Frühe Neue Zeiten: Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution [1. Aufl.] 9783839421642

Die Zeiten ändern sich mit der Zeit: Angesichts aktueller Verschiebungen in der temporalen Organisation (vom Aufstieg de

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Frühe Neue Zeiten: Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution [1. Aufl.]
 9783839421642

Table of contents :
INHALT
Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte
ZEIT MACHEN
Baum und Zeit. Datenorganisation, Zeitstrukturen und Darstellungsmodi in frühneuzeitlichen Universalgenealogien
Beschleunigung in der Sattelzeit? Sportliche, medizinische und soziale Perspektiven auf den Wettlauf um 1800
„Bin auff diße Welt gebohren worden“. Geburtsdatierungen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen
ZEITKONZEPTE
Nova Sub Sole? Verzeitlichungen des Wissens zwischen Europa und Ostasien
Beschleunigung, Bruch und Dauer. Die Veränderung der Zeiten im Russland Peters I
LETZTE ZEITEN
Über „zeyt unnd zil zuo sterben“. Termine, Versäumnisse und Wünsche bei der frühneuzeitlichen Vorbereitung auf den Tod
Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst: Eschatologische Zeitkonzepte in der paracelsischen Alchemie
Gegen die Apokalypse? Zukunftsdiskurse im Dreißigjährigen Krieg
„Hoffnung besserer Zeiten“. Der Wandel der „Endzeit“ im lutherischen Pietismus um 1700
ZEITGEISTER
Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist. Genius saeculi als historiographisches, mnemonisches und gegenwartsdiagnostisches Konzept im 17. und 18. Jahrhundert
Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert: Dimensionen eines umstrittenen Begriffs
EPOCHALES
Verzeitlichungstendenz des Josephinismus
Die Sattelzeit. Transformation des Denkens oder revolutionärer Paradigmenwechsel?
Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit
Autorinnen und Autoren

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Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 11

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Achim Landwehr (Hg.)

Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution

Publikation gefördert durch den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Achim Landwehr Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2164-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT

Alte Zeiten, Neue Zeiten Aussichten auf die Zeit-Geschichte ......................................9 ACHIM LANDWEHR  

ZEIT MACHEN 

Baum und Zeit Datenorganisation, Zeitstrukturen und Darstellungsmodi in frühneuzeitlichen Universalgenealogien .........................41 VOLKER BAUER 

Beschleunigung in der Sattelzeit? Sportliche, medizinische und soziale Perspektiven auf den Wettlauf um 1800 ..................................................83 REBEKKA VON MALLINCKRODT 

„Bin auff diße Welt gebohren worden“ Geburtsdatierungen in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen ............................................................105 STEFAN HANß      

ZEITKONZEPTE 

Nova Sub Sole? Verzeitlichungen des Wissens zwischen Europa und Ostasien ...................................................... 155 TOBIAS WINNERLING 

Beschleunigung, Bruch und Dauer Die Veränderung der Zeiten im Russland Peters I. ......... 179 JAN KUSBER

LETZTE ZEITEN 

Über „zeyt unnd zil zuo sterben“ Termine, Versäumnisse und Wünsche bei der frühneuzeitlichen Vorbereitung auf den Tod .................... 199 CLAUDIA RESCH 

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst: Eschatologische Zeitkonzepte in der paracelsischen Alchemie ....................................... 217 UTE FRIETSCH 

Gegen die Apokalypse? Zukunftsdiskurse im Dreißigjährigen Krieg ...................... 237 RALF-PETER FUCHS 

„Hoffnung besserer Zeiten“ Der Wandel der „Endzeit“ im lutherischen Pietismus um 1700 ......................................................... 261 WOLFGANG BREUL

ZEITGEISTER 

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist Genius saeculi als historiographisches, mnemonisches und gegenwartsdiagnostisches Konzept im 17. und 18. Jahrhundert ...................................................283 MARKUS MEUMANN 

Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert: Dimensionen eines umstrittenen Begriffs ..........................................319 THEO JUNG

EPOCHALES 

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus ...............357 SEBASTIAN HANSEN 

Die Sattelzeit Transformation des Denkens oder revolutionärer Paradigmenwechsel? ................................373 STEFAN JORDAN 

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit ...........................................................389 CORNEL ZWIERLEIN

Autorinnen und Autoren ...............................................407

A LTE Z EITEN , N EUE Z EITEN AU S SI CH TE N

AU F DI E

Z E IT -G ES CH IC HT E

ACHIM LANDWEHR „Verzeihung, mein Herr, sagte ich, indem ich meinen Hut leicht lüftete und mich mit einer sofort wieder unterdrückten Bewegung erhob. Die genaue Zeit, ich bitte Sie! Er sagte mir eine Zeit, ich weiß nicht mehr welche, eine Zeit, die nichts besagte, das ist alles, was ich weiß, und die mich nicht beruhigte. Aber welche hätte es tun können? Ich weiß, ich weiß, eine wird kommen, die es tun wird, aber bis dahin?“ Samuel Beckett1

Zeit kann beunruhigen. Man verabschiede sich gedanklich nur für einen kurzen Moment von der Orientierungsfunktion, die Formen der Zeitmessung in unserem Alltag übernehmen, und schon gerät das Denken ins Trudeln, und die Turbulenzen der Zeit sorgen für eine erhebliche Desorientierung. Viele literarische und filmische Geschichten zu Zeitreisen und anderen temporalen Abenteuern machen sich diesen Umstand zunutze, stellen unsere gewohnten Auffassungen von Zeit infrage, wenn nicht gar auf den Kopf. Dabei verschwimmen nicht nur die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kommen auch Aspekte des Verhältnisses von gemessener und gelebter Zeit ins Spiel, drängt sich das Problem unserer existenziellen Abhängigkeit von Zeit bei ihrer gleichzeitigen Unfassbarkeit in den Vordergrund und werden die temporalen Kulturen deutlich, denen sich Gesellschaften in unterschiedlichen Formen verpflichtet haben. Das Unterfangen dieses Sammelbandes soll nicht in ungebührlicher Weise verniedlicht werden, aber man kann es in gewisser Weise als ein Spiel verste1

BECKETT, 1995, S. 86. 9

Achim Landwehr

hen, sich nämlich auf die Verunsicherungen einzulassen, die das Nachdenken über die Zeit hervorrufen kann – und man wird feststellen, dass aus dem Spiel sehr schnell Ernst wird. In einem allgemeinen Zusammenhang – den es im Folgenden zügig zu konkretisieren gilt – ist es das Anliegen der hier zusammengetragenen Beiträge, sich der Verunsicherung durch die Zeit zu stellen, sie zum Gegenstand zu machen und damit der Zeit auch eine Geschichte, eine historische Dimension zu geben, die nicht immer recht wahrgenommen wird (zumindest wenn man von den standardisierten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Zeitmessung absieht, bei denen es sich nicht selten um klassische Fortschrittsnarrative handelt). Lässt man sich auf diese Verunsicherung ein, dann wird es möglich, die Zeit auf andere Art und Weise zu befragen, sie als selbstverständliches und gleichzeitig rätselhaftes Phänomen in den Mittelpunkt zu rücken. Und doch ist es angezeigt, an dieser Stelle etwas zu tun, das man aus strategischen Erwägungen in der Einleitung eines Buchs wohl eher unterlassen sollte, nämlich die Erwartungen herunterzuschrauben. Man wird hier – und das dürfte kaum überraschen – keine Antworten auf die grundlegenden Fragen nach der Zeit an und für sich finden. Vielmehr geht es wesentlich bescheidener um drei Aspekte: Erstens will dieser Sammelband Zeit in ihrer spezifisch historischen Verfasstheit in den Blick nehmen und damit zugleich die Frage stellen, wie Zeit in einem geschichtswissenschaftlichen Kontext thematisiert werden kann. Mit dem zweiten Punkt verbindet sich bereits eine etwas unheimliche Vermehrung des Wortes Zeit, wenn es nämlich um die Behandlung eines bestimmten historischen Zeitraums geht: die Frühe Neuzeit. Und drittens soll auch nicht außer Acht gelassen werden, wie die historischen Einsichten, die an den frühneuzeitlichen Beispielen gewonnen werden können, für eine allgemeinere Behandlung des Themas in Anschlag gebracht werden können. Doch der Reihe nach. Ich werde im Folgenden zunächst versuchen, näherungsweise zu umreißen, (1.) auf welche Weise die Zeit ein Problem darstellt, (2.) bevor ich etwas spezifischer auf die Behandlung von Zeit in der historischen Forschung eingehe und einige Überlegungen zu den Möglichkeiten anstelle, wie sich Zeit zu einem geschichtswissenschaftlichen Gegenstand machen lässt. (3.) Insbesondere mit Blick auf die Frühe Neuzeit sollen daraus im Anschluss einige Schlussfolgerungen gezogen werden. In diesen letzten Abschnitt sollen auch die Ergebnisse der Beiträge des Bandes einfließen, wobei noch einmal andere inhaltliche Bezüge hervorzuheben sind, als sie in der Or-

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Alte Zeiten, Neue Zeiten

ganisation des Inhaltsverzeichnisses zum Tragen kommen, insofern hier Pluritemporalität, Zeitpraktiken und Zeitwissen im Mittelpunkt stehen.

1. Zeit-Probleme Das vorangestellte Zitat von Samuel Beckett kann nicht nur die durch die Zeit hervorgerufene Verunsicherung verdeutlichen, sondern ist mit einem leichten Augenzwinkern auch in der Lage, die Situation derjenigen zu umschreiben, die sich in der wissenschaftlichen Forschungsliteratur zur Zeit zu tummeln versuchen: Es wird viel, sehr viel zur Zeit gesagt, und trotzdem bleibt sie ungreifbar. Zum Thema der Zeit scheint jeder Stein schon mehrfach umgedreht worden zu sein, jedes Phänomen ist bedacht, jeder Aspekt beleuchtet worden. Jede philosophische Schule hat sich mehr oder minder intensiv mit der Zeit beschäftigt, jede theoretische Ausrichtung hat sich diesem Phänomen gewidmet. Wenn man die Bibliotheken nach Publikationen zum Thema Zeit durchforstet, wird einem schwindelig. Dieser Umstand bringt mich insofern in ein Dilemma, als es ja üblicherweise zu den Begründungsschemata wissenschaftlicher Sammelbände gehört, ihr Zustandekommen durch die nicht ausreichende Beachtung, wenn nicht sogar gänzliche Vernachlässigung einer bestimmten Thematik zu rechtfertigen. Im Falle der Zeit ist das kaum möglich. Dazu sind nicht nur die sprichwörtlichen, sondern auch die tatsächlichen Bibliotheken schon gefüllt worden. Die Literatur ist schon lange nicht mehr zu überschauen, es gibt zahllose Buchreihen, diverse Zeitschriften2 und ganze Forscherleben, die diesem Gegenstand gewidmet wurden. Wer will da noch mitkommen? Insbesondere im Kontext von Soziologie, Philosophie und Ethnologie – um die weit ausgreifenden naturwissenschaftlichen Diskussionen hier einmal beiseite zu lassen – hat die Zeit vielfache Aufmerksamkeit erfahren.3 2

3

Im englischsprachigen Raum erscheint seit 1992 die Zeitschrift Time & Society, seit 2001 die Zeitschrift KronoScope. Journal for the Study of Time. In Frankreich existierte von 1984 bis 2005 die Zeitschrift Temporalistes (http://temporalistes.socioroom.org, 1.3.2012) und erscheint seit 2004 die Zeitschrift Temporalités. Revue de Sciences Sociales et Humaines (http://temporalites.revues.org, 1.3.2012). Um den Anmerkungsapparat nicht unnötig aufzublähen, seien hier nur stellvertretend einige der einschlägigen Studien aus jüngerer Zeit genannt: ADAM, 2005; DUX, 1989; ELIAS, 1988; ESPOSITO, 2010; FABIAN, 1983; FRASER, 1993; GLOY, 2008; GUMBRECHT, 2010; KAEMPFER, 1996; KLEIN, 2008; LEVINE, 2003; MACEY, 1994; MAINZER, 1995; MCLURE, 2005; NASSEHI, 2008; NOWOTNY, 1990; REUSCH, 2004; ROSA, 2005; SANDBOTHE, 1998. 11

Achim Landwehr

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage: Warum noch ein weiterer Band zur Zeit? Könnte man mit seiner Zeit (sic!) nichts Besseres anfangen, als sie in die Lektüre eines Buchs zu investieren, das die Frage stellt, welche Relevanz Zeit im besonderen Zusammenhang der Frühen Neuzeit besitzt und welche Bedeutung das für uns heute haben könnte? Der einzige Rettungsanker scheint ironischer Art zu sein, so dass man mit Karl Valentin zur Rechtfertigung dieser Publikation sagen könnte, es sei zwar schon alles gesagt worden, nur eben noch nicht von jedem. In all der Verzweiflung, eine wissenschaftliche Unternehmung rechtfertigen zu müssen, die sich anscheinend gar nicht rechtfertigen lässt, kann man sich auf eine recht schlichte, zugleich aber grundlegende Frage zurückwerfen lassen, warum nämlich das Thema Zeit so dauerhaft Interesse hervorzurufen vermag. Man kann entsprechende Aufmerksamkeiten an ganz trivialen und oberflächlichen Daten wie der genannten Buchproduktion ablesen, an der Ubiquität von Zeitmessgeräten oder an dem Umstand, dass beständig und andauernd über die Zeit geredet wird (alle Zeit der Welt haben; sich eine Auszeit nehmen; auf Zeit spielen; Zeit totschlagen; Zeit verschwenden; Zeit absitzen; Zeit gewinnen; der Zahn der Zeit; der Zeit hinterherhinken; seiner Zeit voraus sein; die Zeit ist knapp; die Zeit nutzen; die Zeit zurückdrehen; der Wettlauf mit der Zeit, etc.). Insofern ist Zeit auf die eine oder andere Art und Weise immer bedenkenswert. Die (auch historisch) interessante Frage lautet, wie Zeit zu einer bestimmten Zeit behandelt wird. Wenn der Eindruck nicht gänzlich täuscht, werden wir im Moment Zeugen recht heftiger Turbulenzen im Zeitgefüge, die auf unser aller Leben, Denken und Handeln nicht unerhebliche Auswirkungen haben dürften. Denn auch wir sind im frühen 21. Jahrhundert dabei, unsere zeitlichen Modalisierungen erheblich umzugestalten – auch wenn das nicht wirklich als ein intendierter Vorgang angesehen werden kann. Es handelt sich nicht nur um die Wahrnehmung einer beständigen Beschleunigung,4 der sämtliche Lebensbereiche unterworfen zu sein scheinen und der man teils durch gezielte Versuche einer Entschleunigung entgegenzuwirken versucht, sondern auch um das sehr komplexe Phänomen der Ausbreitung westlicher Zeitmodelle im Zuge dessen, was gemeinhin als Globalisierung5 bezeichnet wird, und nicht zuletzt um unser eigenes Rearrangement des Zusammenhangs von Vergangenheit, 4 5

12

SCHIVELBUSCH, 2002; ROSA, 2005. Hinweis auf Globalisierung als Komprimierung von Raum und Zeit bei G IDDENS, 1996, S. 28-33; OSTERHAMMEL/PETERSSON, 2003, S. 12.

Alte Zeiten, Neue Zeiten

Gegenwart und Zukunft. Im letzteren Fall trifft der beständige Drang, wenn nicht gar Zwang zur Zukunftsgestaltung auf eine nicht zu übersehende und auch gar nicht als lächerlich zu qualifizierende Grundstimmung, die man schon als apokalyptisch bezeichnen kann. Zuweilen macht sich der Eindruck breit, die jüngere Vergangenheit habe die nähere Zukunft bereits aufgebraucht. Die aktuellen Bezüge unseres Themas sind also nur zu deutlich. Bereits seit den 1970er Jahren, symbolisiert durch die Veröffentlichung Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome,6 allerspätestens aber mit dem Epochenjahren 1989/90 dürfte einsichtig geworden sein, dass unsere Welt nicht mehr die ist, die man sich lange vorgestellt hat. Gerade in dem Moment, in dem der westliche, auf Fortschritt, Demokratie und Moderne getrimmte Kapitalismus seinen vermeintlich größten Triumph erlebte, wurden ihm in aller Deutlichkeit seine Grenzen aufgezeigt. Wenn es schon nicht die Rückkehr von Nationalismen und religiösen Fundamentalismen (und zwar nicht nur in ihrer islamischen Variante) deutlich gemacht haben sollten, dann lässt spätestens der Klimawandel kaum noch einen Zweifel darüber zu, dass wir uns von lange gepflegten Selbstverständlichkeiten verabschieden müssen – die Frage ist nur noch, wie ein solcher neuer Wirklichkeitsentwurf aussehen wird. Unsere Konzeption von Zeit steht dabei an erster Stelle zur Debatte. Lassen wir einmal die komplexe Frage beiseite, ob Zukunftsszenarien wie Klimawandel, Staatsverschuldungen und demographische Verschiebungen in Richtung einer alternden Gesellschaft tatsächlich in der Form und mit den Auswirkungen eintreffen werden, wie dies momentan diskutiert wird. Eine ganze konkrete Auswirkung haben diese Projektionen auf jeden Fall jetzt schon: Sie konfrontieren uns hier und heute, in unserer eigenen nur noch „erstreckten Gegenwart“7 mit einem temporalen Entwurf, der wohl seit der Frühen Neuzeit in Europa nicht mehr in dieser Form so dominant war, nämlich mit der Endlichkeit der Welt. Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit fassten das Weltende in einem heilsgeschichtlichen Sinn auf – worauf mehrere Beiträge in diesem Band gebührend hinweisen –, wir müssen es inzwischen in klimatischer, finanzpolitischer und demographischer Perspektive betrachten. Wir folgen heute noch einem Zeitmodell, das sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich ausgebildet hat. Wir sind gewohnt, mit Blick in eine offene Zukunft zu denken, linear und progressiv. Fortschritt und Wachstum sind immer noch Normen, die nicht verhandelbar zu sein scheinen, denn 6 7

DIE GRENZEN DES WACHSTUMS, 1972. NOWOTNY, 1990, S. 53. 13

Achim Landwehr

immer noch ist die Meldung eines Unternehmens oder eines Staates, in diesem Jahr kein Wachstum erwirtschaftet zu haben, das Eingeständnis einer Niederlage. Abstieg oder auch nur Stabilität sind in Misskredit geraten, etwas kann nur gut sein, wenn es immer besser wird. Der Zwang zum höher, schneller, weiter ist in unseren Köpfen fest implantiert: „Die mit dem Begriff ‚Wachstum‘ verbundene Vorstellungswelt durchzieht jede Faser unserer gesellschaftlichen und privaten Existenz. […] Der Begriff ‚Wachstum‘ hat magische und parareligiöse Qualität, weshalb man sogar im Fall einer Rezession vom ‚negativen Wachstum‘ spricht, als sei das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung […] der Leibhaftige, den ein guter Christ nicht beim Namen nennen darf.“8

Endlichkeit war daher für lange Zeit undenkbar geworden – war, denn inzwischen sind wir dabei, uns mit einem solchen Zeitmodell wieder vertraut zu machen. Ob diese Diagnose tatsächlich zutreffend ist, wird – jawohl! – erst die Zukunft zeigen; wer weiß, vielleicht liegen die Apokalyptiker ja ebenso falsch wie die unverbesserlichen Wachstumsoptimierer. Aber dass diese Form der Selbstbeschreibung sich inzwischen zu einem recht einhelligen Chorgesang verdichtet hat, zu einem basso continuo, der allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Diskussionen unterliegt, sagt nicht nur viel über das Bild der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts aus, sondern wird, wie jedes Selbstbild, ob zutreffend oder nicht, seine eigene diskursive Wirkmächtigkeit entfalten. Hier kann die historische Betrachtung anschließen. Denn inzwischen kann man auf eine langfristig dominante, moderne Zeitkonzeption zurückblicken, die geschichtlich abgeschlossen zu sein scheint und sich in dieser Form nicht mehr fortführen lässt. Doch darin kann und will sich die historische Beschäftigung nicht erschöpfen. Es geht nicht einfach um die Musealisierung von – in diesem Fall – obsoleten Zeitmodellen, sondern es geht um das Erzählen von exemplarischen Geschichten, die uns zwar kein Patentrezept für gegenwärtige Probleme an die Hand geben können, die aber in der Lage sind, in der Beschäftigung mit dem historisch Anderen uns die Augen für die eigene Situation zu öffnen. Selbstredend bin ich nicht der Überzeugung, dass sich Geschichte wiederholt, dass wir also momentan frühneuzeitliche Zeitkonzepte repetieren. Aber die Auseinandersetzung mit historischen Gegebenheiten kann dabei hel8 14

LEGGEWIE/WELZER, 2009, 110f. Vgl. auch VOGL, 2010.

Alte Zeiten, Neue Zeiten

fen, das Bedenken und kritische Reflektieren unserer eigenen Situation zu befördern. Würde das gelingen, wäre schon eine Menge erreicht. Damit hätte ich in meinen einleitenden Darlegungen aber auch den Punkt der Argumentation erreicht, an dem Zeit zu einem Grenzfall zwischen Theorie und Trivialität wird: Einerseits finden sich auf allen Abstraktionsniveaus Überlegungen zur Zeit an und für sich, andererseits ist eben diese Zeit im Alltagsleben mit so viel Plausibilität belegt, dass jegliches Weiterfragen nahezu von selbst blockiert wird.9 Die noch sehr allgemeinen Bestimmungen der Bedeutung von Zeit als einem geschichtswissenschaftlichen Gegenstand möchte ich daher im Folgenden vertiefen. (Und hierbei muss dem Bedauern Ausdruck verliehen werden, dass der Ausdruck der Zeit-Geschichte schon anderweitig vergeben ist – denn wo würde er besser passen als hier?)

2. Zeit-Geschichte Überkommen einen Schwindelgefühle, wenn man die Forschungsliteratur zur Zeit zu erfassen versucht, so fallen die Gleichgewichtsstörungen im geschichtswissenschaftlichen Kontext wesentlich geringer aus. Denn die Thematisierung von Zeit in den Geschichtswissenschaften ist einigermaßen paradox. Nüchtern betrachtet könnte man sagen, dass die Geschichtswissenschaft meint, sich beständig mit der Zeit auseinanderzusetzen, weshalb es keiner gesonderten Auseinandersetzung mehr bedarf. Da Geschichte es nun einmal mit Veränderungen in der Zeit zu tun hat, besteht auf den ersten Blick kaum die Notwendigkeit, sich mit der Zeit nochmals gesondert zu beschäftigen – weil dies vermeintlich ohnehin schon immer geschieht. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass Zeit vielfach nur vorausgesetzt, aber selten problematisiert wird.10 Zeit ist der Rahmen, in dem sich Geschichte abspielt, der aber in all seiner Konstruiertheit sowie sozialen und kulturellen Bedingtheit kaum einmal in den Fokus gerät. „Zeit scheint gemeinhin eine Bedingung zu sein, unter welcher Geschichte stattfindet, sie kann aber selbst durch die Geschichte nicht bedingt sein. Zeit lässt sich nicht erzählen: Sie ist die Bedingung dafür, dass man erzählen kann.“11 Es scheint daher angebracht, Zeit im Kontext der Geschichtswissenschaft in ähnlicher Weise einer kulturwissenschaftlichen Revi9 KIROV, 2007, S. 12. 10 GOERTZ, 1995, S. 168; SANDL, 2007, S. 379f.; GRAF, 2011. 11 KIROV, 2007, S. 12. 15

Achim Landwehr

sion zu unterwerfen, wie dies in den vergangenen Jahren mit der ebenso fundamentalen Kategorie des Raumes geschehen ist12 – denn eine Geschichte der Zeit kann die Zeit nicht in naiver Weise voraussetzen. Ähnlich wie es im Rahmen des so genannten spatial turn um die Auflösung eines letztlich euklidischen Konzepts von Räumlichkeit ging, sollte sich die Geschichtswissenschaft – neben einigen anderen Disziplinen – darum bemühen, die absolute Zeit Newtons hinter sich zu lassen. (Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass damit ausdrücklich nicht die Ausrufung eines wie auch immer gearteten turns indiziert sein soll.) Nun kann man zu Recht einwenden, es gäbe doch eine erkleckliche Anzahl historischer Untersuchungen, die sich der Zeit in ihren unterschiedlichen Facetten widme, am intensivsten sicherlich im Rahmen der Historiographiegeschichte, der es um Vergangenheitsmodelle und Geschichtskonzepte zu tun ist.13 Darüber hinaus finden sich – auch einige schon klassisch zu nennende – Studien vor allem zu Fragen der Zeitmessung und der Chronologie,14 aber insbesondere aus den Jahren um 2000 auch zum allfälligen Phänomen der Jahrhundertwenden.15 Doch wenn man von einigen Ausnahmen absieht, die beispielsweise die Geschichte der Zukunft16 oder die Autorität der Zeit17 im Blick haben, wird in der Mehrzahl der Studien in dem bereits genannten Sinn Zeit immer schon als gegeben vorausgesetzt, aber weniger als kulturhistorisches Konstrukt problematisiert. Und genau hierum muss es gehen, um die Frage nämlich, welcher Zeitmodelle sich Gesellschaften in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen bedienten, wie also Formen der Zeitorganisation und Zeitmessung eingesetzt wurden, um Orientierung und Organisation innerhalb soziokultureller Zusammenhänge zu bewerkstelligen.18 In der Einleitung zu Stephen Hawkings bekanntem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit schrieb Carl Sagan den schönen Satz: „Wir bewältigen unse12 Vgl. LÖW, 2001. 13 Stellvertretend für die unüberschaubare Menge an Literatur seien genannt: KÜTTLER u. a., 1993-1999; SIMON, 1996; RAPHAEL, 2003; VÖLKEL, 2005; WOOLF, 2011. 14 BORST, 1999; BRINCKEN, 2000; CIPOLLA, 1999; DOHRN-VAN ROSSUM, 1992; EHLERT, 1997; HERZOG, 2002; WHITROW, 1999. 15 BRENDECKE, 1999; GALL, 1999; JAKUBOWSKI-TIESSEN, 1999. 16 HÖLSCHER, 1999. 17 BRENDECKE u. a., 2007. 18 Immer noch vorbildlich in dieser Hinsicht sind die Studien von KERN, 1986 und SCHIVELBUSCH, 2002. Vgl. auch WENDORFF, 1985; RAULFF, 1999; CHVOJKA u. a., 2002. 16

Alte Zeiten, Neue Zeiten

ren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt.“19 Man muss diesen Satz überhaupt nicht denunziatorisch verstehen, es handelt sich schließlich um die Feststellung der ganz normalen Komplexitätsreduktion, die wir alle nicht nur tagtäglich und ganz selbstverständlich praktizieren, sondern praktizieren müssen, wenn wir nicht wahnsinnig werden wollen. Wir können uns den Luxus schlicht nicht leisten, uns jeden Tag aufs Neue zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind – ansonsten kämen wir morgens nicht einmal aus dem Bett. Sagan bezog seinen Satz auf den Bereich der Naturwissenschaften, insbesondere auf die Physik, und wollte damit zum Ausdruck bringen, dass der allergrößte Teil der Menschheit keinen Gedanken auf die Gestalt des Kosmos oder die Form der Elementarteilchen verschwendet – womit er zweifellos recht hat. Aber seine Aussage trifft ebenso auf gesellschaftliche und kulturelle Phänomene zu. Die Zeit ist für das Gesagte insofern prototypisch, als es sich nicht nur um ein Phänomen handelt, das unterschiedliche Aspekte aufweist (physikalische, biologische, soziale, kulturelle etc.), sondern wohl einer der Bereiche ist, mit dem wir gänzlich selbstverständlich umgehen (müssen), ohne uns die Frage zu stellen, was diese Zeit ist.20 Damit ist ein grundlegendes Problem auch für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Zeit benannt: Zeit ist immer und überall. „Zu den wenigen fundamentalen Kategorien, mit Hilfe derer wir unsere Wahrnehmungen der Welt strukturieren, gehört die Zeit. Im Raum stellt sich uns das Nebeneinander der Welt dar, durch Zeit erfassen wir das Nacheinander. Auch speziellere Prinzipien der Welterfassung wie Kausalität und Finalität, mit denen wir konkrete Qualitäten von Abläufen bezeichnen, enthalten eine zeitliche Dimension. So ist Zeit zwar nicht als Wort, aber doch als Ordnungsprinzip des Bewußtseins universal.“21

Gerade weil sie so grundlegend ist, ist Zeit so schwierig in den Griff zu bekommen. Ähnlich wie im Fall des Raumes oder des Wissens oder der Erinnerung oder der Religion oder anderer Themen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf dem wissenschaftlichen Jahrmarkt der Aufmerksamkeiten hoch gehandelt wurden, lässt sich die Zeit nicht auf einen eindeutigen definitorischen Kern zurückführen. Spätestens an dieser Stelle ist es angebracht, eine 19 HAWKING, 1991, S. 10. 20 NASSEHI, 2008, S. 39. 21 SCHMIED, 1985, S. 11. 17

Achim Landwehr

Referenz zu zitieren, die – zumindest gefühlt – in jeder zweiten Publikation zum Thema Zeit herangezogen wird. Augustinus sagt bekanntermaßen: „Was ist also ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“22 Bei Augustinus lässt sich mithin die Unmöglichkeit begreifen, Zeit definitorisch zu fassen. Sie lässt sich zumindest nicht in einem Sinne begrifflich auf den Punkt bringen, der entweder überzeitlich gültig oder historisch nützlich wäre. Die Zeit entzieht sich beständig allen Versuchen, sie sprachlich so einzuklammern, dass sie einem nicht mehr zwischen den Händen entgleitet. Es ist tatsächlich unmöglich, zu sagen, was Zeit ist. Ebenso ist es unmöglich, zu sagen, was Zeit nicht ist. Aber auch wenn diese Einsicht als bedauernswertes Eingeständnis einer Niederlage verstanden werden könnte, so halte ich sie offen gestanden nicht für sonderlich problematisch. Der Zeit geht es da nicht besser als zahlreichen anderen Abstrakta, mit denen wir ganz alltäglich und völlig unproblematisch umgehen, ohne uns ernsthaft die Frage zu stellen, was das eigentlich ist, das unser Leben so unübersehbar bestimmt (und dass bei der Frage nach der Zeit der Verweis auf die Uhr nicht wirklich hinreichend ist, muss ich hier nur am Rande erwähnen – schließlich ist eine Uhr eine Uhr, und nicht die Zeit). Das Problem einer jeden Beschäftigung mit der Zeit besteht in der argumentativen Zirkularität, in die man sich unweigerlich hineinbegibt und der nicht zu entkommen ist. Ähnlich wie die Erkenntnistheorie immer im Modus des Erkennens operiert, die Hirnforschung immer von Gehirnen vorgenommen wird, die Auseinandersetzung mit der Geschichte immer schon historisch verortet ist, so ist auch „das Denken der Zeit schon immer ein Denken in der Zeit.“23 Im Fall der Zeit können wir keinen Beobachterstandpunt einnehmen, der sich gewissermaßen gottgleich außerhalb der Verhältnisse setzte, um sie nüchtern zu betrachten. Aber indem wir über die Zeit nachdenken und uns mit ihr beschäftigen, setzen wir Zeit nicht nur als Gegebenes voraus (was nicht funktionieren kann), sondern vollziehen und konstituieren Zeit im Zuge dieser Beschäftigung. Würde es uns gelingen, Zeit distanziert, gar externalisiert wahrzunehmen und zu erkennen, bräuchte es ein anderes Wahrnehmungssubjekt, das uns wiederum bei unserem Vollzug von Zeit beobachten würde, das seinerseits wiederum ein drittes Wahrnehmungssubjekt benötigte, das dessen

22 AUGUSTINUS, 1987, S. 628f. Vgl. auch FLASCH, 2004. 23 NASSEHI, 2008, S. 40 (Hervorhebungen im Original). 18

Alte Zeiten, Neue Zeiten

Vollzug von Zeit beobachtete – ad infinitum. Wer von Zeit redet, darf sich offensichtlich vor Argumentationszirkeln und Paradoxien nicht fürchten.24 Der Weg, um dem Problem der Zeit irgendwie habhaft zu werden, kann also kein definitorischer sein, sollte daher auch nicht durch das Zentrum verlaufen und die Frage stellen, was Zeit ist. Vielmehr ist ein Weg über die Ränder einzuschlagen. Dann müsste die Frage nicht lauten, was Zeit ist, sondern wie Zeit verwirklicht wird, wie sie verwendet wird, in welchen Zusammenhängen sie dingfest gemacht werden kann. An die Stelle der definitorischen und abstrakten Frage nach der Zeit tritt die historische Frage nach den Zeiten.25 Denn: „Mit ‚Zeit‘ füllen wir die Leere, vor der uns graut. Wir konstruieren Gewißheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die ‚Zeit‘, die wir messen, nein, wir messen Veränderungen, Dynamiken, Prozesse und nennen dies ‚Zeit‘. Die Uhr mißt demnach nicht die ‚Zeit‘, vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als ‚Zeit‘ bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren (Stunde, Minute, Sekunde). Dieser Sachverhalt verleitete Einstein dazu, die ‚Zeit‘ als eine ‚hartnäckige Illusion‘ zu kennzeichnen. […] Daher ist die Zeit ein menschengemachtes Netz, in dem man Spinne und Fliege zugleich ist. Indem wir die ‚Zeit‘ kontrollieren, kontrollieren wir uns selbst. Wir produzieren, so gesehen, jene ‚Zeit‘, die auf uns wirkt.“26

Zeit kann also nicht als objektive Gegebenheit der natürlichen Ordnung verstanden werden, sodass sie sich im besten Fall nicht von anderen Naturobjekten unterscheiden würde, abgesehen von ihrer sinnlichen Unzugänglichkeit. Sie kann auch nicht als eine Zusammenschau von Ereignissen konzipiert werden, die auf der Eigentümlichkeit des menschlichen Bewusstseins basiert; Zeit würde dann jeglicher menschlichen Erfahrung vorausgehen und hätte apriorischen Charakter.27 Vielmehr scheint es (zumal für geschichtswissenschaftliche Belange) angemessener, die Zeit in einem funktionalen Licht zu besehen. Die historische Perspektive dürfte für eine solche Position ausreichend Belegmaterial liefern. Das, was wir nicht selten in einem naturalistischen und gewissermaßen übermenschlichen Sinn als Zeit verstehen, war und ist immer um soziale Gruppen zentriert. Die Zeit ist ein Mittel zur Orientierung in der sozialen

24 25 26 27

EBD., S. 43. LEBOVIC, 2010, S. 281f. GEISSLER, 1999, S. 3f. ELIAS, 1988, S. Xf.; MAINZER, 1995, S. 32-43. 19

Achim Landwehr

Welt und dient vor allem der Regulierung des Zusammenlebens unter den Menschen. Um gesellschaftliche Tätigkeiten im Fluss des Geschehens fixieren zu können, werden Naturabläufe genutzt, durch welche die Position und Dauer von Ereignissen bestimmbar wird.28 Zeit kann zwar als Universalie bestimmt werden, das „heißt aber nicht, daß Zeit ein überall in gleicher Form vorhandener Bewußtseinskomplex ist. Zeit als strukturierendes Vorstellungssystem ist vorwiegend ein soziales Phänomen. Das bedeutet, daß die Zeit, die unser Denken und Handeln zutiefst prägt, nicht Zeit schlechthin ist; sie ist nur rudimentär ein dem Menschengeschlecht eingeborener, als einheitliche Ausstattung mitgegebener Vorstellungskomplex und lediglich in wenigen Fällen (wie z.B. beim Wechsel der Jahreszeiten) ein reines Ablesen von meteorologischen und astronomischen Phänomenen. Sie ist vielmehr in hohem Maße eine gesellschaftlich bedingte und gesellschaftlich wirksame Konzeption und mit den Eigenheiten einer Gesellschaft verwoben.“29

Um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei der Zeit um ein Objekt jenseits menschlicher Zugriffmöglichkeiten, das als überwölbendes und übermächtiges Dach über uns schwebt, hat Norbert Elias vorgeschlagen, das Verb zeiten zu verwenden. Damit kann deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Bestimmung von Zeit um einen sozialen und kulturellen Vorgang handelt. Es werden dadurch nicht nur Beziehungen aufgezeigt, durch das Zeiten werden Beziehungen hergestellt.30 Folgt man Armin Nassehi, lässt sich Zeit erstens nicht mehr als ontologische Einheit konstruieren, sondern es muss auf den operativen Aspekt der Konstitution von Zeit Wert gelegt werden. Zweitens kann es nicht genügen, den Ort der Zeit (als sozialer Zeit) entweder in das Subjekt in Form des individuellen Zeitempfindens zu verlegen oder im Sozialen zu verorten, so dass es die Gesellschaft wäre, welche die Zeit hervorbringen würde. Vielmehr muss umgestellt werden von der Suche nach einer Identität von Zeit zu einer differenztheoretisch fundierten Herangehensweise, sprich: Zeit hat keinen eindeutig identifizierbaren Ort (wo immer dieser auch situiert wer-

28 ELIAS, 1988, S. IXf. 29 SCHMIED, 1985, S. 11. 30 ELIAS, 1988, S. 11, S. 43. 20

Alte Zeiten, Neue Zeiten

den mag: bei Gott, im Universum, im Individuum oder in der Gesellschaft), sondern Zeit entsteht im Zwischen.31 Zeit entsteht aber nicht nur in der Produktivität der Differenz, sie bringt ihrerseits Differenzen hervor. Eine ihrer wichtigsten Leistungen besteht laut Elena Esposito in der spezifischen Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die eine Gegenwart jeweils für sich trifft. Diese Unterscheidung ist keineswegs gegeben, wie man aufgrund des eigenen Umgangs mit diesen Zeitdimensionen meinen könnte. Vielmehr ist der spezifischen Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl eine historische wie eine soziale Dimension eigen, das heißt sie wird im Verlauf der Zeit selbst generiert, regeneriert und transformiert, und dies geschieht durch jeweils unterschiedliche Gruppen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise.32 „Was sich in der Zeit bewegt, sind Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft zusammen, ist, mit anderen Worten, die Gegenwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft.“33 Die Frage ist also, wie in bestimmten soziokulturellen Kontexten die Zeit diskursiv produziert wird, wie Vergangenheit und Zukunft als Projektionen erzeugt werden.34 Denn die zeitlichen Orientierungen nach hinten und vorne sind notwendigerweise immer Konstruktionen einer Gegenwart, die sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen muss. Vor einem solchen Hintergrund wird deutlich: „Ausgangspunkt kann nur die Gegenwart sein, weil Vergangenheit und Zukunft und auch die vergangenen Gegenwarten und die künftigen Gegenwarten nur als Formen (Modi) der jeweils aktuellen Gegenwart existieren.“ Doch gerade hier hapert es, denn es „fehlt ein angemessener Begriff der Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft jeweils zusammen aktuell zusammentreffen […].“35 Aber es bestehen mehr als nur ein paar Verdachtsmomente, die darauf hindeuten, dass die europäische Frühe Neuzeit für die Konstitution und Aufwertung von Gegenwart eine entscheidende Rolle spielt. Diesem Umstand auch und gerade in historischer Perspektive auf den Grund zu gehen, dürfte sich vor allem deshalb lohnen, weil in diesem Zusammenhang die Paradoxie der Zeit sowohl theoretisch als auch empirisch greifbar wird. Die Zeit offenbart sich 31 32 33 34

NASSEHI, 2008, S. 145. ESPOSITO, 2006, S. 329. LUHMANN, 1975, S. 114 (Hervorhebungen im Orginal). Vgl. hierzu beispielsweise die Studien zu den Historitätsregimen von HARTOG, 2003. 35 ESPOSITO, 2006, S. 330. 21

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vor diesem Hintergrund nämlich als Form der Einheit von Aktualität und Inaktualität. Zeit stellt sich dar „als Identität einer Gegenwart, die es nicht gibt, außer als Unterscheidung einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, die es noch nicht gibt.“36 Mit einem solchen Zeitmodell zu operieren, ist in der historischen Perspektive eine beeindruckende Leitung, denn es produziert eine Form der Unsicherheit und der Kontingenz, die sich nicht mehr auflösen lässt, die sich nicht mehr in Gestalt einer vorherbestimmten Zukunft irgendwann und irgendwie in Sicherheit verwandelt. Gesellschaften, die mit einem solchen Zeitwissen umgehen, müssen also Entscheidungen treffen, müssen Zeitbindungen eingehen – und dies ist eine Form des Umgangs mit der Zeit, die keineswegs selbstverständlich ist.37 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich verdeutlichen, warum und auf welche Weise eine Zeit-Geschichte möglich und notwendig ist: Vergangenheiten und Zukünfte sind immer Unterscheidungen, die eine Gegenwart für sich trifft. Nur bleiben sich diese Unterscheidungen als Beobachtungen niemals gleich, sondern müssen immer wieder von Neuem vollzogen werden. Dadurch ergeben sich immer neue Zeitbindungen, immer neue Kombinationsmöglichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch immer neue Konstruktionsmöglichkeiten von Welt in temporaler Hinsicht. „Man könnte auch sagen: Die Zeiten ändern sich mit der Zeit. Bestimmte Begebenheiten in der Gegenwart können die Vergangenheiten und Zukünfte eines Systems total ändern.“38 Die Frage, die insbesondere eine Zeit-Geschichte umtreibt, muss dann lauten: Unter welchen Umständen ändert sich das Zeitwissen von Gesellschaften? Mit welchen Konsequenzen geschieht dies? Wer ist daran beteiligt, wer kann dieses Zeitwissen beeinflussen? Und wie können die unterschiedlichen Gleichzeitigkeiten und Zeithorizonte, die sich parallel zueinander ausbilden, koordiniert werden? Um sich dem komplexen Beziehungsgeflecht zu nähern, in das die Zeit eingebettet ist, muss die Zeit demnach selbst in eine zeitliche Perspektive gerückt werden – ist also eine Geschichte der Zeit vonnöten.39 Das bedeutet aber auch, dass die differenz- und systemtheoretische Argumentation historisch und machttheoretisch angereichert werden muss. Öffnet

36 37 38 39 22

EBD., S. 335. EBD., 2006, S. 336. NASSEHI, 2008, S. 196 (Hervorhebung im Original). WHITROW, 1999, S. 11.

Alte Zeiten, Neue Zeiten

der theoretische Blick die Augen für die Konstitution von Zeit als Form sozialer Sinngebung, lässt er zugleich nähere Erkenntnisse über die Instrumentalisierung von Zeit im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander ebenso vermissen wie über den Einsatz von Zeit im Rahmen politischen Handelns, ganz zu schweigen von der historischen Spezifizierung konkreter Umgangsweisen mit Zeit. Damit stünde nicht nur die Frage im Mittelpunkt, welche Vorstellungen von und Umgangsweisen mit Zeit zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vorherrschten und wie durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Zeit parallel zueinander existierten, sondern es gilt auch dem Problem auf den Grund zu gehen, welche Auswirkungen diese Formen des Zeitwissens hatten. Denn wenn es einem Zeitwissen erst einmal gelungen ist, sich diskursiv zu verfestigen, also bestimmte Formen des Wahren und des Wirklichen auszubilden,40 dann muss ihm historische Wirkmächtigkeit zugebilligt werden. Und an eben dieser Stelle wird es historisch interessant.

3. Frühe Neue Zei ten Kommen wir daher etwas spezifischer auf die Frühen Neuen Zeiten zu sprechen. Hier gilt es, in zwei Richtungen weiter zu fragen, nämlich welche Formen des Zeitwissens sich in der Frühen Neuzeit etabliert haben und welche allgemeineren Perspektiven sich für eine Zeit-Geschichte hieraus ergeben. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit festzuhalten, dass sich hier die Zeiten geändert haben, mag zunächst trivial anmuten. Schließlich sind Gesellschaften beständig damit beschäftigt, an ihren Zeitmodalisierungen zu arbeiten und diese zu verändern. Diese Umordnungen betreiben alle sozialen Formationen beständig in einem mehr oder weniger großen Maß. Es bestehen jedoch mehr als nur ein paar Verdachtsmomente, die darauf hindeuten, dass sich in diesem Zeitraum Entscheidendes hinsichtlich der Emergenz temporaler Modalisierungen getan hat, und zwar in einer Art und Weise, die bisher noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Die standardisierte Antwort auf die Frage, warum und auf welche Weise die Frühe Neuzeit für den Wandel von Zeitwissen von Bedeutung ist, lautet, dass sich im so genannten Zeitalter der Aufklärung – man möchte fast schon sagen: endlich – das Modell einer offenen Zukunft entwickelt habe und man

40 LANDWEHR, 2008. 23

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sich in Europa damit von traditionellen, vor allem religiös dominierten Zeitmodellen verabschiedet habe.41 Ich möchte dem eine andere Hypothese entgegensetzen, die dahin geht, dass wir es im Verlauf des 17. Jahrhunderts mit einer deutlichen Aufwertung der Gegenwart zu tun haben. Diese zunehmende Bedeutung der zeitlichen Dimension Gegenwart führt in der Konsequenz dazu, dass die Autorität der Vergangenheit sank, ja dass man sich in Form einer Historisierung von ihrer einstmaligen Übermächtigkeit sogar abnabeln konnte und gleichzeitig die Gestaltbarkeit von Zukunft denkbar wurde. Diese Transformation – und das wäre der zweite Teil meiner Hypothese – war aber keineswegs monolithisch, sondern ging einher mit einer deutlichen Auffächerung der Zeitwissen (im Plural).42 Auch in anderen Hinsichten ist die Frühe Neuzeit für die Etablierung spezifischer Zeitwissen als machtvoll wirkender Diskurse ein neuralgischer Zeitraum. Die ungemein wirkmächtigen Medien des Kalenders43 und der Uhr44 erlebten hier ihren Aufstieg und prägten die Zeitvorstellungen in erheblichem und bis heute nicht nachlassendem Maß; die Auseinandersetzung um die Gregorianische Kalenderreform45 wurde zu einem zentralen konfessionellen und politischen Streitpunkt; und nicht zuletzt spielte der Faktor Zeit im Rahmen der europäischen Expansion eine wichtige Rolle, wenn es beispielsweise um die Konstruktion einer entwicklungsmäßigen Vorrangigkeit, also um einen zeitlichen Vorsprung Europas vor dem Rest der Welt ging.46 Wenn also Zeit in einem sozial und kulturell funktionalen Sinn zu untersuchen ist, dann rückt die Frühe Neuzeit deswegen in das Zentrum des Interesses, weil hier unter anderem die Naturalisierung der Zeit, deren Zeugen und Fortführer wir heute noch sind, ihren entscheidenden Anstoß erfahren hat. Diese Naturalisierung der Zeit wurde maßgeblich durch wissenschaftliche und politische Bemühungen vorangetrieben. Zeit wurde objektiviert und standardisiert, ihr instrumenteller Charakter aber zugleich weitgehend unsichtbar gemacht. Doch verengen wir den Blick auf die Relevanz der Zeit in der Frühen Neuzeit nicht allzu voreilig, sondern öffnen wir die Untersuchungsmöglichkeiten in dreierlei Hinsicht. Erstens gilt es unter dem Stichwort der Pluritemporalität 41 42 43 44 45 46 24

KOSELLECK, 1989; HÖLSCHER, 1999. Hierzu befindet sich eine eigene Monographie in Vorbereitung. HAMETER u. a., 2005; MATTHÄUS, 1969; TERSCH, 2008; WENDORFF, 1993. DOHRN-VAN ROSSUM, 1992; LANDES, 1983. COYNE u. a., 1983. FABIAN, 1983; SCHÄFER, 1994; TODOROV, 1985, S. 177-201; LANDWEHR, 2012.

Alte Zeiten, Neue Zeiten

die Vielzahl der Zeiten zu bedenken, zweitens sollen die vielfältigen alltäglichen Umgangsweisen mit der Zeit angemessen in den Blick gerückt werden, bevor drittens die diskursive Ebene des Zeitwissens gewisse Syntheseleistungen deutlich werden lässt.

3.1 Pluritemporalität Bevor aus zeittheoretischer Warte die Modalisierung von Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft mitsamt ihren Transformationen allzu dominant in den Vordergrund rückt und bevor mit Blick auf Zeiterfassungssysteme die Naturalisierung von Zeit allzu hoch veranschlagt wird – unbenommen der Tatsache, dass beide Bereiche von fundamentaler Bedeutung sind –, gilt es noch eine andere Perspektive stark zu machen: Ich möchte für eine (historische) Behandlung von Zeit argumentieren, die Pluritemporalität nicht nur ernst nimmt, sondern die deren konkrete Ausformungen und jeweiligen Auswirkungen auch angemessen zur Geltung bringt. Was soll das bedeuten: Pluritemporalität? Nun, es ist die sicherlich nicht allzu gewagte These, dass soziale Gruppen, Objekte, Ereignisse etc. zumindest potentiell dazu in der Lage sind, eigene Zeitformen auszubilden, die von anderen teils erheblich differieren können. Pluritemporalität bezeichnet den methodischen Zweifel an der irreführenden Idee, wir hätten es nur mit einer einzigen Form der Zeit zu tun, die mit der Zeit der Uhren und Kalender zur Deckung zu bringen wäre. Gesellschaften leben nicht im Kokon eines monolithischen Zeitregimes, kennen also nicht nur eine singuläre Form der Gleichzeitigkeit, sondern pflegen zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen, existieren also in einer Welt der Gleichzeitigkeiten.47 Zu der Einsicht, dass wir es in einer jeweiligen Gegenwart mit einer sehr großen Anzahl unterschiedlicher Formen des Zeitwissens zu tun haben, kann man bereits gelangen, wenn man – gänzlich unbeleckt von zeittheoretischen Debatten – die Augen offen hält für das gesellschaftliche Mit- und Gegeneinander, das um einen herum vor sich geht. Dann wird man in der Tat feststellen, dass nicht alle in derselben Zeit leben. Man könnte daraus die Schlussfolgerung ziehen, die eigene Zeit als die einzig vernünftige und maßgebliche zu apostrophieren; man könnte sich von dieser Beobachtung aber auch auf heilsame Art und Weise verunsichern lassen und die Frage stellen, wo denn diese vielen unterschiedlichen Zeiten herkommen, wie es gesellschaftlichen Grup-

47 ADAM, 2005, S. 131; BROSE, 2004; NASSEHI, 2008, S. 184. 25

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pen dennoch gelingt, sich temporal zu koordinieren, und ob es tatsächlich eine Zeit gibt, die von sich behaupten kann, die eine Zeit zu sein. Dieses Phänomen der Gleichzeitigkeiten, also der Vielzahl der Zeiten in einer Gegenwart, soll hier unter dem Stichwort der Pluritemporalität gefasst werden. Allerdings ist es kein Schaden, diese Position geschichtstheoretisch noch weiter auszuloten. Denn wenn wir es in unterschiedlichen menschlichen und nicht-menschlichen Systemen mit der Pluralität und Parallelität von Zeiten zu tun haben,48 dann hat dies auch Auswirkungen auf geschichtswissenschaftliche Erklärungsmodi. Nimmt man diese Voraussetzung ernst, dann wird es unter dieser Prämisse immer weniger möglich, historische Vorgänge auf unilineare Prozesse zurückführen oder in epochale Zwangsjacken stecken zu wollen. Unter der Perspektive pluraler Gleichzeitigkeiten findet man zu ein und derselben Zeit historische Bestandteile, die sich in reversiblen, systemerhaltenden Zeitschleifen befinden, neben solchen, die einen irreversiblen Zeitsprung vollziehen.49 Der Ansatz der Pluritemporalität ist also in der Lage, das Spannungsverhältnis von Stabilität und Transformation in einer spezifischen historischen Situation in den Blick zu nehmen, ohne diese Parallelität vorschnell wegzuerklären oder doch wieder auf einen einfachen Nenner zu bringen, sondern sie im Gegenteil in den Vordergrund zu rücken. Die geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit müsste demnach der Frage gelten, welches Zeitwissen sich in einer bestimmten Gegenwart eher durch Stabilität, welches sich eher durch Variabilität auszeichnet. Weiterhin wäre nicht nur zu fragen, welche Zeiten parallel zueinander Bestand haben, sondern vor allem in welchen Wechselverhältnissen sie stehen, ob sie völlig unabhängig voneinander existieren können, sich gegenseitig affizieren oder in Konkurrenz zueinander agieren, ob sich ein hierarchisches Verhältnis ausmachen lässt und wieweit es den historischen Akteuren möglich ist, zwischen verschiedenen Formen des Zeitwissens zu wechseln. An dieser Stelle sei nur nebenbei angemerkt, dass der Ansatz der Pluritemporalität kein neuer Aufguss eines geschichtswissenschaftlich kalten Kaffees ist. Denn im Gegensatz zu sozialwissenschaftlichen oder anthropologischen Untersuchungen50 werden solche Überlegungen im Rahmen der Geschichtswissenschaften nicht nur kaum verfolgt, sondern sind auch durch Ansätze wie Braudels berühmte Differenzierung unterschiedlicher Formen histo48 Dies betont auch BOURDIEU, 2001, S. 287-292. 49 CRAMER, 1993, S. 121f. 50 Vgl. exemplarisch SCHMIED, 1985, S. 22; FRIESE, 1993. 26

Alte Zeiten, Neue Zeiten

rischer Dauer nicht abgedeckt. Braudels Konzept hat gerade nicht die Pluralität von Zeiten im Blick, wie seine Ausführungen ausreichend klar machen. Es beginnt schon auf der Wortebene, denn Braudel spricht nicht von historischen Zeiten (temps), sondern von unterschiedlichen Formen der Dauer (durées) – man könnte hier möglicherweise treffender von Tempi reden. Es geht Braudel explizit nicht um unterschiedliche Formen soziokultureller Verzeitung, sondern um unterschiedliche Geschwindigkeiten im Rahmen des einen, prozesshaft organisierten Zeitstrahls. Er betreibt nahezu eine Ontologisierung der Zeit, wenn er schreibt: „Für den Historiker dagegen beginnt und endet alles mit der Zeit, einer mathematischen, demiurgischen Zeit, über die man leicht lächeln kann, einer den Menschen äußerlichen, ‚exogenen‘ Zeit, wie die Ökonomen sagen würden, die uns antreibt, zwingt und unsere privaten, unterschiedlich gearteten Zeiten in ihrem Strom mit fortreißt – mit einem Wort: der die ganze Welt beherrschenden Zeit.“51

Und auch der Topos von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der innerhalb der Geschichtswissenschaft zwar nicht von Reinhart Koselleck erfunden, von ihm aber prominent gemacht wurde,52 läuft – wenn auch häufig anders intendiert – dem Ansatz der Pluritemporalität geradezu entgegen. Denn Ungleichzeitiges zu identifizieren, kann nur gelingen, wenn zuvor schon normativ eindeutig festgelegt ist, was denn die eine Gleichzeitigkeit sein soll, von der das Ungleichzeitige als Abweichung identifiziert und im schlimmsten Fall sogar denunziert werden kann. Seinen zutiefst modernisierungstheoretischen, nicht selten auch ideologisch eingesetzten Untergrund kann der Topos von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen daher nicht verbergen.53 Auf jeden Fall wird die Vielzahl der Zeiten dadurch nicht thematisiert, sondern viel eher verschleiert. Pluritemporalität in den Mittelpunkt zu rücken, hat auch deswegen einen gewissen Reiz, weil sie insbesondere in der historischen Darstellung neue Formen der Komplexität zum Vorschein bringt. Denn im Rahmen einer ZeitGeschichte muss man feststellen, dass neue Zeitvorstellungen alte nicht einfach ersetzen, sondern viel häufiger zu diesen hinzutreten, sie möglicherweise 51 BRAUDEL, 1992, S. 80f. Vgl. hierzu auch MAILLARD, 2011. 52 KOSELLECK, 1989, S. 132. 53 Vgl. hierzu LANDWEHR, (im Erscheinen). 27

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auch beiseite drängen, aber kaum einmal endgültig zum Verschwinden bringen. Die Geschichte der Zeiten hat also eher kumulativen Charakter. Wenn alte Zeitmodelle verschwinden, dann nicht weil sie durch jüngere, bessere ersetzt worden wären, sondern weil sie ihre soziale Funktion verloren haben. Häufig werden sie aber neben anderen Formen des Umgangs mit Zeit weiterbestehen oder sich auch mit jüngeren Zeitmodellen vermischen.54 Man könnte daher den Titel dieses Sammelbandes abwandeln und feststellen, dass sich im gleichen Zeitraum die Frühen Neuen Zeiten mit den Späten Alten Zeiten überkreuzen, um ein Konglomerat unterschiedlicher Temporalisierungen zu bilden. Bei RALF-PETER FUCHS wird dieser Zusammenhang deutlich, wenn er hervorhebt, wie man bei politischen Entscheidungsträgern während des Dreißigjährigen Krieges Formen des Zeitwissens vereinigt findet, die in der historischen Rückschau zunächst paradox anmuten müssen: Wie kann man die Endzeit als Naherwartung praktizieren und gleichzeitig Vorsorge für die Zukunft treffen? Es sind gerade solche Gleichzeitigkeiten, die sich einer vorschnellen Erklärung entziehen und nach komplexeren Antworten und historischen Darstellungsformen verlangen. Mit Blick auf den Umgang der Protestanten mit dem Restitutionsedikt von 1629 geht Fuchs der Frage nach, wie sich solche paradoxalen Zeitlichkeiten ausgestalteten, wie man also einerseits einem eher religiös bestimmten Zeitmodell unter den Vorzeichen der Heilsgeschichte, andererseits einem eher politisch grundierten Zeitmodell der konkreten Zukunftsgestaltung gerecht zu werden versuchte. Dass hierbei der Dreißigjährige Krieg als historischer Zusammenhang in den Mittelpunkt rückt, ist insofern kein Zufall, als Pluritemporalität in Konfliktfällen besonders gut sichtbar wird. Beleg hierfür ist ebenfalls der Beitrag von JAN KUSBER, der sich mit dem Russischen Reich unter Zar Peter I. einem besonders eklatanten Fall des Aufeinanderprallens unterschiedlichen Zeitwissens widmet. Sich überlagernde und konfligierende Zeiten werden dabei auf mindestens zwei Ebenen sichtbar, wenn nämlich einerseits die petrinischen Reformen zeitgenössisch schon als Zeitenbruch konzipiert werden und andererseits diese Friktion zugleich mit neuen Zeitmodellen und kalendarischen Systemen einhergeht, die – natürlich, möchte man sagen – nicht sofort übernommen werden, sondern mit den etablierten Zeiten in Konkurrenz stehen. Das Verhältnis der Zeiten in Russland um 1700 lässt sich jedoch nicht auf das Stichwort Konflikt reduzieren. Abgesehen davon, dass Beschleunigung und Geschwindigkeit, die man ansonsten erst mit der Industrialisierung assoziiert, 54 SCHMIED, 1985, S. 120. 28

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hier schon thematisiert wurden, zeigen die neuen temporalen Verhältnisse auch, dass sich jenseits binärer Vorstellungen auch neue Zeitmodelle entwickeln konnten – um dadurch die Pluritemporalität noch zu verstärken. Nicht der Konflikt, sondern die grundlegende Andersartigkeit ist im Beitrag von TOBIAS WINNERLING Grundlage von Pluritemporalität. In der Begegnung und im Transfer von Zeitwissen zwischen Europa und dem chinesischen Ostasien wird dabei gewissermaßen noch einmal eine Ebene tiefer geschürft, wenn man nämlich nicht nur – eher wenig überraschend – feststellen kann, dass sich die Formen der Verzeitlichung zwischen den beiden Kulturräumen fundamental unterschieden, sondern wenn – wesentlich grundlegender – diese Differenzen aus kulturellen Basiskategorien heraus erwachsen. Damit wird deutlich, dass eine Zeit-Geschichte deutlich über die Ebene der Beobachtung von Zeiterfassungssystemen oder Zeitmodellen hinausreicht und den Zugang zu den kulturellen Konstituenten historischer Wirklichkeiten ermöglicht und erfordert. Das konkrete forschungs- und vor allem darstellungspraktische Problem bei der Behandlung von Pluritemporalität besteht darin, sie tatsächlich in den Griff zu bekommen. Wie kann man vermeiden, die üblichen unlinearen Geschichten der Zeit zu schreiben? Eine Möglichkeit, um Pluritemporalität in den Mittelpunkt zu rücken und damit überhaupt zum Gegenstand zu machen, kann durch die Konzentration auf Zeitpraktiken gelingen.

3.2 Zeitpraktiken Wenn die Zeit nicht etwas Gegebenes, sondern etwas Gemachtes ist, wird die Aufmerksamkeit nahezu von selbst auf die alltäglichen Zeitpraktiken gelenkt. Trivial ist dieser Zugang nicht, denn die Idee von der Zeit als einer vorgegebenen und dem Menschen äußerlichen Realität war in und für die Moderne sehr wirkmächtig und hat ihre Auswirkungen bis heute. Die astronomische Zeit wurde mit Anbruch des naturwissenschaftlichen Paradigmas in mathematischen und physikalischen Begriffen definiert. Dadurch wurde die Zeit ihres historischen und soziokulturellen Charakters entkleidet und zu einer Naturtatsache stilisiert. Dieses Denken ging (und geht) grundsätzlich davon aus, dass die Zeit der Praxis vorgängig ist, dass sich die Praxis in die Rahmung der Zeit einzufügen hat. Doch schon seit Längerem ist sichtbar, wie wichtig der Standpunkt handelnder Akteure auch und gerade im Umgang mit der Zeit ist. Zeit ist

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ein soziokulturelles Produkt. Die soziale und kulturelle Praxis ist also nicht in der Zeit, sondern macht die Zeit.55 „‚Zeit‘ gibt es nicht einfach, Zeit ist kein Faktum, das immer schon in der Wirklichkeit vorliegt und als solches nur vom Menschen aufgedeckt werden muß. Zeit ist eine Ordnungs- und Sinnkategorie, eine von Menschen entworfene Dimension, über die sie ihre natürliche und soziale Umwelt zu erfassen und zu ordnen suchen.“56

Diesen Kosmos an Zeitpraktiken an dieser Stelle erfassen zu wollen, verbietet sich von selbst. Mit einigen Stichworten sollen seine Umrisse jedoch zumindest angedeutet werden, um die Potentiale näherungsweise vor Augen zu führen, die dieses Themenfeld (auch) für die geschichtswissenschaftliche Forschung besitzt. Man kann einsetzen mit den unterschiedlichen Formen der Zeitwahrnehmungen und Zeiterfahrungen, wenn Zeit als flüchtig, entleert, knapp oder kostbar eingeordnet wird,57 wenn Empfindungen von Zeitdruck, Zeitlosigkeit sowie besseren, schlechteren oder unbeständigen Zeiten gemacht werden. Die Thematisierung unterschiedlicher Zeitrhythmen schließt sich unmittelbar daran an: Beschleunigung,58 Verlangsamung oder Stillstand wären hier exemplarisch zu nennen. Auch die historisch variierende Konzeptualisierung von Lebenszeiten gerät hier ins Blickfeld, wie zum Beispiel die diversen Altersstufen zwischen Kindheit und Alter,59 Aspekte von Geburt60 und Tod,61 Werden und Vergehen oder Diesseits und Jenseits.62 Bewegungen, die man im Zusammenhang mit der Zeit wahrnimmt, also Fortschritte63 und Niedergänge,64 lineare oder zyklische Verläufe, sind hier ebenso wenig zu vergessen wie das Verständnis der bereits genannten Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder auch Ewigkeit. Dies kann selbstverständlich 55 BOURDIEU, 2001, S. 265, S. 287. 56 HÖRNING, 2001, S. 117. 57 Die Untersuchung des Wartens hat sich schon des Öfteren als eine Möglichkeit erwiesen, um diesen Praktiken näher zu kommen: SCHWARTZ, 1979; SCHWEIZER, 2008. Vgl. aber auch die Studie zur Langeweile von KESSEL, 2001. 58 ROSA, 2005. 59 GREYERZ, 2010. 60 LABOUVIE, 1998. 61 ARIÈS, 1980. 62 HÖLSCHER, 2007. 63 LOEWENSTEIN, 2009. 64 KOSELLECK/WIDMER, 1980. 30

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keine abschließende Auflistung, muss vielmehr eine Andeutung und Anregung zur Fortsetzung sein. In diesem Sinn können auch die Beiträge dieses Bandes, die Zeitpraktiken zum Gegenstand haben, als Anregungen verstanden werden. Auf welche Weise dem Sterben eine zeitpraktische Seite zukommt, führt CLAUDIA RESCH in ihrem Aufsatz mit Blick auf das 16. Jahrhundert vor Augen. Diese Zeitlichkeit besitzt dabei eine (wenn auch etwas morbid anmutende) reizvolle Mehrdeutigkeit. Denn es ging bei der Vorbereitung auf die Zeit des Todes um die Überwindung der diesseitigen Zeitlichkeit und um die Erreichung der zeitenthobenen Ewigkeit. Anhand von Ars moriendi-Schriften wird deutlich, wie die Erfahrungen der eigenen Lebens- und Sterbezeit in einen größeren heilsgeschichtlichen Kontext eingeordnet wurden. Es kommt eine recht große Variationsbreite zwischen dem Wunsch nach einem zeitlichen Aufschub und dem Warten auf den herbeigesehnten Tod zutage. Nicht zu übersehen sind aber auch die medientypischen Aspekte, welche die Zeitpraxis beeinflussten. So sind die Sterbebüchlein deswegen in ihrem Umfang häufig sehr begrenzt, weil meistenteils am Sterbebett nicht mehr viel Zeit blieb. Recht nah kommt man den frühneuzeitlichen Zeitpraktiken anhand von Selbstzeugnissen, wie sie STEFAN HANß untersucht. Anhand von Texten aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Jakob Röder, Augustin Güntzer, Martin Luther, Paul Behaim und Hans Heberle zeigt sich nicht nur, wie diese Verfasser jeweils zu Buchhaltern ihres eigenen Lebens wurden, sondern wie sie dieses Leben und ihre autobiographische Vergangenheit textlich präsentierten und mit bestimmten Formen des Zeitwissens in Verbindung setzten. Im Mittelpunkt von Hanß‘ Beitrag steht dabei die Verortung der eigenen Geburt und ihrer Einordnung in den weiteren Lebenslauf. REBEKKA VON MALLINCKRODT widmet sich an der Schnittstelle von Körpermodellen und Beschleunigungsdiskursen dem Gehen und Laufen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als einer Form der temporalen Erfahrung. Auffallend ist hierbei einerseits die sozial divergierende und damit einmal mehr pluritemporale Einschätzung des Wettlaufs, der weitgehend mit den unteren Schichten der Gesellschaft in Verbindung gebracht wurde. Andererseits ist ebenso zu bemerken, dass sich mit diesen sozialen Zuordnungen auch unterschiedliche Zeitpraktiken und -erfahrungen verbanden, da Bürgerliche und Adlige sich um 1800 (noch) nicht dem Gehetze und dem schweißtreibenden Rennen aussetzen wollten.

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Um hier aber nicht den unangebrachten Eindruck zu erwecken, das Machen von Zeit sei vornehmlich ein Domäne derjenigen gewesen, die Geschichte eher erduldet als selbst gestaltet haben, während die politischen Entscheidungsträger, die ökonomisch Potenten und die geistig Tätigen sich souverän auf der Höhe der Zeit befunden hätten, erinnert uns JOSEPH S. FREEDMAN mit seinen Ausführungen zu Zeitkonzepten in der Universitätsphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts daran, dass und wie auch in diesen Lebensbereichen sehr unterschiedliche Zeitpraktiken aufeinander stoßen konnten: Dauer und Zeitlichkeit, extrinsische und intrinsische Zeit oder absolute und beschränkte Ewigkeit waren Modelle, die hier unter anderem zur Debatte standen. Es handelt sich zwar zunächst um theoretische Konzeptualisierungen, aber immer um solche, die sich mit institutionellen, politischen, konfessionellen oder auch sehr persönlichen Interessen verbanden. Insofern sind die in diesem Beitrag unternommenen Systematisierungen Grundlagenarbeit zum Verständnis von Zeit in der Frühen Neuzeit.

