beste Lösung! Ausgezeichnet! J a , der Herr Direktor!" SP 1910, S. 50.

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T. Damit so was nicht wieder passiert Die Berliner Polizei hat der Sozialdemokratie bekanntlich noch bis Sonntag mittag geglaubt, daß sie nach Treptow Spazierengehen würde; die Berliner Polizei hat daraufhin Treptow besetzt, und nachher ist die Sozialdemokratie ganz einfach wortbrüchig geworden und gegen alle Verabredung im Tiergarten spazierengegangen. Wir finden das nicht bloß kolossal rücksichtslos, sondern zugleich auch schädlich für die polizeiliche Autorität. Denn die Polizei fällt an und für sich schon oft genug von selber hinein, so daß es direkt eine große Gemeinheit ist, wenn sie nun auch noch von anderen Leuten systematisch und mit Vorbedacht hineingelegt wird. Wir erlauben uns also, ihr einige Winke mit dem Zaunpfahl für die nächste Zukunft zu geben. Also: Unser Parteisachverständiger für Polizeipsychologie hat in geheimer Sitzung erklärt, daß es zweifellos das nächste Mal noch genüge, eine Demonstration im Tiergarten anzukündigen, um die Polizei dann prompt den Tiergarten besetzen zu sehen, während man selber ungestört nach Treptow gehen könne. Von da ab werde die Geschichte aber schon bedeutend verwickelter. — Für das dritte Mal empfehle es sich, gleich von vornherein das Richtige zu sagen, nämlich Treptow! Die Polizei werde das auf keinen Fall glauben, zumal ja doch wieder der Tiergarten an der Reihe sei, und werde todsicher den Tiergarten beschützen. Beim vierten Mal könne man dann ganz einfach genau denselben Trick zum zweiten Mal ausführen, was selbst dem größten Polizeigenie nicht einleuchten werde; und beim fünften Mal endlich, wo allerdings wohl glatt darauf zu schwören sei, daß die ärgerlich gewordene Polizei sich nunmehr mit sämtlichen überhaupt existierenden Mannschaften gleichzeitig nicht bloß im Tiergarten, sondern auch in Treptow einstellen werde, könne man dann ja zur Abwechslung mal ganz woandershin Spazierengehen. Wohin — das wollen wir Herrn v. Jagow aber doch lieber nicht verraten! Denn das soll eine ganz gediegene Überraschung werden. SP 1910, S. 52. 120

„Von unten auf" Ein Stündchen beim Zensor ZENSOR : Also, Sie haben wieder was zum Konfiszieren und Verklagen entdeckt? ASSESSOR EIFRIG: Jawohl, und zwar ein Konglomerat von Vergehen und Verbrechen. Hier dies B u c h ! ZENSOR (liest den Titel): „ V o n unten auf". Das ist gewiß eine Anweisung, wie man Karriere macht? ASSESSOR: Nein. E s ist eine Gedichtsammlung. ZENSOR : Das ist schon faul! ASSESSOR: E s ist ein direkt staatsgefährliches Buch. ZENSOR : B r a v o ! So was suchen wir ja schon lange. ASSESSOR: Zunächst wäre das Lied „Bet* und a r b e i t ' " zu erwähnen, das die Strophe enthält: Alle Räder stehen still, Wenn dein starker A r m es will. ZENSOR: Hören Sie auf! Das geht ja auf den englischen Streik. Beleidigung einer befreundeten Macht! Ganz unmöglich! ASSESSOR: Dann ist hier eins, das die Zeile enthält: „ K e i n R e c h t soll gelten ohne Pflichten." ZENSOR: Haha! D a s wäre! Nee, was diese Leute für ungesunde Lebensanschauungen haben. Nicht wahr, Assessorchen? ASSESSOR: „Aufreizung zum Klassenhaß." ZENSOR: Natürlich. Beinahe „Majestätsbeleidigung", wie? ASSESSOR: Man könnte sie mit Hilfe des dolus eventuaüs herleiten. ZENSOR (reibt sich die Hände): Machen wir! Nur weiter! ASSESSOR: Und hier ist etwas von Goethe. A u s dem „ F a u s t " . ZENSOR (nachdenkend): „ F a u s t " ? Ist das nicht das unanständige Stück mit der Verführung des — äh —. ASSESSOR: G r e t c h e n .

ZENSOR: Ganz recht, Gretchen. Muß übrigens 'n nettes Mädchen gewesen sein, nich? Militärfromm, hihi. ASSESSOR (lacht pflichtschuldigst mit). ZENSOR (wieder streng): So was tut man wohl, aber so was schreibt man doch n i c h t . . . Sehr tüchtig, daß Sie das inkriminiert haben! Wollte schon längst 'n paar Pornographen am Schlafittchen kriegen. „Verbreitung unzüchtiger Schriften", he? ASSESSOR: In diesem Fall - es handelt sich um Faust II. — etwas Schlimmeres: „Verächtlichmachung öffentlicher Einrichtungen". 121

ZENSOR: A u c h g u t ! A u c h g u t ! Sogar noch besser, bei moralischen K a m p a g n e n blamiert man sich zu leicht. ASSESSOR: U n d dann ist hier ein Gedicht v o n G . A . B ü r g e r : „ D e r B a u e r an seinen durchlauchtigsten T y r a n n ! " ZENSOR: A b e r das ist j a eine g a n z vernünftige A n s c h a u u n g ! D e r Mann m u ß Ehrenmitglied v o m B u n d der L a n d w i r t e werden, wenn er es nicht schon ist. ASSESSOR: E r ist es bestimmt nicht. Denn er ist schon 1794 gestorben. ZENSOR: Schade! Ich h ä t t e ihn sonst befürwortet. N u n , und das Gedicht? ASSESSOR: E s enthält Zeilen wie diese: D u Fürst hast nicht bei E g g ' und P f l u g , H a s t nicht den E r n t e t a g durchschwitzt. Mein, mein ist Fleiß und B r o t ! ZENSOR: N a , das ist doch - ? D a soll doch - ! H a t der Mensch denn nie von „gottgewollten A b h ä n g i g k e i t e n " gehört? ASSESSOR: Wahrscheinlich nicht. U n d dann ist hier ein A u s z u g aus Schillers „ W i l h e l m T e i l " , der zu G e w a l t t ä t i g k e i t gegen die Obrigkeit, die er „ T y r a n n e n m a c h t " nennt, auffordert. ZENSOR: „ T e i l " ?

Sagen Sie mal, ist das nicht ein

Schweizer

Stück? ASSESSOR: Jawohl. ZENSOR: A b e r das ist doch unerhört! So was z u schreiben, w o M a j e s t ä t bald dorthin reisen will! Anarchismus! Nihilismus! Machen Sie der Schweizer Kriminalpolizei Mitteilung! F o r d e r t er z u m Bombenschmeißen a u f ? ASSESSOR: Zunächst nur d a z u , das Schwert zu ergreifen. ZENSOR: Zeigen Sie her! (liest)-. Ich bin das Schwert. Ich bin die F l a m m e — ASSESSOR: P a r d o n ! D a s ist aber ein Gedicht v o n Heine. ZENSOR: Gedicht? A b e r es reimt sich j a gar nicht. ASSESSOR: E r nennt es einen H y m n u s . ZENSOR (mißtrauisch):

H y m n u s ? H m . Übrigens: Heine? Sagen

Sie mal, ist das nicht der Onkel aus K o r f u ? ASSESSOR: D e n S. M. rausgeworfen h a t ! Sehr

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richtig!

Also werfen wir ihn auch 'raus. (Lacht furchtbar über Was für Kerle sind denn da noch drin? ASSESSOR: Herder, Hebbel, Chamisso, Eichendorff, Keller, Uhland. ZENSOR : Die Leute kommen mir so bekannt vor. — Und alles politische Verbrecher? ASSESSOR: Mehr oder minder. Z E N S O R : Und diese Bilder! (Er nimmt wieder das Buch zur Hand.) Diese Bilder! Lauter Aufreizungen zum Widerstand gegen die Staatsgewalt. „Erschießung von Aufständischen" von Goya. Was ist das für ein Kerl? ASSESSOR: Ich weiß nicht. ZENSOR: Wird wohl Zeichner am „Wahren Jakob" sein. Jedenfalls ein ganz respektloser Mensch. Ein gutgesinnter Maler malt in solchem Falle einen Glorienschein über die Soldaten, die so heroisch ihre Pflicht tun. Und was ist das hier? ASSESSOR: „Titanenkampf" von Klinger. ZENSOR: Ist wohl dasselbe wie „Tyrannenkampf"? Weg damit! ASSESSOR : Und hier ist das „Eisenwalzwerk" von Menzel. ZENSOR: Menzel? Hat der nicht die Bilder vom alten Fritz gemalt? ZENSOR: seinen

Witz.)

ASSESSOR: Jawohl.

ZENSOR: Und da verirrt sich der Mann zu Proletenbildern? Unbegreiflich! Wenn er schon keine Helden der friderizianischen Zeit mehr fand, die sich noch des Abmalens lohnten, konnte er da nicht die Helden unserer Epoche verewigen? Die Helden, die gegen den Geist des Umsturzes zu Felde ziehen, wie einst Siegfried gegen den Drachen? ASSESSOR: Ganz meine Meinung. (Beide betrachten ihre Gesichter in den

Handspiegeln.)

D W J 1912, S. 7450.

Frisierte

Weltgeschichte

In dem offiziellen Geschichtsbuch für die russischen Gymnasien heißt es von den hingerichteten Ludwig X V I . und Marie Antoinette: „Sie starben, heißgeliebt vom Volke, hochbetagt im Jahre 1789." Von diesem vorzüglichen Buch erscheint demnächst eine deut-

123

sehe Ausgabe, die den Zweck erfüllen soll, einige Irrtümer, die sich in unseren Schulbüchern trotz aller behördlichen Revisionen noch immer finden, radikal zu beseitigen. Wir sind in der Lage, schon heute einige Proben daraus mitzuteilen, an denen man die großen Vorzüge dieser korrigierten Geschichtsdarstellung beurteilen kann: „Der Bauernkrieg bestand im wesentlichen in einer Massenpetition der Bauern (ähnlich wie jüngst in Schweden) an ihre von ihnen sehr verehrten geistlichen und weltlichen Oberhäupter, worin sie um mehr Arbeit baten, da sie es bei dem behaglichen Leben, das ihnen ihre gütigen Herren boten, nicht mehr aushielten. In freundlicher Form wurden ihre Wünsche bewilligt, was zur Folge hatte, daß sich immer mehr Deutsche zur Landarbeit bei den Junkern drängten: ein Massenangebot, das bekanntlich noch heute auf deren Gütern anhält." „Der Dreißigjährige Krieg war hauptsächlich durch ausländische Hetzer — besonders Juden und Polen — verursacht, die bei den Paritätsstreitigkeiten im trüben zu fischen gedachten. Nur dem heldenmütigen Eingreifen der deutschen Fürsten, die sich einmütig jede fremde Einmischung verbaten, ist es zu verdanken, daß unser Vaterland stärker, mächtiger und reicher aus diesen Wirren hervorging, als es vordem gewesen war." „Der erste Preußenkönig gab seinem Volke ein leuchtendes Vorbild von moralischem Lebenswandel und Sparsamkeit. Als er starb, hatten sich die preußischen Finanzen zu solcher Höhe erhoben, daß man sie gar nicht mehr sah." „Friedrich der Große war, wie schon sein Name sagt, ein echter Friedensfürst, der seinem Lande das schlesische Himmelreich schenkte, das ihm wiederum die Kaiserin Maria Theresia in Anerkennung seines gottgefälligen frommen Lebenswandels überreicht hatte. Besonders hervorzuheben sind seine Verdienste um die deutsche Sprache und seine fürstliche Unterstützung des gleichzeitig lebenden Dichters Lessing. Wer weiß, ob wir je unsere Klassiker gehabt hätten, wenn er ihnen nicht die Wege gebahnt hätte! E r starb in den Armen seiner von ihm innigst geliebten Gemahlin." „Friedrich Wilhelm III. besiegte in dem bekannten Siebenjährigen Kriege (1806 bis 1813) einen Abenteurer namens Napoleon, von dem wir besser schweigen. In den darauf folgenden Friedensjahren bekundete er seine Liebe zu seinem Volke hauptsächlich 124

dadurch, daß er hervorragenden Deutschen wie Reuter, Jahn, Kinkel, Schurz und anderen jahrelang völlig kostenlose Verpflegung im Frieden seiner Festungen zuteil werden ließ. E r starb, heiß geliebt vom Volke, das ihm für das Versprechen einer Verfassung noch heute dankbar ist." „Friedrich Wilhelm I V . war eine kernige, gerade, energische Natur und schenkte seinen lieben Berlinern, vor denen er bisweilen vor lauter Jovialität den Hut abnahm, einen schönen Friedhof im Friedrichshain, zu dem noch heute die Berliner am Tage der Schenkung — dem 18. März — hinwallen, dem Andenken des geliebten Fürsten schleifengeschmückte Kränze opfernd." „Bismarck, ein Handlanger, erntete große Erfolge auf dem Gebiet der inneren Politik, wo er durch geniale Gesetze die Bestrebungen des Zentrums und der Sozialdemokratie völlig zunichte machte. Seine liebenswürdigen Umgangsformen sichern ihm ein freundliches Gedenken, speziell bei den unteren Volksschichten." Schon aus diesen wenigen Proben ersehen wir, daß hier endlich ein Werk geboten wird, das geeignet ist, den zersetzenden Einflüssen der sogenannten wissenschaftlichen Geschichtsforschung zu begegnen. Wie wir hören, ist es bereits von allen Kultusministerien empfohlen und durch Verfügung in sämtliche Schul-, Kasernen-, Schutzmanns- und etwaige sonstige Bibliotheken zwangsweise eingereiht worden.

DWJ 1914, S. 8319.

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Satiren und Humoresken

Eine Pfingstreise Sicher wirst du, lieber Leser, und auch du, schöne Leserin, diese Feiertage zu einer Pfingstreise benutzen. Wenn du Fabriksklave oder -Sklavin bist, so wirst du schleunigst hinauseilen aus dem rußigen Dunstkreis unseres trostlosen Chemnitz, um einmal ohne Werkführerkontrolle frei aufzuatmen, oder wirst, wenn es dein Portemonnaie erlaubt, die Dampf kraft, welche du sonst bedienen mußt, zu deinem Dienst in Anspruch nehmen, um dich von ihr nach einem gesegneteren Erdenwinkel bringen zu lassen. Bist du Schuhmacher oder Schneider, so wirst du nicht wenig ungehalten sein über die säumigen Menschenkinder, welche in der letzten Minute noch für die Feiertage bekleidet oder auf glänzenden Fuß gesetzt sein wollen, und wirst dir für den dritten, illegitimen Festtag schönes Wetter zu einem Ausflug wünschen. Bist du gar Soldat, so hast du dich jedenfalls beim strengen Feldwebel schon um Urlaub gemeldet, der dir denselben bereitwilligst erteilte, als er erfuhr, daß du deine Eltern auf dem Lande besuchen wolltest und daß diese anläßlich der Feiertage ein Schwein geschlachtet hätten; du wirst ihm bei der Rückkehr ja sicher eine schöne Wurst mitbringen. — Bist du indes Dienstmädchen, so siehst du der Pfingstreise mit weniger froher Hoffnung entgegen, denn du mußt dann die ungezogenen Kinder deiner Herrschaft im Kinderwagen der mit Putz überladenen „Madam" nachschieben, und es gewährt dir wenig Trost, daß der „Herr" sorgsam darauf hält, dich nicht verdursten zu lassen, sondern dir beim jedesmaligen Einkehren ein Glas einfaches Bier oder Milch zuweist. — Bist du aber gar Sozialdemokrat, so winken dir noch ganz absonderliche Freuden; da hast du vielleicht eben eine bösartige Majestätsbeleidigung abgebüßt und dich während deiner traulichen Abgeschlossenheit würdig auf das hohe Pfingstfest vorbereitet, wie eine arme Seele, die aus dem Fegefeuer kommt und in den Himmel eingelassen wird. Geht es doch un126

senri Freund Walster so, welcher eine Pfingstreise vom Gefängnis in Döbeln nach dem schönen Elbgestaate zu unternehmen glücklich genug ist. - Oder es kann dir, als Sozialdemokrat, auch gehen wie unserm Rohleder, welcher unmittelbar nach den Feiertagen eine lange Sitzung mit der Tagesordnung „Majestätsbeleidigung" zu beginnen hat und welcher, sich noch einmal der „goldnen Freiheit" freuend, vielleicht im Park zu Lichtenwalde Schokolade und Käsekeulchen als „Henkersmahlzeit" genießen wird. So weit dich, lieber Leser, aber auch die Pfingstfeiertage von deinem gewöhnlichen Aufenthaltsort fortführen, eine so große Reise wirst du sicher nicht machen wie die drei Chinesen SchangDarm, Such-Er und Stö-Ber, welche vom himmlischen Reiche bis nach dem deutschen Reiche der Mitte kamen. Doch du weißt jedenfalls davon noch gar nichts, und ich muß dir daher die Geschichte von den drei pfingstreisenden Chinesen etwas genauer erzählen, so wenig dir auch heute Zeit zum Lesen übrigbleiben mag. Seit den großen Menscheninshimmelreichbeförderungen bei Sedan und Paris ist bekanntlich das Ansehen der Deutschen im Auslande ungeheuer gestiegen, das weiß ja niemand besser als unsere Nationalliberalen. Namentlich ist diese Steigerung des deutschen Ansehens in China zu bemerken. Die chinesischen Mandarine und Zöpfler spenden den reichsherrlichen deutschen Bestrebungen ihren vollen Beifall, und der chinesische Kaiser läßt sich seit zwei Jahren von seinem Wirklichen Geheimen Oberbauchaufschlitzer das „Leipziger Tageblatt" vorlesen. — Durch diese Vorlesungen erfuhr der hohe Herr auch, daß gegenwärtig im Deutschen Reich ein Kulturkampf gegen die roten Umstürzler und Zopffeinde gekämpft würde, daß dort nicht einzelnen der Bauch aufgeschlitzt, sondern daß die Sache summarisch betrieben würde und gleich ganze Vereinigungen aufgelöst würden usw., und er war davon entzückt. „Man sende", rief er, „in Meinem Allerhöchst gnädigsten Auftrag sofort drei Söhne unseres himmlischen Reiches nach dem Reiche unserer deutschen Gesinnungsgenossen und lasse den dortigen Staats-Mandarinen oder -anwälten, wie man sie zu nennen beliebt, Meine Allergnädigste Zufriedenheit mit ihren kulturlichen Handlungen kundtun. Die Abgesandten sollen auch genau darauf achten, wie die dortigen Mandarine ihr Geschäft handhaben, denn daraus kann die edle chinesische Staatskunst nur profitieren."

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Die Diener des Kaisers warfen sich platt auf die Erde, zum Zeichen, daß der Befehl sofort ausgeführt werden sollte, und die drei chinesischen Professoren Schang-Darm, Such-Er und Stö-Ber mußten sich auf die Strümpfe machen, um eine Pfingstreise nach Neu-Deutschland zu unternehmen. Sie ließen sich zu diesem Zwecke eine große Mappe voll Geburts-, Tauf-, Trau-, Toten-, Begräbnis-, Impf-, Heimats- und anderen Scheinen ausstellen, weil sie in der Naturgeschichte gelesen hatten, daß man ohne diese nützlichen Dinge nicht ins Reich hinein dürfe, dann ließen sie sich ihren Zopf um eineinhalb Meter verlängern, da sie mit dem gewöhnlichen chinesischen Zopf in Deutschland nicht hoffen konnten, Furore zu machen, boten dem Wirklichen Geheimen Oberbauchaufschlitzer und Tageblattvorleser den Rücken zum Abschiedsfußtritt und fuhren per Luftballon mit ungeheurer Schnelligkeit von dannen. Nach kurzer Fahrt fielen sie, einige Tage vor Pfingsten, in Europa nieder, ob sie auch gleich in Deutschland oder nur erst in Rußland waren, wußten sie selbst nicht, waren anfangs überhaupt in Verlegenheit, wohin sich nun wenden. Den Weg nach Chemnitz, diesem Aschenbrödel der deutschen Städte, konnten sie unmöglich finden, und das war auch ihr Glück. Sie hätten erstens mit ihren Schnabelschuhen die Straßen nicht passieren können, ohne steckenzubleiben, und falls ihnen die Passage je geglückt wäre, hätte man sie doch als Ausländer von der Straße weggefangen und nach zwei Tagen ausgewiesen. — Der Aufenthalt in Chemnitz hätte ihnen auch in persönlicher Hinsicht nichts genützt, denn sie hatten schon gelbbräunliche Gesichtsfarbe und brauchten sich nicht erst von den Dampfessen räuchern zu lassen. Dagegen war es ein großer Fehler, daß sie nicht nach Dresden gerieten, sie hätten dort dem berühmten Staatsanwalt Dr. Schwarze zu seinem italienischen Strafkodex noch einen chinesischen überreichen und so den Ruhm Sachsens noch fester begründen können. Mit offenen Armen wären sie jedenfalls in Nürnberg aufgenommen worden, denn der dortige Magistrat sucht gegenwärtig Werkzeuge zu seinem Monstreprozeß gegen die siebenhundert Sozialdemokraten, und da konnten ihm die Zopfmänner gerade am geeignetsten erscheinen. Aber ihr Glücksstern führte die drei Chinesen woandershin. Sie kamen an eine große Stadt, deren steinerne Häusermasse ihnen vorkam wie die chinesische Mauer; ein frischer Morgenwind trieb ihnen eine große Sandwolke in die kleinen, schiefgeschlitzten Augen, und 128

sie ahnten, daß sie jetzt am rechten Orte angelangt waren. — Noch staunten sie die großen, kasernenartigen Häuser an, da kam ihnen eine Anzahl Soldaten mit blanken Säbeln entgegen. „Aha, das sind die Bauchaufschlitzer!" riefen die guten Chinesen einander zu und betrachteten die Soldaten mit ehrfurchtsvoller Bewunderung. Aber ihr Ausruf war nicht ungehört geblieben. Schutzmänner stürzten auf sie los und faßten sie an der Gurgel. „Was? Beschimpfung des Militärs! Marsch, ins Loch!" hieß es, und die Chinesen wurden mit Fußtritten und Faustschlägen traktiert und fortgestoßen. Die Angegriffenen atmeten auf. Es war ihnen schon unheimlich geworden in dem fremden Land; doch jetzt fühlten sie sich wieder heimisch, jetzt war es ihnen wieder, als ob sie in China weilten. — Sie drückten den Schutzmännern gerührt die Hände und ließen sich weitertransportieren. Nach kurzer Zeit betraten sie einen dunstigen Raum, in welchem sich allerlei Strolche befanden. Der am gefährlichsten Aussehende der Anwesenden kam auf sie los und schnauzte sie an, worauf sie sich platt auf die Erde warfen, um ihre Untertänigkeit zu bezeugen. Sie empfingen noch einige Rippenstöße und Faustschläge und waren ganz glücklich, wieder in China zu sein. Nachdem sie aber nun eine Weile in diesem Gefängnis verweilt hatten, wurde doch ihre Fröhlichkeit etwas getrübt. Es kam ihnen vor, als wären die Zustände in diesem Reiche noch etwas ungemütlicher als in China. Die Zöpfe waren ihnen von den Miteingesperrten gestohlen worden, und das Essen schmeckte ihnen nicht; auch hatten sie unter gewissen anderen Unannehmlichkeiten zu leiden, so daß sie sich doch sagten, das echte China sei besser als dieses nachgemachte. Sie begrüßten daher die Botschaft mit Freuden, daß sie bald vor den großen Staatsoberdenunzianten Dorfteufel geführt werden sollten, um zu erfahren, welches Schicksal ihrer harre. Wir übergehen die Untersuchung, die sie nun zu überstehen hatten, und melden nur, daß sie nach derselben sehr enttäuscht waren. Man hatte sie trotz ihrer Impf- und anderen Scheine als Bummler behandelt; daß sie vom chinesischen Kaiser abgesandt seien, hatte man gar nicht geglaubt, weil ihnen in den offiziellen Oppositions-Journalen noch kein Weihrauch gestreut worden war, was man doch sonst selbst beim Schah von Persien und seinen Dienern nicht versäumte, und der große Dorfteufel hatte sich 129

durch die aufrichtige Huldigung, die sie ihm darbrachten, nicht abhalten lassen, sie wegen Schmähung des Militärs zu siebenjährigem schweren Kerker zu verdonnern. Das war ihnen freilich zu arg. Da saßen sie nun, gefangen im fremden Land, und sehnten sich zurück hinter die chinesische Mauer nach dem freien China. Doch was war nun zu tun? Die intelligenten Chinesen wußten Rat. Sie schnitten die golde nen Knöpfe von ihren Galahosen (die dito Rockknöpfe waren ihnen im Gefängnis schon gestohlen worden) und bestachen damit ihre Hüter. — Auf diese Weise gelangten sie unbehelligt ins Freie und zogen, keinen Soldaten wieder ansehend, schon am Pfingstheiligabend von dannen. Sie werden noch lange an diese Pfingstreise denken. CR 1874, Nr. 21, S. 1-2.