3.3 Zeitwissen Solche Zeitpraktiken stehen in einem engen Wechselverhältnis mit diskursiv konstituierten Formen des Zeitwissens, soll heißen mit der regulierten, zu einem gewissen Grad institutionalisierten und medial verfügbaren Organisation soziokultureller (Selbst-)Verständnisse der Zeit. Das Stichwort des Zeitwissens soll dabei deutlich machen, dass sich der geschichtswissenschaftliche Blick auf die Zusammenhänge konzentrieren muss, in denen Zeit dingfest gemacht werden kann. An die Stelle der definitorischen und abstrakten Frage nach der Zeit (an und für sich) tritt also die historische Frage nach den Ausformungen von Zeit als einer soziokulturellen Praxis und in ihrer diskursiven Verdichtung. Faszinierend und fremdartig zugleich sind die Zeitwissen der Frühen Neuzeit (von denen man sinnigerweise immer nur im Plural sprechen kann) nicht zuletzt wegen ihrer eschatologischen Ausrichtung. Ein Beispiel für Erwartung der Endzeit zeigt UTE FRIETSCH in ihrer Untersuchung paracelsischer Schriften zur Alchemie. Die Unterdrückung der Lehren des Paracelsus wurde für seine Anhänger nicht zuletzt dadurch erträglich, ja sogar in einem positiven Sinn signifikant, dass sie von einem tausendjährigen Reich ausgingen, dessen Ankunft nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte und in dem der wahren Lehre endlich zu ihrem Recht verholfen würde. Am Beispiel der Paracelsisten wird aber auch deutlich, wie sich im Zusammenhang der Modellierung von 32

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Zeitwissen bestimmte Probleme temporal verschieben (wenn auch nicht auflösen) lassen: Während sie einerseits verkündeten, dass jedes medizinische Wissen veralte, schienen die Anhänger des Paracelsus diese Annahme auf ihren eigenen Ansatz gerade nicht anzuwenden – ihrer Wahrheit schien die Ewigkeit beschieden. Welche fundamentale Rolle den Medien bei der Konstitution von Zeitwissen zukommt, macht VOLKER BAUER in seinem Beitrag über frühneuzeitliche Universalgenealogien deutlich. Dieses Medium diente zunächst der Informationsbeschaffung über die familiären und abstammungsmäßigen Verhältnisse wichtiger Fürstenhäuser und Adelsfamilien, ihm lagen darüber hinaus aber auch bestimmte temporale Strukturen zugrunde. Unterschiedliche Konstruktionsprinzipien, wie Stammliste, Stammtafel, Stammbaum und Ahnentafel, waren immer bestimmt von etablierten Bildtraditionen und Lektüregewohnheiten, ebenso von Kriterien der effizienten Datenorganisation, offenbaren aber auch immer Einblicke in spezifische Zeitmodelle. Für den frühneuzeitlichen Kontext ist insbesondere der Zug zur Aktualisierung von Interesse, den Volker Bauer feststellt: Die Universalgenealogien entsorgten historischen Datenballast nicht nur aus praktischen Erwägungen, sondern weil der Dimension der Gegenwart ein größerer Stellenwert zugeschrieben wurde. Aber auch im Falle dieser Genealogien hält Bauer fest, dass es sich – durchaus im Sinne der Pluritemporalität – nicht um die jeweilige Dominanz eines einzigen Zeitmodells gehandelt habe, sondern dass eine Vielzahl zeitlicher Ordnungsmuster zur Anwendung kommen konnte: prospektive und retrospektive, diachrone und synchrone, vergangenheits- oder gegenwartszentrierte. WOLFGANG BREUL macht sehr ähnliche Veränderungen im Pietismus um 1700 fest. Anhand von Texten von Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke zeigt sich einerseits, dass die Hoffnung auf eine bessere Zeit auf Erden verlagert und die christliche Endzeit zunehmend an das Diesseits gebunden wurde, weshalb andererseits der Gegenwart als Erfahrungs- und Erwartungsraum ein neues Gewicht zukam. Mit einem solchen Blick auf die Gegenwart konnte man Vergangenheit abstoßen und Zukunft gewinnen. Während Verschiebungen in der Trias von Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft sich jedoch eher subkutan abspielen und selten an die Oberfläche historischer Artikulationen treten, sieht es mit anderen Formen geschichtlichen Zeitwissens, vor allem den immer wieder zur Debatte stehenden Epochen, deutlich anders aus. CORNEL ZWIERLEIN unternimmt eine umfassende Einordnung historiographischer Epochenkonzepte mit Blick auf die Subepoche der Frühen

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Neuzeit zum einen sowie unter Berücksichtigung eines globalhistorischen Modells multipler Modernen zum anderen. Aufgrund inhärenter Ambivalenzen attestiert er dabei dem Epochenkonzept der Frühen Neuzeit die Möglichkeit, in diesem Diskussionszusammenhang als Gelenkstelle zu wirken. Wie sich um historische Epochenmodelle herum Diskurse des Zeitwissens kristallisieren, wird unter anderem anhand der Beiträge von MARKUS MEUMANN und THOMAS JUNG deutlich, die hier nicht weniger vorlegen als eine kleine Begriffs- und Kulturgeschichte des Zeitgeistes. Meumann will mit Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert explizit keine Vorgeschichte des Zeitgeistbegriffs präsentieren, sondern den Verwendungsweisen einer Vorstellung vom unverwechselbaren Charakter historischer Zeitabschnitte (genius saeculi) in unterschiedlichen Kontexten auf den Grund gehen. Dabei erweist sich – durchaus in Parallele zu der genannten Aufwertung von Gegenwärtigkeit – der Zeitraum um 1700 als bedeutsam. Jung macht im Anschluss nicht nur darauf aufmerksam, dass die Perspektive der Pluritemporalität nicht den Blick für die Transformation von Zeitwissen in der Neuzeit verstellen dürfe, sondern geht vor allem mit einer europäischen Perspektive der Etablierung des Zeitgeistbegriffs im 18. Jahrhundert nach. Aber auch dabei zeigt sich unter anderem, wie mit jedem Versuch zur Normierung und Vereinheitlichung von Zeit nahezu zwangsläufig deren Vielfalt wieder zum Vorschein kommt, wenn es nämlich die Rede vom Geist der Zeit ermöglicht, diejenigen zu identifizieren, die angeblich ungleichzeitig und ihrer Zeit hinterher sind. Vom Zeitgeist ist der Weg nicht weit zur Sattelzeit, die in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, dank des großen Einflusses von Reinhart Koselleck, zu einem zentralen historischen Interpretament erwachsen ist. Auch hierbei lassen sich mindestens zwei Fragen stellen. Erstens geht es darum, die Sicht der Zeitgenossen einzufangen, was SEBASTIAN HANSEN mit seinem Blick auf den Josephinismus unternimmt. In Schriften von Joseph II. selbst beziehungsweise aus seinem Regierungskreis lassen sich eindeutige Tendenzen der Verzeitlichung und der Dynamik ablesen, die den Gegenwartsbezug und die Möglichkeiten zur Zukunftsgestaltung nur allzu offenbar machen. Die temporale Reibung ist hierbei allerdings schon eingebaut, nicht nur weil dem Josephinismus eine recht kurze Lebenszeit beschieden war, sondern auch weil – ähnlich wie im Fall Peters I. von Russland – die Zeit des Herrschers ganz offensichtlich nicht die Zeit der Kirche oder der Untertanen war. Zweitens stellt sich die wissenschaftshistorische Frage nach dem Sattelzeit-Modell selbst, die STEFAN JORDAN in seinem Beitrag aufwirft. Er unternimmt dabei nicht nur ei-

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Alte Zeiten, Neue Zeiten

nen Rekonstruktions-, sondern vor allem einen Reformulierungsversuch, indem er deutlich macht, dass es sich bei der Sattelzeit weniger um die Markierung eines epochalen Einschnitts als vielmehr um ein strukturelles Paradigma handelt, das in gewisser Weise sogar als zeitenthoben gedacht werden muss.

4. Zeit zu danken Dieser Sammelband ist ein erstes Ergebnis eines einjährigen Fellowships, das ich 2009/2010 am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften des Gutenberg-Forschungskollegs in Mainz wahrnehmen durfte. Zum Abschluss dieses Forschungsaufenthaltes war es mir möglich, im September 2010 eine Tagung zu veranstalten, deren Ergebnisse hiermit vorliegen. Dank gebührt daher an erster Stelle der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, dem Gutenberg-Forschungskolleg und seinem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften sowie namentlich und vor allem Jörg Rogge, ohne dessen unermüdliches Engagement vieles nicht möglich gewesen wäre. Danken möchte ich ebenfalls den Herausgebern der Buchreihe, die diesen Band in ihren erlauchten Zirkel aufgenommen haben. Zu danken habe ich ebenso allen Teilnehmenden an der Tagung und allen Beitragenden zu diesem Sammelband. Matthias Mader hat in Mainz als Organisator im Hintergrund in bewundernswerter Weise für einen reibungslosen Ablauf gesorgt. In Düsseldorf haben sich Christian Knoche und vor allem Nancy Erasmus der anspruchsvollen Aufgabe der Textredaktion gewidmet – herzlichen Dank dafür!

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Baum und Zeit Datenorganisation, Zeitstrukturen und Darstellungsmodi in frühneuzeitlichen Universalgenealogien VOLKER BAUER Die dynastische Herrschaftsverfassung der Vormoderne verlieh der Genealogie der hochadeligen Häuser eine eminente politische Bedeutung, und diese Relevanz führte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu einer gewaltigen Produktion einschlägiger Druckwerke. Die konstitutive Einheit auf diesem Wissensfeld bildet nicht das einzelne Individuum, sondern die Verknüpfung mindestens zweier Personen in der Zeit, und dies sowohl in der Diachronie (Eltern–Kind) als auch in der Synchronie (Ehepartner, Geschwister). Daher ist das Verfahren, nach dem die genealogischen Daten organisiert und die Verwandten miteinander kombiniert werden, von der Vorentscheidung für eine bestimmte temporale Ordnung abhängig. Die sich daraus ergebenden Konstruktionen von Verwandtschaft und Abstammung müssen darüber hinaus medial abbildbar sein, was unter den frühneuzeitlichen Bedingungen hieß, dass sie via Schrift, Bild oder Graphik vor allem auf dem Papier wiedergegeben werden konnten. Einen besonders geeigneten Gegenstand, um diesen Zusammenhang von Datenorganisation, Zeitstrukturen und Darstellungsmodi zu untersuchen, bilden die gedruckten Universalgenealogien. Hauptmerkmal dieser Gattung, die im deutschsprachigen Raum im Zeitraum zwischen 1560 und 1720 etwa 80 Titel hervorbrachte, ist die Tatsache, dass die zugehörigen Werke nicht jeweils 41

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ein einzelnes Fürstenhaus abhandeln, sondern die Gesamtheit der (bedeutenderen) europäischen Dynastien verzeichnen.1 Damit mussten die einschlägigen Publikationen eine gewaltige Materialfülle bewältigen, und daher stellten sich bei diesem Subgenre die Fragen der Gliederung, Ordnung, Erschließung und Veranschaulichung genealogischen Wissens in besonderer Schärfe. Deshalb wird der Fokus im folgenden auf universalgenealogischen Kompendien liegen, die jedoch durch Beispiele aus partikulargenealogischen, also exklusiv einer Dynastie gewidmeten Druckschriften ergänzt werden. Der Untersuchungsgang ist im Wesentlichen in drei Teile gegliedert. Zunächst (1.) werden die verschiedenen innerhalb der universalgenealogischen Literatur vorkommenden Darstellungsformen und Zeitordnungen aufgefächert. Danach (2.) wird zu zeigen sein, mit welchen textuellen, diagrammatischen oder bildgestützen Mitteln die universalgenealogischen Werke ihre jeweils gewählte zeitliche Ordnung in den Druck umsetzten. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Kontext das Baummodell, das in unterschiedlichem Abstraktionsgrad zeitliche Abläufe in zweidimensionale Distanzen auf dem Papier überführte. Anschließend (3.) wird der Prozess der zunehmenden Aktualisierung und Beschleunigung in diesem Segment des Buchmarkts thematisiert, bevor in einem Schlussteil (4.) die Ergebnisse gebündelt werden.

1. Modelle genealogischer Da tenorganisation und Zei tor dnunge n Die Universalgenealogien systematisieren das genealogische Wissen über den europäischen Hochadel in uneinheitlicher Weise und verwenden dabei unterschiedliche zeitliche Ordnungsmuster. Dies gilt nicht nur auf der Gattungsebene, sondern auch für einzelne Titel, in denen häufig mehrere Formen der Datenorganisation und verschiedene Darstellungsmodi nebeneinander verwendet werden. Grundlegend ist die Differenz zwischen einer dem Zeitpfeil folgenden, prospektiven Darstellung vom Ahnen zu den (ausschließlich agnatischen) Nachkommen (als Stammliste, Stammbaum und Stammtafel) auf der einen Seite und einem retrospektiven Vorgehen vom Nachfahren zu den Ahnen (daher Ahnentafel) auf der anderen Seite.2

1 2 42

Vgl. als ersten Überblick zur Gattungsgeschichte BAUER, 2008. Zu den unterschiedlichen Darstellungsformen vgl. auch DERS., 2011b, S. 127-136.

Baum und Zeit

Die Stammliste beruht auf der elementarsten, daher sehr naheliegenden und wohl auch ältesten Technik, indem dort die agnatische Deszendenz eines Hauses nacheinander auf dem Papier verzeichnet wird. Somit koordiniert diese Darstellungsform die ‚abendländische’ Leserichtung und damit die Lesezeit mit der Generationssequenz. Die auf diese Weise vorgehenden Publikationen weisen also eine inhärente Narrativität auf und können von der reinen Aufzählung bis zur ausführlichen historischen Erzählung reichen. Aufgrund seiner konzeptionellen Simplizität und typographischen Anspruchslosigkeit wurde dieses Verfahren schon in den frühen gedruckten Partikulargenealogien eingesetzt, so in Sebastian Hamaxurgus’ 1539 erschienener EPITOME STIRPIS SIVE GENEALOGIAE MARCHIONUM BRANdenburgensium (Abb. 1).3 Erkauft wird diese Schlichtheit freilich durch das Unvermögen, synchrone genealogische Verhältnisse, also etwa mehrere Nebenlinien eines Hauses, simultan überschaubar zu machen. Genau in diesem Punkt liegt die Stärke der Stammtafel, die die Abfolge der Agnaten ausgehend von einem Ahn diagrammatisch durch Spreizung darstellt und mit geschweiften Klammern und Linien arbeitet. Diese Linien verbinden nicht nur die Generationen miteinander, sondern visualisieren somit auch den Zeitstrahl selbst, der hier ebenfalls mit der Leserichtung übereinstimmt. Denn die Stammtafeln beginnen entweder am oberen Seitenrand und verlaufen dann vertikal, oder sie starten am linken Seitenrand und ziehen sich horizontal über das Blatt. Dieser Darstellungsmodus bietet eine Fülle möglicher Schnittstellen und erlaubt so eine komplexe Datenorganisation, die auch parallele Abläufe umfassen kann. Die praktische Umsetzung dieses Potentials erfordert freilich typographisches Geschick und die Reduktion auf die genealogischen Grundinformationen. Ex negativo verdeutlicht dies das universale, mehrbändige THEATRVM GENEALOGICVM von 1598, wo die zugrundeliegenden vertikalen Stammtafeldiagramme mit so vielen historischen Zusätzen angereichert wurden, dass ihr konkreter diachroner Ablauf nur mehr zu erahnen ist (Abb. 2).4 Sehr viel klarer ist dagegen die Darstellungsweise der renommierten, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausgegebenen Tübinger Tabellen, die sämtlich von links nach rechts zu lesen sind. Die Ausgabe von 1656 enthält unter anderem eine Doppelseite mit der Auffächerung der Nachkommenschaft des Hauses Württemberg vom frühen 15. bis zum mittleren 17. Jahrhundert (Abb. 3) und kombiniert darauf die diachrone Entwicklung des Geschlechts 3 4

HAMAXURGUS, 1539. HENNINGES, 1598. 43

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mit mehreren synchronen Querschnitten, die sozusagen in Spaltenform vorliegen.5 Darin manifestiert sich die außerordentliche Leistungsfähigkeit der Stammtafel, wodurch dieser Typ des Baumdiagramms zum wohl häufigsten Darstellungsmodus innerhalb der genealogischen Literatur des 17. Jahrhunderts avancierte.6 Allerdings hatte er auch bereits Heinrich Zells GENEALOGIA und damit den frühesten universalgenealogischen Titel aus dem Jahre 1563 geprägt.7 Dagegen kommt der Stammbaum (der nach der hier zugrundegelegten Definition auf der naturmimetischen Darstellung eines Baumes basiert) innerhalb der gedruckten Genealogien wohl aus Kostengründen seltener vor. Das gilt weniger für das partikulargenealogische Schrifttum, das einzelne Werke mit mehreren Stammbäumen umfasst,8 als für das universalgenealogische Segment. Unter den Generalgenealogien verwendet nur ein einziges das naturgetreue Abbild eines Baumes als Datenträger, nämlich Antonio Albizzis im Jahre 1608 erstmals erschienene PRINCIPVM CHRISTIANORVM STEMMATA. Die Stammbäume gehören dort ebenso wie in den betreffenden partikulargenealogischen Publikationen stets zu erkennbaren, einheimischen, bisweilen als charakteristisch geltenden Baumarten,9 die außerdem in einer identifizierbaren, oft auch benannten Landschaft stehen, was wohl die Faktizität der gebotenen Informationen zusätzlich verbürgen soll. Die in der Natur angelegten Verzweigungsmöglichkeiten werden entsprechend den zu unterbreitenden Abstammungsverhältnissen modelliert; der Ahn ist im Wurzelbereich am unteren Seitenrand zu finden und die agnatische Nachkommenschaft in den zunehmenden Verästelungen (Abb. 4). Die Wachstumsrichtung des Baumes ist botanisch korrekt und läuft mit dem Zeitpfeil, widerspricht damit jedoch der kulturell eingeübten Leserichtung.10 Offensichtlich setzte sich hier die kräftige Bildsemantik des Baumes, die im Bereich der Genealogie vor allem durch die mittelalterliche Wurzel-Jesse-Ikonographie vorgeprägt worden war,11 gegen die Lektüregewohnheit durch.

5 6

TABULAE, 1656, Tabelle „DVCES WVRTENBERG“. Zum Einsatz von Baumdiagrammen in der Frühen Neuzeit vgl. etwa SIEGEL, 2009, bes. S. 57-90. 7 ZELL, 1563. 8 Vgl. z. B. Gans, 1638 und von Hessen-Darmstadt, ca. 1661. 9 Vgl. z. B. ALBIZZI, 1608, Fol. XLV, wo es sich bei dem osmanischen Stammbaum wohl um einen Feigenbaum handelt. 10 So auch MACHO, 2005, S. 69. 11 KLAPISCH-ZUBER, 1993; DIES., 2009, bes. S. 436f.; SCHADT, 1982, S. 60, Fn. 210. 44

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Diese skizzenhaften Beobachtungen lassen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Darstellungsmodi deutlich werden: Stammliste, Stammtafel, Stammbaum verlaufen gleichermaßen mit dem Zeitstrahl, indem sie die Mitglieder der Herrscherhäuser prospektiv, vom Ahnen zum Nachkommen anordnen, dabei jedoch nur die Abstammung über die männliche Linie, also die Agnaten berücksichtigen. Im Gegensatz zu Stammliste und Stammtafel entkoppelt allerdings der Stammbaum Leserichtung beziehungsweise Lesezeit vom Fortlauf der Geschlechterfolge. Schließlich gibt es noch eine weitere Differenz zwischen Stammtafel und Stammbaum: Während sich die Stammtafeln seit dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts in der Regel damit begnügten, quellenmäßig belegte und politisch relevante Zeiträume zu erfassen,12 lag es für die mit Stammbäumen operierenden Werke aufgrund der stets sichtbaren oder angedeuteten Wurzeln näher, zum Ursprung der Häuser vorzudringen. Daher beginnen deren Geschlechterfolgen oft mit dem mythischen Spitzenahn. Der durchaus als verlässlich geltende Albizzi etwa begann den Stammbaum der Merowinger mit dem sagenhaften Pharamundus und den der Piasten mit dem nicht minder spekulativen Piastus.13 Durch ihre prospektiv-deszendente Anlage mussten die Stammliste, besonders aber Stammtafel und Stammbaum die Kontingenz, Offenheit und Pluralität der von ihnen geschilderten genealogischen Entwicklungen in den verschiedenen Herrscherhäusern widerspiegeln: Trotz der Manipulierbarkeit der abzubildenden Verwandtschaftsverhältnisse durch bestimmte Exklusions- und Inklusionsregeln konnten zwei Stammtafeln oder Stammbäume nie vollständig deckungsgleich sein. Exakt dieser Befund markiert den prinzipiellen Gegensatz dieser Verfahren zu dem retrospektiv, dem Zeitpfeil zuwiderlaufenden Vorgehen der aszendenten Ahnentafel. Diese nimmt ihren Ausgang bei einem individuellen Probanden, dann werden dessen Eltern aufgeführt, danach wiederum deren Eltern (also die Großeltern des Probanden) usf., bis man meist in der fünften oder sechsten Vorgängergeneration endet und somit die Kognaten, also die über die weibliche Linie sich ergebenden Ahnen, ausdrücklich einbezieht. Die Ahnentafel erweist sich damit als festes Formular.14 Da der Proband üblicherweise am linken Seitenrand plaziert ist, etwa bei den klassischen Werken Philipp Jacob Speners (Abb. 5),15 lenken die Ahnentafeln fast ausnahmslos den Blick in

12 13 14 15

Dazu BAUER, 2011a, bes. S. 396-401. ALBIZZI, 1608, Fol. I u. XIX. Dazu ausführlich BAUER, 2011b; sowie LORENZ, 1898, S. 85; HECK, 2000, S. 572. Vgl. etwa SPENER, 1658. 45

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die Vergangenheit: Die Leserichtung verläuft gegen den Zeitstrahl. Innerhalb der Universalgenealogien gibt es nur in einen einzigen Fall der Übereinstimmung von Lektürerichtung und Zeitpfeil, indem der Proband an den rechten Rand gerückt wird. Dabei handelt es sich um zwei Ahnentafeln aus Zells bereits erwähnter GENEALOGIA von 1563 (Abb. 6) und damit um eine sofort wieder aufgegebene Praxis. Die vier skizzierten Konstruktionsprinzipien genealogischer Tableaus (Stammliste, Stammtafel, Stammbaum, Ahnentafel) beruhen also in der Tat auf der Vorentscheidung für eine bestimmte temporale Struktur, und diese legt wiederum eine spezifische Visualisierungsstrategie nahe. In diesem Auswahlprozess bildeten offensichtlich Effizienzerwägungen hinsichtlich der Datenorganisation nur ein Kriterium. Ebenso ausschlaggebend war daneben, inwieweit die jeweilige Disposition des genealogischen Materials an eingeschliffene Lektüregewohnheiten und eine vertraute Bildtradition anschließen konnte.

2. Das Baummodell als Visualisi erungsmittel Die frühneuzeitlichen Genealogen waren also mit der Aufgabe konfrontiert, die durchaus komplexen Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnisse hochadeliger Häuser in möglichst zugänglicher, übersichtlicher, kurz: benutzerfreundlicher Form im Druck zu veröffentlichen. Die dabei zutage tretenden Schwierigkeiten und Grenzen der typographischen oder druckgraphischen Abbildung beziehungsweise Abbildbarkeit genealogischer Beziehungen führen im Kern auf die Frage zurück, mit welchen Mitteln sich zeitliche Verläufe auf dem Papier nachzeichnen lassen. Es liegt nahe, den innerhalb der genealogischen Literatur allenthalben feststellbaren impliziten oder expliziten Bezug auf das Baummodell als eine auf dieses Grundproblem zielende Lösungsstrategie zu betrachten.16 Offensichtlich war der Baum aufgrund seiner nach oben gerichteten Wachstumsdynamik17 und seiner Ausstattung mit vielfältigen, Differenz und Hierarchie markierenden Elementen (Wurzel, Stamm, Ast, Blatt etc.)18 in be16 Vgl. zur allgemeinen Leistungsfähigkeit des Baummodells BERNS, 2000, bes. S. 172f.; zum Baum als „Superimago“ DERS., 2009, bes. S. 41-46; außerdem MICHEL, 2007, bes. S. 116-118; konkret zur Fähigkeit der Zeitabbildung s. VISMANN, 2010, S. 53f. sowie MACHO, 2005, S. 71. 17 Dazu KLAPISCH-ZUBER, 2009, bes. S. 444. 18 EBD., bes. S. 438 und SIEGEL, 2009, bes. S. 80. 46

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sonderem Maße geeignet, Beziehungen in der temporalen Dimension in räumliche Positionen und Distanzen zu übersetzen. Ergänzend kam dazu die Attraktivität seiner starken, vor allem biblisch inspirierten Bildsemantik.19 Untersucht man gezielt den Einsatz der Baummetaphorik im Bereich der Genealogie, so erweitert sich das Spektrum über die vier Grundtypen des Datenarrangements hinaus auf sechs Spielarten der Arboreszenz, die sich in ihrer datenorganisatorischen Effizienz, ihrer Suggestionskraft, ihrer mimetischen Wirklichkeitstreue und ihrem Abstraktionsgrad voneinander unterschieden:

a. Biblische Bäume (Zeder und Palme) Innerhalb der genealogischen Literatur dienten Bäume nicht nur als Ordnungsmuster der Datenverarbeitung, sondern sie spielten auch in den Paratexten einschlägiger Werke eine Rolle. Insbesondere Titelkupfer und Frontispizes unterstrichen die Bedeutung arboresker Motive. Auffällig ist, dass an diesen Stellen sehr häufig Palme und Zeder abgebildet wurden, zwei biblische Bäume, die insbesondere durch den 92. Psalm miteinander verknüpft sind, wo es in Vers 12 heißt: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum; er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.“ In der höfisch-dynastischen Publizistik wurden beide Spezies mitunter gekoppelt,20 und dieser Kombination begegnet man auch in verschiedenen gedruckten Genealogien, etwa auf dem Titelblatt von Johann Just Winkelmanns Stamm= und Regentenbaum (1677).21 Mit einem Kupfertitel beginnt Johann Georg Lairitz’ Histrisch=Genealogischer Palm=Wald, eine aufwendige Universalgenealogie von 1686 (Abb. 7). In seiner „Zuschrifft“ unterstreicht Lairitz die Größe und mannigfache Nützlichkeit der im Titel genannten Bäume und erklärt: „Unser liebwerthes Teutschland kann uns zwar / […] dergleichen Palm=Bäume nicht würklich zeigen / gleichwol hat es einen hohen und trefflichen Palm= Wald an dessen Durchläuchtigsten Regenten=Bäumen“.22 Zum Hintergrund dieser Passage gehört die zeitgenössische Auffassung, dass die Palme gerade auch unter hoher

19 Vgl. etwa WINKELMANN, 1661, S. 18-28; außerdem den Überblick bei DEMANDT, 2002, S. 20-41. 20 Vgl. etwa die aufeinander bezogenen Texte von WELLER, 1653 u. GUMPRECHT, 1659. 21 WINKELMANN, 1677, Titelblatt; vgl. als weiteres Beispiel VON HESSENDARMSTADT, ca. 1661, Stich 66. 22 LAIRITZ, 1686, Zuschrifft. 47

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Belastung in die Höhe wachse,23 wodurch ihr eine außergewöhnliche Überlebensfähigkeit zugeschrieben wurde.24 Johann Wolfgang Rentschs Partikulargenealogie Brandenburgischer Ceder-Hein (1682) beginnt ebenfalls mit einem Kupfertitel (Abb. 8) und betont in analoger Weise den Bedeutungsgehalt der Zeder. Zunächst führt der Autor aus: „DIe Cedern sein um ihrer Pracht und Höhe willen jederzeit vor die Edelste unter denen Bäumen geschätzet“, und auch „das grosse Chur= und Hoch=Fürstl. Haus Brandenburg [sei] zu solcher Höhe […] erwachsen / daß dessen herrliche Cedern sich einem Hein oder Götter-Wald verehnlichen.“25 Danach identifiziert er Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit der Zeder als ihre hervorstechendste Eigenschaft.26 Die beiden Abbildungen zeigen das zeitgenössische schematisierte Bild der zwei Baumarten, das deren Funktionalität im Rahmen des genealogischen Schrifttums bestimmt: Der gerade, astlose Stamm unterhalb der Krone bietet keinerlei Anknüpfungspunkte für eine hierarchische oder zeitliche Ordnung und macht die Pflanzen als Träger differenzierter genealogischer Daten untauglich. Möglich ist allenfalls eine semiotische Anreicherung durch das Anheften von Wappenschilden oder Porträtmedallions. So werden die biblischen Bäume auf ihren Symbolwert reduziert und avancieren zu pauschalen, ganzheitlichen Chiffren für die Resilienz und Unvergänglichkeit der jeweiligen Fürstenhäuser – in der Sprache des 17.Jahrhunderts: für die „Unverweßlichkeit“.27 Palme und Zeder indizieren mithin Überzeitlichkeit.

b. Stammbäume Im Gegensatz dazu weisen die Stammbäume ausdrücklich mehrere potentielle Schnittstellen auf, an denen die genealogische Linienbildung und Spreizung ansetzen kann, ohne auf die traditionsreiche Bildsemantik zu verzichten. Die stammbaumförmige Darstellung favorisiert jedoch eine hierarchisierte, zentripetale Repräsentation der agnatischen Nachkommenschaft und marginalisiert 23 BIEDERMANN, 1989, S. 321; dazu als frühneuzeitliches Beispiel WELLER, 1653; zum Bedeutungsfeld der Palme v. a. im Kontext der Fruchtbringenden Gesellschaft vgl. Botschaft, 1992. 24 Vgl. zur Palme als Symbol dynastischen Überlebens auch LUCAE, 1705, Frontispiz. 25 RENTSCH, 1682, Widmungsrede. 26 EBD., Widmungsrede und „Erklärung des Kupfer-Titel-blats“; zum Hintergrund vgl. auch BIEDERMANN, 1989, S. 500f. sowie als weiteres zeitgenössisches Beispiel erneut WELLER, 1653. 27 RENTSCH, 1682, „Erklärung des Kupfer-Titel-blats“; vgl. auch TACKE, ca. 1661. 48

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etwaige Nebenlinien, da der in der vertikalen Mittelachse befindliche Hauptstamm unmissverständlich die Hauptlinie oder die wirkmächtigsten Mitglieder des jeweiligen Hauses wiederzugeben pflegt.28 In gewisser Weise korrespondiert diese kohärenzstiftende Darstellungskonvention mit der Tendenz zur Primogenitur in den regierenden Häusern.29 Verstärkt wird dieser Effekt bisweilen durch die Ausschmückung des Geästs mit Wappen und Herrschaftszeichen, die ebenfalls bestimmte, in der Regel zentrale Personen hervorhebt.30 Indem der Stammbaum durch seine Wurzelfixierung überdies auf dem jeweiligen Spitzenahn fußt (oder ihn zumindest heraufbeschwört) und lediglich die Filiation über die männliche Linie konstruiert, suggeriert er eine konsistente, kontinuierliche Entwicklungsdynamik der behandelten Dynastie und akzentuiert so die diachrone zuungunsten der synchronen Dimension.

c. Virtuelle oder exotische Baumsysteme Ebendiese Schwäche sollten die virtuellen Baumsysteme überwinden, die in einigen einschlägigen Werken des 17. Jahrhunderts die Stämme einzelner Bäume zu einem dichten Geflecht verwoben, um so die visuelle Überzeugungskraft der Stammbäume beizubehalten und dennoch Parallelentwicklungen synoptisch ins Bild setzen zu können. Ein solches Gebilde gibt es etwa in Johannes Gans’ ARBORETVM GENEALOGICVM von 1638, das aus drei Bäumen besteht, die sich in botanischer Unmöglichkeit verzweigen, ineinanderwachsen und über eine Art Luftwurzeln verfügen, um so die genealogische Entwicklung in den habsburgischen Herrschaftsgebieten zu schildern, auch um den Preis einer Überforderung des Baumschemas.31 Konnte das imaginierte Gewächs bei Gans jedoch immerhin noch als Datenträger fungieren, so ging diese Fähigkeit den im folgenden behandelten Bilderfindungen ab, da sie das Generationenkonzept aushebelten. Als geeigneter Ausgangspunkt mag der Kupfertitel zu Winkelmanns Stamm= und Regentenbaum des Hauses Braunschweig-Lüneburg von 1677 dienen.32 Er zeigt die fünf mit gewaltigem Wurzelwerk versehenen Stämme der Karolinger, des 28 29 30 31

Vgl. etwa GANS, 1638, Arbor I o.; VON HESSEN-DARMSTADT, ca. 1661, Stich 53. Zur Primogenitur vgl. FÜRSTENSTAAT, 1982 und KAISER, 2001/2002. So verfährt etwa ALBIZZI, 1608. GANS, 1638, Arbor XIV; vgl. auch DERS., 1635, Arbor XIV, wo dieses Problem noch nicht besteht, da die dortige Abbildung als rein diagrammatisches Schema ohne aus der Natur übernommenen Einkleidungen (Blätter etc.) erscheint. 32 WINKELMANN, 1677, Titelblatt. 49

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Widukind (d. h. der Ottonen), der Billunger, der Este und der Welfen, die sich zu einem Stamm vereinigen, der Heinrich den Löwen umrahmt. Eine „Erklärung des Kupfer=Tituls“ versucht den Mangel an botanischer Plausibilität zu lindern, indem zum einen die Kulturtechnik des Propfens33 eingeführt und zum anderen eine baumbasierte, auf „[d]er Wurzeln Saft“ beruhende genealogische Humorallehre angedeutet wird.34 Außerdem wird das eigenwillige arboreske Konstrukt ausdrücklich mit einem in Mexiko wachsenden Baum verglichen, der sich ad infinitum lateral ausbreitet, indem sich seine Äste ab einer gewissen Stärke wieder im Boden verwurzeln und „immerfort“ einen neuen Stamm bilden,35 wodurch letztlich ein gewaltiges waldartiges Gewächs entsteht. Von diesem pflanzlichen Gebilde hatte Winkelmann bereits in seiner genealogischen Arbeit für das Haus Oldenburg, der GRAFEN=CRON von 1661, berichtet,36 freilich auch dort, ohne eine Abbildung dieses exotischen Wunderbaums zu liefern. Dies blieb einer Publikation Sigmund von Birkens vorbehalten, der in seinem Abgebrochenen Oesterreichischen Regenten=Zweig von 166537 die wiederholte dynastische Allianz von Habsburgern und Wittelsbachern mit der Hilfe eines Baumsystems veranschaulicht, das als Titelkupfer abgebildet (Abb. 9) und vom Autor danach erläutert wird. Zwar dient auch hier der gestochene Baum nicht selbst als genealogischer Datenträger (sondern ist wie Lairitz’ Palmen mit an ihm befestigten Wappenschilden ausgerüstet), doch sind die einzelnen Stämme numeriert und verweisen auf 14 im Text genannte Eheschließungen.38 Die Besonderheit dieses „Amerikanischen WunderBaums“ beschreibt Birken wie folgt: „Dieser Baum / strauchet hoch in die Luft. Seine Aeste aber / wann sie zu einer länge von 12 Ellen erwachsen / senken ihre Zweige auf allen seiten wieder Erdwerts / bis selbige den Boden erreichen. Diese nun / so bald sie die Erde berühren / wurzeln in dieselbe / und treiben neue Stämme empor: welche / gleich

33 Zum Zusammenhang von Pfropfen, Baummodell und genealogischer Ordnung vgl. VISMANN, 2010. 34 WINKELMANN, 1677, „Erklärung des Kupfer=Tituls“ und S. 7. 35 EBD., „Erklärung des Kupfer=Tituls“ und S. 6. 36 DERS., 1661, S. 19. 37 Dazu auch DISSELKAMP, 2006, S. 147-150. 38 BIRKEN, 1665, Titelbl. und S. 11. 50

Baum und Zeit dem Hauptstammen / abermals Zweige nach der Erde senden / und durch die39 selben neue Stämme zeugen.“

Diese Passage lehnt sich – bis hin zur Höhenangabe „12 Ellen“ – sehr eng an die betreffenden Textstellen bei Winkelmann an,40 obwohl einer der bei Birken angegebenen Belege, die diese exotische Pflanze botanisch beglaubigen sollen, auf einen „Wunderbaum“ aus Persien verweist und der andere sich in Indien verläuft.41 Die tatsächliche Existenz dieser Spezies (offenbar angeregt durch den Luftwurzler Banyan-Feige42) und ihr Habitat (als das anderswo auch Angola aufgeführt wird43) sind hier freilich nicht das Entscheidende. Von Bedeutung ist vielmehr, dass diese Stammbaum-Überbietungen „als genealogische Wunschbilder“44 offensichtlich eine attraktive Bildformel zur Verfügung stellten, um synchrone Entwicklungen, plurale Entstehungszusammenhänge und komplexere Beziehungen in ein baumförmiges Muster zu übertragen.45 Dasselbe Modell findet man später in Kaspar Stielers Der Teutschen Sprache Stammbaum von 1691, wo es für das unaufhörliche Wachstum (oder besser Wuchern) des Deutschen steht.46 Dort allerdings wird es unter Berufung auf Johan Neuhofs Reisebericht aus den 1660er Jahren von einer in China und auf der Insel Goa vorkommenden Baumart abgeleitet.47 Zu beachten bleibt darüber hinaus der Befund, dass diese virtuellen Einbaum-Systeme nur in der partikular- und nie in der universalgenealogischen Literatur auftauchen.

39 EBD., S. 10. 40 WINKELMANN 1661, S. 19 und DERS., 1677, S. 6. 41 BIRKEN, 1665, S. 10; SAAR, 1672, S. 106; Birkens Verweis auf Garcia da Ortas Werk über die indische Flora führt nicht weiter, da dort laut CLUSIUS, 1605, S. 3 diese Pflanze nicht vorkommt. 42 Diese Pflanze und damit das Konzept des mehrstämmigen Baumsystems wurde vermutlich durch die auf den Indienzug Alexanders des Großen zurückgehende Literatur in die europäische Imagination implantiert; vgl. dazu BRETZL, 1903, S. 158190 und S. 336-340 sowie THEOPHRAST, 1968, I.vii.3 (S. 52f.) u. IV.iv.4 (S. 313315). 43 DAPPER, 1670, S. 596. 44 PARNES, 2008, S. 62. 45 Zur epistemischen Attraktivität dieses Modells aus postkolonial-literaturwissenschaftlicher Sicht vgl. DHUBHGHAILL, 2004, S. 293-295. 46 STIELER, 1691, Titelbl. und „Uber den Kupfertitel“; vgl. dazu BERNS, 2000, S. 162f. und retrospektiv auf Schottelius bezogen MCLELLAND, 2002. 47 EBD., Fol. )( )( iiii r - )()( iiii v; Neuhof, 1669, S. 339f.; vgl. auch die Zahlenangabe an diesen beiden Stellen mit SAAR, 1672, S. 106. 51

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d. Stammtafeln Aufgrund ihres Abstraktionsgrads sind die Stammtafeln in der Lage, mit der Synchronität sehr viel eleganter umzugehen als die Stammbäume oder Stammbaumsysteme, da sie mehr Flexibilität erlauben. Sie weisen darüber hinaus vor allem zwei weitere Vorteile auf: Zum einen sind sie mithilfe der Typographie herstellbar und damit sehr viel kostengünstiger als die Darstellungsmodi mit mimetischem Anspruch, die auf aufwendigeren druckgraphischen Verfahren beruhen. Zum anderen emanzipieren sie sich von der festgelegten Wachstumsrichtung des natürlichen Baums, da sie drehbar sind und am oberen oder am linken Seitenrand begonnen werden können. Daher gelingt ihnen die Koordination von Leserichtung und Zeitpfeil. Die herkömmlicherweise mit dem Baum verknüpfte Bildsemantik bleibt so zwar nur in reduzierter Form erhalten, doch muss man daran erinnern, dass etwa ein Autor aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie Theodor Zwinger, dessen Werk allenthalben auf die Ordnungsleistungen des stammtafelähnlichen Baumdiagramms vertraut, ausdrücklich an der arboresken Metaphorik von Stamm, Ast, Blatt etc. festhielt.48

e. Ahnentafeln/Ahnenbäume Ahnentafeln verlaufen gegen den Zeitpfeil. Sie basieren auf einem einfachen Algorithmus und besitzen Formularcharakter, von dem mehrere unausgefüllte Schemata Zeugnis ablegen (Abb. 10).49 Aufgrund dieser beiden zentralen Merkmale sperren sie sich im Grunde gegen eine baumförmige Wiedergabe (auch wenn sie dem Typus des Binärbaums in der modernen Mathematik angehören). Dennoch wurden sie in der genealogischen Literatur der frühen Neuzeit in das Baumschema gezwungen. Dazu wurde ihre konventionelle horizontale Laufrichtung aufgegeben und in die von unten nach oben orientierte Vertikale umgebogen. Dies gilt für die zahlreichen handschriftlichen beziehungsweise handgezeichneten Ahnenproben, auf denen viele (hoch-)adelige Genossenschaften bestanden,50 aber auch für Druckwerke. In Winkelmanns partikulargenealogischem Stamm= und Regentenbaum von 1677 etwa gibt es mehrere 48 SIEGEL, 2009, bes. S. 76 und 80; zu Zwingers Baumdiagrammatik vgl. auch MICHEL, 2007, S. 129-136 und SCHIERBAUM, 2009, S. 283-305. 49 AITZING, 1590, S. 146f.; SPENER, 1660, S. 1; HATTSTEIN, 1729, Fol. (*)1r. 50 Vgl. etwa KÜPPERS-BRAUN, 1997, bes. S. 52-59 sowie die entsprechenden (gestochenen) Muster bei ESTOR, 1750. 52

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solcher Holzschnitte (Abb. 11),51 die jedoch insofern kontraintuitiv sind, als hier Wachstumsrichtung und Zeitpfeil gegenläufig sind: Der „anenbaum“52 wächst in die Vergangenheit! Mochte die Gegenläufigkeit von Lese- und Zeitrichtung die Rezipienten der Ahnentafeln ohnehin schon irritiert haben, so verstärkte die naturmimetische Qualität der Ahnenbaumbilder diesen Effekt noch zusätzlich. Zwar gibt es auch eine dieses Baummodell umkehrende, dem Zeitpfeil folgende und gleichfalls mit vermeintlicher Naturnähe arbeitende Darstellungsweise einer Ahnentafel (Abb. 12), doch geht auch bei diesem nach nicht einmal drei Generationen inkonsequent fortgeführten Versuch – der zugleich eine weitere Variante der Baumsysteme bildet – die botanische Plausibilität verloren. Beide Spielarten demonstrieren erneut die hohe Anziehungs- und Suggestionskraft der Baummetapher auch dort, wo sie der konkreten Datenorganisation nicht angemessen ist.

f. Stammlisten Einzig die aufzählenden oder erzählenden Stammlisten verzichten gänzlich auf jegliches arboreskes Motiv und verzeichnen die Angehörigen einer Dynastie mit dem Zeitpfeil nacheinander auf dem Papier. Diese lineare Abfolge lässt nur eine sehr geringe Datenkomplexität zu, und so findet man sie besonders häufig in jenen Kurzeinträgen, in denen die universalgenealogischen Nachschlagewerke des späten 17. Jahrhunderts pro Dynastie nicht mehr als die im Erscheinungsjahr noch lebenden Angehörigen benennen und damit höchstens vier Generationen erfassen, so etwa Peter Ambrosius Lehmanns Werk mit dem treffenden Titel Das Itzt=herrschende EUROPA von 1694 (Abb. 13).53 Sieht man einmal von der letzten, „baumlosen“ Option ab und konzentriert sich auf die baumbasierten Darstellungsmodi, so zeichnet sich eine gewisse Polarität ab zwischen dem Anspielungsreichtum der Bildsemantik einerseits und der Effizienz in der zeitlichen Organisation der Daten andererseits. Palme und Zeder rufen die gesamte biblische Tradition auf und zapfen damit einen gewaltigen, vertrauten und verbindlichen Bildervorrat an. Sie treten jedoch als reine Sinnbilder für die Überzeitlichkeit fürstlicher Häuser auf und vermögen daher zur Verknüpfung der genealogischen Daten nichts beizutragen. Die virtuellen Baumsysteme bedienen sich eines anderen Bildspeichers, indem sie 51 WINKELMANN, 1677, v. a. S. 126f., 146f. und 170f. 52 Dieser Wortgebrauch etwa bei ESTOR, 1750, S. IIIf. und (im Plural) öfter. 53 LEHMANN, 1694. 53

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sich auf (eine oder mehrere) exotische Spezies beziehen, deren Existenz etwa durch Illustrationen in den von Birken und Stieler zu Rate gezogenen Reisebeschreibungen54 beglaubigt scheint. Offensichtlich trägt gerade die botanische Autorisierung dazu bei, diese tropische(n) Pflanzenart(en) als attraktives Modell für die Schilderung synchroner oder paralleler dynastischer Entwicklungen zu verwenden. In Winkelmanns Stamm= und Regentenbaum wird die Kopfgeburt des auf dem Kupfertitel konstruierten welfenzentrierten Baumsystems explizit über die Ausdrücke „Gleichwie“ und „Also“ mit dem empirisch belegten Wundergewächs aus Mexiko kurzgeschlossen.55 Aber auch hier findet keinerlei Datenorganisation statt, die einzelne Personen qua Ehe, Elternschaft oder Geschwisterschaft aneinanderkoppelte. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Stammtafel und Ahnentafel, die als Diagramme von der konkreten Baumgestalt abstrahieren und daher nurmehr rudimentär auf den reichhaltigen Bedeutungskomplex der Arboreszenz verweisen. Gerade dadurch aber gelingt es ihnen, die spezifischen zeitlichen Verknüpfungen zwischen den Individuen in besonderer Klarheit offenzulegen. Denn daraus ergibt sich im Falle der Stammtafel eine breite formale Elastizität, die zur Abbildung der Diachronie und Synchronie gleichermaßen befähigt. Im Gegensatz dazu steht das starre, rückwärtsgewandte Schema der Ahnentafel, das jegliche Lücke in der streng binären Vorfahrenkette offenlegt und sich somit in hervorragender Weise als Formular für rechtsverbindliche, urkundliche Ahnennachweise eignet. Gleichsam in der Mitte ist der Stammbaum situiert, der aufgrund seiner mimetischen Anlage das semantische Potential des Baumes voll ausschöpft, ohne wie etwa Palme oder Zeder als Datenträger komplett auszufallen. So besitzt dieser Darstellungsmodus zwar strukturelle Schwächen bei der Erfassung synchroner Vorgänge, doch wird dies durch die Gestaltung nach der und Situierung in der Natur wettgemacht, da diese Charakteristika den jeweils vermittelten genealogischen Informationen besondere Glaubwürdigkeit verleihen. Als Analogiebildung dazu wird man den Ahnenbaum ansehen können, der sozusagen eine botanisch aufgeputzte Ahnentafel darstellt und deshalb deren Leistungsfähigkeit im Hinblick auf das zeitliche Arrangement der Daten teilt. Er fügt dieser aber nicht wirklich etwas hinzu, da die äußerliche Verpflanzlichung des Formulars zwar das semantische Feld des Baumes beschwört, aber durch das rigide Binärschema und die Wachstumsrichtung in die Vergangen54 NEUHOF, 1669, S. 340; SAAR, 1672, S. 106. 55 WINKELMANN, 1677, „Erklärung des Kupfer=Tituls“. 54

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heit über keinerlei biologische Überzeugungskraft verfügt. Ex negativo zeigt sich gerade in diesem Befund erneut die Sogkraft des Baummodells innerhalb der frühneuzeitlichen Genealogie.

3. Der genealogische Zei thoriz ont: Aktualisierung und Beschleunigung Im Verlauf des 17. Jahrhunderts durchlief die Universalgenealogie zudem einen grundlegenden Wandlungsprozess, der ihre temporale Tiefendimension betraf. Er hing wenigstens mittelbar mit den jeweils eingesetzten Darstellungsmodi zusammen und ist auf vier Ebenen anzusiedeln:56 Zum einen weist die Gattungsentwicklung eine deutliche Tendenz zur Einschränkung des Erfassungszeitraums oder (positiv gewendet) zur wachsenden Aktualität der in den Werken präsentierten genealogischen Daten auf. Die in den älteren Publikationen insbesondere des späten 16. Jahrhunderts vorhandene Periodisierung nach der Vier-Reiche Lehre (etwa bei Hieronymus Henninges und Reiner Reinneccius)57 wurde aufgegeben, so dass die dort präsenten biblischen und antiken Geschlechter komplett entfielen und lediglich die noch existenten Fürstenhäuser übrigblieben. Die meisten tonangebenden genealogischen Sammelwerke der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verwenden fast ausschließlich Stammtafeln, das trifft sowohl auf die renommierten Werke des Nicolaus Rittershusius58 als auch auf die populären Tübingischen Tabellen zu. Beide Titel heben jedoch nicht mit einem fiktiven oder tatsächlich belegten Spitzenahn an, sondern lassen ihre Tafeln mit dem oder um das Stichjahr 1400 herum beginnen. Sie beschränken sich also auf jenen Zeitraum, für den verlässliche historische Quellennachweise vorlagen und der nach wie vor politische und juristische Relevanz besaß.59 Die gleichzeitigen, ebenfalls hochgeschätzten Ahnentafeln Philipp Jacob Speners gehen schon aus Gründen der Praktikabilität und Darstellbarkeit faktisch genauso weit zurück.60 Die universalgenealogischen Serien der Zeit nach 1670 radikalisierten diesen Gegenwartsbezug noch, indem sie nur mehr das unmittelbar zeitgenössische – in der 56 57 58 59 60

Dazu ausführlich BAUER, 2011a. REINECCIUS, 1594-1597; HENNINGES, 1598. Dazu SCHRENCK VON NOTZING, 1979. EBD., S. 396f. BAUER, 2011b. 55

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Sprache der Titelblätter: das „jetzt lebende“61 – Herrschaftspersonal aufführen. Konkret entstanden so die erwähnten Kurzeinträge, die in der Regel drei bis vier Generationen umfassten.62 Die ältere Hausgeschichte der Dynastien wurde in diesen Werken erbarmungslos entsorgt. Zum anderen korrespondierte diese Aktualisierung mit einer stetigen Beschleunigung des Produktions- und Publikationszyklus’, der eine konsequente Gegenwartsorientierung überhaupt erst ermöglichte. Wurde die Universalgenealogie bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts von hochgelehrten Monographien geprägt, die jahrelange Recherchen erfordert hatten und nicht nur weit in die Vergangenheit zurückblickten, sondern dauerhafte Geltung beanspruchten, so etablierte sich mit den Tübingischen Tabellen die Serialität in diesem Subgenre, die bewusst mit dem Obsoletwerden der präsentierten Daten rechnete und darauf mit Supplementen, Fortsetzungen und Neuauflagen reagierte. Möglich war das rasche Produktionstempo, weil diese Bücher nicht auf genuiner Forschung basierten, sondern in ihnen bekanntes, im wesentlichen bereits gedrucktes Material kompiliert wurde.63 Ab 1717, dies der bisher früheste Beleg, ging die Universalgenealogie zur Periodizität über, zunächst im Jahresrhythmus des Kalenders, ab 1731 in Form einer monatlichen Zeitschrift. Die ständige, gleichsam naturwüchsige Erneuerung der dynastischen Informationen und ihr Veralten waren somit zur Triebfeder des potentiell endlosen Erscheinens entsprechender Publikationen geworden.64 Zum dritten wurden die universalgenealogischen Drucke in diesem Zuge kleiner, billiger und mobiler. Die monographischen Werke des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts besaßen einen gewaltigen Umfang, sie wurden in Folio oder wenigstens Großquart herausgegeben und umfassten meist mehrere Bände, die zusammen auf bis zu 3000 Seiten kamen. Die universalgenealogischen Serien erschienen zunächst im Kleinfolio- oder Quartformat (so die Tübingischen Tabellen), gingen aber ab den 1670er Jahren zum Oktavformat über.65 Die äußerliche Schrumpfung machte sie nicht nur preiswerter, sondern zugleich transportabel, so dass sie – dies ein weiteres zeitgenössisches Verkaufsargument – auf Reisen mitgeführt werden konnten.66 Die universalgenealogische Literatur bestand damit am Ausgang des 17. Jahrhunderts überwie61 62 63 64 65 66 56

Vgl. etwa MELISSANTES, 1715. BAUER, 2008, S. 285-290. DERS., 2011a, z. B. S. 397f. und 405. EBD. S. 401-404. BAUER, 2011a, S. 396 und 398f. DERS., 2008, S. 289f.

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gend aus ephemeren, unaufwendigen, auf den Verbrauch und Verschleiß hin ausgerichteten Nachschlagewerken. Zum vierten ist schließlich mit all diesen Entwicklungen ein deutlicher Kommerzialisierungsschub verbunden. Als klarstes äußeres Merkmal kann der Übergang vom Gebrauch des Lateins zur Deutschsprachigkeit benannt werden, der im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts stattfand und die universalgenealogischen Drucke aus dem rein akademischen Kontext entließ und sie für ein breiteres Publikum etwa von Zeitungslesern attraktiv machte, das auf ein breites Spektrum staatenkundlicher Informationsmedien angewiesen war.67 Diese Werke waren häufig ohnehin nicht mehr durch den Namen eines berühmten Gelehrten autorisiert, wie es noch bei den von oder aus dem Umkreis des Rittershusius stammenden Büchern praktiziert worden war, sondern trugen gleichsam generische Reihentitel und erschienen anonym oder pseudonym. Es handelt sich bei ihnen um primär verlegergesteuerte Erzeugnisse, die mit Gewinnabsicht in das marktförmige und nachfragegetriebene Mediensystem der frühen Neuzeit eingespeist wurden. Damit unterscheiden sich die Universalgenealogien kategorial von den zahlreichen partikulargenealogischen Schriften, die meist auf höfisch-fürstlichen Auftrag und entsprechend subventioniert herausgebracht wurden und insofern der höfischen Öffentlichkeit und nicht dem kommerziellen Medienmarkt zuzurechnen sind.68 Der Warencharakter universalgenealogischer Publikationen hatte auch Auswirkungen auf die dort favorisierten Darstellungsmodi: Der Gebrauch von Stammbäumen, Ahnenbäumen und Baumsystemen bedurfte vergleichsweise kostspieliger Reproduktionsverfahren und findet sich daher fast nur in Partikulargenealogien, wo das ökonomische Kalkül der Verlagshäuser eine untergeordnete Rolle spielte. In den Universalgenealogien setzte man dagegen auf die weniger aufwendigen diagrammatischen Instrumente wie Stamm- oder Ahnentafel. Für die rückwärtige Kappung des Erfassungszeitraums in den einschlägigen Schriften sprachen also gewichtige ökonomische und technische Gründe. Insofern können die Strategien der Visualisierung genealogischer, mithin zeitlicher Bezüge nicht losgelöst von mediengeschichtlichen Überlegungen untersucht werden.

67 Dazu EBD. 68 EBD., S. 398, S. 401 und S. 406. 57

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4. Resümee: Plur alität der Zei tordnungen und der Baummodelle Die gedruckten Universalgenealogien des 16. bis 18. Jahrhunderts waren durch alternative zeitliche Ordnungsmuster geprägt, und diese steuerten wiederum ganz wesentlich das jeweilige Arrangement des genealogischen Datenmaterials. Eine solche Pluralität konnte in dreierlei Hinsicht aufgezeigt werden: • in der Auswahl zwischen einer prospektiven, dem Zeitstrahl folgenden und einer retrospektiven, ihm zuwiderlaufenden Darstellung; • in der unterschiedlichen Betonung bzw. in der potentiellen Abbildbarkeit der diachronen und der synchronen Verläufe; • in der historischen Tiefendimension, die bis zum Ursprung eines Hauses zurückreichen oder auch nur die „Iztregirenden“69 verzeichnen konnte. In der Kombination dieser drei Aspekte ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, das genealogische Wissen entlang zeitlicher Bezüge zu organisieren. Sämtliche faktisch im frühneuzeitlichen Schrifttum durchgespielten Möglichkeiten – mit Ausnahme der Stammliste und ihrer Ausbauformen in Richtung historische Erzählung – machten zu diesem Zweck von der Baummetapher Gebrauch, obwohl sie im Falle der Ahnentafeln der inneren Logik dieses Darstellungsmodus widerspricht und im Falle der exotischen Baumsysteme die botanische Glaubwürdigkeit arg strapaziert. Die Akzeptanz und Attraktivität der baumförmigen Präsentation im Bereich der vormodernen Genealogie hatte wohl zwei Ursachen: Erstens waren arboreske Techniken der Wissensordnung längst eingeführt, als die Universalgenealogien auf den Plan traten: Entsprechende Wegmarken bilden etwa die spätantik-mittelalterliche „arbor porphyriana“,70 die „arbor scientiae“ des Raimundus Lullus71 und die ramistischen Baumdiagramme aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.72 Zu einer grundlegenden Infragestellung des Baumes als epistemisches Modell kam es dann im 19. Jahrhundert, etwa als Charles Darwin die Koralle als geeigneteres Muster zur Visualisierung von Entwicklungsprozessen entdeckte.73 Zweitens wurden schon im Mittelalter speziell die Ver69 70 71 72 73 58

Vgl. z. B. FRANKENBERG, 1675. Vgl. VERBOON, 2008. Dazu die Beiträge in DOMÍNGUEZ REBOIRAS, 2002. Dazu SIEGEL, 2009, bes. S. 65-73. So BREDEKAMP, 2005; vgl. dagegen VOSS, 2007, bes. S. 17, S. 25 und S. 152-159.

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wandtschaftsbeziehungen über baumartige Darstellungen veranschaulicht. Solche Modelle bilden etwa die seit dem 9. Jahrhundert überlieferten „arbores consanguinitatis“, die die Verwandtschaftsgrade und die sich daraus im kanonischen Recht ergebenden Eheverbote in einem (oftmals nur vage baumähnlichen) Schema aufzeichnen,74 und die bereits erwähnte Wurzel-JesseBildformel, die seit dem 11. Jahrhundert bezeugt ist.75 Von zentraler Bedeutung ist die Realitätsnähe, die jeweils ein für genealogische Zwecke eingesetztes Baumabbild für sich beansprucht, denn sie kann gegebenenfalls in Konflikt mit den im einzelnen zu vermittelnden Verwandtschaftsverhältnissen und -regeln treten. So wurde etwa das Datenarrangement in den diagrammatischen „arbores consanguinitatis“, die die ältesten Familienmitglieder oben und die jüngsten unten gruppieren, in dem Moment zum manifesten Problem, in dem aus dem abstrakten Schema durch zusätzliche florale Ornamente ein ansatzweise naturnaher Baum wurde.76 Dies geschah im ausgehenden 14. Jahrhundert. Der daraus resultierende „Gegensatz zwischen der Generationenfolge […] und dem Wachstum des natürlichen Baumes […] wird […] in eigenartiger Weise gelöst“, indem bisweilen kurzerhand der gesamte „Baum umgedreht [wird]“, so dass die Wurzeln nunmehr nach oben ragen („arbor conversa“).77 Dieser Befund unterstreicht die Annahme, dass die Frage der Übereinstimmung beziehungsweise Gegenläufigkeit von Wachstumsrichtung und Generationenfolge eben erst im Falle der naturmimetischen Darstellungsmodi voll ins Gewicht fällt. Und diese spielten im Bereich der Genealogie eine immer größere Rolle. Es spricht vieles dafür, die zunehmend pflanzliche Gestalt genealogischer Bäume auf den Anstoß durch die verschiedenen Ausformungen der WurzelJesse-Bildlichkeit zurückzuführen. Als Standardtyp kann man die Darstellung des liegenden Jesse ansehen, aus dessen Körper oder Schoß ein baumähnliches, jedenfalls florales Gebilde nach oben wächst, in dessen Ästen oder Ranken die Vorfahren Jesu und in dessen Wipfel die Jungfrau Maria und über ihr Christus erscheinen. Die erste Leistung dieser Bilderfindung ist eine Vertikalisierung des erfassten Personals und seiner genealogischen Verknüpfungen, da dieses nunmehr übereinander auf einem Stamm angeordnet wird

74 Dazu die grundlegende Arbeit von SCHADT, 1982. 75 Dazu grundlegend WATSON, 1937. 76 Vgl. zu den vergleichbaren Schwierigkeiten bei der arbor porphyriana VERBOON, 2008, bes. S. 260f. 77 SCHADT, 1982, S. 323. 59

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und so laterale Beziehungen in den Hintergrund treten.78 Doch diesem Schritt folgt ein zweiter, denn das Arrangement der Ahnen und Nachfahren vollzieht sich von unten nach oben und damit von der Wurzel zum Wipfel, wodurch es der natürlichen Wachstumsrichtung eines Baumes entspricht. Wie sehr diese „végetalisation“ oder „naturalisation“ (Klapisch-Zuber)79 der zuvor diagrammatischen Abstammungsschemata einerseits und die Umpolung von der abwärts (Vorfahren am oberen, Nachkommen am unteren Seitenrand) zur aufwärts verlaufenden Generationensequenz andererseits miteinander zusammenhängen,80 demonstrieren die genealogischen Konstruktionen, die schon seit dem 12. Jahrhundert für die Welfen überliefert sind. Die Weingartener Handschrift der Historia Welforum enthält eine baumartige oder zumindest eine Pflanzenmotivik aufgreifende Zeichnung, die die Vertreter des Geschlechts in aufsteigender Folge aufführt und die bis hin zu Welf VII. und Heinrich den Löwen reicht. Dieselbe Ordnung weist eine direkt daran anknüpfende Darstellung aus den 1190er Jahren auf, die ebenfalls ein florales Muster nutzt. Dagegen verzeichnen mehrere gleichzeitige oder spätere genealogische Diagramme, die auf jegliche vegetabile Ornamentik verzichten, die Mitglieder der Welfen von oben nach unten.81 Somit findet man bereits in der hochmittelalterlichen Wiedergabe der Generationenfolge dieses Herrscherhauses das Grundmuster des Stammbaums mit seiner Verbindung von naturmimetischem Baumbild und der Aufwärtsbewegung der genealogischen Reihung. Weitere Verbreitung fand diese Visualisierungsformel freilich erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts, um dann in der frühen Neuzeit zu einem feststehenden, vielgebrauchten Verfahren aufzusteigen.82 Lässt sich auf dem Gebiet der allgemeinen Wissensordnung ein vom realitätskonformen Baum wegführender Abstraktionsprozess ausmachen,83 so entspringt mithin die Fülle der innerhalb der frühneuzeitlichen Genealogien verwendeten Darstellungsformen im Gegenteil der sozusagen nachträglichen botanischen Konkretion.84 Durch sie traten neben die Baumdiagramme, deren Verlaufsrichtung letztlich arbiträr war, obwohl sie faktisch mit der Leserichtung übereinstimmte, na78 79 80 81 82 83 84 60

KELLNER, 2003, S. 54-57. KLAPISCH-ZUBER, 2009, S. 435. Dazu DIES., 1993. KELLNER, 2003, S. 309-339; HECHBERGER, 1997. KLAPISCH-ZUBER, 1993, S. 41f.; vgl. auch das reiche Bildmaterial in DIES., 2004. BERNS, 2009, S. 72f. Vgl. auch MACHO, 2005, S. 71.

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turmimetische Bäume, die als Datenträger dienen sollten. Die hier in Rede stehenden Stammbäume und Ahnenbäume besitzen freilich eine spezifische Irritationskraft, denn sie zwingen dem Rezipienten – vor allem in der Montage mit und im Kontrast zu längeren Textpassagen – eine ungewohnte, gegen den üblichen Strich verlaufende Leserichtung auf. Dies trifft schon auf die Stammbäume zu, wo der Blick von unten nach oben immerhin biologisch einleuchtend ist, während im Falle der Ahnenbäume die Wachstumsrichtung nicht nur der Lektürerichtung, sondern überdies auch dem Zeitpfeil zuwiderläuft. Die Störung des gewohnten Leseflusses betont außerdem die Eigengesetzlichkeit der eingesetzten Bildsemantik85 und markiert insofern eine genealogische Eigenzeitlichkeit, welche die dynastische Entwicklung vom (Spitzen-)Ahn zur agnatischen Nachkommenschaft (Stammbaum) beziehungsweise vom Probanden zu den väterlichen und mütterlichen Vorfahren (Ahnenbaum) als autonomen diachronen Zusammenhang konstruiert. Gewissermaßen semantisch überdeterminiert waren Bibel, Palme und die von tropischen Pflanzen inspirierten Baumsysteme. Erstere trugen schwer an der gewaltigen Last der biblischen Symbolik und der damit verbundenen normativen Ansprüche, während letztere nicht nur durch ihre Mehrstämmigkeit, sondern auch durch ihre Fremdheit von den vertrauten, heimischen Spezies abwichen, die üblicherweise als Stammbäume firmierten. Daher akzentuierten die (imaginierten oder belegten) Baumsysteme die Außeralltäglichkeit der mit ihrer Hilfe abgebildeten dynastischen Verbindungen. Der Rückbezug auf die Bibel mitsamt ihren spezifischen Zuschreibungen an Palme und Zeder signalisierten ebenso die Überzeitlichkeit der Fürstenhäuser wie das laterale Metastasieren der exotischen „Wunderbäume“, das die Unterscheidung zwischen Eltern-Kind-Beziehungen und Geschwisterschaft aufhob, damit die generationelle Ordnung zersetzte86 und so Diachronie und Synchronie verschmolz. Als Datenträger waren die biblischen und die tropischen Bäume daher gleichermaßen ungeeignet. Man wird dennoch daran festhalten können, dass die konstruktiven Prinzipien des frühneuzeitlichen genealogischen Wissens durch den Bezug auf arboreske Modelle sichtbar und erklärbar werden, da diese das zeitliche Arrangement der Personen und ihre Verkettung zu Verwandtschaftsgruppen anleiteten. Etwas zugespitzt lassen sich also diese Baummodelle als Instrumente einer Datenverarbeitung auf typographischer und druckgraphischer Grundlage be85 KLAPISCH-ZUBER, 1993, S. 49f. 86 Dies wird übersehen bei PARNES, 2008, S. 62. 61

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zeichnen. Freilich bilden eine möglichst effiziente Erfassung, Erschließung und temporale Organisation der einschlägigen Informationen, kurz: Fragen der Wissensordnung, nur einen der Gesichtspunkte, die die konkrete Gestaltung und Ausstattung der genealogischen Druckwerke steuerten. Eine weitere wichtige Rolle spielte auch die zeitgenössische Medienordnung. Die allgemeine Beobachtung, dass „gerade der Buchdruck […] die Visualisierung durch Stammbäume aufgriff und verbreitete“,87 bedarf nämlich zweier Differenzierungen: Denn zum einen war es eben nicht die Typographie, sondern es waren vor allem die druckgraphischen Verfahren, die im Bereich der Genealogie das breite Spektrum von Baumabbildungen ermöglichte.88 Und zum anderen war genau dieser Bilddruck vergleichsweise kostenträchtig, weshalb man die ökonomischen Rahmenbedingungen der hier untersuchten Publikationen berücksichtigen muss, um die Spezifika von partikular- und universalgenealogischen Schriften zu erfassen. Letztere nutzten als kommerzielle, für den Buchmarkt bestimmte Produkte bis auf die Ausnahme von Albizzis STEMMATA allein die preiswerteren Baumdiagramme, während die mit naturmimetischem Anspruch operierenden, nur durch die aufwendigen Reproduktionstechniken Holzschnitt und Kupferstich zu realisierenden Darstellungsweisen ansonsten lediglich in den Partikulargenealogien nachweisbar sind, die in der Regel hoffinanziert oder hofsubventioniert waren. Dass die genealogische Literatur darüber hinaus auch mit der fürstlichhöfisch-dynastischen Herrschaftsordnung interagierte, kann hier nur angedeutet werden. So projiziert beispielsweise die Verwendung des Stammbaums als Darstellungsmodus eine rein agnatische, vertikale, zentripetale Auffassung der Generationenfolge in einem Fürstenhaus, die auf die Konzentration von Herrschaftsrechten in der Hand möglichst weniger männlicher Erben setzte. Im Gegensatz dazu dokumentieren die Ahnentafeln mit ihrer gleichberechtigten Berücksichtigung, ja bisweilen mit der bewussten Hervorhebung der weiblichen Linie,89 dass die einzelnen Dynastien zu einer überregionalen, letztlich gesamteuropäischen Fürstengesellschaft verflochten waren, die über Heiratsallianzen und – aufgrund der Exogamie der Prinzessinnen – vor allem auch über Schwestern, Tanten, Nichten und Cousinen zusammengehalten wurde.

87 MACHO, 2005, S. 77; vgl. auch S. 72. 88 Allgemein zur bisher unterschätzten mediengeschichtlichen Rolle der Druckgraphik WÜRGLER, 2009, bes. S. 7-9. 89 Dazu BAUER, 2011b. 62

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Während überdies der Stammbaum durch seine Auffächerung in der Krone die Offenheit der dynastischen Geschichte und das weitere Überleben des jeweiligen fürstlichen Geschlechts beschwor, manifestierte sich in der fixierten, geschlossenen Form der Ahnentafel das in der Vergangenheit erworbene genealogische Prestige, das in der Person des Probanden kulminierte. Insofern symbolisieren beide Darstellungsmodi die doppelte Zeitgebundenheit, denen das Handeln der vormodernen Fürstenhäuser unterworfen war. Ihre Raison d’être bestand in der Weitergabe von Herrschaftsrechten und Herrschaftsressourcen an nachfolgende Generationen. Der Planungshorizont der dynastischen Zeit reichte daher in der Regel etwa zwei bis drei Generationen in die Zukunft. Die Vor-Aussetzung und Vor-Geschichte des Herrschaftsübergangs bildete das in der Vergangenheit akkumulierte genealogische Kapital, das durch jede abgetretene Generation angereichert wurde. Unter dieser Perspektive kann das Überleben eines Fürstenhauses verstanden werden als die stetige Verwandlung dynastischer in genealogische Zeit.

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Abbildungen Abbildung 1: HAMAXURGUS, 1539, Fol. 3v.

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Abbildung 2: HENNINGES, 1598, S. 118f.

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Abbildung 3: TABULAE, 1656, Tabelle DVCES WVRTENBERG.

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Abbildung 4: ALBIZZI, 1608, Fol. XXXII.

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Abbildung 5: SPENER, 1658, S. 3.

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Abbildung 6: ZELL, 1563, Ahnentafel ALBERTVS (nach TABVLA XXXIIII).

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Abbildung 7: LAIRITZ, 1686, Kupfertitelblatt.

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Abbildung 8: RENTSCH, 1682, Frontispiz.

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Abbildung 9: BIRKEN, 1665, Titelblatt.

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Abbildung 10: SPENER, 1660, S. 1.

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Abbildung 11: WINKELMANN, 1677, S. 126f.

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Abbildung 12: HESSEN-DARMSTADT, 1661, Stich 18.

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Abbildung 13: LEHMANN, 1694, Bl. a5v-a6r.

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Vor rund dreißig Jahren stellte Henning Eichberg in seiner Habilitationsschrift die These auf, dass es – analog zu den sozialen Umwälzungen der Sattelzeit – im gleichen Zeitraum zu einer Dynamisierung des Bewegungsverhaltens gekommen sei.1 Als Beleg stellte er unter anderem das Rossballett dem Pferderennen, das geometrisch orientierte Fechten dem pragmatisch zielgerichteten Boxen, das Menuett dem dynamischen Walzer gegenüber und resümierte, „dass die Übungen vor der Zäsur gekennzeichnet waren durch positionelle und zirkulierende Bewegungen im Raum, durch Normen des Maßes, der Figürlichkeit und Förmlichkeit. Den Übungen nach der Zäsur war eine Konfiguration gemeinsam, in der eine zeitliche Dynamik und Unumkehrbarkeit eine prägende Rolle spielte: Leistungssteigerung, Spannung, Geschwindigkeit.“2 Auch wenn Eichbergs (lediglich hypothetisch vorgebrachte) Analogiesetzung zwischen Bewegungsformen und Gesellschaftskonstellationen heute aufgrund der stärkeren Ausdifferenzierung in Hinblick auf ethnische Zuschreibungen, soziokulturelle Gruppierungen, Geschlecht und Alter methodisch problematischer als damals erscheint, suggerieren aktuell vorgebrachte Hypothesen zur Entstehung des modernen Sports weiterhin die Entwicklung von einem frühneuzeitli1 2

EICHBERG, 1978. Zum Konzept der Sattelzeit vgl. den Beitrag von Stefan JORDAN in diesem Band. EICHBERG, 1978, S. 299. 83

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chen, von gemessenen Bewegungen geprägten Modell der Eliten beziehungsweise von brachialen und chaotischen Belustigungen des Volkes hin zu einem stärker dynamischen, aber auch zunehmend reglementierten Ideal.3 Ungeachtet der wachsenden Beschleunigung im Bereich des Verkehrs und der Nachrichtenübermittlung, die sich im Verlauf der gesamten Frühen Neuzeit beobachten lässt und weit vor 1800 zurückreicht,4 möchte ich dem am Beispiel der Wahrnehmung und Bewertung des Wettlaufens im 18. und frühen 19. Jahrhundert entgegensetzen, dass dessen Einschätzung weniger epochal als sozial differierte und dass diese Bewertung im engen Zusammenhang mit der Tätigkeit des Laufens als Beruf zu sehen ist, der – da er im wörtlichen Sinne im Schweiße des Angesichts vollzogen wurde – als nicht standesgemäß galt. Schnelligkeit wurde gleichwohl schon weit vor der Sattelzeit geschätzt, aber eher bei der Dienerschaft als bei der Herrschaft. Die Eliten wandten sich hingegen erst lange nach der Sattelzeit dem Wettlauf zu. Dazu werde ich in drei Schritten das Laufen in seiner Eigenschaft als sportliche Übung (1.), aus medizinischer Perspektive (2.) und in sozialer Hinsicht (3.) jeweils in der zeitgenössischen Wahrnehmung und Bewertung untersuchen und konzentriere mich hierbei aus Gründen der Kohärenz vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum.

1. Die zögerliche Aufnahme des Laufens in den Übungskanon der Leibeserziehung Anders als man aufgrund der Ausgangshypothese vermuten würde, erschien das Laufen durchaus in den Standardwerken frühneuzeitlicher Adels- und später auch Bürgererziehung: Baldassare Castiglione empfahl es in seinem vielfach aufgelegten und übersetzten Libro del Cortigiano (Venedig 1528) als standesgemäße Körperertüchtigung.5 Man sollte sich nur bei einem Wettkampf „[…] des Sieges gleichsam sicher sein, sonst lasse man sich nicht darauf ein; denn es ist zu unpasssend und etwas zu Häßliches und Würdeloses, einen

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EISENBERG, 1999; GUTTMANN, 2004, S. 68f.; THOMAS, 2001. BEHRINGER, 2003. CASTIGLIONE, 1960, S. 48: „Angemessen ist es ferner, schwimmen, springen, laufen und Steine werfen zu können, da es außer dem Nutzen, den man daraus im Kriege ziehen kann, häufig vorkommt, sich in derartigen Dingen beweisen zu müssen; man erwirbt sich damit hohe Achtung hauptsächlich der Menge, mit der man sich doch abfinden muß.“

Beschleunigung in der Sattelzeit?