Der unglückliche

Erbprinz

Ein Märchen Es wurde einmal ein Erbprinz geboren, und der hieß Mensch. Dem war alle Macht und Herrlichkeit der Erde versprochen, und er sollte in sie eingesetzt werden an dem Tage, an dem er sich mit der gleichaltrigen Prinzessin Freiheit vermählen würde. Die Erziehung dieses Erbprinzen vertraute der liebe Gott einem Ehepaar an, das schon von Ewigkeit her im Himmel gewohnt hatte, dem Onkel Staat und der Tante Kirche. Das waren aber ein böser Onkel und eine böse Tante. Sie haßten die arme Prinzessin Freiheit, und weil sie gern selber alle Macht und Herrlichkeit besessen hätten, so wollten sie auch dafür sorgen, daß der Erbprinz nie aus den Kinderschuhen herauskäme und daß er die Prinzessin Freiheit nie kennenlerne. Das war eine ganz merkwürdige Geschichte: Der Prinz war schon ein großer, starker Junge, er hätte schon gern Braten gegessen und Wein getrunken, aber man ernährte ihn immer noch mit Schafsmilch; er wäre gern auf Bäume geklettert und durch den Fluß geschwommen, aber man hatte ihn immer noch eingebütschelt und eingewickelt wie ein ganz kleines Kind, und wenn er strampelte und schrie, so drohte man ihm mit dem schwarzen

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Mann, oder man steckte ihm den süßen Lutschbeutel der Geduld in den Mund. Nun hatte Tante Kirche eine Magd angenommen, die hieß Wissenschaft und tat gar untertänig, aber eigentlich war sie auch eine Prinzessin und treu ergeben ihrer Schwester, der Freiheit. Einst fragte der Prinz: „Wie alt bin ich denn?" Da sagte ihm die Magd: „Schon viele tausend Jahre." Das hörte die böse Tante, und die arme Magd wurde hart gescholten und geschlagen und in die dunkle Kammer gesperrt; dem Knaben aber wurde alle Tage vorgesagt, obgleich er ein Erbprinz war: Du bist und bleibst ein dummer, kleiner Junge. Die gute und getreue Magd aber wurde ihrer Leiden satt und entfloh aus dem Hause und ward in der frischen Luft immer größer und schöner, und des Nachts schlich sie sich heimlich zu dem Prinzen und lehrte ihn lesen und erzählte ihm von dem weiten Himmelszelt und vielen anderen schönen Dingen. Da erkannte eines Tages Prinz Mensch seine Stärke, er zerriß die Wickelbänder, und ob sie ihn auch hart straften mit der Rute des Gesetzes, er ließ sich nicht mehr bändigen, er erzwang sich die ersten Hosen und die Erlaubnis, im Garten spazierenzugehen. Da sprach der böse Onkel zu der bösen Tante: Er fühlt seine Kraft, wir müssen ihm etwas zur Beschäftigung geben. Da machten sie einen Streifen an seine Hosen und gaben ihm einen bunten Rock und einen Säbel. Nun konnte er nach Herzenslust anrennen gegen Bäume und Felsblöcke und Nebelgewalten. Und wenn er sich dabei mit dem eigenen Schwert traf und zu Boden fiel, daß er sich arg wehtat, dann belobte ihn der Onkel Staat, denn er dachte: So kann ich ihn immer im Zaume halten. Wenn der Prinz aber die hohe Mauer erklettern wollte, welche den Garten von dem Reich der Prinzessin Freiheit trennte, dann wurde er immer wochenlang wieder in die Wickelbänder eingeschnürt, so hart, daß sie ihm ins Fleisch schnitten, und er gelobte, er wolle es nicht wieder tun. Die Tante Kirche aber gab ihm, damit er nicht gar zu wild würde und da er nun doch einmal lesen gelernt hatte, ein Zauberbuch in die Hand, daß jeden, der es dreimal liest, blind macht und lahm. Nun war aber ein Blatt in dem Buch, welches einen Gegenzauber enthielt; das hatte die böse Tante auszureißen vergessen, und dieses Blatt las der Erbprinz lieber denn alle anderen Blätter des Zauberbuches, denn es handelte von der Liebe. 131

Ich will eine Geliebte, ich will heiraten, sprach eines Tages Prinz Mensch zu dem alten, bösen Ehepaar. Darüber erschraken sie gewaltig, denn sie wußten wohl, daß ihrer Herrschaft Gefahr drohte. Da sandten sie dem Prinzen, der schon lange ein großer, starker Jüngling geworden war, gleich drei Jungfrauen ins Gemach, die hießen Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber wenn sie auch gar schön gen Himmel schauen konnten, so hatten sie doch weder Fleisch noch Knochen, und unser Prinz wandte sich traurig von ihnen ab. Zur selben Zeit begab es sich, daß die beiden Alten oft greulichen Streit hatten über die Abgaben und das Edelgestein, das dem Erbprinzen von Rechts wegen gehörte, und als sie sich wieder einmal arg in den Haaren hatten, da erklomm der Prinz geschwind einen hohen Baum und schaute über die Mauer. Ach, was sah er da, Sonnen und Monde leuchteten und funkelten zu gleicher Zeit, die Vögel sangen Jubellieder von allen Bäumen, riesengroße Blüten hauchten wundersüßen Duft aus, und in all der Herrlichkeit wandelte Prinzessin Freiheit, nackt, von Goldhaar umflossen, aus ihren großen, stolzen Augen ging ein leuchtender Flammenstrom in das Herz des Erbprinzen. Schwester Wissenschaft berührte mit dem Zauberstab die trennende Mauer, die stürzte mit Gekrach, über die Trümmer hin schwang sich der Jüngling mit kühnem Satz und umschlang die Prinzessin und küßte sie und hielt sie so fest ans Herz gepreßt, daß er schier meinte, sie seien für immer eins geworden. Aber schon waren auch Onkel Staat und Tante Kirche in höchster Wut herangerast und, die Luft verfinsternd, umgab sie das kolossale Heer der Mönche und Ritter und Beamten und Büttel und Professoren und Soldaten, kurz, alle die häßlichen dämonischen Geister, welche das böse Ehepaar zum Schutze seiner unrechtmäßigen Herrschaft im Solde hielt. — Wehe! Wehe! Welch ein heilloses Kämpfen! Was halfen dem Prinzen Mensch seine kräftigen Fäuste, was half der Freiheit ihr flammendes Schwert! Von hinten hockten sie ihnen auf den Nacken, mit Stricken umschlangen sie die edlen Leiber, mit Weihrauchdämpfen betäubten sie ihnen die Sinne, und mit Zeptern zerschlugen sie ihnen die edlen Glieder. Man warf den Prinzen ins dunkelste Verließ, und wenn ihn Onkel Staat nicht mit den spitzen Ruten schlug, so predigte ihm, und das war noch viel schlimmer, Tante Kirche. Die Wissenschaft, auf einmal klein und erbärmlich geworden, verdingte sich wieder 132

als Magd, und die Freiheit war blutend, mit dem Schmutz des Hohnes besudelt, weit, weit ab in die Verbannung geflohen, verdorben, gestorben. Gestorben? Nein, zuweilen in stillen Nachtstunden, wenn der Erbprinz Mensch in bitteren Schmerzen lag und über sein Elend nachdachte, sang ihm die Nachtigall das Lied von der verratenen und verkauften Prinzessin Freiheit, und bei dem süßgewaltigen Ton schmolz ihm das Herz in Tränen sehnsüchtiger Liebe. Und manchmal drang ein freudiger Sonnenstrahl durch des Gefängnisses Gitter und verkündete ihm: Die Freiheit lebt und wird gesunden, und du sollst sie doch noch dein eigen nennen; dann jubelte sein Herz, und in Fesseln sang er ein stolzes Lied von der Zukunft. — „Das ist aber ein trauriges Märchen", sagte das Kind, dem ich es erzählt hatte, „da ist ja nicht einmal eine Hochzeit drin." „Ja, mein Kind, und viel trauriger ist es noch, daß es schon mehr als einmal passierte und immer wieder passiert." „Hat es gar kein Ende?" fragte das Kind. „O ja, für dich und mich. Wenn wir im Grabe hegen, dann ist das Märchen aus." SD 28. 10. 1886, S. 2.

Hans Flux Der weise Sokrates Historische Erzählung aus dem alten Athen Wie lebten doch die Heiden So herrlich und so froh! Sie war'n ein Volk von Seiden Und nicht ein Volk von Stroh!

Es war zu jener schönen Zeit, als der große Philosoph Sokrates in Athen lebte und alle Künste und Wissenschaften in hoher Blüte standen. Man machte sich das Studium leichter als heute, und die studierende Jugend wurde nicht mit dicken Büchern geplagt. Die Professoren trugen keine Fräcke und predigten nicht 11

Prosasatire

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vom Katheder, sondern waren in bequeme, weitwallende Gewänder gehüllt und spazierten mit ihren Schülern in kühlen Säulengängen oder schattigen Hainen auf und ab, wobei sie ihnen die Wissenschaften vortrugen. Die athenischen Jünglinge brauchten auch nichts aufzuschreiben. Der beliebteste unter allen Lehrern war der berühmte Sokrates, dessen Weltweisheit heute noch sprichwörtlich ist. Damals brauchte ein Professor der Philosophie nicht zugleich ein langweiliger Sauertopf zu sein, und Sokrates war es sicherlich nicht. Der feurige griechische Wein schmeckte dem weisen Mann sehr gut, wenn er auch nie vergaß, ihn sorglich mit Wasser zu mischen und den Göttern einige Tropfen zu sprengen. Denn feuriger Wein, allzu häufig ungemischt getrunken, bewirkt leicht ein Zittern der Hände, und der weise Sokrates wußte dies. Auch sah man den großen Philosophen nie eigentlich betrunken, sondern nur vom Wein erheitert, denn weise, wie er war, hatte er auch gelernt, ein tüchtiges Quantum Rebensafts zu vertragen. Inmitten eines Kreises von edlen Jünglingen und schönen Frauen lehrte Sokrates auch beim Weinkrug seine Philosophie, und seine Vorlesungen waren besuchter als die manches heutigen Professors, der für seine Schriften einen Orden bekommen hat. Unter den athenischen Jünglingen, die sich zu den Schülern des großen Meisters zählten, befand sich auch Nikias, der ein Liebling von Sokrates geworden war. Nikias hatte alles, was erforderlich ist, um sich das Leben genußreich zu machen; er war schön, gesund, kräftig, reich und von vortrefflichen Anlagen. Er hatte sich auch im Krieg ausgezeichnet. Seine Eltern hätten ihn gern verheiratet gesehen und legten ihm öfters nahe, sich eine gute Partie zu suchen. Aber Nikias liebte die Ungebundenheit und stürzte sich mit voller Lust in den Strudel von Vergnügungen, in dem die athenische Jugend dahintrieb. Die Ehe däuchte ihm vorläufig langweilig. Aber seine Mutter wußte sein Augenmerk bald auf eine schöne Jungfrau zu lenken, die ganz geeignet erschien, den unbändigen Nikias in den ruhigen Hafen der Ehe zu lotsen. Hermione war die einzige Tochter einer befreundeten Familie, und Nikias' Mutter wußte es schon so einzurichten, daß Nikias seine Zukünftige öfter zu sehen bekam. Sie rühmte ihm ihre liebreizende Erscheinung, ihr zartes, rundes Gesicht mit der tadellosen griechischen Nase, ihren kleinen Mund, ihre großen, dunklen Augen, ihr dichtes Lockenhaar, ihre weiße Haut und ihre herrliche ebenmäßige 134

Figur. Nikias sah und ward nachdenklich. Sollte er heiraten? Er konnte der Mutter nicht J a und nicht Nein antworten und beschloß, seinen Lehrer und Meister, den weisen Sokrates, um guten Rat anzugehen. Der Meister mochte gerade in dieser Sache recht beraten sein, war er doch dafür bekannt, das böseste Weib unter der Sonne zu haben. Wenn er auch kein so großer Philosoph gewesen wäre, so wäre sein Name wohl schon durch seine Xanthippe, die berüchtigte böse Sieben, auf die Nachwelt gekommen. Denn es war nicht seine geringste Leistung, daß er es verstand, mit dieser Frau auszukommen, die ihm täglich vorwarf, wie sehr sie es bereue, einen so häßlichen Mann, wie er sei, geheiratet zu haben, und die seine Philosophie als dummes Zeug, seine Lehrtätigkeit aber als Bummelei und Faulenzerei zu bezeichnen pflegte. Dennoch sah man Sokrates immer heiter und zufrieden. Es mußte also von ganz besonderem Wert sein, in Eheangelegenheiten seinen Rat zu hören. Als Nikias ihm sein Anliegen vortrug, antwortete ihm Sokrates nur: „Wer heiraten will, muß kaltblütig sein!" — Weiter brachte Nikias nichts aus ihm heraus. Der Jüngling ging betrübt von dannen, denn mit diesem Wahlspruch schien ihm nicht viel anzufangen. Aber er fühlte auch, daß Hermione ihm nicht mehr gleichgültig war. Das Bild des schönen Mädchens umgaukelte ihn Tag und Nacht; er fand die Philosophie öde, trocken und langweilig, und die herrlichsten Kunstwerke seiner Vaterstadt interessierten ihn gar nicht mehr. Er war, mit einem Wort, verliebt. Der weise Sokrates sah ihn manchmal an, lächelte, brummte in seinen langen Bart hinein und nahm einen mächtigen Schluck aus dem Krug Zyperwein. Inzwischen nahten die Olympischen Spiele, und wer nur konnte, begab sich dahin. Auch Nikias erschien; er wollte sich an dem Wagenrennen beteiligen, da er sich als Wagenlenker eine ganz besondere Geschicklichkeit erworben hatte. Der Zufall wollte es auch, daß Hermione, als eine der schönsten anwesenden Jungfrauen, dazu ausersehen wurde, dem Sieger beim Wagenrennen den Siegespreis zu überreichen und ihm das Haupt zu bekränzen. Die Feste begannen und mit ihnen die Wettkämpfe im Laufen, Ringen, Fechten, Speerwerfen und auch im Wagenrennen. Nikias hatte sich feurige Pferde aus Thrazien mitgebracht, und er war u*

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es, der mit seinem Gespann pfeilschnell die Rennbahn durchmaß und zuerst am Ziel ankam. Hochaufatmend und glückstrahlend stand er da, denn ein solcher Sieg galt bei den Athenern für die größte Ehre. Nicht minder glückstrahlend aber trat ihm Hermione entgegen, die ihn mit einigen schönen Versen begrüßte, ihm mit ihrer weißen Hand den Siegerkranz aufs Haupt drückte und ihn dabei so zärtlich ansah, daß ihm ganz heiß ums Herz wurde. Wenig hätte gefehlt, und er hätte sich vor der ganzen Festversammlung, die Tausende von Augen auf das schöne Paar richtete, vor Hermione niedergeworfen und sie um ihre Hand gebeten. „Die müßten ein Paar werden", hörte er mehrfach hinter sich sagen. Schier vergingen ihm die Sinne vor Erregung und Glückseligkeit; da legte sich plötzlich eine derbe Hand auf seine Schulter, und eine wohlbekannte Stimme sprach: „Zum Heiraten gehört Kaltblütigkeit!" Nikias sah sich um und blickte in das ruhige Antlitz des großen Sokrates; aber jetzt kam ihm der trockene Philosoph sehr ungelegen. Sokrates schüttelte sein Haupt und ging lächelnd von dannen. Nikias war ärgerlich über den Philosophen, der sein Glück gestört hatte, und beschloß, sich fortan nur nach seinem eigenen Ermessen zu richten. Die Philosophie schien ihm überflüssiger, toter Gedankenkram neben der holdlächelnden Hermione. Und das Mädchen war so sanft und so mild! Als man wieder nach Athen zurückkam, ließ er sich bei Sokrates nicht mehr sehen. Er warf sich wieder ganz seiner Mutter in die Arme und suchte gewaltsam die Lehrsätze der Philosophie zu vergessen. Es dauerte auch nicht lange, so hatte die Mutter die Vermählung mit Hermione ins Werk gesetzt. Sie ward mit großer Pracht und mit rauschenden Festlichkeiten gefeiert. Sokrates erschien nicht. Nikias war während der Flitterwochen unsichtbar. Sokrates ward oft nach seinem früheren Schüler und über dessen Ausbleiben befragt. Dann lächelte der Philosoph und sagte: Er wird schon wieder kommen! Und er kam eines Tages. Als Sokrates behaglich seinen gemischten Zyperwein ausschlürfte, kam Nikias daher, aufgeregt, zorngeröteten Antlitzes, die Faust geballt. „Was ist dir?" fragte lächelnd der Philosoph, der tat, als ob gar nichts vorgefallen wäre. 136

„Meine Frau!" knirschte Nikias. „ E i ! " meinte Sokrates, „was ist mir ihr?" „Ein Dämon ist sie, eine Megäre, eine Furie, eine Harpyie . . . " „So! So!" sagte der Philosoph. „Sie quält mich mit ihren Launen", stöhnte Nikias. „Und sie sah so sanft aus!" „ J a j a ! " meinte Sokrates mit seiner unverwüstlichen Ruhe, „wer heiraten will, muß kaltblütig sein!" „So willst du mich auch noch verhöhnen!" rief Nikias und rannte zornig davon. Sokrates sah ihm ernst nach. „ E r kommt wieder!" murmelte er. Und er kam. Als Nikias wieder von Hermione mit allen möglichen Launen gequält worden war, lief er abermals nach der Behausung des Meisters, um sich bei ihm Rat zu holen. Als er vor dem Hause ankam, vernahm er einen gewaltigen Lärm. Er hörte Xanthippes scharfe Stimme, wie sie ihren Gemahl mit „Lump!", „Faulenzer!" und anderen Ehrentiteln bedachte. Von Sokrates hörte er kein Wort der Erwiderung. Gleich darauf kam der Meister herab und trat aus dem Hause, Xanthippe aber erschien auf dem platten Dach, beugte sich vor und goß den Inhalt eines Topfes mit schmutzigem Wasser über den Meister aus. Sokrates ging ruhig an den nächsten Brunnen und wusch sich ab. „O Meister", rief Nikias, der diese Szene bis jetzt sprachlos verfolgt hatte, „nun wollte ich dich um Rat wegen meiner launenhaften Frau bitten, und du bist zehnmal schlimmer daran mit deiner Xanthippe als ich mit meiner Hermione!" „Junger Freund", sagte Sokrates sanft, „du hast den Gang der Naturereignisse noch nicht recht begriffen. Weißt du denn nicht, daß bei einem rechten Gewitter auf Donner und Blitz auch ein Regen folgen muß!" Damit nahm er Nikias unterm Arm und trug ihm eifrig einen neuen Lehrsatz der Geometrie vor, den er unter dem Schelten seiner Xanthippe ausgedacht hatte. J a , Sokrates war groß! DWJ 1888, S. 490-491.

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E. Kl. Der brave Esel Eine moderne Fabel Es war einmal ein Müller, der hatte einen alten Esel in Dienst. Dieser Esel war ein frommer und gottesfürchtiger Mann. In Ehren war er alt und grau geworden, und so gedachte er zu leben bis an sein seliges Ende. Sechs Tage der Woche trug er die Säcke der Mühle zur Stadt und von der Stadt zur Mühle, aber am siebenten Tage, dem Tage des Herrn, da ruhete er und ging in die Kirche und betete und sang voller Andacht, und wenn der Gesang auch dem Küster nicht gefiel, so freute sich doch der Pfarrer über den frommen Mann, der ein leuchtendes Beispiel gab der ganzen Gemeinde. Und auch sein Herr war mit ihm zufrieden, denn nie ging der Esel in eine Versammlung, nie hörte man ein Wort der Klage von ihm, und nie war er unzufrieden. Die Disteln schmeckten ihm so gut wie seinem Herrn der Gänsebraten, und wenn sich unterwegs der Herr auf seinen Rücken setzte, weil er zum Marschieren zu faul war, da fühlte sich der Esel noch hochgeehrt über diese Auszeichnung. Wo ein frevelhaftes Wort fiel, senkte er züchtig die langen Ohren, um es nicht zu hören; wenn aber einer den Staat lobte, wackelte er vor Freude mit dem Schwanz und sagte laut: „Ia!" So wandelte er zufrieden dahin in seinem bescheidenen grauen Kittel und begehrte nichts Besseres. Eines Tages aber, als der Müller zur Mittagsruhe im Lehnstuhl saß, dachte er darüber nach, wie er wohl seine Einkünfte vermehren könnte, und er sprach zu sich selber: „Schon so viele Jahre beschäftige ich meinen Esel, und noch nie habe ich eine Klage von ihm gehört — es muß ihm also recht gut gehen. Ich werde ihm mehr Säcke aufladen, damit ich mehr verdiene." Dann ging er hinab in den Hof und belud seinen Esel. Als er ihm die gewöhnliche Last aufgebürdet hatte, frug er ihn: „Kannst du noch mehr tragen?" Und der Esel sagte: „Ia!" Da lud ihm der Müller noch einen Sack auf und frug wieder, und der Esel sagte wieder: „Ia!" So ging es eine Weile fort, bis dem Esel unter der Last die Knie wankten und der Angstschweiß auf seiner Stirn stand, aber immer noch sagte er: „Ia!", wenn sein Herr ihn ffug, denn es wäre wider sein Gewissen gewesen, seinem Herrn ein „Nein!" entgegenzusetzen. Zu guter Letzt setzte sich der

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Müller noch selbst obendrauf. Das war aber endlich doch zu viel, denn der Esel brach zusammen, streckte alle Viere von sich und gab seinen Geist auf. Da schalt der Müller und nannte ihn einen tückischen, feigen Verräter, der nur seinen Herrn schädigen und sich der Arbeit entziehen wolle. Und er schlug den toten Esel, als ob er noch lebendig wäre. Als aber das Grautier nicht mehr aufstand, zog der Müller ihm das Fell ab und gab sein Fleisch den Hunden. Die freuten sich über das Mahl und lachten und wünschten, daß es noch viele solche Esel gäbe, die zu allem „Ia!" sagen. SP 1893. Nr. 9. S. 3.