Edelmann von einem Bauern besiegt zu sehen […].“6 Der italienische Arzt Girolamo Cardano (1501-1576) trainierte sich in seiner Jugend regelmäßig im Laufen,7 doch blieb er damit die Ausnahme. Der Wettlauf fand keine Aufnahme in die adeligen Exerzitien, zu denen neben Reiten, Fechten und Tanzen auch das Voltigieren auf dem Holzpferd gehörte.8 Weder wurden in den Ritterakademien an der Seite von Reit-, Fecht-, Ball- und Tanzmeistern auch Lauftrainer engagiert noch wies deren Infrastruktur (im Unterschied zu Ballhäusern, Reithallen und Fechtböden) Laufbahnen auf. Könnte man dies noch auf die materielle und körpertechnische Voraussetzungslosigkeit des Laufens zurückführen, so macht auch die seltene Erwähnung in theoretischen Überlegungen der Zeit deutlich, dass es anscheinend nicht einmal vorgesehen war. Veit Ludwig von Seckendorff war in seinem „Teutschen Fürsten-Stat“ von 1656 einer der wenigen, der das Laufen überhaupt nannte und auch in der Neuauflage von 1727 empfahl.9 Dies änderte sich in der Programmatik erst mit den Philanthropen, die nun auch für ein bürgerliches Publikum Leibesübungen in den Unterricht integrierten. Jean-Jacques Rousseau legte das Laufen in pädagogischer Absicht nahe,10 und das sogenannte „Dessauer Pentathlon“ des 1774 eröffneten Philanthropin bestand in deutlicher Abgrenzung zu den adeligen Exerzitien aus den stärker pragmatisch orientierten Disziplinen Laufen, Springen, Klettern, Balancieren und Tragen.11 Das Spektrum der von Johann Christoph Friedrich GutsMuths im 1784 gegründeten Philanthropin Schnepfenthal praktizierten Leibesübungen reichte von Springen, Laufen, Werfen, Ringen, Klettern über Balancieren, Heben, Ziehen, Tanzen und Gehen bis hin zu militärischen Übungen, Schwim6 7 8 9

EBD., S. 118. CARDANO, 1969, S. 30. MAHLER, 1921, S. 7, S. 11-13, S. 24. SECKENDORFF, 1727, S. 177: „§. 29. Die leibes-übungen der jungen herren bestehen in allerhand hurtigkeiten, und exercitien, welche anderswo in besondern büchern beschrieben sind, als tanzen, reiten, rennen, fechten, so wohl auch in zierlichen geberden, die ihnen, nach standesgelegenheit, anstehen, und sie durch solche dinge ein ansehen und beliebung machen, ihre höflichkeit darmit üben, auch wohl in krieges fällen sich deren gebrauchen können.“ Er warnt jedoch auf S. 800: „Daß mit fleiß verhütet werde, daß unsere söhne nicht mit schädlichen gefährlichen übungen, hand schertzen, ringen und steigen, rennen, oder dergleich, daraus sie zu fall oder verletzung kommen, oder doch den leib allzu sehr bewegen, oder sich unter einander beleidigen könten, ergetzen, […]“. 10 ROUSSEAU, 2004, S. 305-310. 11 Vgl. dagegen die stärker militärisch orientierten Disziplinen des antiken Fünfkampfes: Diskus- und Speerwurf, Weitsprung, Laufen und Ringen. 85

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men, lautem Lesen und Übungen der Sinne.12 Über die Schwierigkeit, das Laufen in diesen Kanon zu integrieren, schrieb GutsMuths jedoch noch 1793: „Mithin wird es sehr auffallend, wenn wir, scheinbar, alles Mögliche thun, um unsere Jugend das Laufen verlernen zu lassen. Die erste physikalische Behandlung scheint diese Fertigkeit ganz vernichten zu wollen; späterhin darf der Knabe oft kaum Mine machen, als wolle er laufen: so verbieten wirs als Unart, und wenn er erwachsener ist, so stellt sich vollends der feine Ton in den Weg und läßt ihn nicht durch. Medicinische Vorurtheile und eigene Bequemlichkeit kommen dazu und lassen uns nie zu einer Fertigkeit kommen, die doch jedem so nöthig und an sich unschädlich ist. – Es kann möglich seyn, daß wir vom Laufen die Schwindsucht bekommen, aber schwerlich liegt die Schuld am Laufen, sondern an uns selbst, wenn wir laufen müssen, ohne es je geübt zu haben.“13

Ist bei aufklärerischen Autoren auch die aus legitimatorischen und rhetorischen Gründen möglicherweise übertriebene Abgrenzung gegenüber althergebrachten Gewohnheiten in Rechnung zu stellen, so schien das Laufen doch schwieriger als andere Disziplinen durchzusetzen. Zwei Jahre später resümierte Gerhard Ulrich Anton Vieth in der Encyklopädie der Leibesübungen (1795): „Bey uns ist das Knabenalter die einzige kurze Periode, wo sich der Mensch im Laufen übt; unsere Jünglinge gehen schon mit langsamen Schritten einher, und der Mann vollends würde nicht, ohne lächerlich zu werden, es wagen dürfen, seine Beine zum Laufen zu gebrauchen.“14 Deutsche Reisende in Großbritannien wunderten sich bei den dort praktizierten Sportarten deshalb vor allem darüber, dass Erwachsene daran teilnahmen, ohne sich zu blamieren.15 Johann Wilhelm von Archenholz, der regelmäßig aus Großbritannien berichtete, war 1793 angesichts der aktiven Beteiligung eines Gentleman an einem Wettlauf abgestoßen, sah dies als Vergnügen der unteren Schichten und wurde nur durch die

12 GUTSMUTHS, 1793, S. 219-495. 13 EBD., S. 252f. Vgl. auch EBD., S. 261: „Zur Beruhigung aller derer, die bey diesen Angaben ängstlich werden möchten, setze ich noch besonders hinzu, daß von allen 22 Knaben, und von A, B und C besonders keiner jemals Nachtheil von dieser Uebung empfunden hat, und daß die letztern namentlich weiter zu laufen wünschten, weil sie nach ihrer Versicherung weder müde waren, noch Beschwerde empfanden.“ Er empfiehlt jedoch, nur an kühlen Tagen im Herbst und Winter zu laufen. 14 VIETH, Bd. II, 1795, S. 191f. 15 LANGFORD, 2000, S. 40, S. 45. 86

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Verschenkung des Preisgeldes milder gestimmt.16 Es schien mit den Ehrvorstellungen erwachsener, bürgerlicher und adeliger Männer wie Frauen auf dem Kontinent unvereinbar, sich derart zu hetzen. Schon der Gang der Briten wirkte auf Reisende vom Festland rascher, als sie es gewohnt waren.17 Doch auch medizinische Argumente gegen das Laufen, wie die bereits erwähnte Schwindsucht, wurden bis weit in das 19. Jahrhundert vorgebracht. So musste Friedrich Ludwig Jahn noch 1816 erklären, dass das „Laufen […], mit Vorsicht getrieben, eine besonders für die Brust und Lunge sehr heilsame Übung“ sei.18 Als Vorsichtsmaßnahme empfahl er u.a. die Übung „[…] an kühlen, windstillen Tagen.“19 Und: „Man laufe in der ersten Übezeit nur mit dem Wind, nicht gegen den Wind“,20 weshalb das suspekte Rennen auch bei ihm keine zentrale Rolle spielen sollte. Bezeichnenderweise hegte man auch in gesundheitlicher Hinsicht auf der britischen Insel weniger Bedenken.21 Dennoch scheint es an dieser Stelle notwendig, sich zunächst mit den medizinischen Implikationen des Laufens auseinanderzusetzen, um seine zögerliche Akzeptanz als sportliche Disziplin im deutschsprachigen Raum zu verstehen.

16 ARCHENHOLZ, Bd. 11, 1795, S. 368f.: „Der Oberst Cosmo Gordon, von der bekannten großen Familie, hatte den sansculottischen Einfall, sich öffentlich als Wettläufer zu zeigen. […] Er brauchte nur 56 Minuten zu dieser Operation, und gewann also die Wette, deren Betrag jedoch, um das Niedrige der Scene zu schwächen, in die Unterstützungs-Casse für die Witwen und Kinder der im Kriege gefallenen Soldaten gelegt wurde.“ 17 LANGFORD, 2000, S. 39. 18 JAHN/EISELEN, 1816, S. 7. 19 EBD., S. 9. 20 EBD. 21 Peter F. Radford hat 1999 herausgestellt, dass britische Ärzte bis weit in das 18. Jahrhundert ähnliche Bedenken gegen „extreme“ Anstrengung hegten. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts berichteten Zeitungen nicht nur vermehrt und detaillierter, sondern auch positiver von den gesundheitlichen Folgen des langen beziehungsweise schnellen Rennens. Ende des Saeculums konnte man an den nun zahlreichen professionellen Wettläufern ablesen, dass ihnen die Ausübung ihres Berufes anscheinend auch im mittleren und hohen Alter nicht schade und sie schon gar nicht in der Blüte ihres Lebens töte. Nun kamen auch Ärzte, wenn auch zögerlich, zu einer positiveren Bewertung schweißtreibender Bewegung, daneben hielt sich aber das bereits auf die Antike zurückgehende Ideal einer moderaten Leibesübung als der Gesundheit am zuträglichsten. Es war schließlich auch der auf die Antike zurückgehende Topos des Boten, der bei Übergabe seiner Botschaft erschöpft zusammenbrach, der die Wahrnehmung des Laufens bis zum Ende der Frühen Neuzeit prägte und erst allmählich durch neue Erfahrungen abgelöst wurde. RADFORD, 1999. 87

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2. Medizinische Bew ertungen des Laufens Medizinische Ansichten über das Laufen waren bis weit in das 18. Jahrhundert hinein durch das Berufsbild des Läufers geprägt. Zwar hatte der Ausbau der Post Botenläufer, die spätestens seit Beginn des 16. Jahrhunderts einen eigenen Berufsstand bildeten, zunehmend verdrängt, doch waren die kleineren deutschen Städte, die nicht an den von Postreitern bedienten Routen lagen, bis ins 19. Jahrhundert auf Botenläufer angewiesen.22 Für die meisten änderte sich jedoch das Berufsbild: Sie wurden nun von Adeligen und wohlhabenden Bürgern als Kuriere oder Vorläufer eingesetzt, welche bei einer Kutschfahrt den Weg zu erkunden, bei Unfällen auszuhelfen, des Nachts mit einer Fackel die Straße zu beleuchten, in den Städten den Weg durch die Menge zu bahnen und die Ankunft am Ziel anzukündigen hatten.23 Ein solcher Vorläufer wurde im Zedler 1737 wie folgt beschrieben: „Läuffer, Estafier, ist eine Gattung Aufwärter zu Fuß, die neben dem Wagen oder Pferde des Herrn lauffen müssen, so starck als die Pferde rennen. Damit sie hierzu geschickter seyn, führen sie Schuhe ohne Absätze, ein leichtes und auf besondere Art gemachtes Kleid, und einen langen Stock in der Hand. Zum lauffen werden sie von Jugend auf abgerichtet durch gewisse Uebungen in bleyernen Schuhen, die an Gewichte von Zeit zu Zeit vermehret werden, nicht aber durch Ausschneidung der Milz, wie man irrig geglaubet.“24

Die Vorstellung, dass man Läufern die Milz operativ entfernte beziehungsweise wegbrannte, um das Seitenstechen zu verhindern, wurde aus antiken Schriften trotz der Zedlerschen Widerlegung bis in das späte 18. Jahrhundert tradiert.25 Die Behauptung, dass ein Läufer so schnell wie ein Pferd rennen müs22 BEHRINGER, 2003; OETTERMANN, 1984, S. 17, S. 22, S. 24. 23 EBD., S. 31, S. 35; PURRUCKER, 1999, S. 1. 24 ZEDLER, Bd. 16, 1737, Art. „Läuffer“, Sp. 208. Vgl. auch KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Läufer“, S. 80-93, hier S. 80: „Besonders sind die Läufer, gelernte Läufer, Kunst=Läufer, Läufer von Profession, auf besondere Art gekleidete Bedienten, welche vor dem Wagen oder Pferde ihres Herren herlaufen.“ 25 Vgl. KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Laufen“, S. 27-76, hier S. 56: „Nach dem Zeugnisse einiger Schriftsteller, sorgten auch noch insbesondre die chirurgischen Aerzte für die Kämpfer im Wett=Laufe, und zwar besonders für die Milz derselben, daß sie nicht aufschwoll, und sich nicht verhärtete, weil beyde Zufälle im Laufen hindern. Sie suchten daher die Milz theils durch Equisetum, die ȚʌʌȠȣȡȚı der Griechen, zu vermindern, theils dieselbe durch das Messer und den Schnitt, 88

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se, erscheint hingegen nur auf den ersten Blick völlig unglaubwürdig und wird aus zahlreichen anderen Quellen belegt. So bestätigte auch Vieth: „Von einem gelernten Läufer verlangt man, dass er einem Pferde im Trabe gleichlaufe; und dies auf die Dauer aushalten könne.“26 Und in Krünitz‘ Oekonomischer Encyklopädie findet man 1795: „Geübte Läufer kommen Pferden zuvor, oder halten solche Bewegungen doch viel länger aus; und selbst bey gemäßigter Bewegung, wird ein Mensch, der des Gehens gewohnt ist, täglich weiter kommen, als ein Pferd, und wenn er nur eben so weit geht, und so viel Tage gegangen ist, daß das Pferd nicht mehr fort kann, wird er im Stande seyn, noch weiter zu gehen, ohne viele Beschwerde zu empfinden.“27

In Rechnung stellen muss man bei all diesen Aussagen die frühneuzeitlichen Straßenverhältnisse, das heißt die vielfach nicht gepflasterten Wege: So legten Postkutschen an einem Tag im Durchschnitt etwa 37 Kilometer zurück. Von Weimar nach Erfurt benötigte ein Reisewagen um 1700 ungefähr fünf, ein Fußgänger aber nur vier Stunden.28 Einen Wagen zu überholen, war somit tatsächlich kein Kunststück, auch im Gebirge konnte man leicht schneller als ein Pferd vorankommen, wohingegen ein Kutscher bei ebener Strecke und guten Straßenverhältnissen die Pferde schon einmal zurückhalten musste, um den Läufern Vortritt zu lassen.

oder durch das Brennen und eine Art von Mora, ganz wegzuschaffen. Zum Brennen sollen sie theils getrocknete und dürre Schwämme, welche man da, wo die Milz liegt, auf der Haut von aussen verbrannte, theils gar glühende Instrumente gebraucht haben. Es ist aber eine bloße Erzählung und Einbildung, wenn Einige vorgeben, daß auch noch heut zu Tage den Läufern, damit sie desto schneller und geschwinder laufen könnten, die Milz genommen werde. Wer nach und nach geübt wird, der fühlt endlich keine Milz=Stiche mehr; und es ist nicht zu vermuthen, daß ein Eingeweide ohne Nachtheil sollte vernichtet werden können, wenn es gleichnur die Milz ist, deren Nutzen im menschl. und thierischen Körper die Physiologen freylich nicht recht bestimmt anzugeben scheinen.“ 26 VIETH, Bd. II, 1795, S. 193f. Vgl. auch EBD., S. 194: „Ueberhaupt ist grosse Ausdauer mit gemässigter Geschwindigkeit schätzbarer, als grosse Geschwindigkeit ohne Ausdauer; […] Es giebt Läufer die es in beyden unglaublich weit bringen, die 15, ja 20 Meilen in einem Tage machen, und vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abend fast ohne Unterbrechung fortlaufen.“ 27 KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Läufer“, S. 80-93, hier S. 83. 28 MÜNCH, 1998, S. 428. 89

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Diese sogenannten Galaläufer hatten im Unterschied zu ihren Vorgängern durch ihre gewandelte Funktion auch ein anderes Erscheinungsbild: Sie wurden dynamischer, weil sie in der Regel kürzere Strecken in schnellerem Tempo zurückzulegen hatten, und waren als Statussymbole ihrer zumeist adeligen Herrschaft ausgesprochen elegant gekleidet.29 Läufersein wurde aufgrund der erforderlichen Kondition, Schnelligkeit und Technik zum Ausbildungsberuf, den man erlernen musste und der häufig vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde.30 In Wien, wo es besonders viele Läufer gab,31 hatten Lehrlinge eine regelrechte Lauf-Gesellenprüfung abzulegen. Dafür musste jeder junge Mann, bevor er von der zunft-ähnlichen Läufervereinigung anerkannt wurde, einen sogenannten Freilauf von Mariabrunn und zurück (rund 18 km) in einer Stunde und zwölf Minuten absolvieren.32 Vieth berichtete in seiner Encyklopädie der Leibesübungen 1795: „Einige gelernte Läufer pflegen ihrem Lehrlinge gleich Anfangs eine ziemlich schwere Uebung aufzuerlegen, indem sie ihn eine Zeitlang auf unebnem Boden, z.B. im frisch geackerten Felde oder im tiefen Sande, bis zum Hinstürzen herumjagen; – eine Methode, die zwar nicht zu tadeln ist, weil der Lehrling dadurch lernt die Schenkel zu heben, welche aber leicht übertrieben wird. Andere nehmen den Lehrling an der Hand, und laufen mit ihm so lange, bis er nicht mehr kann. Man hat Beyspiele, dass ein solcher gleich nach dem ersten Versuche vom Blutsturz befallen, und kurz darauf gestorben ist.“33

29 PURRUCKER, 1999, S. 1, S. 3, S. 6. 30 OETTERMANN, 1984, S. 36; PURRUCKER, 1999, S. 3. 31 Vgl. z. B. PEZZL, 1923, S. 203: „Läufer sind zahlreich. Man braucht sie hauptsächlich, Briefe und Nachrichten in der Stadt herumzutragen und zu Nachts mit einer Fackel vor dem Wagen herzulaufen …“ Vgl. auch noch in der Neuausgabe von Dems., 1805, S. 101f.: „Ganz anders ist es mit den Fackeln, womit die Läufer vor den Kutschen herrennen. Der kaiserliche Hof hat keine Läufer, und wenn er bey Nacht durch die Stadt oder Vorstädte fährt, so hat er vor seinem Wagen zwey Vorreiter mit geschlossenen Laternen. Dieses bescheidene und vernünftige Beyspiel nachzuahmen, hat den Großen in Wien noch nicht beliebt, und es wird wohl noch die Zeit kommen, daß man ihnen durch ein Gesetz die brennenden Fackeln vor den Wagen verbiethen wird, wie man ihnen schon hat verbiethen müssen, mit diesen Fackeln über die Thorbrücken zu fahren. – Daß die schnaubenden Bengel von Läufern die übrigen friedlichen Fußgänger oft halb zu Boden werfen, und beinahe täglich mit dem schmelzenden Pech irer Fackeln beträufeln: […]“. 32 OETTERMANN, 1984, S. 51; Zur Geschichte der Wiener Laufer, 1898, S. 167. 33 VIETH, Bd. II, 1795, S. 193f. 90

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Trotz ihrer beachtlichen Leistungen verloren Vorläufer mit dem Ausbau und der Verbesserung der Straßen an praktischer Bedeutung und repräsentierten zunehmend vor allem Macht und Reichtum ihrer Dienstherren,34 zumal nicht nur die Ausstattung, sondern auch die Bezahlung guter Läufer über der sonstigen Dienerschaft lag.35 Herrschaftliche Läufer trugen auffällige und kostbare Livreen, die häufig genau beschrieben und in Material wie Schnitt immer raffinierter und aufwendiger wurden.36 Denn das Hofzeremoniell gab zwar die Anzahl der Läufer vor, nicht aber ihre Ausstattung. Mit ihrer durchtrainierten und schlanken Gestalt galten sie als ausgesprochen attraktiv und erotisch anziehend. Nicht zuletzt war der heimlichen Liebschaften oder Intrigen durch den Austausch von Nachrichten dienende, verschwiegene, aber auch zwielichtige Läufer ein Topos der frühneuzeitlichen Literatur. Von solchen professionellen Läufern schrieb der italienische Arzt Bernardino Ramazzini in seiner Abhandlung über die verschiedenen Berufskrankheiten aus dem Jahr 1700: „Meistens bekommen sie einen Bruch und werden asthmatisch, ein Leiden, das wir auch bei Rennpferden feststellen können. Oft haben sie sogar Blut im Auswurf. […] Läufer werden außerdem mager, schlank wie Binsen und sehen wie Jagdhunde aus, weil mit dem Schweiß ja auch die flüchtigen Bestandteile des Blutes und die ernährende Lymphe verbraucht werden. Oft werden sie auch von Krankheiten im Kopfbereich verfolgt. […] Läufer ziehen sich darüber hinaus oft akute und schwere Krankheiten der Brustorgane wie Pleuritiden37 und Peripneumonien38 zu, weil sie ja Wind und Wetter ausgesetzt, zu leicht gekleidet und unzureichend geschützt sind; wenn sie in Schweiß gebadet sind und sich dann erkälten. Weil die Poren der Haut verstopft sind, werden sie natürlich

34 OETTERMANN, 1984, S. 31; PURRUCKER, 1999, S. 1, S. 6. 35 Halgard Kuhn hat aus den Unterlagen des verstorbenen Hans Wolfgang Kuhn die Biographien zweier Läufer rekonstruiert, die zwischen 1755 und 1812 am kurtrierischen Hof tätig waren. Läufer gehörten zur sogenannten livrierten Hofdienerschaft, die eine soziale Gruppe für sich bildete. In der Hierarchie standen Läufer hinter Leiblakaien und Heiducken, ihre Bezahlung war jedoch wesentlich höher (KUHN, 1997, S. 411, S. 413). Auch Barbara Purrucker berichtet, dass die beiden Läufer des Fürstbischofs von Hildesheim 1763 das Doppelte des Lakaien-Lohns erhielten (PURRUCKER, 1999, S. 14). 36 Dies und das Folgende OETTERMANN, 1984, S. 32, S. 42, S. 57; PURRUCKER, 1999, S. 6f., S. 9f., S. 13, S. 21-23. 37 Rippen- oder Brustfellentzündungen. 38 Lungenentzündungen. 91

Rebekka von Mallinckrodt von lebensgefährlichen Krankheiten befallen, insbesondere im Bereich der Atemwege, die beim Laufen ja am meisten beansprucht und überhitzt werden. Manchmal haben sie auch Blut im Urin, wenn ein Gefäßchen der Nieren reißt.“39

Und er schloss: „[…] daß heutzutage vierzigjährige Läufer von ihrem Posten in Ruhestand versetzt und in öffentliche Krankenhäuser eingewiesen werden.“40 Ramazzini prägte mit dieser negativen Darstellung des professionellen Laufens nachdrücklich dessen medizinische Wahrnehmung im 18. Jahrhundert, zumal sein Werk zahlreiche Neuauflagen erfuhr.41 Auch andere Ärzte, die sich im Rahmen der Diätetik mit der Gesundheit ab- bzw. zuträglichen Bewegungen beschäftigten, fanden es daraufhin bedenklich. Engelbertus Andreas Otto, der bei Friedrich Hoffmann 1701 eine Dissertation über gesundheitsfördernde Übungen verfasste, warnte vor der Austrocknung und Schwächung des Körpers durch das Laufen, das nicht nur zu Kopfschmerzen, sondern auch zu Blutstürzen und Lungenentzündung führen könne.42 Gottfried Samuel Bäumler ging 1738 davon aus, dass das Rennen das Blut zu sehr erhitze und in Wallung bringe.43 Zu starke Bewegung greife die Gesundheit an, weshalb man nach Bäumler lediglich bis zur Errötung, nicht aber bis zum Schwitzen Sport treiben solle.44 Laut Georg Gottlob Richter (1694-1773) schade der Lauf vor allem 39 RAMAZZINI, 1998, S. 155f. 40 EBD., S. 158. 41 KOELSCH, 1912, S. 26f., Anm. 2: zum Beispiel lateinische Ausgaben „De morbis artificum diatriba“ 1700, 1703, 1707, 1709, 1711, 1713, 1743, 1745; deutsche Ausgaben 1705, 1718, 1780, 1783. 42 HOFFMANN/OTTO, 1701, S. 21f., § XXX: „Vehementior autem motionis species est cursus; qui sicuti corpus plus calefacit & humores intensius movet, ita magis corpora ex siccat, extenuat, viscidum resolvit, obstructionum claustra perumpit; modo illa observetur regula ne plethoricis & qui multum sangvinis crassi in venis alunt imo insuetis, imperetur: alias sangvinem nimis commovendo, lassitudinem non modo, sed & dolores capitis, oppilationes hepatis, hæmorrhagias, asthmata inflammationes in pulmonibus excitare valet.“ 43 BÄUMLER, 1738, S. 456: „Wie nun eine mittelmäßige Bewegung des Leibes durchgehends gar gesund/also schadet hingegen ein allzustarckes und geschwindes Gehen oder Lauffen/weiln dadurch das Geblüt allzusehr erhitzet/und ins Wallen gebracht wird/daß es gegen die Gebühr bald da bald dorthin/ entweder nach dem Haupt/Lunge/Leber/Miltz/oder andere Gliedern häuffig zufliesset/und eine schmertzhaffte Empfindung verursachet.“ 44 EBD., S. 449f.: „Es muß also diese Bewegung auch rechtmäßig beschaffen/und nicht zu starck/noch weniger aber zu gering seyn Denn/wo solche allzustarck/und auf einmahl unternommen wird; so werden dadurch nicht nur die Muscu92

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dem Kopf, erzeuge Seitenstechen und behindere nach dem Essen die Verdauung. Er warnte vor dem Langlauf, der jedem abträglich sei, dem Lauf gegen eine Steigung oder bei Gegenwind, weil er Lungen-, Rippen- und Brustfellentzündungen hervorrufe.45 Johann Christian Gottlieb Ackermann meinte 1777, dass das Rennen als zu heftige Bewegung den Erwachsenen, insbesondere den Gelehrten, meist nachteilig sei, da es das Blut in den Kopf treibe und der Atem kurz und heiß werde.46 Im gleichen Sinne äußerte sich Johann Christian Reil 1787 und auch noch in der Neuauflage seines Diätetischen Hausarztes 1812: „Doch schadet beides, sowol das zu viele als zu starke Gehen. Fußboten und Expressen bekommen zulezt von ihrem Gewerbe reissende Schmerzen in den Beinen, steife Knie und bebende Füße. Das Lauffen ist, wenn es zu lange löse/veste/und fleischlichte Theile/durch ihre abwechslende Anstremmung /allzuhefftig angegriffen und angezogen/und folglich die Glieder zuviel ermüdet: Sondern es werden auch die natürliche Feuchtigkeiten auf einmahl zustreng erhitzet/auf einander angerieben/und verzehret.“ Vgl. auch EBD., S. 451: „Diejenige Bewegung ist die beste/wann dadurch das Geblüt nicht zu sehr erhitzet/und zwar die Haut zur Röthe/nicht aber zum Schweiß gebracht wird; da nun hierinnen ein jeder Mensch seine Freyheit hat/als kan er sich auch in seinen Bewegungen nach diesen Umständen einrichten.“ 45 RICHTER, 1780, S. 250f.: „[3tio] Cursum, qui motus velocior & vehementior, caput inprimis lædit, & commotos humores retento spiritu sursum pellit puncturas sinistri hypochondrii gignit, maxime post cibum turbat coctionem, pura impuris miscet, & secretiones impedit: diu continuatus nulli non nocet, maxime herniosis & rene affectis, plethoricis etiam & omnibus insuetis, quorum denique sanguis vel crassior vel vasa teneriora, unde infarctus inflammatorii vel hæmorrhagiæ. Caveatur inprimis cursus per acclivia vel vento adverso, quorum ille plus fatigat ob nixum corporis, hic magis figens sanguinem per pulmones transeuntem, parit affectum peripneumonicum vel pleuriticum.” So auch in der Ausgabe: Pavia 1789, S. 246f. sowie in der Neuauflage: Bern 1791, S. 250f. 46 ACKERMANN, 1777, S. 190f.: „Einem Erwachsenen ist das Laufen meist mehr nachtheilig, als nützlich, wenn er nicht die Stärke eines Griechischen Jünglings hat. Die zu plötzlich bewegten Glieder treiben die Säfte mit dem stärksten Anstoß fort, der Athem wird bey der laufenden Person geschwind, kurz und heiß, und die tiefe Röthe des Gesichts zeugt von dem heftigen Zustrom des Blutes nach dem Kopf, und von dem lebhaften Eindringen deßelben in kleinere Gefäße. Wenn die Maschine eines sehr starken Anstoßes bedarf, und der Körper sonst stark, aber verdroßen ist, und dem Herz die Kräfte, das Blut lebhaft fortzuführen, zu mangeln scheinen, ist ein nach einer gelinden Bewegung angestelltes, nicht allzulang fortgesetztes Laufen eine sehr wohlthätige Bewegung, den meisten Gelehrten aber, ist diese Leibesübung wegen der heftigen Bewegungen in dem Körper, die sie befürchten läßt, nachtheilig, falls nicht ihr Körper eben so beschaffen ist, wie eben gesagt worden.“ 93

Rebekka von Mallinckrodt fortgesezzet wird, einem jeden, vorzüglich Ungewonten, schädlich; und Vollblütige, an Brüchen und Stein kranke Personen, sollen sich diese Bewegung gar nicht erlauben. Nach Tisch verdirbt es die Verdauung, im Winde lauffen, kann Seitenstich und Lungen-Entzündung hervorbringen.“47

War das hier anklingende Ideal der Mäßigung aus der Antike tradiert, so äußerten sich griechische und römische Ärzte durchaus nicht so kritisch zum Laufen wie ihre Kollegen des 18. Jahrhunderts.48 Dass an dieser Stelle soziale Bedenken medizinisch verbrämt im Hintergrund standen, kann man nur mutmaßen, da sie an keiner Stelle explizit genannt werden. Bürgerliche und Adelige, an die sich die meisten der ärztlichen Traktatschreiber wandten, hatten aber vor allem deshalb so wenig Kondition, weil es Aufgabe der Dienerschaft war, körperliche Arbeit zu verrichten. Dass deren Lebenserwartung häufig geringer war als die ihrer Herrschaft, mag mit dazu beigetragen haben, allzu große und andauernde körperliche Anstrengung als der Gesundheit abträglich zu betrachten. Deutlicher fassbar wird die soziale Bewertung des Rennens und vor allem dessen Wandel im Verlauf der Sattelzeit in der Beschreibung von Wettläufen.

3. Soziale Konte xte und Bew ertungen des We ttlaufs Seit dem 15. Jahrhundert wurden in Norditalien, Süddeutschland, Südfrankreich und England regelmäßig Wettläufe von Männern und Frauen als Beiprogramm zu Schützenfesten, aus Anlass von Volksfesten und zur Karnevalszeit veranstaltet.49 Man lief und schaute zur eigenen und fremden Belustigung, doch nicht immer war dieses Vergnügen ein harmloses. So wurden zur Karnevalszeit in Rom nicht nur Knaben und alte Männer nackt den Corso hinunter gejagt, sondern auch Juden. Aus anderen Städten sind Prostituiertenläufe überliefert. Häufig, aber nicht immer hatten Wettrennen somit einen sozial degradierenden Charakter. Auf der anderen Seite nahmen auch Frauen aus den mitt47 REIL, 1787, S. 252. Vgl. auch DERS., 1812, S. 190 in identischer Formulierung, lediglich mit veränderter Orthographie. 48 Vgl. die antiken Beispiele für die positive gesundheitliche Bewertung des Laufens bei KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Laufen“, S. 54f. 49 Dies und das Folgende GUTTMANN, 2004, S. 60f.; DERS., 1991, S. 62-65; OETTERMANN, 1984, S. 123. 94

Beschleunigung in der Sattelzeit?

leren Schichten aktiv an Wettläufen teil.50 In England wurden Rennen zwischen Frauen nach dem als Preis ausgesetzten Kleid smock races genannt, waren weit verbreitet und dienten wegen der dabei gebrauchten leichten Kleidung der Teilnehmerinnen häufig auch den voyeuristischen Interessen der männlichen Zuschauer. Nach Peter F. Radford fanden sie sogar häufiger zwischen Frauen und Mädchen als zwischen Männern und Jungen statt.51 Für England sind außerdem Wettläufe zwischen Greisen, Schwangeren, Behinderten, Dicken oder auch Kleinkindern überliefert.52 Sogenannte freak runs wurden somit genau zwischen denen ausgetragen, die am wenigsten zum Schnelllaufen geeignet schienen. Veranstaltet wurden diese Rennen von Bürgern und Adeligen, die selbst nicht aktiv teilnahmen, aber auf deren Ausgang hohe Wetten abschlossen. Solche Wettläufe mit volkstümlichem, satirischem, degradierendem oder erotischem Charakter sind auch für den europäischen Kontinent im 18. Jahrhundert überliefert.53 1795 kann man zum Beispiel in Krünitz‘ Oekonomischer Encyklopädie über den Schäferinnenlauf in Bretten lesen: „Zu Bretten, einer kurpfälzischen Oberamts=Stadt, ist noch jährlich auf Laurentii=Tag, unter den sämmtlichen Schäfer=Mädchen ein Wettlaufen, welches bey einem großen Zusammenlaufe des Volkes auf das feyerlichste vor sich geht. Der Gewinn besteht in einem Hammel und in gewissen Kleidungsstücken, um welche sämmtliche Schäferinnen in einer leichten Kleidung dem Ziele entgegen laufen. Da erwartet der Beamte die behende Siegerinn und belohnt ihre Munterkeit.“54

50 Dies und das Folgende ANDERSON, 1980, S. 65; COLLINS, 2005, S. 203; GUTTMANN, 2004, S. 72; DERS., 1991, S. 64f., S. 71-73, S. 84; RADFORD, 2003, S. 429. 51 DERS., 1999, S. 90; DERS., 1996. 52 Dies und das Folgende ANDERSON, 1980, S. 56, S. 58, S. 66f.; GUTTMANN, 2004, S. 72; DERS., 1991, S. 73; OETTERMANN, 1984, S. 119. 53 Vgl. zum Beispiel DEPPING, 1881, S. 137: „In mehreren Gegenden Deutschlands wird auch unter den Weibern ein Wettlauf gehalten. Einer der bekanntesten findet am St. Bartholomäustage zu Markt-Gröningen im Königreiche Württemberg statt.“ Siehe auch OETTERMANN, 1984, S. 127: „Das jährliche Belzlaufen dreier alter Weiber im Gostenhof zu Nürnberg“, Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. KYSELAK, 1829, S. 145f. berichtet 1825 über Hallein: „Einige Tage früher soll noch ein interessanterer Wettlauf von ledigen Dirnen aus der Umgebung Statt gefunden haben; den Preis machten unverarbeitete Kleidungsstoffe.“ 54 KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Laufen“, S. 69f. 95

Rebekka von Mallinckrodt

Die erotische Komponente des Schäferinnenlaufs ist offensichtlich und bezeichnenderweise rannten die ledigen Meistertöchter und -söhne (der ehemals als unehrlich angesehenen Schäfer) hier um die Wette, die sich bei dieser Gelegenheit somit wechselseitig begutachten konnten.55 Undenkbar hingegen, dass eine Bürgers- oder Adelsfrau in ähnlicher Weise leicht bekleidet über Feld und Wiesen rannte, ohne an ihrer Ehre Schaden zu nehmen. Und auch für adelige wie bürgerliche Männer schien der Wettlauf aufgrund der hier nachgezeichneten sozialen Kontexte wenig erstrebenswert. In der Aufklärungszeit gerieten solche Rennen, insbesondere wenn sie von der Herrschaft ausgerichtet wurden, um ihre Läufer gegeneinander antreten zu lassen, zunehmend in die Kritik. Spätestens im 18. Jahrhundert war die britische Mode, auf deren Ausgang hohe Wetten abzuschließen, auch in Wien angelangt.56 Zum Ausgang des Saeculums waren Wettrennen feste Einrichtungen, die Tausende von Zuschauern anzogen. Der Wiener Polizeidirektor Ley zeigte sich 1795 hingegen weniger begeistert: „In weniger als drey viertel Stunden kamen die Ersten der Preiswerber zum Ziel zurück, wovon aber einer, und zwar der Laufer der verwittibten Frau Gräfin von Palffy, wie todt zur Erde fiel, dem auch sogleich nicht nur der medicinische, sondern auch der geistliche Beystand geleistet werden mußte. Einen anderen traf fast das nähmliche Schicksal, der aber sogleich durch seine dazu gekommene Gattin gelabet und in einem Wagen fortgeführet wurde. Dem Vernehmen nach sind auch Einige äußerst elend auf der Straße zwischen Mariabrunn und der Linie liegen geblieben.“57

Er riet, die Wettläufe wegen ihrer Gefährlichkeit für Teilnehmer und Publikum und der „widrige[n] Stimmung, die dieserwegen bemerkt wurde,“ ganz einzustellen.58 Auch die Britin Mrs. Saint Georges äußerte sich in ihrem Reisebericht 1801 eher entsetzt als amüsiert: „Diese Unglücklichen laufen in der Stadt und in den Vorstädten stets der Kutsche ihrer Herrschaft vorauf. Sie halten diese Anstrengung nur drei oder vier Jahre aus und sterben gewöhnlich an der Auszehrung. Ermüdung und Krankheit

55 56 57 58 96

GEHRES, 1805, S. 33. OETTERMANN, 1984, S. 54. ZUR GESCHICHTE DER WIENER LAUFER, 1898, S. 163f. EBD., S. 165.

Beschleunigung in der Sattelzeit? sind aus ihren bleichen und hageren Gesichtszügen zu erkennen; wie das zum Opfer bestimmte Schlachtvieh sind sie mit Blumen bekränzt und mit allerhand Flitterwerk geziert.“59

Dabei waren Vorläufer auch in Großbritannien noch nicht lange abgeschafft worden.60 Tatsächlich waren die viel befürchteten Todesfälle durch Überanstrengung die Ausnahme, denn oft hört man von Dienern, die zwanzig bis vierzig Jahre lang ihren Dienst versahen.61 Es wird aber in den Quellen deutlich, dass die Gewohnheit reicher und adeliger Herrschaften, Menschen wie Tiere gegeneinander um die Wette laufen zu lassen, an Akzeptanz verlor. In der Aufklärung verband sich deshalb mit der Kritik an den Wettläufen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die grundsätzliche Kritik am opulenten Lebensstil und an der menschenverachtenden Hetze.62 In Krünitz‘ Oekonomischer Encyklopädie konnte man 1795 lesen: „In großen Städten, wo die Anzahl der Häuser, welche einen oder mehrere Läufer halten, beträchtlich ist, steigt auch jene von dieser sehr hoch; und folglich ist dieser Stand, noch immer zahlreich genug, […]. Wie mag aber diese [die Polizeiaufsicht], (da manche Aeltern ihre wohlgewachsenen Söhne zu diesem Stande anleiten, weil diese Gattung von Bedienten überhaupt höher in Lohn steht,) so viele wohlgewachsene Jünglinge sich einem so lebensgefährlichen Berufe gewidmet sehen? wie mag sie Geduld haben, zu zulassen, daß die Menschheit von einem jeden, dem es einfällt, Menschen perforciren und sclavisch vor seinem Wagen durch Koth und Sümpfe springen zu lassen, wo keine Noth dergleichen Härte entschuldigen kann, so mißhandelt werde? Daß ein regierender Herr seine Läufer nahe um sich habe, um seine Befehle auf jeden Augenblick, wo man nicht immer einen Reitenden haben kann oder aus andern Ursachen nicht schicken mag, aussenden zu können; dazu findet sich ein vernünftiger Grund; aber daß jeder Junker, dem das Schicksal einige tausend Thaler jährlich 59 DEPPING, 1881, S. 128f. Der Originaltitel war aufgrund der Angaben bei Depping nicht nachzuweisen. 60 Vgl. EBD., S. 131f.: „Der Herzog von Queensbury, der 1810 starb, hielt länger als irgend ein Edelmann in London an dieser Sitte fest.“ Depping nennt sogar noch britische Beispiele für Vorläufer aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (zu datieren nach der frz. Originalausgabe von DEMS. von 1869; EBD., S. 133). Vgl. auch ANDERSON, 1980, S. 59. Krünitz nennt ein englisches Beispiel von 1769 (KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Läufer“, S. 84). 61 OETTERMANN, 1984, S. 39. 62 EBD., S. 44. 97

Rebekka von Mallinckrodt zu verzehren zugewiesen hat, seinen Stat darin suche, daß sich jährlich ein Mensch in seinen Diensten lungensüchtig laufe, oder, die Ehre des Hauses zu retten, sich den Hals einstürze: das ist doch offenbar den Charakter des Menschen zu weit herabgewürdigt. Der Stat muß demnach bestimmen: wenn es erlaubt seyn möge, Läufer zu halten; die Wetten zwischen den Dienst=Herren sowohl, als zwischen den Läufern selbst, in Ansehung der größern Geschicklichkeit und Behendigkeit im Laufen des einen vor dem andern, müssen, weil dabey immer der Natur viel zu viel geschieht, nie ungestraft bleiben, und es muß nicht leicht einem reichen Bürger gestattet werden, daß er Pferde und Menschen in Eine Classe setze, und diese dazu brauche, um in vollem Schweiße der Welt einen empfindungslosen Weichling anzusagen.“63

In Frankreich wurde folglich mit der Französischen Revolution der Vorläufer abgeschafft.64 In Wien hielt man jedoch bis Mitte des 19. Jahrhunderts an dieser Mode fest, 1822 wurde das sogenannte Lauferfest sogar in den Prater verlegt, was seine Popularität noch steigerte.65 Zugleich wuchs im Vormärz erneut die Kritik. In den Neuen komischen Briefen des Hans Jörgels von Gumpoldskirchen konnte man 1840 lesen „[…] Wie i a die Pferdewettrennen und die Lauferei im Prater für nix anders als für eine Roß- und Menschenmarterei halt. Wenn a die Laufer nur unter die gemeine Klaß Menschen g‘hörn, die Roß aber lauter edle seyn, so g‘hört sich’s do nit, daß man Menschen und Roß so gleich stellt; […].“66 Nach der 1848er Revolution schien der Wettlauf der herrschaftlichen Laufer, der 1847 zum letzten Mal stattfand (und im Übrigen aus medizinischer Perspektive immer noch als schädlich angesehen wurde),67 wie auch der Beruf des Vorläufers selbst als Zeichen adeliger Herrschaft zu gefährlich und provokativ. Folglich beschäftigte man die ehemaligen Läufer, falls sie nicht entlassen wurden, lieber als Kammerdiener oder Stallburschen.68 Damit wurden Läufer, nach der Ablösung durch die Post, ein zweites Mal arbeitslos und suchten als selbständige Kunstläufer nach neuen Möglichkeiten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie ihre Fertigkeiten auf Jahrmärkten 63 64 65 66

KRÜNITZ, Bd. 66, 1795, Art. „Läufer“, S. 87f. OETTERMANN, 1984, S. 44. ZUR GESCHICHTE DER WIENER LAUFER, 1898, S. 163. Neue komische Briefe des Hans Jörgels, Wien 1840, H. 8, S. 21; zitiert nach OETTERMANN, 1984, S. 69f. 67 ZUR GESCHICHTE DER WIENER LAUFER, 1898, S. 170-173. 68 Dies und das Folgende BAUCH/BIRKMANN, 1996; OETTERMANN, 1984, S. 74, S. 79f. 98

Beschleunigung in der Sattelzeit?

zeigten. Diese Mode begann in den 1820er Jahren und erreichte zwischen 1840 und 1850 ihren Höhepunkt. Da Läufer und laufende Boten dem Publikum durchaus noch bekannt waren,69 musste man diese Vorführungen spektakulärer gestalten, um das Interesse der Zuschauer zu wecken. So wurde nicht nur besonders schnell, sondern auch rückwärts, in Ketten, im Harnisch, auf Stelzen und im Walzerschritt gelaufen.70 Wiederum erschien das Laufen im Kontext des Jahrmarkts, als Vergnügen der unteren Schichten und insofern sozial wenig erstrebenswert, umso mehr als spaßhafte Wettrennen weiterhin auf Volksfesten ausgetragen wurden.71 Wenn schnelle Läufer auch Bewunderung fanden, so gab es ebenso Stimmen, die das Gegenteil ausdrückten, indem sie beispielsweise in den Wettrennen des berühmtesten Kunstläufers seiner Zeit, Mensen Ernst (1799-1843), nicht nur etwas Würdeloses, sondern auch etwas seelisch Getriebenes, ja Geistloses sahen: „Dieses Rennen durch die Welt erinnert an das rastlose Vorwärtsstürzen der Thiere, denen gewisse Theile des Gehirns genommen werden, so daß nun der ewige Trieb der Bewegung kein Gleichgewicht, keine Haltung mehr findet.“72 Es sollte deshalb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauern, bis das Laufen im Kontext der Leichtathletik auf dem Kontinent importiert wurde und nun – versehen mit dem Flair britischer public schools und colleges – auch den Eliten attraktiv erschien. Ab den 1840er Jahren traten Eliteschulen und Colleges in Großbritannien gegeneinander an,73 ab der Jahrhundertmitte entstanden die ersten Leichtathletik-Clubs. Die dort formulierten Amateurparagraphen, das heißt das Verbot der Aufnahme und Beteiligung von professionellen Sportlern an Wettkämpfen, wie zum Beispiel erstmals im London Athletic Club von 69 Nach DEPPING, 1881, S. 133, hielt der König von Sachsen mindestens bis 1845 Läufer. 70 OETTERMANN, 1984, S. 82f., S. 87-90. 71 Vgl. zum Beispiel FÜRST, 1822, S. 369: „Zu Landau im Rheinkreise wurde den 13. Oktober 1822 zur Verherrlichung des Namens-Tages Seiner Majestät unsers allergnädigsten Königs folgendes Volksfest gehalten: 1) Pferderennen. 2) Kampf zwischen zwei geharnischten Rittern nach altdeutscher Sitte. 3) Ringstechen. 4) Vogelschießen mit Jagdgewehren. 5) Scherzhafte Unterhaltungen. Ein sogenanntes Eierlaufen. 6) Wettlaufen. 7) Sacklaufen. 8) Schubkarren-Laufen. 9) Wettlauf von jungen Leuten mit verbundenen Augen. 10) Wettlauf mit vollen Wasserkübeln u.s.w.“ 72 Allgemeine Theaterzeitung, Wien 1842, ohne Seitenangabe; zitiert nach OETTERMANN, 1984, S. 101. 73 Zuvor waren auch in Großbritannien nicht Gentlemen, sondern zumeist professionelle Läufer aktiv an den Rennen beteiligt, wie ANDERSON, 1980, S. 62-65, vermerkt. 99

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1866, wandten sich genau gegen die hier vorgestellten Kunst- und Schnellläufer der Jahrmärkte, die meist aus ärmlichen Verhältnissen stammten.74 Die soziale Aufwertung des Wettlaufens bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber den Unterschichten führte wiederum dazu, dass auch in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Leichtathletik-Clubs gegründet wurden, und man die englische Praxis übernahm, wie zum Beispiel im Hamburger Sportclub in Bahrenfeld bei Altona. In der Zeitschrift Daheim wurde dessen Wettrennen 1882 in deutlicher Abgrenzung zur kommerziellen Praktik der Schauläufer beschrieben: „So viel bekannt, besteht im deutschen Reiche zur Zeit nur ein Verein, welcher sich mit athletischem Sport beschäftigt, der Hamburger Sportklub, und auch dieser erst seit etwa zwei Jahren, nachdem ein gewisses Mißtrauen in alle solche Bestrebungen demselben anfangs eine starke Opposition entgegengesetzt hatte. […] Vier und fünfzig Herren widmen sich jetzt der Athletik […], alle gewerbsmäßigen Sportsmen ausschließend, [sehen sie] bei ihren Rennen von der Austeilung von Geldpreisen gänzlich ab […] und [gewähren] den Siegern nur Ehrengeschenke als Andenken an die im Kreise gleichgesinnter Genossen erlebten frohen Stunden […].“75

Damit waren aber soziale Konnotationen weitaus bedeutsamer für die Akzeptanz beziehungsweise Ablehnung des Wettlaufs als epochale Entwicklungen. Schnelle Diener und Boten waren bereits weit vor der Sattelzeit geschätzte und gut bezahlte Kräfte. Aufgrund des instrumentellen Charakters des Laufens und der Ablehnung körperlicher Arbeit als nicht standesgemäß schien es Bürgern und Adeligen hingegen bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht mit ihren Ehrvorstellungen vereinbar, selbst über die Laufbahn zu hetzen, zumal Wettrennen mit den Vergnügungen des Jahrmarkts, mit Volksfesten und karnevalistischem Treiben assoziiert wurden und als gesundheitsgefährdend galten. Um die Jahrhundertwende gerieten auch die Wettläufe zwischen Dienern als Menschenhetze in die Kritik, obgleich sie weiterhin große Massen anzogen. Folglich wurden Galaläufer nach und nach entlassen. Zu einer körperlichen Dynamisierung der Eliten kam es in Bezug auf den Wettlauf wiederum erst weit nach der Sattelzeit, als durch den Amateurparagraphen die Praktiken der unteren 74 COLLINS, 2005, S. 204; GUTTMANN, 2004, S. 98. 75 Hermann Vogt: Athletik, in: Daheim, 1882, 1. Beilage zu Nr. 35; zitiert nach OETTERMANN, 1984, S. 158. 100

Beschleunigung in der Sattelzeit?

Schichten ausgegrenzt wurden. Insofern kann man nicht pauschal von einer Beschleunigung um 1800 sprechen, sondern muss unterschiedliche Tempi ansetzen, die je nach Stand/ Schicht, Geschlecht, Sportart, Alter und Nation differierten.

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„B I N

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G E B U R T S D AT I E R U N G E N

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IN F R Ü H N EU Z E I TL IC H EN

S EL B S TZ EU GN IS SE N * STEFAN HANß Bei der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung von Zeitkonzeptionen und -praktiken des 16. und 17. Jahrhunderts galten bisher – zu häufig – die Publikationen Kosellecks als Standardtexte, deren Thesen meist unhinterfragt auf die zu erforschenden Quellenbestände übertragen wurden.1 Bei Berücksichtigung der gegen diese jüngst geäußerten, gravierenden Einwände2 ist es wichtig, frühneuzeitliche Zeitkonzeptionen und -praktiken auf methodisch reflektierte Weise neu zu untersuchen und sich dabei auch anderen methodologischen Herangehensweisen zuzuwenden. Hier sind insbesondere die historiografischen Überlegungen aus dem Umfeld der Annales-Zeitschrift,3 die soziologischen Publikationen Mauss’, Huberts, Durkheims, Elias’ sowie Bourdieus,4 die narratologischen Untersuchungen Ricœurs, die Schriften War*

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Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Claudia Ulbrich (Freie Universität Berlin), PD Dr. Andreas Bähr (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Achim Landwehr (HeinrichHeine-Universität Düsseldorf), Dr. Ulinka Rublack (University of Cambridge) sowie Dr. Gabriele Jancke (Freie Universität Berlin). KOSELLECK, 1989; DERS., 2003. Vgl. SAWILLA, 2004, S. 381-428. Demnach übernimmt auch eine Verschiebung der ‚Sattelzeit‘ ihre problematischen methodologischen Prämissen: SCHULZE, 2002, S. 31. So u. a. FEBVRE, 1968; RAULFF, 1995, S. 147-157; BRAUDEL, 1958, S. 725-753; DERS., 1949; LE GOFF, 1987; DERS. 1960, S. 417-433; SCHMITT, 2005, S. 31-52. HUBERT/MAUSS, 1905; ISAMBERT, 1979, S. 183-204; DURKHEIM, 1994; ELIAS, 1988; BOURDIEU, 1993, S. 152. 105

Stefan Hanß

burgs,5 Simmels sowie Kracauers und historisch-anthropologische Studien zu nennen.6 Andererseits sind Forschungen notwendig, die frühneuzeitliche Vorstellungen von Zeit und Umgangsweisen mit dieser nicht aus einer entwicklungsteleologischen Perspektive thematisieren. Es gilt, historische Diskurse über Zeit „nicht auf die ferne Präsenz des Ursprungs [zu] verweisen“, wie Foucault es formulierte, sondern „i[n den] Mechanism[en] […] [ihres] Drängens [zu] behandeln.“7 Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Komplexität der Vergangenheit aufzuzeigen, indem die Quellen und damit letztlich die historischen Akteure mit ihren Kosmologien, Bedeutungszuschreibungen, Handlungsspielräumen und sinnstiftenden Interpretationsmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt werden. Der Fokus meines Untersuchungsinteresses liegt hierbei auf den gesellschaftlich nicht exponierten Persönlichkeiten.8 Um ihre Vorstellungen über Zeit sowie Praktiken im Umgang mit Zeit analysieren zu können, kreisen meine Ausführungen um Selbstzeugnisse,9 deren Abfassen ich als soziokulturelle Praktik verstehe, in der historische Akteure, von einer konkreten Schreibsituation ausgehend, Personenkonzepte innerhalb von Beziehungsgeflechten ausformulierten.10 Diese Quellengattung verspricht einen besonders ertragreichen Erkenntnisgewinn, da die Verfasser als „Buchhalter ihres Lebens“11 die eigene Vergangenheit zeitlich ordnen mussten, um sie textuell präsentieren zu können. In diesen Quellen ging es wortwörtlich um „die Zeitt meines Lebens“,12 wie es der calvinistische Elsässer Augustin Güntzer in seiner Autobiografie schrieb, und damit letztlich darum, sich selbst in Bezug zur Zeit schriftlich zu themati-

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RICŒUR, 1988-1991; WARBURG, 1939, S. 277-292; DERS. 1932. SIMMEL, 1984, S. 48-60; KRACAUER, 1966, S. 65-78; KAISER, 1993, S. 824-839; ZÖLLNER, 2003, S. 47-71; CONRAD, 2006, S. 33-38; FABIAN, 1983; ERMARTH, 2010, S. 405-420; RÜSEN, 2007. 7 FOUCAULT, 1981, S. 39. 8 Vgl. einführend PETERS, 1992, S. 180-205. 9 KRUSENSTJERN, 1994, S. 462-471. 10 JANCKE/ULBRICH, 2005, S. 7-27; AMELANG, 1998, S. 80-114; DERS., 2001, S. 431438; DAVIS, 1986, S. 53-63, S. 332-335; JANCKE, 2002; DIES., 1996a, S. 73-106; OEXLE, 1998, S. 9-44; BRÄNDLE u.a., 2001, S. 3-31; FULBROOK/RUBLACK, 2010, S. 263-272; VON GREYERZ, 2010a, S. 273-282; DERS., 2003, S. 220-239. 11 VON KRUSENSTJERN, 1999, S. 139-146. 12 GÜNTZER, 2002, fol. 116r. 106

„Bin auff diße Welt gebohren worden“

sieren.13 Das „Zeiterleben ist ein integraler Teil dessen, was Menschen in […] Gesellschaften als ihr eigenes Selbst erleben“,14 und, so ließe sich an Elias’ Formulierung anknüpfen, das Schreiben über die eigene Person ist wiederum ein in historischen Kontexten zu verortendes Schreiben über Vorstellungen von Zeit. Vor diesem Hintergrund kommt der eigenen Geburt im Wechselspiel zwischen Zeit- und Selbstthematisierungen eine besondere Bedeutung zu. In Anlehnung an Elias’ Ausführungen zu „eine[r] verbale[n] Form des Zeitbegriffs […], also etwa den Ausdruck ‚zeiten‘“,15 als einer soziokulturellen Tätigkeit des Orientierens und Verortens, untersuche ich in diesem Aufsatz, wie die eigene Geburt in Selbstzeugnissen geschildert und ihre Zeitangabe festgeschrieben wurde, welche Interpretationszusammenhänge und Handlungsspielräume der historischen Akteure damit einhergehen und inwiefern sich diese auf Selbstthematisierungen auswirken konnten.

1. Jakob Röder Irgendwann zu Beginn des Jahres 1598 muss Jakob Röder, ein katholischer Tuchscherer aus Würzburg, den Entschluss gefasst haben, für ihn bedeutsame Geschehnisse in einem Schreibkalender zu notieren.16 So vermerkte er für den 16. April desselben Jahres erstmals einen Eintrag, in dem er berichtete, dass „[n]achmittags zwuschen 4 und 5 ohr“17 der Adlige Georg Melchior von Schwalbach ermordet wurde.18 In den folgenden Jahren schrieb Röder bis Ende 1618 nieder, was ihn bewegte:19 Einzüge bedeutender Persönlichkeiten in 13 Vgl. einführend zu Lebenszusammenhängen und Zeitkonzeptionen BOURDIEU, 1998, S. 75-83; RAULFF, 1999, S. 118-142; WOOD, 2009, S. 34f.; GADAMER, 1977, S. 17-33, hier S. 17. 14 ELIAS, 1988, S. 112, S. 117. 15 EBD., S. 8. 16 Zur Kontextualisierung Röders vgl. KLEINLAUTH, 1988, S. 1-42; JANCKE, 2008. Zu Schreibkalendern vgl. generell HERBST, 2008; MEISE, 2002; TERSCH, 2008. 17 KLEINLAUTH, 1988, S. 47, 16. April 1598. 18 EBD., sowie S. 96. 19 Die Schreibkalender erschienen Jahr für Jahr, wurden zusammengetragen und gebunden, sodass sie über eine Klosterbibliothek ihren Weg in die Bestände der Würzburger Universität fanden. EBD., S. 3. Kaum feststellbar ist es daher, ob Röders Schreibpraktiken mit dem Ausgang des Jahres 1618 tatsächlich endeten oder ob er nicht vielmehr weitere Kalendernotizen eintrug und diese ein Verlust der Wirren folgender Jahrhunderte sind. Da die Schreibkalendereinträge für das Jahr 1598 durch Einführungen und „die Häufigkeit von Rückblicken“ auffallen 107

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die Stadt; Kommunionen, die er empfing; Bautätigkeiten in Würzburg; seine Hochzeit mit Margaretha Rappoltin am 22. Juni 1598; Ausgaben und Leihgaben; der Kauf des Hauses und die Kosten für Kleidungsstücke; seine Frömmigkeitspraktiken als Katholik sowie die Tätigkeiten als Handwerker und im Weinbau. Seinen eigenen, 27-jährigen Geburtstag vermerkte Röder für den 15. Juni 1598, den 28-jährigen notierte er allerdings für den 13. Juni 1599 „zwüschen 12 und 1 uhr“.20 Auffällig ist, dass auch die entsprechenden Angaben seiner Frau Abweichungen zeigen. Denn Margarethas 20. und 21. Geburtstag wurden 1598 und 1599 für den 14. Oktober vermerkt, im Folgejahr allerdings am 12. Oktober.21 Handelte es sich also um „Menschen, die noch nicht einmal ihr Alter genau angeben können“,22 wie Febvre dies formulierte? Datierungen von Geburten in Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts, so ist anzunehmen, standen in einem breiteren Kontext des Bestimmens und Festschreibens von Zeiten. Wie Peters bereits anhand bäuerlicher Selbstzeugnisse grundlegend veranschaulichte, besaßen Natur-, Arbeits-, Fest- und Feiertagszyklen für die zeitliche Strukturierung des Erlebten eine große Bedeutung:23 Röder notierte sehr gewissenhaft das erste Eis, den „grossen schne“24 und einsetzende Regenschauer.25 Ebenso achtete er auf das Erblühen der Veilchen, Mandelbaum- und Holunderblüten und hielt das Erscheinen der ersten Kirschen und Erdbeeren fest.26 In diesem Zusammenhang steht auch das bereits teilweise angeführte Zitat Febvres: „Alles in allem gesehen herrschen die Gewohnheiten einer bäuerlichen Gesellschaft, die sich damit abfindet, nie die genaue Zeit zu kennen, außer wenn die Uhr schlägt (vorausgesetzt, sie geht richtig), und die sich im übrigen nach

20 21 22 23 24 25

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(TERSCH, 2008, S. 64), entspricht dies wohl dem Beginn Röders Schreibkalenderführung. KLEINLAUTH, 1988, S. 47, 15. Juni 1598, 13. Juni 1599. EBD., 14. Oktober 1598, 14. Oktober 1599, 12. Oktober 1600. FEBVRE, 2002, S. 347. [Kursivierungen des Verfassers, S. H.]. Vgl. allgemein zur Bedeutung der Geburt für Zeitkonzeptionen ADAM, 1995, S. 48-51. PETERS, 2007, S. 133-147. KLEINLAUTH, 1988, S. 48, 25. November 1600. EBD., vgl. auch S. 47f., S. 52, S. 72, S. 79, S. 89f., 19. November 1599, 25. November 1600, 26. September 1606, 16. November 1606, 13. Oktober 1611, 23. März 1614, 29. Oktober 1617, 31. Oktober 1617. EBD., S. 53, S. 71, 10. März 1607, 9. Mai 1611, 24. Mai 1611.

„Bin auff diße Welt gebohren worden“ Pflanzen, Tieren, dem Flug dieses oder dem Gesang jenes Vogels richtet […].“27

Doch handelte es sich dabei wirklich um „beliebige, verschwommene Zeitbegriffe“?28 Röder, der nicht nur Tuchscherermeister, sondern auch Winzer und Heckenwirt war und somit seine eigenen Weinvorräte für wenige Wochen im Jahr ausschenken durfte, nutzte mehrmals einen gesamten Tageseintrag, um auf die Entwicklung seiner Trauben hinzuweisen.29 Denn ein starker Frost wie im Jahr 1617 konnte mit einem Mal alle langfristigen Mühen aufs Spiel setzen und zusätzliche Einnahmen kosten, auf die Menschen in der Subsistenzwirtschaft angewiesen waren.30 Bereits am 26. September 1606 „hat es grossen mitfrost in weingatten than“,31 wie Röder sicherlich mit Sorge um die bevorstehende Ernte schrieb.32 Dementsprechend wichtig war ein langer, milder und sonniger Herbst für Röder und viele andere Menschen, die mit dem Weinbau ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise bestritten.33 Es ist daher nicht überraschend, dass all diese gemeinsam mit Vertretern der lokalen Obrigkeit den Herbst in einer rituellen Festlichkeit jährlich feierten, bevor in Würzburg die Trauben eingesammelt wurden: „Sobald er die Zeit der Weinlese für gekommen erachtete, bestellte der Rat […] für die vier Viertel […] je eine Kommission, die aus der Gemeinde bestand […]. Nachdem diese die Besichtigung der Weinberge vorgenommen und Bericht erstattet hatten, wurde vom Rat der Tag für den Beginn der Lese festgesetzt und die Zustimmung des Fürsten eingeholt. Darauf wurde der Domdechant gebeten, die ‚Einigungsglocke‘ läuten zu lassen und nun hatten die Klöster mit dem Lesegeschäft anzufangen. Drei Tage nachher hielt der Dompropst auf Ansuchen des Rats den feierlichen Ausritt“,34 währenddessen Fackeln und Strohbündel 27 FEBVRE, 2002, S. 347. 28 EBD. Insofern der Textfluss durch Kasus- und Numerusänderungen Weglassungen einzelner Buchstaben in den Zitaten erforderte, sind diese im gesamten Text nicht gesondert gekennzeichnet. 29 JANCKE, 2008; KLEINLAUTH, 1988, S. 52, S. 70f., S. 84, 1. September 1606, 18. Januar 1611, 9. Mai 1611, 11. August 1611, 10. Mai 1616, 23. Juli 1616. 30 EBD., S. 70f., S. 84, S. 89f., 8. Januar 1611, 11. August 1611, 10. Mai 1616, 29. Oktober 1617, 31. Oktober 1617, 10. November 1617. Vgl. auch BRAUDEL, 1967, S. 78-133. 31 KLEINLAUTH, 1988, S. 52, 26. September 1606. 32 EBD., 13. Oktober 1606, 17. Oktober 1606. 33 SCHOPPER/AMMAN, 1568, fol. 48r. 34 KLEINLAUTH, 1988, S. 105f. 109

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entzündet wurden. Röder beschrieb diese Feierlichkeiten, denen er gemeinsam mit Nachbarn, Kollegen, Freunden und Konkurrenten beiwohnte, mehrfach sehr anschaulich: „Ist zu nacht im 6 uhr der herbst zum alleristattlichsten mit fackeln breneten schauben bauken und pfeuffen schalmain und sackpfeufen und 12 reutern thomherrn edelleut radtsherrn eingeleucht worden.“35 Durch Glockengeläut und Instrumentengeräusche wurde ein Zeitenwechsel, der zugleich auch einen Arbeitswechsel bedeutete, in Festgruppen ritualisiert begangen.36 Die existentiellen Auswirkungen, die Wetterzyklen für die eigene Arbeit besaßen, veranlassten Röder zu besonderer Aufmerksamkeit. Doch genau weil er Extreme notierte, scheint er ein über Generationen hinweg tradiertes Wissen um deren Einordnung und Auswirkungen besessen zu haben. Seine Vertrautheit im Umgang mit langfristigen Agrarzyklen – jenen Zeiteinheiten, die im Sinne Braudels und Le Roy Laduries nur zähfließende Änderungen, durchbrochen durch wiederkehrende Jahreskreisläufe, kennen – schärfte die Aufmerksamkeit Röders für die meteorologischen und botanischen Besonderheiten.37 Darüber hinaus besaßen diese Naturzyklen weitere Auswirkungen: Extreme Kälte verursachte Schäden an Fenstern, klimatische Bedingungen entschieden, ob der Tag mit der Arbeit im Freien oder im Haus verbracht wurde und zahlreiche Arbeiten – auch die der Handwerker – waren saisonal bedingt. 38 Febvres Feststellung liegt daher die anachronistische Vorannahme zugrunde, dass Bauern die exakte Zeit wissen wollten, sie aber nicht herausfinden konnten, da selbst auf Uhren kein wirklicher Verlass gewesen sei und sie darum auf Pflanzen, Tiere und Wetter hätten achten müssen.39 Die Selbstzeugnisse belegen jedoch, dass ihre Autoren Naturerscheinungen bewusst niederschrieben. Die Achtsamkeit auf Naturzyklen scheint daher vielmehr eine be35 EBD., S. 64, 31. Oktober 1609. Vgl. auch EBD., S. 69, S. 72, S. 75, S. 78, S. 81f., S. 85, 21. Oktober 1610, 5. November 1611, 8. November 1612, 6. November 1613, 13. November 1614, 20. Oktober 1615, 20. Oktober 1616. 36 Vgl. zur Methodologie in anderen Zusammenhängen WARBURG, 1920, S. 281. 37 BRAUDEL, 2001, hier Bd. 1, S. 20; EBD., Bde. 1 und 2; DERS., 1949, S. 5-235; DERS.,1958; PERROT, 1981, S. 3-15; RAULFF, 1999, S. 13-49; LE ROY LADURIE, 1990; PETERS, 2007. 38 KLEINLAUTH, 1988, S. 50, S. 52, S. 62, S. 66, S. 83, S. 88, 15. November 1605, 26. September 1606, 7. April 1609, 14. April 1610, 27. Januar 1616, 28. Juni 1617; GÜNTZER, 2002, fol. 21v. Vgl. auch AMELANG, 1998, S. 31, S. 136, S. 226, S. 297, S. 317, S. 337, S. 362. 39 Zu dieser impliziten Dichotomie einer genaueren städtischen und ungenaueren ländlichen Zeit vgl. auch ATTALI, 1982, S. 123-134. 110

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sondere Wissensform von Zeitlichkeit gewesen zu sein, in der die Menschen dasjenige beobachten, katalogisierten oder feierten, wovon sie annahmen, es besäße in der Zukunft direkte Auswirkungen auf ihr Leben.40 Ist in diesem Zusammenhang des Bestimmens von Zeitpunkten auch die Erwähnung des Geburtstages Röders und seiner Ehefrau zu verorten, die doch scheinbar „noch nicht einmal ihr Alter genau angeben können“?41 Nimmt der „Historiker seine Verpflichtung ernst, die Menschen erst aus der Nähe zu verstehen, bevor er sie aus der Ferne beurteilt“,42 wird schnell ersichtlich, dass es sich nicht um Phänomene der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ handelte, wie es Koselleck in Anlehnung an Pinder, Bloch und Freyer formulierte.43 Denn diese methodische Konstruktion definiert durch ihre Anwendung selbst normative Maßstäbe, denen modernisierungstheoretische, fortschrittsteleologische und eurozentristische Muster zugrunde liegen. Die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ wandte Koselleck auf „Stämme [an,] die gerade erst die Steinzeit hinter sich gelassen haben“44 oder „noch […] in der Steinzeit leben“,45 die er mit einer „ausgreifende[n] Problematik der Entwicklungsländer“46 verbindet, welche „heute auf uns zurückkommt“.47 „[U]ns“48 verortet er hier in einer Reihe mit den „führende[n] Nationen wie d[en] USA[, die] bereits ihre Astronauten auf den Mond senden“.49 Vielmehr sei von Gleichzeitigkeiten zu sprechen, wie Landwehr schlüssig argumentier-

40 PETERS, 2007; RACEVSKIS, 2003, S. 11, S. 21, S. 185. Wissen um und Zerstörung der landwirtschaftlichen Zeitrhythmen vereinte Aspekte von Herrschaft, Macht und Existenzbedrohung: vgl. ALGAZI, 1995, S. 39-77. 41 FEBVRE, 2002, S. 347. [Kursivierungen des Verfassers, S. H.]. 42 ESCH, 1994, S. 17. 43 Wichtige Anregungen hierzu sowie im Folgenden erhielt ich durch Prof. Dr. Achim Landwehrs (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) am 26. Januar 2010 im Kolloquium zur Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag „Gleichzeitigkeiten im 17. Jahrhundert“ sowie in der Arbeitsgruppe „Zäsuren und Zäsurerfahrung“ des „Geisteswissenschaftlichen Kollegs III“ der Studienstiftung des deutschen Volkes (20092011). Vgl. LANDWEHR, 2012. 44 KOSELLECK, 2003, S. 292. 45 EBD., S. 307. 46 EBD. 47 EBD. 48 EBD. 49 EBD. 111

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te,50 womit Röders Geburtstagsdatierungen nicht einfach als ‚falsch‘, sondern als uns fremdartig erscheinen. Röder griff auf andere Wissensformen zurück, „gelebte Menschenalter“51 zu strukturieren, wie diese Le Roy Ladurie auch in Montaillou um 1300 feststellte.52 Esch verwies anhand des Florentiner Catasto aus dem Jahr 1427 auf „das Regelhafte, das in den Unstimmigkeiten zutage tritt und Aufschluß gibt über den Umgang des Menschen mit Alter und Zeit, oder um es sehr einfach zu sagen: Männer erinnern ihr Alter besser als Frauen, Junge besser als Alte, Städter besser als Bauern, Reiche besser als Arme.“53 Würden die Altersangaben des Catasto als Tatsachenberichte gelesen werden, ergäbe sich eine klar verteilte Altersstruktur: „Männer altern am raschesten auf die 30 zu (das hat auch fiskalische und politische Gründe); dann geht es einigermaßen mit rechten Dingen zu; sind sie aber erst einmal 60, dann ist kein Halten mehr, dann kommt es ihnen auf einige Jahre nicht mehr an, dann legen sie ihrem (soeben noch einigermaßen korrekt angegebenen) Alter ruhig vier, fünf Jahre zu.“54 Gern rundeten die Befragten ihr Alter55 und regelmäßig begegnen HistorikerInnen in den Steueraufzeichnungen der circa 265000 Menschen erstaunlich alte Greise wie Giovanna Lapi, Piero Francesco, Francesca Orlandini und Bardo Piero, die ein Alter von 98 oder 99 Jahren angaben.56 Andere Quellen verzeichneten mitunter angeblich 130-Jährige.57 Hier wird ersichtlich, dass gerundete Altersangaben nicht als Ausdruck einer Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Geburtstag zu lesen sind. Roeck argumentierte sogar anhand der Gewaltschilderungen in Selbstzeugnissen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, „dass sich in diesem Nicht-Wissen eine spezifische Einstellung zu Leben und Sterben äußert. Was sollte man sich groß Gedanken um den exakten Geburtszeitpunkt machen, wenn […] dieses gerade entstandene Leben schon gleich wieder erlöschen würde?“58 Weder eine psychologisierende Herangehensweise auf der Grundlage der Verwendung eines essentialistischen Krisenbegriffes, noch die anachronistische Vorannahme nor50 51 52 53 54 55