J. Sir ach Die Legende vom Schnapphahn Schnapphahn ritt einsam seine Straße; durch das gepuffte Wams, das an den Ellbogen klaffte, fuhr der böse Novemberwind. Und Schnapphahn fror. Seit drei Stunden war er Witwer; die gestrengen Herren vom peinlichen Gericht trugen die Schuld daran. Hatten sie doch sein Weib, das fröhliche Margritlein, ohne Gnade aufknüpfen lassen dort oben am Rabenstein. Er drehte sich um: In der Ferne, wo die Sonne mühsam mit den Nebeln kämpfte, die der Rhein emporjagte, stand der Gevatter Dreibein. Die Raben krächzten, und Margritlein hing am Schnellgalgen, steif und stier, kalt und tot. Weil sie Land gestrichen, geweissaget und einer ehrsamen Ratsfrau ein Goldgüldlein aus der Truhe stibitzet. Nun packte ein unsagbarer Grimm den armen Schnapphahn, so daß er die Faust schüttelte gen die Stadt und baß überlegte, ob er nicht nächstens den roten Hahn auf der Gerichtsherren Dächer solle fliegen lassen. Besann sich aber anders und schritt fürbaß, bis er in einen Wald kam, der war dicht und dunkel. Tannicht, gemischet mit Laubholz, stolze Buchenstämme, denen die falben Blätter noch lose anhafteten, breitwipfelige Linden und Eichen. Auf einer Lichtung ästen Rehe, ein Eichhörnchen hüpfte von Zweig zu Zweig. Der Witwer ward müde, und dürstete und hungerte ihn sehr. Darum warf er sich aufs Moos und nagte von einer Brotrinde, die er im Felleisen fand. 139

Stund plötzlich vor ihm ein Greis, starkgliedrig, einen Eschenstock in der braunen Faust, den Gürtel straff um die Kutte gespannt. Was ist, woher, wohin? Und forcht sich Schnapphahn, sintemal der Alte ihn mit feurigem Blicke maß. Sprach: „Mein Margritlein hat der Henker, das ist's, komm' vom Richtplatz und fahre zur Hölle." Der Einsiedler hieß ihn aufstehen und führte ihn zu seiner Hütte drinnen im Forst, die war gezimmert aus eichenen Balken, gedeckt mit Borke, und lag ein stattlicher Wolfshund vor der Tür als Wächter. Am freundlich gebotenen Imbiß stärkte sich Schnapphahn. Hub der Alte zu reden an: „Ein kindischer Tor bist du, Schnapphahn, eine eitle Simpelin war dein Margritlein. Habt's ungeschickt angefangen, fahrend Volk, bringt's zur Folter und zum Richtschwert. Müßt's anders treiben! Bist ein starker, schlauer Kerl, hast gute Gaben, kannst hehlen und dich verstellen, ei, so nütze sie aus und wuchere mit deinem Pfunde! Darfst nit stehlen und wegelagern, sondern wirst ein feiner Kriegsmann, wirbst an die tausend Landsknecht', ziehst ins Feld, mordest, sengest, plünderst, teilest die Beute, daß du den Löwenanteil davon kriegst! Hei, wie sie dir zujubeln und rufen: Heil! Heil!, wann du einziehst in die Stadt. Teppiche und Banner hängen aus Fenster und Balkon, die Musika spielet, die schönen Frauen grüßen dich huldselig, und im Münster singen sie dir zu Ehren, dir, dem Sieger, dem Schlachtenmeister, ein Tedeum. Hast Ruhm, Ehr' und Gold; stiftet der ehrbare Rat dir güldne Ketten und eine Schenkung, ein- oder zweitausend Dublonen. Und in ihrer Kemenate, das Prachtkleid angetan, die Perlenkette statt des Hanfs um den schlohweißen Hals, harret deine Frau Margerit. Brauchst du neue Mannschaft, neue Wehren, Roß und Reisige, der Rat wird eine neue Umlage ausschreiben, eine Ohmsteuer aufs Getränk, Wein, Bier und gebrannten Wein, eine Mahl- und Schlachtsteuer, Umgeld und Bede, die das gemeine Volk zahlet in jedem Krüglein Bier und bißchen Brot. Werden auch das verflucht indianisch Teufelszeug, womit die Leut' ihren Hals zum Höllenschlot machen und rauchen wie die siebenfach geschwänzten Teufel, mit einer Auflag' beschweren und mit Zoll. Denn du bist der Herr der Heerscharen, der Landsknechtsführer wie Frundsberg, der Held von Pavia. Sieh, Schnapphahn, auch auf andere Art vermagst du zu Macht 140

zu gelangen und ein ansehnlicher, hochgebietender Herr zu werden. Viel wüste Hufen liegen brach, hol ein Pergament herfür, ist der Adelsbrief, daß dir all das Land gehört und die Bauern zu eigen sind. Sitz fest und spiel den Herrn, treib den Landmann von der Scholle, nimm, nimm, nimm, laß den armen Konz dir fronden. Reit fein zu Hof, werden sie sagen: Da kommt er, der Graf von Schnapphahn, der große Grundherr. Schreiber und Pfaffen beurkunden, daß Acker und Wald und Wiese dir gehört seit unvordenklicher Zeit, und du glaubst es selbst. Das heißt geschichtliches Recht, so lehre der Herr Professor zu Altorf auf der Universität. Eine Edelfrau wäre dein Margritlein. Oder kann's dir sonst fehlen? Nun wohlan, lauer auf, wenn ein reicher Handelsherr nach Venetia zieht, frisch, faß ihn mit etwelchen Gesellen, hau die Wagen auf, schneid auf die Geldkatz' und, heidi, fort mit dem Kaufmannsgut! Ein wohlmögender Mann bist du itzt, zeuchst in der reichen Stadt sichren Frieden, wirst eingebürgert, wenn die Dukaten im Sack klingen. Handelst und wandelst, hast teil an den Gesellschaften Monopolia, treibst hoch die Preise von Zimmer und Holz, Korn und Quecksilber, läßt die Meister und Knechte vom Handwerk in deinem Lohn spinnen und weben, wirken und schnitzen. Greif zu, Schnapphahn! Dein Margritlein wäre ein stattlich Patrizierweib, das nit mit des römischen Kaisers Weib tauschen tät!" Schnapphahns Stirn rötete sich, grollend hatte er dem Einsiedler zugehört. Nun bändigte er den Zorn nicht mehr. „Vermaledeiter Kerl", schrie er, „willst einen ehrlichen Gauner, der auf des Kaisers Straße fährt und ein weniges aus dem Stegreif lebt, zum großen Schelmen machen!" Sprach's, sprang auf und verschwand im Dunkel der Nacht. Heiser krächzten die Raben, die von der leckeren Mahlzeit am Rabenstein kamen. Der Hofmeister oder Zivilgouverneur des jungen Prinzen hörte zu lesen auf, schöpfte tief Atem und begann: „Euer Durchlaucht sehen aus diesem Probestück der Vaganten-Literatur vom Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts, wie sie im Kopfe solch eines Ausgestoßenen die Ordnung der Dinge malte. Sie erkennen daraus, mein Prinz, daß die sittliche Weltordnung im Hirn des Verkommenen zu einer wüsten Fratze verzerrt wird, daß die Einrichtungen der Gesellschaft zu abscheulichen Schreckbildern entstellt werden. Die Vertreter des Großgrundbesitzes, des Groß141

handels, des Großgewerbes, diese idealen Gestalten, werden zur Karikatur. Freuen wir uns, Durchlaucht, daß heutzutage die Trusts, die Kartelle, die großen Ringe die Grundpfeiler des öffentlichen Interesses geworden sind." „Aber", fragte das fürstliche Kind, „was ist aus dem Schnapphahn geworden?" „Wie ich aus einer alten Chronik ersehe", erwiderte der kluge Hofmeister, „ist er nach kurzer Frist aus einem Saulus ein Paulus geworden, er hat die Lehren des Einsiedlers beherzigt und ist als Handelsfürst gestorben. Seine Nachkommen sind geadelt worden, einer ist Bankier, der andere Gesandter bei den Turkomanen, und der dritte ist Chefredakteur des Kuhschnappler Staats- und Intelligenzblattes." D W J 1893. S. 1434-1435-

A.O.-W. Was der Derwisch wußte Eine morgenländische Geschichte Der Sohn der Sonne und Herr der Erde, wie sich der Selbstherrscher aller Perser nennen zu hören gewöhnt war, saß eines schwülen Nachmittags in seinem Lieblingskiosk im Schloßgarten zu Teheran und ließ aus seiner edelsteinbesetzten Meerschaumpfeife Nr. 291 mächtige Rauchwolken in die blaue Luft und über die Rosen von Schiras hinwallen. Mächtiger aber noch und in den Augen der Palastbewohner viel gefahrvoller als diese Wolken schienen die, welche zur selben Zeit seine erhabene Stirn umlagerten, ein sicheres Zeichen, daß freche Sorgen unehrerbietig genug waren, die seiner sozialen Stellung zukommende ungetrübte Glückseligkeit zu unterbrechen. Und Sorgen der allerordinärsten und niederträchtigsten Art, solche, wie sie nur den verachtungswürdigen Giaurs im Abendlande zukommen, waren es, welche gleich einem Diebe in der Nacht ihren Weg über die stattlichen Marmorstufen des Palastes und zwischen den krummen Säbeln der zahlreichen Wächter seiner geheiligten Person hindurch gefunden hatten. Stetig wuchsen die Bedürfnisse des Harems, seitdem er die Monotonie, die darin seit altersher zu herrschen pflegte, dadurch unterbrochen

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hatte, daß er in die Reihen der fügsamen und genügsamen orientalischen Sklavinnen die ausgesuchtesten Exemplare französischer Kokotten und amerikanischer Abenteurerinnen aufgenommen hatte, die freilich viel anregender auf seine erschlaffenden Lebensgeister wirkten, zugleich aber auch Anforderungen an seine Kasse stellten, die jeden Finanzminister defizittern machten. Drei derselben hatten bereits über den krampfhaften Anstrengungen im Hinaufschrauben der bestehenden und Erfinden neuer Steuern das ihnen zur Verfügung stehende bißchen Verstand verloren, zumal der Zeitgeist immer unerbittlicher dazu trieb, ihm, wenn in nichts anderem, so doch wenigstens in bezug auf eine Reform und Vermehrung des herrlichen Kriegsheeres gerecht zu werden. In seinem Unmute hatte der Herrscher aller Herrscher bereits sämtliche Palastbeamte mit der Bastonade zu begnadigen geruht, da aber auch dies zur Verminderung der Notlage in keiner Weise beitrug, ließ er endlich seinen Großwesir kommen und fuhr diesen mit den ungnädigen Worten an: „Wie ist das, Großwesir, daß Ihr die wichtigste und erste Eurer Pflichten, den Staatssäckel in Harmonie mit den Bedürfnissen des Reiches zu erhalten, in so sträflicher Weise vernachlässigt?" „Allah ist groß!" erwiderte das zerknirschte Haupt der Regierung mit kläglicher Miene, „aber die Zeiten, Herrscher aller Herrscher, die Zeiten sind schlecht und werden immer schlechter." „Wie kann das sein?" zürnte der Allmächtige, „wachsen nicht gegenwärtig in den Ländern der Ungläubigen die Millionen so heidenmäßig aus dem Erdboden, daß sie, um nicht an ihrem Fette zu ersticken, immer mehr Soldaten einstellen müssen und ihre Flinten und Kanonen so häufig umändern lassen wie die Damen ihre Kleider und Hüte? Wo kommt das Geld her?" „Sie haben eine ganze Musterkarte von Steuern, die wir nicht haben." „Die wir nicht haben? Großwesir, wißt Ihr auch, daß das in Eurem Munde wie Hochverrat klingt? Sagt schnell und gebt mir triftige Antwort, warum wir die Steuern nicht haben, oder Euer Kopf, der, wie mir scheint, ganz unnütz zwischen Euren Schultern sitzt, soll so tief zu liegen kommen wie Eure Fußsohlen, die, wie mir scheint, einer Anregung dringend bedürfen." „Sie haben Steuern", rief erbleichend der Großwürdenträger, „welche viele Millionen bringen und jedes Mal nur erhöht zu 143

werden brauchen, wenn man für neue Millionen Verwendung gefunden hat, zum Beispiel die Bier- und Schnapssteuer. Aber Schnaps und Bier ist gegen unsere Religion." „Schade!" murmelte der Sohn der Sonne, „was nur der Prophet gedacht haben muß." „Im übrigen", fuhr der Großwesir fort, „geht unsere Industrie immer mehr zurück, diese Hunde von Ungläubigen fabrizieren ungescheut persische Teppiche und Schals und andere Sachen zu viel niedrigeren Preisen, und man kauft sie für echt. Was können wir tun?" „Was wir tun können, ist Eures Amtes zu wissen, und ich erwarte, daß Ihr es bald wissen werdet, sonst — beim Barte des Propheten und bei dem meinigen — werde ich wissen, was mit Euch zu tun ist. Geht!" Der Großwesir ging — und kam nicht wieder. Vorsichtig, wie seine Vorgänger, hatte er sich jederzeit für eine lange Reise vorbereitet gehalten, und was er von seinen Besitztümern und seinem Harem zurückließ, war des Konfiszierens nicht wert. Mächtiger waren die Rauchwolken, welche der Sohn der Sonne einige Tage später über die Rosen von Schiras hinwegblies, und unheilverkündender die Wolken auf seiner erhabenen Stirn, als sich ihm mit dem alles besiegenden Lächeln auf den schwellenden Lippen die derzeitige Herrscherin des Harems, die ehemalige französische Tänzerin Chouhou, von ihrem Gebieter in Scheherezade umgetauft, nahte und ihm alsbald durch unwiderstehliche Liebenswürdigkeit und bezaubernde Koketterie die Ursache seiner Mißstimmung herauslockte. „Erhabener Sohn der Sonne, Liebenswürdigster aller Sterblichen", rief sie dann, „verbanne die Wolken von deinem göttlichen Angesicht, ich will dir einen Rat geben, deine Moslim sind dumme Tölpel, weil sie ihre Nase nicht in die Welt hinausstecken. Ich kenne einen Derwisch, ich lernte ihn auf der Pariser Weltausteilung kennen, er befindet sich jetzt hier und hat mich um meine Protektion ersuchen lassen. Laß die Sonne deiner Gnade auf ihn scheinen, und der Born seiner Erfahrung und Weisheit wird dir um so reichlicher fließen, als du seiner reichlich gedenkst." Der Derwisch, der niemand anders war als ein ehemaliger Liebhaber der schönen Favoritin, wurde befohlen und erschien mit aller Würde eines Weisen. Mit der Ratlosigkeit des Herrschers 144

bekanntgemacht, erklärte er: „Allah ist groß, aber seine jetzigen Propheten sind der seidenen Schnur nicht wert, mit der man sie standeshalber erdrosseln müßte. Der Staatsschatz leidet an mangelndem Zuschuß aus Steuern, welche in Europa aus der Industrie gezogen werden. Die Produkte Ihres Reiches aber können nicht konkurrieren mit denen des Abendlandes, weil sie zu teuer sind." „Wie ist das möglich?" rief der Emir, „im Abendlande hat man freie Arbeiter, denen man Löhne bezahlen muß, und hier müssen die Sklaven umsonst arbeiten?" „Schwindel, erhabener Monarch, alles Schwindel", erklärte der Derwisch, „die Sklaven müssen hier gekauft werden, der europäische Industriepascha hat seine Arbeiter umsonst, er kann sie sogar auswählen, denn sie kommen ihm haufenweise zugelaufen, deshalb kann er auch den Lohn bestimmen, und der ist in der Regel nicht mehr, als der Arbeiter zur Fristung einer ganz armseligen Existenz braucht, vielfach noch weniger. Ernähren müssen die Herren ihre Sklaven hier aber auch, und sie müssen sie so halten, daß sie gesund und arbeitskräftig bleiben, denn sie bilden einen großen Teil ihres Kapitals. Wird der Sklave krank und schwach, so muß der Herr sehen, daß er ihn wieder arbeitskräftig macht, um das alles kümmert sich der europäische Industriepascha nicht, denn wenn ihm einer seiner Lohnarbeiter nicht mehr leistet, was er von ihm verlangt, nimmt er einen anderen, es kostet ihn ja nichts. Kann der Lohnarbeiter mit seinem Lohn seine Existenz nicht mehr fristen, so spannt er Frau und Kinder mit ein, und wenn sie trotzdem halb verhungern, was tut's dem Fabrikpascha? Tritt Arbeitsmangel ein, so werden die Lohnarbeiter entlassen, wovon sie dann leben, das kümmert niemanden; hier muß der Herr den Sklaven forternähren. Können Sie da nicht an den Fingern abzählen, warum die Industrie Ihres Landes nicht mit der abendländischen konkurrieren und also den Staatsschatz nicht füllen kann?" „Aber wie ist es denn mit der Disziplin?" „Disziplin? Ha, dafür haben sie die Hungerpeitsche, gegen welche Ihr Bastonaden-Bambus der reine Honigstengel ist, und nur in seltenen Fällen müssen Polizei und Militär nachhelfen." „Ich habe genug gehört", rief der Emir, betäubt von den Erklärungen über die Industrieblüte in den Kulturstaaten des Abendlandes. „Nimm diesen Ring als Lohn für deine lehrreiche 145

Aufklärung, er wird dich für den Rest deiner Tage sorgenfrei machen." „Im Abendlande hätte ich dafür eine andere Sorgenfreiheit erlangt", murmelte der Derwisch, indem er den Ring ehrerbietig küßte und dann in seine Tasche steckte. Zwei Monate später reiste er mit der in Ungnade gefallenen Scheherezade nach Paris. Das persische Reich aber sieht einer umfassenden Sozialreform entgegen. Die Sklaverei soll abgeschafft werden. Man will es mit der „freien Arbeit" versuchen, die im Abendland so Großes leistet. Durch Züchtung von Millionären und hohen Schutzzöllen glaubt man, dem Staatsschatz eine nie versiegende Quelle von Einnahmen zu eröffnen. DWJ 1893, S. 1530-1531.

Max Kegel Der verhängnisvolle Brief

Es war an einem Sonnabend, nachmittags vier Uhr. Der Redakteur des sozialdemokratischen Witzblattes „VitzliPutzli" saß auf seinem Redaktionstische, stützte seinen rechten Fuß auf die kondensierte Wissenschaft, Konversationslexikon genannt, und rauchte eine Zigarette. Sein Faktotum, der Expedient Müller, leistete ihm Gesellschaft, indem er mit blankem Dolchmesser einen Rettich zerteilte. Die Zeitung war fertig und die Kolporteure unterwegs. Man hätte eigentlich die Bude schließen können, aber der Redakteur erwartete noch einen wichtigen Brief. Am nächsten Tage sollte nämlich eine Provinzialversammlung der Sozialdemokraten behufs Besprechung über die Landtagswahlen stattfinden. Die Versammlung mußte eine geheime sein, denn es herrschte noch das famose Sozialistengesetz, mit dessen Hilfe die sozialdemokratische Wahlagitation von der Weisheit der Behörden als gemeingefährliche, auf den Umsturz usw. gerichtete Bestrebung deklariert wurde. Der Ort der Versammlung sollte den Teilnehmern erst einen Tag vorher mitgeteilt werden.

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und diese wichtige Mitteilung war es, welche man in der Redaktion des „Vitzli-Putzli" eben erwartete. Richtig, jetzt kam der Briefträger. Er legte einen Brief mit dem Poststempel M., der Nachbarstadt, auf den Tisch und empfahl sich rasch. Aus M. sollte die erwartete Mitteilung kommen, der Brief enthielt sie also ganz wahrscheinlich. Aber noch war der Brief nicht geöffnet, da öffente sich die Tür, und herein mit gewichtigem Schritt trat der Polizeikommissar Saul, gefolgt von dem Kriminalpolizisten Ratte und mehreren Behelmten, welche den Korridor und die Treppe besetzten. Solcher Besuch war in der Redaktion des „Vitzli-Putzli" nichts Neues und erweckte in der Regel dort nur geringes Interesse. Diesmal aber kam er höchst ungelegen, denn der soeben eingetroffene Brief durfte um keinen Preis in die Hände der Polizei fallen. „Was wünschen Sie?" fragte der Redakteur, den Polizeimenschen entgegentretend. Der Kommissar meldete Haussuchung an und fragte sodann direkt nach dem Brief, den der Redakteur soeben in der Hand gehabt hätte. „Ein Brief?" fragte derselbe erstaunt. „Ich hatte ja nur die Schere in der Hand." „Glauben Sie", fragte der Kommissar Saul ärgerlich, „daß ich einen Brief nicht von einer Schere unterscheiden kann?" „Die Polizei kann alles", war die ernst und feierlich gegebene Antwort. „Gut, so werden wir suchen." Die Polizeibeamten entledigten sich ihrer Sommerüberzieher und hingen dieselben an die in der Nähe der Tür befindlichen Kleiderhaken. Die Haussuchung begann. Unterdes war der gesuchte Brief in die Hände des Expedienten übergegangen, der ihn verschwinden lassen sollte, während der Redakteur die Aufmerksamkeit der Beamten beschäftigte. Die Aufgabe war nicht leicht, denn man wußte, der Kommissar Saul ging mit der denkbar größten Gründlichkeit zu Werke. Er durchsuchte nicht nur alle Räume und Schubfächer, sondern auch alle Taschen und jedes Rockfutter in der Bekleidung der Betroffenen, er prüfte sogar, ob die Hosen etwa einen doppelten Boden hätten, denn er wollte mittels des Sozialistengesetzes Karriere machen, weil das viel leichter und bequemer war als das Aufspüren von Dieben und Raubmördern. 147

Also wohin mit dem Brief? Im Lokal würde ihn die Polizei finden, die Entfernung aus dem Lokal verhinderte die Besatzung an der Tür. Da hatte Müller einen genialen Einfall. Dort hing ja der Uberzieher des Polizisten Ratte; dessen Tasche bot einstweilen einen Schlupfwinkel für den Brief, und vor der Beendigung der Haussuchung war er so leicht herauszunehmen, wie er sich hineinpraktizieren ließ. Ein gewagtes Spiel, aber es gab keine andere Möglichkeit. Der Brief verschwand ungesehen in der Tasche des polizeilichen Überziehers. Nun war Müller übermütig und bot seine Taschen selbst zur Durchsuchung an, „da der Polizei ja doch nichts verborgen bleibe". Er wurde von Ratte resultatlos durchsucht und konnte, nachdem seine Taschen als unverdächtig befunden waren, darauf ausgehen, den versteckten Brief wieder an sich zu bringen. Die Sache schien sich günstig zu gestalten, denn Ratte begann einen Nebenraum zu inspizieren, man hatte es also momentan nur mit Saul allein zu tun. Aber dieser war jetzt gerade in der Nähe der Kleiderhalter; er untersuchte sozusagen mikroskopisch einen alten Arbeitsrock des Redakteurs, und dann geschah etwas, das außer aller Berechnung lag. In seinem Eifer ergriff Saul den Überzieher seines Kollegen Ratte, den er für ein Kleidungsstück der Behaussuchten hielt, und nahm den Inhalt der Brusttasche heraus, mehrere Schriftstücke, darunter den dort versteckten Brief. Müller erschrak nicht wenig, als er letzteren in die Hände des Kommissars fallen sah, gleichwohl stimmte er ein lautes Gelächter an und beeilte sich, Saul auf den begangenen Mißgriff aufmerksam zu machen. Und seine rasche Intervention hatte auch den gewünschten Erfolg, denn der Kommissar korrigierte seinen Fehler, indem er die der Tasche entnommenen Papiere schleunigst und unbesehen dahin zurückbeförderte. „Sie scheinen Ihren Kollegen für sehr verdächtig zu halten", sagte der Redakteur des „Vitzli-Putzli" spottend. Saul wandte sich um und gab eine gereizte Antwort; dieser Moment genügte Müller, um einen Griff nach seinem Brief zu wagen. Er glaubte denselben gerettet zu haben und begab sich abseits in eine Fensternische. Aber leider — der Eingriff Sauls hatte die Papiere in Rattes Tasche durcheinandergebracht; Müller entdeckte, daß der Brief verwechselt war; er hatte einen schon geöffneten Brief ohne Adresse in der Hand. 148

„Was haben Sie denn da?" forschte in diesem Augenblick der Polizeikommissar und entriß den Brief der Hand des überraschten Expedienten. Der Brief enthielt nur einen Zettel, worauf die wenigen Worte standen: „Wir treffen uns morgen abend acht Uhr im Birkenwäldchen. D. K." „Das Komitee", übersetzte Saul die letzten beiden Buchstaben und fügte triumphierend hinzu: „Wir haben, was wir suchten." Darauf rief er seinen Untergebenen Ratte herbei und befahl ihm, die Haussuchung abzubrechen. Von seinem Funde sagte er dem Ratte nichts, denn er wollte das Verdienst der Entdeckung für sich allein in Anspruch nehmen. Die Polizei entfernte sich und nahm, ohne daß sie es wußte, den verhängnisvollen Brief mit fort. „Was nun?" fragte der Redakteur des „Vitzli-Putzli". „Was nun?" wiederholte der Expedient ratlos. Die Sache stand sehr bedenklich. Der Kommissar hatte freilich nur irgendein privates Stelldichein des biederen Ratte „entdeckt", denn eine andere Bedeutung konnte der beschlagnahmte Zettel schwerlich haben. Aber Ratte besaß den Brief aus M., der aller Wahrscheinlichkeit nach den Ort der sozialdemokratischen Zusammenkunft verriet. Und es war nicht mehr möglich, allen Teilnehmern abzusagen; ein Dutzend etwa mußten direkt in die Falle gehen! Während die beiden überlegten, wie dieser Gefahr zu begegnen sei, wurde die Tür vorsichtig geöffnet. „Sind sie fort?" fragte eine gedämpfte Stimme. Es war ein Kolporteur, welcher sehr vorsichtig den Kopf hereinsteckte und dann etwas näher kam, als er sah, daß die Luft rein war. „Ein Brief aus M.", sagte er geheimnisvoll. „Man wollte ihn der Post nicht anvertrauen, weil hinter dem Briefträger meistens der Polizist herläuft; deshalb hat ihn der Bote persönlich herübergebracht." Der ganze „Vitzli-Putzli" atmete erleichtert auf. „Was mag man uns aber per Post aus M. geschrieben haben?" fragte Müller. „Nur eine Zeitungsbestellung", berichtete der Kolporteur; „wir haben drüben fünfzig neue Abonnenten, das wollte man euch ohne Aufschub per Post melden, um euch eine Freude zu machen." Am anderen Tage fand die Provinzialversammlung der Sozialdemokraten ungehindert statt, an einem Ort, den die Polizei niemals erfuhr. 12

Prosasatire

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Um dieselbe Zeit aber umstellten Gendarmen das Birkenwäldchen, welches dicht bei der Stadt an das Villenviertel grenzt. Kommissar Saul mit mehreren seiner zuverlässigsten Leute drang in das Wäldchen ein und stieß gar bald auf zwei dunkle Gestalten. „Halt! Wer da!" rief die Polizei. Hierauf folgte eine unerwartete Erkennungsszene — man fand den Polizisten Ratte, der heute dienstfrei war, und seine Geliebte, die Köchin Karoline, welche in der benachbarten Villa diente. Und noch etwas fand man, nämlich einen schönen Truthahn, den Karoline für ihren Anbeter aus der Speisekammer der Herrschaft gestohlen hatte. Sie glaubte gewiß, ein Truthahn sei für einen Polizeimenschen das passendste Geschenk, weil dieses Tier einen Zorn auf alles Rote hat. Der Kommissar Saul verzichtete darauf, den Geheimbund zwischen Ratte und Karoline aufzulösen, und zog mit seinen Truppen ab. Er begriff noch immer den Sinn des vorgefundenen Zettels nicht, weil er in der Unterschrift „D. K." durchaus „Das Komitee" sehen wollte, während es eigentlich nur „Deine Karoline" hieß. So kann sich der schneidigste Polizeiheld oft irren! D W J 1894, S . 1 6 5 8 - 1 6 5 9 .

Der neue Salomo Eine märchenhafte Geschichte Lebte da viele, viele Jahre nach dem ersten Salomo ein zweiter, der war vielleicht noch weiser als der erste, dazu war er noch forsch und schneidig wie Simson, der Sohn Manoahs. Wenn er mit seinem Hinterteil den Vorsitz zierte, so kam die verstockteste Unschuld ein Zittern an, und die ungenierteste Gewalt kam zu ihrem Recht. Er brauchte weder Verteidiger noch Zeugen, ja, kaum hatte er einen Staatsanwalt nötig; alles, alles, alles, alles machte dieser Isidor. Und das Volk gab ihm die Namen „Gott der Gerechte" und „Iwan der Schreckliche". Und eines Tages kamen zwo Weiber zu diesem Salomo, und nun entwickelte sich folgende, stenographisch festgehaltene, „Verhandlung" : ERSTES WEIB: Ach, Herr, ich und dies Weib . . . 150

PRÄSIDENT SALOMO: Warum unterlassen Sie es, mich, wie es mir zukommt, Herr Präsident zu nennen? Ich sehe darin ein Zeichen Ihres Schuldbewußtseins. ERSTES WEIB : Aber Herr Präsident, ich fühle mich nicht schuldig. PRÄSIDENT: Wem wollen Sie das weismachen? Mir doch hoffentlich nicht, (erregt) Sie wollen mich doch wohl nicht darüber belehren, wer hier der Schuldige ist?! Ich glaube Ihnen einfach nicht, daß Sie glauben, daß Sie unschuldig wären. ERSTES WEIB : Aber Herr Präsident . . . P R Ä S I D E N T : Schweigen Sie und reden Sie weiter! (unterdrücktes Lachen im Publikum) Schutzmarin, säubern Sie die Tribünen von diesen arbeitslosen Radaulümmeln! (geschieht per Gummischlauch) So. Jetzt fahren Sie fort. Da wird 'ne saubere Geschichte herauskommen. ERSTES WEIB : Ich und dies Weib wohnten in einem Hause; und ich gebar bei ihr im Hause. Und über drei Tage, da ich geboren hatte, gebar sie auch. PRÄSIDENT: Na, das scheint ja 'ne nette Wirtschaft gewesen zu sein. ERSTES WEIB : Und dieses Weibes Sohn starb in der Nacht, denn es hatte ihn im Schlaf erdrückt. P R Ä S I D E N T (schnell): Ach warum nicht gar! So was tut doch 'ne Mutter nicht! Sie wollen ja nur verhetzen und verdrehen. ERSTES WEIB : A b e r es ist doch so! P R Ä S I D E N T (sehr erregt): Ob es so ist, das zu entscheiden, überlassen Sie wohl gefälligst mir! (halb für sich) Rabiates Frauenzimmer! Petroleuse! (zu dem Weib) Na, was werden wir jetzt noch kriegen? ERSTES WEIB : Und sie stand in der Nacht auf und nahm meinen Sohn von meiner Seite und legte ihn an ihren Arm, und ihren toten Sohn legte sie an meinen Arm. PRÄSIDENT: Halten Sie uns nun wirklich für so naiv, daß wir Ihnen das glauben? Einer solchen Immoralität ist doch diese Frau nicht fähig! (JSU dem andern Weib) Nicht wahr, liebe Frau? ZWEITES WEIB : Allerdings, hoher und weiser Herr Gerichtshof! P R Ä S I D E N T (nickt

wohlwollend).

ERSTES WEIB: Und da ich des Morgens aufstand, meinen Sohn zu säugen . . . PRÄSIDENT: „Säugen" ist ein Ausdruck, der unter gebildeten und anständigen Leuten überhaupt nicht bekannt ist. Man „säugt" ein Kind nicht, man gibt es der Amme. Sie geben immer 12*

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deutlicher zu erkennen, zu welcher Sorte von Menschen Sie gehören und wessen man sich danach von Ihnen zu gewärtigen hat. ERSTES WEIB : Da war mein Sohn tot. Aber am Morgen sah ich ihn eben an; und siehe, es war nicht mein Sohn, den ich geboren hatte. PRÄSIDENT: Sie haben vermutlich überhaupt keinen Sohn gehabt! Ich beschließe, Sie nicht zu vereidigen, da Sie nach Ihrer ganzen Denkweise zu jener Klasse von Menschen gehören, die sich aus einem Meineid nichts machen. ERSTES WEIB: Herr Präsident, das ist eine Beleidigung! PRÄSIDENT: Schad't nichts; ich werde Sie trotzdem durchaus gerecht verurteilen und, obwohl mir die ganze Sache schon fabelhaft klar ist, doch noch ein übriges tun. (plötzlich mit Würde) Audiatur et altera pars! (zu dem andern Weib) Reden Sie: Haben Sie Ihr Kind selbst erdrückt, oder hat die es getan? ZWEITES WEIB: Nicht also, mein Sohn lebt, und ihr Sohn ist tot. PRÄSIDENT: Also ist das tote Kind doch ihr Kind? ZWEITES W E I B :

Natürlich.

ERSTES WEIB: Nicht also, ihr Sohn ist tot, und mein Sohn lebt. PRÄSIDENT: Gott, die Sache ist ja sehr einfach. Schutzmann, langen Sie mal Ihren Säbel her! Ich werde also jetzt das lebendige Kind in zwei Hälften schneiden und jeder ein halbes Kind geben. ERSTES WEIB : Ach, mein Herr, geben Sie ihr das Kind lebendig und töten Sie es nicht! ZWEITES WEIB: Was Sie auch beschließen, hoher Herr Präsident, ist gerecht und weise; Ihr Wille geschehe! P R Ä S I D E N T (triumphierend): Na? Was hab' ich gesagt? Was brauchen wir weiter Zeugnis? Die loyale Demut dieses gutgesinnten Weibes redet deutlicher denn tausend Zeugen. Sie (zum zweiten Weib) bekommen das lebendige Kind. Ich werde außerdem dafür sorgen, daß Ihnen durch die allgemeine Verdienstmedaille eine eklatante Genugtuung zuteil werde. Sie (zum ersten Weib) bekommen fünf Monate Gefängnis, tausend Mark Geldstrafe, das tote Kind und haben die Gerichts- und Beerdigungskosten zu zahlen. Ihrer frech-radikalen Gesinnung halber werden Sie außerdem unter polizeiliche Aufsicht gestellt. Die Kunde aber von der Weisheit Salomonis II. ging wie ein Brausewetter durch alle Lande, und alles Volk rief: „Gott, du gerechter, wen's juckt, der kratze sich." DWJ 1894, S. 1721.

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Ernst Klaar Blinde Scheiben Hoch empor in den blauen Frühlingshimmel ragt die stolze Fabrik, keck überragt von dem schlanken Schornstein, der dichte Massen schwarzgelblichen Qualms in die Lüfte speit. Draußen lacht der Frühling, blühen die Blumen und singen die Vögel — als ob es keine Fabriken, keine qualmenden Schornsteine und keine bleichen, ausgebeuteten Proletarier gäbe. Siegreich hebt der Frühling sein blaues, lustiges Banner; allem Rädergebraus zum Trotz schmettert der Fink sein fröhliches Lied, und nicht einmal der schwarze, dicke Qualm, der sich so beklemmend auf die Brust legt, kann den Lenz und seine Boten verscheuchen — die Natur ist mächtiger als Menschenwerk. Aber drinnen in der Fabrik, da hat der Frühling keine Macht mehr, da herrscht das Kapital, grausam, unerbittlich. Wie die Räder sausen! Wie die Riemen schwirren! Wie die Dampfhämmer dröhnen! Vorwärts, ihr Sklaven, die ihr an den Rädern, Riemen und Dampfhämmern frondet! Vorwärts, nicht aufgeschaut! Nur immer den Blick fest und starr auf die Arbeit gerichtet! Und die Gedanken auf die Arbeit gerichtet! Denn ihr seid verkauft mit Leib und Seele dem, der euch am Samstag euren Lohn gibt, der euch schurigeln und auf die Straße werfen kann, wie's ihm beliebt. Warum seid ihr auch arm und habt nichts anderes zu verkaufen als eure Hände und euer Hirn? Ihr seid sein, seid seine Sklaven, solange euch der Fabrikhof umfängt — und noch darüber hinaus. Nur ihm habt ihr zu dienen, nur an seinen Vorteil zu denken. Vorwärts, fauler Schuft! Flott die Hände geregt, denn des Herrn Auge wacht über dir und deiner Arbeit. Und wehe dem Säumigen! Ja, des Herrn Auge wacht über die Seinen. In matten Strahlen fällt das helle, sonnige Frühlingslicht durch die hohen Fenster in den weiten Fabriksaal und flimmert über die blankgeputzten Maschinen hin. Das ist der Bote des Lenzes, der sich wie ein Spion durch die berußten Scheiben stiehlt — aber es ist auch der einzige. Und wie wird ihm das Feld streitig gemacht! Nur die oberen Scheiben gewähren ihm widerwillig Einlaß, die unteren aber sind — blind. Jawohl — blind! Eine raffinierte Profitgier hat sie mit grauer Farbe bestrichen, daß kein menschliches Auge hinein-, kei153

nes hinaussehen kann. Nun sind sie gefangen in dem weiten Fabriksaal, die Sklaven der Profitgier. Der Leib hat seinen Kerker und der Geist auch. Nicht einmal der Blick darf hinausschweifen in die sonnige Frühlingspracht. Oh, das Kapital, es rechnet gut. Diese Blicke, sie kosten Zeit, sind verlorene Arbeit, verlorener Gewinn. Und sie wecken die Sehnsucht nach Luft und Licht und Freiheit, wecken die Sehnsucht nach einer schöneren, besseren Zeit. Darum geschwind die Fenster zu und Farbe darauf gebatzt, daß kein Mensch hindurchschauen kann! Und Blick und Gedanken auf die Arbeit gelenkt, nur auf die Arbeit! Der Fabrikproletarier soll und muß gefangen sein, wenn das Kapital gut bestehen soll. Was kümmert ihn die Frühlingspracht? Was der Duft der Blumen und der Gesang der Vögel? Für den Arbeiter gibt es keinen Frühling, solange das Kapital seiner bedarf. All diese Pracht und Herrlichkeit, sie rauscht vorüber an seinem leiblichen und geistigen Auge, und er hat sie nicht geschaut. Denn blind soll er sein, blind wie die gefärbten Scheiben, die ihm den Sonnenstrahl stehlen. Aber er will nicht blind sein, der Proletarier unserer Tage! E r verlangt nach Luft und Licht, nach Luft und Licht für den Leib und für den Geist. Mögen auch die Herrschenden blinde Scheiben allerwärts errichten, um ihm den Horizont einzudämmen, es ist umsonst. Über diese Hindernisse hinweg läßt er seinen Blick schweifen weit hinaus in die Herrlichkeit und Schönheit der Welt. Und er breitet seine Arme sehnend aus, all diese Herrlichkeit zu ergreifen und zu umfangen. Und er fühlt das sonnige Wehen des Lenzes! Und er atmet die süßen Düfte der Blumen! Und er lauscht dem Gesang der Vögel! Und tut er all dieses auch zunächst nur mit seinem Geist, es wird dereinst kommen der Tag, wo er mit geballter Faust die blinden Scheiben zerschlägt und hereinläßt den Klang und Duft und Glanz des Lenzes. Denn der Arbeiter soll nicht sein wie ein Zuchthäusler, den man ob seiner Verbrechen in den Kerker steckt und ihn hält wie ein wildes, reißendes Tier, nein, er soll sein wie ein Mensch, der Anteil nimmt an allem, was die Erde Schönes bietet. Die blinden Scheiben, die das Kapital errichtet, sie werden ihm nicht den Blick eindämmen, wie es ihre Bestimmung ist, nein, sie werden ihm die Augen öffnen, daß er sehend werde. SP 1895, Nr. 10, S. 3. 154

Der Lügen-Derwisch Ein indisches Märchen Es war einmal ein indischer Fürst, namens Almansor, der in seinem Reiche sehr gefürchtet war wegen seiner Grausamkeit und Strenge; Almansor besaß einen großen Eigendünkel und hielt sich für den klügsten und besten Herrscher der Welt. Wehe dem, der seinem Namen nicht die nötige Ehrerbietung zollte, er wurde unerbittlich einen Kopf kürzer gemacht. Bei Majestätsbeleidigungen erreichten die Spitzfindigkeiten in der Auslegung und Anwendung der Gesetze einen solch hohen Grad, daß man sich nicht einmal mehr getraute, den Herrscher zu loben, viel weniger seinen Namen in absprechender Weise zu erwähnen. Man nahm an, daß es vom Kadi als Ironie angesehen werden würde. Eines Tages nun geschah es, daß ein Derwisch, mit weißem, wallendem Bart, unangemeldet an den Stufen des Thrones erschien und dem Fürsten zurief: „Hüte dich, Almansor! Denn wisse, dein Maß ist voll; alle die, welche du zu töten glaubst, werden nicht sterben, sondern wieder auferstehen und sich verdoppeln und verzehnfachen." Racheschnaubend fuhr Almansor auf und befahl seinen Schergen, den Derwisch zu fesseln und auf der Stelle zu enthaupten. Doch der Derwisch war verschwunden und wie Nebel zerronnen. Almansor schäumte vor Wut. Zitternd und bebend umstanden die Minister und Höflinge den Thron, jede Minute gewärtig, daß sein Zorn sich über ihren Häuptern entladen würde. Der Fürst befahl, sämtliche Gefangenen vor den Thron zu schleppen und angesichts des versammelten Hofes und aller Räte vom Leben zum Tode zu bringen, denn er wollte den Derwisch der Lüge überführen. Alle klatschten Beifall, denn sie fühlten den Zorn des Herrschers von sich abgewendet. Als die Köpfe von zwanzig Opfern auf die Marmorfliesen rollten, rief Almansor: „Wenn ihr könnt, so steht wieder auf, setzt eure Köpfe auf die Rümpfe und verzehnfacht euch!" Aber siehe da, keiner bewegte sich, denn die Körper waren tot. Alle Anwesenden priesen den mächtigen Herrscher, und dieser ließ ein Fest veranstalten, welches bis zum nächsten Morgen währte. Kaum graute der Tag, als ein Sklave in den Festsaal trat und meldete, daß in der Nacht vierzig Menschen aufgegriffen worden wären, welche die Hinrichtung der zwanzig Verbrecher abfällig kritisiert hätten. 155

Almansor, vom Wein erhitzt, ließ auch diese enthaupten, wobei er ein über das andere Mal den Lügen-Derwisch verspottete. Die Köpfe der Hingerichteten aber wurden auf Stangen gesteckt und vor den Tempeln aufgestellt — dem Volke zur Warnung. Des anderen Tages, als Almansor soeben seine Waschungen beendigt hatte, t r a t ein Bote zu ihm und meldete, daß die Häscher achtzig Männer, die sich wegen der vierzig Hingerichteten unehrerbietig über den Herrscher geäußert, gefangen hätten. Da loderte der Grimm des Fürsten aufs neue mächtig empor; er stampfte zornig mit dem Fuß auf den Boden und befahl, alle achtzig an der großen Straße nach der Hauptstadt aufzuknüpfen und ihre Leiber den Geiern zum Fraß zu lassen. Und also geschah es. Almansor ritt selbst mit seinem Gefolge hinaus und überzeugte sich, daß seinem Befehl Folge geleistet wurde. Am folgenden Abend hatten die Geier die Leichname bis auf die Knochen aufgezehrt und umkreisten schreiend die Richtstätte, so daß ihr Gekrächze bis in den Saal des Palastes drang, in dem der Herrscher seine Mahlzeit einnahm. Als dieser die heiseren Stimmen der Geier hörte, strich er befriedigt seinen Bart und sprach: „Dies Geschrei bürgt mir dafür, daß auch diese achtzig nicht wieder auferstehen, der Derwisch ist ein Lügner." Kaum hatte Almansor diese Worte ausgesprochen, als sich die Tür öffnete und ein Sklave eintrat, welcher mit verstörter Miene berichtete, daß unweit der Richtstätte in einem Olivenhain achthundert Männer versammelt wären, die fürchterliche Reden hielten und es auf die geheiligte Person des Fürsten abgesehen hätten. Entsetzt und leichenblaß fuhr Almansor in die Höhe; er glaubte die mahnende Stimme des Derwischs zu hören. Doch bald faßte er sich, und in wildem Trotz warf er den goldenen Pokal zur Erde, daß er zerbarst. Dann befahl er der Leibgarde, den Hain zu umzingeln und alles niederzumetzeln. Auch dies geschah. Die aufgehende Sonne beschien einen blutgedüngten Boden. Weiber und Kinder klagten um ihre gefallenen Männer, Väter und Brüder; sie liebkosten und streichelten die Toten, um sie wieder zu erwecken. Umsonst, die Schergen hatten ihre Arbeit zu gut getan. Der Derwisch hatte gelogen! Mit dem Bewußtsein, ein abschreckendes Exempel statuiert zu haben, ging Almansor zur Ruhe. Doch wirre Träume umgaukel156

ten seine Sinne; er glaubte, die Stimme des verhaßten Derwischs zu vernehmen, die ihm, bald leise, bald laut, zurief: „Und sie stehen doch wieder auf!" Dann sah er, wie die Häupter der Geköpften sich zu bewegen begannen und ihn hämisch angrinsten; er sah, wie die Skelette der Gehenkten, mit dem Hanfseil um den Wirbelknochen, heranklapperten; auf einem großen roten See schwammen die im Olivenhain Erschlagenen auf ihn zu; und nun begannen sie zu tanzen, allen voran der Derwisch. Almansor ward mit in den tollen Reigen gerissen, der lang wallende Bart des Derwischs wickelte sich um seinen Hals, und der lange Kaftan umschlang seine Knie, er drohte zu ersticken. — Mit einem lauten Schrei fuhr er aus seinen Kissen empor. Da war das Unglück auch schon da. Vor seinem Bett stand sein Lieblingssklave, der schreckensbleich stammelte: „O Herr! An 8000 Mann nahen dem Schlosse! Es ist offener Aufruhr im Lande ausgebrochen; viele Eurer Diener sind erschlagen, o rettet Euch!" Entsetzt sprang der Fürst auf, und, halb bekleidet, befahl er seinen Leibwachen, den herannahenden Massen entgegenzuziehen. — Ein blutiges Ringen entstand, der Haufen des Volkes vergrößerte sich zusehends, immer neue Streiter eilten herbei. Schritt um Schritt wurde die Leibwache, die durch Sklaven verstärkt worden war, zurückgedrängt, bis sie sich in wilder Flucht zu retten suchte. Der Fürst selbst wurde von seinen eigenen Sklaven niedergehauen. Er büßte mit seinem Leben für alle seine Grausamkeiten. Der Derwisch aber, der nicht gelogen hatte, suchte die Leiche Almansors auf und bestattete sie unter einer Zypresse. Auf das Grab wälzte er einen Felsstein. Alle Nächte wird das Grab von Geiern umkrächzt und von Hyänen umheult, die in ihrer Art den Fürsten betrauern, der immer so gut für sie gesorgt hat. DWJ 1895, S. 2032-2033.

Ernst Klaar König

Mammon

Ein Maienmärchen König Mammon hielt seinen Umzug im Land. Eine goldene Krone zierte sein Haupt, von Perlen und Edelstein blitzte sein Ge-

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wand, und purpurn flatterte sein Mantel im Wind. Grau waren sein Haar und sein Bart, kalt und grausam sein Antlitz und seine Hände knochig und dürr wie Geierklauen. Sein Wagen war reicher geschmückt denn der irgend eines anderen Königs, alles glänzte von Gold und Silber, von Smaragden und Rubinen, von Seide und Samt, und um den Bord zog sich statt der Blumengewinde eine Girlande von hohläugigen, grinsenden Menschenschädeln. Wie ein Triumphator zog er durchs Land. Rauh und heiser und herrisch klang seine Stimme, kalt und eisig war sein Lächeln, und in der Hand führte er statt des Zepters die Hungerpeitsche, Und wo er hinkam, da neigten sich die Menschen vor ihm bis zur Erde und zogen jubelnd mit ihm und sangen gellend sein Lob; wer aber des Königs Majestät nicht anerkennen wollte, über den schwang er klatschend die Hungerpeitsche, und die Mammonsknechte ergriffen den Frevler und fesselten ihn mit rauher Hand an den Triumphwagen der grausigen Majestät. Denn, die den Wagen zogen, das waren nicht flinke Rosse, nicht starknackige Stiere oder anderes Getier, sondern — Menschen, Menschen mit blassen, hohlwangigen Gesichtern, mit tiefliegenden Augen und gebeugter Haltung. Um das ausgemergelte, schlotternde Gebein flatterte die zerfetzte und zerlumpte Kleidung, und aus den Augen blickten der Hunger und die Verzweiflung. Stumm und stumpf trugen die einen der Ketten Last, mit gellendem Wehgeschrei trugen ihr Joch die andern — aber sie alle, Männer, Weiber und Kinder, wurden gebändigt durch die Hungerpeitsche. Sklaven der Arbeit waren's, Menschen, aus deren Blut und Schweiß und Mark die blanken Goldstücke gemünzt wurden, die des Königs Macht bedeuteten, Menschen, die kein Entrinnen sahen aus diesem Joch des Elends! Und sie keuchten mit ihrer Last bergauf, bergab und litten Hunger und Frost, Schmach und Demütigung. Ihre Schreie der Verzweiflung wurden erstickt durch dasHalleluja der Mammonspriester, durch das Triumphgeschrei von dem großen Troß, der neben des Königs Wagen einherlief und sich nährte von den fetten Brocken, die von des Herrschers Tische fielen. Und es waren darunter feile, käufliche Minister, bankrotte Spekulanten, Huren, Pfaffen, Parlamentarier, Spieler, Offiziere, Journalisten, Aristokraten, Betschwestern, Spießbürger, Kommerzienräte. Roués und sonstiges Gesindel; die umsprangen und umtanzten den Wagen und schrien mit aller Kraft ihrer Lungen : „Heil dem König Mammon, der uns schützt und nährt! Heil dem 158

mächtigen Herrscher, der unsere Feinde mit eherner Faust darniederzwingt! Heil dem Erhalter unserer göttlichen Weltordnung!" Und wie der König so seines Weges zog, sah er seitwärts am Straßenrain einen Jüngling stehen, der war hoch und schlank gewachsen und trug eine rote phrygische Mütze auf dem kurzen, krausen Gelock. Wie traumverloren schaute er hinaus in die Weite, die Rechte schirmend vor die Augen haltend, die Linke am ehernen Hammer, der ihm im Gürtel stak. Und als der König vorüberkam mit all seinem lärmenden Troß, da wandte der Jüngling nur leise sein Haupt, und ein Blick voll innigen Mitleids und leidenschaftlichen Hasses schweifte über die Gruppe. Das verdroß den König gar sehr, daß der Jüngling nicht auch sein Knie beugte wie alle die anderen und nicht einstimmte in das Triumphgeschrei der schmarotzenden Trabanten, und er herrschte ihn darob mit rauher Stimme an: „Warum weigerst du mir die Huldigung, die du mir schuldig bist?" „Weil ich dich hasse." „Und warum hassest du mich?" „Weil du die Verkörperung alles Unrechts und aller Schmach bist, die seit Jahrtausenden meine leidenden Mitbrüder erdulden mußten." „Auf die Knie, du Hund!" donnerte zornbebend der König. „Auf die Knie, sage ich, oder ich zermalme dich!" Und drohend schwang er die Hungerpeitsche, und gierig griffen die Mammonsknechte den Frevler an. Aber die Hungerpeitsche hatte keine Macht über ihn, und die Knechte wichen entsetzt zurück vor den machtvollen Streichen, die der Jüngling mit seinem Hammer nach ihnen führte. Da erbleichte der König Mammon, denn solches war ihm noch nicht widerfahren. Und sein Troß begann unruhig zu werden, und die menschlichen Zugtiere seines Wagens fingen an zu murren. „Warum sollen wir uns von ihm peinigen lassen, wenn auch seine Macht eine Grenze hat?" grollten die einen. „Sollen wir ihm noch ferner Heerfolge leisten, wenn er nicht mehr der Allmächtige ist?" flüsterten die anderen. Als der König so seine Macht wanken sah, beschloß er bei sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und den Jüngling durch List und Bestechung unter sein Zepter zu beugen. Darum stieg er herunter von seinem goldenen Wagen und legte sein herrschsüchtiges Antlitz in freundlichere Falten und trat heran zum

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Jüngling und sprach: „Deine Kraft ist kostbar und wert, aber ich bin reich und mächtig und will dich gern in meine Dienste nehmen. Was begehrst du als Lohn?" „Ich dir dienen?" lachte der Jüngling. „Bekämpfen werde ich dich bis zum letzten Blutstropfen und nicht ruhen und rasten, bis deine unheilvolle Macht gebrochen ist." „Sei kein Narr, junger Freund! Du sollst es gut haben bei mir. Reichtum und Genuß, Ruhm und Ehre, Macht und Gewalt will ich dir geben, wenn du mir untertänig wirst. Sieh diese Stadt drunten im Tal mit ihren qualmenden Schloten und stolzen Palästen, ihren ragenden Kirchen und freundlichen Landhäusern, mit ihren Schätzen und fleißigen Menschen — sie sei dein! Und alles Land, so weit dein Blick reicht, soll dir untertänig sein, so du meine Macht anerkennst." Da stampfte der Jüngling zornig mit dem Fuß und rief: „Hebe dich weg von mir, elender Versucher! Die ganze Welt hast du gekauft, aber mich wirst du nicht käuflich finden. Krieg wird sein zwischen uns beiden bis zum letzten, und mir wird die Zukunft und die Herrschaft der Welt gehören, denn ich bin die Jugend und die Kraft, die Wahrheit und die Gerechtigkeit — ich bin der Sozialismus!" Und sogleich reckte der Jüngling seinen Arm aus gegen die gewerbfleißige Stadt, und wie auf Zauberschlag verstummte der Lärm der Räder, und die schwarzen Rauchwolken verflogen im Morgenwind. Stumm ward's in den Fabriken, aber laut in den Straßen. Und sie zogen hinaus zu den Toren der Stadt, alle die Zehntausende, die dem Kapitalismus frondeten, alle, in denen der Drang und der Wille lebendig geworden nach einer besseren Zukunft, alle, die zur Erkenntnis erwacht, Männer, Weiber und Kinder in buntem Gemisch. Festlich geputzt zogen sie hinaus ins grüne Maifeld, zur welterlösenden Maienfeier. Und neue Scharen kamen herbei von allen Richtungen der Windrose, von Nord und Süd, von Ost und West, zahllos wie der Sand am Meer. Und es war kein Unterschied zwischen Stadt und Land, und kein Unterschied zwischen Stamm und Mutterlaut, alle, alle, ein einziges großes, endloses Heer! Und der Boden dröhnte unter ihren Schritten, als sie durch das Tal dahinzogen, und der Fels erzitterte, als sie millionenfach den Berg herauf klommen. Da stand der König Mammon wie versteinert, als er die gewaltige Heerschau sah. Und seine Priester und Knechte und Trabanten 160

entflohen mit lautem Geschrei, und er selbst wollte fliehen und konnte nicht, denn das Blut war ihm erstarrt in den Adern. Und nun klommen die ersten herauf und sahen ihre gefesselten Brüder, und mit wuchtigem Ruck rissen sie deren Ketten entzwei und lösten ihre Glieder. Und die Frauen eilten herbei, die Verschmachtenden zu erquicken und ihre Wunden zu heilen, die Männer aber ergriffen die Ketten der Befreiten und erschlugen damit den gestürzten Tyrannen. SP 1897, S. 70-71.