Vgl. Anm. 43; BUSKOTTE, 2004, S. 79; PIRCHER, 2002, S. 44-58. ESCH, 1994, S. 9. LE ROY LADURIE, 1975, S. 419-431. ESCH, 1994, S. 34. EBD. EBD.: „[…] danach hätte es damals in der Toskana nur 259 Personen mit 39 Jahren, 253 mit 41, aber 11200 Personen mit 40 Jahren gegeben!“. 56 Online Catasto of 1427. Version 1.3, HERLIHY u. a., 2002. 57 ESCH, 1994, S. 34-36. 58 ROECK, 2010, S. 153. Vgl. auch DERS., 1989, hier Bd. 2, S. 760-763. 112

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mativer Exaktheit, mit der eine – wenn auch versteckte – Teleologie einhergeht, helfen, das historische Phänomen gerundeter Altersangaben so zu untersuchen, dass HistorikerInnen der Vielschichtigkeit der Vergangenheit sowie der überlieferten Quellen gerecht werden.59 Denn sowohl vor als auch nach dem Dreißigjährigen Krieg existierten derartige Altersangaben. Dass Geburtszeitpunkte für die Menschen sehr wohl eine enorme Bedeutung besitzen konnten, zeigen Quellen, in denen Geburten sehr genau hinsichtlich der Tage, Stunden und Sternenkonstellationen datiert wurden – auch während des Dreißigjährigen Krieges.60 Wie die historischen Akteure ihre eigene Geburt datierten, hing demnach anscheinend von der Situation und den Quellen ab, in denen sie aufgeschrieben und überliefert wurden. Die Umgangsformen mit dem eigenen Geburtstag – und damit dem eigenen Alter – waren also einfach grundlegend andere als heute.61 Bei dieser Herangehensweise wird ersichtlich, dass Röder nur den eigenen 27. und 28. Geburtstag sowie den 20., 21. und 22. seiner Ehefrau anführte, nicht jedoch frühere oder spätere. Ein Grund hierfür mag sein, dass diese Geburtstage für ihn den Abschnitt eines Lebensalters symbolisierten: Sie entsprachen einerseits den Jahren, in denen er heiratete, den Meistertitel erlangte und „mein laden aufgemacht und mein duchschererhantwerk angefangen zu treiben“.62 Zudem gingen sie mit dem Siebener-Rhythmus einher, anhand dessen Zeitgenossen mitunter Veränderungen im Leben begründeten.63 Andererseits galten Jahrzehntegeburtstage als Etappen des Lebensweges, wie sie häufig in zeitgenössischen Drucken in Form von Stufen dargestellt wurden.64 Gerade die Wenden vom zweiten zum dritten und vom dritten zum vierten Lebensjahrzehnt gingen in der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt mit besonderen Eigenschaften einher: Erstere war vor allem im Kontext der Fruchtbarkeit bedeutsam, während die körperliche Hülle, in der die Menschen am Ende ihres Le-

59 Vgl. BÄHR, 2008a, S. 291-309; DERS., 2008b, S. 9-31. 60 ZILLHARDT, 1975, S. 88f., S. 122f., S. 125, S. 133, S. 143, S. 149, S. 172, S. 183, S. 188, S. 197, S. 211, S. 258, S. 269, S. 273. 61 Unter methodologischer Berücksichtigung von FABIAN, 1983. 62 KLEINLAUTH, 1988, S. 47, S. 97, 22. Juni 1598, 19. August 1598. 63 Vgl. von GREYERZ, 2010b, S. 9-19; BAKE, 2000, S. 23-37; DUVE, 2007, S. 93-116; FREIST, 2007, S. 69-92; ADAM, 2001, S. 11-25. 64 Matthäus Merians d. Ä. 1614 in Paris gedrucktes Flugblatt Les âges de l’homme et à quels animaux il ressemble verdeutlicht diese Vorstellung besonders anschaulich und ist nur einer von zahlreichen Drucken dieser Art. Vgl. THE BRITISH MUSEUM LONDON, Prints & Drawings 1871,1209.972; EHMER, 2005, Sp. 269f. 113

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bens auferstehen würden, so aussehen sollte, wie sich der Körper um das 30. Lebensjahr herum präsentierte.65

2. Augustin Güntzer Augustin Güntzer gehörte nicht zu jenen, die in den Quellen nur Spuren gerundeter Jahre hinterlassen haben.66 Im Alter von knapp 50 Jahren arbeitete er seine seit dem 13. Lebensjahr angefertigten Notizen zu einem autobiografischen Text aus67 und stand in der „komponierte[n] Gesamtschau [s]eines Lebens“68 vor der Misere, seinen Nachkommen und den Lesern erklären zu müssen, weshalb er nichts zu vererben hatte.69 Im Laufe des Dreißigjährigen Krieges und religiöser Verfolgungen blieben dem elsässischen Handwerker keine nennenswerten Güter. Obwohl er aus einem guten Elternhaus stammte, was ihm zwei Gesellenreisen bis nach Torgau, Leipzig, Wien, Basel, Venedig, Florenz und Rom ermöglichte,70 und seine Heirat mit der Meisterwitwe Maria Goeckel ihn zu einem wohlhabenden Zunftmitglied machte,71 versagten Güntzers Beziehungsnetzwerke, als er zunehmend verarmte. Ihm wurde nachgestellt, er war zur Flucht gezwungen und erkrankte mehrfach schwer.72 Auch gelang ihm keine erneute Hochzeit.73 „Demnach ich mihr vohrgenommen“, so Güntzer zu Beginn seines Selbstzeugnisses, „ein kleines Biechlin zu schreiben von meinem gantzen Leben, darinen meinen Wolstandt und Ubelstandt auffzumercken, mihr undt den Meinigen zur Gedochtnuß.“74 Die Tatsache, dass Güntzer Zeit zum Schreiben aufgebracht hatte, die er sonst zum Arbeiten hätte nutzen können, schien einen bitteren Beigeschmack zu haben. Der Kannengießer betonte, dass er „nicht […] zume Pracht oder auß Fihrwitz [geschriben]“75 habe. Angesichts seiner 65 Vgl. RUBLACK, 2010, S. 38f. in Bezug auf GROEBNER, 1999, S. 100-121. Vgl. auch EHMER, 2008, Sp. 677-699; von GREYERZ, 2010b; THOMAS, 1988, S. 38-67. 66 Vgl. ESCH, 1994, S. 26-31. 67 GÜNTZER, 2002, fol. 1rf.; BRÄNDLE/SIEBER, 2002, S. 63f. 68 EBD., S. 64. 69 EBD., S. 6-26. 70 GÜNTZER, 2002, fol. 30v-63av. 71 Vgl. BRÄNDLE/SIEBER, 2002, S. 13. 72 EBD., S. 1-72; BÄHR, 2011, S. 119-139. 73 GÜNTZER, 2002, fol. 150v-255r. 74 EBD., fol. 1rf. [Kursivierungen im Original, S. H.]. 75 EBD., fol. 1r. Ulbrich, 2008, S. 112. 114

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Leiden, die ihn als Kreuzschüler Gottes kennzeichneten und seine Auserwähltheit vor dem Hintergrund der calvinistischen Prädestinationslehre charakterisierten,76 und „[d]armit ich aber auch etwaß Freide hab auff Erden, so thue ich schreiben undt leßen, wafern ich mießig wehr von meiner Handtarbeidt“:77 „Nach meinerr langwihriger Kranckheidt wahr mihr die Zeitt lang, dieweill ich noch keine Arbeidt im Felt undt zu Hauß verrichten kondte, dieweill mihr ale meine Glidter noch ser matt undt krafftloß sindt. Die Zeitt zu vertreiben, habe ich die biblische Historien undt ander auß dem Martterbuch in ein Bichlin abgerißen undt mitt Farben ilominierdt, hernacher mit Schreiben undt Lessen mich beflißen, darmit ich daz Wordt Gottes recht verstehen mo[e]ge, in Sonderheit die streittigen Pundten zwischen den Evanielischen, Calvinisch[e]n undt Laudterisch[e]n, wie man sie pflegt zu no[e]nen.“78

Güntzer glaubte sich rechtfertigen zu müssen, Zeit gottgefällig genutzt79 und nicht durch sinnloses Studium vergeudet zu haben, wie es ein Basler Druck von 1572 veranschaulichte:80 Ein Mann steht mit gekreuzten Beinen an einem Tisch und zeigt mit der einen Hand in ein Buch, das er mit der anderen Hand stützt und lächelnd liest. Ihm gegenüber sitzt ein zweiter Mann, dessen Kapuze auch ihn als Narren kennzeichnet. Er hat ein Buch kleinen Formats geöffnet, wie es zeitgenössische Flugschriften häufig besaßen. Für den Betrachter sind die Bücher nur in ihren Umrissen, nicht aber in ihrem Inhalt wiedergegeben, so als wisse dieser schon, dass sich darin nichts als Leere befinde. Der sitzende Mann blickt jedoch nicht in sein Buch, sondern auf ein Stundenglas, das er mit der anderen Hand hält und das die perspektivische Mitte des Holzschnittes bildet. Ob Güntzer diese Illustration zu Sebastian Brants Narrenschiff kannte, ist nicht feststellbar. Doch das literarische Motiv um Zeitnutzung und –verschwendung war dem Handwerker sicherlich bewusst. Zeit war demnach eine Ressource, die zum Schreiben genutzt werden konnte. Dabei scheint die konkrete Arbeit wesentlich gewesen zu sein, um über Zeit zu schreiben, denn sie ermöglichte nicht nur das (Über)Leben, son76 77 78 79 80

BRÄNDLE/SIEBER, 2002, S. 28-58. GÜNTZER, 2002, fol. 2r. EBD., fol. 27v. [Kursivierungen im Original, S. H.]. VON GREYERZ, 1990, S. 80. Vgl. auch THOMPSON, 1967, S. 60f. THE BRITISH MUSEUM LONDON, Prints & Drawings E,7.348; KOEPPLIN, 1984, S. 54f. 115

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dern war es auch, womit die Menschen den Großteil ihrer Zeit zubrachten. Es verwundert daher kaum, dass konkrete Tätigkeiten das Vokabular zur Selbstthematisierung liefern konnten, wie Güntzers Ausführungen zur Erbsünde belegen: „[…] dan ich siehe, daß der Gifft der Erbsindt in mein Fleisch eingewurtzelt undt geetzet ist, gleich wie ein Schnidt undt Etzwaßer in eine Mitdall geetzet wirdt, welches nicht mehr herauß zu pringen ist, es wirde dan mit Instramendten herauß gepracht.“81

Das Handwerkervokabular nutzte Güntzer, um sich selbst und sein Leben in der „Verfließung der Zeit“82 zu verorten, denn auch die Schöpfung sei Gottes „Hendten Werck“,83 seine „Handtarbeidt“,84 die er „in Ehren [halte], kleich wie ein Meister undt Kinstler seine Kunst undt Arbeidt in Ehren helt, schließt sie in Kisten, darmit sie fihr dem Staub undt anderm verwahret wirdt, darmit er stedig eine Freidt daran hatt.“85 Zeiteinträge waren demnach letztlich vor allem ein Schreiben über dasjenige, was konkret getan wurde. Sie basierten auf den Rhythmen, die eigenen Aktivitäten zugrunde lagen. Somit veranschaulichen Zeiteinträge, wie Menschen Tätigkeiten nachgingen, um sich „[d]ie Zeitt zu vertreiben“.86 „Ist es scho[e]n Wetter, so muß ich im Felte arbeidten“, schrieb Güntzer, „ist es Unwetter, so muße ich zu Hauß auff dem Kandtengießerhandtwerck arbeidten. To[e]glichen muß ich des Morgens und Abens mine Gebett […] verrichten, sondtdagmorgens daz Evanieliom sampt der Außlegung allen in dem Hauß fohrleßen […].“87 Die Akteure schrieben über die „diskrete praktische Zeit, die aus Inselchen von inkommensurabler Dauer besteht, die einen bestimmten Rhythmus haben, nämlich den Rhythmus der Zeit, die, je nachdem, was man aus ihr macht, d. h. je nach den Funktionen, die sie von der in ihr vollzogenen Handlung übertragen bekommt, rasend schnell oder schleppend vergeht“.88 Die Beschreibungen 81 82 83 84 85 86

GÜNTZER, 2002, fol. 201r. EBD., fol. 151v. EBD., fol. 243v. EBD., fol. 244r. EBD. EBD., fol. 27v. Vgl. hierzu THOMPSON, 1967, S. 60; FARR, 2000, S. 193-202; LÜDTKE, 1993, S. 85-114; SCHMITT, 2010, S. 287-306. 87 GÜNTZER, 2002, fol. 22r. 88 BOURDIEU, 1993, S. 154. [Kursivierungen im Original, S. H.]. Vgl. auch DUX, 1989, S. 44-46; GADAMER, 1972, S. 221-236. 116

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dieser Aktivitäten prägten wiederum die Art und Weise, wie die Akteure über Zeit sprachen und welche Wörter sie wählten, um sich selbst und ihr Leben in der Zeit zu thematisieren. Vor diesem Hintergrund versuchte der Handwerker in seiner Autobiografie die eigene Armut vor seinen Nachkommen zu begründen, wobei die Textstelle zu seiner Geburt eine zentrale Bedeutung einnahm:89 „Bin auff diße Welt gebohren worden im Jahr ano 1596, den 4 Dag Mayi, alten Kallenders, Zinstdag in der Nacht um zwischen 1 undt 2 Uhren, so deß Midwochs Dagsstunden anfahen im Planeten Luna, der 12 himlischen Zeichen nach im Steiinbocke, wahr melancolisch[er] Nadtuhr, kalt und trucken die Erdt.“90

In der zähfließenden Zeit astrologischer Veränderungen prädisponierten makrokosmische Konstellationen – wie Sternzeichen, Uhrzeiten der Geburt und Planetenstellungen – mikrokosmische Eigenschaften.91 Zeitgenössische Vorstellungen über Himmelskörper, Tierkreiszeichen und die laut der Vier-SäfteLehre der antiken Humoralpathologie dazugehörigen Gemütszustände ermöglichten Güntzer,92 sich in seiner Autobiografie als Melancholiker zu beschreiben, der gern allein war, den gruppenkonstituierenden Trinkritualen der Gesellen fern blieb und dies als wesentlichen Grund für spätere Rügerituale angab.93 Güntzer wurde durch das „Lossprechen“ und die „Gesellentaufe“ in die quasikirchlich organisierten Verbünde der Gesellen aufgenommen und nahm zuerst an Trinkritualen teil, womit er, wie auch durch den „Gesellengruß“, seine Zugehörigkeit zu diesen ausdrückte.94 Später rechtfertigte Güntzer in reformatori-

89 GÜNTZER, 2002, fol. 1rf. 90 EBD., fol. 4r. [Kursivierungen im Original, S. H.]. 91 Grundlegend zur Humoralpathologie und Zeit als vielschichtige, historische Zusammenhänge zwischen „tempus“, „temperatura“ und „temperamentum“ ist WOOD, 2009, S. 1-45, hier vor allem S. 17f., S. 171-180. 92 Vgl. zu Zusammenhängen von Mikro- und Makrokosmos anhand der Melancholie und Mythologie sowie Astrologie WARBURG, 1920, insbesondere S. 24-34; LAMBRECHT, 1994, S. 18-26. Dass neben dem Saturn auch das Sternzeichen des Steinbocks in der frühneuzeitlichen Vorstellung Melancholie auslösen konnte, führen KLIBANSKY/PANOFSKY/SAXL, 1990, S. 191, S. 203-315, hier vor allem S. 217, S. 225 und S. 301 aus. 93 GÜNTZER, 2002, fol. 64arf. 94 EBD., fol. 29v, fol. 45r, S. 111. Vgl. DOUGLAS, 1987, S. 3-15; DAVIS, 1973, S. 5191; DIES., 1971, S. 41-75; DIES., 1981, S. 40-70. 117

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scher Tradition den Alkoholgenuss als Heilmittel seiner Melancholie.95 Doch als er „zu keinen Gastreyen undt Sauffheißern“96 mehr ging, verwies er auf seine Ehre, sein Seelenheil, das Geld, auf das er sorgsam achte, und die Melancholie, die ihn (nun) an der Teilnahme geselliger Runden hindere.97 Als Güntzer von seiner ersten Gesellenreise zurückkam, hielt er sich den heimischen Gruppierungen gleichaltriger Lehrlinge fern. „Es vertrieß die jung Gesellen, daß ich nicht wolte mitmachen, sie machten mihr Sprichwordt und singen mihr erdichte grobianische Lieder.“98 Es kam zu Raufereien99 und als Güntzer nicht zu heiraten beabsichtigte, wie es durchaus nach der Rückkehr von der Gesellenreise erwartet wurde, versuchten sie ihm „[d]urch Koplery […] ein Weib zu[zu]koplen […].“100 In derartigen existenzbedrohlichen Rüge-, Schmäh- und Spottritualen bestraften Menschen von sozialen Normen abweichendes Verhalten. Nicht nur späte Eheschließungen, sondern auch Impotenz oder Hochzeiten mit großem Altersunterschied riefen Gruppen von Gesellen, Nachbarn, Jugendlichen, Gleichaltrigen und Frauen auf den Plan, die den Menschen auflauerten, ihnen häufig verkleidet ehrabschneidende Lieder mit eingängigen Texten sangen und mitunter auch handgreiflich wurden. Ein Augsburger Holzschnitt von 1535 stellt einen der wesentlichen Gründe für solche charivari dar: die Eheschließung zwischen einem jungen Mann und einer alten Frau.101 Der Text beschreibt, was die Umstehenden zu denken scheinen: Der Bräutigam sei nur auf das Erbe der sicherlich bald sterbenden Frau aus.102 Vor allem in der Handwerkerkultur traten solche charivari mit besonderer Intensität auf: Als Güntzer während seiner zweiten Gesellenreise, zu deren Legitimation er sich ausdrücklich auf die ehrgefährdenden Trinkgemeinschaften

95 96 97 98 99

GÜNTZER, 2002, fol. 46v; LUTHER, 1912, S. 766. GÜNTZER, 2002, fol. 219v. EBD., fol. 2r, 46vf., 65r. Vgl. neben LUTHER, 1912, auch BRUNNER, 1930. GÜNTZER, 2002, fol. 64ar. EBD., fol. 64av: „[i]n dem geriedte ich mit ihnen in Streitt, muß also mit ihnen poxssen und schlagen mit Feisten und dem To[e]gen […].“ 100 EBD. 101 THE BRITISH MUSEUM LONDON, Prints & Drawings 1895,0420.138. Zu charivari vgl. DAVIS, 2004, S. 35-37; DIES., 1971, S. 52f.; THOMPSON, 1972, S. 294f.; HINRICHS, 1981, S. 300; GINZBURG, 1981, S. 131-140; DAVIS, 1981a, S. 207-220; DIES., 1973; DIES., 1981b. 102 „Ich nim[m] dein gelt vnd anders nicht/ Dein hab ist so[e]lcher arbeyt werdt. Vnd schaff sunst wol/ wz mir gebricht Der tod dem alter ist nit weyt. Ficht mancher vmb ain acker pferd/ Darauff ich alweg hoff vnd beyt“ THE BRITISH MUSEUM LONDON, 1895, 0420.138. 118

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seines Heimatortes berief,103 in Lyon arbeitete, erhielt er einen höheren Lohn als andere Lehrlinge und weigerte sich, diesen „mit i[h]nen [zu] versauffen“.104 Daraufhin kam es zu einem Mordversuch.105 Auch in jungen Jahren sei er aufgrund seines calvinistischen Glaubens Opfer einer „Wassertauche“ geworden,106 als „HanßMosser, Bo[e]rger und Rebman von Oberehn“107 dem achtjährigen Jungen nachstellte und ihn „in daß fließig Waßer [stiess], daß dasselbige uber mich zusamenschlug“108 (Abb. 1). Erst als „etliche Weiber undt Manspersonen zu Hilffe [kamen]“ und seine Eltern ihn „auff den Kopff [stellet[e]n]“ sei er „durch sonderbahre Genadt Gottes“109 errettet worden. Indem Güntzer dieses Leiden auch zeichnete, schuf er – im Sinne Foucaults – weitere diskursgenerierende Ebenen, die ihm die Darstellung der Bedeutung dieser Aspekte auf textueller Ebene erlaubte.110 „Auch bin ich der melancolischer Natduhr zugethan und underworffen, derohalben ich gern alein bin, nicht gern bey vilen Leudten undt ich jederzeit von Jugent auff vil Feinde hab, mich anfinden undt haßen.“111 Die Zeitkonstellationen während seiner eigenen Geburt waren also grundlegend für Güntzers Rechtfertigung der irdischen Leiden – wie der charivari, in denen Mitmenschen von sozialen Normen abweichendes Verhalten sanktionierten –, sozialen Exklusionen und wachsenden Armut. Dass die Himmelsgestirne nun während seiner Geburt ebenjene unglückliche Konstellation besaßen, begründete Güntzer zugleich theologisch im Sinne der calvinistischen Prädestinationslehre, wonach Gott im Schöpfungsakt alles zukünftig Geschehende bereits grundlegend ausgearbeitet habe.112 Diese Idee war stark mit der Annahme einer Heilssicherheit verbunden, also der „Gewissheit der Christen, trotz aller irdischen Anfechtung nicht aus dem Glauben und dem Heil zu fallen.“113 Gerade dass er trotz seiner Schwierigkeiten, wie Melancholie, Krankheit, Armut und 103 GÜNTZER, 2002, fol. 65r. 104 EBD., fol. 111v. Zu den charivari in Lyon vgl. DAVIS, 1981a. Zu städtischen Gesellenkulturen vgl. auch SMITH, 1973, S. 149-161; DARNTON, 1989. 105 GÜNTZER, 2002, fol. 111vf. 106 HINRICHS, 1981, S. 300f. 107 GÜNTZER, 2002, fol. 10ar. [Kursivierungen im Original, S. H.]. 108 EBD. 109 EBD., fol. 10av. 110 FOUCAULT, 1975, S. 231-241. 111 GÜNTZER, 2002, fol. 2r. 112 EBD., fol. 249r u. a.; BRÄNDLE/SIEBER, 2002, S. 28-35. 113 SPARN, 2009, Sp. 266. Bedeutend ist auch Güntzers Umgang mit der Erbsünde: Vgl. u. a. GÜNTZER, 2002, S. 77f., fol. 5v. 119

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Flucht, in seinem Glauben standhaft geblieben ist, zeichne Güntzer als Kreuzschüler aus, der sein eigenes Leid im Sinne Jesu Christi (er)trage, der selbst durch seine Kreuzigung die Menschheit von ihren Sünden erlöst habe.114 Güntzer scheint es daher im Nachhinein wichtig, seine Geburt präzise zu datieren. Mit dem Verweis auf den „alten Kallender“115 schrieb Güntzer nicht nur seine eigene konfessionelle Zugehörigkeit fest, sondern erhöhte zudem die Nachprüfbarkeit seiner Angaben, denn protestantische Gebiete setzten teilweise erst 1700 die Gregorianische Kalenderreform von 1582 in ihren Territorien um.116 Ein Blick in die zeitgenössischen „alten Kallender“117 zeigt jedoch, dass Güntzer nicht – wie er behauptete – den Steinbock, sondern den Stier als Sternzeichen besaß, dessen Eigenschaften grundlegend anders bewertet wurden:118 „Die Kinder in diesem zeichen [Stier, S. H.] geboren/ haben lust zu Eckern/ Wiesen/ gerten/ haben lust zur fro[e]ligkeit gesengen Seitenspielen/ zur Astronomia vnd Astrologia/ zur Hofart vnd scho[e]nen kleidern/ zur Gasterey vnd spielen/ zu Schertzreden vnd vexationen,119 zun Weibesbilder haben sie wenig glu[e]ck.“120

Statt melancholisch, sei Güntzer heiter, fröhlich und gesellig gewesen; statt Enthaltsamkeit an Alkohol, Spiel, Prunk und Sexualität, neige er zu Hochmut, äußerem Erscheinen, Wirtshausbesuchen, Alkoholgenuss und Spieltüchtigkeit; statt selbst Opfer der charivari zu sein, hätte er derjenige gewesen sein sollen, der andere Menschen bloß- und Frauen erfolglos nachstellte. Zentrale Gestaltungsprinzipien seines Selbstzeugnisses und seiner Selbstthematisierung wären so nicht möglich gewesen. Doch gerade weil das Zusammenspiel von Mikround Makrokosmos konstitutiven Charakter besaß und die Tierkreiszeichen in beinahe allen Kalendern abgedruckt waren, überrascht es umso mehr, dass Güntzer annahm, sein Selbstzeugnis verliere dadurch nicht an Glaubwürdig114 BRÄNDLE/SIEBER, 2002, S. 28-58, insbesondere S. 28f. Es bestehen Bezüge zu Mt 16, 24; Mk 8, 34; Lk 9, 23. 115 GÜNTZER, 2002, fol. 4r. 116 JAKUBOWSKI-TIESSEN, 1999, S. 166-170, S. 175. LeserInnen hätten bspw. in einem der zahlreichen Schreibkalender nachsehen können, die beide Varianten der Zeitrechnung abdruckten. 117 GÜNTZER, 2002, fol. 4r. 118 COLER, 1595, fol. 19v, 24v. 119 D. h. „kränkung, belästigung, fopperei“, GRIMM/GRIMM, 1984, Sp. 36-44. 120 COLER, 1595, fol. 19v. 120

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keit. Sofern er die Angaben zu seinem Sternzeichen bewusst änderte, sah er sich daher anscheinend gezwungen, die unstimmige Zuordnung auch in der Textstelle zur Geburt seines Sohnes vorzunehmen: Das Datum befand sich ebenfalls im Sternbild des Stieres, nicht des Steinbocks, wie Güntzer schrieb.121

3. Martin Luther Der Handwerker, der Martin Luthers theologische Traktate sehr genau las,122 hätte in dessen Umfeld fündig werden und die Praktik der Nativitätsänderung auffinden können. Denn Luthers Geburtstag, der 10. November 1483, war selbst Gegenstand astrologisch-theologischer Debatten, wie Warburg detailgetreu rekonstruierte.123 1532 kam Lucas Gauricus, ein unter Zeitgenossen berühmter und von Melanchthon geschätzter italienischer Astrologe mit antilutherischer Haltung, nach Wittenberg und bestritt Luthers Nativität: Er versuchte, diese auf den 22. Oktober 1484 festzulegen. Einige Jahre später ließ er jene Behauptung mit einem „maßlos-haßerfüllten gegenreformatorischen Text“124 drucken. Melanchthon ließ Luthers Geburtstag prüfen: „Über Luthers Geburtszeit sind wir im Zweifel. Der Tag ist zwar sicher, auch beinahe die Stunde, Mitternacht, wie ich selbst aus dem Munde seiner Mutter gehört habe. 1484 meine ich, war das Jahr. Aber wir haben mehrere Horoskope gestellt. Gauricus billigte das Thema von 1484.“125 Doch anstatt die gefälschte Geburtsangabe des geachteten Astrologen zurückzuweisen, zirkulierte dieses neue Nativitätsschema in Wittenberger Kreisen und Melanchthon sowie weitere Zeitgenossen, wie beispielsweise der Universitätsmathematiker Reinhold, versuchten, Gauricus’

121 GÜNTZER, 2002, fol. 131r; COLER, 1595, fol. 19v, 24v. Bei der Geburt seiner Tochter gab er jedoch das korrekte Tierkreiszeichen an (Widder): GÜNTZER, 2002, fol. 122v; COLER, 1595, fol. 13v. Zu Aushandlungsprozessen bei frühneuzeitlichen Geburten generell vgl. DUDEN, 2002, S. 45-48; RUBLACK, 1998, S. 203-214, S. 217221, S. 246-266, S. 302-311; DIES., 1996, S. 84-110. 122 GÜNTZER, 2002, fol. 27v, 173r-192r. 123 Vgl. im Folgenden WARBURG, 1920, S. 12-24 und passim; GOMBRICH, 2006, S. 283-286; von STUCKRAD, 2003, S. 244-249 und kurz auch RUBLACK, 2003, S. 27. Im Gegensatz zu FEBVRE, 1968, S. 367. 124 WARBURG, 1920, S. 15f. 125 Deutsche Übersetzung EBD., S. 18. MELANCHTHON, 1837, Sp. 1053. 121

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Angabe neu zu interpretieren:126 Der 22. Oktober 1484 blieb als Datum bestehen, doch die Zeit der Geburt Luthers änderte sich – je nach Position der Diskutanten – auf 9 Uhr, 3 Uhr 22 und 1 Uhr 10. Vor allem die 9-UhrVeränderung fand die Akzeptanz Melanchthons, denn durch diese verschob sich die (fatale) Planetenkonjunktion des 22. Oktobers 1484 vom neunten in das fünfte Haus. „Jupiter und Saturn stehen so im Scorpion zusammen, daß sie ‚heroische Männer hervorbringen‘ und der abgesonderte Mars ruft unschädlich im günstigen elften Haus der Zwillinge die Beredsamkeit hervor.“127 „So wurde Luthers Geburt das Odium der dämonischen Sendung genommen, ohne dem Hinweis auf seine Eigenschaft als religiöser Umgestalter etwas an Nachdruck zu nehmen.“128 Luther selbst stand diesen Debatten sehr kritisch gegenüber. In einem Gespräch habe er dazu Stellung genommen, „[n]ullus est certus de nativitatis tempore, denn Philippus et ego sein der sachen umb ein jar nicht eins. Pro secundo, putatis hanc causam et meum negotium positum esse sub vestra arte incerta? O nein, es ist ein ander ding! Das ist allein Gottes werck. Dazu solt ir mich niemer mer bereden!“129 Letztlich wurde wohl aufgrund Luthers vehementer Kritik, diese Änderung gleiche einem Eingreifen in Gottes Heilsplan, von der Nativitätsverschiebung abgelassen, doch erst nachdem all diese Debatten stattgefunden hatten und die Änderung der Geburtszeit ausgiebig geprüft und ausgehandelt worden war. Auf die unglückliche Sternenkonstellation während seiner Geburt sah sich der Reformator dennoch zu reagieren veranlasst: Er sei nun einmal, erwiderte er humorvoll, „infelicissimis astris natus, fortassis sub Saturno. Was man mir thun vnd machen soll, kan nimermehr fertig werden; schneider, schuster, buchpinder, mein weib verzihen mich auffs lengste.“130 Zu einem solch offensiven Vorgehen war Luther einerseits gezwungen, weil bereits Ende des 15. Jahrhunderts die Konjunktion der Planeten Jupiter und Saturn in den gedruckten Prophezeiungen des Johannes Lichtenbergers auf das Erscheinen eines Mönches bezogen wurde, dem der Teufel im Nacken sitze (Abb. 2).131 Eine Abbildung, welche die Zeitgenossen, wie aus Lektürespuren ersichtlich ist, sehr schnell auf Luther und Melanchthon anwandten. Martin Luther gab da126 127 128 129 130 131 122

WARBURG, 1920, S. 14, Tafel II. EBD., S. 20. EBD., S. 19. Zit. nach EBD., S. 17. LUTHER, 1914, S. 193, auch in WARBURG, 1920, S. 23. Vgl. hierzu und im Folgenden EBD., S. 38-47; GOMBRICH, 2006, S. 284-286.

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raufhin eigens die Lichtenberger Prophezeiungen erneut heraus und leitete diese ein. Er selbst nahm die Zuschreibung seiner Person als astrologische Ankündigung an, das heißt als irdisches Resultat himmlischer Konstellationen und Ausdruck des Ineinandergreifens mikro- sowie makrokosmischer Zeitkonzeptionen. Jedoch interpretierte er die Abbildung auf entscheidende Weise neu: Der Teufel repräsentiere nicht die Person selbst, denn er stehe nur auf deren Nacken, ohne in ihrem Herzen zu sein. Während Luther also im Herzen Jesus Christus trage, klammere der Papst in Gestalt des Teufels auf seiner Schulter.132 Andererseits sah sich Luther zu einem derartigen Umgang mit seiner Nativität gezwungen, weil er im Zeichen des Saturns geboren wurde, jenes Planeten, dessen Wirkung zeitgenössische Autoren als Auslöser für Melancholie betrachteten, einer Eigenschaft, die durchaus als lähmend und schädlich für das soziale Miteinander und das eigene Seelenheil angesehen werden konnte.133 Doch gerade die Akzeptanz seines Tierkreiszeichens ermöglichte dem Reformator eine abweichende Interpretation zu seinen Gunsten: Ende des 15. Jahrhunderts erfuhren Saturnkinder in der bedeutenden Schrift De vita libri tres des florentinischen Neoplatonikers Marsilio Ficino vor allem im Kontext der Gelehrsamkeit eine Aufwertung, da er die „schöpferische Genialität des Melancholikers“134 betonte. Ihm zufolge veranlasse die schwarze Galle den Melancholiker dazu, „forschend ins Zentrum seiner Gegenstände einzudringen, weil sie selbst dem Zentrum der Erde verwandt ist“.135 Ficino ging sogar so weit, dass er dem Melancholiker, vor allem dem schriftstellerisch tätigen, eine direkte Verbindung zu Gott als „den Göttern am nächsten und Instrument der Götter“136 nachsagte. Ficinos Erläuterungen fanden vor allem durch Melanchthons Schrift De anima Eingang in die reformatorischen Bewegungen137 und Luther konnte so verschiedene Diskurstraditionen über die Wirkungen des Saturneinflusses auf die Geborenen nutzen, um sich selbst als Gelehrten darzustellen. Darüber hinaus existierte aufgrund der Erbauungsepistel des Chrysostomos an den Mönch Stagirius die Vorstellung, dass Melancholie verbreitet bei 132 133 134 135 136

WARBURG, 1920, S. 45. Vgl. KLIBANSKY/PANOFSKY/SAXL,1990; TERSCH, 1997, S. 130-155. PANOFSKY/SAXL, 1923, S. 32. EBD., S. 36. FICINUS, 1978, I, cap. vi, fol. 9r. Vgl. auch PANOFSKY/SAXL, 1923, S. 36, S. 107 sowie FICINUS, 1978, III, cap. xi, fol. 57r-60r; III, cap. xxii, fol. 79v-81v; III, cap. xxiiii, fol. 83v-84v. 137 Vgl. hierfür TERSCH, 1997, S. 145. 123

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Mönchen vorkomme. Sie fand durch die Übersetzung des Humanisten Johannes Trithemius weitere Verbreitung.138 Luther nutzte auch diese Interpretation, um Einsamkeit als „typisch mönchische Erfahrung“139 zu charakterisieren und sich selbst als (Augustiner)Mönch zu stilisieren.140 Eine solche Selbstthematisierung anhand verschiedener Diskurstraditionen zu Himmelskonstellationen zeitlich langsamer Rhythmen und deren Auswirkungen auf das irdische Dasein der unter ihren Einfluss geborenen Menschen fand auch Widerhall in den Schriften anderer Reformatoren, zum Beispiel bei Simon Musäus und Johannes Mathesius.141 Außerdem fand offensichtlich eine breite Rezeption derartiger Vorstellungen statt, wie das Selbstzeugnis des angeblich melancholischen Güntzer belegt: „Auch siindt derer [Lutheraner] vill Menschen, welche mihr spo[e]ttische Nachnamen geben, no[e]ben welchen sie sagen, ich seye ein Minch, ein Einsidler, ein Proffed, darum daß ich zu keinen Gastreyen undt Sauffheißern kome, sonder mich in meinem Hauße behelffe.“142 Güntzer und Luther nutzten verschiedene Melancholievorstellungen, die eng mit Zeitkonzeptionen und Geburtsdatierungen verbunden waren, um sich selbst in einer bestimmten Weise zu thematisieren: als zum Schreiben Zeit verwendender Handwerker, dessen Verarmung Ausdruck himmlischer Prüfung und damit göttlichem Auserwähltseins sei, oder als gelehrter Reformator und Mönch.

4. Paul Behaim Ehe solche Interpretationsleistungen und Selbstthematisierungen möglich waren und derartige Handlungsspielräume genutzt werden konnten, mussten jedoch genaue Informationen über die Geburt vorhanden sein (oder ausgehandelt werden). Dies ist sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass die Selbstzeugnisse so detaillierte Angaben zu Geburten verzeichneten. Denn, wie ein zeitgenössisches Traktat betont, das Bestimmen der Geburt gehöre zu den Pflichten eines guten Hausvaters: „Als da ein Astrologus einem Haußvatter anzeigt/ dises Kindlein hat dises temperamentum oder Complexion/ jhenes hat ein an138 139 140 141 142 124

Vgl. EBD., S. 147. STEIGER, 1996, S. 26; TERSCH, 1997, S. 147. Vgl. RUBLACK, 2003, S. 67-91. STEIGER, 1996, S. 20-39. GÜNTZER, 2002, fol. 219v.

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dere: darumb wirdt dises Kindtlein also/ jhenes aber anderst von natur geneigt sein/ hat er mit solcher anzeygunge dem Haußvatter nicht ein wenig gedienet: dann der Haußvatter kan auff disen vorteyl seine Kinder desto besser auffziehen/ vnnd der gu[o]ten natur helffen/ vnd die bo[e]sen corrigieren.“143 Ersichtlich wird hiermit auch, dass nicht nur „bei den Großen dieser Welt – oder bei den Söhnen von Ärzten und Gelehrten“144 – das Interesse für möglichst präzise Geburtsangaben vorhanden war. Denn Selbstzeugnisse wurden, so ist es häufig zu lesen, für die eigenen Kinder und Nachfahren geschrieben,145 die mitunter schnelle und präzise Auskünfte benötigten: Sowohl als Student der Leipziger Universität schrieb Paul Behaim – ältester Sohn der angesehenen Nürnberger Kaufmannsfamilie um Paul Behaim d. Ä., der 1568 verstarb, und Magdalena Römer – Briefe an seine Mutter als auch nachdem er die Universität verlassen hatte und sich zwischen 1575 und 1578 als Student im Norden der italienischen Halbinsel, vor allem in Padua, aufhielt.146 Noch zu Leipziger Zeiten informierte Paul seine Mutter in einem Brief vom 26. Juli 1572 über getätigte Ausgaben und Dinge, die er benötigte.147 So schrieb er auch, „[w]eiter bitt ich, du wollest mir schreiben, wie alt ich bin, in welchen jar, monatt, tag, stundt und, so du es wissen kanst, in welchen minuten ich geporen bin.“148 Weshalb er ausgerechnet damals genauere zeitliche Informationen zu seiner Geburt erwünschte, begründete er nicht. Vielleicht weil er von anderen Kommilitonen danach gefragt wurde, wie er auch „von vilen angesprochen und gepetten worden“, in ihr Stammbuch zu schreiben, und deshalb seine Mutter bat, eine „copei von der Behaimischen wappen [zu] schicken“.149 Denn einen Eintrag in ein Album Amicorum zu schreiben,150 bedeutete nicht nur, seinem Freund einen passenden Spruch zu hinterlassen, sondern auch die Beziehung zwischen diesem und sich selbst festzuschreiben und damit letztlich auch, die jeweiligen eigenen Positionen im kosmologischen Zu143 144 145 146

147 148 149 150

RENSBERGER, 1569, fol. 3r. FEBVRE, 2002, S. 348. GÜNTZER, 2002, fol. 1rf.; ZILLHARDT, 1975, S. 86. Vgl. LOOSE, 1880, S. 21; RUBLACK, 2010, S. 217-229; OZMENT, 1990, S. 1-10; DERS., 1999, S. 135-191. Die Briefe sind überliefert, doch die Antworten der Mutter sind nicht erhalten. Vgl. zur biografischen Einordnung auch SCHMID, 2006, S. 101. LOOSE, 1880, S. 2. EBD. EBD. Zu den Alba Amicorum vgl. u. a. SCHNABEL, 2003; KLOSE, 2001, S. 41-67; RYANTOVÁ, 2007; KLOYER-HESS,1998, S. 391-408; HESS,1998, S. 409-428. 125

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sammenhang verorten zu können. Dies wusste Paul nur allzu gut, denn ab 1574 schrieb er nachweislich nicht nur anderen in ihr Stammbuch, sondern führte auch selbst ein solches – dann sicherlich bereits im Wissen um seine Nativität.151

5. Hans Heberle Auch der lutherische Schuhmacher und Landwirt Hans Heberle, welcher dem Ulmer Rat leibeigen war,152 schilderte in seinem Selbstzeugnis die eigene Geburt: „Anno 1597 bin ich, Hanns Heberle, in dise betrüebte und arbeitselige welt geboren, den 18 Maya. Gott der allmechtige, sampt seinem lieben sohn und dem heiligen geist, die heilige dreyfaltigkeit, die wölle mir beysteh zu allen zeyten, auch bey der rechte, ryne, sellendmachenden lehr erhalten, mein leib und sell auch woll bewahren, und mich nit lassen treten auff den weg der sind, noch sitzen, da die spötter sitzen, wie David sagt im 1 psalm, sonder das mein hertz lust und liebe habe zu deinem wort und gebott, auf das ich mich mög yeben alle tag und nacht, biß ich mein leben allhie vollendt und von hinen abscheid auß disem jamerthal in das ewige leben. Amen.“153

Heberle bettete die Schilderung seiner Geburt demnach in eine gebetsähnliche Form, um diese mit einer Bitte an Gott zu verknüpfen, seinen Glauben zu erhalten und rechtmäßig, mit „hertz lust und liebe […] zu deinem wort und gebott“, auszuführen. Damit verband er seine Geburt in „diese[s] jamerthal“ textuell mit dem „ewige[n] leben“ und stellte so einen heilsgeschichtlichen Rahmen her. Ein solcher findet sich in zahlreichen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts, auch bei Augustin Güntzer, als er schrieb: „AL MEIN ANFANG, MIDTEL UNDT […] ENDT STEHET JEDERZEITT IN […] GOTTES HENDT BISZ ANS ENDT.“154 Es war Gottes Wirken, das für die Zeitgenossen den Verlauf des Lebens und der Welt bestimmte. Bei Berücksichtigung 151 Das Album Amicorum des Paul Behaim d. J. befindet sich in THE BRITISH LIBRARY LONDON, Eg. 1192. Vgl. auch RUBLACK, 2010, S. 221-229. 152 PETERS, 2003, S. 51. 153 ZILLHARDT, 1975, S. 89. Vgl. Ps 1. 154 GÜNTZER, 2002, S. 78f. 126

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dieses Befundes werden die heuristischen Kategorien ‚zyklisch‘ und ‚linear‘ brüchig und können nicht weiter als Unterscheidungskriterium zwischen frühneuzeitlichen und ‚modernen‘ (was auch immer die AutorInnen konkret darunter verstehen) Zeitvorstellungen dienen, wie sie Koselleck charakterisierte.155 Denn auch die für die Akteure alles entscheidende heilsgeschichtliche Zeit verlief ‚linear‘ mit dem Zielpunkt des Jüngsten Gerichtes und der sich anschließenden Erlösung oder Verdammung. Das Jenseits wurde dadurch als das entscheidende Leben der „ewige[n] Freiden undt Seligkeidt“156 vorgestellt, während das irdische Diesseits lediglich eine vorangehende Station war, eine „sindliche Welt, in welcher ich auch muß leben eine Zeitt lang, welche du [Gott] mihr von Ewigkeitt bestimet hast zu leben“;157 eine Zeit des Durchhaltens.158 Autobiografische Praxis war demnach gekennzeichnet durch eine „Selbstverortung in einem teleologisch strukturierten Prozess, den Gott und (noch) kein Autorsubjekt initiiert hatte. Anders als eine moderne subjektive Rekonstruktion des Vergangenen als Grundlage der eigenen Gegenwart basieren frühneuzeitliche autobiographische Erinnerungen nicht auf einem Paradigma linearer und dynamischer zeitlicher Entwicklung aus einmaliger Vergangenheit in eine offene Zukunft; vielmehr setzen sie einen Zeitbegriff voraus, in dem die Erinnerung etwas erinnert, das immer schon geschehen war. Sie sind gewissermaßen Erinnerungen an eine Zukunft, und zwar insofern, als diese Zukunft keine offene, sondern eine bereits in kosmischer providentia gegründete war, mithin keine noch nicht existente, sondern lediglich eine noch nicht erkannte.“159

Es ist demnach nicht von einem Nacheinander der diesseitigen und jenseitigen Zeiten in der Vorstellungswelt des calvinistischen Handwerkers und des lutherischen Schuhmachers auszugehen. Vielmehr war die diesseitige Endlichkeit durch den Schöpfungsakt in die jenseitige Heilszeit, die ewig währte, in einem räumlichen Nebeneinander, einem „HIE“ und „DORT“,160 eingebettet.161 Das 155 KOSELLECK, 1989, S. 17-37. Darauf verwies bereits LE GOFF, 1960, S. 420f., S. 424. Vgl. auch KNOCH, 1995, S. 83-92. 156 GÜNTZER, 2002, fol. 6v. 157 EBD., fol. 27r. 158 MEDICK, 1997, insbesondere S. 550-560. 159 BÄHR, 2007, hier S. 27 [Kursivierung im Original, S. H.]. Vgl. auch von GREYERZ, 1990, S. 82, S. 88, S. 91. 160 GÜNTZER, 2002, S. 77 [Kursivierungen im Original, S. H.]. Diese Wortverbindung von „HIE“ und „DORT“ im Zusammenhang mit Endlich- und Ewigkeit ist in der gesamten Autobiografie Güntzers anzutreffen: EBD., S. 77, S. 79, fol. 6v, 8r, 27r, 127

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Schreiben von Selbstzeugnissen war demnach ein Schreiben über die zeitliche Verortung des Schreibenden innerhalb der Heilsgeschichte und somit vor allem Ausdruck vielschichtiger Registrations-, Katalogisierungs- und Deutungsakte. Denn Geschehnisse waren nach einer solchen Kosmologie Zeichen mit immanenten Bedeutungen, die aber erst im Nachhinein sich aufklärten, wenn das Bedeutete eingetreten war und somit gedeutet werden konnte.162 Autoren verfassten demnach Selbstzeugnisse, um Geschehnisse – wie auch Geburten – zu notieren, die in der historischen Gegenwart Auskunft über den Status des Seelenheils und gesamtkosmologische Zusammenhänge gaben, die aber erst in der historischen Zukunft verständlich wurden.163 So verortete auch Heberle sein Schreiben. Er wolle „kürtzlich beschreiben von jar zu jar, was sich einen jeden tag, monet und ein jedes jar verloffen und zugetragen hat, von meinem geschlecht und stamen, eltern und freündtschafft, schwestern und brüeder, wan sie […] geboren und wider gestorben. Auch von guten und bessen jaren, von theüre und wolffeil zeiten, von krieg und kriegszeiten, pestelentz und kranckheiten, auch andere sachen mehr, was sich begeben und zutragen wirdt, so lang mir Gott gesundtheit und das leben gibt.“164

Ihm ging es also darum, das, was geschieht, niederzuschreiben, zeitlich zu bestimmen, zu registrieren und zu katalogisieren und hierin sein eigenes Leben in größere Kontexte einzuordnen.165 Nicht umsonst benannte Heberle sein Selbst-

161

162 163

164 165

128

39r, 40r, 44r, 44v, 49r, 66v, 106r, 107v, 134v, 138v, 140v, 143r, 158r, 160r, 163r, 164r, 200r, 217r, 217v, 220r, 235r, 235v. An dieser Stelle wird erneut der Anachronismus deutlich, mit dem Koselleck frühneuzeitlichen Zeitkonzeptionen begegnet, wenn er diese mit seinem Zeitbeschleunigungsempfinden beurteilt. Stattdessen scheint Güntzer seine Lebenszeit eher als eine diesseitige Verkürzung der endlichen, irdischen Zeitspanne interpretiert zu haben, die es bestmöglich und im Bewusstsein des eigenen Heilsstatus’ durchzuhalten galt, bevor das entscheidende Leben im Himmel stattfinden würde. Vgl. RUBLACK, 2003, S. 205; BÄHR, 2007, S. 27; MAUELSHAGEN, 2000, S. 130154. Die Einteilung des eigenen Lebens in Zeitspannen sowie die Datierungen bestimmter Ereignisse veranschaulichen somit, was den Menschen wichtig war. In Anlehnung und Weiterführung von SCHMITT, 2009, S. 28. Zu einer ausführlicheren Besprechung dieser Publikation vgl. HANß, (in Bearbeitung). ZILLHARDT, 1975, S. 86. Diese Schreibstrategie findet sich auch in anderen Selbstzeugnissen, vgl. JANCKE, 1996b, S. 93-134.

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zeugnis „Zeytregister“.166 Er notierte also, wovon er annahm, es kennzeichne seine eigene heilsgeschichtliche Position – Kometenerscheinungen, Wetterund Schlachtenereignisse, aber vor allem die Geburten und Tode seiner Vorund Nachfahren. Dass er hierfür Zeit nutzte, begründete er wie folgt: „Es werden düses solches mein büechlein gefallen und lieb sein lassen alle meinen nachkomen. Wan sie es nach mir finden, so hab ich keinen zweiffel, sie werden es von meinetwegen fleißig behalten und auffheben, von wegen der freundtschafft und denen historien, die hierin verzeichnet und beschriben sindt. Darumb wil ich hierin eüch vermant haben, ir welet diß büechlein laßen bleiben und einer dem andere das werden lassen zukomen, so lang das Heberles geschlecht weret, und solt es leben biß an den jüngsten tag.“167

Heberle legitimierte also die Tatsache, dass er Zeit aufbrachte, dieses Buch zu schreiben, damit, dass die Aufzeichnungen seinen Nachkommen Lebensregeln und Wissen vermittelten, zu denen auch Kenntnisse über die Zeit, ihre Nutzung sowie das Erkennen des richtigen Augenblickes – wie „von guten und bessen jaren“168 – gehörten. Das Verfassen des Selbstzeugnisses war für Heberle demnach vor allem ein Schreiben über Ressourcen,169 das „im Kontext der pragmatischen und didaktischen Überlieferung im Umkreis von Haushalt und Handel“170 stand. In diesem schrieb er als männlicher Verfasser über den eigenen gesellschaftlichen Status anhand der Herkunft der Familie, des „Heberles geschlecht“,171 und konstituierte so anhand der „lignage“ Gruppenzugehörigkeiten.172 Die familien- und verwandtschaftskonstituierende Schreibpraxis, in welche auch Heberles Geburtsschilderung eingebettet war, erscheint hier als Akt der Memoria, mit der sich der Autor innerhalb des Wertesystems verorten, in Gruppen positionieren und in heilsgeschichtliche Zusammenhänge einschreiben konnte.173 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht zufällig,

166 167 168 169 170 171 172 173

ZILLHARDT, 1975, S. 85. EBD., S. 86. EBD. Vgl. auch PETERS, 2007, S. 133-147. JANCKE/SCHLÄPPI, 2011, S. 85-97. ULBRICH, 2009, S. 59f. Vgl. auch STUDT, 2007, S. XI. ZILLHARDT, 1975, S. 86. Vgl. ULBRICH, 2009, S. 39-61; POMATA, 1990, S. 341-385. Vgl. ULBRICH, 2009; OEXLE, 1995; DERS., 1998; JANCKE, 2002, S. 1-35, S. 67-74, S. 161-165, S. 210-215; STUDT, 2007. 129

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dass Heberle sein „Zeytregister“ mit der Geburt des Enkels abschloss und Heberles Sohn den Tod seines Vaters und des besagten Enkels eintrug.174

6. Sich zei ten in Zei ten Am Ende dieses Aufsatzes lassen sich vor allem zwei Schlussfolgerungen ziehen. Einerseits existierten um 1600 verschiedene Vorstellungen von Zeit neben- und nicht in einem entwicklungsteleologischen Sinne nacheinander. Diese Zeitkonzeptionen waren mit normativen Ansichten aufgeladen, dienten der soziokulturellen Orientierung sowie Positionierung und waren somit verankert in alltäglichen Lebensformen. In Momenten, in denen ihnen zugeschriebene Praktiken gelebt, geändert oder zurückgewiesen wurden, sowie in Momenten, in denen die Menschen sich selbst und ihr Leben thematisierten, wurden Zeitkonzeptionen situativ ausgehandelt. Entsprechend stellten die jeweiligen Kontexte den historischen Akteuren verschiedene Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsspielräume zur Verfügung, sich selbst in einer bestimmten Art und Weise darstellen, denken und thematisieren zu können sowie ihr eigenes Leben retrospektiv zu gliedern und diese Tätigkeit als zeitliche Ressource und Wissen über Zeit zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund erscheint Zeit nicht mehr länger als ahistorische Kategorie, sondern als auszuhandelndes Bedeutungskonstrukt menschlichen Lebens. Dementsprechend war es den Verfassern der Selbstzeugnisse möglich, je nach Situation verschiedene Zeitkonzeptionen in ihre Schreibpraktiken und Selbstthematisierungen einzubauen, diese abzuwandeln und zu legitimieren, um ihre Geschichten überhaupt formulieren zu können. Über „die Zeitt meines Lebens“175 zu schreiben, hieß sich aktiv zu „zeiten“,176 wie ich in Bezug auf Elias zu Beginn bereits anmerkte: Die Verfasser konnten Zeitkonzeptionen übernehmen, sich aneignen, ändern, manipulieren, zurückweisen oder einfach verschweigen. Das Schreiben der Selbstzeugnisse scheint daher gerade bei Berücksichtigung der Glaubwürdigkeit, welche die Verfasser vor den Zeitgenossen und Nachkommen anstrebten, mit einer Definitionsmacht über Zeitkonzeptionen und -praktiken einherzugehen, welche die Frage aufwirft, wer sich wie in welchen Situationen zeitdefinitorische Ansprüche zuschreiben konnte und wer nicht. Den Deutungsanspruch, Zeit zu definie174 EBD., S. 56, S. 273. Vgl. grundsätzlich ULBRICH, 2008. 175 GÜNTZER, 2002, fol. 116r. 176 ELIAS, 1988, S. 8. 130

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ren, zu ordnen, einzuteilen und zu bestimmen und somit das eigene Leben glaubwürdig erzählen sowie sich selbst thematisieren zu können, nahmen die behandelten historischen Akteure Röder, Güntzer, Luther, Behaim und Heberle wahr, da sie Selbstthematisierungen über die eigenen Handlungsräume durchführten. In dieser Logik besaßen sie die Fähigkeit und Glaubwürdigkeit, Zeit zu definieren, gerade weil sie über ihr Leben und ihre Tätigkeiten schrieben, die sie jedoch nur darstellen konnten, wenn sie die „Verfließung der Zeit“177 ordneten und sich selbst darin in Bezug zu Personen, Gruppen und Gott verorteten.178 Daher erscheint es kaum verwunderlich, dass sie Zeitlichkeit als Ressource dachten, denn die Quellen sind im Umfeld der pragmatischen und didaktischen Schriftlichkeit des Haushalts angesiedelt179 und ein Schreiben über sich selbst im zeitlichen Wandel war letztlich ein Schreiben darüber, wie Handlungsspielräume wahrgenommen, gestört oder verhandelt wurden. Ein zweiter Aspekt betrifft die Geburtsschilderungen in den hier behandelten Selbstzeugnissen. Geburtsdatierungen waren demnach eingebettet in eine umfassendere Kosmologie.180 Ihre genaue Datierung diente den Zeitgenossen als verhandelbare Erklärungs-, Legitimations- und Beschreibungsgrundlage der eigenen Lebenswege, da mikro- und makrokosmische Konstellationen vor dem Hintergrund der Heilsgeschichte in größeren, wechselseitigen Bedeutungszusammenhängen standen. Die Art und Weise wie Datierungen angegeben wurden, zeigten ein Sich-in-Beziehung-setzen zum Mikro- und Makrokosmos sowie Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen an. Aber auch die Bezeichnung von Zeitpunkten selbst war Ausdruck eines Spannungsverhältnisses zwischen Dauer und Wandel. Denn Ereignisse werden nur durch ihren relationalen Charakter als historische Zeitstellen verständlich, weshalb sie in der retrospektiven Betrachtung im Spannungsfeld zwischen Kontinuum und Diskontinuität in verkleinerten oder vergrößerten Zeiteinheiten erscheinen, letztlich jedoch konstruiert werden.181 Denn jedes noch so kleine „historische Atom […] füllt tatsächlich eine Zeitstrecke kontinuierlich aus“.182 Datierungen waren daher in ihren historischen Kontexten verhandelbar. Die Verfasser der Selbst177 178 179 180

GÜNTZER, 2002, fol. 151v. DAVIS, 1986. ULBRICH, 2009, S. 59f. Vgl. DURKHEIM, 1994, S. 27-42, S. 587-592, wobei die Aushandlungsprozesse historischer Akteure und damit einhergehende Brüche stärker betont werden sollten. 181 SIMMEL, 1984, S. 48-60, S. 221. 182 EBD., S. 55. Vgl. auch CARR, 1966, S. 24-35; HEIDEGGER, 1916, S. 415-436; SEIBT, 1989, S. 145-188; VIGNE, 1985, S. 131-140; WHITROW, 1988. 131

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zeugnisse verorteten sich durch das Setzen, Datieren und Beschreiben von Ereignissen oder gerade dadurch, dass sie diese nicht auswählten, anders bestimmten und in spezifischen Zeitkonzeptionen anführten, in Bezug auf Gott und jene Menschen, die wichtig waren, um ihr eigenes Leben sinnhaft thematisieren zu können, indem sie durch Bedeutungszuschreibungen Zeitlichkeit innerhalb ihrer Erzählung refigurierten:183 Zeiten zu bestimmen, ermöglicht Menschen, sich zu orientieren, wie Elias schlüssig analysierte, und erst in Betrachtung des Blickwinkels, von dem aus das Leben erzählt wurde, erschien ein Ereignis bedeutungsvoll, während ein anderes belanglos wirkte.184 Zeitliche Einschnitte waren insofern abhängig von der Erzählperspektive, zeigten Gruppenzugehörigkeiten und wurden durch diese ritualisiert gesetzt und performativ begangen. Das Nebeneinander verschiedener Datierungsweisen, nach Natur-, Arbeitsund Feiertagszyklen ebenso wie nach Tagen, Monaten und Jahren, sollte nicht in den Kategorien ‚traditionell‘ und ‚modern‘ interpretiert werden, da diese nicht nur anachronistisch sind, sondern bei genauerer Untersuchung der Quellen brüchig werden: Denn es war der Bauer Heberle, der die Geburt seiner Tochter Cathriena für „5 uhr 22 minuten“ verzeichnete.185 Damit erscheint eine dichotomisch verstandene „Zeit der Kaufleute“186 als „ein Mißverständnis der neueren historischen Literatur“.187 Auch Moran musste in seiner Untersuchung zu Montpellier feststellen, dass ‚schon‘ in den 1560er Jahren verbreitet ‚modern‘ in Monatstagen und ‚noch‘ in den 1590ern häufig – zumal im städtischen Kontext – ‚traditionell‘ nach Heiligentagen datiert wurde.188 Auch eine schichtenspezifische Zuordnung der Datierungsweisen ist nicht haltbar.189 Morans Hinweis auf die Verbreitung frühkapitalistischer Geldwirtschaft, welche die Zeitkonzeptionen zu stärkerer Präzision, Vereinheitlichung, Säkularisierung 183 KORMANN, 2004, S. 1-12, S. 298-303; SIMMEL, 1984; RICŒUR,1988-1991; GOERTZ, 1995, S. 177f. 184 ELIAS, 1988, S. VII-XLVIII, S. 64f.; BOURDIEU, 1998, S. 75-83. 185 ZILLHARDT, 1975, S. 123. Vgl. auch EBD., S. 86, S. 123, S. 125, S. 133, S. 143, S. 149, S. 152, S. 172, S. 183, S. 160, S. 193, S. 197, S. 204, S. 211, S. 258, S. 269, S. 273. 186 LE GOFF, 1960. 187 DOHRN-VAN ROSSUM, 1992, S. 214. Vgl. auch EBD., S. 210-216 sowie SCHMITT, 2005, S. 34-39, S. 43-52. Zur Rezeption der Ausführungen Le Goffs vgl. u. a. GURJEWITSCH, 2004, S. 268-311, hier vor allem S. 282-285 und TENENTI, 2004, S. 226-228. 188 MORAN, 1981, S. 7. 189 EBD., S. 8. Vgl. grundlegend ATTALI, 1982, S. 123-134. 132

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und gleichmäßigerer Teilbarkeit gezwungen und somit die „Zeit der Kaufleute“ eingeführt habe, die sich vor allem gegenüber „vagen, unpräzisen, agrarischen Zeitvorstellungen“190 absetze, behandelt die Thematik der verschiedenen Datierungen zu einseitig und simplifiziert die enorme historische Vielfalt.191 Dass Montpellier in jenen Jahren sowohl protestantisch als auch katholisch geprägt war und Zeitangaben auch Gegenstand konfessionalisierter Symbolkonflikte gewesen sein könnten, wird kaum berücksichtigt.192 Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoller, von unterschiedlichen Zeitkonzeptionen auszugehen, die nebeneinander und nicht in einem linearen, modernisierungstheoretischen Fortschrittsmodell existierten, in dem Anfangs- und Endpunkte als außerhistorische Kategorien vorgegeben wären.193 Die Quellen vermitteln vielmehr ein Phänomen, das sehr gut durch den Begriff der „Pluritemporalität“ charakterisiert werden kann.194 Zeitkonzeptionen bestanden nebeneinander und die historischen Akteure konnten sich ihrer in bestimmten situativen Kontexten unterschiedlich bedienen, um eigene Handlungsspielräume auszuloten und Deutungsansprüche auszuhandeln sowie durchzusetzen.195 Ein solcher methodischer Ansatz ermöglicht es, Le Goffs wegweisende Ausführungen zu einer „Zeit der Kaufleute“ aus ihrer Dichotomie zur „Zeit der Kirche“ zu lösen, diese Zeitkonzeptionen konsequenter zu kontextualisieren und ihre Vielfältigkeiten sowie schichtenübergreifende Nutzung konkret zu analysieren.196 Erst jetzt fällt auf, dass Datierungen durch Natur-, Arbeits- und Feiertagsrhythmen insbesondere dann auftraten, wenn es sich nicht um Geschehnisse handelte, die 190 191 192 193

MORAN, 1981, S. 15. EBD., S. 14f. Vgl. EBD., S. 17f.; BAUMEL, 1976; STOLLBERG-RILINGER, 2004, S. 489-527. FOUCAULT, 1998, S. 43-71; DERS., 1981, S. 34, 38f.; KRACAUER, 1966, insbesondere S. 69. Vgl. auch allgemein EISENSTEIN, 1966, S. 36-64; LEYDEN, 1963, S. 263-285. 194 Vgl. den Beitrag Achim LANDWEHRS in diesem Band oder HANß, 2010. Lohnenswerte Überlegungen hierzu finden sich auch in POMIAN, 1984, hier insbesondere S. 349, 352; REVEL, 1996, hier vor allem die Beiträge Jacques Revels und Bernard Lepetits; SHERMAN, 1996, S. X. Methodologisch zu überdenken wären allerdings die Konzeptionen der „heterochrony“ und „Multitemporalität“ bei RACEVSKIS, 2003, S. 186; LEVINE, 1999, S. 283. Zu den Auswirkungen von „Pluritemporalität“ vgl. TODOROVA, 2005, S. 140-164 und FABIAN, 1983. Vgl. generell auch ATMANSPACHER/RUHNAU, 1997. 195 Vgl. BOURDIEU, 1993, S. 153f.; KRACAUER, 1966, S. 76f.; ELIAS, 1988, S. 47f.; WEIS, 1997, S. 155-178; LÜDTKE,1992, S. 206-231; VAN DÜLMEN, 1990; CHARTIER, 1989, S. 1505-1520. 196 LE GOFF, 1960, S. 426 u.a. 133

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im frühneuzeitlichen Werteverständnis herausragende (auch juristische) Bedeutung besaßen. Ereignisse aus dem Themenkreis Haushalt, Ehe, Eide, Zunftbeitritte, Bürgerrecht, Geburt, Taufen und Tod,197 welche den eigenen gesellschaftlichen Status sowie denjenigen des Seelenheiles den zeitgenössischen Lesern des Selbstzeugnisses sowie den Nachfahren kommunizierten, wurden tendenziell in Zeitangaben nach Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, mitunter auch Stunden und Minuten notiert. Vor allem der Haushalt erscheint hierbei als „zentrales Gliederungs- und Orientierungsprinzip“.198 In frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen überlieferte Datierungen sind demnach historische Phänomene (symbolischer) Kommunikationsformen und Ausdruck praxeologisch bewährter und sinnstiftender Instrumentarien, die der eigenen Orientierung innerhalb von Beziehungsnetzwerken dienten, wie auch Entleihungen und fällige Zahlungen verdeutlichen:199 Die Rückzahlung des bei Nachbarn oder Freunden geliehenen Geldes war zumeist an kirchliche Feiertage gebunden,200 denn diese waren allgemein bekannt, wurden durch Kalender, Predigten sowie Zeremonien in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben und waren somit leicht zu memorieren. Zudem lehnte sich der kirchliche Kalender selbst an längerfristig kalkulierbare Naturzyklen an, die wiederum jene Ressourcen bereitstellten, die dazu dienten, Geld zu erwirtschaften, dieses den Gläubigern zurückzahlen zu können und sich so in Gruppenkulturen sowie Beziehungskonzepten zu verorten.201 Vor diesem Hintergrund sollten frühneuzeitliche Geburtsdatierungen nicht länger als ‚falsch‘ oder ‚richtig‘, als ‚exakt‘ oder ‚ungenau‘, als ‚traditionell‘ oder ‚modern‘ beschrieben werden, da mit derartigen dichotomischen Bezeichnungen zu häufig meist modernisierungstheoretische, anachronistische Vorannahmen einhergehen. Vielmehr waren Geburtsschilderungen in Aushandlungskonstellationen eingebettet, da die Geburt in einer umfassenderen, heilsgeschichtlichen Kosmologie verortet war, in der Zeitangaben, Sternenkonstellationen, Vorstellungen über Tierkreiszeichen und humoralpathologische Annahmen sowie religiöse und astrologische Zuschreibungen von besonderer Bedeutung waren. Dies wird auch in einer Darstellung aus der Schrift DE 197 198 199 200

AMELANG, 2004, S. 321-343; von GREYERZ, 2010b. JANCKE/ULBRICH, 2005, S. 20. STOLLBERG-RILINGER, 2004; BOURDIEU, 1993; ELIAS, 1988. Vgl. KLEINLAUTH, 1988, S. 48, S. 52, 9. Juni 1601, 16. August 1606; MORAN, 1981; DAVIS, 2002, S. 37-53; grundlegend GROEBNER, 1993, S. 190-232. 201 DAVIS, 2002, S. 79, S. 83f. u.a.; SCRIBNER, 1987, S. 1-16; DROSTE, 2003, S. 555590. 134

„Bin auff diße Welt gebohren worden“

CONCEPTV ET GENERATIONE HOMINIS ersichtlich (Abb. 3).202 In diesem Druck aus dem Jahre 1580 stellte der berühmte Zürcher Stadtwundarzt Jakob Ruëff die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens umfangreich in Text und Bild dar: Weibliche Geschlechtsteile, Embryonen, Geburt, medizinische Gerätschaften und Anomalien.203 Die Darstellung der Geburtsszene zeigt nicht nur die Gebärende mit Hebammen, in deren Umkreis ein vermutlich mit Wasser gefüllter Bottich steht. Auf einem Tisch sind medizinische Geräte, ein Schnurknäuel, Flaschen und eine Schale vor einem im Hintergrund befindlichen Bett zu sehen. Die Darstellung zeigt zudem zwei Männer, die vor einem antikisierenden Fensterbogen die Sternenkonstellationen bestimmen und mit Zirkel und Feder in ein Horoskop eintragen. Sie notieren Stundenangaben, wie sie Jakob Röder wenige Jahre später für seinen eigenen Geburtstag anführte. Sie vermerken die Positionen der Sterne und Planeten, wie sie bei Luthers Geburt einige Jahrzehnte zuvor verhandelt wurden. Sie machen sich damit auch deren (mögliche) humoralpathologischen Auswirkungen bewusst, wie sie Güntzer wenig später in seiner Geburtsangabe nachträglich auf seine Lebensumstände bezog. Sie üben eine Tätigkeit aus, die – laut eines zeitgenössischen Traktates – zu den wesentlichen Aufgaben eines ordentlichen Hausvaters gehörte, da mit ihr nicht nur die Beziehungen des Neugeborenen zu seinen Mitmenschen, sondern auch zu seinen Vor- und Nachfahren festgeschrieben und der Säugling somit im göttlichen Heilsplan verortet wurde. Sie stellen dem Neugeborenen für spätere Zeiten Wissen zur Verfügung, wie Heberle meinte, und sie schreiben jene Angaben in einem Horoskop nieder, das wenige Jahre zuvor Paul Behaim von seiner Mutter zu erhalten wünschte.204 „Aberglauben ist ein Erkenntnisrudiment“,205 schrieb Warburg 1901 in sein Tagebuch. Dies trifft auch für Geburtsschilderungen in frühneuzeitlichen 202 RUËFF, 1580, hier fol. 3r, 28v. Den Bildhinweis verdanke ich Dr. Elke A. Werner (Freie Universität Berlin). 203 EBD. Auf dem Titelblatt wird der Verfasser als „Iacobi Rveffi, Chirurgi Tigurini“ angegeben. ROBIN, 1992, S. 104 schrieb „Jacob Reuff“. KEIL, 2005, S. 216f. und WYSS, 1889, S. 591-593 scheint diese nach Ruëffs Tod veröffentlichte Schrift nicht bekannt zu sein. Handelt es sich vielleicht um den postumen Druck eines seiner „Geheimbücher […] [, die er] nur ausgewählten Fachkollegen weitergab“ (KEIL, 2005, S. 217)? 204 Zu Ritualen im Kontext frühneuzeitlicher Geburten vgl. weiterführend LABOUVIE, 1998, S. 210-217; ULRICH, 1998, S. 30-49. 205 THE WARBURG INSTITUTE ARCHIVE, III, Personal Diary, no. 2, S. 60, 13.08.1901. Ich danke Dr. Dorothea McEwan (The Warburg Institute London) für diesen Quellenhinweis. 135

Stefan Hanß

Selbstzeugnissen mit all ihren astrologischen Details zu, und zwar nicht in einem positivistischen oder an den Fortschrittsgedanken geknüpften, entwicklungsteleologischen Sinne, sondern dahingehend, dass astrologische Notizen zu Geburtsangaben in bestimmten historischen Kontexten für die Akteure verhandelbare Sinnstiftungsmöglichkeiten anboten, sich zu zeiten. So standen in einer umfassenderen, heilsgeschichtlichen Kosmologie Lebensumstände, Selbstthematisierungen, Personen- und Beziehungskonzepte in vielfältigen mikro- und makrokosmischen Zusammenhängen.

Abbildungen

Abbildung 1: GÜNTZER, Wassertauche, 17. Jh.

136

„Bin auff diße Welt gebohren worden“

Abbildung 2: ANONYM, Abbildung aus Lichtenbergers Prophezeiungen mit den Namenszügen Luthers und Melanchthons.

Abbildung 3: ANONYM, Darstellung einer Geburt und Horoskopbestimmung.