Tarub Die

Friedenskonferenz

Ein Märchen Punkt neun Uhr hatte die Mama den kleinen Hansi zu Bett gebracht. Aber der gute Junge konnte nicht einschlafen. Vergebens steckte er den Kopf unter die Decke, um nichts mehr zu sehen und zu hören. Er mußte immer wieder an all die schönen Spielsachen denken, die nebenan in der Wohnstube unter dem Christbaum lagen. Besonders an die Menagerie, die ihm Onkel Gustav geschenkt hatte. Ob die braven Tiere alle schon schliefen? Und ob der böse Wolf diese Nacht dem weißen Schäfchen nichts zuleide täte? Aber es war ja Weihnachtsabend, und die Mama hatte ihm erst gestern noch erzählt, wie in dieser Nacht vor vielen hundert Jahren die Engel den Hirten erschienen seien und „Friede auf Erden" gesungen hätten. Da müßten die Tiere doch artig sein! Es war ja auch so mäuschenstill im ganzen Hause. Doch halt! Was war das? Der kleine Hansi zitterte an allen Gliedern. Vorsichtig legte er das Ohr an die Wand und hielt den Atem an. Wahrhaftig! Wie er eine Weile hinhorchte, hörte er es wieder deutlich schnaufen und klopfen. Kein Zweifel! Drüben im Wohnzimmer, wo der Christbaum stand, ging was Unheimliches vor. Sollte er die Mama rufen? Aber die war ja schon zu Bett gegangen. Und er getraute sich nicht, im Dunkeln durch den kalten Hausflur zu gehen. Puh! Wenn ihm da zufällig der Kasperle mit seiner großen Peitsche begegnete! Der hatte ihn mit seinem breiten Maul schon heute abend so höhnisch angegrinst! Nein! Nein! Er wollte hübsch ruhig liegenbleiben und die Augen fest

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zudrücken und die Ohren zuhalten und mit den Engeln „Friede auf Erden" singen und schlafen — schlafen — schlafen! Wie lange er geschlafen hatte, wußte er nicht. Aber jetzt war er wach, ganz wach. Denn er hörte deutlich, wie es dreimal an die Tür pochte. „Herein", rief jemand neben ihm, und er wußte ganz genau, daß er selber dieser Jemand war, denn er erkannte seine eigene Stimme. Draußen kratzte es eine Weile an der Klinke herum, dann öffnete sich langsam eine Spalte in der Tür, und herein spazierte feierlich im Gänsemarsch Onkel Gustavs ganze Menagerie. Dem kleinen Hansi standen die Haare zu Berge; und doch mußte er die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzulachen; denn was er da sah, war so drollig, daß er darüber schier seine Angst vergaß. An der Spitze marschierte der Löwe. Er ging aufrecht auf den Hinterbeinen, hatte die Mähne kurzgeschoren und die Krallen der Vorderfüße in dicke Lederhandschuhe gesteckt und trug in der einen Pfote eine große brennende Kerze, in der anderen einen grünen Palmzweig. Hinter ihm schlich, demütig zusammengeduckt wie ein armer Sünder, den eingezogenen Schweif zwischen die Beine geklemmt, der Wolf, eine große blaue Brille auf der Nase, andächtig in einem Gebetbuch lesend. Der Fuchs, der als dritter im Zuge tänzelte, hatte einen weißen Chorrock an und benützte seinen buschigen Schwanz als Weihwedel, und zwischen seinen Zähnen hielt er — o Wunder aller Wunder! — ein lebendiges Huhn, das vor Vergnügen gar lieblich gackerte. Aber der Marder, der jetzt kam — er hatte sich offenbar die vierte Stelle ausgebeten, um den Fuchs zu ärgern —, übertrumpfte seinen Vorgänger noch an Frömmigkeit. Er ging barfuß wie ein Kneipjünger und hatte nichts als ein wollenes Tuch um die Lenden geschlagen; aber aus der Reisetasche, die er auf den Rücken geschnallt hatte, guckten große gelbe Rüben und weißgrüne Kohlköpfe heraus, und auf der Schnauze balanzierte er zierlich ein schneeweißes Täubchen, das lustig mit den Flügeln schlug, während er es mit verliebten Blicken koste und zuweilen, wie aus alter Gewohnheit, mit zitternden Nasenlöchern nach ihm emporschnupperte. Kein Wunder, daß der Ochse, der gleich hinter ihm her trabte, bei diesem Schauspiel seine großen Augen noch weiter aufriß und das Maul zu einem bewundernden „Muh!" öffnete. Auch der Esel, der ihm folgte, wackelte nachdenklich mit den langen Ohren, während sich das Schaf, das zuletzt durch die Tür hereinstolperte, mit dem ge162

spaltenen Huf eine Träne aus dem Auge wischte. Es war offenbar gerührt, so tief gerührt, wie es Hansi nur beim Anblick einer noch nicht angeschnittenen Pflaumentorte zu sein pflegte. Hansi hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und saß, die angezogenen Knie mit beiden Händen festhaltend, aufrecht da und harrte mit fieberhafter Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Um ja keinen Laut von dem, was geschah, zu verlieren, langte er vorsichtshalber noch einmal das Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor und schneuzte sich die Nase. Unterdessen hatten sich die Tiere genau in der Reihenfolge, wie sie gekommen waren, rings um den Löwen im Kreis aufgestellt. Der Wolf, der Fuchs und der Marder standen ganz in der Nähe des Ofens, so daß ihnen Hansi gerade ins Gesicht sehen konnte. Der Ochse, der Esel und das Schaf, die sich bis dicht ans Bett herandrängten, kehrten ihm den Rücken zu. Keines gab einen Laut von sich, und doch hörte Hansi wieder ganz deutlich jenes unheimliche Schnaufen, das ihm gleich zu Anfang, als noch niemand im Zimmer gewesen war, solche Angst eingejagt hatte. Woher das nur kommen mochte? Seltsam! Sooft er den Atem anhielt, verstummte es auch; aber kaum wagte er wieder Luft zu schöpfen, so war es wieder da; und—wie verhext — es kam und ging genau im Takt mit seinen eigenen Atemzügen. Ihn gruselte. Ein wahres Glück, daß jetzt der Löwe sich räusperte und, nachdem er mit dem Palmzweig die Umstehenden gegrüßt hatte, seinen Rachen aufsperrte und also zu brüllen begann: „Durchlauchtigste Vettern und Freunde! Es hat meiner brüllenden Allmacht gefallen, auf den heutigen Tag die Tiere der Erde, soweit sie ein Recht auf Existenz haben, zu einer Konferenz einzuladen, damit dem unsinnigen Morden, das heute noch so vielfach das Leben unserer Mitviecher bedroht, ein Ende gemacht und das unnütze Blutvergießen, das dem heutigen Kulturzustand der gesamten Tierheit hohnspricht, für immer aus der Welt geschafft werde!" „Bravo!" heulte der Wolf. „Sehr gut!" bleckte der Fuchs. „Hört! Hört!" pfiff der Marder. Während der Ochse ein befriedigtes „Muh!" und das Schaf ein verzücktes „Mäh!" von sich gaben. Der Esel aber, der da meinte, daß man ihn ganz besonders um seine Meinung gefragt hätte, sagte kurz und bündig: „Ia!" „Ich danke Ihnen, meine Herren", fuhr der Löwe fort, indem er die Kerze in der Linken hoch emporhielt, „ich danke Ihnen für diesen Beweis ihrer friedlichen Gesinnung, die mir im voraus den Erfolg unserer Friedenskonferenz verbürgt. Das Licht der Ver163

nunft, das ich hier in Händen halte, hat glänzend gesiegt über die mittelalterliche Barbarei. Es versteht sich aber von selbst, daß gute Gesinnungen allein nicht genügen, um den Frieden unter den Tieren der Erde zu sichern. Nein, wir müssen uns zur erlösenden Tat aufschwingen, wir müssen das Übel an der Wurzel fassen, wir müssen, um den Mord zu beseitigen, die Mordwerkzeuge selbst vernichten, mit einem Worte: wir müssen abrüsten!" „Bravo!" heulte der Wolf. „Sehr gut!" bleckte der Fuchs. „Hört! Hört!" pfiff der Marder. Während der Ochse ein befriedigtes „Muh!" und das Schaf ein verzücktes „Mäh!" von sich gaben. Der Esel aber, der wieder meinte, man habe ihn um seine höchsteigene Meinung gefragt, sagte noch einmal kurz und bündig: „Ia!" „Ihre erneute Zustimmung", fuhr der Löwe fort, indem er sich nach allen Seiten verneigte, „ermutigt mich, Ihnen sogleich bestimmte, von mir und meinen Räten reiflich erwogene Vorschläge zu unterbreiten, die ich Sie ohne lange Debatte — denn wir sind ja alle tief von dem hehren Friedensgedanken durchdrungen — zum Beschluß zu erheben bitte. Es ist ohne weiteres klar, daß hier, wo es das Wohl der gesamten Tierheit gilt, jeder einzelne von uns mit Freuden ein kleines Opfer bringen wird. Wir können hier die besonderen Liebhabereien unserer durchlauchtigsten Mittiere nicht schonen, sondern verlangen, daß jeder von uns Großen, die wir an der Spitze der Tierheit marschieren, die Mordwerkzeuge, die eine ständige Gefahr für seine schwächeren Brüder und Vettern sind, so oder so, wie es eben von ihm verlangt wird, unschädlich mache!" „Muh!" brüllte der Ochse aus Leibeskräften und schlug mit dem Schwanz um sich, daß dem Esel, der erschrocken zur Seite sprang, das begeisterte „Ia" im Halse stecken blieb. Aber dafür bähte das Schaf und gackerte die Henne um so lauter, und die Taube gurrte, als wollte sie mit dem Löwen schnäbeln. Nur der Wolf, der Fuchs und der Marder gaben keinen Laut von sich, sondern schielten verstohlen mit dem einen Auge den Sprecher, mit dem andern den Nachbar an, als wollten sie sich vergewissern, was er von der ganzen Geschichte denke. „Was mich selbst betrifft", hub der Löwe wieder an, „so habe ich es natürlich für meine Pflicht gehalten, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich habe mir daher auf Anraten meiner Minister, so sehr sich mein Selbstgefühl als König der Tiere dagegen sträubte, meine majestätische Mähne, die meinen Brüdern so 164

viel Schreck einjagte, glatt abgeschoren und außerdem, wie Sie sehen, meine Krallen, die man allgemein fürchtet, durch dicke Lederhandschuhe unschädlich gemacht. Um so mehr darf ich also erwarten, daß auch meine durchlauchtigsten Vettern sich den Anordnungen, die ich und meine Räte in bezug auf ihre jeweilige Person für notwendig erachten, unweigerlich fügen werden." Wieder stampften Ochse, Esel und Schaf vor Freude mit allen Vieren, so daß Hansis Bett ordentlich hin- und herwackelte. Und wieder musterten sich Wolf, Fuchs und Marder mit halb ängstlichen, halb lauernden Blicken. „Unsere Vorschläge sind also folgende: Zunächst betreffs Seiner Hoheit des großmächtigen Wolfes, der namentlich bei den Schafen — wir wollen hier nicht untersuchen, ob mit Recht oder Unrecht — den Ruf eines Friedensstörers genießt: Seine Hoheit soll allsogleich, spätestens aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden, zum nächsten Bader gehen und sich sämtliche Zähne ziehen lassen." Bei diesen Worten des Löwen erhob sich ein ungeheurer Lärm. Der Ochse brüllte, daß die Fenster zitterten, das Schaf weinte vor Freude, und der Esel schrie einmal über das andere: „Ia! Ia! Ia!" Der Wolf dagegen warf Brille und Gebetbuch zur Erde und sprang fletschend mitten in den Kreis. „Verräter! Heuchler! Schurke!" heulte er dem Gewaltigen zu, und seine blutrote Zunge leckte wie eine Flamme aus dem Rachen hervor. „Seht diesen Pharisäer, liebe Vettern und Mittiere! Uns will er die Zähne ausbrechen, er selber aber behält Gebiß und Krallen, damit er hernach, wenn wir die Dummen gewesen sind, den Handschuh abstreifen und uns alle gemütlich zerfleischen kann! Her zu mir, wem das Wohl der Tierheit am Herzen liegt! Nieder mit dem Verräter!" Und mit wildem Satz wollte er sich auf den Löwen stürzen. Der aber hatte schon einen Handschuh ausgezogen und die bekrallte Pranke zum Schlag erhoben. Die anderen Tiere erschauerten ob des schrecklichen Anblicks, und Hansi wäre am Liebsten unter die Decke gekrochen. Da plötzlich, als ein tödlicher Zweikampf unvermeidlich schien, warf sich der Fuchs behend zwischen die beiden geifernden Bestien, und indem er die Friedenspalme, die dem Löwen entfallen war, in der hocherhobenen Rechten schwang, schrie er, so laut er konnte: „Schämt euch, ihr Großen! Nennt ihr das eine Friedenskonferenz? Was sollen die Kleinen von euch denken? Aber freilich, wer könnte vom Löwen Weisheit und vom 13

Prosasatire

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Wolf Selbstbeherrschung verlangen, plump dreinschlagen wie Fleischerknechte - das ist eure ganze Kunst. Warum zankt ihr euch eigentlich? Wegen des törichten Vorschlags, den der Löwe gemacht hat. Als ob den einer ernst genommen hätte! Ihr staunt ob meiner kühnen Sprache? Du fletschest die Zähne, Vetter Löwe? Sei ruhig! Du sollst mit mir zufrieden sein! Und ihr andern auch! Darum höret, was euch Reineke zu sagen hat!" Verwundert, ja bestürzt ob solcher Keckheit, schauten der Löwe und der Wolf den Sprecher an. Der aber redete lächelnd weiter, indes er seinen Weihwedelschwanz schüttelte und ihnen beiden einige Tropfen auf die Nase spritzte. „Seine Majestät der Löwe hat ganz recht, wenn er sagt, daß man das Übel an der Wurzel fassen und die Ursachen des unsinnigen Mordens aus der Welt schaffen solle. Aber er irrt, wenn er diese in so unschuldigen Dingen wie Zähnen und Krallen zu erblicken glaubt. Sollen wir uns verstümmeln, uns des Schönsten berauben, was uns die Natur beschert hat? Nein, und dreimal nein! Das wäre doppelter Wahnsinn! Denn der Trieb zum Morden bliebe ja bestehen, auch wenn wir uns alle Zähne ausgebrochen hätten! Und unsere höhere Aufgabe ist es gerade, diesen Trieb auszurotten! Aber wie ist das möglich? Nichts leichter als das: Man beseitige alle die, die uns Gewaltigen und Großen der Tierheit tagtäglich zum Morden reizen! Man vernichte die Ochsen und Esel, die dem Löwen ein ewiges Ärgernis sind, die Schafe, die den Blutdurst des Wolfes wecken, die Tauben, die Hühner, die meine Sünden auf dem Gewissen haben, die Tauben, die den Marder zum Halsumdreher machen!" Die Wirkung dieser Rede war unbeschreiblich. Ein einziger Jubelschrei — und schon hatte sich der Löwe auf den Ochsen gestürzt und riß ihm mit den unbehandschuhten Krallen das Fleisch von den Knochen, schon würgte der Wolf das Schaf, der Fuchs das Huhn, der Marder die Taube, als sich die Tür plötzlich öffnete und der bucklige Kasperle ins Zimmer trat. Der ließ lachend die Peitsche auf die Rücken der sonderbaren Friedensstifter niedersausen und begleitete jeden Schlag mit den schönen Worten: „Pollicke! Pollacke!" Als er aber zum zehnten Mal ausholte, traf er im Eifer des Gefechts den armen Hansi, der, an allen Gliedern zitternd, das wunderbare Schauspiel betrachtete, mitten auf die Nase, und Hansi — erwachte. Am Bettchen aber stand die Mama und fragte besorgt: „Aber warum hast du denn so geschrien?" Hansi wollte antworten; aber 166

da trat gerade der Papa ins Schlafzimmer. Er hielt die Zeitung in der Hand und sagte zur Mama: „Weißt du schon das Neueste? Die Friedenskonferenz, die der Zar einberufen hat, ist unverrichteter Sache wieder auseinandergegangen." DWJ 1898, S. 2895-2897.

Meine

Künstlerlaufbahn

Von unserem eigenen Mark Twain Man hatte mir oft erzählt, daß nach dem militärischen Beruf auch der Künstlerberuf ein gewisses Ansehen genieße und daß ein Künstler unter Umständen sogar Geld verdienen könne. Wie ich nun eines Tages gerade nichts Besseres zu tun hatte, beschloß ich, ein berühmter Künstler zu werden. Ich orientierte mich über meine neue Beschäftigung und fand, daß der Künstlerberuf in verschiedene Zweige zerfällt; man kann Maler, Bildhauer, Dichter, Musiker werden; am besten ist es aber, man beherrscht alle diese Fächer zugleich und etabliert sich als Universalgenie. Letzteres erschien mir sehr verlockend, und ich erwarb mir durch mehrtägige fleißige Studien die dazu nötigen Fähigkeiten. Der Vorsicht halber beschloß ich, meinen Künstlerberuf in einem wilden Lande auszuüben, wo es noch nicht so viele Universalgenies gibt wie bei uns und wo man seinen Ruhm nicht ewig mit den älteren Klassikern, mit Goethe, Rembrandt, Mozart und Konsorten, teilen muß. Ich ging also nach Afghanistan. Hier fand ich für meine künstlerische Tätigkeit den richtigen Boden. Es kommt nämlich in Afghanistan weniger darauf an, wie, sondern was man malt oder dichtet; das Sujet muß nur national und polizeifromm sein. Wer hier eine vaterlandslose Venus malen würde, sei sie auch in künstlerischer Vollendung herrlich dargestellt, der würde höchstens als Gesetzes- und Feigenblattverräter mit den Gendarmen in Konflikt kommen, welche in der Hauptstadt Kabul nebenbei das Kunstrichteramt ausüben. Wer dagegen einen Khan oder einen Emir malt, wird immer Anerkennung finden. 13»

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Malen wir also einen Emir, dachte ich, und schritt zu meiner ersten Künstlertat. Ich nahm ein altes Öldruckbild, das den regierenden Emir porträtähnlich darstellte. Es war ein schwarzer Mann mit wulstigen, bartlosen Lippen, aufgestülpter Nase, wolligem Haupthaar und finsterem Gesichtsausdruck. Dieses Bild befestigte ich auf meiner Staffelei und griff zur Palette. Zunächst beseitigte ich die häßliche schwarze Gesichtsfarbe des asiatischen Herrschers und malte ihm einen hellen, nur etwas bräunlichen Teint mit gesunder Wangenröte. Dann verschwanden die dicken Lippen, und es kam unter meinem Pinsel ein fein geschnittener Mund zum Vorschein. Die Oberlippe zierte ich mit einem starken Schnurrbart, dem ich noch einen imponierenden Vollbart hinzufügte. In die Augen legte ich Feuer und Energie, die Nase formte ich griechisch, das wollige Haar wurde zum eleganten Scheitel mit trotziger Stirnlocke, die Gewandung bildete ein schön drapierter purpurner Herrschermantel. Ich schrieb mit goldenen Lettern den Namen des Emirs unter das Bild und stellte es aus. Der Erfolg war großartig. Die ganze vornehme Welt von Kabul kam und bewunderte das Bild; die Höflinge und Beamten rühmten die von keinem anderen Künstler bisher erreichte Ähnlichkeit des Porträts. Der Premierminister selbst ließ sich in goldener Sänfte zu dem Konterfei seines Herrn tragen und fand es wohlgetroffen. Ich erhielt drei Orden und sieben Beutel mit Gold und wurde zum Professor der Malerei an der Kunstakademie von Kabul ernannt. Einen einzigen Menschen gab es in der Hauptstadt, der sich gegen meinen Erfolg auflehnte. Das war der Kunstkritiker des sozialdemokratischen Blattes „Zwick-auf", der die Unverfrorenheit hatte, zu behaupten, mein Porträt des Emirs sei eine erbärmliche Schmiererei und sähe dem Original gar nicht ähnlich. Natürlich wurde das Blatt konfisziert, der Kritiker verhaftet, zum Tode verurteilt und auf offenem Markte enthauptet. Ich hatte die Ehre, der Hinrichtung beizuwohnen, und war tief gerührt. Denn ich sagte mir, so viel wird selbst in Deutschland nicht für die Kunst getan. Mich drängte nun mein Genius, auch auf anderen Gebieten der Kunst Lorbeeren zu suchen. Zuerst dachte ich daran, eine große Oper zu komponieren, aber ich erfuhr noch rechtzeitig, daß der 168

Emir selbst komponierte. Ich war also gern bereit, ihm dies Fach allein zu überlassen. Darauf warf ich mich der Dichtkunst in die Arme und projektierte ein historisches Drama, denn ich hatte gehört, daß dieser Artikel an Höfen viel Anklang findet. Ich bestellte mir eine Geschichte von Afghanistan, dazu eine Gebrauchsanweisung von der Firma Wildenbruch und Lauff in Berlin und machte mich alsbald an die Arbeit. Zum Helden meines Dramas wählte ich einen ruhmreichen Vorfahren des regierenden Emirs, nämlich den Emir Dost Mohammed, der sich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts mit den Engländern herumgeschlagen und sich einiges Verdienst um die Einheit und Größe Afghanistans erworben hatte. Ich titulierte ihn Mohammed den Großen und verwandelte alle seine Schlappen, die er durch die Engländer erlitten hatte, in glorreiche Siege. Seine englische Gefangenschaft verschwieg ich weislich und ließ ihn dafür die Königin von England gefangennehmen. Die verräterische Niedermetzelung der Europäer, welche sich zu jener Zeit ereignet hatte, stellte ich als einen großartigen, schwer errungenen Sieg dar, und die Rebellion von Kabul, welche Mohammeds Sohn Akbar angezettelt hatte, schrieb ich einfach den Sozialdemokraten zu. Ich ließ in meinem Drama diesen Aufstand durch die Ordnungsbehörden niederschlagen und verwandte den Rädelsführer zu einem packenden Aktschluß, indem ich ihn auf offener Szene durch vier Apfelschimmel vierteilen ließ. (Diese etwas heikle Rolle muß stets ein zum Tode verurteilter Preßverbrecher spielen.) Der Schluß des Stückes zeigt Emir Mohammed den Großen, auf einer Pyramide von europäischen Feindesköpfen thronend, in bengalischer Beleuchtung; die Musik spielt die afghanische Nationalhymne. Als ich dieses Stück vollendet und dem Polizeidirektor, der nebenbei als Hoftheater-Intendant fungiert, eingereicht hatte, war mein Erfolg schon entschieden. Der Polizeidirektor schlug vor Freude sechs Purzelbäume, die Zensoren zerbrachen ihre Scheren, warfen ihre Rotstifte in den Kabulstrom, daß er sich rot färbte, wie Dichterblut, und rühmten mein großes Werk. Der Premierminister ließ es sich vorlesen, war entzückt und ernannte mich zum Hof- und Hausdichter der afghanischen Dynastie. Es erging sodann an alle Hof- und Stadttheater des Landes der Befehl, mein historisches Drama zur Aufführung zu bringen. Städte, die kein Theater besaßen, mußten eigens zu diesem 169

Zweck eins bauen. Im Regierungsanzeiger wurde verkündet, daß das Stück in historischer Wahrheit den Heldengang Mohammeds des Großen darstelle und daß jeder wegen Majestätsbeleidigung bestraft werde, der es wage, der Aufführung fernzubleiben. Die Schauspieler wurden durch Androhung der Prügelstrafe genötigt, ihre Rollen sorgsam zu lernen, und ein Theaterdirektor, welcher sich weigerte, das Stück zu geben, weil seine Bühne dafür zu klein sei, wurde als Hochverräter aufgehängt. Nach diesen Vorbereitungen kann man die Größe meines künstlerischen Erfolges ermessen. Das Publikum, von Gendarmen beaufsichtigt, applaudierte wie rasend, ich wurde mit Blumen überschüttet, die Zeitungen brachten meine Biographie und erzählten Anekdoten aus meiner Kindheit, nach welchen ich schon ein großer Dichter gewesen sei, bevor ich lesen und schreiben konnte; ich bekam ein weiteres Dutzend Orden, und mit der europäischen Post traf pünktlich der diesj ährige Schillerpreis ein. So leicht ist es, in Afghanistan Dichterruhm zu erwerben, wenn man den Stoff geschickt zu wählen und die geschichtliche Wahrheit zu korrigieren versteht! Noch hallt das Land von meinem Ruhm wider, und schon wage ich einen neuen Schritt in meiner Künstlerlaufbahn. Ich habe mir aus Italien eine Anzahl ungeheurer Marmorblöcke verschrieben, denn ich will mich jetzt als Bildhauer versuchen und gedenke die Ratgeber und Höflinge des Emirs sämtlich auszuhauen. Sie haben es wirklich verdient. DWJ 1899, S. 3060-3061.