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Stefan Hanß

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N OVA S UB S OLE ? V ERZ E I TL IC HU NG EN E U RO P A

UND

DES

WISSENS

Z W I S C H EN

O ST ASI EN

TOBIAS WINNERLING „Es ist aber das Zeichen eines unerfahrenen und leichtfertigen Philosophen, nach einer Ursache für die allgemeinsten Sachverhalte zu verlangen, für das Untergeordnete und Niedrige aber eine Ursache nicht zu suchen.“1

So Francis Bacon 1620 im Novum Organum, Aphorismus 48. Und um es gleich vorweg zu sagen: Auch dieser Text entspringt dieser Schwäche der menschlichen Natur. Er versucht, große Linien auf kleiner Grundlage zu ziehen und ist daher, um es mit meinen eigenen Quellen auszudrücken, intellektuell problematisch. Hinzu treten noch die Schwierigkeiten, die daraus resultieren, dass er sich zum einen wie zum anderen auf die Needhamsche Frage bezieht – Warum erlebte China keine wissenschaftliche Revolution? – auch wenn ich glaube, dort höchstens einen Baustein zur Antwort liefern zu können. Aber der Reihe nach: Zum Einen harrt Joseph Needhams berühmte Frage seit über 50 Jahren einer Beantwortung, und nicht wenige Historiker führen das mittlerweile darauf zurück, dass sie einfach schlecht gestellt ist. Eine wissenschaftliche Revolution im Sinne eines plötzlichen und umstürzenden Paradigmenwechsels, der aus der Asche der alten die neue und moderne Wissenschaft im 1

KROHN/BACON, 1990, S. 111. 155

Tobias Winnerling

17. Jahrhundert phönixhaft emporsteigen lässt, gab es auch in Europa nicht, was ein gutes Argument dafür ist, die Fragestellung zu überdenken. Zum Anderen wird auch der Modus des Fragens selbst bisweilen in Zweifel gezogen: „However [...] it is crucial to repeat that the negative question of why the Scientific Revolution did not occur in China is foreign to the historical enterprise and not one subject of historical analysis.“, so James McClellan und Harold Dorn in ihrem ansonsten durchaus guten Handbuch Science and Technology in World History.2 Begründet wird diese Feststellung damit, die Frage zu stellen sei bereits eine historische Abart des ontologischen Fehlschlusses. Sie zeichne vor, dass sich China in eine bestimmte, der europäisch definierten Norm konforme Richtung habe entwickeln sollen,3 was ein durchaus schlechtes Argument ist. Denn wenn wir Wissensentwicklung und Wissenstransfer zwischen Europa und Ostasien, hier als chinesisch beeinflusster Kulturraum verstanden, in der Frühen Neuzeit betrachten, so gibt es offensichtlich eine Disparität; faktisch ereignete sich das, was zu unserer heutigen Wissenschaftsund Wissenskonzeption führte, am westlichen und nicht am östlichen Ende der Alten Welt. Die Frage nach Gründen dafür zu stellen bedeutet eben nicht, beide historischen Komplexe aus ihrem jeweiligen kulturellen und eigendynamischen Kontext zu reißen, sondern im Gegenteil, sie durch den Vergleich in ihren jeweiligen Eigenarten näher bestimmen zu wollen, was ich im Folgenden versuchen möchte. Denn untersucht man die unterschiedlichen Konzeptionen des Wesens der Bewegung der Zeit, die sich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert im Kontakt zwischen Europa und Ostasien gegenüberstehen, so lassen sich zu all den bereits bekannten noch weitere mögliche Gründe dafür finden, warum eine gegenseitige Verständigung so schwer war. Ich versuche mich dabei an einer Teilantwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Zeit, Religion und Wissenskonzeptionen zwischen Europa und Ostasien in der Frühen Neuzeit. Ganz neu ist dieser Ansatz freilich nicht: Needham selbst setzte sich bereits 1964 mit dem chinesischen Zeitverständnis auseinander und kam dabei zu der These, dass die Zeitkonzeptionen für die Beantwortung seiner großen Frage keine Rolle spiele4: „The conclusion springs to the mind. If Chinese civilization did not spontaneously develop modern natural science as Western Europe did […] it was nothing to do with her attitude towards time.”5

2 3 4 5 156

MCCLELLAN/DORN, 2006, S. 139f. EBD., S. 140. Vgl. NEEDHAM, 1979, S. 233, S. 240, S. 266, S. 276f., S. 285. EBD., S. 298.

Nova Sub Sole?

Ohne Needhams Arbeit schmälern zu wollen, scheint es mir doch, es lohne sich, über gewisse Aspekte der Zeitverständnisse in diesem Kontext noch einmal an exemplarischen Quellen nachzudenken, da er (was ich nicht tue) von der Möglichkeit einer objektiven Zeiterkenntnis und -erfahrung ausgeht. „There can be no doubt that time is a basic parameter of all scientific thinking – half of the natural universe indeed, if only a quarter of the number of commonsense dimensions – and therefore that any habit of decrying it cannot be favourable to the natural sciences. It must not be dismissed as illusory; nor depreciated in comparison with the transcendent and the eternal.”6

Damit verschließt er sich gewisse Betrachtungsmöglichkeiten automatisch, die ich im Folgenden aufgreifen möchte, und zwar vorwiegend anhand der von ihm wenig betrachteten Peripherie des ostasiatischen Kulturraums, Japans, für das die Needhamsche Frage natürlich auch gestellt werden muss. „When the Master was standing by a stream, he said: ‚Things that go past are like this, aren't they? For they do not set aside day or night.‘“7

Diese berühmte Stelle zur Zeitwahrnehmung des Kong Zi ሹሶ (besser bekannt als Konfuzius) findet sich in Buch 9 der Lun Yu ⺰⺆, der Gespräche, in Abschnitt 17.8 Mit dieser Einschätzung der Zeit als fluides, ja fluviales Medi6 7

8

EBD., S. 291. DAWSON/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2003, S. 33. Ich verwende hier die Übersetzung von Richard Dawson, da die noch immer meistverwendete deutsche Übersetzung von Richard Wilhelm durchaus umstritten ist (was allerdings auch auf andere englisch- und anderssprachige Übersetzungen zutrifft). Dawson scheint mir, auch was den Kommentar angeht, am nächsten an der Quelle zu sein. Dennoch verwende ich im Folgenden die wilhelmsche Übersetzung für andere konfuzianische Texte. Alle mit [] eingeklammerten Einfügungen chinesischer Schriftzeichen im Folgenden sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, Einfügungen von mir, ebenso wie alle nach Autorennamen und Werktiteln eingefügten. Ich füge diese Schriftzeichen zur Klärung der verwendeten Transkriptionen an. Die Autorschaft der Lun Yu ⺰⺆ist umstritten; während ein Teil des Textes durchaus auf Aufzeichnungen Kong Zis ሹሶ direkter Schüler zurückgehen mag, so sind andere Teile deutlich späteren Datums, und es gibt Stellen, die durch Textverluste im Überlieferungsverlauf völlig unverständlich geworden sind. Trotz dieser immer mitzudenkenden Einschränkungen bei der Nutzung dieser Quelle spreche ich im Folgenden immer von Kong Zi ሹሶ als Autor, da während der gesamten nachkonfuzianischen chinesischen Geschichte immer davon ausgegangen wurde, dass 157

Tobias Winnerling

um ist er sich mit Francis Bacon einig; Aphorismus 71 des Novum Organum stellt fest: „Denn die Zeit führt gleich einem Fluß das Leichtere und Aufgeblähte uns zu, während sie das Gewichtigere und Feste untergehen läßt.“9 Ähnliche Stellen finden sich ebenso in Aphorismus 7710 und in der Praefatio zur Instauratio Magna,11 die Flussmetapher der Zeit scheint Bacon offensichtlich eine wertvolle Analogie. Weitere Parallelen lassen sich finden. Lun Yu ⺰⺆ 9, 22 scheint in gewisser Übereinstimmung zu stehen mit dem Aphorismus 78 des Novum Organum. Kong Zi ሹሶ sagt: „There are times, aren’t there, when plants shoot but do not flower, and when they flower but do not produce fruit?“;12 und Bacon stellt fest: „[...] aus 25 Jahrhunderten, soweit die Erfahrung und das Wissen der Menschen etwa reicht, kann man kaum 6 Jahrhunderte ausnehmen und heranziehen, welche für die Wissenschaften fruchtbar und für deren Entwicklung nützlich gewesen sind. Denn es gibt in den Zeiten wie in den Landstrichen Wüsten und Einöden.“13

Abseits vom fließenden Momentum lässt sich Zeit also auch punktuell qualifizieren, sie ist nicht gleichförmig; es gibt Zeiten, die sich durch besondere Eigenschaften auszeichnen, die anderen fehlen. Was hingegen als gleichförmig angenommen zu werden scheint, ist die Form der zeitlichen Bewegung; hier sind beide einem zyklischen Muster verpflichtet.14 Eine der bekanntesten Stellen des Lun Yu ⺰⺆ – Buch 17, Abschnitt 17 – hält folgendes fest:

9 10 11 12 13 14 158

der Text die Äußerungen des Weisen autoritativ überliefert. Im Untersuchungszeitraum galt diese Annahme ebenso auch für die mit China im Kontakt befindlichen Europäer. Ein letzter Hinweis: Die von mir verwendete Textversion beruht wie eigentlich alle europäischen Übersetzungen auf der Quellenkritik der Gelehrten der Quing-Dynastie ᷡᦺ, vor allem des 18. Jahrhunderts, die den wahren KonfuziusText von den bislang aufgelaufenen Überlieferungsirrtümern befreien wollten. Es ist mir noch nicht gelungen, eine wissenschaftlich verwendbare Übersetzung ausfindig zu machen, die den Textbestand der Ming-Dynastie ᣿ᦺ, also des Untersuchungszeitraums, widergibt. In den zitierten Stellen dürften die Abweichungen aber minimal sein. KROHN/BACON, 1990, S. 153. EBD., S. 165. EBD., S. 19. DAWSON/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2003, S. 33. KROHN/BACON, 1990, S. 167. NEEDHAM 1979, S. 227f, 251.

Nova Sub Sole? „The Master said: ‚I wish to do without speech.‘ Zigong said: ‚If you do not speak, what will be handed on by your disciples?‘ The Master said: ‚What ever does Heaven say? Yet the four seasons run their course through it and all things are produced by it. What ever does Heaven say?‘“15

Bacons Essay Of Vicissitude of Things (Über die Wandelbarkeit der Dinge) betont das zyklische Momentum der Zeit auch mit Blick auf die Wissensproduktion: „Auch die Wissenschaft hat ihre Zeit der Unmündigkeit, wenn sie eben anfängt und noch fast kindisch ist; dann ihre Jugend, wenn sie üppig und übermütig ist; darauf ihre Mannesjahre, wenn sie gesetzt und gebändigt ist; und endlich ihr Greisenalter, wenn sie trocken und erschöpft ist. Doch es ist nicht gut, allzu lange auf diese wirbelnden Räder der Vergänglichkeit zu blicken: es würde uns schwindlig machen.“16

Und in De Sapienta Veterum (1609) stellt Bacon mit Blick auf die menschliche Geschichte fest, dass sich die revolutiones der Zeit beständig wiederholen.17 Mit dieser Vorstellung steht Bacon bei weitem nicht allein, sondern auch intrakulturell zeitgenössisch auf sicherem Boden. Ausgehend von antiken Konzepten popularisierten die Humanisten die Vorstellung des Zeitenrades wieder. Zu Beginn des Essays paraphrasiert Bacon Machiavellis Discorsi in einer Stelle über den Lauf der Geschichte.18 Verzeitlichung des Wissens soll in diesem Zusammenhang das Aufbrechen der Gewissheit sein, überzeitliche Wahrheiten als solche erkennen und tradieren zu können. Mit dem Herausfallen des Wissens aus dem Bereich letztlich übernatürlich legitimierter Sicherheit und dem Eintritt in die Sphäre des Menschengemachten ist eine neue temporale Dimension verbunden: Wissen wird nun nicht mehr als gegeben gefunden, sondern gemacht; es wird hergestellt und altert, bis es schließlich mit dem Fortgang der Zeiten veraltet. Mit Bacons Worten:

15 16 17 18

DAWSON/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2003, S. 71f. BACON, 1970, S. 197. ROSSI, 1996, S. 41. Vgl. EBD., S. 232, und MACHIAVELLI, 2007, S. 152f. 159

Tobias Winnerling „Wie wir eine größere Kenntnis der menschlichen Verhältnisse und ein reiferes Urteil mit Recht von einem Greis als von einem Jüngling erwarten wegen der Erfahrung und der Vielfalt und Menge der Dinge, die er sah und hörte und bedachte, so kann man auch von unserer Zeit, wenn sie nur ihre Kräfte erkennen, anwenden und anstrengen wollte, weit mehr als von den alten Zeiten erwarten, ist sie doch für die Welt die ältere und um unzählige Experimente und Beobachtungen vermehrt und bereichert.“19

Hier ist Bacon in seinem zeitgenössischen Kontext keineswegs exzeptionell, und unterscheidet sich auch wenig von den jesuitischen Denkern, die die Ausrichtung des Ordens in der Zeit des Aufeinandertreffens mit China prägten. Der aufgrund seiner Gelehrsamkeit bei Zeitgenossen aller Konfessionen hoch angesehene Benito Perera SJ betonte bereits 1562 in seinem Werk De communibus omnium rerum naturalium principiis et affectionibus den Vorrang von Experiment und Beobachtung in der Erklärung natürlicher Phänomene, so dass Galilei sich 1616 auf ihn zur Rechtfertigung seiner Methodik bezog.20 Mit Kong Zi ሹሶ und Bacon stehen jedoch zunächst einmal zwei offensichtlich ungleiche Partner im Vergleich zusammen. Warum ausgerechnet dieses Paar? Wenn auch seine Methodologie und Terminologie nicht mehr im Kanon moderner Wissenschaft aufzufinden ist, so fällt Bacons Name als Mitbegründer unseres modernen, empirisch-fortschrittsdenkend orientierten Weltbildes doch immer, wenn von dem frühneuzeitlichen Umbruch in der Wissenschaftskonzeption die Rede ist. Kong Zi ሹሶ begründete durch das, was als seine Lehre aufgezeichnet und weitergedacht wurde, bereits im 2. Jahrhundert vor der Zeitrechnung das komplexe Weltbild Dong Zhongshus ⫃ખ⥥, das in der Folge bereits im 1. Jahrhundert zu einer quasi-religiösen, zur Orthodoxie gewachsenen konfuzianischen Weltdeutungsmethode heranwuchs, die im chinesisch geprägten Kulturkreis Ostasiens bis ins 19. Jahrhundert Geltung beanspruchte – und in Bereichen wie der traditionellen chinesischen Medizin immer noch beansprucht.21 Hierbei wurde Kong Zi ሹሶ in der Tradition schließlich explizit zugeschrieben, nicht nur die zwischenmenschlichen, sondern auch die kosmischen Phänomene erkannt zu haben: „Dschung Ni [ખዦ]22 nahm Yau [ႌ] und Schun [⥮] als seine Ahnen, die er fortsetzte, und nahm Wen [ᢥ] und Wu [ᱞ]

19 20 21 22 160

KROHN/BACON, 1990, S. 179f. REISER, 2006, S. 451. HSU, 2001, S. 439f. Gelehrtenname des Kong Zi ሹሶ.

Nova Sub Sole?

als Gesetz, nach dem er sich richtete. Dem Himmel droben lauschte er seine Zeiten ab und der Erde drunten ihre Geheimnisse.“23 Nimmt man die Situation des tatsächlichen Aufeinandertreffens europäischer und ostasiatischer Wissenskonzepte im 16. und 17. Jahrhundert in den Blick, so stellt sich also die Frage, inwieweit es sich bei der Gegenüberstellung Kong Zi ሹሶ – Bacon auch um eine funktionale Entgegensetzung zweier Sichtweisen handelt. Schließlich wurde der Kontakt zwischen beiden Regionen, über den Wissen vermittelt wurde, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts von den Jesuiten getragen, die einerseits für den Protestanten Bacon wenig übrig hatten und andererseits bevorzugt solche naturphilosophischen Schriften gen Osten brachten, die sich auf als aristotelisch geltende Autoren zurückführen ließen;24 sie transferierten Wissen, gleich welches, genau dann, wenn es ihnen instrumentell nützlich erschien.25 Das bedeutete, dass das von ihnen durch Übersetzung in Ostasien zur Verfügung gestellte Textkorpus notwendig recht heterogen geriet und vielfältige Anknüpfungspunkte bot – und damit auch nicht immer die, die die Jesuiten ursprünglich gern damit verbunden gesehen hätten. Gerade auf dem Gebiet der Zeitvorstellungen kam es dabei sowohl zu Interessensüberschneidungen wie auch zu Problemen. Betrachtet man etwa den chinesischen Fall: „First, just as Trade between two countries can take place only when both sides believe that some of their own pragmatic needs can be satisfied by the trade, in our case communication between two scientific traditions took place when the Jesuit side believed that their scientific activities in China could benefit their mission, and the Chinese side believed that Western scientific knowledge could help to reform calendar calculation, whose accuracy had important social and political significance at that time.“26

Das in der Literatur bereits sehr gut aufgearbeitete Phänomen der Kalenderberechnung, das hier angesprochen wird, verfolge ich in diesem Aufsatz nicht weiter, weil es sich dabei von chinesischer Seite aus um eine rein chronometrische Frage handelte. Es ging darum, die wichtigen Termine des rituellen Ka23 WILHELM/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2008, S. 623, S. 625. Yao ႌ und Shun ⥮ sind zwei der mythischen chinesischen Kaiser der Vorzeit, die in der traditionellen chinesischen Geschichtsschreibung als Exempel guter, da in höchstem Maß tugendhafter Herrscher stehen. 24 PETERSON, 1973, S. 298. 25 ZÜRCHER, 1995b, S. 96. 26 HUANG, 2005, S. 412. 161

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lenders exakt zu berechnen, wobei die Methode hinter dem Ergebnis zurückstand. Mit der erfolgreichen Installation der Jesuiten als Kalenderkalkulatoren des chinesischen Kaisers ging daher keine Veränderung der Grundannahmen über die Natur der Temporalität einher. Das vermittelte Wissen blieb rein instrumentell. Betrachtet man Bacon jedoch als Exponenten seiner Zeit, der Strömungen exemplifiziert, die sich auch im Werk Pereras und anderer Jesuiten finden lassen, so können seine Aussagen auf einer generelleren Ebene durchaus übertragen werden. Die zeitliche Koinzidenz ist ebenfalls gegeben. Wirft man einen Blick auf die Zeitabschnitte, in denen die Jesuiten Übersetzungen europäischer Naturphilosophie ins Chinesische anfertigen, so lassen sich zwei Hauptphasen identifizieren: Die Jahre 1603-1615 und 1626-1637.27 Die während des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts im Spitzenfeld europäischer Wissenschaft tätigen Jesuiten waren in dieser Übersetzungstätigkeit auch neuen Erkenntnissen nicht abgeneigt. Im Gegensatz zu ihrem philosophischen Leitstern Thomas von Aquin nahmen sie in praxi eine Teilbarkeit von natürlichem und göttlichem Plan an.28 Aus der Schrift ließen sich demnach keine zwingenden Erklärungen natürlicher Phänomene ableiten. 1614 veröffentlichte Manuel Diaz Jr. das TenWan-leo, eine Erklärung astronomischer Beobachtungen nach Ka-li-leo ૄ೑⇛ – Galilei.29 Selbstverständlich bedeutete das nicht, dass die Societas Jesu sich vorbehaltlos den neuen Entwicklungen verschrieb. Sabbatino de Ursis, seit 1610 Hauptübersetzer der Jesuiten für Naturphilosophie in China, wich in seinen Argumentationen ab 1615 auf das tychonische System von 1588 aus,30 als die Haltung der Kirche in der Frage der Heliozentrik schärfer wurde, und nach der Verurteilung von Galileis Thesen durch die Kirche 1616 wurde die Bezugnahme auf jegliches heliozentrisches System eingestellt. In diesem Sinne übertrugen die Jesuiten zwar nicht die durch die wissenschaftliche Revolution gewandelte europäische Wissenschaft des späten 17. und 18. Jahrhunderts, aber das, was deren unmittelbare Ausgangsbasis darstellt, also die Elemente enthält, die in Europa den Paradigmenwechsel von traditionalpräskriptiven zu empirisch-deskriptiven Methodologien möglich machten. Damit korrespondiert diese zu untersuchende Situation auch der eingangs gestellten Needhamschen Frage, die ja nicht lautet: Warum übernahm China die

27 28 29 30 162

PETERSON, 1973, S. 297. CORREIA, 2001, S. 93. SZCZEĝNIAK, 1945, S. 32f. PETERSON, 1973, S. 298.

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wissenschaftliche Revolution nicht?, sondern danach fragt, warum sie in Ostasien nicht stattfand. Die Tatsache, dass zumindest eine Bedingung der Möglichkeit hierfür gegeben war – in Form eines Korpus von Wissensbeständen, die nach der jesuitischen Vermittlung prinzipiell beiderseitig zugänglich waren, in Europa wie in Ostasien –, macht es noch lohnender, nach potentiellen Inhibitoren zu suchen. In einem anachronistischen Einschub möchte ich ausgehend von Kant für das Folgende die Position beziehen, dass es sich bei der Zeit um eine der Formen unseres inneren Sinnes handelt,31 das heißt, wir können nichts denken, das nicht in der Zeit wäre. „Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte.“32 Damit ist aber keine Aussage darüber getroffen, wie diese Form ausgestaltet wird und welche tatsächliche Zeitwahrnehmung daraus folgt. „Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung, (welche jederzeit sinnlich ist, d. i. so fern wir von Gegenständen affiziert werden,) und an sich, außer dem Subjekte, nichts.“33

Um nun weitergehend mit Hume zu sprechen, ist Kausalität ebenfalls nichts außer uns objektiv Auffindbares, sondern lediglich eine menschliche Angewohnheit. „When we look about us towards external objects, and consider the operation of causes, we are never able, in a single instance, to discover any power or necessary connexion; any quality, which binds the effect to the cause, and renders the one the infallible consequence of the other.“34

Daraus folgt, dass die Verknüpfung stets aufeinanderfolgend wahrgenommener Dinge zum kausalen Wirkverhältnis lediglich eine mentale Gewohnheit darstellt: „[...] after a repetition of similar instances, the mind is carried by habit, upon the appearance of any one event, to expect its usual attendant, and to believe, that it will exist.“35 Hierbei zeichnen sich bereits erste Rückflüsse ab: 31 32 33 34 35

KANT, 1966, S. 97. EBD., S. 99. EBD.. HUME, 1999, S. 136. EBD., S. 145. 163

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Der quasi negative Verzeitlichungsprozess, in dem abgestritten wird, dass die chronologische Verknüpfung des Aufeinanderfolgens sich notwendig in die kausale Verknüpfung von Ursache und Wirkung übersetzen lässt, geht wahrscheinlich teilweise auf buddhistisches Gedankengut zurück, das Hume während seines Aufenthalts im Jesuitenkolleg von La Flèche in der dortigen Bibliothek studieren konnte.36 Trotz der Ähnlichkeit buddhistischer und Humescher Theorie über die Kausalität muss jedoch in der Tiefe eine strukturelle Divergenz festgehalten werden; Humes Ansatz ist epistemologisch, nicht soteriologisch wie der Shakyamunis.37 Diese Verschiedenheit der zugrundeliegenden Strukturen bei einer oberflächlichen Gleichheit der Phänomene ist eben das Problem, mit dem man sich auf dem Gebiet unterschiedlicher Verzeitlichungen befassen muss. Die Verbindung der Theoreme Kants und Humes erlaubt nun eine genauere Analyse des Verständigungsproblems zwischen Kong Zi ሹሶ und Bacon. Ich gehe für das Folgende davon aus, dass die Mechanismen kausaler Kopplung bei allen hier zu Wort gekommenen Denkern stets temporär gedacht wurden. Ich möchte mich hierbei selbst den referierten Positionen Kants und Humes anschließen, auch wenn beide mit meiner Verknüpfung dieser Gedanken wohl kaum einverstanden gewesen sein dürften. Der logische Fehlschluss post hoc ergo propter hoc entsteht nicht zufällig, sondern offenbar durchaus durch eine Gewohnheit des menschlichen Geistes im Humeschen Sinn. In Umkehrung lässt sich daraus eine der kausalen Kette implizite Bedingung konstruieren; propter hoc ergo post hoc erscheint logisch unstrittig. Ist Kausalität also prinzipiell dem Zeitfluss unterworfen gedacht, so sagt das jedoch noch nichts darüber aus, welche Form der Zeit und des Zeit-Vergehens dabei angenommen wird. Möglicherweise sind verschiedene Formen, kausale Kopplungen zu postulieren, intrinsisch mit unterschiedlichen Zeitkonzeptionen verknüpft; oder, um es weniger streng zu formulieren, bestimmte Formen logischer Wahrnehmung werden durch korrelierte Formen der Zeitwahrnehmung begünstigt. Zumindest für die jesuitischen Missionare Matteo Ricci und Niccolo Longobardi gilt das trotz aller ihrer methodischen Differenzen in ihrem Herangehen an die Probleme der Argumentation in der China-Mission des 17. Jahrhunderts:

36 GOPNIK, 2008/2009, S. 3f. 37 JACOBSON, 1969, S. 23. 164

Nova Sub Sole? „Both maintained that more than any Christian mystery, the existence of a personal god who is as powerful as it is benevolent had to be assumed, because nothing comes from nothing and the very idea of each and every thing necessarily implies the notion of an originating source external to it in order for the basic operation and the well-being of the world to be understood at all. In other words, the concept of an efficient cause has to be taken for granted along with the other Aristotelian causes of first principles (i.e. the material cause, the formal cause and the final cause).“38

Dieses Prinzip findet auch in ganz konkreten Ausformungen jesuitischer Missionstätigkeit in Ostasien seinen Niederschlag: Eine Hilfestellung für Prediger in Japan, entstanden im 16. Jahrhundert und angelehnt an Johannes de Sacro Boscos Tractatus de Sphaera, konzentriert sich folgerichtig auf die kausale Nachzeichnung irdisch beobachtbarer Phänomene unter Verweis auf die zugrundeliegende Letztursache – Gott. Der gesamte erste (von zwei) Teilen des Werks befasst sich mit den der Zeit und ihrer Messung nach Aristoteles zugehörigen Phänomenen: den Himmelskörpern, ihrer Natur und ihren Bewegungen; der Folge der Tage, Monate und Jahre, ihrer Verschiedenheit und dem Kalender; den Erdzonen und schließlich Sonnen- und Mondfinsternissen, um zu größeren astronomischen Einheiten wie den Sternen und der Milchstraße überzugehen.39 Im konfuzianischen Weltbild zeichnete sich der Kosmos dagegen durch ein mechanistisches, vielschichtiges System von Ebenen aus, die jeweils eine bestimmte Klasse von Phänomenen umfassen und vom Menschen bis zum Himmel aufsteigend kausal gekoppelt sind, also nicht nur horizontal, sondern auch vertikal integriert. Ereignisse in einer Ebene des Systems lösen damit stets eine Reaktionskette aus, die das ganze System durchdringt; der Grund hierfür ist, dass innerhalb des Gesamtkosmos stets ein dynamisches Gleichgewicht gewahrt bleibt. Der hinreichend Gelehrte, vor allem der Weise, kann diese Ketten überschauen und somit erkennen, was geschehen wird. Das Konzept funktioniert naturgesetzanalog, nur dass der menschliche Wille ebenso in die kausale Kopplung einbezogen wird wie die menschlichen Taten.40

38 LIU, 2005, S. 42. 39 SCHÜTTE, 1939, S. 243. 40 HSU, 2001, S. 439. 165

Tobias Winnerling „Nur wer auf Erden die höchste Wahrheit hat, kann sein Wesen durchdringen. Wer sein Wesen durchdringen kann, kann das Wesen der Menschen durchdringen. Wer das Wesen der Menschen durchdringen kann, der kann das Wesen der Dinge durchdringen. Wer das Wesen der Dinge durchdringen kann, der kann wie Himmel und Erde schöpferisch gestalten. Wer wie Himmel und Erde schöpferisch gestalten kann, der bildet mit Himmel und Erde die große Dreiheit. Die nächste Stufe ist es, beim Kleinen und Einfachen anzufangen und es in die Wahrheit zu bringen. Wahrheit wirkt Wirklichkeit, Wirklichkeit wirkt Sichtbarkeit, Sichtbarkeit wirkt Klarheit, Klarheit wirkt Bewegung, Bewegung wirkt Veränderung, Veränderung wirkt Umgestaltung. Nur wer auf Erden höchste Wahrheit hat, kann umgestalten. Der Weg der höchsten Wahrheit führt dazu, dass man die Zukunft voraus erkennen kann. Wenn ein Reich im Begriff ist aufzublühen, so gibt es stets günstige Vorzeichen; wenn ein Reich im Begriff ist unterzugehen, so gibt es stets unheilvolle Vorzeichen. Das offenbart sich in Schafgarbe und Schildkröte (beim Orakel) und regt sich in allen Gliedern. Ob Heil oder Unheil heraufzieht, so gibt es Gutes, das (der Heilige) sicher zum voraus erkennt, und Böses, das er zum voraus erkennt. Darum ist der, der die höchste Wahrheit hat, göttlich.“41

Interessant ist hierbei, dass sich noch einmal die Beobachtung einflechten lässt, dass gleiche Annahmen über kausale Kopplungen offensichtlich unter ungleichen temporalen Voraussetzungen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Machiavelli führte in den Discorsi zur Vorhersage durch Orakel aus: „Woher es kommt, weiß ich nicht, aber man sieht durch alte und neue Beispiele, daß nie ein schwerer Unfall einer Stadt oder einem Land zustieß, der nicht durch Wahrsager, Prophezeiungen, Wunder oder Zeichen am Himmel vorausgesagt worden wäre. [...] Die Ursache dieser Erscheinungen sollte meines Erachtens von einem Mann erörtert und erklärt werden, der die natürlichen und übernatürlichen Dinge durchschaute, was wir nicht können. Möglich wäre es zwar, daß die Luft, wie es ein gewisser Philosoph will, mit vernünftigen Wesen, welche die Gabe haben, in die Zukunft zu sehen, bevölkert ist, und daß diese Wesen mitleidsvoll die Menschen durch solche Zeichen aufmerksam machen, damit sie sich zur Verteidigung rüsten können. Wie dem aber auch sei, so zeigt sich doch, daß die Sache ihre Richtigkeit hat, und daß immer nach solchen Er41 WILHELM/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2008, S. 613, S. 615. 166

Nova Sub Sole? scheinungen den Ländern außerordentliche und unerwartete Unfälle zustoßen.“42

Diese ungleichen Voraussetzungen verdienen es also, näher in den Blick genommen zu werden. „Herakleitos sagt doch, daß alles davongeht und nichts bleibt, und indem er alles Seiende einem strömenden Flusse vergleicht, sagt er, man könne nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“43 Zwischen den beiden bereits skizzierten fluvialen Positionen Bacons und Kong Zis ሹሶ besteht ein bislang nicht ausreichend in den Blick genommener Unterschied, der subsequente Entwicklungen präfiguriert. Er besteht in der angenommenen Gerichtetheit der temporalen Entwicklung. Für ein konfuzianisch beeinflusstes System ist eine solche nicht anzunehmen; die Zeit ist ursprungslos ewig. In seiner antichristlichen Schrift Kengiroku 㗼⇼㍳ stellte der Zen ⑎-Mönch Sawano Chnjan ᴛ㊁ᔘᐻ1644 unter Bezug auf Aristoteles fest: „Moreover, before the birth of Jesus Christus [...], there lived in South Barbary a great scholar named Aristoteles, who in discussing the beginning of heaven and earth correctly noted that heaven and earth have no beginning. [...] The category known as simplex (uncompounded things) – earth, water, fire, air and heaven – are not created things and therefore have neither beginning nor end: they are the mysterious effects of the conjunction of Yin [㒶] and Yang [㓁]. But that is plain before everyone’s eyes. To explain all this by teaching that there is a creator of heaven and earth, the one Lord of all, is merely a device to establish the Kirishitan religion.“44

Chnjan ᔘᐻ stellt hier einen interessanten Kreuzungspunkt zwischen ostasiatischem und europäischem Wissen und Zeitvorstellungen dar, als er zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein wechselvolles Leben zurückblicken konnte: Geboren um 1580 in Torre Vedras bei Lissabon als Christovão Ferreira, trat er 1596 in die Societas Jesu ein, um bereits im April 1600 von dieser per Goa nach Macao zur weiteren Ausbildung als Asienmissionar geschickt zu werden.45 Nach beendeter Ausbildung wurde er von dort nach Japan weitergesandt, wo er im Juni 1609 eintraf.46 Er durchlief die Stationen des Aufrückens in der Ordens42 43 44 45 46

MACHIAVELLI, 2007, S. 127f. PLATON, 1975, KRATYLOS, 402a, S. 144. ELISON/FERREIRA[CHNjAN ᔘᐻ], 1991, S. 298 (Hervorhebung im Original). CIESLIK, 1974, S. 1f. EBD., S. 3. 167

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hierarchie relativ reibungslos und gehörte schließlich zu den Jesuiten, die nach der offiziellen Ausweisung der Patres aus Japan 1614 verdeckt und illegal im Land blieben, um die Mission weiterzuführen;47 eine Situation, in der er schließlich als ältestes noch im Land verbliebenes Ordensmitglied, das alle vier Gelübde abgelegt hatte, 1633 die Leitung der Ordensprovinz Japan übernahm.48 Im selben Jahr wurde er von der japanischen Christenverfolgungsbehörde gefangengenommen und, deren erprobter Praxis entsprechend, der Folter des ana-tsurushi ⓣษ, des Hängens in der Grube, unterworfen. Hierbei wurde der Delinquent fest mit Seilen verschnürt, um den Blutfluss zu behindern, und dann kopfüber in eine Grube gehängt, die am Grund mit Jauche gefüllt war. Von oben wurde die Grube blickdicht verschlossen und das Opfer damit in der Finsternis allein gelassen, gequält von Gestank, Hunger, Durst, Desorientierung und dem langsam – durch die Verschnürung – sich in Kopf und Oberkörper sammelnden Blut, was die Herztätigkeit schwächte und unter anderem Kopfschmerzen, Schwindel, und Halluzinationen auslöste. In der Grube widerrief Ferreira binnen 5 Stunden seinen Glauben, konvertierte – gezwungenermaßen – zum Zen-Buddhismus ⑎ቬ und nahm den Mönchsnamen Sawano Chnjan ᴛ㊁ᔘᐻ an.49 Fabian Fukan ਇᐓ50 ist ebenfalls ein in diesem Zusammenhang bemerkenswerter Charakter: Geboren um 1565 in Japan,51 wurde er zunächst Zen ⑎Mönch, trat dann aber 1586 in die japanische Dependance der Societas Jesu ein. 1608 verließ er die Gesellschaft jedoch wieder – nach eigener Aussage, weil ihm die Priesterschaft verweigert wurde, nach jesuitischer Lesart jedoch wegen unerlaubter Beziehungen zu einer Frau – und revertierte zum ZenBuddhismus ⑎ቬ.52 Aus beiden Positionen heraus verfasste er jeweils einen missionarisch-apologetischen Traktat, 1605 das christliche Myǀtei mondǀ ᅱ⽵໧╵ (Myǀtei-Dialog) und 1620 das buddhistisch-konfuzianische Gegenstück, das antichristliche Ha Daiusu ⎕ឭቝሶ(Zerstörter Deus).53 Beide Werke schlossen auch naturwissenschaftliche Propositionen selbstverständlich mit ein, in getreuer Anlehnung an beziehungsweise Ablehnung von Argumentatio47 48 49 50

EBD., S. 4-10. EBD., S. 11f. EBD., 1974, S. 1-4, S. 16. Eigentlich Fukansai ਇᐓᢪ; im Folgenden aber wie allgemein üblich lediglich mit Fukan ਇᐓ!angegeben. 51 Vgl. ELISON, 1991, S. 154f. 52 ELISONAS, 2002, S. 17. 53 EBD. 168

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nen der Missionstraktate. Im Myǀtei mondǀ ᅱ⽵໧╵ führte er beispielhaft folgenden temporal konnotierten Analogieschluss ein, mit dem er die ordnende Hand Gottes beweisen wollte: Stünden verschiedene Provinzen Japans unter verschiedenen Herrschern, so seien Recht und Gesetz dort auch verschieden. Würden diese Provinzen unter dieselbe Herrschaft gebracht, so würden dort auch Recht und Gesetz identisch. Der Himmel und die Erde folgten nun derselben vollkommenen Regelmäßigkeit in ihrem Lauf, Tag und Nacht folgten stets geregelt aufeinander, die vier Jahreszeiten nähmen ihren Lauf: Also müssten auch diese Phänomene unter einer übernatürlichen Hand stehen.54 Und diese müsse auch die des Schöpfers sein. Denn dass die Dinge entstünden und wieder vergingen, um neu zu entstehen und wieder zu vergehen, sei unsinnig – woher sollten sie kommen, wenn ihre ursprüngliche Form einmal vernichtet worden sei?55 Sein Ha Daiusu ⎕ឭቝሶ argumentiert folgendermaßen dagegen: Die Tatsache, dass die Ursprünglichkeit der Welt erklärt werden müsse, sei keine spezifisch christliche Erkenntnis, daher sei auch die christliche Behauptung der Schöpfung nicht zwingend. „Why then do the adherents of Deus press their tedious claims with the pretence that they alone know the lord who opened up heaven and earth? Idle verbosity without substance, and most annoying!“ 56 Für die tatsächliche Ausformung zeitlicher Wahrnehmung in Ostasien wird diese Position – die tatsächlich nur in einem synkretistischen Paradigma zwingend ist, da die Existenz tausend falscher Lehren doch kein Argument gegen die Gültigkeit der wahren ist – zusätzlich von der buddhistischen Auffassung vom Wesen der Welt gestützt; im japanischen Kirishitan monogatari (Christen-Geschichte), anonym im 16. Jahrhundert erschienen, heißt es hierzu: „A general inspection of the Story of the Higher Special Dharma will reveal that the problem, ‚When did this world, its lands and territories, and its people have their beginning?,‘ does not exist. There is no report of gods or Buddhas creating these. And in the future yet to come, eternity following upon eternity, there will be no such creation.“57

54 55 56 57

HUMBERTCLAUDE /FUKAN ਇᐓ, 1939, S. 243. DIES., 1938, S. 250. ELISON/FUKAN ਇᐓ, 1991, S. 262. ELISON/O.A., 1991, S. 349. 169

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Die in beiden Weltdeutungsmöglichkeiten, die schließlich in einem synkretistischen System konvergierten, angenommene Zyklizität der Zeit besitzt weder Anfang noch Ende und bringt keinen Gesamtfortschritt hervor. Auch wenn unterschiedliche kosmogonische und kosmologische Modelle existierten, gelten für alle diese Basiskriterien: Zyklizität und Anfangslosigkeit.58 Die Zeit ist ursprungslos und ewig.59 Ähnliches stellte der konfuzianische Gelehrte Hayashi Razan ᨋ⟜ጊ (oder Dǀshun ㆏ᤐ ) in seinem Haiyaso ឃ⡍⯃ heraus. Das Haiyaso ឃ⡍⯃ soll eine Diskussion mit Fukan ਇᐓum 1606 in Kyǀtǀ wiedergeben; da der Text erst ab 1662 belegt ist, ist im Kontext anderer Werke Razans wohl eher anzunehmen, dass es sich um eine spätere Arbeit der 1650er Jahre handelt.60 Ob die zugrundeliegende und darin geschilderte Diskussion so stattfand, ist ebenfalls eher unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz ist das Werk dennoch gerade für meine Fragestellung brauchbar, da Razan sich darin dezidiert der Aufgabe widmet, die Fukan zugeschriebenen Standpunkte als heterodox zu brandmarken61 und damit Rückschlüsse auf die aus seiner Sicht orthodoxe Position zulässt: „Der Jesuit Matteo Ricci ೑℺┕62 behauptet, Himmel, Erde, Geister und Götter und die Menschenseele hätten zwar einen Anfang, aber kein Ende. Das glaube ich nicht. Gibt es einen Anfang, so gibt es auch ein Ende. Es ist richtig, dass beide, Anfang und Ende, fehlen. Aber es ist nicht richtig, dass es einen Anfang, aber kein Ende gibt. Ist dafür ein Beweis nötig?“63

Francis Bacon dagegen nimmt eine klar gerichtete Zeit an, die mit der Schöpfung begann, und verwirft die Idee der ursprungslosen Ewigkeit des Kosmos: „Auch kann man nicht ebenso denken, wie die Ewigkeit bis auf diesen heutigen Tag verflossen sein mag; da jene Unterscheidung zwischen einem Unendlichen als Vergangenem und als Künftigem, die gewohnterweise eingenommen wird, in keiner Weise Geltung beanspruchen kann; denn daraus würde folgen, daß ein Unendliches größer wäre als das andere, und daß das Unendliche sich aufzehrt 58 59 60 61 62

ZÜRCHER, 1995a, S. 138f. WANG, 2007, S. 207. PARAMORE 2006, S. 197f. EBD., S. 199. Hierbei handelt es sich um die chinesische Transkription des Namens Matteo Ricci: Li Ma-dou ೑℺┕. Im Original. 63 MÜLLER, 1939, S. 273. 170

Nova Sub Sole? und sich dem Endlichen nähern würde. [...] Aber weit verderblicher wirkt sich dieses Unvermögen des Geistes bei der Erforschung der Ursachen aus: Denn da das Allgemeinste in der Natur positiv sein muß, wie es auch gefunden wird, kann es in keiner Weise Verursachtes sein, dennoch strebt der rastlos strebende menschliche Verstand immer noch nach Höherem. Während er aber so nach Entfernterem strebt, fällt er ins Nächstliegende zurück, nämlich in die Endursachen, welche offensichtlich aber der Natur des Menschen, nicht aber der des Universums angehören.“64 „Den Anfang aber muß man von Gott hernehmen. Denn das, worum es hier geht, ist offenbar wegen seiner ausgezeichneten, guten Eigenschaft von Gott, der der Urheber des Guten und der Vater allen Lichtes ist.“65

Diese Zeit spinnt sich von da an unweigerlich fort. Wenn er auch ein zyklisches Geschichtsmodell annimmt, so ergibt die Summe dieser abfolgenden Zyklen dennoch ein sich immer weiter vervollkommnendes Ganzes. Diese unterschiedlichen temporalen Dynamiken und Gerichtetheiten sind nun insofern für das Problem der Wissensvermittlung wichtig, als sie durch die Zeit als Form des inneren Sinnes die Grundlagen des logischen Denkens präfigurieren. Der ungerichteten Parallelprozessualität der ostasiatischen Zeit entspricht eine Logik, die mit korrespondierenden Mustern und Einflüssen operiert;66 „things that go past are like this“ heißt in diesem Kontext, dass sich die immerwährende fließende Wandlung auch auf die Konstituenten der Welt erstreckt. Fukan ਇᐓ!führt das in negativer Form in seinem christlichen Traktat Myǀtei Mondǀ ᅱ⽵໧╵ so aus: Die Sonne sei immer die Sonne, ein Stern immer ein Stern; Erde sei immer Erde, damit fest, und Wasser, Luft und Feuer seien immer Wasser, Luft und Feuer, damit beweglich; die Elemente seien ewig und unwandelbar. Würde Wasser heute Wasser und morgen Feuer sein, so geriete die ganze Schöpfung ins Wanken.67 In einem buddhistischen Kontext muss man dazu noch mit der Grundannahme operieren, dass jede logische Proposition letztlich eine mentale Illusion darstellt, einen geistigen Selbstbetrug, der den Blick auf die Grundlagen des Seins verstellt.68 Die Baconsche gerichtete, auf das Heil hin fortschreitende Zeit begünstig dagegen eine Logik, die sich dieser 64 65 66 67 68

KROHN/BACON, 1990, S. 109-111. EBD., S. 207. Vgl. NEEDHAM 1979, S. 244. HUMBERTCLAUDE/FUKAN ਇᐓ, 1939, S. 248. ZÜRCHER, 1995a, S. 142. 171

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eben zitierten Argumentation verschreibt, in der eine notwendige Abfolge von Ursache und Wirkung angenommen wird, die sich unerbittlich fortsetzt, und in der dann in umgekehrter Weise auch aus dem Vorhandensein der Dinge auf eine prima causa non causata zurückgeschlossen werden muss. In den Worten des Lordkanzlers: „Denn keine Kraft kann die Kette der Ursachen lösen oder zerbrechen, und die Natur wird nur besiegt, indem man ihr gehorcht.“69 Der Fluss der Zeit fließt aus der Vergangenheit auf uns zu, und gemäß seiner Eigenschaften überliefert er uns diese; sein Ziel ist jedoch die Zukunft. Mit der Charakterisierung dieser unterschiedlichen Positionen kann keine Wertung verbunden werden. Obwohl uns Bacons Zeit- und Logikkonzeption natürlich und selbstverständlich vorkommt, dürfte das eine Frage der geistigen Gewöhnung sein. Wir wurden von klein auf daraufhin konditioniert, in solchen Mustern zu denken, dürfen deshalb aber nicht in die seltsame Vorstellung verfallen, die Welt sei notwendig so beschaffen, wie wir sie uns denken, und andere Möglichkeiten, sie zu konzipieren, seien daher defizient. Das Problem ist nun, dass diese beiden Logiken methodologisch unvereinbar sind. Während eine zweiwertige Ursache-Wirkungs-Verbindung eine prozessuale Analogistik, um es einmal so zu nennen, als nicht hinreichend stichhaltig erachtet wird, betrachtet diese wiederum die Kette der Kausalität als einseitig und das Wesentliche verfehlend. In den Beobachtungen des Zen-Meister ⑎Ꮷ! Dǀgen ㆏ర von 1227 findet sich dazu: „Man muss wissen: Der Kreislauf der wechselnden Kalpa beruht auf dem einen Gedanken des Zweifels; der Weg der Trübungen in dieser Staubwelt kommt von der Unruhe des gegensätzlichen Denkens. Wer die höchste Höhe zu übersteigen wünscht, soll nur die unmittelbare Erleuchtung begreifen!“70

Hier lässt sich vielleicht ein Faktor aufzeigen, warum die Rezeption der Naturphilosophie und damit auch der ihr unterliegenden Zeitkonzeption europäischen Typs in Ostasien problematisch war. Nimmt man eine entsprechende Parallelprozessualität an, ist man darauf zurückgeworfen, nur recht allgemeine kausale Kopplungen zwischen Phänomenen auf abstrakter Ebene zweifelsfrei feststellen zu können. Nach Zhu Xi ᧇ᾵ (ca. 1130- ca.1200), dem einflussreichsten Theoretiker und Begründer des Neokonfuzianismus,71 dessen System 69 KROHN/BACON, 1990, S. 65. 70 DUMOULIN/DƿGEN [㆏ర], 1958/59, S. 184. 71 GELDSETZER/HAN-DING, 1998, S. 217f. 172

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quasi-orthodoxen Status in der auf ihn folgenden chinesischen Philosophie erlangte, muss es ein metaphysisches Ordnungsprinzip – li ℂ – geben, das die Transformationen der Dinge regelt – eine Kuh kann kein Fohlen gebären, und ein Pfirsichbaum keine Pflaumenblüten ausbilden.72 Das Universum ist selbst bewegt, die konkrete Welt ist ursprungslos und transformiert sich beständig, li ℂ ist nur das Prinzip, das die Transformationen ordnet.73 Wissen ist damit hier immer bereits verzeitlicht; es unterliegt dem Fluss aller Dinge. Hieraus wird aber gemäß dem Schema des Zeitablaufs nicht eine progressive Dynamik des Wissenszuwachses konzipiert, sondern eine regressive: Damit ist eine andere Orientierung in der zeitlichen Achse verbunden. Die einzigen der Wandelbarkeit des Alls entzogenen Dinge sind die vergangenen. Die Historie ist damit der Bezugspunkt, aus dem Bedeutung sicher abgeleitet werden kann – Kong Zi⫼⫸ in Lun Yu ⺰⺆ 7, 1 und 7, 20: „‚I transmit but I do not create. Being fond of the truth, I am an admirer of antiquity. I venture to be compared with our old Peng.‘“74 Sowie: „‚I am not one who knew things at birth; I am one who through my admiration of antiquity is keen to discover things.‘“75 Parallelen hierzu finden sich in der buddhistischen Gedankenwelt. Die Argumentation verläuft analog, nur dass dort der Bezugspunkt sicheren Wissens in der transzendental situierten Erleuchtung gefunden wird, die der Konfuzianismus nicht anerkennt: „Die Bürden aus früheren Existenzen drängen den Menschen auch in diesem Leben wieder zu Trug und Irrtum. Dies zu erkennen heisst im Zen [⑎] zu leben, es verkennen bedeutet, ausserhalb des Gesetzes zu bleiben.– Geltung und Kenntnisse, stolzes Besitzen und eitles Klagen, all das ist nur ein Tun um eines Vergangenen willen.– Die Vermessenheit, als tue man selbst allein das Rechte, und als seien alle übrigen in Irrtum befangen, ist selbst der grösste Trug.– Dem wahrhaft Erkennenden werden alle Werte der Welt nichtig, denn alle Kenntnis und alles Können, alles Gold, wieviel es auch sein mag, hat höchstens Bestand für die Dauer dieses kurzen Lebens. Der einzig zuverlässige Weiser zum Bleibenden in diesem Hauch der Unbeständigkeit aber ist das Streben nach wahrer Erkenntnis.“76

72 73 74 75 76

SONG, 1999, S. 228f. EBD., S. 233. DAWSON/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2003, S. 24. EBD., S. 25. SANO/O.A., 1943, S. 353f. 173

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Beides, das kosmologische wie das historische temporale Argument, findet sich 1620 in Kombination in Fukans Ha Daiusu ⎕ឭቝሶ: „All the following stem from the original wellspring of the Pure Undisturbed Absolute: Yin [㒶] and Yang [㓁] were born; the pure and turbid, dynamic and quiescent force came to exist; heaven, earth and man together produce the myriad things; we possess forethought, knowledge, and discrimination; the birds fly about and sing, and the beasts run about and roar; the grasses and the trees blossom forth in flower, wither away, and die. All these comply with the double variance, the pure and turbid, dynamic and quiescent principle. From antiquity immemorable down to the present day, not one of the Thousand Sages and Ten Thousand Worthies has failed to affirm the truth of this process! The adherents of Deus are not the ones to surpass Confucius [ሹሶ] or excel Lao Tzu [⠧ሶ].“77

Auf dieser Basis ist das Interesse ostasiatischer Gelehrter und offizieller Stellen an pragmatischen Lösungen für konkrete Probleme in Bereichen wie Landwirtschaft, Astronomie, Waffentechnologie78 ebenso erklärlich wie das Fehlen einer abstrakt operierenden formalen Logik westlichen Zuschnitts. Damit verbindet sich notwendig eine Absage an das Programm, das Bacon folgendermaßen formuliert: „Alle Wissenschaft ist aus dem Licht der Natur zu erstreben, nicht aus dem Dunkel des Altertums zurückzugewinnen. Was [schon] getan ist, hat keine Bedeutung mehr; was [noch] getan werden kann, das ist anzustreben.“79 Lun Yu ⺰⺆ 3, 21: „Duke Ai asked Zai Wo about the altar to the earth god. Zai Wo replied saying: ‚The Xia [ᄐ] used the pine, the men of Yin [Გ] used the cypress, and the men of Zhou [๟] used the chestnut, saying that it would make the people tremble.‘ When the master heard this, he said: ‚What is over and done with one does not discuss, what has taken its course one does not complain about, and what is already past one does not criticize.‘“80 Wie schwierig dieses mit einem progressiv verzeitlichten Wissen westlichen Zuschnitts zu vereinbaren ist, offenbart das einfache Gedankenexperi77 ELISON/FUKAN ਇᐓ, 1991, S. 267. 78 GERNET, 1997, S. 4. 79 „Omnino scientia ex naturae lumine petenda, non ex antiquitatis obscuratione repetenda est. Nec refert quid factum fuerit, illud videndum quid fieri potest.“ BACON, 1803, S. 309. Übersetzung von mir. 80 DAWSON/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], 2003, S. 11. 174

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ment, es gelte für die hier vorgestellte Argumentation. Was ich nicht hoffen will. Was ich dagegen hoffe, ist aufgezeigt zu haben, dass Verzeitlichungen nicht nur unterschiedlich und gegensätzlich interpretierbar sind, sondern gerade im wissenschaftlichen Bereich aus Basispostulaten über die Natur der Zeit und des Modus‘ ihres Vergehens resultieren. Sind diese gegenläufig oder unvereinbar, so resultieren aus gleichen Möglichkeiten mittels unterschiedlicher Bedingungen andersartige Entwicklungen, und in Ostasien eben keine Scientific Revolution. Verzeitlichungen sind also nicht als eine uniforme Kategorie zu fassen und zu nutzen, sondern bedürfen immer der Kontextualisierung. Jede Verzeitlichung ist eine Dynamisierung, eine Integration in den Zeitablauf. Die Richtung dieser Dynamik – wie dieser Ablauf tatsächlich vonstattengehen soll – ist jedoch wesentlich für das Ergebnis dieses Prozesses und darf daher nicht ausgeblendet werden.

Liter atur BACON, FRANCIS, De Interpretatione naturae sententiae XII, in: DERS., The Works of Francis Bacon, Baron of Verulam, Viscount St. Alban, and Lord High Chancellor of England. In ten volumes, Bd. 9, London 1803 (unter: www.books.google.com, 16.09.2010), S. 298-313. DERS., Essays oder praktische und moralische Ratschläge, übers. v. ELISABETH SCHÜCKING, Stuttgart 1970. DERS., Neues Organon. Teilband 1. Lateinisch-deutsch, hg. von WOLFGANG KROHN, Hamburg 1990. CIESLIK, HUBERT, The Case of Christovão Ferreira, in: Monumenta Nipponica. Studies in Japanese Culture, 29, 1(1974), S. 1-54. CORREIA, PEDRO L. R., Alessandro Valignano’s Attitude towards Jesuit and Franciscan Concepts of Evangelization in Japan (1587 – 1597), in: Bulletin of Portuguese-Japanese Studies, 2 (2001), S. 79-108. DAWSON, RAYMOND (Übers.)/[KONG QIU ሹਐ/KONFUZIUS ሹሶ], The Analects [⺰⺆]. Translated with an Introduction and Notes by Raymond Dawson, Oxford/New York 2003. DUMOULIN, HEINRICH (SJ) (Übers.)/DƿGEN KIGEN [㆏రᏗ₵], Allgemeine Lehren zur Förderung des Zazen von Zen-Meister Dǀgen. Text, in: Monumenta Nipponica. Studies in Japanese Culture, 14 (1958/59), S. 184-190.

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B ESCHLEUNIGUNG , B RUCH D I E V E RÄ ND E RU NG

DER

UND

ZEITEN

IM

D AUER R U S SL AN D

P E T ER S I. JAN KUSBER

1. Zeitenbr uch unter Peter I.? In einem Polizeireport über ein um 1700 auf einem Waschfloß in der Moskva belauschtes Gespräch heißt es in den Aufzeichnungen des Preobraženskij prikaz, der petrinischen Geheimpolizei: „Die Bauern sind alle zu Tode gequält; alle haben sich gegen den Herrscher erhoben und schreien: Was ist es für ein Zar! Von einer Deutschen ist er unehelich geboren; vertauscht hat man ihn, ein Findelkind ist er, als die Zarin Natalja aus dieser Welt schied, sagt sie zu ihm an jenem Tage: Mein Sohn bist Du nicht. Du bist mir untergeschoben worden. Nun befiehlt er deutsche Kleider zu tragen – da sieht man, dass er von einer Deutschen geboren worden ist.“1

Schon bald nach der so genannten Großen Gesandtschaft, die Peter I. in den Jahren 1697/1698 durch Mitteleuropa, in die Niederlande und nach England führte,2 begann die Vorstellung virulent zu werden, dieser Peter sei gar kein Russe. Wenn er nicht von Geburt an vertauscht war, so war einfach von der

1 2

Zitiert nach GITERMANN, 1987, S. 415. Siehe hierzu PETER DER GROSSE IN WESTEUROPA, 1991. 179

Jan Kusber

Gesandtschaft ein anderer, ein Deutscher zurückgekommen, der nur vorgab der Zar zu sein. Dieser Usurpator war ein Fremder.3 Diese Gerüchte existierten in weiten Teilen der Bevölkerung und wurden immer dort aktenkundig, wo Widerstand gegen die Reformpolitik Peters I. sichtbar und verfolgt wurde. Die Vorwürfe bezogen sich auf alle Reformen, die der Zar in der Zeit seiner Regierung bis zu seinem Tode 1725 durchzusetzen trachtete. Er verlangte das Tragen ungewohnter Kleidung und für die säkulare Elite den Verzicht auf die Barttracht – ein Anschlag auf die Würde, weil auch Christus nicht glattrasiert gewesen sei. Er forderte für den Adel lebenslangen Dienst in Militär, Verwaltung und bei Hofe und schuf mit der Rangtabelle ein Instrument des Aufstiegs durch Leistung, das zumindest vom Ansatz her dazu geeignet sein sollte, Ständegrenzen zu durchbrechen. Er ordnete die Verwaltung auf der kommunalen, regionalen und gesamtstaatlichen Ebene neu und griff dabei auf nord- und westeuropäische Vorbilder zurück. Solche Reformen bedeuteten im Ergebnis perspektivisch nicht nur einen institutionengeschichtlichen Wandel, sondern auch eine allmähliche Veränderung kultureller Praktiken und Handlungsmuster, vor allem des Adels. Peter I. führte Steuern wie die Kopfsteuer ein, die Existenz bedrohend sein konnten; seine Kriege, die er über fast die gesamte Zeit seiner Herrschaft führte, wie auch der Bau St. Petersburgs an der Peripherie des Reiches, erforderten eine schier unglaubliche Zahl an Menschen. Diese Bereiche bedeuteten in ihrem verstärkten Zugriff des Staates und des Herrschers kurzund mittelfristige Einbrüche in vertraute Lebenswelten, die aber Anknüpfungspunkte an tradierte Elemente der Herrschaftsausübung boten. Grundherrschaftliche Bindung, Steuern und Militärdienst bei Hofe waren an sich nicht neu. Der Zeitenbruch, der auch in Bezug auf die Lebenswelt der Untertanenschaft jenseits der Elite unmittelbar spürbar wurde, vollzog sich zunächst im Bereich der Religion, und damit in einem Bereich der Lebenswelten, der auch stark auf Alltagspraktiken wirkte. Peter schaffte das Patriarchenamt ab und unterwarf die Kirche dem Staat. Er zog mit seiner „Saufsynode“ nächtens durch die Straßen Moskaus.4 In dieser „Synode“ gab es sowohl den Papst als auch den Patriarchen, dargestellt durch seine Höflinge, mit denen öffentlich Schabernack getrieben wurde. Es gab für die Bewohner der Hauptstadt keinen Zweifel daran, auf wen diese un3 4 180

BELEBORODOVA, 2001, S. 171f. Hierzu erschöpfend: ZITZER, 2004.

Beschleunigung, Bruch und Dauer

gewohnten, nachgerade ketzerischen Praktiken zurückgingen. Peter I. verhielt sich damit ganz anders als sein verehrungswürdiger Vater Aleksej, „der Allersanfteste“, den man in Moskau eigentlich nur bei Wallfahrten zu den Kirchen in der Kremlumgebung sah.5 Schließlich wandte sich dieser Peter ganz vom Heiligen Moskau ab und zog in seine neue Hauptstadt St. Petersburg. Diese Person, die all dies ins Werk setzte und in einem nicht enden wollenden Krieg gegen Schweden immer neues Geld und immer neue Menschen forderte, konnte nur ein Usurpator sein. Damit ist ein Legendenkreis benannt, der sich in Volksüberlieferungen in Gestalt der Lubki, der so genannten Volksbilderbögen,6 weit über seine Regierungszeit hinaus gehalten hat. Ein weiterer Legendenkreis, der ebenfalls in seiner frühen Regierungszeit begründet wurde, beinhaltet noch eine Steigerung der Vorwürfe. Er bezog sich auf Peters Anschlag auf die religiöse Dimension der Lebenswelt. In einer Klageschrift der Raskolniki über die ersten Reformen Peters I. hieß es: „Wir erkennen sehr wohl, dass die Prophezeiung, welche sich 1666 zu erfüllen begann, jetzt unter Peter sich endgültig erfüllt hat. Schon Zar Aleksej fiel zugleich mit Nikon vom rechten Glauben ab; jetzt gibt sich Peter für einen Halbgott aus; er quält und verfolgt die Rechtgläubigen, sucht seinen neuen Glauben zu verbreiten und hat der russischen Kirche im Jahre 1700 eine ganz neue Gestalt gegeben; er hat das Patriarchat abgeschafft, um ganz alleine herrschen und keinen im gleichen Range neben sich zu haben; er will alles alleine machen, auch in der Kirche der oberste Richter sein; er hat sich selbst die Patriarchenwürde angemaßt. Im Jahre 1700 berief er seinen heidnischen Hof und errichtete dem altrömischen Gotte Janus einen Tempel; vor allem Volke übte er allerlei Zauberkünste, und alle riefen: Vivat, vivat das neue Jahr! Und er sandte in alle Teile des Reiches den Befehl, das neue Jahr zu feiern. Damit hat er das Gebot der Kirchenväter verletzt, weil auf dem ersten ökumenischen Konzil ausdrücklich festgesetzt worden ist, das Neujahr am 1. September zu feiern. Seht also, ihr verständigen Leute, zu wessen Ehren ihr das neue Jahr feiert. Die Jahre des Herren sind vorüber, die Jahre des Satans sind angebrochen. Wir müssen aber in der Zeit einer solchen Herrschaft des Antichrists vor solchen ketzerischen Opfern fliehen, wie denn im 12. Kapitel der Apokalypse die Flucht der Kirche der wahren Christen, der echten Knechte Christi in die Berge und Höhlen vor5 6

ýISTOV, 1998, S. 96. Hierzu grundlegend: KOSCHMAL, 1989. 181

Jan Kusber gesehen ist. Weil nun Peter die letzten Reste der Rechtgläubigkeit in Russland austilgt, eine Menge neuer Reglements entwirft und versendet, können und wollen wir einem solchen Pseudochristen nicht gehorchen; er lässt sich als Gottheit verehren, wir aber halten die Gebote unserer Väter; darum müssen wir uns in der Einöde verbergen, wie ja auch der Prophet Jeremias den Kindern Gottes befahl, aus Babylon zu fliehen.“7

Die Kirchenspaltung (raskol) zur Zeit des Zaren Aleksej und des Patriarchen Nikon, auf die hier Bezug genommen wird,8 bedeutete für Russland einen Einschnitt, der von seiner Bedeutung her mit der Reformation zu vergleichen ist und der bis in unsere Gegenwart fortwirkt. Die Verfolgung der Altgläubigen, die unter Peter einen gewissen Höhepunkt erreichte, besaß schon deshalb eine neue Qualität, weil die Unbotmäßigkeit der Spalter in den Augen Peters kaum schwerer wog als die Unbotmäßigkeit des Episkopats, der sich der Kirchenreform entgegenstellte.9 In Kreisen der Altgläubigen wie in Kreisen, die in der longue durée die petrinische Staatskirche repräsentierten, wurde die Legende von Peter als dem Antichristen lanciert, die seine Regierungszeit ebenfalls weit überdauerte. Diese beiden Legendenkreise, die schon der große Vasilij Kljuþevskij bei seiner noch immer bestechend scharfsinnigen Analyse der Reformwerke Peters I. herausarbeitete,10 verweisen auf den Zeitenbruch, den die Herrschaft Peters I. für die Lebenswelt vieler seiner Untertanen bedeutete.

2. Irrw eg des Zarenreiches sei t Pe ter? Es bietet sich an, die ewige Frage nach den Motiven für Peters Reformen, ihren Umfang sowie ihre Reichweite ebenso zu diskutieren wie die Frage, welche Bedeutung sie für die russische Geschichte hatten. Dies ist vielfach getan worden, seit Westler und Slavophile über den Weg Russlands und sein Verhältnis zu Europa stritten. Schon in der Zeit Katharinas II. wurde publizistische Kritik laut, die den Weg der petrinischen Reformen als einen kennzeichnete, der in den Eliten des Zarenreiches zu Sittenverderbnis geführt habe und des7 8 9

Zitiert nach GITERMANN, 1987, S. 414f. Zur Kirchenspaltung ausführlich: MICHELS, 1999. BASNIN, 1903, S. 517-534. Zur Reform der Verwaltung der russischen orthodoxen Kirche siehe: CRACRAFT, 1972. 10 KLJUTSCHEWSKI, 1945, S. 342-355.

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Beschleunigung, Bruch und Dauer

halb als Irrweg zu bezeichnen sei.11 Im 19. Jahrhundert ging es darum, die eigene Position in der Welt zu reflektieren und zu finden. Die Veränderungen unter Peter I., die öffentlich kaum kritisiert werden konnten, waren hier Drehund Angelpunkt. Und selbst in sowjetischer Zeit wurde der Streit weitergeführt. Wenn Jurij Lotman in seinen Gesprächen über die russische Kultur das Werk Peters und seiner Mitstreiter nachhaltig verteidigte, indem er es als Ausgangspunkt für den Weltrang der russischen Elitekultur des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts nahm,12 bezog er eine Position, die die Anverwandlung von Kulturtransferprozessen durch die Eliten betonte.13 Dieser keineswegs nur akademische, sondern auch tagespolitisch in Russland bedeutsame Streit deutet an, dass die Frage, wie sich die russische Kultur ‚zeitigte und zeitigt‘, ein Dauerbrenner ist. Zugleich ist darüber diskutiert worden – und gerade in der angloamerikanischen Forschung sehr intensiv – ob es sich bei den Reformen um eine Revolution handelte, und wenn ja, welcher Art diese gewesen sei. James Cracaft sprach unlängst von petrinischen Revolutionen in Militär, Bürokratie und Kultur,14 Paul Bushkovitsch von einer Revolution vor allem im Bereich von Wissenschaft und Wissenschaftsverständnis.15 Die 2007 verstorbene Lindsey Hughes wie auch Reinhard Wittram, Verfasser der wohl bedeutendsten Standardwerke, sahen diese „Revolution“ noch umfassender.16 In der jüngeren russischen Geschichtsschreibung wird von Aleksandr Kamenskij, insbesondere aber von Evgenij Anisimov,17 das Moment des Zwangs und der gewaltsamen Umwälzung betont.18 Damit knüpften sie an Traditionen Sergej Solov‘evs oder Vasilij Kljuþevskijs an, die ihrerseits zwar eine staatszentrierte Geschichte schrieben, aber gerade das Rücksichtslose in Peters Vorgehen als Grund für die Bündelung von Gegenkräften erkannten. Pavel Miljukov brachte dies Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Punkt, als er für die Zeit Peters den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft betonte, damit aber auch immer seine Gegenwart, die der russischen Revolution von 1905, meinte.19

11 12 13 14 15 16 17 18

Siehe die zu Lebzeiten nicht mehr publizierte Schrift von SCHTSCHERBATOW, 1925. LOTMAN, 1997, S. 18f. Siehe hierzu KUSBER, 2010a. CRACRAFT, 2003; ausführlicher in DERS. 2004. Am Beispiel der Medizin siehe RENNER, 2010, insbesondere S. 39-65. HUGHES, 1998; DERS., 2002; WITTRAM, 1964. ANISIMOV, 1989a; DERS., 1989b. Aus solchen und anderen Befunden kommt das Interpretament der durchgängigen Gewaltgeschichte Russlands: BABEROWSKI, 2007. 19 Siehe hierzu die Anthologie: VELIKIJ, 2003. 183

Jan Kusber

Die nachfolgende Erörterung soll diese Großthemen nicht weiterführen, sondern die Frage diskutieren, inwiefern diese ganz unterschiedlichen und großteils situativ in Angriff genommenen Veränderungen Russlands Eigenzeit wandelten, Vorstellungen von Zeitlichkeit des Individuums in der Zeit in Kombination mit den jeweiligen lebensweltlichen Kontexten in Frage stellten. Dazu bieten sich zunächst jene Reformen an, die Peter nach seiner Rückkehr in Angriff nahm und auf die die Klageschrift der Raskolniki Bezug nimmt, nämlich die petrinische Kalenderreform und ihr Kontext, die freilich nur als ein erster Ausgangspunkt genommen werden sollen, um Bruch, Beschleunigung und Dauer in Russland um 1700 zu diskutieren.

3. Der Bruch um 17 00 Schon der Aufbruch Peters I. zu einer Gesandtschaft nach Mittel- und Westeuropa war ein Bruch mit der Tradition. Keiner seiner Vorgänger hatte das Land zu diplomatischen Zwecken je verlassen. Der Zar als Feldherr war ein Topos, den Ivan IV. mit der Eroberung Kazans 1552 in die Traditionsbildung einbrachte, 20 seine Nachfolger verließen den Kreml jedoch nur selten und dies zumeist an religiösen Feiertagen. Die Zaren entzogen sich im 17. Jahrhundert zunehmend ihrer Untertanenschaft. Dass Peter I. für alle sichtbar bereits seit den 1690ern nicht nur durch die so genannte Ausländervorstadt,21 sondern auch durch andere Stadtviertel Moskaus streifte, seine Untertanen ansprach, war an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass er sich in Bruch mit der Tradition und der Form nach auch noch inkognito (um sich freier bewegen zu können) durch Europa reiste, hatte für seine Untertanen zunächst keine unmittelbaren Folgen und war allenfalls eine Herausforderung für die mitreisenden Diplomaten.22 Ein Aufstand der Strelitzen, den er nach seiner Rückkehr blutig niederschlagen ließ, bildete den Anlass für Peter I., seine Europareise abzubrechen. Die Strelitzen, eine Elitetruppe unter Ivan IV. und eine Art Prätorianergarde im Kreml, hatten bereits 1689 auf Peters Halbschwester Sofija als Herrscherin gesetzt und gegen Peter optiert, der ihre ökonomische Basis – Land und reichen 20 KUSBER, 2010b, S. 206-212. 21 Siehe hierzu das monumentale und quellengesättigte Werk von KOVRIGINA, 1998. 22 Siehe hierzu die quellenkritische Beschreibung der Gesandtschaftsbücher: GUS’KOV, 2005. 184

Beschleunigung, Bruch und Dauer

Sold – konsequent beschnitt. Die Strelitzen stellten für seine Herrschaft zwar keine Gefahr mehr da, doch subjektiv waren sie für Peter ein Moment des Alten. Die einsetzende monatelange Abrechnung mit den Aufrührern hatte Symbolwirkung: Niemand sollte es wagen, sich Peter entgegenzustellen.23 Bereits einen Tag nach seiner Ankunft begann er den Bojaren in seiner Umgebung ohne Vorwarnung die Bärte scheren zu lassen, was an sich schon an Blasphemie grenzte. In der Orthodoxie galten die Bärte als Symbol der den Männern von Gott verliehenen Würde. Bald musste sich auch der Dienstadel von seinem Kinnschmuck trennen; ausgenommen von diesen Verordnungen blieben nur die Bauern und die Geistlichkeit. Damit entstand zwischen den verschiedenen Schichten eine sichtbare Kluft in der äußeren Erscheinung. Sie verstärkte sich noch, als der Zar die Ärmel der traditionellen langen russischen Kaftane abschneiden ließ und schließlich den Kaftan ganz zu verbieten drohte und stattdessen Uniform und Gehröcke nach europäischem Vorbild, deutsch oder ungarisch, wie es hieß, für den Adel anordnete.24 In einer Ansprache, die er vor der Garde in Preobraženskoe hielt, sagte er: „Die lange Kleidung hat die Arme und Beine der Strelitzen behindert; sie konnten weder mit dem Gewehr umgehen noch richtig marschieren. Eben habe ich deswegen Lefort befohlen, zuerst einmal die langen Rockschöße zu stutzen, alsdann neue Uniformen nach europäischem Muster einzuführen. Die alte Kleidung ist mehr der tatarischen als der uns verwandten leichten slawischen Kleidung ähnlich. Es schickt sich nicht im Nachtgewand zu erscheinen.“25

Peters neu gegründete Garden trugen bereits das neue Gewand; er sprach also zu jenen, die er bereits auf seiner Seite wusste. Was er jedoch forderte, waren Beweglichkeit, Dynamisierung und Beschleunigung; dies galt nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch bei Hofe. Das Hofzeremoniell, die Art und Weise, wie sich die Elite des Reiches begegnen sollte, erfuhr eine nachhaltige Veränderung, alsbald wurde auch eine Veränderung der Frauenkleidung in Angriff genommen.26 Waren hier nur das Militär und die Elite im Blick, ging der nächste Schritt weiter. Was seit dem Herbst 1699 für den Jahreswechsel

23 MOUTCHNIK, 2006. 24 Erst 1705 sollte er das Tragen von Bärten wieder gestatten, allerdings gegen eine drakonische Bartsteuer, die nur der Hochadel aufbringen konnte. 25 Zitiert nach: DONNERT, 1987, S. 51f. 26 HUGHES, 1998, S. 267-269; POGOSJAN, 2001, S. 77-95. 185

Jan Kusber

vorbereitet wurde, war für alle Untertanen relevant, und es betraf Alltag, Religion und Dienst. In zwei Erlassen vom 19. und 20. Dezember befahl der Zar, mit dem 1. Januar die Jahreszählung seit Christi Geburt anzuwenden. Zuvor hatte die byzantinische Weltära gegolten. Diese Weltära konnte mit dem ersten Januar einsetzen, es wurde jedoch zumeist am 1. September begonnen.27 Damit versuchte Peter einerseits die Starina, das alte Herkommen, in einem wesentlichen Punkt zu kappen, den Jahresablauf neu zu rhythmisieren und auch die Feiertage in diese neue Zeitrechnung zu bringen.28 Später sollte er auch versuchen, die kirchlichen Feiertage zu reduzieren. Die ausländischen Gesandten, die dies als weitere Maßnahme Peters zum Aufbruch nach Europa sahen, diskutierten zunächst eher – wie Historiker nach ihnen – warum Peter sich auf den Julianischen Kalenders und nicht etwa auf den Gregorianischen Kalender festgelegt hatte. Sie kamen schon damals zu dem Ergebnis, dass das Reformmodell des frühneuzeitlichen Schweden hier leitend war. Ähnlich wie bei der Kollegienreform diente der Staat des Kriegsgegners Karl XII. als Vorbild.29 Zudem war seine Umgebung eher protestantisch-lutherisch orientiert, und bei allen Maßnahmen, die ganz unmittelbar Gesetz wurden, ist die Orientierung an der protestantischen Welt sehr gut erkennbar.30 Kalenderreformen waren immer strittig, und ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen ein Thema, das in diesem Zusammenhang diskutiert wurde.31 Peter I. erörterte sein Vorhaben nur im engsten Kreis. Für die Verwaltung, die Hofgesellschaft und vor allem den Klerus kam die Einführung entsprechend überraschend.32 Der Ukaz (Befehl) des Herrschers antizipierte die Widerstände: „[…] nicht nur in vielen europäischen christlichen Ländern, sondern auch bei den slavischen Völkern, die mit unserer orthodoxen Kirche in völliger Übereinstimmung sind, als da wären: die Wallachen, die Moldavier, die Serben, die 27 POLNOE SOBRANIE ZAKONOV (PSZ), 1830, Nr. 1675, S. 598 sowie Nr. 1736, S. 680-682. 28 Für Peter stellte sich diese Maßnahme in ein allgemeineres Interesse an Zeitrechnung und Astrologie innerhalb seiner Hofelite: COLLIS, 2007. 29 Hierzu umfassend: SCHIPPAN, 1996. 30 Das gilt gerade, was Wissens- und Wissenschaftsrezeption dieser Zeit angeht, keineswegs immer: Gerade auch die Rezeption einer über das katholische PolenLitauen vermittelte jesuitische Wissenschaftstradition blieb bedeutend: GARRARD, 1973. 31 HERZOG, 2002. 32 CRACRAFT, 1972, S. 9. 186

Beschleunigung, Bruch und Dauer Dalmatiner, Bulgaren und ýerkessen, selbst Untertanen des Großen Souveräns, und alle Griechen, von denen unser orthodoxer Glaube empfangen wurde, werden die Jahre gezählt acht Tage nach der Geburt von Christus, das ist vom Ersten Januar an und noch seit Erschaffung der Welt […]. Und jetzt ist das Jahr 1699 seit Christi Geburt gekommen, und nächsten Januar vom ersten an wird der Monat beginnen mit dem 1700sten Jahr gemeinsam mit dem neuen Jahrhundert. Und aus dieser guten und günstigen Gelegenheit, hat der Selbstherrscher befohlen, dass von nun an Jahre in allen Kanzleien und in allen Papieren und Dokumenten sollen vom gegenwärtigen ersten Januar an von Christi Geburt als 1700 gezählt werden.“33

Der Ukaz verwies auf die europäischen Nachbarn und rekurrierte auch auf die slawische Völkerfamilie; für zwingend hielten seine Autoren wahrscheinlich das Argument und den Verweis auf die Griechen. Aber taugten sie wirklich als Vorbild?34 Schon in der Frage der Kirchenreform des 17. Jahrhunderts waren die griechischen Traditionen hoch umstritten und der Rekurs auf den Eigenwert der russisch-orthodoxen Tradition wurde nicht nur von den Raskolniki vorgenommen; auch der Patriarch Adrian und der spätere Patriarchatsverweser Stefan – trotz seiner Kiewer Ausbildung, die die Rezeption des lateinischen Humanismus beinhaltete35 – standen in dieser Tradition. Sie wurden von der Kalenderreform überrascht. Peters Ukaze enthielten, hier ganz parallel zu polizeistaatlichen Regelungen andernorts im frühneuzeitlichen Europa,36 genaue Regelungen, wie die Zeitumstellung zu begehen sei: „Und als Zeichen dieser großartigen Unternehmung und der Ära des neuen Jahrhunderts in der Hauptstadt Moskau sollen, nach dem Gottdanken und dem Singen der Gebete in den Kirchen und den Häusern, Dekorationen an den Straßen und Durchfahrten sowie an den Toren der größten Häuser der weltlichen und kirchlichen Diener angebracht werden. Diese sollen aus […] Holz gemacht sein und mit jenen Modellen übereinstimmen, welche im Handelshof oder der Pharmazie ausgestellt sind oder was immer schön ist. Arme Menschen sollen zumindest das Tor ihres Hauses mit einem Ast oder Zweig schmücken. Dies

33 34 35 36

PSZ, Nr. 1675, S. 598. Zum Folgenden: KRAFT, 1995; MEYENDORFF, 1991. Hierzu OKENFUSS, 1995. Vergleichend: RAEFF, 1983. 187

Jan Kusber soll geschehen bis zum ersten dieses Jahres und diese Dekoration soll bleiben bis zum 17. Tag des Jahres 1700. Und am ersten Tag des Januar als ein Zeichen der Freude, und um sich gegenseitig zu gratulieren zum neuen Jahr und zur Ära des neuen Jahrhunderts, soll folgendes aufgeführt werden. Wenn auf dem Roten Platz Feuerwerke gezündet werden und die Salute beginnen, sollen die Hofbojaren, die Okol‘niþij, die wichtigen Beamten, die bekanntesten Leute der Kanzlei, die Militärs und die hochrangigen Kaufleute, sollen alle in ihrem Hof, einen dreifachen Salut von einer Leichtkanone schießen, wenn solche vorhanden, oder aus […] Musketen oder […] Raketen.“37

Richard Wortman hat den Wechsel in der Herrschsaftsymbolik und der Herrschaftsinszenierung hin zu westlichen Vorbildern in seinem eindrucksvollen Werk „Scenarios of Power“38 untersucht, freilich unter Auslassung ihrer religiösen Dimension,39 und ist zu dem Schluss gekommen, dass das Herrschaftsverständnis, das Peter und seine Umgebung entwickelten und auch nach außen durch Ritual- und Raumveränderung ausdrücken wollten, mit dem seiner Untertanen zumindest vorübergehend kaum noch konform ging.

4. Widerstand Die neuen Zeiten riefen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Regionen Widerstand hervor. Ganz unmittelbar protestierte der Patriarch Adrian, ebenso wie die bereits marginalisierten Altgläubigen. Nicht nur Bauern und Kosaken, sondern auch Kaufleute und niedere Kanzleibedienstete obstruierten oder versagten offen ihre Gefolgschaft. 1705 war Astrachan, gelegen an der Mündung der Wolga ins kaspische Meer, Schauplatz eines Aufruhrs, der seine Ursachen im Groll der Strelitzen, der Verbitterung der Altgläubigen und der harten Hand des Gouverneurs hatte, der die von Peter geforderten Reformen rücksichtslos durchsetzen wollte. Zumindest dem Anspruch nach erreichte der Herrscher also auch die Peripherie. Befürchtungen der orthodoxen Geistlichkeit traten hinzu; das Gerücht ging um, alle jungen Frauen sollten zwangsweise mit Deutschen verheiratet werden, das einfache Volk solle statt Gott die gepuderten Perücken, die der Adel nun 37 Zitiert nach USTRJALOV, 1860, S. 648. 38 WORTMAN, 1995, S. 30-41. 39 So die Kritik von WAUGH, 2001, S. 322f. 188

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tragen musste, verehren. 1705 rotteten sich also die Aufständischen zusammen, enthaupteten den Gouverneur und marodierten in der Stadt.40 Schließlich stellten sie ihre Forderungen zusammen und ließen sie dem Zaren übermitteln. Peter, der sich zu dieser Zeit gerade in Kurland aufhielt, ließ den aufständischen städtischen Unterschichten ein Amnestieangebot machen. Zugleich wurde die Abgabenlast in den Wolgagebieten reduziert. Die Aufständischen fanden so keinen Rückhalt bei Kosaken und Bauern im Umland, und es gelang einer Abteilung der Garderegimenter unter dem Fürsten Boris Šeremetev die Stadt Astrachan zu erobern.41 Ausdrücklich wies Peter Šeremetev an, kein blutiges Strafgericht zu halten, womit er zunächst ganz anders reagierte als bei der Bestrafung der Strelitzen im Jahre 1698, dann aber die Rädelsführer um den Ataman Jakov Nosov zu Tode foltern ließ. Die Region war damit jedoch keineswegs befriedet. 1707 kam es am Don zu einem Flächenaufstand unter dem Kosaken Kondratij Bulavin, der in der Tradition der großen Aufstände im Russland des 17. Jahrhunderts stand. Auch hier war es neben dem Sozialprotest der Modernisierungsverlierer und dem Protest der Altgläubigen vor allem die Veränderung der Lebenswelt, für die Eric Hobsbawms Interpretationsangebot der Sozialrebellen sicher zu kurz greift.42 Die Herrschaft Peters wurde als Bruch und Beschleunigung zugleich perzipiert, als eine neue Zeit. Dies war für die Kosaken im übrigen der Moment, in dem sie sich nicht mehr an ihren Treueeid gegenüber dem Zaren gebunden sahen und sich frei wähnten, sich einen neuen Herren zu suchen. Die Drohung, sich dem Sultan zu unterwerfen, stand im Raum: „Will der Zar unsere Rechte und Privilegien nicht achten, so werden wir von ihm abfallen und uns an den türkischen Sultan mit der Bitte wenden, uns als Untertanen aufzunehmen, weil der Zar in seinem ganzen Reich das Christentum ausrottet und das Bartscheren einführt.“43 Der Widerstand griff auch auf Ethnien des Zarenreiches über, deren nomadische, zum Teil auch islamisch geprägte Lebenswelt ohnehin schon immer konflikthaft zu derjenigen stand, die mit den sesshaften orthodoxen Bauern langsam in ihre Lebenswelt vordrang. Peter zog hier mit Zwang Baschkiren zum Militärdienst im Großen Nordischen Krieg ein, ohne eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie diese in sein neues stehendes Heer 40 Siehe hierzu den Bericht des englischen Wasserbauingenieurs John Perry, der zu dieser Zeit an dem Großprojekt eines Wolga-Don-Kanals arbeitete: PERRY, 1967, S. 96. 41 Zum Bulavin-Aufstand siehe AVRICH, 1972, S. 147-173; LÖWE, 2006. 42 Unter Einbeziehung des Zarenreiches: HOBSBAWM, 2007. 43 Zitiert nach DONNERT, 1987, S. 262. 189

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zu integrieren seien. Hier kam es bis 1711 zu Aufständen, die entlang des Dons, im Ural und in Westsibirien phasenweise den Charakter eines Flächenbrandes annahmen. Der hannoversche Resident Friedrich Christian Weber sprach über seine Zeit im Zarenreich als von dem „veränderten Rußland“,44 und in der Tat zeigten sich vor allem viele zeitgenössische Ausländer fasziniert von dem Umfang und der Geschwindigkeit der Veränderungen. Weite Bevölkerungskreise fühlten sich von dem Tempo, das ohne Rücksicht auf Akzeptanz durchgesetzt werden sollte, überfordert. So wie Peter in seinen Grausamkeiten irrational handelte, so irrational entwickelten sich auch die Gerüchte und Meinungen, die über ihn kursierten. Viele im petrinischen Russland wollten an den alten Zeiten festhalten, und sicher gab es viele, über die die neuen Zeiten einfach hinweg gingen. Manche Gegenden in Sibirien, Kaukasusvorland und andernorts wurden von seiner Gesetzgebungs- und Regelungswut kaum erreicht. Wenn die lokalen Verwaltungen auf Wünsche der Zentrale reagierten, datierten sie die Antwortschreiben in der byzantinischen Weltära und stellten sich nicht auf die Graždanka, die unter Peter vereinfachte Kanzleischrift um.45 Auf der anderen Seite gab es neben den (erwartbaren) Phänomenen von Widerständigkeit auch Versuche, die Zeiten miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Der erwähnte Boris Šeremetev, ein hochadliger Fürst, der über Hunderttausende von Leibeigenen gebot und Peters erfolgreichster Feldherr war, ist ein solches Beispiel: Begeistert von der Kleiderreform im Bereich des Militärs und von anderen Modernisierungsmaßnahmen, blieb er in seiner Lebenswelt traditional. Einerseits bereiste er mit Peter und als Gesandter Europa, andererseits stand er der Saufsynode, den neu gewandeten „Scenarios of Power“, wie den Neujahrsfeiern, aber auch den auf antike Motive rekurrierenden Festeinzügen skeptisch gegenüber; er blieb traditionell religiös.46 Er steht damit für eine Dienstelite, die ihre traditionellen Werte auch unter veränderten Bedingungen behaupten konnte.47 Schwieriger war dies für Peters Sohn Aleksej, von dem der Herrscher erwartete, dass er den Zeitbruch mit ähnlicher Verve vorantreiben würde, wie er selbst. Doch sein Sohn war weder von seinen Reformen, insbesondere denen im kirchlichen Bereich, begeistert, noch teilte er Peters Begeisterung für Mili44 Hierzu KLONOWSKI, 2005. 45 KUSBER, 2004, S. 67. 46 Siehe hierzu die seinerzeit populäre Beschreibung von BACMEISTER, 1773; sowie: ALTBAUER, 1980. 47 MEEHAN-WATERS, 1982. 190

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tär und Krieg. Um 1715 gelangte Peter I. zu der Auffassung, die Opposition habe den Thronfolger Aleksej für sich gewonnen. Aleksej, der in den ersten Jahren von seiner Mutter Evdokija Lopuchina in traditionellem Sinne erzogen worden war, mangelte es in den Augen seines Vaters an Entschlusskraft und Tatendrang; er betrachtete ihn über die Jahre als hoffnungslos rückwärts gewandt. Vor allem bot Aleksej eine Projektionsfläche für alle von Peter Enttäuschten und Zurückgesetzten, etwa städtische Unterschichten und Altgläubige.48 1717, zwanzig Jahre nach der Großen Gesandtschaft, als der Nordische Krieg seine kritische Phase überwunden hatte, ging Peter erneut auf große Gesandtschaftsreise.49 Er besuchte Deutschland und Frankreich. Nach seiner Rückkehr schienen sich bestimmte Konstellationen zu wiederholen, die schon 1697/98 die Szenerie bestimmt hatten. Peter I. vermutete wiederum Verrat und Täuschung, diesmal nicht bei den Unterschichten, sondern in unmittelbarer Umgebung des Hofes. Dass sein eigener Sohn Aleksej die Fronde anführte, stand für ihn fest. Immer wieder hatte Peter seinen Sohn aufgefordert, sich seinem Willen zu beugen und sich so zu verhalten, wie er es erwartete. Sein widerspenstiges und nach Peters Auffassung weinerliches Wesen sollte er sich abgewöhnen. 1716 hatte er ihm angedroht, er werde Aleksej wie dessen Mutter ins Kloster stecken. Aleksej nutzte die Abwesenheit seines Vaters von St. Petersburg, um ins Ausland zu fliehen, wo er mehrere Monate lang untertauchte. Schließlich erschien er in Wien und brachte den habsburgischen Kaiser Karl VI. in eine verzwickte Lage. Konnte er dem russischen Thronfolger das gewünschte Asyl gewähren, ohne Russland zu verärgern? Ein Sondergesandter des Zaren, Petr Tolstoj, überredete Aleksej unter der Zusage von Straffreiheit zur Rückkehr nach Russland. Als Peter der Große seinerseits von seiner Gesandtschaftsreise zurückkehrte, hatten ihm seine Spitzel hinterbracht, dass die Bevölkerung von Moskau und St. Petersburg überaus positiv auf die Rückkehr des Careviþ reagiert hätte. Wenn Peter der Antichrist sei, eine Zuwidmung, die ihm durchaus bekannt war und über die er nicht selten gespottet hatte, dann konnte Aleksej der Retter (spasitel) sein. Inwieweit Peter nun selbst glaubte, sein Sohn sei das Haupt einer Verschwörung, muss dahingestellt bleiben. Für eine jähzornige Überreaktion waren die nun folgenden Ereignisse jedoch zu durchdacht.

48 WITTRAM, 1964, Bd. 2, S. 346-364. 49 Und zum Folgenden: EBD., S. 364-405. 191

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Peter Henry Bruce, ein englischer Zeitgenosse Peters I., erinnerte sich an das Ende des Thronfolgers Aleksej im Jahre 1718: „Als der Zar nun sah, dass die Zahl der Urheber einer so komplizierten Verschwörung von Tag zu Tag zunahm, hielt er es für notwendig, dem Prinzen (Aleksej) in aller Form den Prozess zu machen. Zu diesem Zweck erließ er an den Adel und die Geistlichkeit, an die höheren Offiziere der Armee und der Flotte, an die Gouverneure der Provinzen und andere Würdenträger den Befehl, sich zu Verhör und Gericht über den Prinzen zu versammeln. Der Prozess begann am 25. Juni und endete am 6. Juli. Einstimmig verurteilte der Gerichtshof den Prinzen zum Tode, wobei die Wahl der Todesart dem Zaren überlassen wurde. Der Zarewitsch wurde dem Gericht vorgeführt; man las ihm das Urteil vor und führte ihn in den im Schloss befindlichen Kerker zurück“.50

Weiter heißt es im Journal der Garnisonskanzlei von St. Petersburg: „Und es wurde die Folter durchgeführt und darauf, nachdem sie in der Garnison, also dem Kerker bis in die elften Stunde geblieben waren, fuhren sie auseinander. An demselben Tage, nachmittags in der 6. Stunde, ist der Zarewitsch Alexej Petrowitsch, der sich unter Bewachung im Trubeckoj- Bollwerk der Garnison befand, gestorben.“51

Mit dem Tod des Careviþ hatte Peter I. versucht, vermuteten Widerstand gegen sein Reformwerk in seiner engsten Umgebung auszuschalten und war zugleich an die die Grenzen seines erzwungenen Reformwerks gekommen. Die Erwartung, dass seine Untertanen den Bruch und die Beschleunigung der Zeiten, die er mit seinem Reformwerk initiierte, nachvollziehen würden, stieß auch in seiner engsten Umgebung auf Widerstand.52 Man mag die Gründung St. Petersburgs 1703 und die Verlegung des Hofes von der Moskva an die Neva als eine Kapitulation vor der Beharrungskraft der traditionalen Eliten sehen. Peters Dynamisierung der Zeiten ließ sich aus der Tabula rasa an der Neva besser schaffen als in Moskau, wo die Notwendigkeit der Orientierung des Selbstherrschers am Konsens aufgrund der Übermacht

50 Zitiert nach GITERMANN, 1987, S. 438. 51 EBD., S. 438. 52 Siehe die kritische Einschätzung von Peters Diplomaten Boris Kurakin in: PAVLOV-SOLVANSKIJ, 2007, S. 24f. 192

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der Tradition stärker war. Noch Katharina II. hielt es aus eben jenem Grund für völlig ausgeschlossen, die Hauptstadt des Imperiums – es war in St. Petersburg, wo Peter 1722 den Titel Imperator akzeptierte – wieder nach Moskau zurückzuverlegen.53 Das Beispiel des Thronfolgers Aleksej zeigt jedoch, dass der Zeitenbruch sich auch durch einen Aufbruch an einem neuen Ort nicht heilen ließ und die Ungleichzeitigkeiten fortexistierten.

5. Synkre tisierung der Lebensw elten Als Beispiel für eine Synkretisierung der Lebenswelten und damit auch der Zeitkulturen, wie sie im petrinischen Russland nebeneinander und miteinander existierten, mag Semen Popov gelten, den Daniel Clark Waugh zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht hat.54 Popov diente als Mönch in einem Kloster in Vjatka und gehörte einer Personengruppe an, die Ziel der petrinischen Reformen war. Peter beurteilte das kontemplative Leben von gelehrten Geistlichen wie Popov als nutzlosen Müßiggang. Der Mönch selbst betrachtete sein Leben als gottgefällig und als im Einklang mit den Geboten seiner Kirche. Semen Popov war, trotz der Entfernung Vjatkas zum Zentrum, äußerst gut informiert – über den Gang des Großen Nordischen Krieges, über Peters Kirchenpolitik, über seine Maßnahmen gegenüber den Klöstern und anderes mehr. Kritisch reflektierte er das Treiben von Peters Chefideologen, des Novgoroder, später Petersburger Erzbischofs Feofan Prokopoviþ; in seiner Bibliothek befand sich lateinische, griechische und altrussische Literatur. Sie stellte seinen Bildungshorizont dar, der aber gleichzeitig auf Bewahrung ausgereichtet war. Modernisierung und Veränderung der Zeiten bedeuteten für ihn Integration der Tradition.55 Damit steht er für einen Umgang mit Zeitenbeschleunigung, wie er wohl als anthropologische Grundkonstante angenommen werden darf: Die Einstellung auf neue Gegebenheiten, auf Veränderungen der Lebenswelt, die als Beschleunigung empfunden wurden, wurde in einen Aneignungsprozess mit einbezogen, der Opposition gegen die wahrgenommenen Prozesse ebenso implizierte, wie die Nutzung des Neuen in dieser Opposition.56 Die Kalenderreform 53 54 55 56

KUSBER, 2009, S. 47. WAUGH, 2001, S. 334-345. Zu seiner Person ausführlich: SMIRNOV, 1973. KUSBER, 2010a, S. 262-265. 193

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und die Einführung einer neuen Zeit schien den Zeitgenossen radikal, war aber nur ein Element des unsystematischen Reformprogramms Peters I., das dem Zarenreich Bruch und Beschleunigung brachte und die darunter liegenden Phänomene langer Dauer vorübergehend zu überlagern schien. Die Nachfolger Peters I. ‚entschleunigten‘ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Prozesse, doch setzte vielleicht erst dort der nachhaltige Wandel in der Elitenkultur ein. Die schon bald aufkommende, auch publizistische Kritik an der Verwestlichung und ihr Durchbruch zur ideengeschichtlich leitenden Diskursfigur in der Auseinandersetzung zwischen den erwähnten Westlern und Slavophilen ist Zeugnis der schwierigen Zeitsprünge der Kultur im Zarenreich vor 1917 und zeugt zugleich vom Wandel in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

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CLAUDIA RESCH Mit einem schlichten, aber außergewöhnlichen Werbe-Sujet bat eine Wiener Hospizeinrichtung vor nicht allzu langer Zeit um Spenden: „Unsere Gäste stehen vor dem wichtigsten Termin ihres Lebens“, war auf diesem Plakat schwarz auf weiß zu lesen. Es wollte ein Bewusstsein dafür schaffen, wie kostbar die verbleibende Zeit bis zu diesem allerletzten Termin und eine entsprechende Vorbereitung darauf sein können. Noch zutreffender wäre diese Terminankündigung für die Menschen am Beginn der Frühen Neuzeit gewesen: Sie waren sich ihres vergänglichen Gäste-Status auf Erden (Psalm 119,19) bewusst. Der Memento moriGedanke begleitete sie, während der Mors certa, hora incerta-Sinnspruch sie auch belastete, denn seit dem Spätmittelalter wurden Theologen nicht müde zu betonen, dass in der zeitlich nicht vorhersehbaren Todesstunde eine endgültige und unwiderrufliche Entscheidung fallen könnte. In Wort und Schrift war man hinreichend davon überzeugt (worden), dass vom Verlauf der Todesstunde auch das ewige Schicksal eines Menschen abhängen würde. Sein Streben sollte daher nicht auf das Zeitliche ausgerichtet bleiben. Das benannte und erklärte Ziel eines Menschenlebens – von dem es seinen Sinn bezog, an dem es künftig 199

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teilhaben wollte und auf das es seine Hoffnung richtete – blieb nach religiöser, insbesondere christlicher Vorstellung das ewige Leben. Wie Trude Ehlert richtig beobachtet, sollte die irdische Zeit „als knapp bemessene erfahren werden, die der Mensch richtig einteilen, aber in der er sich nicht einrichten kann, will er des jenseits dieser Zeit liegenden Heils teilhaftig werden.“1 Der Begriff der Zeit war auf den der Ewigkeit bezogen und umgekehrt.2 Im Vergleich zum Ewigen musste sich ein menschliches Leben, das biblischen Schätzungen zufolge siebzig, wenn es hoch kommt achtzig Jahre (Psalm 90,10) währte, als „ultrakurze Episode“3 ausnehmen, der mit dem Tod entweder ein vorläufiges oder das ewige Ende gesetzt war.

1. Der Tod: zeitlic h oder ewig? Johannes Spangenberg, reformatorischer Theologe und Vater von Cyriakus Spangenberg, definiert „mancherley“ Arten des Todes – zur Unterweisung seiner laikalen Leserschaft verwendet er folgende Erläuterungen, die er zur besseren Verständlichkeit „in Fragstueck verfasset“: „Wie mancherley ist der Todt? Zweierley. Ein zeitlicher / Vnd ein ewiger Tod. Was ist der ewige Tod? Der ewige Tod / ist ein zertrennung / Gottes vnd der Seele / ein ewig schrecken des Menschlichen gewissens / fuer dem zorn Gottes / vnd ein endliche verzweifflung an Gottes gnaden. Was ist der zeitliche Tod? Der zeitliche Tod / ist der letzte abschied, / von dieser Welt / vnd ein endlicher beschlus / aller Menschlichen hendele / wie der Po4 et sagt / Mors ultima linea rerum est.“ 1 2 3 4

200

EHLERT, 1997, S. 266. Vgl. POSER, 1993, S. 22. Vgl. MARQUARD (Hans Blumenbergs Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ folgend), 1993, S. 363. SPANGENBERG, 1542, Bl. Aiijv-Aiiijr (Hervorhebung der Verfasserin). Ähnlich erklärt der Reformationstheologe Urbanus Rhegius den Unterschied zwischen zeitlichem und ewigem Tod; ersterer wäre für die Menschen zwar oft Anlass zur Sorge, doch müssten sie noch viel mehr den ewigen Tod beklagen, der auch die Trennung von Gott bedeute: „Der zeytlich tod ist allain ain schaiden der seel vom leib. Aber wir arme sünder fürchten seer fast den zeytlichen tod, da die seel den leib ain zeytlang verlaßt, aber wir hüten uns nit vor dem ewigen tod, da leib und seel von Gott abgeschayden werden.“ RHEGIUS, 1529, S. 242 (Hervorhebung der Verfasserin). Hinweis zu den Primärliteratur-Zitaten: Diakritische Zeichen, wie sie in früh-

Über „zeyt vnnd zil zuo sterben“

In Spangenbergs Büchlein, das darüber Auskunft geben wollte, „[w]ie sich ein Mensch bereiten sol zu einem seligen sterben“, war die Klärung dieser grundsätzlichen Fragen Voraussetzung, sofern der Gläubige nicht den „ewigen Tod“, sondern lediglich den „zeitlichen“ sterben wollte, um schließlich zu dem ihm verheißenen ewigen Leben zu gelangen. Traditionelle Anleitung, wie man gottgefällig und seines Heils versichert zu sterben glaubte, versprachen seit dem späten Mittelalter sogenannte Ars moriendi-Schriften (Kunst des Sterbens), die zunächst in lateinischer Sprache unter Geistlichen, später auch volkssprachlich in laikalen Kreisen mit großem Erfolg und in vielen Auflagen verbreitet waren. Inhaltlich angeregt durch Martin Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) setzten Reformatoren wie Johannes Spangenberg diese spätmittelalterliche Tradition der Vorbereitung auf das Sterben gewissermaßen fort; allerdings mussten dabei jene bekannten Inhalte modifiziert oder weggelassen werden, die durch die neue, reformatorische Botschaft obsolet geworden waren. Eine Auswahl5 dieser reformatorischen Sterbebüchlein einer Relektüre zu unterziehen und im Hinblick auf ihre epochenspezifischen Auffassungen und Äußerungen von Zeit beziehungsweise die darin geschilderten zeitlichen Abläufe zu befragen, ist das Ziel des vorliegenden Beitrags.

5

neuhochdeutschen Texten häufig vorkommen, werden aus drucktechnischen Gründen nachgestellt, durch Geminationsstriche gekennzeichnete verkürzte Endungen ausgeschrieben. Für diese Untersuchung wurde jener Zweig reformatorischer Ars moriendi-Literatur ausgewählt, der an Sterbebegleiter adressiert war. Sie sollten die seelsorgerlichen Texte an Kranken- und Sterbebetten mitnehmen, um dort daraus (vor) zu lesen. In den kleinformatigen, für den oftmaligen und wiederholten Gebrauch konzipierten Büchlein wandten sich Theologen – mit dem jeweiligen Sterbebegleiter als Sprachrohr – an Menschen, deren Lebensende unmittelbar bevorstand. Die Anwendungsmöglichkeiten beschränkten sich auf den vorzubereitenden Abschied, die noch verbleibenden Krankheitstage beziehungsweise das Hier und Jetzt der Sterbestunde. Ob und wie diese Sterbebüchlein tatsächlich zum Einsatz kamen, können wir heute kaum mehr feststellen – was sie erlauben, ist aber zumindest eine Rekonstruktion einer (idealisierten) Praxis, wie man sich auf den Tod vorbereiten sollte. 201

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2. Ars moriendi-Schrifte n sub specie tempori s betrachtet Obwohl Ars moriendi-Schriften zum Teil sehr formelhaft sind und deren seelsorgerliche Inhalte – Ermahnungen an den Sterbenden, Auslegungen der Heiligen Schrift, vorformulierte Sündenbekenntnisse, Gebete für den Sterbenden u.v.m. – in immer ähnlicher Wortwahl aufbereitet werden, findet man besonders in den frühen reformatorischen Sterbebüchlein eine bemerkenswerte Variationsbreite an Äußerungen, die sich auf die Wahrnehmung von Zeit beziehen. Man kann Trude Ehlert beipflichten, wenn sie davon ausgeht, dass sich in Texten – und hätten sie auch eine andere Intention (wie jene von ihr untersuchten altdeutschen Beichten und spätmittelalterlichen Nonnen- und Heiligenviten) – häufig „Zeiterfahrungen“ manifestiert haben, ohne dass diese darin explizit gemacht würden: „Vorzügliche Orte solcher Sedimentation von Erfahrungen sind Texte, die oft neben den Informationen, die sich vermitteln wollen oder sollen, auch Aussagen transportieren, die ihnen unbeabsichtigt inhärent sind.“6 Bei dem Versuch, reformatorische Ars moriendi-Schriften auf die sedimentierten Erfahrungen von Zeit und ihre Besonderheiten zu befragen, wird deutlich, dass Zeit vor allem vor dem Hintergrund der intendierten Gebrauchssituation eine wesentliche Rolle spielt, wobei die todesbegrenzte Lebensfrist, die Zeit, die einem Menschen noch blieb, und jene, die er schon unwiederbringlich durchlebt hatte, im Mittelpunkt standen. Die Autoren dieser Schriften unternahmen den Versuch, die subjektiven Zeiterfahrungen anderer nicht nur zu artikulieren, sondern sie auch zu modellieren und in einen größeren (Heils-)Kontext zu stellen – nämlich in stellvertretenden Worten für den Sterbenden und die sogenannten Vmbstender, Bekannte und Verwandte, die sich damals am Kranken- oder Sterbelager einfanden. Ob man davon auf die realen Zeiterfahrungen und Zeitempfindungen sterbender Menschen, für die diese Texte formuliert worden sind, schließen wird dürfen, muss dahin gestellt bleiben, zumindest aber zeigt sich, welche Konzeptionen von Zeit Theologen vermittelt sehen wollten. In diesem Zusammenhang besonders spannend erscheint die Frage, ob reformatorische Sterbebüchlein jener kurzen Zeit vor dem Tod ebenso große Bedeutung beimessen wie es die spätmittelalterlichen Ars moriendiSchriften getan haben; weiterhin gilt es zu untersuchen, ob die Autoren die 6 202

EHLERT, 1997, S. 257.

Über „zeyt vnnd zil zuo sterben“

Zeit bis zur Todesstunde und diese selbst auf- oder abwerten und damit auch ein reformatorisches Umdenken in der Sterbeseelsorge anstreben beziehungsweise vollziehen.

3. „Wenn zuo vermuotten is t, es moecht die Zeyt da sein“ Die untersuchte Auswahl an reformatorischen Ars moriendi-Schriften war mit ihrem handlichen Format für den unmittelbaren Gebrauch an Kranken- und Sterbebetten gedacht. Die Dringlichkeit der Situation setzte nicht nur in der äußeren Form, sondern auch in der Wahl der Worte eine gewisse Knappheit voraus; die Büchlein waren leicht verständlich, einprägsam in ihren Formulierungen, auf Beiwerk wurde verzichtet. Sowohl die Benützer dieser Büchlein als auch der darin adressierte Moribunde werden gewusst haben, dass Zeit kostbar war beziehungsweise nicht mehr viel davon blieb, um komplexe Inhalte zu vermitteln. Vergegenwärtigt man sich nun die von den Autoren intendierte Gebrauchssituation dieser pastoralen Sterbebüchlein, konnte es nicht mehr darum gehen, einem Sterbenden das Versprechen abzuringen, dass er sich künftig bessern würde. Eher stellte sich die Frage, wie die verbleibende, ihm zugemessene Lebenszeit sinnvoll und vor allem heilbringend zu nützen wäre. Wann mit der eigentlichen Vorbereitung auf den Tod begonnen werden sollte, war unter damaligen Verhältnissen nicht immer leicht zu entscheiden. Oft wird man beobachtet haben, dass zunächst harmlos erscheinende Krankheiten zum Tode führten, weshalb manche Autoren, wie etwa der Nürnberger Reformationstheologe Leonhard Culmann7, auch in der Titelgebung ihrer Anweisungen keinen Unterschied zwischen der Seelsorge an Kranken und jener an Sterbenden machten. Grundsätzlich sollten erkrankte Gläubige dazu angehalten werden, nicht auf die Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustands zu hoffen, sondern sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass es tatsächlich soweit war. Man kann wie Werner Friedrich Kümmel davon ausgehen, dass es einen gefühlsmäßig fassbaren Zeitpunkt gab, ab dem sich der Kranke ausschließlich auf sein nahendes Ende vorbereitete: „Wann es Zeit für diesen Übergang von der weltlich-medizinischen zur geistlich-kirchlichen Instanz

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Vgl. CULMANN, 1551. 203

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war, scheinen meist der Sterbende selbst oder die Angehörigen entschieden zu haben, gelegentlich aber auch der Arzt aufgrund einer ungünstigen Prognose.“8 Das Kranken- und Sterbebüchlein Leonhard Culmanns empfiehlt dem Patienten außerdem, auf die Wirkungsweise der verschriebenen Arznei zu achten: „hilffet sie / so ist dein zeyt vnnd zil zuo sterben / noch nicht gewesen. Hilfft sie aber nicht / so ist entweder dein zeyt vnd zil zuo sterben verhanden / oder ist der wille vnnd zeyt Gottes noch nicht / das du gsundt solst werden.“9 Das Lebensende war – wie auch der Lebensbeginn – Gott anheimgestellt, worüber Theologen an Sterbebetten keinen Zweifel aufkommen lassen wollten. Bei dem Versuch, den Zeitpunkt des Todes zu errechnen oder thanatognostische Voraussagen zu treffen, machte man sich in ihren Augen schuldig. Wiederholt ließen Theologen wie Culmann Sterbebegleiter darauf hinweisen, dass die Dauer eines Menschenlebens als von Gott bestimmt galt. Zweifelte jemand an der Wirksamkeit der Arznei oder den Fähigkeiten der Ärzte, wurde er in diesem oder ähnlichem Wortlaut an den Willen seines Schöpfers erinnert: „Darumb lerne das wol / das dir zu sterben bey Got schon dein zil / dein tag / Ja dein stund vnnd darzu das mittel oder die kranckheyt / darinn du sterben solt / gesetzt vnd geordent ist.“10 Nachdem die Texte zur Sterbeseelsorge auch noch (oder ganz besonders) gegen Ende ihre didaktische Wirkung entfalten sollten und ein Sterbebegleiter dazu verpflichtet war, sich zu versichern, ob der Angesprochene auch alles verstanden hätte, was man ihm sagte, waren Frage/Antwort-Strukturen, die häufig zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden, dieser Textsorte nicht fremd. Die eingeflochtene Frage, die sich im Zusammenhang mit der von Gott bestimmten Zeit stellte, nämlich ob es denn auch vorkomme, dass ein Menschenleben schon vor diesem gesetzten Zeitpunkt zu Ende geht – „Sterben aber zu weylen die menschen ehe dann es zeyt ist / Dann Got wil?“ – beantwortete Culmann unter Hinweis auf mehrere biblische Exempel mit einem entschiedenen Nein: „Dann das gantz menschlich leben / hat sein gewisse / bestimpte / verordente zeyt / wie lang es weren sol. Sein nicht all unsere haerlein vor Got gezelet / wie viel mer unser leyb / seel / glider und gantzes leben / alle jar /

8 KÜMMEL, 1984, S. 221. 9 CULMANN, 1551, 1. Teil, Bl. Fiijr (Hervorhebung der Verfasserin). 10 EBD., Bl. Fiijr (Hervorhebung der Verfasserin). „Wenn die Ertzney alle zeyt bey yederman helffen sollte“, so Culmanns weitere Überlegung, „so würde niemandt kranck / stürbe auch niemandt.“ 204

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tag / stund puncten vor Got gezelet.“11 Dennoch solle man seine Zeit weder vergeuden, noch dem Schöpfer Anlass geben, die Dauer dieses gestundeten Lebens (etwa durch Völlerei, Ehebruch, Hurerei) zu verkürzen. Der Mensch durfte also über den Ablauf seiner Zeit nur Vermutungen anstellen, wird jedoch gespürt haben, wann seine Zeit gekommen war. So scheint es zumindest einen gefühlsmäßig fassbaren Zeitpunkt gegeben zu haben, ab dem sich der Kranke ausschließlich auf sein nahendes Ende vorbereitete. Die Autoren der Sterbebüchlein wollten diesbezüglich nichts vorwegnehmen und blieben in ihrer Wortwahl entsprechend zurückhaltend: Mit den Worten „wann dich dunkt und nit anderst entpfindest, dann das du müssest sterben“12 würde sich zum Beispiel Caspar Huberinus in direkter Rede einem Sterbenden zuwenden. Etwas allgemeiner und in dritter Person lässt Andreas Osiander seinen Unterricht an ein sterbenden Menschen beginnen: „Wann ein christenmensch in so schwere kranckheyt fellt, das zuo vermuotten ist, es moecht die Zeyt da sein, das ine der almechtig Gott auß disem elenden und zergencklichen leben abfordern und hinwegknemen woelle“,13 dann wäre mit der Sterbevorbereitung zu beginnen. Beide Theologen verwenden bei der Einschätzung der verbleibenden Zeit Worte wie „denken“, „empfinden“ oder „vermuten“, mit denen sie ihre Achtung vor dem von Gott bestimmten und beschlossenen Lebensende zeigen. Dennoch hat man, wie Christina Vanja auch bestätigt, „Symptome eines nahenden Todes sehr wohl zu deuten verstanden“, 14 sie auch begriffen und akzeptiert, um die Vorbereitung auf das Sterben nicht zu gefährden. Der Todgeweihte traf seine Verfügungen, und die Vorkehrungen für den letzten Termin nahmen ihren Lauf, in frommen Haushalten nicht selten nach einem vom Sterbenden selbst entworfenen Zeitplan.

11 EBD., 3. Teil, Bl. Hiiijr-Hiiijv (Hervorhebung der Verfasserin). Bei der Zeitangabe „puncten“ dürfte es sich um Viertelstunden handeln – für diesen Hinweis und das dazugehörige, mir zur Verfügung gestellte Belegmaterial danke ich Professor Joseph S. Freedman sehr herzlich. 12 HUBERINUS, 1531, S. 235. 13 OSIANDER, 1538, S. 491. 14 VANJA, 1993, S. 198. 205

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4. „zu solcher zeyt“ Wenn die Autoren der Sterbebüchlein auf die persönliche Endzeit des Menschen Bezug nehmen, so sprechen sie von „solcher zeyt“15 oder von „disen letsten, gefärlichen zeyten“16 – sie meinen damit weniger die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden sozialen, moralischen und politischen Bedingungen und Verhältnisse (die man ebenso als trübselig und gefährlich hätte bezeichnen können), sondern jene letzte Zeitspanne, die einem Menschen noch bis zum Tode blieb. Worin sich Gläubige zeitlebens üben sollten beziehungsweise üben hätten sollen, bekam im Angesicht des Todes besondere Bedeutung: Die auswendige Kenntnis von Bibelsprüchen etwa war, wie eine Ermahnung Urban Rhegius bestätigt, stets – „alle zeyt“ – ein Ausdruck von Frömmigkeit; wurde es aber „fürnemblich zuor zeyt des sterbens.“17 Mehrere Zitate und letztlich auch die Entstehung dieser Art von Literatur bezeugen, dass der Mensch sich in der letzten Phase seines Lebens als ganz besonders gefährdet sah: Sie unterscheidet sich insofern von bereits Erlebtem, als auch der Teufel seine Chance gekommen sieht und dem Sterbenden, wie Andreas Osiander schreibt, „mer dann zu anderer zeyt die vergangenen sünde[n] wider in das gedechtnuß bringt und sie seer groß und schwer macht.“18 Hinter Osianders bildlicher Ausdrucksweise verbergen sich personifizierte Gewissenszweifel und -ängste aus der Vergangenheit, sogenannte Anfechtungen, die den Sterbenden mit ihrer Präsenz zur Unzeit einholen und ihn an der Seligkeit seines Endes zweifeln lassen. Die Verfasser der pastoralen Sterbebüchlein empfehlen, der übergroßen Sündenlast mit Angeboten zur Aussprache und zur Beichte zu begegnen; bei der Bilanzierung vergangener Lebensabschnitte soll dem Sterbenden als tröstliches Gegenbild auch all das in Erinnerung gerufen werden, was ihm Gutes widerfahren ist – ein dankbarer und demütiger Blick in die Vergangenheit ist daher fixer Bestandteil dieser Lebensrückschau. In den vorformulierten Vorschlägen zur Beichte werden Vergehen und Versäumnisse reumütig in Worte gefasst, denn „Lebenszeit, die nicht in Hinordnung auf die Zeit des Heils, also mit dem Ziel, das ewige Leben zu erwerben, verbracht wurde“,19 galt als ver15 16 17 18 19 206

OSIANDER, 1538, S. 491. HUBERINUS, 1531, S. 228. RHEGIUS, 1529, S. 244 (Hervorhebung der Verfasserin). OSIANDER, 1538, S. 495 (Hervorhebung der Verfasserin). EHLERT, 1997, S. 264.

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tane, als nicht erfüllte Zeit, was der Sterbende vielleicht letztmalig bekennen wollte.

5. „O sol t ich noch ain monat leben / jch w elt den hymel verdienen“ Nachdem die meisten Autoren dieser Büchlein auch selbst in der Seelsorge tätig waren, kannten sie wohl die Bedenken, Ängste und Nöte, die an Sterbebetten geäußert wurden. Häufig und nur allzu menschlich erscheint die Reue über Dinge, die man verabsäumt hat – gepaart mit dem Wunsch, noch länger leben zu dürfen, um etwas nachzuholen, fortzusetzen oder besser zu machen. Wenige Formulierungen mögen genügen, um davon ein Beispiel zu geben: So etwa bringt Osiander die Argumente eines beispielhaften Familienvaters, der noch gerne länger lebte, auf den Punkt: „Dann er lest sich beduncken, wenn er noch lenger solt leben, er wolt im selbs, seinem gemahel, seinen kleinen und unerzognen kindern, darzuo auch gemeinem nutz zuoguot noch vil guots gethan und außgericht, darzu auch vil künftiger mängel und scheden verhuetet haben.“20 Von einem anderen, ähnlichen Fall berichtet der Reformationstheologe Caspar Kantz: „Ein anderer“, so schreibt er, „beschwert sich zuo sterben / von wegen seiner grossen sünden. […] Vermeynt wo jm Gott sein leben fristet / so wolt er erst ein frommer mensch werden / und sich baß zuom todt bereyten.“ Den Vorsatz zur Besserung hält Kantz zwar für nachvollziehbar, entkräftet ihn jedoch mit dem Argument, dass es „ein ungewissz ding mit un-

20 OSIANDER, 1538, S. 491 (Hervorhebung der Verfasserin). Dieser Sorge begegnet Osiander mit dem Argument, dass auch Christus viel zu früh – als er noch nicht einmal „vierthalbs jar“ (= dreieinhalb Jahre) gepredigt hatte „und erst zwelf aposteln und sibentzig juengern zuowegen bracht het“ – von seinem Vater zu sich gerufen wurde. Dennoch konnte der ihm nachfolgende Heilige Geist mehr bewirken als Jesus durch seinen Verbleib auf Erden. Der Gläubige sollte sich daher darauf verlassen, dass nach seinem Tod vieles noch besser würde als er zu hoffen gewagt hätte. EBD., S. 493f. Auf andere biblische Beispiele greift Culmann zurück, etwa auf Moses, Josua, David und Abraham („Er meinet auch / er sturb zue bald“), um dann für den bekümmerten Moribunden zu folgern: „Derhalben sol man nicht gedencken / das man zue frue sterbe […] Gott werde wol ein [jemanden] finden der das vberig werde ausrichten / bekuemer dich nur nit darumb / es wirdt Got sein werck ausrichten durch einen andern ob du gleich stirbst.“ CULMANN, 1551, Bl. Hvr-Hvv. 207

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ser besserung [wäre] / wie die erfarung gibt / das vil nach grosser kranckheyt / nur erger werden.“21 Die Bitte um Fristerstreckung, die mit dem Versprechen einhergeht, mit diesem Aufschub sorgsam umzugehen, würde die bekannte Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross in ihrem Phasen-Modell vermutlich als die „Phase des Verhandelns“ bezeichnet haben.22 In dem Sterbebüchlein von Johannes Diepold kommt ein auf solche Art verhandelnder Mensch direkt zu Wort: Der Seelsorger und Autor hat mehrmals erlebt, „dz etwan der kranck mensch mit der sprach herauß felt / vnd spricht. O solt ich noch ain monat leben / jch welt den hymel verdienen. Nit also lieber mensch“, lässt Diepold ihm ausrichten, „vzweyffel nit / sprich nit / soelt ich lenger leben / ich woelt die seligkayt verdienen / wann der mensch lebte biß an den jungsten tag / so moecht er das ewig leben nit verdienen.“23 Der Mensch setze daher seine Hoffnung nicht auf ein langes Leben und seine guten Werke, sondern allein auf die Barmherzigkeit Gottes und Christus, der selig macht. In genau dieser Antwort bestand die für Sterbende tröstliche, neue Botschaft, die Diepold und seine reformatorisch gesinnten Mitstreiter an Sterbebetten verbreitet sehen wollten: Die Dauer eines Menschenlebens und die zu Lebzeiten gesammelten guten Werke und Verdienste sollten nicht mehr in die Waagschale geworfen werden, wenn über Ewigkeit oder Verdammnis entschieden wurde. An ihre Stelle tritt der Glaube an Christus (solus Christus), der den Gläubigen selig macht und mit seinem Erlösertod auch andere für das ewige Leben bestimmt hat. Um das „ewige leben, ewig freud und seligkeit“ zu erlangen, durchlebt der Mensch – um bei der Wortgebung der Sterbebüchlein zu bleiben – zeitliches (das heißt auch endliches) Elend, Jammer und Tod: Für Caspar Huberinus – und das ist an seiner Argumentation bemerkenswert – kann die Ewigkeit für die Gläubigen auch

21 KANTZ, 1546, Bl. Avv-Avjr. Mit „sich beschweren“ ist hier nicht „sich beklagen“ gemeint – vielmehr leidet der Sterbende unter der Last seiner Sünden, die ihn bedrücken. 22 Vgl. KÜBLER-ROSS, 2011. 23 DIEPOLD, 1522, Bl. Br (Hervorhebung der Verfasserin). Dem Argument, dass proportional mit der Dauer, die ein Mensch auf Erden verweilt, auch seine Hoffnung auf das Heil steigt, muss auch Rhegius entschieden widersprechen: „Was hulfs ayn menschen, das er aller welt guot hette und tausend jar lebte, kain krankhayt hette am leib, und die seel vergift wer“, und ihm doch, wie der Theologe befürchtet, „das ewig sterben und verdambnus mit leyb und seel“ drohte. RHEGIUS, 1529, S. 242. 208

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temporär vor dem Tod beginnen, wenn er schreibt: „Es geet schon hie an in dieser zeyt, das ewig leben, und weret ewiglich.“24

6. „Weil auch ainer langks amer styrbt dann der ander“ In den bislang zitierten Beispielen, welche die Autoren aus der unmittelbaren Praxis der Sterbeseelsorge zu greifen scheinen, hat sich subjektives Zeitempfinden manifestiert: Die exemplarisch zitierten Menschen, die den Tod vor Augen haben, empfinden die gesetzte Frist als zu kurz und würden viel dafür geben, noch länger leben zu dürfen. Die Büchlein zur Seelsorge bereiten Sterbebegleiter allerdings auch auf den umgekehrten Fall vor: Wenn die als leidvoll erfahrene Zeit auf Erden zu lang wird, der Tod auf sich warten lässt und sich Zeitfenster auftun, ist auch das eine der seelsorgerlichen Herausforderungen, die von den Autoren in entsprechender Art und Weise thematisiert werden. Mehrere Sterbebüchlein, darunter vor allem jene der zweiten Generation,25 waren auch auf diesen Fall vorbereitet: Sie stellten Textportionen unterschiedlicher Länge bereit und ermutigten ihre Adressaten dazu, auf Zeitgestalten des Sterbeprozesses und dessen Verlauf zu achten, um die verbleibenden kostbaren Stunden bestmöglich zu nützen. Alles, was ein Seelsorger dem Moribunden vermitteln wollte, sollte im Idealfall an individuelle Gegebenheiten angepasst werden – die von Thomas Venatorius angeleiteten Seelsorger etwa konnten sein beispielhaftes, vorformuliertes „exempel / nach gelegenheyt der zeyt / der person / bessern / mindern / oder meren“26 und auch Rhegius empfahl, auf die Bedürfnisse des Gesprächspartners einzugehen: „Auf diese form, lenger oder 24 HUBERINUS, 1531, S. 230 (Hervorhebung der Verfasserin). 25 Diese Einteilung schlägt die Autorin in ihrer Dissertation vor: Während die um das Jahr 1530 erschienenen, ersten reformatorischen Sterbebüchlein einem Seelsorger wenig Text an die Hand geben, sind die Büchlein um 1540 schon deutlich umfangreicher gestaltet: Ihr Inhalt lässt sich über mehrere Zugriffsoptionen wie etwa anwenderfreundliche Kapitelüberschriften und Register erschließen und kann situationsbezogen angepasst werden. Wie sich die Textsorte innerhalb eines Jahrzehnts weiterentwickelt, lässt sich insbesondere anhand jener Autoren zeigen, die ihre Büchlein innerhalb dieses Zeitraums erweitert und verbessert haben. Vgl. RESCH, 2006, Kapitel F.II., S. 162-182. 26 VENATORIUS, 1527, Bl. [Aviij]r (Hervorhebung der Verfasserin). 209

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kürzer nach gelegenhayt des kranken, magst du mit im reden“, lautete sein erfahrener Rat.27 Die Struktur der meisten dieser Büchlein erlaubte dem Benützer, auf die psychische und physische Verfasstheit von Sterbenden Rücksicht zu nehmen. Damit das richtige Wort zur richtigen Zeit gefunden werden konnte, boten die Büchlein durchnummerierte Textabschnitte unterschiedlicher Länge, die modulartig zusammengestellt werden wollten. Bei der Textauswahl sollten sich Randbemerkungen, Stichwortregister oder übersichtliche Abschnittsbezeichnungen als besonders nützlich erweisen. Nachdem ein Sterbender dem anderen „ungleych“ war und „auch ainer langksamer styrbt dann der ander“28 sollte man den Sterbeverlauf achtsam verfolgen: Zwar gab es keine Zeitangaben im eigentlichen Sinne, doch konnten Sterbebegleiter selbst beobachten, wie schnell oder langsam das Leben zu Ende ging und danach ihre sprachlichen Mittel wählen. In Abschnittsüberschriften wie „Zum Vierdten. Wann es sich nun mit dem Sterbenden zum end nahen will vnd die letste stund yetz verhanden ist“ oder „Zum Fünfften. Wann sich aber die sach zuolang mit den zügen verziehen wurde“ oder „Zuo Letst. Wann nun die rechten vnd letsten züg verhanden seind / da der sterbend sich anfahet zuorimpffen / als wann ainer in ainen sauren apffel beysset“29 wird das Sterben als fortschreitender Prozess beschrieben, der von liturgischen Worten, nicht nur bis zum letzten Augenblick begleitet, sondern auch gestaltet und strukturiert werden kann. Wurde die Zeit bis dahin als zu lang empfunden, so hielten die Autoren mehrere Vorschläge bereit, wie man sie dem Sterbenden verkürzen könnte – mit Gebeten, Gebetsauslegungen, der Passion Christi, erbaulichen Versen aus der Heiligen Schrift, oder, wenn man dem Rat von Kaspar Kantz folgen wollte, konnte man „auch bey dem krancken / wa sich seine kranckheyt verlengern würde / etliche trostliche Psalmen lesen / rc.“30 Sollte sich der leidvolle Zustand tatsächlich „verlengern und verziehen / das also der kranck ettlich zeyt / mitt schwaerer kranckhait verhafftet wurde“, so war es die Aufgabe des anwesenden Seelsorgers, den Sterbenden zur Geduld zu ermahnen – Huberinus etwa schlägt dafür folgende Formulierung vor: „ob sich nun ewer kranckhait mein 27 28 29 30

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RHEGIUS, 1527, S. 249. HUBERINUS, 1531, S. 228 (Hervorhebung der Verfasserin). DERS., 1542, Bl. Fiiijv, Fvr und [Giiij]r. KANTZ, 1546, Bl. Ciijr. Die Warnungen der Kirchenordnungen, niemanden mit „unzeitigem geschwetz“ oder „langen verdrießlichen predigten“ zu strapazieren, könnten ein Hinweis darauf sein, dass es auch Übereifer an seelsorgerlicher Zuwendung gegeben hat. Vgl. SEHLING, 1965, S. 447 und DERS., 1902, S. 437.

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lieber N [hier wurde der jeweilige Name eingesetzt] etwas verzeücht / die sach sich verlengert / und euch die zeyt zuo helffen als zuo lang sein duncken will / So sollet jr jndes darumb nit ablassen / von Gott nit abweichen noch klainmuetig werden.“31 Wie lange die Hilfe noch auf sich warten ließ, wusste man nicht, doch könnte der Vergleich von der Seele, die als Braut ihren Bräutigam erwartete,32 die Zeit bis dahin verkürzt haben. Mit anschaulichen Bildern gestärkt wusste Huberinus den Moribunden auf alles vorbereitet („so bistu keck und unverzagt in allem leyden, wie lang es auch weret“33) und je länger Gott mit seiner Hilfe zuwartete, desto herrlicher würde sie schließlich sein, hieß es weiter. Hatten Leidende also den Eindruck, dass Gott sie verlassen hätte, sollte man sie damit trösten, dass Gott für die erbetene Hilfe erst den richtigen Zeitpunkt wählen würde: Auch Johannes Spangenberg deutete diese Zeit des Ausharrens positiv: „Wir sollen gewißlich gleuben / das Gott die hülffe nicht verzeucht / als wolt er vns nicht helffen / sondern allein darumb / das er sie zu seiner zeit / viel herrlicher vnd tröstlicher erzeigen / mehr denn wir hetten dürffen hoffen vnd wündschen.“34 Das Vertrauen auf Gott und sein Wort sollte Gläubige vor Verzweiflung bewahren und vor der Verfehlung, von ihrem Schöpfer die erhoffte, an keine Zeit gebundene Hilfe ungeduldig zu erwarten, denn nur Gott selbst bestimmte den Zeitpunkt seines Eingreifens. Ähnlich findet sich diese Warnung auch bei Culmann formuliert: „Wir sollen auch Got in unsern noeten nit fuerschreiben / weder zeyt noch weiß / obs sichs gleich lange zeyt verzeucht.“ Mit dem Verhalten, das er den Gläubigen abverlangt, weist er noch einmal darauf hin, dass also „Gott allein den tittel behalt / das er ein trewer nothellfer sey zuo rechter zeyt.“35 Das Vertrauen auf Gott und das damit verbundene, sogar eingeforderte Aufgeben des eigenen Willens mochte es den Menschen erlaubt haben, den irdischen Dingen mit Gleichmut entgegenzusehen. Es war das Ziel dieser empathisch-tröstlichen Formulierungen, der Todesstunde keine besondere Bedeutung mehr beizumessen. Indem der gläubige Mensch auf äußerlich vermittelte Zeichen der Frömmigkeit wie Sakramente, Sterbekerzen, Heiligenbilder und 31 HUBERINUS, 1542, Bl. [Dvj]v (Hervorhebung der Verfasserin). 32 „Gott der Herr steht yetzt ain klaine weyl hinder der wand / als ain freündtlicher lieber Breütigam / vnd sicht zum fenster haimlich hinein / zuo seiner lieben Braut / ob sy jren Breütigam so lieb habe / das sy seiner erharren vnd erwarten künde.“ EBD., Bl. [Dvij]r. 33 HUBERINUS, 1531, S. 230 (Hervorhebung der Verfasserin). 34 SPANGENBERG, 1542, Bl. [Cvj]v (Hervorhebung der Verfasserin). 35 CULMANN, 1551, Bl. Fiiijr und Fvr (Hervorhebung der Verfasserin). 211

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Weihwasser, ja sogar auf den Dienst eines Priesters verzichten konnte, sollte die Todesstunde entritualisiert, ihr Schrecken deutlich gemildert werden. „Der Todesstunde im Hinblick auf das menschliche Heil eine besondere Bedeutung zuzuweisen, hat Luther vermieden.“36 Für den Reformator sollte die Vorbereitung auf das Sterben nicht erst in der isolierten, meist ohnedies knapp bemessenen Phase der Krankheit beginnen, die Seligkeit nicht auf diese letzte Stunde zugespitzt und vom Verlauf der allerletzten, überbewerteten Momente abhängig sein. Dennoch war ihm offenbar bewusst, wie sehr der Mensch der Seelsorge im Angesicht des Todes bedurfte. Von deren Relevanz und Wirksamkeit waren vor allem die Reformatoren neben Luther überzeugt, die diese anwendungsnahen Büchlein verfassten – ihnen und anderen lutherischen Seelsorgern unterstellt Kümmel, dass sie in der Praxis mehrheitlich „an der herkömmlichen dramatischen Inszenierung der Todesstunde als der letzten Bewährungsprobe keinen Anstoß nahmen, vielmehr sogar selbst dabei mitwirkten.“37 Die untersuchten Sterbebüchlein können diesen Eindruck eigentlich nicht bestätigen, obgleich sie allein aufgrund der intendierten Gebrauchssituation der letzten Stunde besondere Aufmerksamkeit widmen, vielleicht auch widmen mussten, zumal man in diesem Zusammenhang auch bedenken muss, wie sehr das Lebensende von Traditionen begleitet war und wie schwierig es vermutlich war, gerade in der Sterbeseelsorge ein Umdenken herbeizuführen. Gleichzeitig werden die Reformatoren an Kranken- und Sterbebetten auch eine Möglichkeit gesehen haben, ihr neues Heilswissen in kleinem Kreis, vor einem Grüppchen dankbarer Zuhörer verbreitet zu sehen. Denn so sehr sie bei dem Moribunden Trost und Zuversicht vermittelt sehen wollten, so streng und nachdrücklich waren ihre formulierten Ermahnungen an jene, die noch die Möglichkeit hatten, ihre Lebensweise zu bessern. Die Gelegenheit, die Leser dieser Büchlein beziehungsweise auch die anderen am Sterbelager anwesenden Personen an deren eigene Sterbevorbereitung zu erinnern, schien günstig: Anhand des konkreten Sterbefalles erklärt, dürften diese Hinweise, sich rechtzeitig auf „sein zeyt vnnd zil zuo sterben“ vorzubereiten, ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Mit der Forderung, den Tod bereits im Leben zu bedenken, will die reformatorisch interpretierte Ars moriendi letzten Endes – von der Sterbestunde aus gedacht – zu einer Ars vivendi, zu einem lebenslangen Lernprozess anleiten, bei der die Gegenwart an Bedeutung gewinnt und die Todesstunde ihre Drama36 MOELLER, 1999, S. 761. 37 KÜMMEL, 1984, S. 216. 212

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tik weitgehend einbüßt. Während die spätmittelalterliche Ars moriendi größten Wert auf ein seliges Stündlein legt und den Ende gut, alles gut-Gedanken propagiert, betonen Reformatoren, wie heilsam es wäre, sich schon im Leben – also beizeiten – mit dem Tod zu beschäftigen. Man sollte daher, so Leonhard Culmann, die Vorbereitung auf den Tod „nit verziehen / auffschieben / noch verlengern von tag zuo tag / biß uns die not auff dem hals ligt / biß in das beth / oder letzte stuendlein / welchs fuerwar gferlich gnug ist / […] Sonder unser leben bessern / guts thun gegen yederman / weyl wir zeyt haben.“38 Einen ähnlichen Appell richtet auch Caspar Huberinus abschließend an den christlichen Leser seines Büchleins: „frummer Christ / lerne bey zeyt sterben / dann du wayst weder zeyt noch stund / weder ort noch weyß / wann / wie / oder welches tods du sein muost / Sonderlich zuo disen letsten / faerlichen zeyten / Derhalben so spare solchs nit biß zum treffen kumbt / es moechte sunst zuo lang geharret sein / Lerne / lerne dise kunste / weyl du zeyt / verstand / vnd gelegenhait dazuo hast / so gehst du 39 den aller sichersten weg.“

Ein zweites, auf das Leben und die Gegenwart bezogenes Werbe-Sujet der zu Beginn erwähnten Wiener Hospizeinrichtung beschließt diesen Beitrag: Ganz im Sinne reformatorischer Ars vivendi und dennoch zeitgemäß will es (insbesondere am Karfreitag, an dem es plakatiert wurde) ein Bewusstsein dafür schaffen, dass über persönliche Lebens-Wunschlisten möglichst in guten Zeiten nachgedacht werden sollte – nicht erst knapp vor dem allerletzten, wichtigsten Termin.

38 CULMANN, 1551, Bl. Aiijv (Hervorhebung der Verfasserin). 39 HUBERINUS, 1542, Bl. [Gvij]r (Hervorhebung der Verfasserin). 213

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Liter atur CULMANN, LEONHARD, Wie man die krancken trösten / vnd den sterbenden vorbeten sol / auch wie man alle anfechtung des teuffels vberwinden sol / vnterrichtung auß Gottes wort, Nürnberg 1551. DIEPOLD, JOHANNES, Ain nützliche Sermon zuo allen Christen menschen / von der rechte Euangelische meß / vnd von der beraytung zu dem Tisch gottes / von dem trost der sterbenden menschen / vnnd dancksagung für dz bluot Christi, Ulm 1522. EHLERT, TRUDE, Lebenszeit und Heil: Zwei Beispiele für Zeiterfahrung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von ders., Paderborn u.a. 1997, S. 256-273. HUBERINUS, CASPAR, Troestung auß Goetlicher geschrifft. An Die so in leibliche kranckeyt gefallen. Vnd wie man für den krancken bitten soll. Die so in Todts noetten ligen. Unnd wie man ihnen den Glauben vorsprechen soll […], Frankfurt am Main 1531 (Neuedition des Textes von Gunther Franz, in: Huberinus – Rhegius – Holbein. Bibliographische und druckgeschichtliche Untersuchung der verbreitetsten Trost- und Erbauungsschriften des 16. Jahrhunderts, (= Bibliotheca humanistica & reformatorica 7), Fassung B, Nieuwkoop 1973, S. 227-240). DERS., Wie man die krancken troesten soll, Augsburg 1542. JECK, UDO REINHOLD, Zeitkonzeptionen im frühen Mittelalter – Von der lateinischen Spätantike bis zur karolingischen Renaissance, in: Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Trude Ehlert, Paderborn u.a. 1997, S. 179202. KANTZ, CASPAR, Wie man den krancken vnd sterbenden menschen ermanen / troesten / vnd Gott befelhen soll / das er von diser welt seligklich abscheyde, Straßburg 1546. KNOCH, WENDELIN, Nikolaus von Kues, Zeit und Ewigkeit, in: Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Trude Ehlert, Paderborn u.a. 1997, S. 103116. KÜBLER-ROSS, ELISABETH, Interviews mit Sterbenden, 3. Aufl., Freiburg 2011.

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Über „zeyt vnnd zil zuo sterben“

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Claudia Resch

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D IE Z ERBRECHUNG

DER

N ATUR

DURCH DI E

K UNST : E SCH ATOLOGISCHE Z EITKONZEPTE DER PAR ACELSI SCHEN

IN

A LCHEMIE

UTE FRIETSCH

1. Einleitung Wenn auch nicht jeder Lebenszusammenhang der Frühen Neuzeit von einer Ausrichtung an der Endzeit, von Eschatologie und Apokalypse geprägt war, so führte die intensive Auseinandersetzung mit Glaubensstreitigkeiten im 16. und frühen 17. Jahrhundert doch zu einer neuen Dynamik, die auch die Naturkunde erfasste. Da die Theologie Leitwissenschaft war und zugleich von fundamentalen Umbrüchen ereilt wurde, sahen sich viele Gelehrte und Praktiker der untergeordneten Wissenschaften und Künste, etwa der Medizin, herausgefordert, als Laien zu den drängenden theologischen Streitfragen Stellung zu beziehen.1 Die Alchemie, die in Europa seit dem 12. Jahrhundert Fuß fasste und zunächst in den Klöstern praktiziert wurde, war technisch-praktisch und zugleich spirituell sowie religiös verfasst.2 Mit der Ausbreitung der Destillation, einer ihrer zentralen Techniken, trat im 15. und 16. Jahrhundert zwar eine gewisse Verbürgerlichung und Säkularisierung ein: In Form der Branntweinbrennerei 1 2

Vgl. SCHMIDT-BIGGEMANN, 2007, S. 141-185; FRIED, 2001. Zum Übergang von der mittelalterlich arabischen zur mittelalterlich christlichen Alchemie vgl. exemplarisch NEWMAN, 1998, S. 26-29. Zur Entstehung der Alchemie in der römischen Kolonie Ägypten im 1. nachchristlichen Jahrhundert sowie zur Wortbedeutung vgl. exemplarisch WEYER, 1998, S. 22-25. 217

Ute Frietsch

hielt Alchemie nicht nur an den Höfen, sondern auch im Kleingewerbe und in den Haushalten Einzug und wurde dort – der Doppelbedeutung des „Spirituellen“ entsprechend – vielfach eher merkantil denn religiös genutzt.3 Im Zusammenhang mit der Medizin betrieb man Alchemie im 16. Jahrhundert aber auch als Forschung mit wissenschaftlichem Anspruch und die religiösen Fragestellungen dieser Alchemie erhielten durch den Zeitgeist der Reformation weiteren Auftrieb.4 Im 16. und frühen 17. Jahrhundert wurden der Schweizer Arzt und Alchemiker5 Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493/94-1541), der seine Werke ab 1529 mit dem Namen Paracelsus signierte, und die ihm folgende naturkundliche sowie spirituelle Bewegung der Paracelsisten tonangebend im Bereich der Alchemie. Sie propagierten die medizinische Alchemie als ein Gegen-Dispositiv zur etablierteren galenischen Humoralpathologie und lösten damit europaweit Kontroversen über die Rechtgläubigkeit sowie wissenschaftliche Rechtmäßigkeit der alchemischen Theoreme und Praktiken aus.6 Die Paracelsisten waren in beiden Hinsichten mehr als angreifbar. Paracelsus als Leitfigur und Vorbild hatte offiziell zwar den alten Glauben beibehalten. Er hatte jedoch eine Vielzahl von theologischen Schriften verfasst, in denen er zu zentralen Streitfragen wie etwa dem Marienglauben, der Trinität und den Sakramenten auf unorthodoxe Weise Stellung bezog. Seine diesbezüglichen Positionen wurden in den folgenden Konfessionalisierungswellen von keiner der etablierten Kirchen akzeptiert und galten in jeder Konstellation als häretisch, heterodox oder zumindest deviant. Ähnlich verhielt es sich in Hinblick auf die Akzeptanz innerhalb der Medizin: Das Dispositiv der paracel3 4

5

6 218

Vgl. MORAN, 2005. Auf einen Zusammenhang von Alchemie und Apokalypse in Anschluss an die Reformation hat bereits Betty Dobbs (mit Verweis auf Herbert Breger) hingewiesen, vgl. DOBBS, 1990, S. 75-94; DIES., 1990a, S. 5f., S. 15f. Ich spreche durchgängig von Alchemiker und alchemisch anstatt von Alchemist, alchemistisch etc., um den historischen Zusammenhang von Alchemie und Chemie zu betonen. Dies entspricht terminologischen Erwägungen in der englischsprachigen Forschung: Der Chemiehistoriker Allen G. Debus schlägt zur Bezeichnung der Paracelsisten und vergleichbarer hermetischer Chymiker, von Paracelsus bis zu Johann Baptist van Helmont, den Terminus „chemical philosopher“ sowie das Substantiv „chemical philosophy“ vor. William R. Newman und Lawrence Principe argumentieren für den Gebrauch des Quellenbegriffs „chymistry“, um den negativ konnotierten Term „alchemy“ zu umgehen. Vgl. DEBUS, 1987, Teil III, S. 235-259; DERS., 2002; NEWMAN/PRINCIPE, 1998, S. 32-65. Vgl. FRIETSCH, 2008, S. 51-76.