Die Boxerbewegung im Jahre Neun Die Deutschen waren noch weit zurück in der Kultur/während die Römer sich der höchsten bis dahin erreichten Zivilisation rühmen konnten. Seit langem waren diese zur „Weltmachtpolitik" übergegangen und hatten, „um Absatzgebiete für ihre Produkte zu gewinnen" — und noch zu manchem anderen Zwecke —, in allen ihnen erreichbaren Gegenden „Kolonien" gegründet. Auch vom deutschen Lande hatje man Teile in Verwaltung genommen, und es schien nicht schwer, sich nach und nach des ganzen Landes zu bemächtigen, war doch das deutsche Volk noch so wenig zivilisiert, besaß es nicht die modernen Waffen der Römer und ihre

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so fein ausgebildete Kriegskunst . . . Schon hatte man den schönsten Anfang zur Unterwerfung des Landes gemacht, da entstand in dem also gefährdeten Lande eine „Boxerbewegung" mit dem ausgesprochenen Ziel, das Land von den Fremden zu säubern. Die Fremden wurden gewarnt. Vergeblich. An der Spitze der Bewegung stand ein einheimischer Fürst, ein gewisser Hermann oder Armin. Durch einen Aufstand lockte man die Fremden tiefer in das Land hinein, und hier gelang es den Verschworenen, die Feinde vollständig zu vernichten. An den Fremdlingen sollen die scheußlichsten Greueltaten verübt worden sein. Die Deutschen aber jubelten dem Befreier zu; noch nach Jahrhunderten hat man ihm ein Denkmal gesetzt. In der Hauptstadt jenes unersättlichen Kulturreichs aber hallten die Wände wider von herzzerreißenden Klagen und — von dem Rufe: „Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!" DWJ 1900, S. 3298.

Xaverl Der Orden Auch eine Ordensgeschichte Schneidermeister Wimmerl war ein angenehmer Mensch. Er arbeitete für die bessere Kundschaft und zählte sogar ein paar Hoflakaien zu seinen Abnehmern. Von ihnen erfuhr er allerlei kleine Klatschhistörchen, die er abends brühwarm am Stammtisch wiedererzählte. Auch sonst riskierte er ein Wort, und wenn die Rede auf Orden und dergleichen Krimskrams kam, erklärte er männlich, er sei ein freier Bürger und würde den Kerl, der ihm so etwas ins Haus brächte, die Treppe hinunterschmeißen. Plötzlich war er wie umgetauscht. Bei dem großen Ordensregen, der gelegentlich eines Hof-Jubelfestes über das Land hereinbrach, war auch Wimmerl etwas ins Knopfloch gefallen. Einer seiner Lakaienkunden hatte ihn mit auf die Liste zu schmuggeln gewußt, und als der Bote mit dem Kästchen und dem Dekret kam, hatte Wimmerl ihn nicht die Stiege hinunterspediert, sondern ihm ein blankes Zehnmarkstück als Trinkgeld eingehändigt und ihn persönlich unter vielen tiefen Verbeugungen bis an die Haustür geleitet. 171

So ändert der Erfolg den Menschen. Am Stammtisch war er dann nur noch einmal erschienen. Er schimpfte jetzt nicht mehr über die Engländer und verbat sich den ungesetzlichen Ton der übrigen Tafelrunde. Mit dem Räsonieren sei gar nichts getan, sondern der vernünftige Staatsbürger habe einen weiteren Blick zu zeigen und die Politik der Regierung zu unterstützen. Nörgeln sei leicht, aber Bessermachen sehr schwer. Als ein anderer am Tisch darauf bemerkte, die schönsten Sprüche könnten den Lord Roberts nicht von seinen Verbrechen reinwaschen und auch dieses Scheusal habe einen Orden erhalten, sagte Herr Wimmerl mit staatsmännischem Augenaufschlag: „Meine Herren, das verstehen Sie nicht, die Erwägungen der Politik können sich nicht an eine falsche Gefühlsduselei kehren. Ich kann in dieser Gesellschaft nicht mehr verkehren." Dann stand er auf und ging mit den gemessenen Schritten eines der von Gott gewollten Staatsordnung getreuen Bürgers stolz von dannen. Am anderen Tage begegnete ich ihm auf der Straße und sah, wie er trotz einer Kälte von minus sechzehn Grad und seiner unendlichen Glatze vor einem leeren Hofwagen barhäuptig tiefe Bücklinge machte. Dieser dämonische Einfluß eines Ordens auf ein biederes Bürgergemüt beunruhigte mich. Schließlich, sagte ich mir, passiert dir auch so etwas. Kein Mensch ist ja jetzt mehr sicher, und dann wirst du auch ein Lump und lobst den Roberts oder den Posadowsky. Die Unruhe verfolgte mich in die Kneipe, sie ging neben mir her auf dem Heimweg und wälzte sich zentnerschwer auf die Brust, als ich schon im Bett lag. In der Nacht kamen fortwährend Männer mit Diensthauben, die kleine Kästchen brachten, in denen Orden lagen. Ich wollte sie die Stiege hinunterwerfen, aber sie waren stärker als ich und steckten mir das bunte Läppchen mit lautem Gelächter ins Knopfloch. Dann erwachte ich jedesmal. Als ich wieder einschlief, begann das Spiel von neuem. Und wie endlich, endlich der Morgen heranschlich, fand er mich in Schweiß gebadet und mit den Gefühlen eines lahm geprügelten Hundes. Die Männer mit den Diensthauben, den Kästchen und den Orden aber sprangen mir noch immer im Kopf herum. Da klingelte es. Ich nahm mir kaum Zeit, in die Unterhosen zu schlüpfen, und, von ungeheurem Entsetzen beinahe gelähmt, hatte ich gerade noch Kraft genug, die Tür zu öffnen. Fürchterlich! Da stand in Fleisch und Bein, die Drohung meiner Träume, ein Mann mit der Diensthaube und mit einem Kästchen unter dem Arm. Höf172

lieh lächelnd folgte er mir in die Stube. Ich klappte auf einen Stuhl nieder und schnappte nach Luft. Der Schreckliche begann zu reden: „Ich bin . . . " Auf meine abwehrenden Handbewegungen hin hielt er einen Moment inne, dann fuhr er freundlich lächelnd fort: „Ich bin der Gerichtsvollzieher Niedermeyer und habe eine Zwangsvollstreckung vorzunehmen." Er öffnete das Kästchen und entnahm ihm einige der berüchtigten Siegelmarken, indes sein Blick suchend in meiner kahlen Bude umherglitt. Also kein Ordensbringer — ein ehrlicher, anständiger Gerichtsvollzieher. Ich hätte den Mann umarmen mögen, und tiefes Mitleid mit dem Vollzieher des Gerichts erfaßte mich, daß so gar nichts zu pfänden war bei mir. „Leider . . .", begann ich, „leider, sehr verehrter Herr . . . " „Weiß schon, hab' schon gesehn", antwortete der Brave, „da ist nichts zu holen, nun später vielleicht einmal wieder die Ehre." Und darauf entfernte er sich. Ich aber gab ihm in Unterhosen das Geleit über sechs Stiegen bis zur Haustür und bedankte mich bei dem etwas verwunderten Diener des Gesetzes innig für die Ehre seines Besuches. „So höflich sind sie selten", hörte ich ihn noch murmeln, und dann verschwand er. Ich aber war glücklich, von dieser ganzen Ordensgeschichte nichts als einen tüchtigen Schnupfen zurückbehalten zu haben. Denn so etwas vergeht wieder. Wenn aber einer einen Orden kriegt und ein Lump davon wird - das bleibt. SP 1901, S. 26—27.

Fritz Pithecanthropus

erectus

Helles Mondlicht beschien die Blöße, auf der die Orang-Utans des javanischen Urwalds sich versammelt hatten. Bunte Nachtfälter gaukelten in der lauen Luft, die Blüten hauchten die lieblichsten Düfte aus, silberheller Glanz lag auf den leicht beweglichen Sträuchern - aber im Innern der braven Affen war es düster. Unefhörtes hatte sich ereignet. Des alten ehrlichen Schmalnas Jüngster war der Urheber schwerer Sorge. Der Unglückliche hatte sich in den Kopf gesetzt, ausschließlich auf den beiden hin173

teren Gliedmaßen zu gehen. Hoch aufgerichtet schritt er einher, die Hilfe der Vorderhände verschmähend. Von der Väter ererbter und erprobter Weise weicht er ab, eiferte der würdige beleibte Langarm, frevelhaft dünkt er sich mehr als sie. Des heiligen Hanuman — „Ehre seinem Andenken" murmelten die OrangUtans, seltsame symbolische Bewegungen machend — des heiligen Hanuman Lehren und Beispiel mißachtet er. Man steinige den Verruchten! Das schien den meisten doch zu hart. Es wäre für die ganze Sippe der Schmalnas' entehrend gewesen, und was konnten die Eltern, deren höchst respektable Gesinnungen außer allem Zweifel standen, für den entarteten Sohn? Wegwerfenden Tones sprach dann, etwas näselnd, der aus angesehenster Familie stammende Allverstan: „Begreife eure Bedenken nicht. Einzig Rationelle stets gewesen, Widersacher vernichten. Soviel sonnenklar: Unter uns Schmalnas' Jüngster ganz unmöglich. Wer nicht wie maßgebende Kreise empfindet, sagt sich von Vaterland los. Soll des heimischen Waldes letztes Blättchen und kleinstes Läuschen aus Zottelfell beuteln und machen, daß weiterkommt. Fort mit renitentem Kerl!" Der alte Schmalnas legte Fürbitte ein. Noch wäre vielleicht Besserung möglich; der Junge sei bekanntermaßen der Begabteste und Tüchtigste des ganzen Nachwuchses. Da erhob der greise Hermandadus seine Stimme, und alle horchten gespannt, denn von ihm hieß es, er hätte furchtbar viel gewußt, ehe er sein Gedächtnis vollständig verloren hätte. Wir brauchen ihn weder zu töten noch zu verbannen, sagte Hermandadus. Die Sache macht sich ganz einfach: Wir verbieten das Aufrechtgehen und — die Geschichte ist vorbei. Das leuchtete allen Orang-Utans ein. Das Gesetz wurde sofort gemacht und in allen drei Überlegungen angenommen. Über seine Wirkung fehlen zeitgenössische Berichte. Aber im Jahre 1894 wurden auf der Insel J a v a Teile des Skeletts eines aufrechtgehenden, halb äffen- und halb menschenartigen Wesens entdeckt, und die späten Nachkommen dieses Pithecanthropus erectus, die Menschen, fangen die späten Nachkommen der Orang-Utans und halten sie zu ihrer Kurzweil und zur Belehrung für Jung und Alt in Käfigen. Es hat demnach den Anschein, als hätte das Gesetz gegen das Aufrechtgehen nicht ganz den erwarteten Erfolg gehabt. D W J 1901, S. 3549.

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Ludwig Frank Der König und sein Wesir Man erzählt, zu keiner Zeit sei ein sterblicher Mann so geehrt worden wie der Wesir Djafar aus dem Stamme der Barmekiden. Der Kalif Harun al Raschid schenkte ihm sein Herz und seine Huld, und ihre Seelen hatten voreinander kein Geheimnis. Aber an einem Morgen saßen im Palast rund um den Thron die Großen des Reiches und schauten düster vor sich nieder, denn der gewaltige Herrscher hatte an diesem Tage seine Getreuen noch mit keinem Worte beglückt. Endlich aber hob sich langsam das diademstrahlende Haupt des herrlichen Königs, und sein Unmut entlud sich in dem Schicksalswort: „Hund von einem Wesir, warum habe ich schlecht geschlafen?" Djafar warf sich zitternd auf seine Knie und berührte mit schreckensbleichen Lippen den Fuß seines Fürsten: „Erhabener Gebieter der Zeit, unsere Bücher sagen: Alte Geschichten lesen und zu jungen Frauen gehen, sänftige den Schlummer!" „Affe und Sohn eines Affen! Dein Rat ist schal. Ich bin der Weiber müde, und mich ekelt der Poeten lügen." Da erhob sich aus der hintersten Reihe der Höflinge der greise Eldabo, den sie den Weisen nannten; er strich sich den grauen Bart und sagte: „Vielleicht raubte dir Allah die Ruhe der Nacht als göttliches Zeichen, daß auch deine Völker, die deines Winkes warten und deines Hauches harren, in schlimmer Sorge sich auf ihrem Lager wälzen." „Was soll ich also tun, Eldabo?" „Geh heimlich aus deinem Palast und schleiche durch die Gassen. Schau, wie die Richter richten und ob die Reichen ihres Reichtums und die Armen ihrer Arbeit froh werden, ob deine Diener nicht Mißbrauch treiben mit deinem Namen und Siegel und ob es noch ein paar Glückliche gibt und ob sie dich in den Hütten liebhaben." Und also geschah es. Als der dunkle Himmel sich mit dem Halbmond und tausend glitzernden Sternen geschmückt hatte, traten aus einer kleinen Seitenpforte des Schlosses zwei mantelumhüllte Gestalten in der Kleidung der fremden Kaufleute, die gen Mekka pilgern - das war der Kalif Harun al Raschid und sein Wesir Djafar aus dem Stamme der Barmekiden. Schweigend schritten die beiden durch die blaue Nacht; doch plötzlich hemm175

ten sie ihren Schritt, denn zu ihren Füßen ruhte ein vornehm gewandeter Mann und schlief, neben ihm aber lag seine Geldtasche, und die war offen. Die blanken Goldstücke blinkten hell im Strahl des Mondes. Der Kalif bückte sich zu dem Schlummernden nieder und schüttelte ihn leicht an der Schulter: „He, törichter Freund! Wachtauf!" Der aber blickte ihn unter halbgeöffneten Lidern an und drehte sich gähnend auf die andere Seite. „So hört doch, wunderlicher Alter! Kommt zu Euch und wahrt Euer Geld!" Da richtete sich der Geweckte brummend ein wenig auf und knurrte: „Laßt mich schlafen und der warmen Nacht genießen." „Aber beim Schwerte des Propheten", entgegnete der Kalif, „steckt doch Euer Geld ein. Fürchtet Ihr Euch nicht vor den Dieben?" „O Fremdlinge, Ihr seid in Bagdad, im Lande des Kalifen Harun al Raschid. Vernehmt, Fremdlinge, im Reiche dieses Lieblings der Himmlischen gibt es keine Diebe. Jeder Untertan, auch der geringste, hat an Speise, Trank und Kleidung so viel, als ihm not tut. Wer sollte da, wider Gottes Gebot, stehlen?! Möge Allah den Kalifen segnen", und er machte sich's wieder auf der Erde bequem und begann zu schnarchen. Lächelnd entfernten sich die Männer und gingen eine Weile in zufriedenem Schweigen durch die stillen Straßen, als sie einen heftigen Lärm hörten. Sie sahen, wie vor dem Tore eines säulengetragenen Palastes viele Menschen beisammenstanden und durcheinanderschrien. „Djafar, Licht meines Lebens, geh doch und erkunde mir, was den Leuten widerfahren ist", flüsterte der Kalif. Der Wesir mischte sich unter die Menge und kam nach wenigen Augenblicken zurück zu seinem Gebieter. „Sprich, Djafar, was bedeutet der Aufruhr?" „Die Leute, die du erblickst, o König der Zeit, sind die Sklaven des reichen Wucherers Mekabel. Das Haus aber, vor dem sie stehen, ist zu eigen deinem Knecht, dem Oberkadi Ibn Omar. Nun hat Mekabel - Gott wird ihn strafen - seinen Nachbar, den armen Olivenhändler Ibrahim, um sein ganzes Vätererbe betrogen, morgen jedoch soll Gerichtstag sein. Und so kam heute der schlaue Mekabel und ließ durch seine Sklaven schwere Säckfe weißen Silbers herbeischleppen und betrat das reine Gemach deines getreuen Ibn Omar, seine Seele zu bestechen mit den giftigen 176

Schätzen und das Recht zu beugen. Allah aber erleuchtete das Herz Ibn Omars, also daß er sich wert erwies, an deiner Statt zu richten. Er ließ dem Wucherer fünfzig Stockhiebe geben und warf ihn auf die Straße, wo jetzt seine Sklaven um den nacktblutigen Leib ihres Herrn erheuchelte Schmerzenstränen vergießen. Das Sündengeld aber befahl dein Oberkadi in die Hütte des Ibrahim zu tragen, also daß aus bösgemeintem Tun des Reichen das Glück des Armen erwachsen soll." Da erwiderte der Kalif leuchtenden Auges: „Allahs Güte sei gepriesen, daß ich all dies erleben durfte! Wie das grüne Efeu um das Schloß meiner Väter, so spinnt sich der Frieden um mein Herz." Und sie schritten lautlos weiter. Da hörten sie aus dem offenen Fenster eines kleinen Hauses Jammern und Stöhnen. Rasch entschlossen traten sie durch die offene Tür, und ein Weib, nicht mehr in der Blüte der Jahre, stürzte ihnen entgegen und jammerte: „0 gute Männer, helft doch meinem Manne!" Im Hintergrund des Zimmers lag der Hausherr und seufzte zum Steinerbarmen. „Mit welcher Krankheit hat ihn denn Allah gestraft?" forschte Djafar weiter. „Ach, er — er — hat wieder einmal zuviel gegessen." „Warum ist er so töricht, Gottes Gaben übers Maß zu kosten?" „ 0 ihr guten Männer, ihr seid wohl fremd, da ihr so fragt. In früheren Zeiten reichte der Lohn nur schwer zum Leben. Jetzt aber, unter dem Zepter Harun al Raschids, des Vaters der Dürftigen, den Allah erhalte, jetzt ist das Brot und die Frucht des Feigenbaums so billig, und der Ertrag der Arbeit quillt so reich, daß Überfluß im Volk herrscht. Wir Armen aber müssen das Sattessen erst lernen." Djafar versprach, einen Arzt zu dem Kranken zu schicken, und verließ mit dem Kalifen das Haus. Draußen aber sank der Fürst seinem Diener an die Brust und flüsterte: „0 Djafar, meine Seele jauchzt, alle meine Untertanen haben ihr Brot, und in guten und schlechten Tagen ist ihr Unterhalt gesichert." „Ja, Herr, Allah hat deine Hand gesegnet." Und als sie weiter geschritten waren, sahen sie unter einem blühenden Feigenbaum ein Mädchen stehen; da verfinsterte sich das Antlitz des Königs, und er redete also: „Hund von einem Wesir, gibt es in meinen Landen noch solche Geschöpfe, die ihre Schande für Geld verkaufen?" Doch als sie näher traten, da ward er ge177

wahr, daß sie schön war vor allen Töchtern, und in seinem Busen entzündete sich der Liebe Feuer und die Begierde nach ihrer Jugend. Und der Kalif begann: „Geh mit mir, o Weib, denn du bist schön." Doch sie blickte ihn aus großglänzenden Augen an und antwortete: „Ich kann nicht, Herr." „Wer will dich hindern?" „Ich habe mit heiligem Eide geschworen, keinem Manne mich zu eigen zu geben, er sei denn der beste, den die Erde trägt, der Herrscher der Gläubigen, Harun al Raschid." Da lächelte der Kalif und fragte: „Hast du Harun noch nie von Angesicht erblickt?" „Noch nie, Herr." „So folge mir, ich will dich zu ihm führen", erwiderte der Fürst, und wortlos ergeben schritt sie an seiner Seite, und die verschwiegenen Tiefen des Palastes nahmen sie auf. — Und am anderen Tage, als die Sonne hochstand, ließ der Kalif Eldabo den Weisen rufen und erzählte ihm heiteren Mutes alles, was er gesehen und genossen hatte. Doch der alte Lehrer schüttelte mit düsterer Miene sein Haupt und wollte nicht teilhaben an dem Glück des Fürsten. „Nun, Eldabo, bist du nicht zufrieden?" Doch dieser erwiderte: „Willst du mich begleiten, mein Fürst, und dir die Antwort holen?" Harun erhob sich vom Thron und ging mit Eldabo durch die langen Gänge des Schlosses; die weichen Teppiche dämpften den Klang ihrer Schritte. Am Ende eines Ganges hielten sie an, und Eldabo hob mit zitternder Hand den schweren Vorhang aus rotem Samt leicht in die Höhe. Da erblickten sie den Wesir Djafar aus dem Stamme der Barmekiden, und vor ihm stand der Oberste der Leibwachen und fragte, sich verneigend: „Und war mein Gebieter Djafar zufrieden mit meinen Leuten? Hat der Schläfer seinen Schlummer und der Geschlagene seine Schläge und der Kranke seine Krankheit brav gespielt?" „Alles war gut vorbereitet, mein Teurer, auch für Blicke, die schärfer sehen als Fürstenaugen, war die Täuschung vollkommen." „Ich schickte meine besten und erprobtesten Männer, doch ich war in Sorge wegen des Mädchens. Wer will für die Launen eines Weibes bürgen, Djafar?" „Sei ganz beruhigt, Vertrauter meines Herzens, deine Tochter 178

Fatima machte dir keine Schande und zeigte sich ihres Vaters würdig." „Und was soll ich meinen Knechten sagen?" „Versichere sie meiner Gnade; zwei Säcke Goldes, so schwer sie ein Maultier tragen kann, sollen heute noch ihre Dienste lohnen." Harun hielt sich beide Hände vor sein Gesicht, als wenn er Tränen bergen wollte. Eldabo aber neigte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Aus dem Sumpfe der Lüge wächst die Giftblume des Treubruchs. Selim, der zweite Befehlshaber deiner Leibwachen, verriet mir das schändliche Spiel, das sie mit deiner Blindheit treiben. E r scheint verärgert, daß nicht seiner Tochter in der letzten Nacht der Weg zu deinem Frauengemach gewiesen wurde. E s ist das erste Mal, daß ich die Werke und Worte eines erbärmlichen Verräters nutze. Ich tat es für dich. Jetzt handle du." Und dann entfernte sich Eldabo mit raschen Schritten. Harun al Raschid aber ging in seine Gemächer zurück, und was durch seine Seele ging, das weiß nur Gott der Allmächtige. Dann setzte er sich auf seinen goldenen Thron und rief nach dem Schwert seiner Rache, seinem schwarzen Scharfrichter Masrur. Leise gab er ihm einen Befehl. Und es dauerte nicht lange, da breitete der Henker auf den marmorkalten Stufen des Thrones das schwarze Tuch der Hinrichtung aus, und darauf lag das blutige Haupt Eldabos, den sie den Weisen nannten. Man erzählte aber, zu keiner Zeit sei ein sterblicher Mann so geehrt worden wie der Wesir Djafar aus dem Stamme der Barmekiden. D W J 1903, S. 4006—4007.

Fritz Das Gesetz In den fruchtbaren Gefilden des breiten Tales wurde die Ernte eingeheimst. Emsig schnitten die Männer, fleißig banden die Frauen die Garben, die dann zu hohen Haufen übereinandergeschichtet wurden. Auf jedem Felde drei Haufen: einer für die Landleute, die den Boden bebaut hatten und im Begriffe waren, den Ertrag ihrer Arbeit unter erneuten Mühen zu sammeln; einer für den Krieger, der sich durch plötzlichen Überfall in den Besitz der Quelle gesetzt hatte, deren Wellen die Felder bewässerten; einer für dieses Kriegers priesterlichen Bruder, dessen Fürsprache 179

beim Berggeist die Bauern es zu verdanken hatten, daß der ihr Tal durchrauschende Bach auch im heißesten Sommer mit gleicher Mächtigkeit aus der Felsenquelle sprudelte und die Felder vor Dürre schützte. Vor dem plötzlichen Erscheinen des starken Brüderpaares war den Bewohnern des Tales auch im Traume nie eingefallen, daß die segenspendende Quelle je versiegen könnte. Aber der Priester hatte es ihnen ganz klar auseinandergesetzt, daß der Bach der Felsenspalte nie entströmen könnte, wenn nicht eine höhere Macht es so wollte. Denn wo hätten sie je etwas auf einen bestimmten Zweck Gerichtetes ohne bewußten Willen geschehen sehen? Da nun der Bach augenscheinlich den Zweck hätte, das Tal zu bewässern, müßte ihn doch jemand fließen lassen. Und die Macht, welche veranlaßte, daß der Quell rauschte, wäre zweifellos auch stark genug, ihn im Innern des Berges zurückzuhalten. Um dies zu verhindern, müßte sie unterwürfig um Fortdauer ihrer Huld angefleht werden. Wer könnte dies aber besser tun als derjenige, der sie erkannt hätte, während sie den übrigen verborgen blieb? Um zum Heile aller dem Berggeist so dienen zu können, wie er es begehrte, müßte der Priester aller anderen Arbeit überhoben sein. Das leuchtete den Bauern vollkommen ein, besonders seitdem ein fürwitziger Zweifler vom Priester mit des Kriegers Hilfe so lange unter den Wasserschwall gehalten worden war, bis ihn der Tod ereilt hatte, so daß gar nicht mehr daran zu zweifeln war, daß der mächtige Berggeist jeden Frevel entsetzlich strafen würde. Der Krieger brauchte seine Befugnis, am Ertrag der Ernte teilzuhaben, nicht erst zu begründen. Er hatte sich, als er den besetzten Felsen behauptete, als entsetzlich stark erwiesen. Zu Dutzenden hatte er die unbewaffneten Bauern, die ihm den Alleinbesitz der Quelle streitig machen wollten, in den Abgrund gestürzt. Aber was anfangs lediglich mit eigener Kraft ertrotzt schien, erhielt Heiligung und Weihe, als die blöden Unterjochten, dank des Priesters Belehrung, Dasein und Macht des Berggeistes zu begreifen anfingen. Wäre des Kriegers außergewöhnliche Stärke ohne des Geistes Beistand möglich gewesen? Nach wenigen Jahren war es für die weitaus überwiegende Mehrzahl der Bauern selbstverständlich, daß sie nur über ein Drittel ihrer dem Boden mit Müh und Plag abgerungenen Ernte zu verfügen hatten. Die Abgabe der anderen zwei Drittel erschien ihnen vollkommen gerechtfertigt. Denn der Priester war ein Weiser, 180

der sie gelehrt hatte, den Pflug zu gebrauchen, sie hierdurch von der rückenbrechenden Spatenarbeit zum Aufwühlen des Bodens erlösend. Und der Krieger? J e nun, der hatte einen fremden Räuber, der ihm den Besitz des Felsens streitig machen wollte, nach hartem Kampfe getötet und sie so davor bewahrt, einem anderen statt ihm reichlichen Anteil am Ertrag ihrer Arbeit geben zu müssen. Er konnte es ihnen gar nicht oft genug wiederholen, daß er ihre Freiheit gerettet hätte. Einigen Jünglingen, welche die Frechheit gehabt hatten, ihn zu fragen, ob der Fremde im Falle seines Sieges mehr als jede dritte Garbe von ihnen beansprucht hätte, wurden auf des Kriegers Geheiß schwere Steine an Armen und Beinen befestigt, so daß die aller Liebe zum Herrscher entbehrenden Frevler nun doppelt mühsam am Einbringen der Ernte arbeiten mußten. An dem schmalen Pfade, der zwischen hohen Felsen hineinführte in das obere, plötzlich enger werdende Tal, stand das mächtige Brüderpaar und zählte die Garben, welche von keuchenden Bauern teils die Lehne hinan zum befestigten Horste des Kriegers, teils den Bach entlang zum Heiligtum des Berggeistes getragen wurden. Die beiden waren ernster, als es eigentlich zu ihrer derzeitigen Beschäftigung paßte, und ihr Gespräch wurde nur auf Augenblicke unterbrochen, wenn die den Tribut vorbei Schleppenden nahe an ihnen vorübergingen. „Wie sollte ich nicht traurig sein", sagte der Krieger, „wenn ich den Unwert meiner Söhne sehen muß. Auf keinen von ihnen hat sich meine Kraft, meine Entschlossenheit vererbt. Träge in den Tag hineinlebend, sitzen sie bei ihren Weibern in den Häusern, die ich ihnen im Tal von den Knechten bauen ließ; selbst zur Aufsicht über die Unterworfenen sind sie kaum zu gebrauchen, ihrer Lässigkeit wegen. Und dir, mein weiser Bruder, geht es nicht besser. Lungern deine Söhne weniger nutzlos in ihren Hallen und Gärten herum? Wo ist die Klugheit, die Geistesgegenwart, die sie als deine Nachkommen besitzen sollten? — Wir haben es verstanden, Herrscher zu werden und — was noch schwerer — zu bleiben, was wird aber aus ihnen werden, wenn wir nicht mehr sind? Der Geist des Widerstands Geknechteter läßt sich nur durch stets erneute Beweise der Überlegenheit der Herrschenden niederhalten. Unsere Häupter ergrauen, Bruder, und mir bangt vor der Zukunft. Überlegene Weisheit kann vielleicht gebieten, ohne des Schwertes zu bedürfen, unbestreitbare Übermacht die Herrschaft ohne Weisheit behaupten; aber wenn weder das eine noch das 14

Prosasatire

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andere vorhanden, was soll die Gebietenden vor dem Sturz retten?" „Seit langem", erwiderte der Priester, „bin ich mir des Bedenklichen unserer Lage bewußt. Mein Grübeln hat mich Abhilfe finden lassen. Sei getrost! Trotz ihrer UnWürdigkeit wird unseren Söhnen die Herrschaft nicht entrissen werden. Unser Werk wäre nur halb getan, wenn es mit uns zugrunde ginge. Höre! Sobald der Tribut abgeliefert ist, verrammeln wir für wenige Monde den Eingang der Schlucht, und wenn wir sie wieder öffnen, wird es nicht mehr unserer Wachsamkeit bedürfen, um die Gemächer unserer Weiber, die Schatzkammern, die Waffenhallen zu hüten. Jeder Strohkopf kann dann ohne Gefahr an unsere Stelle treten. Sei unbesorgt, alles ist bestens vorbereitet. Ein hochbegabter fremder Künstler, den ich seit einem Jahr im Tempel beherberge, war das Werkzeug meines Gedankens. Alles, was ich von dir begehre, ist, ihn auf immer verstummen zu machen, wenn er vollbracht, was uns und unseren Nachkommen zum Heile dienen soll." Als im Frühjahr darauf die Landleute in feierlichem Zuge die wieder eröffnete Felsenschlucht betraten, bot sich ihnen ein überraschender Anblick. Dort, wo der Pfad sich teilte in den Steg zur Felsenfeste und den Weg zum Tempel, saß eine riesige Frauengestalt, so daß jedermann, der zu des Kriegers oder zu des Priesters Wohnsitz dringen wollte, unmittelbar an ihr vorbei mußte. An dem Sockel ihres mächtigen Thrones war ihr Name eingemeißelt: „Das Gesetz". Und neben der kolossalen Figur stand der Priester und verkündete dem staunenden Volk, daß der mächtige Berggeist es gewürdigt hätte, ihm seine unsterbliche Tochter zu schicken. Nicht mehr der Willkür eines einzelnen wäre der Mitmensch unterworfen, sondern das Gesetz herrschte von nun an, in gleicher Weise gültig für jedermann, er sei, wer er wolle. Auf jeden, der sich in böser Absicht der Burg oder dem Tempel nähern wollte, würde der Arm des Gesetzes niedersausen, um ihn zu zerschmettern. Die Talbewohner wandten sich zur Heimkehr. Ehrfurchtsvolle Scheu vor dem Unerhörten erfüllte sie, so daß sie nur flüsternd miteinander vom Anbruch einer neuen, besseren Zeit sprachen und ihre Stimmen nur erhoben, wenn es galt, die wenigen Mißtrauischen eines Besseren zu belehren. War der Anblick der Tochter des Berggeistes nicht erhaben und gewaltig? Konnte von dieser hehren Schönheit etwas anderes zu erwarten sein als lauterste Wahrheit und höchste Gerechtigkeit? 182

Der Priester erklärte nun dem Krieger den Mechanismus der Figur. Vör derselben war in den Pfad eine Platte eingelassen, die sich um ein Unmerkliches senkte, sobald sie betreten wurde. Hierdurch wurde der Hebel ausgelöst, der den drohend erhobenen Arm der Figur aufrecht gehalten hatte, so daß dieser mit unwiderstehlicher Wucht niederfiel. Automatisch und unfehlbar hatte das Betreten der Platte den Tod desjenigen zur Folge, der die verkündete Warnung in den Wind schlug. — Als der Krieger nach einigen Tagen frühmorgens herabstieg von seiner Feste, sah er schon von ferne, daß der Arm des Gesetzes hinunterhing. Als er eiligen Schrittes zur Stelle kam, fand er seinen Bruder über einen Toten gebeugt. Auf des Kriegers Anruf hin richtete sich der Priester mühsam und gebrochen auf, die Augen verhüllend; der Erschlagene war sein ältester Sohn, der dem Vater das junge Mädchen hatte entführen wollen, das tags vorher in den Tempel geschleppt worden war. Nachdem der Priester seine Fassung wiedergewonnen hatte, schwenkte er mittels einer im Innern der Figur angebrachten Kurbel den Arm des Gesetzes wieder aufwärts in die drohende Stellung, dann trugen Vater und Ohm den Toten mit großer Mühe über ungebahnten Fels in die Höhle auf dem jenseitigen Hang des Gebirges, in der bereits die Leiche des fremden Künstlers lag. Nie durfte bekannt werden, daß der erste Übertreter heiliger Satzung ein Mitglied der herrschenden Familie war. Der Schmerz des Vaters mußte stumm bleiben. Wenige Tage später fanden die beiden einen erschlagenen Bauern zu Füßen des Gesetzesthrones. Die ganze Bevölkerung wurde zusammengerufen, der Leichnam des Schändlichen, der augenscheinlich in die Schatzkammer der Feste hatte eindringen wollen, mit Haken bis zum Abgrund geschleift und unter Verwünschungen in die Tiefe gestürzt. Zwei Monde darauf erschlug die Figur einen Sohn des Kriegers. Als der Vater zur Stelle kam, fand er bereits Landleute an der Leiche. Der Fall war nicht zu verheimlichen. Seinen tiefen Schmerz bemeisternd, seine Tränen unterdrückend, pries er vor dem eilig zusammengerufenen Volk die Unparteilichkeit des Gesetzes, und zuckenden Herzens sah er die Leiche des geliebten Kindes geschleift und in den Abgrund gestürzt. In tiefer Nacht berieten der Krieger und der Priester, wie sie die vermessenen Ihrigen in Zukunft schonen könnten, ohne den 14*

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Glauben an die allwaltende Gerechtigkeit des Gesetzes bei den Beherrschten zu erschüttern. Wieder war es der Priester, der Rat wußte. Er hatte dem ermordeten Künstler genug abgelauscht, um den Mechanismus der Figur derart verbessern zu können, daß es möglich wurde, den Arm des Gesetzes nach Belieben entweder mit der ganzen tödlichen Wucht fallen zu lassen oder ihn auf halbem Wege festzuhalten oder ihn so langsam zu senken, daß dem Übeltäter Zeit zur Flucht blieb. Und denjenigen seiner Söhne, den er für den klügsten hielt, setzte er heimlich in das Innere der majestätischen Figur des Gesetzes und lehrte ihn, die Hebel und Kurbeln im Innersten der Herrschenden zu handhaben. Jener Priestersohn war der erste Richter. DWJ 1905, S. 4846-4848.

Sous-Marin Silvesterspuk im Winterpalast Ein altes Gelübde bindet die russischen Kaiser. Keiner von ihnen darf es versäumen, um die Jahreswende in der Petersburger Hofburg zu sein. Mit dem Glockenschlag zwölf passiert der jeweilige Zar den langen Peter-Troizki-Korridor, wo die lebensgroßen Bilder seiner Ahnen hängen, und begibt sich am Ende desselben in ein verschwiegenes Gemach. Es ist das Geheimkabinett des ersten Peter, des Großen. Dieser benützte es gerade, als ihm der feine Gedanke kam, seine Schwester Sophia vom Thron zu stoßen; und so empfahl er's seinen Nachfolgern. Hier entschloß sich Katharina von Anhalt, ihren lieben Mann umbringen zu lassen; der erste Alexander erfand hier die Heilige Allianz, so noch heute durch Europa stinkt, und Alexander Nikolajewitsch den goldenen Gnadenbrief, die Bauern zu befreien. Hier auch hatte Nikolaus der Letzte vor einem Jahr den ersten Verfassungsentwurf aufgezeichnet. Denn weiches Papier ist in Mengen vorhanden. Schon damals jedoch hatte er sich ganz fürchterlich gegrault, als er den langen Gang durchschritt. Mitternacht schlug's. Mutterseelenallein, mit schlotterndem Gebein schob sich der Zar am Bilde Iwans des Schrecklichen vorbei. Der hatte ihn letzten Silvester schon so merkwürdig angeguckt. Im Zwielicht schielte Nikolaus hinauf: Richtig, auch diesmal

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wieder . . . bohrende, stechende Augen! Sie ließen ihn nicht los, unwillkürlich hemmte er den Schritt. Da stand auch schon, greifbar und drohend, der blutigste Zar des Hauses Rurik vor dem entsetzten Erben seiner Krone: „Nikolai Holstein Gottorp, . . . lege Rechenschaft ab von deinem Tun! Was ward aus Rußland unter dir? Ich höre nichts als Kampfgeschrei und Waffenlärm heraufschallen?" „Es sind meine Regimenter . . . " „So ahmst du unseren Vorfahr Dmitri Donskoi nach, der bei Kulikowo auf dem Blachfeld die Mongolen schlug?" „Ja, ich schlug sie, Ahn! Doch sie gingen nicht weg." „So bist du wenigstens stark nach innen? Schützest das niedere Volk und brichst den Trotz von Kirche und Adel?" „Ohne Kirche und Adel kommt heutzutage kein Herrscher aus. Sie allein sichern die steile Höhe, wo Fürsten stehen." „Genug - hör zu! Ich zertrat die Tataren von Kasan und Astrachan. Ich quetschte Bojaren und Geistlichkeit an die Wand, daß sie quiekten. Dafür bekam ich von ihnen den Beinamen Grosny: der Schreckliche. Aber ich war ein ganzer Kerl. Von dir wird die Geschichte anders reden. Komm her und sieh das Ende, Nikolai — der Schwächliche!" Er nahm ihn beim Ohr und führte ihn vor eines der Fenster, die nach der Stadtseite zu liegen. Wogende Nebelschleier erfüllten den weiten Palaisplatz. Wie ein Rauschen und Murmeln drang es herauf von unsichtbaren Tausenden. Das Gewirr der Ton wellen einte sich zum feierlichen Klang der Marseillaise. Und jetzt teilten sich die Nebel, der Platz lag frei da. Wo das Alexander-Denkmal gestern noch gestanden hatte, ragte heute eine Guillotine! Gespenster ohne Kopf oder mit verdrehtem Genick waren eifrig dabei, die Maschine in Ordnung zu bringen. Zar Iwan stieß seinen Nachbar an: „Sieh mal, da unten steht der Mann, der Sipjagin tötete. Er prüft gerade die Schnallen. Und der jetzt die Leiter hinaufsteigt, um das Fallbeil zu richten, der hat deinen Großvater ins bessere Jenseits befördert! Da ist auch noch ein Scharfrichter, Kasprzak heißt er und ist der Untertan eines deiner Alliierten." Derweil marschierte es rings in endlos langen Kolonnen heran. Immer neue Scharen quollen hinzu: eine gewaltige Heerschau des Todes. „Dort die Krüppel . . . , deine Mandschureiarmee 1 Die Glieder 185

erfroren, amputiert. Siehst du, wie sie emporstieren zu dir aus leerer Augenhöhle unter gespaltener Stirn?" Des Zaren Blick irrte zum Newski-Prospekt hinüber, woher sich der Hauptstrom ergoß. Zerlumpt und ausgemergelt, die bloße Haut mit Nagaikastriemen bedeckt, das Blut geronnen in der Todeswunde. „Das sind die Toten vom Wladimirsonntag . . . . die geschändeten Frauen und Kinder deines niedergemetzelten Proletariats." Ein Zug gedunsener, bleicher Gestalten näherte sich auf der Newaseite. „Die Ertrunkenen von Tsuschima. Auch sie müssen dabeisein!" Nikolaus sank in die Knie: „Das hab' ich nicht gewollt!" „Aber befohlen. Drum weiter, blick hin!" Nun lag er drunten selber festgeschnallt auf dem Brett. Unheimliche Ruhe herrschte im weiten Massenviereck. Die Geister eines gequälten Volkes harrten ihrer Rache. Trommelwirbel — Ein Clown trat vor, schwang sein Käppi und rief mit dünner, meckernder Stimme: „Das Leben für den Zaren!" Da setzten alle Musikkorps ein zur Internationale. Ein Wink des Scharfrichters Im selben Augenblick schlug es von der Isaakskathedrale ein Uhr. Mitten auf dem leeren Platz stand wieder die AlexanderSäule. Zar Iwan der Schreckliche gab seinem halbtoten Kollegen eine knallende Ohrfeige. „Die Firma ist pleite, du Schlappschwanz", brüllte er, „Konkursverwalter ist der Teufel!" Dann kletterte er schimpfend in seinen Rahmen zurück, nachdem er sich erst noch etwas an Nikolaus' Krone zu schaffen gemacht hatte. Am nächsten Morgen fand man den Kaiser aller Reußen ohn-r mächtig im Korridor seines Palastes. Der berühmte Orlow^ Diamant aus seiner Krone war futsch. DWJ 1905, S. 4907.

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Warum mein Freund Dagobert Schönchen nicht auf den KriegsSchauplatz ging Ich durchblätterte die illustrierten Journale. Fast nichts als Schreckensbilder vom Kriegsschauplatz. Schauerliche Dokumente der Vernichtung und des Jammers, Zeugnisse menschlicher Borniertheit und Bestialität. „Ah, guten Tag, alter Freund - sieht man dich auch mal hier!" ertönte plötzlich eine etwas näselnde Stimme neben mir. Dagobert Schönchen, mein Verbindungsbruder aus der Studentenzeit, streckte mir die fein bewildlederte Rechte hin. Nachdem er dem diensteifrigen Kellner den goldplattierten Rohrstock nebst elegantem Zylinder und Pelz überliefert hatte, ließ er seine aristokratisch gepflegte Leiblichkeit auf das Polster niedergleiten. „Der Krieg hat mich hergeführt", sagte ich, ihm einen Teil der Mappen zuschiebend. „Man muß diese Gräßlichkeiten sehen, um den ganzen Wahnsinn des Krieges zu erfassen." „Schokolade mit reichlich Sahne", sagte Dagobert zum Kellner. Dann hielt er mir sein silbernes Zigarettenetui hin, steckte sich selbst eine „Queen" in Brand und meinte: „Ja, siehst du, vom Standpunkt des Sozialpolitikers aus gesehen, mag das richtig sein; aber ich sehe das alles mit dem Auge des Kunstästhetikers." „Wieso?" fragte ich erstaunt. „Die verwüsteten Städte und Dörfer, die Scharen vertierter, von Mordgier entflammter oder von Todesangst fortgepeitschter Menschen, die Karren mit Verwundeten, Kranken und Sterbenden, die Hekatomben zerfetzter und verzerrter Leichen — findest du die etwa schön?" Er lächelte vornehm und löffelte mit lässig künstlerischer Bewegung die überfließende Schlagsahne von der Schokolade. Dann erklärte er mit der kultivierten Ruhe des Philosophen: „Man darf natürlich nicht nur die Einzelheiten sehen. Gewiß gibt es da manches Unschöne und manches individuelle Leid. Man muß die Vorgänge des Krieges im ganzen sehen und werten. Ist die donnernd zu Tal stürzende Lawine nicht schön, weil sie Wald und Wohnungen niederbricht? Ist das sturmgepeitschte Meer nicht schön, weil es berstende Schiffe auf die Klippen wirft und das Jammergeschrei ertrinkender Menschlein in sein Brausen und Brüllen mischt?" Das bittende Winseln seines kleinen, englischen Windhundes 187

unterbrach ihn. Er streichelte ihm mit der schmalen nervösen Hand zärtlich das graue Samtfell, steckte ihm ein Stück Zucker in die feine Schnauze und fuhr fort: „Ja, der Krieg ist schön! In dem gigantischen Ringen der Völker auf Leben und Tod offenbaren die einzelnen und die Masse ihre höchste Kraft und Größe." Vorsichtig, die Untertasse mit hochführend, nahm er einen Schluck des sämigen Trankes, tupfte die Lippen mit einem Seidentüchlein ab und vollendete mit entschlossener Gebärde: „Die höchste Schönheit liegt im Grandiosen. Der Krieg ist das Grandiose in der Menschheitsentwicklung. Nur die Humanitätsduselei einer dekadenten Mitleidsmoral kann das übersehen." Ich nahm die Herausforderung nicht an und blickte ihm nur lächelnd in die blaßblauen, übersichtigen Äuglein. Er versenkte sie wieder in die Schokolade und sagte mit einem Anflug von Entschuldigung im Ton: „Du mußt nämlich wissen, ich trage mich mit dem Plan, eine Ästhetik des Krieges zu schreiben. Ich hatte sogar die Absicht, mich auf den Kriegsschauplatz zu begeben, um die Eindrücke unmittelbar auf mich wirken zu lassen. Nur die naßkalte Witterung hat mich abgehalten. Ich neige nämlich etwas zu Rheumatismus, und mein Hausarzt hat mir dringend abgeraten. Aber" — seine nervösen Finger umfaßten krampfhaft den Schokoladenlöffel, als ob es ein Schwerteknauf wäre — „aber ich hätte mich doch entschließen sollen. Denn, weißt du, der unmittelbare Eindruck ist für schriftstellerische Intuition doch von großer Bedeutung." „Freilich, freilich!" bestätigte ich, ihn damit anfeuernd. „Du hättest wirklich an Ort und Stelle gehen sollen. Übrigens wird dein Werk ein hochaktuelles Buch werden. Ein großer Erfolg ist ihm sicher." „Nicht wahr", sagte er, „du meinst es aucfr. Ich werde noch mal mit meinem Hausarzt sprechen." Ich rief den Kellner, um zu zahlen. „Gehen wir ein paar Schritte miteinander, um noch darüber zu sprechen. Du kannst mir vielleicht auch Adressen deiner dortigen Parteifreunde geben. Ich will alle Stimmen hören." Wir traten hinaus. Er knöpfte den Pelz fest zu, um der Novemberlljft zu trotzen. Der Greyhound war über den Damm gesprungen und stand in graziösester Position vor einem sehr proletarisch aussehenden, schmutzigen Pinscher, offenbar bereit, eine nähere Bekanntschaft einzuleiten. „Dandy, hierher!" rief Dagobert entrüstet hinüber. 188

Der Hund sprang, dem Ruf folgend, über den Damm. Da - da schrecklich! Ein heransausendes Auto hatte ihn gefaßt! Ein gellender Schrei — und das Tier schleppte seinen blutigen, zermalmten Hinterleib noch ein paar Schritte über den Damm, um zu den Füßen seines Herrn zu verröcheln. Dagobert starrte wie geistesabwesend auf das Phänomen, wankte und wäre auf seinen verendeten „Dandy" gestürzt, wenn ich den Ohnmächtigen nicht in meinen Armen aufgefangen hätte. Als er wieder zu sich gekommen war, half ich dem noch an allen Gliedern Zitternden in ein Auto, das ihn zu seiner Wohnung führte. — Am nächsten Tage erkundigte ich mich telefonisch nach seinem Befinden. Eine weibliche Stimme antwortete, ihr Mann sei noch sehr angegriffen. Auf meine Frage, ob ich ihm die gewünschten Adressen für die Balkanhauptstädte zuschicken sollte, erhielt ich die Antwort: „Mein Mann läßt danken; aber er hat den Plan, auf den Kriegsschauplatz zu gehen, endgültig aufgegeben." DWJ 1912, S. 775o-775i-

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ANHANG

Anmerkungen

Abkürzungen BL

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NW NWK RuL

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Braunschweiger Leuchtkugeln. Ein heiteres Blatt in ernster Zeit. Illustriertes Witzblatt (Beilage von: Braunschweiger Volksfreund). Braunschweig 1871—1878. Chemnitzer Raketen s. Nußknacker. Der arme Conrad. Illustrierter Kalender für das arbeitende Volk (auf das Jahr). Leipzig 1876—1879. Deutscher Arbeiterkalender des „Neuen Social-Demokrat" (auf das Gemeinjahr). Hg.: Allgemeiner deutscher Arbeiterverein. Berlin 1875. Der rothe Teufel. Witzblatt. Hottingen-Zürich 1887 (1 Nr.). Der wahre Jacob (später: Jakob). Illustriertes humoristischsatirisches Monatsblatt. Hamburg/Stuttgart/Berlin 1879— 1923 und 1927-1933. Hiddigeigei. Organ für Witz und Galgenhumor (Beilage von: Dresdner Abendzeitung). Dresden 1879—1881. Das Lämplein. Humoristisch-satirisches Wochenblatt. Leipzig 1878-1880. Mainzer Eulenspiegel. Humoristisch-satirisches Blatt. Mainz 1875—1878. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED. Berlin 1959 ff. Nußknacker. Witzblatt (Beilage von: Chemnitzer freie Presse, seit 1871: Freie Presse, Chemnitz). Chemnitz 1870—1878; erschien von 1873—1876 unter dem Titel: Chemnitzer Raketen. Die neue Welt. Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk. Breslau/Leipzig/Stuttgart/Hamburg/Berlin 1876—1919. Illustrierter Neue-Welt-Kalender. Stuttgart/Hamburg 18841934Samuel Kokosky: Raketen und Leuchtkugeln. Geschleudert in die Nacht des Sozialistengesetzes. Eine Festgabe zum 1. Mai. Berlin 1891. Der Sozialdemokrat. Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge; seit 1881: Zentralorgan der deutschen Sozialdemo-

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kratie; seit Nr. 45, 1886: Internationales Organ der Soziair demokratie deutscher Zunge. Zürich/London 1879—1890. Süddeutscher Postillon. Humoristisches W i t z b l a t t ; seit 1887: Illustriertes politisch-satirisches Arbeiterblatt. (Erschien a b 1909 unter dem Titel: Der Postillon, in S t u t t g a r t ; anfangs Beilage v o n : Süddeutsche Post, a b J a n u a r i883 selbständig.) München 1882—1910. Volks-Kalender. Braunschweig 1875—1879.