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

sischen Alchemie – das aufgrund der verstärkten oralen Medikamentierung chemisch veränderter Stoffe retrospektiv als Chymiatrie (als pharmazeutische Alchemie) bezeichnet wurde – modifizierte die galenische Ausrichtung der Universitätsmedizin nur langsam,7 wenngleich es die Arzneimittelproduktion europaweit fundamental transformierte.8 Als deviant wurden die paracelsischen Schriften nicht allein wegen ihrer laientheologischen oder ihrer wissenschaftskritischen Aussagen wahrgenommen, sondern vor allem, weil sie theologische Aussagen und alchemische Praktiken zu einer Lehre zu verbinden und aus den religiösen Theoremen der Tradition handhabbare Vorgaben für neue alchemische und chymiatrische Praktiken abzuleiten versuchten.9 Als eines ihrer spirituellen Instrumente zur Verbindung von Theoremen und Praktiken diente ihnen dabei ihr Zeitverständnis. Im Folgenden werden einige der theologico-chymiatrischen paracelsischen Aussagen und Praktiken kulturgeschichtlich kontextualisiert und auf ihre zeitlichen Strukturen hin analysiert.

2. Der verkannte Autor Über die Person des Paracelsus sowie über die paracelsischen Schriften ist seit dem 16. Jahrhundert viel geforscht worden. Ein Antrieb für diese intensive Auseinandersetzung mit der paracelsischen Biographie und dem paracelsischen Schrifttum liegt in einem scheinbaren Paradox: Während der Arzt und Alchemiker Paracelsus im Verlauf seines Lebens keinen durchschlagenden Erfolg hatte und seine Schriften zum großen Teil aufgrund von Publikationsverboten und weiteren Widrigkeiten zunächst unediert blieben, multiplizierten sie sich sozusagen unter der Hand. Seit den 1570er Jahren lukrativ gehandelt, vermehrten sie sich um ein reiches pseudo-epigraphisches Schrifttum, so dass – seit dem Verlust der letzten Autographen um das Jahr 1700 – authentisch paracelsische und pseudo-paracelsische Schriften kaum mehr gesichert zu unterscheiden sind.10 Es multiplizierten sich außerdem Mythen und Legenden,

7 8 9 10

Vgl. SCHMITZ, 1969. Vgl. SCHNEIDER, 1961, S. 201-215; SCHRÖDER, 1974; URDANG, 1954, S. 303-314. FRIETSCH, 2012 (im Erscheinen). Dies gilt für die naturkundlichen Schriften, die um 1600 erstmals durch den Arzt und Paracelsisten Johannes Huser eine umfassende Edition erhielten, sowie verstärkt für die theologischen Schriften, die zum großen Teil bis heute unediert sind. 219

Ute Frietsch

die sich um den Namen Paracelsus rankten, sowie Portraits seiner zumeist grimmig wirkenden Erscheinung. Paracelsus, der kurzzeitig eine Professur an der Universität Basel inne hatte, diese jedoch aufgrund seines unkonventionellen Habitus verlor, war, von kurzen Unterbrechungen der Sesshaftigkeit abgesehen, sein Leben lang auf Wanderschaft.11 Seine fluchtartigen Ortswechsel sollen die prekäre Überlieferungslage seiner Schriften mit verursacht haben: Paracelsus ließ seine Manuskripte angeblich hinter sich zurück, verstreut unter Vermietern, Druckern, Freunden, Assistenten, Schülern und weiteren Adepten. Die Bewegung der Paracelsisten, die im 16. und frühen 17. Jahrhundert bestrebt war, der als neu proklamierten Alchemie des Paracelsus zum Durchbruch zu verhelfen, bildete sich im Prozess der zum Teil clandestinen Verbreitung dieser Texte: des Kopierens, Imitierens, Latinisierens und Edierens der Schriften sowie des Nach-Experimentierens der zum Verzweifeln kryptischen Rezepte.12 Die Apokalyptik und die quasi-urchristliche Endzeiterwartung, von denen die paracelsischen Schriften strotzten, kamen der Gemeinschaftsbildung dabei sehr entgegen: Im Anschluss an den kalabrischen Propheten Joachim von Fiore (ca. 1130-1202) sah man ein tausendjähriges Reich nahen, in dem die Ablehnung der paracelsischen Alchemie an den Universitäten sowie generell die Repression der spirituell anders Denkenden ein Ende hätten und sich die freien Künste zu einer neuen Wissenschaft (scientia) reformieren würden. Die Bewegung der Paracelsisten mündete auf diese Weise ziemlich direkt in Folgeprojekte wie etwa die fiktive Rosenkreuzer-Bewegung des schwäbischen Theologen Johann Valentin Andreae (1586-1654).13 Das Motiv des verkannten Autors ging dabei mit den Motiven der Apokalyptik und der nahenden Endzeit fruchtbare Verbindungen ein, weil es diejenigen zur Identifikation einlud, die nicht nur die alte Kirche ablehnten, sondern denen auch die Reformversuche der Lutheraner und Calvinisten religiös und wissenschaftlich zu wenig Freiraum boten. Das Portrait des Paracelsus wurde so zu einem Sinnbild und Mahnmal der fortgesetzten Unterdrückung der wahren Lehre. Als Beispiel für ein solches gemeinschaftsstiftendes Portrait sei der abgebildete Holzschnitt angeführt. Er stammt aus dem Manuskript Vom Nachtmahl Christi, De Coena Domini, einer (überwiegend) deutschsprachigen Abschrift Für die naturkundlichen Schriften vgl. VON HOHENHEIM, 1922-1933, Reprint: 1996. Zu den theologischen Schriften vgl. DERS., 1923, 1955-1995; DERS., 2008. 11 Vgl. BENZENHÖFER, 1997. 12 Zu den Paracelsisten vgl. KÜHLMANN/TELLE, 2001; DIES., 2004. 13 Vgl. ANDREAE, 2010. 220

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

einiger laientheologischer Schriften des Paracelsus zum Abendmahl.14 In der Kompilation finden sich immer wieder Grüße an die Gesinnungsgenossen (socii, sodales, amicos), und auch der Holzdruck, der die handschriftlichen 62 Seiten einfach dadurch in zwei Teile gliedert, dass er zweimal abgedruckt ist, funktioniert wie ein Gruß. Während der Name Theophrastus Paracelsus auf den beiden Titelblättern nur schwach hervorgehoben ist, hat dessen Ganzkörperportrait den Effekt einer performativen Vergegenwärtigung. Ungewöhnlich an diesem Druck ist, dass Paracelsus in ganzer Gestalt und in freier Landschaft zu sehen ist. Er ist mit den bekannten grimmig-traurigen Gesichtszügen abgebildet, die wohl als erster August Hirschvogel (1503-1553) auf einem Kupferstich von 1540 festgehalten hatte. Sein Oberkörper wirkt verwachsen. Er stemmt sich auf das brusthohe Schwert, das seine adelige Genealogie bezeugen sollte; wobei diese angesichts der unehelichen Abkunft des Vaters sowie der Leibeigenschaft der Mutter mehr als anfechtbar war. Paracelsus steht auf einer Anhöhe in einer Lichtung, die den Blick auf einen Wald sowie auf eine Ansiedlung mit einer Burg freigibt, der Burgturm trägt die Jahreszahl 1567. Über der Gestalt des Arztes ziehen Wolken. Im Verein mit der wehrhaften Haltung geben sie dem Portrait etwas Ungestümes. Das Ganze mag heute skurril und fast märchenhaft erscheinen. In einer Sammlung laientheologischer Schriften wird der Holzschnitt bereits im 16. Jahrhundert als ungewöhnlich wahrgenommen worden sein. Am Ende der Kompilation findet sich die Anweisung, diese Bücher seien nicht zu veröffentlichen (demnach: nicht mit der Druckerpresse zu edieren), denn Ärzte – wie Paracelsus – würden von den Pfaffen verschmäht. Eine der kopierten Schriften richtete sich dessen ungeachtet direkt an den aus der Familie der Medici stammenden Papst Clemens VII. (1478-1534), so dass die Kirche mit jeder Kopie aufs Neue frontal adressiert wurde.

14 Zur historisch-kritischen Einordnung dieses Manuskriptes vgl. SUDHOFF, 1899, S. 271-295. 221

Ute Frietsch

Abbildung 1: Anonym, 1567, fol. 1v und 23v.

3. Apokal ypse als Enthüllu ung und Erfüllung Die Behauptung des Verschmäht- und Verkanntseins war den paracelsischen Schriften auf vielfache Weise eingeschrieben. Die Schriften kündeten allerdings zugleich von der eschatologischen und revanchistischen Überzeugung, dass die Wahrheit letztlich schon ans Licht kommen werde. Sie machten die Sentenz des Matthäus-Evangeliums, dass nichts verborgen sei, das nicht offenbar werde (Matth. 10:26), die sich übrigens auch auf der Titelseite der Occulta Philosophia des Naturkundlers und Magiers Agrippa von Nettesheim (14861535) von 1533 findet, zu ihrem alchem mischen Credo.15 Für die paracelsische Alchemie bedeutete Apokalypse nicht in erster Linie Zerstörung, sondern vielmehr die Aussicht auf eine Enthüllung des Verborgenen und damit die Erfüllung der Potentiale des göttlichen Heilplanes, die in der ersten Genesis bereits angelegt waren. Die Apokalypse war im paracelsischen o zumindest eine äußerst produktive Zusammenhang insofern eine positive oder Entwicklung. Die Aussicht auf diese Apokalypse A war geradezu gleichbedeu-

15 Vgl. exemplarisch VON HOHENHEIM 1922-1933, Bd. 3, S. 46. 222

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

tend mit der eigenen Gegenwart, denn den paracelsischen Schriften zufolge konnten gerade die alchemisch tätigen Ärzte an diesem Prozess aktiv mitwirken.

4. Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren Zu den Merkmalen der alchemischen Orientierung an der Genesis gehörten die Konstruktivität und die Beschleunigung, mit denen das Enthüllen vollzogen werden sollte: So war es ein alchemischer Topos, dass die Metalle in Bergen und Bergwerken reiften, indem sie sich von unedleren zu edleren Metallen – und schließlich zu Gold – entwickelten. Während dieser Prozess der Veredelung in der Natur viel Zeit benötigte, konnte er im alchemischen Kolben durch Feuer künstlich vorangetrieben werden. Die Alchemiker verstanden sich dabei als Experten der Beschleunigung. Sie produzierten ihre arkanen Stoffe, indem sie durch technische Scheideverfahren wie Sublimation (Schmelzen), Destillation und Einwirkung von Säuren das Reinere vom Unreineren trennten. So schmolzen sie Metalle aus Erzen, destillierten Weingeist aus Wein und lösten mit Königswasser das Silber vom Gold. Sie unterstützten das Reinwerden eines Metalls durch die Projektion (Beigabe) geringer Mengen eines reineren Metalls, dessen pulverisierter Zusatz in Analogie mit der kreatürlichen Reproduktion als Metallsamen betrachtet wurde. Flüssiges Quecksilber – oder alles, was man dafür hielt – wurde alchemisch als Inbegriff der prima materia (der ersten Materie oder Materie des Paradieses) betrachtet. Gab man dazu Samen eines anderen Metalls, so pflanzten sich diese sozusagen in der Urmaterie fort. Wurden etwa Goldsamen zu flüssigem Quecksilber gegeben, so konnte dies zu einer Erzeugung weiteren Goldes führen. Die alchemischen Topoi der Reinigung und Verbesserung, die man im christlichen Europa seit dem 12. Jahrhundert zunächst in den Klöstern und dann in Apotheken, an Höfen, in Gärten, Haushalten und schließlich an den Universitäten ausprobierte, waren sowohl naturphilosophisch wie theologisch konnotiert. Biblische und theologische Konzepte ließen sich nutzen, um die eigenen technischen Prozeduren in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen und um Plots zu kreieren, mit denen sich die al/chemischen Prozesse, die noch längst nicht standardisiert waren, nacherzählen und somit auf Muster zurückführen ließen.16

16 Zu alchemischen Plots vgl. VICKERS, 1992, S. 17-34. 223

Ute Frietsch

Die als paracelsisch kanonisierten Schriften verwendeten viele alchemicotheologische Topoi – so beispielsweise die Analogie der Transsubstantiation (der Verwandlung des Leibes Christi im Abendmahl) mit der Transmutation (der Verwandlung der Metalle zu Gold).17 Insgesamt orientierten sie sich jedoch vorrangig an der Genesis und nutzten die alttestamentarische Erzählung als eschatologische Handlungsorientierung. Die biblische Schöpfung hatte sich ihnen zufolge nicht einmalig ereignet, sondern war unentwegt im Vollzug. Der paracelsischen Alchemie kam nun die Aufgabe zu, die Vollendung der Schöpfung praktisch umzusetzen, indem sie die Stoffe reinigte und mit den gereinigten Stoffen kranke Menschen behandelte. Zu diesem Zweck fokussierten sich Paracelsus und die Paracelsisten auf die unsichtbaren Bestandteile der Dinge und arbeiteten daran, diese – die bald schon von dem Wittenberger Medizinprofessor und Paracelsisten Daniel Sennert (1572-1637) als kleine und kleinste Teile, als Korpuskeln oder Atome interpretiert wurden18 – mittels Feuer sichtbar zu machen: So identifizierte Paracelsus die Stoffe Schwefel, Quecksilber und Salz als Grundbausteine aller Dinge und behauptete, dass beim Verbrennen jedweden Dinges dessen schwefelige Anteile, bei seinem Veraschen seine salzigen Bestandteile und beim Flüchtig-Machen sein Quecksilber als Rückstände blieben. Behandelte man ein Ding etwa durch die gängigen alchemischen Verfahren der Sublimation, Destillation, Calcination etc. und durch die rezente technische Errungenschaft der al/chemisch dargestellten Säuren, so führte man es zunächst auf die Position zurück, die es in der Genesis als prima materia innehatte, als Gott es zu seiner jeweiligen individuellen Formation ordnete; isolierte man aus ihm Schwefel, Quecksilber und Salz, so führte man es noch vor diesen Zustand zurück und konnte nun über seine ersten Bestandteile oder Prinzipien disponieren, wie auch Gott darüber verfügt hatte. In dem De Mineralibus Liber, einem Fragment, das erstmals 1570 von dem Paracelsisten Michael Toxites (1514-1581) ediert wurde, der es aus Paracelsus‘ eigener Handschrift kopiert haben will, wurde dies etwa folgendermaßen erläutert: „dan [denn] hat got die zeit beschaffen, das ein ernde ist im korn, ein herbst im obst, so hat er auch beschaffen dem element wasser sein ernt und herbst auch.

17 Vgl. FRIETSCH, 2005, S. 29-51. 18 Sennert bezog die Unterscheidung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf Partikel und zeigte den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Größe auf, vgl. exemplarisch NEWMAN, 2006, S. 98. 224

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst also das alle ding zu seiner zeit sein ernt und herbst haben. also ist das waser ein element und ein muter, ein sam und ein wurzen der mineralien aller. und der archeus [die natürliche Triebkraft der Verwandlung] in ir, der ist der, der die ding alle fügt und ordnet in der natur, das ein ieglichs in sein ultimam materiam kompt der natur. von der natur nimbts der mensch in sein ultimam materiam, das ist, wo die natur aufhört, do facht der mensch an und ir ultima materia ist des menschen prima materia, und die zerbrechung der natur durch die kunst ist 19 des menschen ultima materia.“

Der Alchemiker konnte demnach das natürliche Prinzip der Verwandlung in eigene Regie nehmen und die Dinge auf seine Weise fügen. Indem er sie durch ihre alchemische Behandlung in ihre Bestandteile zerbrach, konnte er sie auf naturkundlich-kunstfertige Weise zu seinen eigenen medizinischen, kommerziellen und sonstigen Zwecken transformieren und etwa neue Medikamente herstellen. In Hinblick auf das Endzeitbewusstsein der paracelsischen Alchemiker war dieses Ultima-Materia-Machen, bei dem der Alchemiker zur Reife seiner eigenen ultima materia (zu seiner individuellen Persönlichkeit und zu seiner Berufung als Arzt) gelangte, ein heilsgeschichtliches Tun: Es realisierte die Dynamik einer quasi-eschatologischen Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Dieser Prozess galt unter Katholiken und Lutheranern als latent ketzerisch, je nachdem, wie er begründet wurde. Ein magischer und damit ausdrücklich häretischer Zauber wurde daraus, wenn seine Umkehrbarkeit – als Wiedergeburt der ‚getöteten‘ Stoffe und Kreaturen – behauptet wurde.

5. Prognostiken und Visualisierungen Das paracelsische Leitmotiv der Endzeit und Apokalypse sowie der durchgängige Bezug auf Aussagen des Alten und Neuen Testamentes boten neben alchemisch praktischer Tätigkeit auch die Möglichkeit, politisch und sozialkritisch zu Fragen der eigenen Gegenwart Stellung zu beziehen. Interessanterweise waren 16 der 23 Schriften, die zu veröffentlichen Paracelsus zu Lebzeiten gelang, Prognostiken; und es war wohl im Zuge einer seiner ersten prognostischen Veröffentlichungen, dass Theophrastus Bombastus von Hohenheim zu seinem hybriden, griechisch-lateinischen Autorennamen fand. Er nutzte diese

19 VON HOHENHEIM, 1922-1922, Bd. 3, S. 35. 225

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Gattung, um seine Vorbehalte gegen das politische und klerikale Establishment, seine Parteinahme für die Unterdrückten (die Bauern) und seine Skepsis gegenüber den Lutheranern zum Ausdruck zu bringen und um den Verderbnissen der Gegenwart polemisch eine verheißungsvolle Endzeit entgegenzusetzen.20 Ein gemeinsamer Gegenstand mit den medizinischen Schriften waren dabei die als neu betrachteten Krankheiten, so insbesondere die so genannte ‚Franzosenkrankheit‘ (die Syphilis), die sich als Strafe Gottes für eine überhand nehmende Wollust interpretieren ließ.21 Der Gestus der paracelsischen Schriften blieb dabei vergleichsweise ärztlich-nüchtern und hilfsbereit, führt man sich zum Vergleich etwa die aggressive Ikonographie der zeitgenössischen Pestblätter vor Augen, in denen die Pest in Anlehnung an den biblischen Psalm 91 sowie an die Ilias des Homer durch einen Gottvater veranschaulicht wurde, der Pfeile auf die Menschen herabschoss. Auf dem ersten hier abgebildeten Pestblatt, das als Deckelbild einer Medikamentenschachtel Verwendung fand, bitten sowohl der auf seinem Kreuz knieende Heiland wie die auf ihre Brust weisende Jungfrau für die Menschen. Auf dem zweiten Blatt schützt die Madonna die bedrohten Menschen, indem sie ihren Mantel über ihnen ausbreitet. Dieser Holzschnitt gab zugleich eine praktische Anweisung: Die Fürsprache Mariens war durch das Beten des Rosenkranzes zu erwerben.22 Die Pfeile, die Gott in seinem Zorn auf die Menschen schoss, können dabei nicht nur als Pest-Pfeile, sondern zugleich als Zeit-Pfeile interpretiert werden, denn mit ihnen etablierte sich für die Betroffenen eine neue Zeit, oftmals die angebrochene Zeit ihres Todes. 23

20 21 22 23

226



Zu Paracelsus Prognostiken vgl. WEBSTER, 2008, S. 218-234. Zu diesem Aspekt vgl. EBD., S. 210-218. Zu den Bildbeschreibungen vgl. SCHREIBER, 1918, S. 6 und S. 11. Das Motiv der Pestpfeile findet sich auch in den paracelsischen Schriften, vgl. exemplarisch: VON HOHENHEIM, 1922-1922, Bd. 9, S. 572, S. 576, S. 585.

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

Abbildung 2: Anonym, um 1460/70, Tafel 3.

Abbildung 3: Anonym, um 1500, Tafel 5.

In den als paracelsisch kanonisierten Schriften finden sich auffälliger Weise, von den Frontispizen abgesehen, nur sehr wenige Illustrationen. Bei diesen wenigen Abbildungen handelte es sich zum einen um einen überlieferten Bestand der prognostischen Bildtradition, der erneut interpretiert wurde, und zum anderen um Zeichen, die offenkundig als magisch galten; selbst diese magischen Zeichen tauchen allerdings nur in Schriften auf, die man heute als pseu-

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do-paracelsisch beurteilt.24 In den paracelsischen Schriften kamen Abbildungen sparsam zum Einsatz – im Unterschied etwa zu früheren alchemischen Schriften, welche die Verwandlungen der Materie im Destillierkolben auf vielfältige Weise in Szene setzten, sowie zu den Schriften der Paracelsisten, wie etwa Leonhard Thurneissers (1530-1595), die ihre eigenen technischen Entwicklungen oftmals bildlich darstellten und erläuterten. Der Grund für diese visuelle Askese war nicht die Kostspieligkeit von Illustrationen und auch nicht unmittelbar der Katholizismus des Autors, sondern sein Magieverständnis: Paracelsus betrachtete Bilder als unmittelbar magisch wirkmächtig und hielt sich daher mit ihnen zurück.25 Die paracelsischen Schriften widmeten sich zudem in erster Linie der Erforschung eines Unsichtbaren, das erst noch ans Licht kommen sollte und das weniger hermeneutisch zu entschlüsseln als durch praktisch alchemische Arbeit zu erschaffen war. Eine Illustration der eigenen Schriften durch Abbildbares und demnach bereits Sichtbares wäre insofern kontraproduktiv gewesen und hätte dem paracelsischen Gestus von empirisch-praktischer eigener Forschung nicht entsprochen.26

6. „Tötlichs“ Paracelsus und die Paracelsisten versuchten sich an der Herausarbeitung wechselseitiger Begründungszusammenhänge von alchemischen Praktiken und naturphilosophischen sowie theologieförmigen Theoremen. In den als paracelsisch kanonisierten Schriften wurde allerdings nur selten positiv auf die Tradition Bezug genommen: Sie pflegten durchweg ein neologistisch-innovatives Vokabular und wollten alle ihre Theoreme und zumindest die subtilsten ihrer Praktiken und Medikamente originär selbst entwickelt haben. Dieser Gestus, der sich mit Peter Burke als kulturelle Verweigerung u. a. in Hinblick auf die italienische Renaissance interpretieren lässt,27 konnte umso plausibler vertreten werden, als ein Gros dieser Schriften zunächst in deutscher Sprache verfasst wurde, so dass auch bei dem übersetzenden Aneignen von TheorieVersatzstücken die ursprüngliche Provenienz (etwa Platon, aber möglicherweise auch Ärzte-Alchemiker der arabischen Tradition) aus dem Blick geriet und 24 25 26 27 228

Vgl. insbesondere VON HOHENHEIM, 1922-1933, Bd. 14, S. 437-661. EBD., Bd. 13, S. 359-386 (Liber de Imaginibus). Als Textbeleg für das „forschen“ vgl. EBD., Bd. 14, S. 430. Vgl. BURKE, 2005, S. 70-91.

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

dann an anderer Stelle bewusst geschmäht werden konnte. Wenn sie sich überhaupt auf Vorbilder bezogen, so sollten diese Ärzte, Magier und Alchemiker noch vor Platon und Aristoteles bei den Ägyptern und Persern tätig gewesen und nicht schriftlich überliefert sein.28 Die paracelsischen Schriften waren in ihrer volkssprachlichen Terminologie tatsächlich reichlich eigenwillig. Als Beispiel dafür sei nur die Unterscheidung von „tötlichs“ und „untötlichs“, also von Sterblichem und NichtSterblichem genannt, die – neben den Unterscheidungen „sichtlichs“/„unsichtlichs“ sowie „empfindlichs“/„unempfindlichs“ – eine der kategorialen Grundunterscheidungen des als paracelsisch kanonisierten Schrifttums darstellt.29 Indem sie das ‚Tötliche‘ vom ‚Untötlichen‘ unterschieden, anstatt etwa das Endliche vom Ewigen, wiesen sie unablässig auf das Phänomen des Todes hin, von dem auf diese Weise auch Gott, Maria, Christus und alles Arkane oder Heilige irgendwie tangiert schien. Das ‚Tötliche‘ unterschied sich sprachlich nur graduell vom ‚Untötlichen‘, und dies bestätigte sich auf der inhaltlichen Ebene als gewollt, da durchgängig auf die Umkehrbarkeit aller Prozesse – so etwa auf die alchemisch zu initiierende Wiedergeburt verstorbener Kreaturen und auf die neue Geburt durch Jesus Christus – fokussiert wurde.

7. Paradoxe Zeitlichkei ten Während der Tod also durchgehend, aber nicht eigentlich definitiv präsent war, und die paracelsischen Schriften aufgrund ihres unausgearbeiteten und unedierten Charakters oftmals nicht nur als fragmentarisch, sondern als getrieben oder gehetzt erscheinen, kam in ihnen dennoch ein fast als enzyklopädisch zu bezeichnender Totalitätsanspruch zum Ausdruck: Sie blieben eben deswegen fragmentarisch, weil sich Paracelsus und die Paracelsisten um eine umfassende additive Behandlung aller Dinge, etwa aller Krankheiten, Medikamente und Rezepte, bemühten. Sie klagten zwar, dass es unmöglich sei, jedes Detail eines alchemischen Rezeptes anzuführen und dass die Kundigen sich schon zu behelfen wissen müssten, beließen es aber nicht bei einem Rezept pro Krankheit, sondern führten alles an, was ihnen jeweils bekannt war und füllten auf diese Weise Seiten und Bände mit – selbst für die Zeitgenossen – nicht reproduzierbaren Anweisungen. Mit dem Anfang und Ende aller Dinge hatten sie 28 Vgl. exemplarisch: VON HOHENHEIM, 1922-1933, Bd. 2, S. 132, Bd. 8, S. 288. 29 FRIETSCH, 2012 (im Erscheinen). 229

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durchweg die Dokumentation des Ganzen im Blick. So sprachen sie etwa auch von Christus und Gott gelegentlich in Termini der Buchhaltung: Beim Jüngsten Gericht sollte alles bezahlt und quittiert werden.30 Zugleich hieß es allerdings, dass jede Zeit ihre eigenen Krankheiten habe und ihre eigenen Medikamente brauche. Die Syphilis galt als Exempel für diese These. Sie wurde mit dem Bild des neuen Himmels, der jüngst neu angebrochenen Zeit, veranschaulicht. Dementsprechend hieß es, dass die Medizin überhaupt ohne Ende und in ihr nie auszulernen sei.31 In dieser Konzentration sowohl auf das Ende aller Zeiten wie auf den Beginn der eigenen als einer neuen Zeit, kann ein spezifischer Widerspruch oder ein Paradox vermutet werden. Stellten die paracelsischen Schriften damit nicht implizit ihr eigenes Ende in Aussicht? Wenn alle Krankheiten und Medikamente veralteten und jede Zeit ihre neuen schuf, galt dies dann nicht auch für sie? Würde die paracelsische Alchemie, die sich als neu verstand, einmal überholt werden? Diese Fragen wurden nicht explizit gestellt und konnten dies wohl auch nicht, weil Paracelsus und die Paracelsisten davon okkupiert waren, zu proklamieren, dass nun endlich ihre Wahrheit ans Licht kommen werde. Man sah sich zwar getrennt von früheren Zeiten und Krankheitszusammenhängen: Die alten Medikamente taugten nicht für die neuen Krankheiten. Man betrachtete auch die eigene Gegenwart als prekär und unverfügbar, denn die neuen Krankheiten endeten oftmals tödlich und das eigene Dispositiv fand gesellschaftlich nicht die ihm gebührende Anerkennung. Was lag da jedoch näher, als sich mit dem Kommenden zu verbünden und es als sowohl göttliche wie eigene Intervention zu reklamieren? Nachdem er sich in einem Rundumschlag gegen Aristoteles, Plinius, Galen, Rhazes, Avicenna, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, gegen die Ärzteschule von Salerno sowie die Universitäten von Paris, Montpellier, Wien, Köln und Wittenberg ausgesprochen und ihren Anhängern ein unrühmliches Ende als nicht weiter destillierbarer Schaum und Asche prophezeit hatte, erklärte der Autor der Programmschrift Paragranum dementsprechend zuversichtlich: „und ich und mein philosophei werden bleiben.“32 Die eigene Lehre sollte demnach in den Destillationsprozessen der Zeit nur immer weiter veredelt werden und erhalten bleiben. Gegen den Strich des explizit Formulierten zeigten sich in der paracelsischen Alchemie zwei gegensätzliche Dynamiken: Zum einen das Bemühen 30 VON HOHENHEIM, 1992-1933, Bd. 14, S. 296. 31 EBD., Bd. 9, S. 483. 32 EBD., Bd. 8, S. 139. 230

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

um Totalität und Vollendung, das in der Schöpfung sowie in dem Ende aller Dinge abgesichert wurde und mit einem Willen zum Archaischen und Fundamentalen einherging. Zum anderen der Aspekt der menschlichen Endlichkeit, der Vergeblichkeit und des Fragmentarischen von Schriften, die nie alles sagen konnten, was zum praktischen Gebrauch erforderlich war, und die damit eine weitere Entwicklung der Medizin sowie eine offene Zukunft und unbekannte Nachwelt in den Horizont des Möglichen rückten.

8. Schluss Liest man die paracelsischen Schriften mit dem Modell des epistemologischen Bruches, wie es beispielsweise, ausgehend von dem Wissensmodell der Renaissance, von Foucault vertreten wurde,33 so ergibt sich eine merkwürdige Zustimmung zum Zeitmodell des Paracelsus und der Paracelsisten. Im Grunde sind die heutigen Rezipient/innen wirklich durch eine Art Apokalypse von diesen Schriften getrennt. Wenn diese Texte auch schon zu Lebzeiten des Paracelsus schwierig zu lesen waren, so trat ihre weitgehende Unlesbarkeit doch erst mit der historischen Apokalypse des Dreißigjährigen Krieges ein, nach dem – in einer aktuellen Formulierung gesprochen – nichts mehr so war wie zuvor: Die Theologie diskreditierte sich durch die Konfessionsstreitigkeiten als Leitwissenschaft. Die neuen Akademien hielten sich daraufhin in religiösen Fragen zurück und schlossen Paracelsisten, Hermetiker und Helmontisten weitgehend aus; und auch viele Frühaufklärer achteten darauf, ihre Aussagen konfessionsneutral zu formulieren. Und dennoch grünen und blühen die paracelsischen Schriften, wie es verheißen worden ist. Denn auch diese Zäsur wurde à la longue erfolgreich unterwandert: Seit dem 19. Jahrhundert berufen sich alternative Heilkundler, seit dem 20. Jahrhundert außerdem die Pharmazie auf Paracelsus. Letztere versteht ihn als einen Vorreiter der pharmazeutischen Industrie. Darüber hinaus gibt es eine Tendenz moderner Historiker, sich ausgerechnet mit der okkulten Erscheinung des Paracelsus zu identifizieren. Sie hat jüngst zu einer eigenen Untersuchung geführt.34 Das jeweilige Recht dieser unterschiedlichen Genealogien relativiert sich gegenseitig und muss hier nicht ausführlich in Zweifel gezogen werden. Wenn diese Genealogien jedoch auch völlig ahistorisch und in33 FOUCAULT, 1995, S. 46-77. 34 GOLTZ, 1995, S. 15-40. 231

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sofern unbegründet sind, so vermittelt die Inanspruchnahme der Person oder Figur des Paracelsus, die seit dem 16. Jahrhundert auf so überraschend konstante Weise zu Identifikationen einlädt, dennoch, dass sowohl die naturkundliche wie die spirituelle Seite der paracelsischen Alchemie auf gewundenen Wegen im 21. Jahrhundert angekommen sind; über alle Apokalypsen35 hinweg.36

Abbildungsverzeichnis ANONYM, Heiland und Jungfrau schützen die Menschen vor Gottes PestPfeilen, Einblattdruck, oberdeutscher Holzschnitt, 5,4 x 7,4 cm, 1918, Tafel 3., um 1460/70, in: SCHREIBER, WILHELM LUDWIG, Pestblätter des 15. Jahrhunderts. Mit 44 Abbildungen, hg. von Paul Heitz, Straßburg 1918. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. ANONYM, Schutzmantelmadonna im Rosenkranz, Einblattdruck, elsässischer (?) Holzschnitt, 17 x 17 cm, s. I., um 1500, in: SCHREIBER, WILHELM LUDWIG, Pestblätter des 15. Jahrhunderts. Mit 44 Abbildungen, hg. von Paul Heitz, Straßburg 1918. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. ANONYM, Paracelsus, Holzschnitt aus dem Manuskript: Theophrastus Paracelsus, Vom Nachtmahl Christi, De Coena Domini, Görlitz 1567, fol. 1v und 23v, ca. 13 x 17 cm. Mit freundlicher Genehmigung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.

Liter atur ANDREAE, JOHANN VALENTIN, Gesammelte Schriften. In Zusammenarbeit mit Fachgelehrten, hg. von WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN, Bd. 3: Rosen35 Wie etwa die Paracelsus-Rezeption im Nationalsozialismus, vgl. BENZENHÖFER, 1994, S. 265-273. 36 Die paracelsische Spiritualität und Hermetik, die zunächst über Nachfolger wie Jakob Böhme in den Deutschen Idealismus und in die Romantik eingingen, wurden etwa in der DDR dem radikalen Flügel der Reformation zugerechnet und daher begrüßt, vgl. WOLLGAST, 2005a, S. 13-53; DERS., 2005b, S. 371-398. 232

Die Zerbrechung der Natur durch die Kunst

kreuzerschriften, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Roland Edighoffer, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010. BENZENHÖFER, UDO, Zum Paracelsusbild im Nationalsozialismus, in: Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, hg. von CHRISTOPH MEINEL/PETER VOSWINCKEL, Stuttgart 1994, S. 265-273. DERS., Paracelsus, Reinbek b. Hamburg 1997. BURKE, PETER, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien. Aus dem Englischen von Klaus Kochmann, München 2005. DEBUS, ALLEN G., Chemistry, Alchemy and the New Philosophy, 1550-1700. Studies in the History of Science and Medicine, London 1987. DERS., The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 2002. DOBBS, BETTY JO TEETER, From the Secrecy of Alchemy to the Openness of Chemistry, in: Solomon’s House revisited. The Organization and Institutionalization of Science, hg. von TORE FRÄNGSMYR, Canton 1990, S. 7594. DIES., Alchemical Death & Resurrection. The Significance of Alchemy in the Age of Newton, Washington 1990a. FRIED, JOHANNES, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001. FOUCAULT, MICHEL, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1995. FRIETSCH, UTE, Zwischen Transmutation und Transsubstantiation. Zum theologischen Subtext der Archidoxis-Schrift des Paracelsus, in: Nova Acta Paracelsica, hg. von der Schweizerischen Paracelsus-Gesellschaft, Neue Folge 19 (2005), S. 29-51. DIES., Häresie und ‚pseudo-scientia‘. Zur Problematisierung von Alchemie, Chymiatrie und Physik in der Frühen Neuzeit, in: Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, hg. von DIRK RUPNOW u. a., Frankfurt a. M. 2008, S. 51-76. DIES., Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie, Paderborn 2012 (im Erscheinen). GOLTZ, DIETLINDE, Paracelsus als Leitbild – Die Historiker und ihr Objekt, in: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung, hg. von PETER DILG/HARTMUT RUDOLPH, Stuttgart 1995, S. 15-40.

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1. Apokal yptisches Denken und Gl aubenspoli tik Im frühmodernen Europa ist dem Wissen vom nah bevorstehenden Ende der Welt vor allem in Konfliktsituationen eine besondere Bedeutung zugekommen. Bekanntlich gilt dies insbesondere für jene Auseinandersetzungen, die sich aus der Pluralisierung von Kirchen und Glaubensbeständen ergaben. Der Hinweis auf die Apokalypse war eine scharfe Waffe,1 mit der es gelang, den Gegner im Glaubenskampf zu verteufeln, indem man ihn mit jenen Mächten des Bösen identifizierte, die in der biblischen Offenbarung des Johannes auftauchen. An erster Stelle stand dabei der Antichrist, jene Figur, die in all ihrer Schlechtigkeit unmittelbar auf das endgültige Strafgericht Gottes vorbereitete, das die verlorenen Seelen von jenen unterscheiden sollte, die der göttlichen Gnade würdig waren.2 Wie noch in jüngeren Forschungen dargelegt, wurden insbesondere im Luthertum apokalyptische Denk- und Argumentationsmuster ausgiebig genutzt,

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2

LEPPIN, 1999; Zur katholischen Apokalyptik siehe SMOLINSKY, 2000 und kürzlich: FUCHS, 2010a, S. 219-234. Zu den sozialutopischen Bewegungen siehe die Arbeiten von COHN, 1998, und von BERNET, 2007. Zu den Endzeiten und dem Antichrist siehe die beiden kürzlich erschienenen Sammelwerke: BRANDES/SCHMIEDER, 2008; und DIES., 2010. 237

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um der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen.3 Diese Strategie erschien von daher besonders erfolgversprechend, als der Glaube daran, dass die Tage alles Irdischen und Menschlichen gezählt sind, derart umfassend verbreitet war, dass man mit Blick auf das Zeitalter der Reformationen4 gleichzeitig von einem „apokalyptischen Zeitalter“ sprechen kann.5 Allerdings hat Thomas Kaufmann dabei eines deutlich gemacht: Die Berechtigung eines solchen Terminus darf uns nicht dazu verleiten, davon auszugehen, dass die Apokalypse ein allgegenwärtiges Phänomen in den Köpfen der Menschen war. Es fällt uns, was uns nicht verwundern kann, etwa leicht, Kaufleute zu entdecken, die sehr pragmatisch Zukunftsvorsorge trafen und dabei einen längerfristigen, Generationen übergreifenden Horizont im Auge gehabt haben müssen.6 Letzteres galt auch für Herrscher wie etwa die Fürsten im Reich, die die Zukunft der Dynastie und die Entwicklung des Staatswesens im Auge hatten und dabei z. B. Rechtssicherheit über Zeugenbefragungen ad rei futuram memoriam zu schaffen bestrebt waren.7 Ob die „Erfindung der Zukunft“ ins 18. Jahrhundert oder in noch spätere Zeiten zu verlegen ist,8 erscheint angesichts dieser Tatsache eher überspitzt. Ich möchte im Folgenden jene hier angeführten beiden kontrastierenden, vielleicht sogar paradoxen Gewissheiten, dass das Ende der Welt nah ist und dass es eine Zukunft geben muss, um gesellschaftliches Leben überhaupt zu ermöglichen, genauer betrachten und sie als parallele Wissensbestände im Protestantismus aufeinander beziehen. Die Gelegenheit dazu ergibt sich mit Blick auf eine besondere historische Situation während des Dreißigjährigen Krieges, in der politische Zukunftsvorsorge, konkret: eine Vorsorge für das Überleben des Protestantismus im Reich in besonderem Maße geboten erschien.

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KAUFMANN, 2007. Siehe darüber hinaus: LEHMANN, 1992. Einen Vergleich der apokalyptischen Vorstellungen innerhalb der verschiedenen Konfessionen bietet POHLIG, 2002. Ich glaube, dass dieser Begriff der religiösen Pluralisierung in Europa besser gerecht wird als der Begriff des Zeitalters der Reformation und beziehe mich auf die These von Diarmaid MacCulloch: „[…] in fact there were many different Reformations, nearly all of which would have said that they were simply aimed at creating authentic Catholic Christianity.“ MACCULLOCH, 2003, S. XIX. KAUFMANN, 2007, S. 411-416. Zum Gedanken der „Kontinuitätssicherung“ im Rahmen der kaufmännischen Erziehung siehe jetzt KUHN, 2010, hier insbes. S. 109-124. Hierzu FUCHS/SCHULZE, 2002, S. 22. HÖLSCHER, 1999.

Gegen die Apokalypse?

Diese Frage stellte sich unmittelbar nach der Verhängung des kaiserlichen Restitutionsedikts von 1629, das die rechtliche Grundlage für eine Rekatholisierung großer Teile des Reiches dargestellt hatte.9 Mit den Restitutionen, der gewaltsamen Rückführung protestantischer Einrichtungen und Gemeinden zur katholischen Kirche, war bereits geraume Zeit zuvor begonnen worden. Dies war einer der Anlässe für den schwedischen König Gustav II. Adolf, sich durch eine militärische Intervention im Reich als Retter der protestantischen Reichsstände zu inszenieren. Den schwedischen Einfall ins Reich zunächst eher skeptisch betrachtend, diskutierten die protestantischen Reichsstände angesichts der für sie nach wie vor verheerenden militärischen Lage im Spätsommer 1631, ob es nicht sinnvoll sei, den Katholiken gravierende Zugeständnisse zu machen und eine längerfristige gemeinsame friedliche Zukunft in Religionspluralität anzuvisieren. Zu diesem Zweck wurde ein Treffen mit den katholischen Reichsständen abgehalten: der Frankfurter Kompositionstag.10 Um Einfluss auf die Entscheidungen auf dem Frankfurter Kompositionstag zu nehmen, verfasste ein anonymer Schreiber einen theologischen Traktat mit dem Titel Consilium Politico-Apocalypticum.11 Diese Schrift nimmt sich als Versuch aus, die in Frankfurt verhandelnden protestantischen Stände an den bevorstehenden Weltuntergang zu gemahnen und evangelische Glaubensreinheit sowie Militanz einzufordern. Inwieweit im Vergleich von Texten, die sich aus den konkreten politischen Verhandlungen ergaben, und jenem Consilium Politico-Apocalypticum unterschiedliche Zukunftsverständnisse hervortreten, möchte ich im Folgenden fragen. Abschließend möchte ich in einem Ausblick auf weitere, sich an den Frankfurter Kompositionstag anschließende Friedensverhandlungen, die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden eingeschlossen, einige Überlegungen darüber anstellen, ob nicht jener lange, am Ende Dreißigjährige Krieg für eine Veränderung von Zukunftserwartungen, konkret: hinsichtlich der Herausbildung von Vorstellungen von einer offenen Zukunft, ein Erklärungsmoment darstellen könnte.

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Exemplarisch hierzu GÜNTER, 1901. Siehe allgemein zum Edikt STRÖLER-BÜHLER, 1991; FRISCH, 1993 und HECKEL, 1997. 10 Zu dem in der Forschung wenig beachteten Kompositionstag siehe meine Arbeiten: FUCHS, 2007, und DIES., 2010b. 11 CONSILIUM POLITICO-APOCALYPTICUM, 1631. 239

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2. Nach 1620: Die Bedrohung der Zukunft der Protes tanten im Reich Bevor wir uns dem Consilium Politico-Apocalypticum zuwenden, ist es erforderlich, die Situation der Protestanten im Reich um 1631 kurz etwas genauer zu skizzieren und einige politische Akteure zu benennen, die im Traktat Erwähnung finden. Die Situation im Jahr 1631 ist wiederum mit Blick auf die vorangegangenen Jahrzehnte deutlich zu machen. Im groben Überblick lässt sich das 16. Jahrhundert im Alten Reich als ein Jahrhundert des Protestantismus insofern beschreiben, als sich der lutherische Glaube und später langfristig auch der calvinistische Glaube erfolgreich im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einpflanzten. Protestantische Reichsstände, die ein beachtliches Gewicht auf den Reichstagen erhielten, setzten in der Folge gegenüber dem Kaiser in besonderer Weise auf ihre „Libertät des Glaubens“,12 indem sie die Freiheit des Gewissens einforderten. Gehen wir zunächst von der Einheit der katholischen Kirche vor der lutherischen und der zwinglianischen Reformation aus, so geriet das Reich, auf der Ebene der Logik eines Nullsummenspiels betrachtet, zunehmend in protestantische Hände, während die Katholiken immer mehr das Nachsehen hatten. Diese setzten in der Folge politisch darauf, eine rechtliche Festschreibung des katholischen Besitzes, der so genannten Kirchengüter zu erreichen.13 Der zuletzt im Zuge des Augsburger Religionsfriedens unternommene Versuch scheiterte jedoch, da die Protestanten die entsprechenden Artikel, den Geistlichen Vorbehalt und ein Stichjahr 1552 zur Festfrierung des katholischen Besitzes an reichsmittelbaren Kirchengütern, nicht akzeptierten.14 Die Protestanten setzten auf die so genannte Freistellung (autonomia).15 Mit diesem Begriff umschrieben sie sowohl das Prinzip der Gewissensfreiheit als auch ihr Recht, auf friedliche Weise an weiteren Besitz im Reich zu gelan12 EBD., S. 18. 13 Zu den rechtlichen Implikationen der Kirchengüterfrage und zur „Spaltung des Rechts“ im Reich siehe vor allem HECKEL, 1989. Zum Versuch, Fixdaten zur Festschreibung des katholischen Besitzes zu erreichten, siehe FRISCH, 2001, insbes. S. 443. 14 Zum Augsburger Religionsfrieden, den Hintergründen seiner Entstehung und seinen Nachwirkungen siehe vor allem GOTTHARD, 2004. 15 Zum Begriff der „Freistellung“ bei den Lutheranern siehe Paulus, 1977. Das calvinistische Projekt der „Freistellung“ in den 1580er Jahren wird konturiert bei DUCHHARDT, 1977, hier S. 105. 240

Gegen die Apokalypse?

gen. Trotz einiger Rückschläge, etwa im Kölnischen Krieg, sollte der Protestantismus weiteres Terrain im Reich erringen. Dies gilt auch noch für die ersten Jahrzehnte im 17. Jahrhundert, wobei sich etwa an den Böhmischen Majestätsbrief im Jahre 160916 und weitere Zugeständnisse der Glaubensfreiheit im habsburgischen Herrschaftsraum erinnern lässt,17 nicht zuletzt auch an die Verdrängung der Habsburger vom böhmischen Thron durch den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz im Jahre 1619.18 Kurz: Der Weg zur Kirche und zum Reich Gottes im protestantischen Sinne schien geebnet. Im einschlägigen Erwartungshorizont schien sich eine Zukunft im evangelischen Glauben abzuzeichnen. Diese Situation änderte sich rapide nach 1620, der Schlacht am Weißen Berg bei Prag, und dem sich anschließenden dänisch-niedersächsischen Krieg. Den Protestanten entglitt ein großer Teil ihres Besitzes im Zuge der militärischen Eroberungen der Truppen von Kaiser und Liga. Die militärische Situation war bereits 1627 so günstig für die Katholiken, dass die katholischen Kurfürsten Kaiser Ferdinand II. veranlassten, das berüchtigte Restitutionsedikt zu erlassen.19 Dies geschah am 6. März 1629. In unmittelbarer Folge wurden nun mit militärischer Hilfe weite Teile des Reiches rekatholisiert.20 Man verwies dabei auf die katholische Lesart des Augsburger Religionsfriedens, den Geistlichen Vorbehalt und das Stichjahr 1552 eingeschlossen. Die Restitutionen griffen jedoch stellenweise darüber hinaus.21 Zudem wurde der Protestantismus im Reich durch das Verbot des Calvinismus politisch erheblich geschwächt. Die protestantischen Reichsstände mussten nun um ihre Zukunft bangen. Die Frage, wie sich all dies mit Gottes geschichtlichem Heilsplan vertrug, rief neue theologische Überlegungen hervor.22 In diesem Rahmen wurde schließlich auch die Bedeutung der Invasion des schwedischen Königs Gustav Adolfs als militärischer Arm des Protestantismus am 6. Juli 1630 festgemacht. Als Löwe aus Mitternacht wurde er bekanntlich zu einer Figur biblischer Pro16 Hierzu GINDELY, 1858, und LUTZ, 1979, S. 99. 17 Zum Majestätsbrief für die österreichischen Stände siehe etwa STADTMÜLLER, 1966, S. 37. 18 Zu den Auswirkungen dieser Entscheidung: BAHLCKE, 2002, hier insbes. S. 16-20. Zur umstrittenen Frage der Reichszugehörigkeit Böhmens siehe BEGERT, 2003. 19 FRISCH, 2001, insbes. S. 81. 20 Zur militärischen Einnahme von protestantischen Einrichtungen siehe z. B. TUPETZ, 1883, S. 415. Zur Veränderung der konfessionellen Landschaft vor allem Süddeutschlands in dieser Zeit siehe LUTZ, 1979, S. 106. 21 Siehe hierzu meine Beobachtungen zur Reichsabtei Herford: FUCHS, 2010b, S. 74. 22 Hierzu KAUFMANN, 1998. 241

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phezeiung erklärt.23 Auch der Autor unseres Consilium Politico-Apocalypticum erklärte angesichts seiner zunächst eher bescheidenen militärischen Erfolge, dass Gott ein „accidens“ über ihn „verhängt“ habe, um spätestens binnen Jahresfrist seinen Gegner Tilly zu Fall zu bringen.24 Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass, jenseits des kriegerischen Antagonismus von Teilen der katholischen und der protestantischen Religionspartei, noch eine dritte Kraft im Reich existierte, die auf eine Verständigung von Kaiser und katholischen wie protestantischen Reichsständen setzte. Der lutherische Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen verstand sich, trotz seiner hervorragenden Position unter den protestantischen Reichsständen, als kaisertreuer Fürst,25 darüber hinaus als Brückenbauer zwischen protestantischen und katholischen Reichsständen und versuchte, an die Tradition seines Vorgängers Moritz von Sachsen und jener protestantischer Vorfahren,26 die den Religionsfrieden ausgehandelt hatten, anzuknüpfen. Dieser Fürst ist zu Unrecht in der Geschichtswissenschaft als Anhänger überkommener mittelalterlicher Reichsideale verstanden worden.27 Johann Georg verstand es nämlich sehr gut, mit dem Faktum religiöser Pluralität im Reich umzugehen und sich als Zünglein an der Waage einzubringen. Er mochte allerdings die Calvinisten, insbesondere Friedrich V. von der Pfalz, überhaupt nicht und schloss 1620 für ansehnliche Gegenleistungen das Bündnis mit Kaiser und Liga, um die böhmische Rebellion niederzuschlagen.28 Spätestens 1629 sah sich dieser Fürst jedoch selbst durch das Restitutionsedikt bedroht und erwog von diesem Zeitpunkt an zunehmend die Möglichkeit eines militärischen Bündnisses der Protestanten gegen Kaiser und Liga, allerdings zunächst unter der Bedingung, den schwedischen König und insbesondere den Kurfürsten Friedrich von der Pfalz nicht mit einzubeziehen.29 23 24 25 26

Zur Flugschriftenpropaganda dieser Zeit siehe die Arbeit von TSCHOPP, 1991. CONSILIUM POLITICO-APOCALYPTICUM, 1631, S. 13. Siehe die biographische Skizze von GOTTHARD, 2004. Siehe meine einschlägigen Überlegungen zu den Vorfahren, auf die dieser Fürst sich des Öfteren berief: FUCHS, 2010b, S. 43. 27 So hat ihn Wandruszka gezeichnet als Figur, die im Grunde noch einer „mittelalterlichen Staatsauffassung“ verpflichtet gewesen sei. Vgl. WANDRUSZKA, 1955, S. 44. 28 Hierzu vor allem MÜLLER, 1997. 29 Siehe die Instruktion Johann Georgs an seine Gesandten auf dem Frankfurter Kompositionstag, mit den Calvinisten keinen Kontakt aufzunehmen. SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/1 (Frankfurter Kompositionstag: Ausschreiben etc.), fol. 84. 242

Gegen die Apokalypse?

Im Frühjahr 1631 wurde zum Zweck genauerer Beratungen über eine gemeinsame Defensionsstrategie der protestantischen Stände der so genannte Leipziger Konvent einberufen.30 Dort beschlossen die Protestanten trotz ihrer Verteidigunsvorbereitungen, einen letzten Versuch der friedlichen Einigung mit den Katholiken und Kaiser Ferdinand II. zu unternehmen. Hierfür wurde der bereits erwähnte Frankfurter Kompositionstag angesetzt. Der Verfasser des Consilium Politico-Apocalypticum formulierte direkt im Anschluss des Leipziger Konvents seine Thesen in der Absicht, die am Frankfurter Treffen teilnehmenden Protestanten von einer compositio abzuhalten. Die Tatsache, dass sich der Traktat heute, eingeheftet in die Frankfurter Verhandlungsakten, im Hauptstaatsarchiv Dresden befindet,31 legt nahe, dass sich die Deputierten und die heimischen Räte Johann Georgs, vielleicht auch der Kurfürst selbst, mit diesem Text befasst, zumindest Kenntnis von seiner Existenz hatten.

3. Die Erinnerung an die Apokal ypse als Kampfaufruf Der Verfasser des Consilium Politico-Apocalypticum, der Emden, einen Hauptort theologischen und politischen Wirkens protestantischer Autoren für das Reich und Europa als seinen Schreibort angibt,32 ist nicht eindeutig einer der protestantischen Konfessionen zuzuordnen. Sowohl Luther als auch Calvin scheinen als Autoritäten auf. Der Anonymus zielt geradewegs auf ein festes theologisch-politisches Bündnis der Protestanten mit dem Eingeständnis, dass die wahre Lehre noch zu vervollkommnen sei.33 Dieser Hinweis auf eine noch ausstehende Entwicklung im Heilsplan zeigt zugleich, dass er das Ende der Tage für noch nicht gekommen ansieht.

30 Siehe hierzu SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8096/2 und Friedensschlüsse 8096/3. 31 SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/1, der Druck folgt auf fol. 216. 32 CONSILIUM POLITICO-APOCALYPTICUM, 1631, S. 24: „Embden im Plauen Creutz / den letzten Junij, ANNO 1631.“ 33 „Die Doctrina Daemoniorum muß offenbar/LUTHERUS cum CALVINO & vice versa vergliechen […] und es ein bessere Augspurgische Confession und Formulam Concordiae […] abgeben.“ EBD., S. 12-13. 243

Ralf-Peter Fuchs

Sein Bemühen, apokalyptische Wissensbestände für die aktuelle Situation fruchtbar zu machen, läuft vielmehr de facto auf die Kreation einer historischen Phase hinaus, die ich in einem anderen Zusammenhang bereits einmal als „Vor-Endzeit“ bezeichnet habe.34 Konkret bedeutet dies, dass sich, unter Verweis auf die zunehmende Schlechtigkeit der Welt, hier: den furchtbaren Ansturm der Glaubensfeinde und das „teuflische Brennen“35 des Krieges, zwar die Apokalypse bereits zeigt. Der Anonymus sieht bereits die vorausgesagte Auseinandersetzung mit dem Drachen, der Bestie und dem Pseudopropheten für gekommen.36 Allerdings seien die Verfechter der wahren Lehre, er selbst eingeschlossen, noch nicht mit jenen „Sancti“ gleichzusetzen, die laut Bibel den Endzeitkampf bestreiten.37 Er wagt jedoch eine genauere Verortung der Jetztzeit als Zeit der sechsten Kirche, in welcher Gott den Schlüssel Davids zur Öffnung jener Tür gebraucht, hinter der sich das offene Buch befindet. Diese Öffnung stehe den Menschen noch bevor.38 In einem weiteren Abschnitt spricht er von den zehn Königen, die laut Prophezeihung der Bestie noch ihr Reich einräumen müssen, bis die Endzeit erreicht sei.39 Mit diesem Kunstgriff, der Beschreibung der Gegenwart als einer VorEndzeit, erreicht der Autor eine Flexibilisierung seiner Aussagen zum bevorstehenden Ende der Welt. Einerseits wird das Näherrücken dieses Ereignisses verdeutlicht und rhetorisch nutzbar gemacht. Andererseits wird darauf verzichtet, über eine simple Gleichsetzung der Gegenwart mit der Endzeit als anmaßender Prophet zu erscheinen, der den Politikern gefährliche Ratschläge erteilt. Ausdrücklich äußert der Anonymus die Vermutung, dass seine Schrift vielen als „gar zu scharpff / angreiffent / und gefährlich“40 gelte und hält dem entgegen, dass er keineswegs vorgebe, dass die Apokalypse „schon ante haec tempora in hoc passu erfüllet“ sei.41 Nicht zuletzt erreicht er mit dem Hinweis auf noch ausstehende Offenbarungen, dass seine Einordnungen des gegenwärtigen Geschehens nicht allzu schnell durch unvorhersehbare Ereignisse ad absurdum geführt werden können.

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FUCHS, 2010a, S. 233. CONSILIUM POLITICO-APOCALYPTICUM, 1631, S. 15. EBD., S. 4. EBD., S. 12. EBD. EBD., S. 10. EBD., S. 19. EBD.

Gegen die Apokalypse?

Der Autor nutzt allerdings nun seine auf die beschriebene Weise erzielte Vergegenwärtigung des Endkampfes, um Militanz der Rechtgläubigen einzufordern. „Agnus“ und „Draco“ stünden sich feindlich gegenüber. „Die Hure sitzet auf der Bestia, diese trägt sie / und thut ihren Willen / dann sie seyndt mit einander eynerley Meynung und Sinnes“.42 Von den Bildern der Apokalypse wechselt der Anonymus unmittelbar zur politischen Lage. Der Kompositionstag könne keine Früchte tragen. In einer Situation wie dieser könne es keine „amicabilis compositio“43 geben. Alles Flehen und Bitten sei vergeblich. Der dem Römischen Stuhl hoch verbundene Kaiser (Imperator) denke nicht daran, von seinem auf einen „Ligischen Schluß“ zurückgehenden Restitutionsedikt gütlich zu weichen. Die „erhaltene[n] Victorien“ der Feinde würden sie nur in ihrem Tun bestärken. Auf ihrer Seite gäbe es keine „conscientia“, da man von ihr längst abgeschworen habe. Im Zirkelschluss wird auf das Wissen der Bibel zurückverwiesen. Der Blasphemie sei die Wahrheit verschlossen, dem „Mysterium iniquitatis“ die Gerechtigkeit. „Bestiae & Meretricis essentialia Apocalyptica seynd Blasphemia & Mysterium“.44 Das Ringen mit den bösen Mächten und Gestalten der Apokalypse wird zur Pflicht aller Rechtgläubigen erklärt. Keineswegs solle man die zurückliegenden Erfolge der Bestie schon als Erfüllung des Heilsplans ansehen und die weitere Entwicklung der Dinge sich selbst überlassen. Der „Spiritus Apocalypticae Veritatis“ als ein Zeugnis Jesu Christi sehe nicht nur auf das „futurum“, sondern auch auf das „praesens und praeteritum“. Der Allmächtige erscheine eben auch in der Offenbarung (Apoc. 1.8.) als derjenige, „Qui est, Qui erat, Qui venturus est“. Im Widerstand sei demzufolge keineswegs nachzulassen.45 An anderer Stelle will der Autor den von den Katholiken gegen die Protestanten gerichteten Aufruf des „Compelle Intrare“, der Ausdehnung der eigenen Kirche über die Zwangsbekehrung der Andersgläubigen, gegen die Katholiken selbst gerichtet sehen.46 Wie erwähnt, weist er dem schwedischen König eine tragende Rolle dabei zu. Auch wenn das Schwert allein die Bestie nicht besiegen und kein Teil in der jetzigen Situation in der Lage sei, den anderen zu „fressen“, werde der evangelische Glaube in kurzer Zeit Einlass in die

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EBD., S. 5. EBD. EBD., S. 6. EBD., S. 11. EBD., S. 6. 245

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jetzt noch „Römischen Kirchen“ finden. Dass die Widersacher endgültig einmal, „ad suum tempus“, überwunden werden würden, sei sicher.47 Der Einblick in das Spiel des Autors von Restzeitdehnung und –verdichtung soll hier abgeschlossen werden. Es sei lediglich noch angefügt, dass Kursachsen als historischer Akteur ebenfalls Erwähnung findet. Der Anonymus vermeidet eine Verurteilung der prokaiserlichen Politik des Kurfürsten von Sachsen nach dem Aufstand in Böhmen und konzediert sogar, dass die „Herren Böhmen“ 1618/19 in Übereifer und Übereilung gehandelt und die „Chur Saxen“ damit „von sich separat gemacht“48 hätten. Das Schicksal Böhmens wird, mit dem Verweis auf den Kometen des Jahres 1618, als Züchtigung Gottes gedeutet, das Fallen des Hauptes, „Fridericus Palatinus“ (des Pfalzgrafen Friedrich V.), aber als ein Fallen, das dessen Wiederkehr zur Folge haben wird.49 Demzufolge, so die wichtigste Botschaft, sei eben „actio“ geboten, nicht aber eine „compositio“, die letztlich nur auf mehr Blutvergießen hinauslaufe50 und – was der entscheidende Punkt ist – die Rechtgläubigen vom Pfad der Wahrheit hinwegführe.

4. Protestantische Realpolitik auf dem Frankfurter Kompositi onstag: Frieden als Zukunftsvisi on Die Hoffnung auf eine Aktualisierung des apokalyptischen Gedankens, die der erstaunlich gut über kursächsisch-kaiserliche Korrespondenzen informierte Anonymus51 mit seiner Schrift für den Frankfurter Kompositionstag verband, erfüllte sich nicht. Mir ist in den Protokollen der Beratungen, die die protestantischen Stände dort führten, um eine gemeinsame Marschroute festzulegen, kein Verweis auf die Apokalypse aufgefallen, wenn wir einmal davon absehen, dass die Gesandten von Sachsen-Altenburg, Sachsen-Weimar, SachsenCoburg und Sachsen-Eisenach den Gedanken artikulierten, dass man nach ei-

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EBD., S. 14. EBD., S. 22. EBD., S. 22-23. EBD., S. 14. Siehe EBD., S. 9. An dieser Stelle beruft sich der Anonymus auf Bemerkungen in einem „in itziger Zeit in Chur Sächsischen an Kay. May. abgangenen Schreiben“.

Gegen die Apokalypse?

nem Verzicht auf die Freistellung diejenigen Menschen, die dem Joch des Antichristen noch unterworfen seien, Gottes Willen überlassen müsse: „Befeldt es den getreuen Gott, daß dieienige, so denn Anti Christlichen joch im Reiche noch unterworffen zum erkentnus unßers Christlichen Glaubens bekehret werden sollen, so mangelt es seiner gottlichen allmacht an mitteln nicht und 52 könte ers auch ohne mentschen hülffe und zuethun wohl zu wergke richten.“

Hier ist der göttliche Heilsplan quasi als ratio dubitandi angesprochen. Gerade diese Gesandten verwiesen jedoch auch auf die besondere Gefahr, in der sich der evangelische Glaube befand und spielten damit deutlich darauf an, dass die Existenz des Protestantismus als solche im Reich gefährdet war. Dies war für sie der entscheidende Aspekt. Um ihrer Gewissensnot zu begegnen, sollten die Verhandelnden erklären, dass sie nicht beabsichtigten, die Verbreitung des Heiligen Evangeliums zu hindern und dass sie sich mit einer etwaigen Verantwortung in dieser Richtung nicht beladen wollten.53 Hintergrund dieser Diskussion war die kursächsische Bereitschaft, das Prinzip der Freistellung aufzugeben und sich mit den Katholiken auf eine Festschreibung des Terrains der Konfessionen im Reich einzulassen. Herzog Johann Georg hatte ein Normaljahr 1620 im Auge. Mit diesem Jahr verband die Mehrzahl der Protestanten den eigentlichen Beginn des großen Krieges. Anvisiert wurde eine Regelung nach dem römischrechtlichen Prinzip Uti possidetis, ita possideatis, konkret: Das was beide Religionsparteien an Terrain im Jahr 1620 besessen hatten, sollten sie künftig weiterhin besitzen. Die Konfessionsfrage sollte gleichsam über eine Festschreibung von Konfessionslandschaften im Reich gelöst werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch der Schreiber des Consilium Politico-Apocalypticum nannte an einer Stelle das Uti-possidetis-Prinzip als „publicum causa“. Dieser verband damit jedoch lediglich das Recht der protestantischen Stände, die von ihnen bereits säkularisierten Kirchengüter auch künftig besitzen zu dürfen.54 Johann Georg von Sachsen sah demgegenüber die Protestanten in der Pflicht, den Katholiken im Gegenzug für die Zusicherung des protestantischen Besitzes im Reich auch ihr Terrain zu garantieren, und zwar, wie er ausdrücklich bemerkte, „ruhig undt

52 SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/2, fol. 499. 53 EBD. 54 CONSILIUM POLITICO-APOCALYPTICUM, 1631, S. 17. 247

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friedlich in ewigkeit.“55 Dies lief aber auf eine Zukunftserwartung hinaus, die religiöse Pluralität über einen unbegrenzten Zeitraum als Vision akzeptierte. Welche Bedenken eine solche Vision auslöste, können wir bereits dem theologischen Gutachten entnehmen, das Johann Georg und seine Gesandten während des Leipziger Konvents erhalten hatten. Als Antwort auf einen zuvor von hessen-darmstädtischer Seite gemachten Vorschlag, über 1555 als Normaljahr zu verhandeln, wurde bemerkt, dass dies „zu uberaus großen abbruch gereichen würde dem Reich der Gnaden undt dem Reich der Ehren.“ Das Zukunftsszenarium im Hinblick auf das irdische Dasein der Menschen und das Leben nach dem Tode wurde hier ausführlich beschrieben: „dann beedes die anzahl der rechtgleubigen hie auff erden undt der außerwehlten dort im Himmel [würden] auff viel millionen weniger und geringer sein, anstatt deß reinen seeligmachenden göttlichen worts würden in vil 100 ia vil 1000 kirchen die Bäpstischen greuel und menschensatzungen wiederum in den schwang kommen [...]“.56 Ein weiteres Zahlenspiel sollte die Konsequenzen eines solchen historischen Rückschritts verdeutlichen: Der Herr wolle nicht, „daß nur ein einziges kindt solte geärgert werden [hier: im Gewissen beschwert werden], hingegen ist nit zusagen, wie vil 100.000 kinder itzt und bey der posteritet durch die abtretung der Stiffter und Clöster auffs höchste würden geärgert undt in die allergrößste seelengefahr gestürtzet werden“.57 In der hier postulierten Möglichkeit, einen solchen Rückschritt über eine falsche Politik einzuleiten, scheint sich im Vergleich zum Consilium PoliticoApocalypticum eine gewisse Bandbreite der Diskussion unter den evangelischen Theologen anzudeuten. Geschichte und Zukunft erscheinen, bei aller Beteuerung der Glaubenstreue im Gutachten, nicht als ein sich in der Realität offenbarendes Buch, sondern als beeinflussbare Phänomene. Dies ist aber umso mehr bei den beratenden Gesandten und ihren Fürsten zu erkennen, die sich aufgefordert sahen, Zukunftsvorsorge für ihre Territorien und ausdrücklich auch für den evangelischen Glauben zu leisten. Die Gesandteninstruktion Johann Georgs von Sachsen nennt „der betrübten kirchen trost und erquickung, vieler tausendt und aber tausendt natorum et nascentium ewiges heil und seligkeit, sowol land und leute wolfarth wie auch fried und ruhe“58 als dringlichste Ziele. Der Gedanke an die Verantwortung gegenüber den Menschen der Zu-

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SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/2, fol. 80f. EBD., Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8095/2, fol. 270. EBD. EBD., fol. 74f.

Gegen die Apokalypse?

kunft, der „werthen posterität“59 und das Bewusstsein, im Falle des Scheiterns dieser Politik von der Nachwelt kritisiert und mit „ewigem verweiß und auffruck“60 bedacht zu werden, sollte die kursächsische Politik prägen, wobei unter einer notwendigen Friedenspolitik das Ziel der langfristigen Herstellung eines mehrkonfessionellen Reiches verstanden werden sollte. Die Sicherung des evangelischen Glaubens sollte eben hierüber erreicht werden, die Verbreitung dieses Glaubens sei dagegen Gott anheimzustellen.61 Mögen sich die Visionen Johann Georgs und des Anonymus nicht unbedingt dezidiert widersprechen, so zeigen sich doch sehr unterschiedliche Zukunftshorizonte in den Verhandlungstexten, zum einen der Horizont einer Nachwelt mit zahlreichen Menschen, um deren unsicheres Schicksal es in den Gesprächen ging, zum anderen der Horizont einer sicheren Durchsetzung des eigenen Glaubens als unveränderbarem Gottesplan. Nicht nur die Stimme Kursachsens, sondern auch die Stimmen der anderen in Frankfurt versammelten protestantischen Stände lassen erkennen, dass das Prinzip der politischen Vorsorge weitaus mehr wog als heilsgeschichtliche Argumente. Man kann feststellen, dass das Konditionale im Denken jener Akteure, die unmittelbar die Politik bestimmen, eine weitaus stärkere Rolle bei den Reflexionen spielt als beim Anonymus. Der Erwartungshorizont im Koselleckschen Sinne62 war bei ihnen über die Vorstellung einer imaginären Öffentlichkeit geprägt, in der die Normen und Werte des Jetzt und, mit Blick auf die Vorfahren der Zeit des Augsburger Religionsfriedens, der Vergangenheit, weiterhin bestimmend waren. Es scheint, als ob Realpolitiker wie Johann Georg und seine Gesandten sich gedanklich selbst in die Zukunft versetzten, um ihr Tun der Gegenwart einer Bewertung hinsichtlich guten Willens und Erfolg zu unterziehen. Man wollte sich von der Nachwelt nicht vorwerfen lassen, die richtigen Aktionen unterlassen zu haben, um Land und Leute zu retten, darüber hinaus aber auch dem evangelischen Glauben im Reich nach dem Restitutionsedikt wieder zu mehr Geltung zu verhelfen.

59 EBD, fol. 73. 60 EBD. 61 „[…] und möchten wir zwarvon grund unseres herzens wünschen, daß der Christlichen kirchen zum besten und dero erweiterung noch ein viel mehrers erhalten werden möchte, es soltte und auch gewißlich keine mühe, sorge, arbeit noch kosten tewren und nichts höhers noch liebers begegnen mögen, allein wann es nicht zuerhebenn, so wirdt es Gott zu befehlen sein“. EBD., fol. 815f. 62 KOSELLECK, 1989, die genauere Definition dieses Begriffs auf S. 356-359. 249

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Eine realistische Religionspolitik sollte gleichzeitig zum Nutzen der Nachwelt wirken, denn es „würden auch besorgentlich die posteri kunfftiger zeit diese vorgeloffene procedum examiniren, zu hertzenn nehmen und qua vis arrepta occasione auff ander mittell sich entschliessen“, so die Gesandten der Reichsstadt Straßburg.63 Genau genommen wurde mit der Posterität dem prüfenden Auge Gottes eine weitere Bewertungsinstanz hinzugefügt, die es ermöglichte, die Spielräume im Hinblick auf das Jetzt zu erweitern. Der Gedanke an den religiösen Erfüllungsauftrag Gottes blieb nämlich neben der Posterität durchaus ein wichtiger Gesichtspunkt, der nicht einfach ausgeblendet werden konnte. Letztlich aber, und dies war eben das Ergebnis der protestantischen Beratungen in Frankfurt, wurde das Friedensmedium das auf eine gemeinsame Zukunft mit den Katholiken hinauslief, von den Protestanten abgesegnet. Diese Entscheidung wurde durch den Gedanken erleichtert, dass Gott in einer langfristigen Zukunft das Richtige tun würde, um die Tore der eigenen Kirche weit aufzustoßen und weitere Menschen aufzunehmen. Es war wohl die Vorstellung von einem gütigen Gott, der Verständnis für politische Zwangslagen aufbringt, der hier ins Spiel gebracht wurde.

5. Eine konfessi ons plurale Zukunft über ein Normaljahr Es schien zunächst, als sollte der Anonymus mit seinen Prognosen recht behalten. Der protestantische Normaljahrsvorschlag 1620 wurde von den katholischen Gesandten abgelehnt. Johann Georg von Kursachsen sah sich nach der Verletzung seines Territoriums durch ligistische Truppen veranlasst, nun doch Krieg gegen Kaiser und Liga zu führen. Die Schlacht von Breitenfeld ließ Gustav Adolf von Schweden zum erfolgreichen Kriegsherrn zu Gunsten des Protestantismus aufsteigen, der mit eroberten Gebieten weitgehend nach seinem Willen schaltete. Sogar die Hauptstadt des Führers der Liga, Kurfürst Maximilian I. von Bayern, wurde von schwedischen Truppen besetzt. Binnen kürzester Zeit machten die Katholiken im Reich, nun bekämpft von einer dichten protestantischen Front, eine ähnliche existentielle Erfahrung wie die Protestanten zuvor.64 63 SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/2, fol. 548. 64 Siehe zur Kriegspolitik Gustav Adolfs von Schweden im Reich die Darstellung und die Überlegungen bei DICKMANN, 1998, S. 46-51. 250

Gegen die Apokalypse?