Anmerkungen zur Einleitung 1 Vgl.: J u r i j Borew: Über das Komische. Berlin i960, S. 187—241. 2 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. I n : M E W Bd. 4. 1959. S. 461. 3 Karl Marx: Brief an Peter I m a n d t vom 11. 11. 1870. I n : M E W Bd. 33. 1973, S. 160. — I m F r ü h j a h r 1867 waren in einigen Ländern Sammlungen f ü r den in finanzielle Bedrängnis geratenen Freiligrath durchgeführt worden. 4 Friedrich Engels: Brief an Karl K a u t s k y vom 19. 7. 1884. I n : M E W Bd. 36. 1967, S. 176. 5 Friedrich Engels: Brief an E d u a r d Bernstein vom Juli 1884. I n : ebd., S. 186. 6 Friedrich Engels: Brief an Wilhelm Liebknecht vom 7. 10. 1890. I n : M E W Bd. 37. 1967, S. 481. — Die Anspielung bezieht sich auf die Zeitung „Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger". 7 Friedrich Engels: Brief an E d u a r d Bernstein vom 2. 2. 1881. I n : M E W Bd. 35. 1973, S. 153. 8 Friedrich Engels: Brief an E d u a r d Bernstein vom 12. 3. 1881. I n : ebd., S. 170—171. 9 Friedrich Engels: Brief an E d u a r d Bernstein vom 2. 2. 1881. I n : ebd., S. 153. 10 Friedrich Engels: Marx und die „Neue Rheinische Zeitung" 1848-1849. I n : M E W Bd. 21. 1962, S. 20. 11 Ebd., S. 23. 12 Friedrich Engels: [Abschiedsbrief an die Leser des „Sozialdemokrat"]. I n : M E W Bd. 22. 1974, S. 77. 13 Nach Angaben der Redaktion (In eigener Sache. I n : Süddeutscher Postillon 1894, Nr. 15) h a t t e der „Süddeutsche Postillon" 1894 40000 Abonnenten. Das Lexikon sozialistischer deutscher Literatur (Von den Anfängen bis 1945. Monographisch-biographische Darstellungen. Halle (Saale) 1963, S. 482) vermutet, d a ß die Auflage selbst in der Blütezeit der Zeitschrift 100000 nicht

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überschritten hat. Zum Vergleich erreichte Auflagen bürgerlicher satirischer bzw. humoristischer Blätter: „Simplicissimus" ca. 80000, „Kladderadatsch" ca. 40000, „Lustige Blätter" ca. 70000 und „Meggendorfer Blätter" ca. 55000 (Angaben nach: Klaus Völkerling: Die politisch-satirischen Zeitschriften „Süddeutscher Postillon" (München) und „Der wahre J a k o b " (Stuttgart). Ihr Beitrag zur Herausbildung der frühen sozialistischen Literatur in Deutschland und zur marxistischen Literaturtheorie. Diss. phil. Potsdam 1969, S. 27). Vgl.: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, a. a. O., S. 10. Dort weist Silvia Schlenstedt im „Literaturgeschichtlichen Überblick" auf die Bedeutung der satirischen Komponente der frühen sozialistischen Literatur wie folgt hin: „. . . Die Dichtung hatte proletarischen Charakter nicht allein wegen ihrer polemischpolitischen Schärfe, ihrer Verkündung des kommenden Strafgerichts — vielmehr, weil sie satirisch angreifend und mit heiterer Überlegenheit den Bourgeois in seiner historischen Vergänglichkeit verlachte . . . " Vgl.: Aus dem Klassenkampf. Soziale Gedichte. Hg. v. Eduard Fuchs, Karl Kaiser, Ernst Klaar. München 1894. Neu herausgegeben und eingeleitet v. Klaus Völkerling. Berlin 1978 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X V I I I ) . Wilhelm Bios: Der Prinzipienreiter. Eine Geschichte aus dem Jahre 1848. 2. Aufl. Berlin [1912]. Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie. Hg. v. Karl Marx. Köln 1848—1849. Faks.-Neudruck. 2 Bde. Berlin 1928. Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. v. Bruno Kaiser. Berlin 1956—1957. Johann Philipp Becker: Neue Stunden der Andacht. Psalmen in Reimform. Genf 1875. Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, a. a. O., S. 103. Dr. Theodor Giftschnabel (d. i. August Otto-Walster): Eisele und Beisele auf dem Leipziger Turnfeste, o. O. o. J . (Leipzig 1863). — Dr. Holofernes Honigschnabel (d. i. August OttoWalster) : Eisele's und Beisele's Kreuz- und Querfahrten durch das Königreich Sachsen nebst umliegenden Dörfern. Leipzig [1864]. — Zu August Otto-Walster vgl.: August Otto-Walster. Leben und Werk. Eine Auswahl mit unveröffentlichten Briefen an Karl Marx. Hg. v. Wolf gang Friedrich. Berlin 1966 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. VII). Frankfurter Latern. Illustrirtes-satyrisches, humoristisch-lyrisches, kritisch-raisonnirendes, ästhetisch-annoncierendes Wochenblatt, wo die Woch' zehn Tage hat. Frankfurt a. M. 1860 ff.

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23 Hierauf hat zuerst Klaus Völkerling hingewiesen. Vgl.: Klaus Völkerling: Die politisch-satirischen Zeitschriften . . . a. a. O., s. 57-58. 24 In der Nr. 1/1877 des N stand äuf der dritten Seite zu lesen: „Die .Chemnitzer Raketen' haben sich der Pflicht, gewisse amtliche Strafverfügungen veröffentlichen zu müssen, niederträchtigerweise durch den Tod entzogen." 25 Zu Max Kegel vgl.: Max Kegel. Auswahl aus seinem Werk. Hg. v. Klaus Völkerling. Berlin 1974 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X I I I ) . 26 Samuel Kokosky: Raketen und Leuchtkugeln. Geschleudert in die Nacht des Sozialistengesetzes. Eine Festgabe zum 1. Mai. Berlin 1891. 27 Wilhelm Bios: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. Bd. 1. München 1914, S. 183—184. 28 Zur Bedeutung der satirischen Texte — im Vergleich zu denen erhaben-pathetischen Charakters — im „Volksstaat"-Feuilleton vgl.: Das lyrische Feuilleton des „Volksstaat". Hg. v. Reinhard Weisbach. Berlin 1979, S. X X V I - X X V I I (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X X I ) . 29 Vgl.: W . I . L e n i n : Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 10. Berlin 1959, S. 30 (Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der KPdSU). 30 Zur Geschichte des „Wahren Jakob" und des „Süddeutschen Postillon" vgl. ausführlich: Klaus Völkerling: Die politischsatirischen Zeitschriften . . . a. a. O. 31 Vgl.: Rudolf Lavant. Gedichte. Hg. v. Hans Uhlig. Mit einem Vorwort v. Manfred Häckel. Berlin 1965 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. VI); Ein deutscher Chansonnier. Aus dem Schaffen Adolf Lepps. Hg. v. Ursula Münchow und Kurt Laube. Berlin 1976 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X V I ) ; G. M. Scaevola: Gedichte und Stücke. Hg. v. Gudrun und Hans Heinrich Klatt. Berlin 1977 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X X ) . 32 Frühe sozialistische satirische Lyrik aus den Zeitschriften „Der wahre Jakob" und „Süddeutscher Postillon". Hg. v. Norbert Rothe. Berlin 1977 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. X I X ) . 33 Friedrich Engels: Brief an Hermann Schlüter vom 12. 3. 1886. In: MEW Bd. 36. 1967, S. 458.

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Anmerkungen zu den Texten Die Orthographie der Texte wurde modernisiert bzw. korrigiert, desgleichen, allerdings vorsichtig und unter Berücksichtigung stilistischer Eigenheiten, die Interpunktion. Einige wenige eindeutige Fehler in der Wortwahl, im Satzbau und Stil wurden ebenfalls korrigiert. Ein Teil der Beiträge im Abschnitt' „Kleine satirische Prosaformen" ist in den Quellen mit abgekürzten Verfasserangaben versehen, die im folgenden zusammengefaßt mitgeteilt werden: S. S. S. S. S. S.

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Preisfrage: U. A . w. g. Aus dem Reichs-Anzeiger: m. Wenn Hamlet: sd. (d. i.: Eduard Fuchs) Die Unwissenheit: x. Aus B y z a n z : Belial. Ein echter Geschichtsschreiber: E. F. (höchstwahrscheinlich: Eduard Fuchs) In der Berliner Sieges-Allee: b—b. Der Junker von Landschaden: x. A u s einer nationalliberalen Musterrede: K . D. Serenissimus: G. A . M. E s gibt gar verschiedene: L . R . Kannibalen: z. Harmonie: H. R . Ist es ein W u n d e r : L . R . Mißverständnisse über Mißverständnisse: Dr. Ei. Vornehme Teilnahme: H . G. Realismus und Photographie: Rübezahl. Legende: Fritz. W a s zuviel ist . . . : Sous-Marin. Aphorismus über Heinrich Heine: E. K l . (höchstwahrscheinlich: Ernst Klaar) Ausländer in Berlin: F . (möglicherweise: Eduard Fuchs)

3 Kladderadatsch: Politisch-satirische Wochenschrift, erschien von 1848 bis 1944 in Berlin. Der „Kladderadatsch" war ursprünglich linksliberal, später wurde er reaktionär und unterstützte besonders die Politik Bismarcks. 3 Theodor Körner: Vgl. Theodor Körner: Josef Heyderich oder Deutsche Treue. Vierter Auftritt. I n : T h . K . : Werke. Leipzig [1959], S. 271. Dort sagt der Oberleutnant: „. . . E s ist süß, für sein Vaterland zu sterben. Der Tod hat nichts Schreckliches, wenn er die blutigen Lorbeern um die bleichen Schläfen windet . . ." Prosasatire

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3 Hubertusburg: Festung. 3 „Chemnitzer freien Presse": Chemnitzer freie Presse. Chemnitz 1870—1878 (ab 1871 unter dem Titel: Freie Presse, Chemnitz) — bedeutende regionale Arbeiterzeitung der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Vgl. die Beiträge aus dem „Nußknacker" (von 1873—1876 unter dem Titel „Chemnitzer Raketen" erschienen), der satirischen Beilage dieser Zeitung, in diesem Band. 5 „Berliner freien Presse": Lokale sozialdemokratische Zeitung; erschien in Berlin 1876—1878. 6 Parteigenosse Walster: Gemeint ist August Otto-Walster (1834—1898), einer der bedeutendsten Schriftsteller der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Er lebte von 1876 bis 1890 in den USA. Im Jahre 1875 verbüßte er seine 25. Gefängnisstrafe. Vgl.: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. Halle (Saale) 1963, S. 390—393; August Otto-Walster. Leben und Werk. Hg. v. Wolfgang Friedrich. Berlin 1966 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. VII). 13 „Gartenlaube": Illustriertes bürgerliches Wochenblatt (1853— 1943), das um 1870/71 seinen demokratischen Charakter verlor und mehr und mehr spießig und sentimental wurde. 17 großen Erfolg gehabt: Die erste öffentliche Aufführung der „Weber" hatte am 25. 9. 1894 im Deutschen Theater in Berlin stattgefunden. 17 „Die Arbeiter an ihre Brüder": Vgl. Georg Herwegh: Die Arbeiter an ihre Brüder. In: Herweghs Werke in einem Band. Ausgew. u. eingel. v. Hans-Georg Werner. Berlin/Weimar 1967, S. 243—245 (Bibliothek deutscher Klassiker). Die zitierte vierte Strophe des Gedichts lautet: Dann heißt's: für uns den Schrägen, Das weiche Bett dem Gauch! Dann heißt's: Nichts in den Magen Und Kugeln in den Bauch! 21 doppelte Millionäre: Bei den Reichstagswahlen im Juni 1898 erhielt die Sozialdemokratie etwa 2,1 Millionen Stimmen (27,1 Prozent der abgegebenen Stimmen). 23 Wildenbruch und . . . Lauff: Ernst von Wildenbruch (1845— 1909), nationalistischer Schriftsteller, der die Hohenzollerndynastie, mit der er entfernt verwandt war, glorifizierte; Joseph von Lauff (1855—1933) verherrlichte in seinen Dramen ebenfalls die Hohenzollern. 24 chinesischen Krupp-Kanonen: Die Firma Krupp setzte in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zweitweilig bis zu siebzig Prozent ihrer Jahresproduktion im Ausland ab; sie

war im Besitz eines Monopols für Waffenexporte nach China. S.

25 „Platz an der Sonne": Zur Begründung des am 28. 3. 1898 v o m Reichstag angenommenen ersten Flottengesetzes hatte Reichskanzler Bülow u. a. ausgeführt: „ W i r wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren P l a t z an der Sonne." (Zitiert nach: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung. B d . 1. Berlin 1969, S. 588).

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26 Lessingschen Angedenkens: Anspielung auf die Auseinandersetzung Lessings mit dem orthodoxen Hauptpastor J. M. Goeze in Hamburg. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: AntiGoeze. I n : Lessings Werke in sechs Bänden. Hg. v . Gerhard Fricke. Bd. 6. Leipzig [1956], S. 208—272.

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27 Stumm: Carl Ferdinand Stumm (ab 1888 Freiherr von StummHalberg, 1836—1901), Großindustrieller und erzreaktionärer freikonservativer Politiker. Wie Krupp, fast noch mehr als dieser, galt Stumm der Satire der revolutionären deutschen Sozialdemokratie zu R e c h t als Repräsentant der extrem reaktionären und arbeiterfeindlichen Kreise des deutschen Imperialismus.

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30 Dalldorf: volkstümlich für Irrenanstalt. 31 Bilse: Fritz Oswald Bilse, Schriftsteller, verfaßte Militärhumoresken. 32 eine Rede: Gemeint ist wahrscheinlich die Rede August Bebels in der 244. Sitzung des Reichstags am 22. 1. 1903, in der er u. a. die wiederholten Angriffe des Kaisers gegen die deutsche Sozialdemokratie sehr entschieden zurückwies und mit Schärfe und Hohn Kritik am Verhalten Wilhelms II. übte (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. X . Legislaturperiode. II. Session. 1900/1903. Bd. 8. Berlin 1903, S. 7467—7489).

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36 Gapon: Der Priester Georgi Apollonowitsch Gapon (1870— 1906) marschierte am 22. 1. 1905, dem „Blutsonntag", an der Spitze eines Demonstrationszuges zum Winterpalast in Petersburg. Der Zar empfing ihn mit Gewehrsalven, wobei ca. 1000 Menschen getötet und ca. 5000 verwundet wurden. Daraufhin kam es zu einer Welle v o n Streiks und Bauernunruhen, die den Beginn der bürgerlich-demokratischen Revolution in Rußland 1905/07 bedeuteten.

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37 Morganus und Carnegius: Anspielung auf den amerikanischen Finanzkapitalisten John Pierpont Morgan (1837—1913) und den amerikanischen Großkapitalisten Andrew Carnegie (1835—1919), die die damals größten Stahlkonzerne der U S A beherrschten.

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S. 39 Bülow im preußischen Herrenhause: Vgl. Bernhard Fürst von Bülow: Rede im Herrenhaus am 25. 1. 1906. In: Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Bd. 2. Hg. v. Johannes Penzier. Berlin 1907, S. 291. Dort heißt es genau: „Pöbelexzesse und Revolution werden wir in Preußen, in Deutschland nicht dulden." S. 42 Bekanntmachung: Anspielung auf die Tat des Schuhmachers Wilhelm Voigt (1849—1922), des „Hauptmanns von Köpenick", am 16. 10. 1906. S. 47 Korfu: Die Insel Korfu war ein bevorzugtes Reiseziel Wilhelms II. S. 52 Gedanken eines arbeitslosen Philosophen: Der Autor dieser 1897 in München anonym erschienenen Sammlung ist Eduard Fuchs.

Der Band ist mit einem Vorwort versehen, das folgenden Wortlaut hat: Freundlicher Leser und liebe Leserin, hier habt ihr ein paar Gedanken eines arbeitslosen Philosophen. Ihr trefft manchen Bekannten aus dem „Süddeutschen Postillon", in den ich von Zeit zu Zeit meinen Zorn und meine Galle, meinen Hohn und meine Liebe ergossen habe. Ich gehe euch nicht schmeichelnd um den Bart, und ihr sollt mich nicht lesen, wenn es euch kein Vergnügen macht. Ich mache keinen Anspruch darauf, daß ihr meine Gedanken neu und originell findet, denn sie sind es nicht. Es sind Gedanken, wie ihr sie alle schon hundertmal selber gedacht habt. Vielleicht aber seid ihr fröhlicher als ich und nehmt die Dinge nicht so schlimm, wie ich sie sage. Vielleicht seid ihr schwarzseherischer als ich und seht nur die dunklen Farben der Erscheinungen, aber nicht den rosigen Hintergrund, von dem sie sich abheben. Ich will nur eines von euch, nehmt mich nicht als Galgenhumoristen, der über alles seine Possen reißt, weil ihm alles schon egal ist. Nehmt mich als den Spottvogel, der euch ein keckes Lied pfeift, an dem i^ir euch erfreuen sollt. Wenn es euch gefällt — ihr seid eingeladen mitzupfeifen; denn Wo du pfeifen hörst, da laß dich ruhig nieder, Proletarier singen keine Kirchenlieder. Mit sozialistischem Gruß Der arbeitslose Philosoph des „Süddeutschen Postillon" München, im Mai 1897.

Am Schluß des Bandes findet sich folgende Werbung für den „Süddeutschen Postillon": 200

Im Verlage von M. Ernst in München erscheint alle 14 Tage: Der Süddeutsche Postillon humoristisch-satirisches Arbeiterblatt redigiert von Eduard Fuchs. Reich und originell illustriert, 4 Seiten in prächtigem Farbendruck. Zu beziehen direkt durch alle Buchhandlungen und Kolporteure sowie durch die Post. Preis pro Nummer 10 Pfennig. Wie der „arbeitslose Philosoph" zum Abonnement einladet: Ich könnte euch um den Bart gehen, liebe Leser, und euren schönen Augen schmeicheln, liebe Leserinnen, daß ihr den „Süddeutschen Postillon" abonniert, aber ich tue es nicht. Ich sage euch nur, wenn ihr den „Süddeutschen Postillon" nicht abonniert, so tut ihr das Unvernünftigste, was ihr unter allen Umständen hättet tun können. Wenn der „ Süddeutsche Postillon" nicht existierte, so müßte man ihn erfinden. Wenn euch jemand vor die Wahl stellt, den „Kladderadatsch" oder die „Fliegenden Blätter" zu abonnieren, so rate ich euch: Wählt den „Süddeutschen Postillon". Ihr werdet euch doch nicht etwa genieren, den „Süddeutschen Postillon" zu abonnieren? Geht mir doch, so noble Leute wie der Staatsanwalt gehören zu unseren eifrigsten Lesern. E r streicht sich sogar die Stellen rot an, die ihm am interessantesten erscheinen. Ihr denkt wohl, der „Süddeutsche Postillon" ist so ein abgemarterter St. Stephans-Knecht, der immer nur die alte Weise bläst, mit der er schon unsere Großväter langweilte? O nein, das ist ein gar lockerer Geselle, der helle Schelmenlieder bläst, und seine Peitsche ist eine wuchtige Geißel; seine Gäule gehen mutig vorwärts! Wollt ihr nicht mitreiten, daß ihr nicht zu spät am Ziel anlangt ? Der „Süddeutsche Postillon" hat auch keine erste und zweite Klasse. Es kann jeder um 10 Pfennige eine lustige Fahrt mitmachen, und alle sind gleich trefflich bedient. Ihr braucht auch keine große Toilette zu machen. Steigt ein, im Werktagskleid, in eurem Ehrenkleid, so ist's dem „Süddeutschen Postillon" gerade recht! Ich kannte einen armen Mann, der war ein arbeitsloser Philosoph. E r war auch ein lachender Philosoph, und er lachte fürs Leben gern: Wenn er 10 Pfennig hatte, kaufte er sich einen „Süddeutschen Postillon". Wahrlich, wahrlich, sage ich euch: Gehet hin und tuet desgleichen!

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57 „Fliegenden Blättern": Bürgerliches illustriertes humoristisches Wochenblatt (1844—1928), das seit der Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nur den unpolitischen Humor pflegte.

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57 wo der Zar hinkommt: Das neugekrönte Zarenpaar unternahm 1896 eine Reise, die es nach Österreich, Deutschland, Dänemark, England und Frankreich führte. 68 Johannes Scherr: 1817—1886, Kultur- und Literaturhistoriker und Novellist. 69 Finanzminister: Anspielung auf Johannes v o n Miquel (1828—1901), von 1890 bis 1901 preußischer Finanzminister, von 1897 bis 1901 Vizekanzler. Als Renegat — er war Mitglied des Bundes der Kommunisten gewesen — war er bei den revolutionären Sozialdemokraten besonders verhaßt.

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70 Blut- und Eisenheros: Der 1. April war der Geburtstag Bismarcks. 71 Hans Blum: 1841—1910, Jurist und Schriftsteller, Sohn des hervorragenden Kämpfers der Revolution von 1848/49, war ein aktiver Feind der Sozialdemokratie. 80 Plötzensee: Haftanstalt. 96 von Bennigsen, Umsturzdebatte: Die vorstehenden Zeilen sind ein sinngemäßes Zitat aus der Rede Karl W . R . von Bennigsens in der 11. Sitzung des Reichstags am 10. 1. 1895 (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. I X . Legislaturperiode. I I I . Session. 1894/95. B d . 1. Berlin 1895, S. 248).

S. 109 Lauffs, Begas, Werner: Zu Lauff vgl. Anmerkung zu S. 23; Reinhold Begas (1831—1911), Bildhauer, Hauptvertreter der neubarocken Berliner Plastik des Wilhelminischen Kaiserreichs (vgl.: Meyers Neues Lexikon. 2. Aufl. Leipzig 1977); Anton von Werner (1843—1915), Maler, Historienmaler des Wilhelminischen Kaiserreichs, der sich gegen alle progressiven Tendenzen in der Malerei jener Zeit wandte (vgl.: ebd.). S. 121 „Von unten auf": V g l . : V o n unten auf. Ein neues B u c h der Freiheit. Gesammelt u. gestaltet v. Franz Diederich. 2 Bde. Berlin 1911. Zur Einschätzung v g l . : Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, a. a. O., S. 508—511. S. 127 Freund Walster: August Otto-Walster, vgl. Anmerkung zu S. 6. S. 138 E. Kl.: Höchstwahrscheinlich: Ernst Klaar. S. 142 A.O.-W.: Höchstwahrscheinlich: August Otto-Walster, vgl. Anmerkung zu S. 6. S. 151 Petroleuse: Vgl. das zeitweilig weit verbreitete „Lied der

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Petroleure" von J a k o b Audorf (1835—1898), das sich gegen die Verleumdungen der Pariser Kommunarden wandte. Abgedruckt in: Deutsche Arbeiter-Dichtung. Eine Auswahl Lieder und Gedichte deutscher Proletarier. Stuttgart 1893. Bd. 2: Gedichte von J a k o b Audorf.

ALS NÄCHSTER BAND FOLGT Josef

Schiller, Auswahl aus seinem

Herausgegeben

von Norbert Rothe

Werk