Diese traumatische Erfahrung brachte Kaiser Ferdinand II. dazu, theologische Gutachten einzufordern, inwieweit er mit ruhigem Gewissen das Restitutionsedikt suspendieren und die Alternative einer von den protestantischen Ständen auf dem Kompositionstag vorgeschlagenen Uti-Possidetis-Regelung mit verständigungsbereiten protestantischen Ständen, allen voran Kursachsen, aushandeln lassen könne.65 Nur ein Aspekt dieser Verhandlungen, die 1635 zum wenig tragfähigen Prager Frieden führten, soll hier angesprochen werden: die konkrete Befristung des Friedens über die Festlegung eines terminus ad quem, mit dem die Bedeutung eines auszuhandelnden Normaljahrs beziehungsweise Normaltags relativiert werden sollte. Die Befristung eines Friedens nach dem Uti-Possidetis-Prinzip ergab sich bereits aus seinen römisch-rechtlichen Wurzeln. Uti-possidetis-Regelungen waren als Übergangsregelungen gedacht.66 Dass Kurfürst Johann Georg auf dem Frankfurter Kompositionstag ein unbefristet gültiges Normaljahr im Auge gehabt hatte, war streng genommen bereits eine Abwandlung des Prinzips. Vor allem angesichts einer für ihn zu erwartenden Abneigung der Katholiken gegenüber einer unbefristeten Friedenslösung ergab sich für ihn die Überlegung, eine Alternative in der Hinterhand zu behalten: Sollten die kursächsischen Gesandten mit einem unbefristeten Normaljahr scheitern, so sollten sie versuchen, ein lediglich für fünfzig Jahre gültiges Normaljahr zu erreichen.67 Es ist bemerkenswert, dass der lutherische Fürst die ewige, endgültige Lösung favorisierte, während von kaiserlicher Seite auf einer Interimslösung bestanden wurde. Letzteres hat aber kaum etwas mit Vorstellungen von der Apokalypse als einem sich zukünftig zwangsläufig vollziehenden Gottesgericht zu tun, in dem die Welt von Elementen des teuflischen Unglaubens gereinigt werden muss, als mit der strikten Weigerung Ferdinands II. aus Gründen der Ehre und der Autorität, sein Restitutionsedikt ein für alle Mal aufzuheben. Lediglich zu einer Suspendierung war der Kaiser bereit. Verhandelt wurde entsprechender Maßen zunächst über einen terminus ad quem von 15 Jahren, der allerdings mit besonderen Vergünstigungen für die beiden protestantischen 65 Hierzu REPGEN, 1962, insbes. S. 106. 66 SIMMLER, 1999, hier S. 34. 67 „[…] pro secundo [sei] diß medium an die handt [zu] geben […], daß man alle protestirende stände, so graviret, wieder in den standt, wie dieselbe anno 1620 gewesen omnimodo setzen undt fürder so dann alle protestirende stende ingesambt und einen ieden insonderheit bey seiner gewehr und poßeß von dato an noch 50 jahr gantz ruhig, ohn einige güttliche undt rechtliche zusprüch bleiben lassen.“ SÄCHHSTADRESDEN, Geh. Archiv, Friedensschlüsse 8098/2, fol. 82f. 251

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Kurfürsten, Kursachsen und Kurbrandenburg, einem terminus ad quem von 40 Jahren, verbunden war. Im Endeffekt wurde in den Prager Frieden ein terminus ad quem von 40 Jahren aufgenommen, der für alle im Reich gültig sein sollte.68 Mag der Zukunftszeitraum, der hier anvisiert wurde, nicht besonders weit erscheinen, so ist immerhin festzuhalten, dass die endgültigen Entscheidungen über die Religions- und Kirchengüterfrage späteren Generationen überlassen wurden. Dies lässt sich angesichts des Alters der vertragsschließenden Personen – der Kaiser war im Jahre 1635 56 Jahre alt, Johann Georg war 50 – schlussfolgern. Beide Seiten hatten versucht, ihren Nachkommen günstige Ausgangspositionen zu schaffen und darauf hinzuwirken, dass die wesentlichen über den Zeitraum von Jahrzehnten verfolgten Ziele ihrer Religionsparteien nicht endgültig aufgegeben wurden. Die Reichsgerichte sollten sich entsprechend dieser Planung nach dem Verstreichen der Provisoriumsfrist mit den Streitigkeiten um die Kirchengüter und weitere Auslegungsfragen des Augsburger Religionsfriedens auseinandersetzen.69 Das Spiel eines Verhandelns über Zukunftszeiträume sollte sich letztlich auf dem Westfälischen Friedenskongress fortsetzen, wobei Maximilian Graf Trauttmansdorff eine entscheidende Rolle als kaiserlicher Unterhändler für die katholischen Reichsstände zukam, während die protestantischen Stände zeitweilig von Schweden vertreten wurden. Es kann hier nur kurz bemerkt werden, dass diese Zukunftszeiträume, in denen religiöse Pluralität über einen Religionsfrieden stabilisiert werden sollte, noch einmal ausgedehnt wurden. Von einem terminus ad quem von 100 Jahren, zeitweilig sogar von einem terminus ad quem von 200 Jahren war zeitweilig in Osnabrück die Rede.70 Dies zeigt meines Erachtens sehr deutlich, dass Verhandlungsdynamik die Akteure unter Druck setzte, mehr Zukunft in ihre Planungen einzubeziehen. Wenn am Ende der von dem nicht an den Verhandlungen beteiligten Johann Georg I. von Sachsen propagierte ewige Friede stand, muss man hinzufügen, dass dieser als Zugeständnis Trauttmansdorffs gesehen werden muss, der einer Steigerung jener 200 Jahre gleichkam, die er zuvor als terminus ad quem in den Raum gestellt hatte. Das Tor in die Zukunft wurde gleichsam weit aufgestoßen, auch

68 Der Prager Frieden zwischen dem Kaiser und Kursachsen. Hauptvertrag, in: BIERTHER, 1997, S. 1607. 69 EBD., S. 1609f. 70 Siehe zum terminus ad quem meine Darstellung des Verhandlungsverlaufs: FUCHS, 2010b, S. 177-184. 252

Gegen die Apokalypse?

wenn eine gütliche und friedliche Einung der Religion noch als erwünschte Möglichkeit im Vertragstext des Westfälischen Friedens aufscheint.71 Der große zelebrierte Moment dieses Friedens war getragen von der Hoffnung auf eine langfristige friedliche Zukunft in religiöser Pluralität und einem zukünftig besser geregelten beziehungsweise verrechtlichten Nebeneinander von Katholiken und Protestanten. Insofern äußere ich die These, dass das apokalyptische Denkmuster einen gehörigen Schlag durch diesen Westfälischen Frieden erhalten haben muss. Er markierte für die Beteiligten einen Verzicht auf die Entscheidung in der Religionsfrage, nachdem sich bei der ganz überwiegenden Zahl der politischen Akteure die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass in absehbarer Zeit weder der Katholizismus noch der Protestantismus als alleinige Religion im Reich durchsetzbar war. Militärische Anstrengungen, Entscheidungen beziehungsweise Vorentscheidungen zu suchen, hatten sich als Irrwege erwiesen. In der Folge musste es darum gehen, ein ruinöses Reich wieder aufzubauen, das beiden Religionsparteien ihr Existenzrecht gewährte. Die wichtigsten religionspolitischen Maßnahmen, das Normaljahr 1624 und die reichsrechtliche Anerkennung des Calvinismus durch die Katholiken, waren Mittel, um der Dynamik der religiösen Pluralisierung, die das lange 16. Jahrhundert geprägt hatte, den Boden zu entziehen. Bei aller erkennbaren Suche nach politischer Vernunft zur Einhegung der Religionsfrage zögere ich allerdings, das Jahr 1648 einseitig als „säkularen Moment“72 anzusehen. In der Folgezeit sollten die Restitutionen zur Durchsetzung des Normaljahrs 1624 zeigen, dass in den Lokalitäten erbittert um die Rechte der Konfessionsgruppen gestritten wurde. Das Aufkommen pietistischer Strömungen innerhalb des Protestantismus zeigt exemplarisch die hohe Bedeutung der Religion nach dem Westfälischen Frieden auf. Chiliasmus und die Sprache der Apokalyptik verloren nicht ihre Plausibilität, wie die Schriften des Spener-Anhängers Johann Wilhelm Petersen zeigen.73 Eine zu starre Vorstellung von einem allgemeinen, europaweiten Schub der Säkularisierung nach dem Westfälischen Frieden verbietet sich auch in Anbetracht der Tatsache, dass millenaristische Vorstellungen zum Beispiel während der Puritanischen Revolution in England einen ungeheuren Aufschwung erhielten. Dennoch: Offensichtlich brachte die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges, begriffen als lange Phase der Zerstörung im Reich, am Ende auf mehreren 71 OSCHMANN, 1998, Nr. 18, Art. I, 1. 72 BORNKAMM, 1965, S. 218. 73 Vgl. den Beitrag von Wolfgang BREUL in diesem Band. 253

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Seiten das Bedürfnis nach einem langen, dauerhaften Frieden hervor. In der Folge sollte das Prinzip der juristischen Sicherung konfessionellen Terrains weitestgehend Naherwartungen des Jüngsten Gerichts verdrängen. Anknüpfend an die Überlegungen zur Vorsorge für nachfolgende Generationen, die von einem großen Teil der protestantischen Stände während des Krieges angestellt worden waren, ließ sich ein langfristiger Zukunftshorizont anvisieren, um einen politischen und kirchlichen Wiederaufbau anzugehen. Der Westfälische Frieden brachte den Protestanten das lange erhoffte Existenzrecht. Das im 16. Jahrhundert eng damit verbundene politische Programm einer baldigen Durchsetzung des evangelischen Glaubens im Reich sollte nach 1648 allerdings keine Rolle mehr spielen. Im Gegenteil: Im späten 17. und im 18. Jahrhundert wurde der Katholizismus durch bedeutende Fürstenkonversionen erheblich gestärkt. Die Protestanten beriefen sich nun vehement auf den ihnen im Westfälischen Frieden zugesicherten Status Quo eines von ihren Vorfahren mit den Katholiken ausgehandelten Normaljahres 1624. Zugespitzt formuliert: Evangelische Gemeinden bekundeten, eine dauerhafte Zukunft in der Restitution der Vergangenheit zu sehen. Im Kampf gegen die Einführung katholischen Gottesdienstes in ihren Orten beharrten sie auf der Wiederherstellung der Zustände des Stichjahres des Westfälischen Friedens, und brachten, wie zum Beispiel die Mitglieder der fränkischen Gemeinde Weigenheim, die Befürchtung zum Ausdruck, dass anderenfalls „ihre das Gewissen / und ihrer auch ihrer Nachkömmlinge Seelen-Heyl und Wohlfart betreffende Gerechtsame auf eine so leichtsinnige Weise auf ewig verlohren gehen“74 würden.

6. Fazit: Zukunftsbew usstsei n und Zukunftsvor sorge in der Mitte des 17. J ahrhunderts Ich fasse zusammen: 1.

Die These von einer „Erfindung der Zukunft“ im 18. Jahrhundert (bei Lucian Hölscher eher ohnehin begriffen als eine Erfindung des Fortschritts)75

74 KURTZER BERICHT, ca. 1725, nicht paginiert. 75 HÖLSCHER, 1999, S. 49, mit Blick auf das 18. Jahrhundert: „Wichtig und folgenreich für das Konzept der Zukunft selbst wurde dabei vor allem die Überzeugung, 254

Gegen die Apokalypse?

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ist zu modifizieren. Aus der Praxis obrigkeitlichen Regierens im 16./17. Jahrhundert ergab sich die Erkenntnis der Notwendigkeit einer politischen Zukunftsvorsorge, die gleichzeitig einen Impetus an den Fürstenhöfen des Reiches darstellte. Während der prekären Situation der protestantischen Stände im ersten Drittel des Dreißigjährigen Krieges wurden aus ihren Reihen langfristige Friedenskonzepte in die Diskussion eingebracht, die unter anderem als Zukunftsvorsorge für den Fortbestand des evangelischen Glaubens konturiert wurden. Kursachsen als Friedenspartei setzte sich in diesem Kontext 1631 für einen ewigen Frieden in religiöser Pluralität ein. Basis dieser Friedenspolitik waren Vorstellungen von einer besonderen Verpflichtung gegenüber der Posterität als einer imaginierten zukünftigen Öffentlichkeit. Die Aussicht auf einen ewigen paritätischen Religionsfrieden, der Katholiken und Protestanten ihr Terrain über eine Normaljahrsregelung sicherte, ließ sich allerdings nicht mit apokalyptischen Zukunftskonzepten auf protestantischer Seite in Einklang bringen. Der militante Protestantismus vertrat das Prinzip der Freistellung, das auf die Ausdehnung des evangelischen Glaubens und den Endsieg über die Papstkirche ausgerichtet war. Um 1631 erfuhren apokalyptische Deutungen und Prognosen im Protestantismus einen Aufschwung, der mit Aufrufen zum kriegerischen Widerstand gegen die Glaubensfeinde verbunden wurde. In den interkonfessionellen Verhandlungen zum Prager Frieden und zum Westfälischen Frieden setzte sich jedoch das Konzept einer paritätischen Zukunftssicherung durch, das auf einem Konsens von Katholiken und Protestanten im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft basierte. Kernpunkt war die gegenseitige Zusicherung, das Einfrieren76 konfessioneller Terrains über das Uti-Possidetis-Prinzip. Die gemeinsame religionsplurale Zukunft erscheint in den Friedensverhandlungen zunächst auf relativ wenige Jahre begrenzt. Aus der Verhandlungsdynamik ergab sich jedoch eine Verlängerung der anvisierten Zukunftszeiträume bis hin zu 200 Jahren. Diese Ausdehnung der Zukunftszeiträume lässt sich als ein bemerkenswertes Resultat der Verhandlungen herausstellen, die der letztendlich erreichten pax perpetua ein besonderes Gepräge verlieh. Das Bemühen der Akteure um die Herstellung und die Bewahrung einer langfristigen friedli-

daß die Menschheit noch eine weite Wegstrecke vor sich habe, bis sie den erstrebten Zustand der Vollkommenheit erreichen würde.“ 76 Die Bezeichnung als „freeze“-Konzept bei BURKHARDT, 1992, S. 176. 255

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chen Zukunft mehrerer Konfessionen im Reich sollte auch in der Folgezeit das Wissen um die Apokalypse aus den religionspolitischen Diskursen weitgehend verdrängen.

Ar chi valien SÄCHSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV DRESDEN, Geheimes Archiv, Friedensschlüsse 8098/1. SÄCHSISCHES HAUPTSTAATSARCHIV DRESDEN, Geheimes Archiv, Friedensschlüsse 8098/2.

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Gegen die Apokalypse?

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WOLFGANG BREUL Untergangsverheißungen, Krisenanalysen und Reformprogramme hatten im Luthertum des Alten Reichs um 1650 Konjunktur. Der brandenburgische Pfarrer Joachim Betke (1601-1663)1 kritisierte seit 1625 die mangelnde Christusnachfolge in den lutherischen Gemeinden in einer Reihe von Schriften, die sich in der Schärfe der Anklage und in der Kritik des herrschenden Verfalls steigerten. Sie erreichte ihren Höhepunkt in dem um 1640 verfassten, aber erst postum veröffentlichten Excidium Germaniae, der Austilgung Deutschlands.2 Im Stile alttestamentlicher Prophetenkritik lastet Betke darin den eindringlich beschriebenen Religionskrieg mit seinen verheerenden Folgen der herrschenden Theologie und den Pfarrern an, die das echte Christentum unterdrückten. Ähnlich umfassend, aber im Ton nicht ganz so scharf, kritisierte der Rostocker Diakon Theophil Großgebauer (1627-1661)3 1661 die Verhältnisse in der lutherischen Kirche. In seiner Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion hält er es für fraglich, ob die Kirche noch dem Willen Christi und der Apostel ent-

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Vgl. BRECHT, 1993b, S. 221-223; BORNEMANN, 1959, bes. S. 96-110; DIES., 1980; HINRICHS, 1971, S. 3-6, S. 47f., S. 53f.; GRÖSCHEL-WILLBERG, 1955; STROM, 2001, S. 38-40. BETKE 1666; DÜNNHAUPT, 1990, S. 568. Vgl. STROM, 1999, S. 195-221; KAUFMANN, 1997, S. 116f.; BRECHT, 1993a, S. 171-173; LEUBE, 1924, S. 74-77; zum Hintergrund vgl. STROM, 1999, S. 85-166 und DERS., 1994, S. 125-138. 261

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spreche.4 Die Predigt der Pfarrer sei wirkungslos, weil es den Geistlichen an der rechten Ausbildung und der inneren Erleuchtung fehle und in den Kirchengemeinden die Kirchenzucht nicht durchgesetzt werde. Ahasver Fritsch (16291701) setzte sich in einer Fülle von Veröffentlichungen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts für Reformen in der lutherischen Kirche, in Schule, Hochschule und an den Fürstenhöfen ein.5 Der Kanzler des Duodezfürstentums Schwarzburg-Rudolstadt mahnte in einigen seiner Schriften im Stile von Laster- und Tugendkatalogen seine Adressaten zur moralischen Besserung.6 Unter den zahlreichen Schriften zur Kritik und Reform der lutherischen Kirche in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ragen die „Pia Desideria“ Philipp Jakob Speners heraus.7 Sie wurden binnen weniger Jahre zur Programmschrift der neuen Frömmigkeitsbewegung in der lutherischen Kirche, die gegen Ende des Jahrhunderts den Namen „Pietismus“ erhielt.8 Für den Erfolg der Schrift waren neben der herausgehobenen kirchlichen Position des Verfassers als Senior der Frankfurter Pfarrerschaft9 und dessen systemati-

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GROSSGEBAUER 1661. Vgl. SCHUSTER, 2006; RENKER, 1916; BLAUFUSS, 2003; IGNASIAK, 1994; HERPICH, 1990. Vgl. FRITSCH 1682 ; DERS.1679a; DERS.1679b. Zu Spener vgl. grundlegend GRÜNBERG, 1893, S. 127-213; WALLMANN, 1986; DERS., 1995; DERS., 2000; BRECHT, 1993c; CHI, 1997; WENDEBOURG, 2005. Der Begriff setzte sich seit der sog. Leipziger Bewegung um August Hermann Francke (1689/90) zur Bezeichnung der Reformbewegung im Luthertum durch. Obwohl der Begriff in der neueren Forschung seit Albrecht Ritschls epochemachender Darstellung als etabliert gelten kann, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine zeitweise intensiv geführte Debatte um Inhalt und Abgrenzung des Pietismus entwickelt, die sich am Konzept des vierbändigen Handbuchs „Geschichte des Pietismus“ (1992-2004) entzündet hat; vgl. u. a. WALLMANN, 1994; DERS., 2002; DERS., 2004; DERS., 2011; LEHMANN, 2003; DERS., 2005. Der aus einer elsässischen Juristenfamilie stammende Spener war bereits in Kindheit und Jugend mit puritanischer Erbauungsliteratur und Johann Arndts Wahrem Christentum (1605-1610), der wichtigsten lutherischen Erbauungsschrift der Frühen Neuzeit, konfrontiert worden. Sein von der Lutherischen Orthodoxie bestimmtes Straßburger Theologiestudium schloss Spener 1659 ab. 1663 trat er nach einer Studienreise eine Freipredigerstelle am Straßburger Münster an und promovierte 1664 (über die Johannesoffenbarung). Die 1666 erfolgende Berufung des 31jährigen zum Senior des Frankfurter Predigerministeriums war „eher Zufall und eine Verlegenheitslösung“ (BRECHT, 1993c, S. 285), brachte ihn aber auf eine sehr angesehene Position und eröffnete Handlungsspielräume, die er mit der Einrichtung von Erbauungsversammlungen (1670, Collegia Pietatis) und der Entwicklung seines Reformprogramms nutzte.

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schem Bemühen um einen Diskurs zu seinen Reformvorschlägen10 wesentlich eine Neuorientierung in der Zeitvorstellung, in der Lehre von der Eschatologie verantwortlich.

1. Philipp Jakob Spener: Die Rückkehr millenaristis cher Er wartungen in die lutherische Theologie Es hat sich in der Forschung eingebürgert, Speners Vorschlag zur Heilung der kirchlichen Leiden nach dem Dreischritt ärztlichen Handelns zu gliedern: Diagnose, Prognose und Therapie.11 Speners Analyse der „kranken“ kirchlichen Verhältnisse seiner Zeit konzentriert sich schnell auf die lutherische Kirche und diagnostiziert ein geistliches Elend in allen drei Ständen. Die Obrigkeit nehme ihre Fürsorge für die Kirche nicht mehr wahr, versuche aber mittels des landesherrlichen Kirchenregiments auch in der Kirche politische Interessen zu verfolgen (Vorwurf des sogenannten Cäsaropapismus).12 Beim Lehrstand kritisierte Spener, dass die Pfarrer in ihrer Lebensführung unglaubwürdig seien und es an einer ernsthaften inneren Frömmigkeit fehlen ließen. Im Hausstand beklagt Spener eine Fülle sittlicher Missstände wie Trunk- und Prozesssucht, unrechtes Geschäftsgebaren und Mangel an christlicher Sozialtätigkeit. Im Schlussteil seiner Schrift entfaltet Spener sein therapeutisches Konzept, sechs Reformvorschläge, von denen ich hier nur die wichtigsten nennen möchte. Dem Mangel an der Kenntnis des Wortes Gottes solle durch vermehrte Schriftlesung und durch Erbauungsversammlungen in Anwesenheit des Pfarrers abgeholfen werden. Die wissenschaftliche Ausbildung der Theologen solle stärker auf eine angemessene Lebensführung achten und die – nach Meinung Speners – ausufernde Streittheologie einschränken. Spener empfiehlt außer10 Vgl. KRAUTER-DIEROLF, 2005, S. 34f. (Quellennachweise); BRECHT, 1993c, S. 302-311; WALLMANN, 1975. 11 Speners Reformschrift war ursprünglich im Frühjahr 1675 als Vorrede zu der von ihm herausgegebenen Evangelienpostille Johann Arndts erschienen. Ihr publizistischer Erfolg veranlasste Spener, die Schrift zum Herbst des Jahres selbständig herauszugeben; vgl. WALLMANN, 1975, S. 466, S. 470-475; ALAND, 1943, S. 1-21. Als maßgebliche Quellenausgabe gilt noch immer die in der dritten Auflage wiederholt nachgedruckte Ausgabe von Kurt Aland (SPENER, 1990). Benutzt wird auch die deutsch-lateinische Ausgabe von Beate Köster (DERS., 2005). 12 Vgl. SPENER, 1990, S. 9, 25-43, 22; KRUSE, 1971, S. 15-47. 263

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dem die Lektüre von Erbauungsschriften und fordert einen entsprechenden Predigtstil, der auf das Wachstum des inneren Menschen ziele.13 Nimmt man nur den ersten und den dritten Abschnitt der Pia Desideria in den Blick, dann handelt es sich zwar durchaus um ein in der Schärfe der Kritik offenes und in den Reformvorschlägen wenigstens mit dem Vorschlag der Erbauungsversammlungen (collegia pietatis)14 mutiges, aber keineswegs ungewöhnliches Programm.15 Einen grundlegenden Neuansatz stellt die Spenersche Reformschrift vor allem wegen ihres Mittelteils dar. Seine therapeutische Prognose lautet nämlich, dass Gott seiner Kirche hier auf Erden noch einen besseren Zustand versprochen habe. Dies begründet er damit, dass biblische Verheißungen noch nicht erfüllt seien. Der bessere Zustand der Kirche wird von Spener genauer bestimmt als „Freiheit von öffentlichen Ärgernissen“16. Es handelt sich also nicht um die himmlische Kirche, die ecclesia triumphans, die nach der traditionellen Vorstellung frei ist von allen Makeln und Runzeln, sondern um eine innerweltliche Größe, eine Gemeinschaft der Gläubigen dieser Welt, die offenkundigen Missständen in ihren Reihen keinen Raum mehr gibt, in der die Christen einen gewissen Grad an Vollkommenheit erreicht haben, aber sehr wohl um ihre Mängel wissen.17 Ein solcher Zustand sei erreichbar, denn es habe ihn in der Christentumsgeschichte schon gegeben, argumentiert Spener: die erste christliche Kirche sei in einem Zustand gottseligen Lebens gewesen.18 Speners Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: 1.

Sie stellt eine Abkehr von der traditionellen lutherischen Lehre dar, die einen Zwischenzustand zwischen gegenwärtiger und zukünftiger Welt nicht kannte.19 Mit dem Hereinbrechen des lieben jüngsten Tags vergeht die alte

13 Vgl. SPENER, 1990, S. 52, 14-81, 21; ALAND, 1943, S. 30-34; BRECHT 1993c, S. 307-310. 14 Separate gottesdienstliche Versammlungen waren seit dem obrigkeitlichen Vorgehen gegen die Täufer im 16. Jahrhundert und den sie begleitenden rechtlichen Regelungen verdächtig; vgl. SCHNEIDER, 2000, S. 158. 15 Ähnlich KRAUTER-DIEROLF, 2005, S. 25-29. 16 Vgl. SPENER, 1990, S. 47, 30-49, 5. 17 Vgl. EBD. 18 Vgl. EBD., S. 49, 6-52, 2; BLAUFUSS, 1988. 19 Die auf bestimmte biblische Traditionen (Apk 20) zurückgehende Lehre von einem Tausendjährigen Zwischenreich vor dem letzten Gericht und dem Ende der Welt („Chiliasmus“) war von wichtigen reformatorischen Bekenntnissen und insbeson264

„Hoffnung besserer Zeiten“

2.

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Welt (annihilatio mundi) und ein neuer Himmel und eine neue Erde brechen herein. Spener vermeidet aber, sich offen erkennbar auf die Vorstellung eines Tausendjährigen Zwischenreichs vor dem Eintritt der Endzeit (Chiliasmus beziehungsweise Millenarismus)20 zu beziehen. Spener erwähnt auch nicht c. 20 der Johannesoffenbarung, das in der theologischen Tradition als locus classicus für chiliastische Lehren galt. Er beruft sich vielmehr auf die Verheißungen von der Bekehrung der Juden21 aus dem Römerbrief des Paulus (c. 11) und Kap. 18 und 19 der Johannesapokalypse, in welcher der Fall Babylons prophezeit wird. Diese letztgenannte Stelle wurde in der protestantischen Tradition meist auf den Fall der römischen Kirche bezogen.22 Spener suchte damit offensichtlich dem Vorwurf der Heterodoxie zu entgehen. Damit dürfte auch zu erklären sein, dass er in vielerlei Hinsicht unscharf bleibt. So ist unklar, ob die Erreichung des besseren Zustands der Kirche zur Bekehrung der Juden führt oder umgekehrt. Gleiches gilt für den erwarteten Fall Babylons. Spener führt seinen Neuansatz in der Eschatologie also sehr vorsichtig ein. Speners Hoffnung auf „einigen bessern zustand seiner Kirchen hier auff Erden“23 (Hoffnung besserer Zeiten) ist eingebettet in den Kontext der Kirchenreform. Die Hoffnung auf die Erfüllung dieses Zustands verpflichtet die Christen, für die Bekehrung der Juden und die geistliche Schwächung der römischen Kirche einzutreten und mehr noch sich für die Besserung der eigenen Kirche zu engagieren. Zwar werde der bessere Zustand als Verheißung Gottes auch ohne unser Zutun gewiss eintreten, wie Spener betont, um dem Vorwurf der Werkgerechtigkeit und des Pelagianismus zu begegnen. Doch werde die eventuelle Säumigkeit der Christen in jedem Fall eine schwere Strafe Gottes nach sich ziehen, denn die wahre Religion könne nicht in einem falschen Leben bestehen.24 So eröffnet die dere vom Luthertum verworfen worden (Confessio Augustana Art. 17; 42 Artikel der Englischen Kirche, Art. 41; Confessio Helvetica posterior Art. 26). Zum „Chiliasmus“ in der Frühen Neuzeit vgl. den Überblick von BAUCKHAM, 1981. Der Begriff entbehrt nicht einer gewissen Unschärfe. Neuere Forschungen sprechen auch vom „Millenarismus“ und unterscheiden einen christlichen Präoder Postmillenarismus, je nachdem, ob die Wiederkunft Christi vor oder nach dem Tausendjährigen Reich erwartet wird. Vgl. SPENER, 1990, S. 16, S. 43, 23-44, 16. Vgl. EBD. Diese Verheißungen galten allerdings für Luther und viele andere Theologen bereits als erfüllt. EBD., S. 43, 31-33. Vgl. EBD. S. 45, 18-47, 29. 265

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3.

von Spener propagierte Hoffnung besserer Zeiten für die gegenwärtigen Christen einen Horizont, der ihrem Engagement für die Kirchenreform einen positiven Richtungssinn gibt und ein erreichbares Ziel setzt. Es geht nicht darum, in der Kirche den Himmel auf Erden zu holen, wohl aber soll man sich für die Abstellung der groben, öffentlichen Missstände engagieren. Spener ist vorsichtig genug, sich nicht offen zum Chiliasmus beziehungsweise Millenarismus zu bekennen, auch nicht der postmillenaristischen Spielart, die hier eher in Betracht käme. Er hält sich damit die Möglichkeit offen, mit seinem Reformprogramm in den Raum der Kirche hineinzuwirken. Mit der Hoffnung besserer Zeiten eröffnet er aber innerweltlich einen Zeitraum, der einerseits auf die endzeitlichen Erwartungen des christlichen Glaubens Bezug nimmt, indem er als von Gott verheißener besserer Zustand charakterisiert wird, der aber andererseits als innerweltliche Größe Orientierungspunkt für das Handeln der Christen in der Kirche sein kann. Die Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche auf Erden schafft damit eine Verbindung zwischen Endzeit und Weltzeit und gibt dem kirchlichen Handeln eine nach vorn gerichtete Perspektive.

Spener hat in einem recht großen Kreis von befreundeten Theologen, Kirchenvertretern und Politikern ganz gezielt die Diskussion über sein Reformprogramm und insbesondere über die von ihm angeführten Erwartungen und Verheißungen gesucht.25 Spener hat dabei seine Argumentation vertieft und ausgebaut, aber nicht wesentlich konkretisiert.26 Bemerkenswerter Weise blieb ihm in dieser frühen Phase der Vorwurf des Chiliasmus erspart.27 25 Spener war zeitüblich durch Sonderdrucke seiner Vorrede zur Arndtschen Evangelienpostille entlohnt worden (ca. 50-60 Exemplare); vgl. Wallmann, 1975, S. 471. Er sagt rückblickend, er habe„solches scriptum nicht allein offentlich an das liecht kommen lassen / sondern [...] an die allermeiste / wo nicht alle / mit denen ich damals bekannt gewesen und in schriftlicher correspondentz gestanden / selbs übersandt / ja um dero gutachten darüber gebeten / als ich christlicher brüder erinnerungen darüber anzuhören und in der furcht des HERRN zu prüfen willig war“, SPENER 1693, S. 54 (die Seitenangabe bei WALLMANN, 1975, S. 471 ist zu korrigieren). Bis zum Herbst 1675 erhielt Spener 20 Antworten von Theologen, bis 1677 insgesamt 90 meist zustimmende Reaktionen; vgl. WALLMANN, 1975, S. 472. 26 Vgl. KRAUTER-DIEROLF, 2005, S. 34-53. 27 Nach seiner Ablehnung und Verurteilung durch die führenden reformatorischen Lager (s.o. Anm. 19) gab es seit Ende des 16. Jahrhunderts – vor allem im reformiert geprägten Raum – eine Rückkehr chiliastischer/millenaristischer Vorstellungen, vor allem unter dem Einfluss neuer exegetischer Einsichten in die Auslegung 266

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2. Joha nna El eonor a und Johann Wilhelm Petersen: Radikaler Millenarismus ohne Reformerw artung In späteren Jahren musste sich Spener erneut mit diesem Thema auseinandersetzen. Die Radikalisierung bestimmter Zweige und Vertreter der pietistischen Reform und die näherrückende Jahrhundertwende förderten chiliastische beziehungsweise millenaristische Überzeugungen.28 Die vermutlich wichtigste Position des radikalen Pietismus im Luthertum zur Eschatologie soll nachfolgend vorgestellt werden. Johanna Eleonora Petersen, geb. von Merlau, gehört zu den markanten Vertreterinnen des Pietismus und zu den frühen Mitstreiterinnen Speners in Frankfurt.29 Die aus einem verarmten mittelhessischen Adelsgeschlecht stammende von Merlau war durch den zweiten Wortführer des Pietismus in Frankfurt, den Juristen Johann Jakob Schütz, auch mit chiliastischen Gedanken in Berührung gekommen.30 Erst nach ihrer Heirat mit dem Theologen Johann Wilhelm Petersen (1680) begann sie mit ihren theologischen Vorstellungen an die literarische Öffentlichkeit zu treten. Nach einer eher erbaulich orientierten Schrift31 erschien 1691 das erste Werk, das sich eingehender mit der Vorstellung des Tausendjährigen Reichs auseinandersetzte. Zwar knüpfen die Glaubens=Gespräche von 169132 im Stil noch an den erbaulichen Charakter der Hertzens=Gespräche zwei Jahre zuvor an,33 der Sache nach stellen sie aber schon eine differenzierte Darlegung ihrer

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der Johannesapokalypse und zeitgenössischer politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Diese Entwicklung wird üblicherweise mit Thomas Brightman (1562-1607), Johann Heinrich Alsted (1588-1638) und Joseph Mede (1586-1638) verbunden. Ihre Schriften fanden weite Verbreitung. Unter den lutherischen Theologen des Deutschen Reichs wurden chiliastische Positionen nur vereinzelt vertreten, waren aber Gegenstand intensiver Erörterung, so bei Daniel Cramer (15681637) und Johann Gerhard (1582-1637); vgl. GÄBLER, 2004, S. 21-23; Wallmann, 1995. Vgl. SCHNEIDER, 1999. Vgl. ALBRECHT, 2005; MATTHIAS, 1993; BLAUFUSS, 1996. Vgl. KRAUTER-DIEROLF, 2005, S. 16f.; DEPPERMANN, 2002, S. 126-141. Vgl. PETERSEN, 1689; MATTHIAS, 1991; ALBRECHT, 2005, S. 208-226. Vgl. PETERSEN, 1691. Ein Faksimile des Exemplars der Universität Lausanne ist bei Google Books verfügbar. Die Ausführungen sind als direkte Anrede an Gott, als Gebet, formuliert, haben aber zugleich diskursiven Charakter; vgl. ALBRECHT, 2005, S. 238f. 267

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chiliastischen Überzeugungen dar. Diese Veröffentlichung steht wie andere Publikationen ihres Mannes im gleichen Zeitraum im Kontext der Auseinandersetzungen des Ehepaars um ihre Sonderlehren, die schließlich Anfang 1692 zur Amtsenthebung Petersens von seiner Lüneburger Superintendentur führten.34 Nachdem das Ehepaar dank der Unterstützung aus höchsten Regierungskreisen im Kurfürstentum Brandenburg ein wohl ausgestattetes Asyl gefunden hatte,35 konnte es sich nun ungehindert der theologischen Schriftstellerei und damit der Verbreitung ihrer eschatologischen Vorstellungen widmen. Schon die Vorrede der Glaubens=Gespräche gibt das Anliegen zu erkennen, chiliastische Vorstellungen zu propagieren36. Diese Position entfaltet Petersen vor allem im dritten Teil ihrer Schrift, die sich wesentlich auf Aussagen der Johannesoffenbarung bezieht. Sie entwickelt dabei eine feste Vorstellung vom eschatologischen Ereignisablauf, der mit der Wiederkunft Christi und einer ersten Auferstehung beginnt. Es handelt sich also anders als bei Spener um ein prämillenaristisches Modell, Christi Kommen leitet das Tausendjährige Reich ein. Diese erste Auferstehung versteht Petersen gemäß c. 20 der Johannesoffenbarung als eine „Auferstehung der Gerechten“;37 nur die wahrhaft Gläubigen werden an ihr teilhaben. Während dieser Zeit besteht die Erde fort, Jerusalem ist das Zentrum des Reichs, in dem überwiegend die zu Christus bekehrten Juden leben.38 Während die von Christus auferweckten Gerechten bereits das ewige Leben haben und eine himmlische Kirche bilden, besteht die Kirche auf Erden fort. Die Unbekehrten haben in dieser Zeit die Möglichkeit zur Bekehrung. Bis dahin bleiben sie anders als die Gerechten sterblich.39 Erst nach Ablauf der tausend Jahre wird diese duale Struktur ihr Ende finden und sich die allgemeine Auferstehung der Toten und das Gericht über alle Menschen anschließen.

34 Dazu umfassend MATTHIAS, 1993, S. 217-330. 35 Die Unterstützung der Brandenburg-Preußischen Regierung verdankt sich wesentlich dem Geheimen Rat Dodo II. von Innhausen und Knyphausen (1641-1698); zu ihm vgl. Matthias, 2010. Er vermittelte wesentlich das Gedankengut der Londoner Philadelphian Society um Jane Leade an das Ehepaar Petersen, das entscheidend zur Weiterentwicklung ihrer Eschatologie beitrug; eine umfassende Studie zu Leades Theologie und ihrer Rezeption im Deutschen Reich fehlt; vgl. einstweilen DURNBAUGH, 2005; THUNE, 1948. 36 Vgl. PETERSEN, 1691, Vorwort, unpaginiert, Bl. [vir-v]. 37 PETERSEN, 1691, S. 794. 38 Vgl. PETERSEN, 1691, S. 803, S. 893. 39 Vgl. EBD., S. 790-792. 268

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Obwohl ihr Werk in der theologischen Öffentlichkeit deutliche Kritik erfuhr, nicht nur wegen der anstößigen Positionen, sondern auch weil es eine Frau war, die sie vertrat40, hat Johanna Eleonora Petersen ihre Anschauungen 1696 in ausgebauter Form in der Gestalt einer systematischen Auslegung der Johannesapokalypse vorgelegt (Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi41). Ihre Grundüberzeugungen bleiben darin unverändert, einige Aspekte werden gestärkt: So kommt nun den Gerechten während des Tausendjährigen Reichs die Rolle eines eschatologischen Priestertums zu, das mit Christus gemeinsam regieren soll. Ihr Kirchenverständnis berücksichtigt noch weniger als in früheren Veröffentlichungen die konfessionellen Grenzlinien. Hier zeigt sich, dass Johanna Eleonora Petersen von den Gedanken der Philadelphian Society um Jane Leade in London beeinflusst ist.42 Petersens Werk sah sich erneut scharfer Kritik aus den Reihen der orthodoxen Theologen ausgesetzt. Dies hinderte die Autorin aber nicht daran, ihre eschatologischen Vorstellungen ohne Rücksichten auf die dogmatischen Grenzlinien weiter auszubauen. Ab 1698 vertrat sie in mehreren Publikationen die Vorstellung der Allversöhnung, der Apokatastasis Pantoon, die sie in der Anleitung von 1696 nur angedeutet hatte.43 Damit verabschiedete sie sich endgültig von der im Luthertum geltenden Lehre vom doppelten Ausgang des endzeitlichen Gerichts.44 Johanna Eleonora Petersens Vorstellungen von der Endzeit unterscheiden sich trotz des zeitweise engen Kontakts deutlich von denjenigen Speners. 1.

Petersen vertritt nicht nur ein prämillenaristisches Modell, es handelt sich bei den von ihr erwarteten endzeitlichen Vorgängen kaum noch um ein innerweltliches Geschehen, auch wenn die Erde während des Tausendjähri-

40 Kritik kam u.a. von Petersens Lüneburger Kollegen Georg Meyer, der die Chiliastischen (!) Gespräche als Geschwätz abkanzelte, (Geistlicher Brief=Wechsel, DUNCKER 1692, S. 23, S. 55; zitiert nach ALBRECHT, 2005, S. 243), dem Lübecker Superintendenten August Pfeiffer und – einige Jahre später – von Johann Henrich Feustking; vgl. ALBRECHT, 2005, S. 243f. 41 PETERSEN, 1696; vgl. ALBRECHT, 2005, S. 245-256. 42 S. o. Anm. 35. 43 Vgl. PETERSEN, 1696, VORREDE b1r; S. 265, S. 285; ALBRECHT, 2005, S. 251. Spener hatte Johanna Eleonora Petersen offensichtlich erfolgreich gedrängt, auf explizitere Ausführungen zu diesem Thema zu verzichten; vgl. SPENER, 2006, S. 409 mit Anm. 48 (Spener an Francke, Berlin 19. Okt. 1695). 44 Vgl. die Darstellungen von ALBRECHT, 2005, S. 271-301; NORDMANN, 1930, DERS., 1931. 269

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2.

3.

gen Reichs noch fortbesteht. Denn die Wiederkehr Christi und eine – begrenzte – Auferstehung der Toten läuten die Geschehnisse ein. Die eschatologischen Erwartungen Petersens zielen nicht auf eine Kirchenreform und schon gar nicht auf eine Erneuerung der lutherischen Kirche. Die konfessionellen Kirchentümer weit hinter sich lassend, zielt Petersen von philadelphischen Vorstellungen getragen auf das individuelle Heil. Johanna Eleonora Petersen zielt auf die Bekehrung zu einem wahren christlichen Glauben. Denn nur die Bekehrten und Gerechten werden an der ersten Auferstehung zu Beginn der Regentschaft Christi teilhaben und den Unbekehrten wird während dieser Zeit noch die Tür offengehalten, bevor es mit Ablauf der Frist zur allgemeinen Auferstehung und zum Gericht Christi über alle Menschen kommt.

3. August Hermann Francke: Konkre tisi erung der millenaristischen Erw artung im Halleschen „Project“ Dass diese uns heute vermutlich etwas fremd erscheinenden Vorstellungen durchaus Einfluss hatten, wird an August Hermann Francke deutlich, dem bedeutendsten Vertreter des lutherischen Pietismus der zweiten Generation. Francke kann in gewisser Hinsicht als Schüler Speners gelten. In seinen prägenden Jahren stand er in engem persönlichen und brieflichen Kontakt mit Spener und erhielt von diesem Rat und vielfache Förderung, insbesondere seit Spener im Sommer 1691 Propst an der Berliner Nikolaikirche geworden war und gute Verbindungen zur kurfürstlichen Regierung unterhielt.45 Nach wechselvollen Jahren fand August Hermann Francke Anfang 1692 dank der Vermittlung Speners Aufnahme in Brandenburg-Preußen – nahezu gleichzeitig mit dem Ehepaar Petersen (in Niederdodeleben bei Magdeburg). Francke erhielt eine Professur für griechische und orientalische Sprachen an der in Gründung befindlichen Universität Halle und eine Pfarrstelle im Vorort Glaucha.46

45 Vgl. STRÄTER, 2007. 46 Eine neuere wissenschaftlichen Ansprüchen genügende umfassende FranckeBiographie fehlt; vgl. einstweilen KRAMER, 1880; DERS., 1882; BRECHT, 1993d; OBST, 2002. 270

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Francke hatte sich – angetrieben durch ein persönliches Bekehrungserlebnis47 – zum führenden Kopf der pietistischen Reform in Mitteldeutschland entwickelt, verfügte über ein dichtes Netzwerk zu Studenten sowie zu sympathisierenden Bürgern und Adligen. Franckes Aufmerksamkeit für soziale Notlagen und sein Interesse, möglichst „viele tausend Seelen“48 zu retten, führten ab 1695 verbunden mit seinem organisatorischen Geschick und pädagogischem Talent zur Entstehung eines großen Schulkomplexes am Ort von Franckes Pfarrstelle – vor den Toren der Stadt Halle. Schon nach wenigen Jahren nahm sie nicht nur über 1000 Schüler auf, sondern zog dank der engen Verbindung zur neuen Universität zahlreiche Studenten an, die in Schulen und Waisenhaus im pietistischen Geist unterrichteten. Speners grundlegende Forderung nach einer praxisorientierten und auf die Lebensführung achtenden Ausbildung der Theologen wurde hier erfüllt. Binnen eines Jahrzehnts entwickelten sich die von Francke gegründeten Anstalten zum Zentrum des Pietismus im Deutschen Reich mit internationaler Ausstrahlung.49 Spener hat Francke in seiner Arbeit in Halle vor den Angriffen orthodoxer Pfarrer und anderer Gegner geschützt und ihn gefördert. Francke unterhielt aber auch gute Beziehungen zum Ehepaar Petersen; Johann Wilhelm Petersen war Taufpate von Franckes Sohn Gotthilf August (geb. 1. April 1696).50 Trotz dieser engen Beziehungen zwischen Francke, Spener und dem Ehepaar Petersen kam es 1695/96 zu einem tiefen Konflikt und zu einem monatelangen Schweigen zwischen Francke und Spener. Anlass waren die chiliastischen Auffassungen des Ehepaars Petersen und insbesondere ihre expliziten Vorstellungen zur Allversöhnung. Spener hatte durch Petersen davon gehört, dass „geliebter Bruder [Francke] von dem Chiliasmo nunmehr erkantnus habe“51 und warnte ihn eindringlich davor, mit diesen Überzeugungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann müsse er gravierende Nachteile nicht nur für die pietistische Reformbewegung, sondern auch für die Universtität Halle befürchten und würde die Unterstützung am kurfürstlichen Hof verlieren.52 Francke rea47 Vgl. DE BOOR, 1975. 48 Vgl. z.B. SPENER, 2006, S. 645 (Francke an Spener, Halle, 17. Okt. 1699). 49 Vgl. DEPPERMANN, 1961, S. 88-90, S. 100-108; BRECHT, 1993d, S. 473-496; OBST, 2002. 50 Vgl. SPENER, 2006, S. 447 mit Anm. 10 (Francke an Spener, Glaucha, 24. März 1696). Neben Petersen waren Johann Caspar Schade (1666-1698), Protagonist des Berliner Beichtstuhlstreits, und Franckes Mutter Paten. 51 EBD., S. 408, 107f. (Berlin, 19. Okt. 1695). 52 „Ich habe von vornehmer u. gottseliger hand nechst einen wehemütigen brieff auß Dreßden bekommen, da auch wegen geliebten Bruders [Francke] geschrieben 271

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gierte mit einem im Ton scharfen Schreiben, erklärte, dass seine Position in der strittigen Frage „immota“53 sei. Er sei der göttlichen Wahrheit verpflichtet und wolle um die göttliche Weisheit beten, das Richtige zu reden. „Was der Hoff vertragen könne oder nicht, dienet nicht zu meinem reglement, noch wird sich irgend ein wahrer Knecht Gottes darnach richten. Hätte ich mich bißdahero wollen darnach richten, ich wäre offt im Glauben schwach worden, in dingen, damir [!] doch der Herr manchen herrlichen durchbruch gegeben.“54 Francke kritisierte vielmehr die ängstliche Haltung seines väterlichen Freunds. Leider sind keine Quellen überliefert, die eine genauere Bestimmung von Franckes Position in der Eschatologie für diesen Zeitraum ermöglichen. Deutlich ist aber, dass er zumindest recht weitgehend mit den Vorstellungen der Petersens übereinstimmt und bereit ist, dafür erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Nach den Aussagen aus der Korrespondenz zwischen Spener und Francke ging es um die Frage der „reinigung der seelen und vergebung nach dem tode“55, das heißt um die Allversöhnung, die Weiterentwicklung der Petersenschen Eschatologie auf der Basis ihrer chiliastischen Vorstellungen. Francke zeigt damit, dass er in diesen frühen Jahren seiner Wirksamkeit in Halle in dieser wie in anderen Fragen radikale Positionen teilte56, sodass er kaum zufällig mit der orthodoxen Geistlichkeit der Stadt Halle in Konflikt geriet. Wiederholt stand sein Verbleib in Glaucha auf der Kippe und nur die Un-

53 54 55

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wird, das er auff diese meinung [Chiliasmus] verfallen sollte sein, mit schmertzlichem bedauren, wo solches noch außkommen [bekannt werden] solte, wie die feinde der wahrheit darüber frolocken, und vollends die Hallische universitet in mißcredit setzen würden: Wie ich auch versichern kan, wo selbs dergleichen hier bey hoff kund werden solte, daß es gewiß gantz auß sei, und die widriggesinnte, Gott wolte dann wunder in der sache thun, völligen sieg zu deßen untertruckung erhalten“, EBD., S. 429, 13-430, 21 (Berlin, 29. Febr. 1696). EBD., S. 434, 15 (Glaucha, 7. März 1696). EBD., S. 426, 26-30 (Glaucha, 7. März 1696). „Was Herrn D. Petersen chiliasmum anlangt, will doch nicht glauben, das geliebter Bruder auch die reinigung der seelen und vergebung nach dem tode statuiren werde. Wäre zwahr eine lehr, die man lieber wünschen solte, aber die zu solchem ende anführende stellen der schrifft kommen mir nicht gnugsam vor, eine solche wichtige materie zu gründen. Auffs wenigste wolte nicht, das gel[iebter] Bruder darvon gegen jemand meldung thäte: denn wo solches außkäme, hätte gegentheil was sein verlangen, und kan ich den jammer nicht gnug übersehen, der darauß mit eußerstem ärgernus folgen würde. Der Herr aber verleyhe den geist der wahrheit und der weißheit.“, SPENER, 2006, S. 425, 40-48 (Berlin, 31. Dez. 1695). Vgl. STRÄTER/ALBRECHT-BIRKNER, 2010, S. 78f .

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terstützung Speners und seiner Sympathisanten am Berliner Hof bewahrte ihn davor, Glaucha und Halle verlassen zu müssen57. Trotz der ernsthaften Krise zwischen den beiden Protagonisten des lutherischen Pietismus kam es nicht zum Bruch. Spener stellte nach einem mehrmonatigen Schweigen mit der Widmung eines Predigtbands an Francke, in dem er die Freundschaft beschwor, die Beziehung wieder her.58 Francke vertrat die eschatologischen Anschauungen des Ehepaars Petersen nicht mehr in der Öffentlichkeit und auch nicht in der Korrespondenz mit Spener. Offensichtlich hat er sich zumindest auf längere Sicht von diesen wie anderen radikalen Positionen zurückgezogen, ohne aber die von Spener angebahnte grundlegende Neuorientierung aufzugeben. Die Forschung hat bislang nicht ausreichend gewürdigt, dass der überwältigende Erfolg von Franckes Schulen und Anstalten von Beginn an mit weit gespannten Reformplänen verknüpft war. Diese Pläne passen bestens zusammen mit der von Spener eingeleiteten Neuorientierung der Eschatologie im lutherischen Pietismus.59 Schon im Herbst 1695, wenige Monate nach der Gründung der ersten Armenklasse in Glaucha übersandte Francke dem Berner Pietisten Samuel Schumacher einen Entwurf für eine Jugenderziehungseinrichtung, die „nicht ein in der bloßen Speculation, sonder in praxi ipsa et Experientia fundiertes Werk zu viler 1000 Menschen Bestem für das angesicht der ganzen Christenlichen Kirchen legen könnte“ 60. Fünf Jahre später hatte Francke diese Pläne unter dem Eindruck seiner sich rasant entwickelnden Anstalten zu einem umfassenden Konzept für eine Reform ausgebaut. Sein Project61, wie er es nun nannte, zielte auf eine „reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutsch-

57 Vgl. STRÄTER, 2007, S. 100-103; vgl. ALBRECHT-BIRKNER, 2004, bes. S. 18-30, S. 59-90; DEPPERMANN, 1961, S. 73-88, S. 119-140. 58 Vgl. STRÄTER, 2007, S. 89-91, S. 103f. 59 Vgl. künftig BREUL, 2012. 60 DELLSPERGER, 1984, S. 205. Der Bericht an Schumacher ist nicht erhalten. Mit der Ausrichtung auf die ganze Christenheit, der großen Zahl beteiligter Personen und der Betonung der Realisierbarkeit des Werks finden sich hier schon wesentliche Elemente von Plänen, die Francke fünf Jahre später in seiner Project-Schrift einem weiteren Kreis von Sympathisanten offenlegte. 61 „Der Begriff ‚Project‘ war omnipräsent an der Wende zum 18. Jahrhundert. Er gehört dem Wirtschaftsleben an, zunächst nicht selten mit der Konnotation des Unseriösen behaftet, die im Wort ‚Projektenmacher‘ Ausdruck findet“, STRÄTER, 2005, S. 33; vgl. DERS., 1998, S. 26-29; sowie das um 1700 weit verbreitete „Essay on Projects“ (1697) von Defoe (1661-1731), 1697; Zedler, Art. „Projectenmacher“, 1741, Sp. 784. 273

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landes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt“62. Anders als Spener fokussiert Francke seine Reform auf die Erneuerung des geistlichen Stands durch eine Ausbildungsstätte, die für alle Nationen offen ist. Ein „Universalseminar“ sollte die umfassende Reform herbeiführen. Bemerkenswert ist, dass er anders als Spener den Anfang der Reform bereits im Vollzug sieht. Ein solches Universalseminar sei keine „rem publicam Platonicam oder in bloßer Einbildung bestehende Sache“63, denn es sei „bereits ein Ort vorhanden, da ein würcklicher Anfang zu allen diesen Seminariis gemachet“64. Dieser Ort sind die Schulen und Anstalten in Glaucha und die Universität Halle, weil hier „Gott selbst mit im Werck sey“65. Diese riskante geschichtstheologische Aussage begründet Francke damit, dass sich die Anstalten aus bescheidenen Anfängen über alle menschlichen Maßstäbe hinaus entwickelt hätten. Dies zeige, dass „der lebendige Gott hieselbst zu Halle“66 gehandelt habe.

4. „Hoffnung besserer Zeiten“ „Warumb hat“ Gott „dies alles gethan“, fragt Francke, „ohne darumb, daß er die Spur gleichsahm zeiget, in welcher man seine Fußstapffen mercken und denselben einfältiglich, doch sowohl mit sorgfältiger Bewahrung des Gewißens, als christlicher Vorsichtigkeit, folgen solle“67. Francke versteht das Aufblühen der Anstalten in Halle als offene Tür (Apk 3,868), als Ansatzpunkt für die angestrebte „allgemeine Verbeßerung von der gantzen Welt“ oder der „gantzen Christenheit“ oder wenigstens der „Evangelischen Kirchen“69. Die 62 Project. Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines Pflantz-Gartens, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zugewarten, FRANCKE, 1969, S. 108-115. 63 EBD., 1969, S. 112. 64 EBD., S. 110. 65 EBD. 66 EBD., S. 5f, S. 40. 67 EBD., S. 61, 38-40. 68 „Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet“. Der Vers findet sich im Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (Apk 3,7-13), der für philadelphische Anschauungen zentralen biblischen Passage. 69 Vgl. Kap. III und V des Großen Aufsatzes (Offenherzige Nachricht), FRANCKE, 1962, S. 102-129, S. 140-155. 274

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offene Tür ist eine Aufforderung, in die „Fußstapffen Des noch lebenden… und getreuen Gottes“ einzutreten und sich für die Reform der Christenheit einzusetzen. In diesem Sinne unterbreitete Francke einem eingeweihten Kreis potentieller Förderer ein detailliertes Programm zum Ausbau der Universität, der Glaucher Anstalten und ihrer internationalen Verbindungen und schrieb es bis in sein letztes Lebensjahrzehnt fort. Die Triebfeder für dieses Reformprogramm ist nach meiner Auffassung seine Weiterführung der von Spener angebahnten neuen Eschatologie im lutherischen Pietismus. Spener hatte eine chiliastisch grundierte innerweltliche Zukunftshoffnung formuliert, die den wahren Christen in der Kirche Motivation und Horizont für ein Handeln zur Besserung der eigenen Kirche sein sollte. Johanna Eleonora Petersen hatte Speners behutsame Erneuerung der protestantischen Eschatologie forsch zu einer Lehrbildung ausgebaut, die eine individuelle Heilshoffnung auch für die Unbekehrten bedeutete, aber mit den geltenden Lehrnormen des Luthertums nicht vereinbar war. Francke nahm – nach anfänglicher Sympathie mit dem Petersenschen Modell – Speners Impuls in anderer Weise auf. Das, was Spener in der Hoffnung besseren Zustand der Kirchen hier auf Erden als Zukunftshorizont formuliert hatte, war für Francke bereits im Entstehen begriffen. Das menschliche Erwartungen übersteigende Aufblühen der Anstalten in Halle signalisierte dem aufmerksamen Christen den Anbruch der Erneuerung der Christenheit. Die Hoffnung besserer Zeiten begann sich ausgehend von Glaucha und Halle zu realisieren.70 Damit deutet sich im lutherischen Protestantismus eine veränderte Zeitwahrnehmung an. Die Hoffnung einer besseren Zeit auf Erden verlagert die Eschatologie partiell in das irdische Kontinuum hinein. August Hermann Francke zog diesen Erwartungshorizont in seine eigene Gegenwart und in seinen Erfahrungsraum und transformierte ihn in ein umfassendes Reformprogramm, dessen Realisierung er im Vollzug sah. Damit bahnt sich im lutherischen Pietismus eine Neubestimmung der Eschatologie an, die sich auf breiter Front in der protestantischen Theologie erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat.

70 Vgl. STRÄTER, 2005, S. 29f. 275

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MARKUS MEUMANN

1. Zeitgeist und genius saeculi Neben Kindergarten oder auch Blitzkrieg gehört der Terminus Zeitgeist zu den wenigen deutschen Vokabeln, die es als Lehnwörter gleich in eine ganze Reihe von europäischen Sprachen gebracht haben, und ist inzwischen über das Englische (zum Teil in neuen Ableitungen wie dem Adjektiv zeitgeisty) in den Wortschatz einer internationalen, nicht zuletzt durch das Internet verbreiteten lingua franca übergegangen.1 Dies verdankt sich indessen weniger seiner Unübersetzbarkeit – das deutsche Wort Zeitgeist in der heute üblichen Bedeutung ist selbst ein Neologismus des 18. Jahrhunderts, der auf eine Übersetzung des lateinischen genius saeculi zurückgeht – als seiner prägnanten Semantik. Zeitgeist fängt in einem Wort ein, was im Lateinischen nur in zwei und in anderen Sprachen zum Teil in drei oder mehr Wörtern auszudrücken ist: die Charakterisierung eines Zeitabschnitts, für gewöhnlich der eigenen Gegenwart, im Modus gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. Um es mit dem Artikel Zeitgeist im 1

Vgl. etwa die Seiten http://www.google.com/press/zeitgeist.html, 30.01.2012, oder http://www.zeitgeist.cc, 30.01.2012. Darüber hinaus tragen mehrere Filme und ein 2007 veröffentlichtes Album der US-amerikanischen Rockband The Smashing Pumpkins den Titel Zeitgeist. 283

Markus Meumann

Historischen Wörterbuch der Philosophie zu formulieren: „Die Rede vom Zeitgeist stellt das Denken unter den Aspekt seiner Gegenwartsbezüge.“2 Die vielfach konstatierte Zunahme dieser „Rede vom Zeitgeist“ seit dem späteren 18. Jahrhundert kann somit durchaus als Beleg für eine „Verzeitlichung der gesellschaftlichen Selbstinterpretation“3 und damit als Ausdruck einer grundsätzlichen Veränderung der Zeitwahrnehmung am Beginn der Moderne gewertet werden, wie sie vor allem von Reinhart Koselleck postuliert worden ist.4 Tatsächlich scheinen die diskursiven Konjunkturen des Zeitgeistes Kosellecks vielzitierte, seit einiger Zeit aber auch wiederholt kritisierte und revidierte These gerade auch hinsichtlich ihrer besonders umstrittenen chronologischen Bindung an die sogenannte Sattelzeit um 1800 zu bestätigen.5 Wie am Beispiel meist prominenter Autoren verschiedentlich ausgeführt wurde, ist vor allem seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, in Reaktion auf die Französische Revolution, eine merkliche Zunahme der „Rede vom Zeitgeist“ zu konstatieren.6 Seinen Siegeszug erlebte der Begriff Zeitgeist aber vor allem im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.7 Insbesondere die Verbindung mit der Geschichtsphilosophie des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, vor allem der Romantiker und Hegels, die im Zeitgeist die treibende historische Kraft erkannte, dürfte auch die internationale Karriere des deutschen Lehnwortes maßgeblich befördert haben.8 Damit nicht genug, waren sich die Zeitgenossen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Verzeitlichung ihrer gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung durchaus selbst bewusst.9 Wie Theo Jung in seinem Beitrag zu diesem Sammelband darlegt, zeigte sich beispielsweise John Stuart Mill zu Beginn der 2 3 4 5

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KONERSMANN, 2004, Sp. 1266. BRENDECKE, 1999, S. 161. Siehe vor allem KOSELLECK, 2000, wo die maßgeblichen Aufsätze noch einmal versammelt sind. Vgl. DÜMPELMANN, 1997, bes. S. 33-39; sowie JUNG, 2010. Zur Kritik an Koselleck vgl. den Beitrag von Theo JUNG in diesem Sammelband sowie mit Blick auf die Sattelzeitthese DERS., 2010, und die Beiträge in JOAS/ VOGT, 2011, S. 319-556. KEMPTER, 1990/91; STADLER, 2006, S. 268-278. Vgl. wiederum den Beitrag von Theo JUNG in diesem Band sowie KAMERBEEK, 1964, S. 203-207; KEMPTER, 1990/91, S. 73-76; STADLER, 2006, S. 279-284; VAN DER POT, 1999, S. 61-63. Vgl. KONERSMANN, 2004, Sp. 1267f.; DERS., 2006, S. 255f.; KAMERBEEK, 1964, S. 202-207; VAN DER POT, 1999, S. 62f. SCHOEPS, 1959, S. 13 zufolge soll im Jahre 1873 „der Zeitgeist als deutsches Lehnwort auch ins Englische eingedrungen“ sein. Laut SCHOEPS, 1959, S. 13 verhöhnte Johann Heinrich Voß Zeitgeist bereits 1804 „als neuaufgekommenes Modewort“.

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

1830er Jahre davon überzeugt, dass die „Rede vom Zeitgeist“ ein weitgehend neues Phänomen sei und in ihren Ursprüngen kaum weiter als fünfzig Jahre zurückreiche. Ganz im Einklang mit dieser Ansicht wird die Urheberschaft an der Wortbildung Zeitgeist auch heute noch vielfach Johann Gottfried Herder zugeschrieben. Der Weimarer Generalsuperintendent, Dichter und Kunsttheoretiker gehört neben Goethe, der sich im Faust spöttisch über den Zeitgeist äußerte, und Hölderlin, der diesem 1799 eine emphatische Ode widmete, zu den kanonischen Zeugen, wenn von der im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu beobachtenden diskursiven Etablierung des Begriffs gehandelt wird. Dabei wird zumeist auf die 1793 bis 1795 erschienenen Briefe zur Beförderung der Humanität verwiesen, in denen Herder danach fragt, was der „Geist der Zeit“ sei und diesen schließlich definiert als „die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe oder lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äussern.“10 Darüber hinaus findet sich aber ein Beleg für die Verwendung des Wortes bereits bei dem kaum 25-jährigen Herder, nämlich in dem 1769 erschienenen dritten Teil seiner Kritische Wälder betitelten Schriften zur Literatur und Ästhetik. Dort heißt es: „Und eben dieser Fortgang des stillen Wachstums, ist der auf Münzen bemerkbar? Galt hier nicht einmal für alle Herkommen, Nationalgeschmack, der bleierne Druck des Zeitgeistes?“11 – einer Reihe von etymologischen Wörterbüchern zufolge der erste Beleg der später international so erfolgreichen deutschen Vokabel Zeitgeist.12 Die bis in die neuere Literatur immer wieder kolportierte Meistererzählung von Herders Urheberschaft an der „Rede vom Zeitgeist“ ist, das sei hier gleich eingangs unmissverständlich festgehalten, nachweislich sachlich falsch und darf somit getrost in das Reich der historischen Legenden verbannt werden.13 Einmal abgesehen davon, dass sich, wie noch zu sehen sein wird, durchaus frühere Belege für das deutsche Wort Zeitgeist finden lassen und die Zuschreibung seiner Erfindung an Herder insoweit ausschließlich als unvermeidliche Konsequenz der auch der klassischen Begriffsgeschichte vor allem von Sozial10 HERDER, 1881, S. 80. Vgl. KONERSMANN, 2006, S. 253; KAMERBEEK, 1964, S. 198f.; KEMPTER, 1990/91, S. 56; STADLER, 2006, S. 268-271. 11 HERDER, 1878, S. 424. 12 DUDEN, 1999, S. 4602; PFEIFER, 1993, S. 1598. 13 KEMPTER, 1990/91, S. 54 und S. 60, geht explizit davon aus, dass „die erste Verwendung des Wortes im Werk Herders die erste im deutschen Schrifttum überhaupt“ sei. Vgl. auch VAN DER POT, 1999, S. 61; MÖLLER, 2003, S. 30; ähnlich auch BRENDECKE, 1999, S. 167f. 285

Markus Meumann

historikern mit Recht vorgehaltenen Konzentration auf den sogenannten Höhenkamm erscheint14, muss eine solche allein auf einen einzelnen Literaturbeleg gegründete Anfangskonstruktion nicht nur aus der Perspektive einer diskurslinguistisch reflektierten Historischen Semantik völlig unhaltbar erscheinen.15 Auch aus traditioneller begriffsgeschichtlicher Sicht lässt sich diese leicht mit dem Einwand vom Tisch fegen, dass, selbst wenn Herder als erster das deutsche Wort Zeitgeist benutzt – beziehungsweise präziser formuliert: verschriftlicht (denn über den mündlichen Gebrauch haben wir ohnehin keine Erkenntnisse) – haben sollte, dieses doch sowohl sprachlich als auch konzeptuell seine Herkunft aus dem deutlich älteren lateinischen Terminus genius saeculi wohl nicht verleugnen kann.16 Durchaus im Sinne dieses Einwandes kursiert seit einiger Zeit vor allem im Internet eine originelle, einer näheren Überprüfung aber ebenfalls nicht standhaltende Variante des Narrativs von Herders Urheberschaft an dem modernen Begriff Zeitgeist. Demnach soll Herder das deutsche Wort Zeitgeist nicht mehr im eigentlichen Sinn erfunden haben, sondern nur der Vater des deutschen Lexems sein, während er die Bedeutung, also das eigentliche Wesen des Begriffs, von dem älteren lateinischen Pendant übernommen habe. Diese Lesart beruft sich auf den von dem Bayreuther Zeithistoriker Hermann Joseph Hiery herausgegebenen Band Der Zeitgeist und die Historie, in dessen Einleitung sich Hiery gegen die vermeintliche Erfindung des Zeitgeistes durch Herder wendet.17 Dabei stellt er Herders schöpferische Leistung nicht allein mit sprachhistorischen Argumenten in Frage, sondern legt es darauf an, die Legende von Herders Urheberschaft an der Begriffsschöpfung auch faktisch zu falsifizieren. Anders als der niederländische Literaturwissenschaftler Jan Kamerbeek jr., der sich bereits 1964 eingehend mit Geschiedenis en problematiek van het begrip „tijdgeest“ auseinandergesetzt hat,18 oder das Historische Wörterbuch der Philosophie beschränkt sich Hiery daher nicht darauf, das seit dem frühen 17. 14 Für die von Linguisten und Historikern vor allem an den Geschichtlichen Grundbegriffen vorgebrachte Kritik siehe exemplarisch REICHHARDT, 1998. 15 Zu den methodologischen Debatten um die Historische Semantik/Begriffsgeschichte in den 1980er Jahren und zu ihrer Weiterentwicklung in Richtung einer Diskurssemantik siehe zusammenfassend EBD. Für die vor allem aus diskurslinguistischer Sicht formulierte Kritik steht exemplarisch BUSSE, 1987. 16 Vgl. KAMERBEEK, 1964; KONERSMANN, 2004; HASSINGER, 1994; VAN DER POT, 1999. 17 HIERY, 2001. Die Einleitung ist auch online publiziert unter http://www.neueste. uni-bayreuth.de/ZeitgeistEinleitung.htm, 30.01.2012. 18 KAMERBEEK, 1964. 286

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

Jahrhundert belegte lateinische Pendant genius saeculi als Vorgeschichte des Zeitgeistbegriffs zu verstehen. Vielmehr will er den Übergang von der lateinischen auf die deutsche Wendung historisch exakt dingfest machen, was ihn geradewegs zu der pointierten These führt, Herder habe die Bezeichnung zwar wohl ins Deutsche gebracht, die „Idee“ dazu aber auf unlautere Weise von einem missliebigen Konkurrenten übernommen: „Herder ist also nicht, wie es in nahezu allen etymologischen Wörterbüchern deutscher Sprache behauptet wird, der ‚Erfinder‘ des Begriffes. Herder hat das deutsche Wort geschaffen, die Idee aber hat er gestohlen eben von jenem, den er wegen seiner angeblich unselbständigen Kopiertätigkeit als Beispiel für unlauteres, unwissenschaftliches Arbeiten anprangerte: ‚jämmerlich geraubt, jämmerlich ... der kopirende Deutsche kopirt und kompilirt unordentlich, unbestimmt, mit schönem Non-sense durchstückt! O Ehre unsrer Nation und Zeiten!‘“19

Gemeint ist damit Christian Adolf Klotz, seit 1765 Professor der Beredsamkeit und Philosophie in Halle,20 „ein Gelehrter“, so die Allgemeine Deutsche Biographie, „welcher der Gegenwart fast nur durch die von überlegenen Gegnern, wie Lessing und Herder [hinzuzufügen wären noch Hamann, Heyne und Nicolai] gegen ihn geführte vernichtende Polemik bekannt ist, während er seiner Zeit eine sehr angesehene Rolle auf der litterarischen Bühne Deutschlands gespielt hat […]“.21 In der Tat kommen Herders Kritische Wälder über weite Strecken als Anti-Klotziana daher; dies gilt insbesondere für das Dritte Wäldchen, in dem sich Herder mit einer numismatischen Schrift Klotz‘ auseinan-

19 HIERY, 2001, S. 1. 20 Zu Klotz siehe JAUMANN, 2004, S. 370f.; KERTSCHER, 2008, S. 304-306. 21 BURSIAN, 1882, S. 228. Zur diskursiven Ausschließung Klotz‘ durch Lessing und Herder vgl. auch JAUMANN, 2004, S. 370: „Die Germanistik hat zur Erforschung u. kritischen Aufklärung dieses Falles bis heute nichts geleistet, keines seiner Werke wurde je genauer untersucht. Klotz ist ein ‚Opfer‘ der ebenso infantilen wie opportunistischen Neigung der germanistischen Nationalphilologie, sich mit den Autoren, die sich als kanonische Größen durchgesetzt haben, auch noch zu identifizieren. In diesem Fall kann man beobachten, wie sie einen Autor über das Grab hinaus mit behaglichem Sadismus verfolgt hat, nur weil er von seinen Rivalen Herder u. Lessing (als diese längst noch keine Klassiker waren) aus verständlichem Konkurrenzneid attackiert worden war.“ Zu Klotz und Hamann siehe BAUR, 1991, S. 82-90. 287

Markus Meumann

dersetzt und in dem sich erstmals der Terminus Zeitgeist findet. Hiery schreibt dazu: „Herder richtet seine Kritik vor allem gegen [Klotz‘] Versuch, in numismatisch-historischer Weise aus der Geschichte von Münzen auf den Volkscharakter zu schließen, und [Zitat Herder] ‚aus den Münzen gleichsam eine Geschichte des Geschmacks und der Künste zusammenzusetzen, und ihre Blüthe, oder ihren Verfall aus denselben zu beurtheilen‘. Die Eigenheit einer besonderen Epoche mit Hilfe von zeitübergreifenden Instrumentarien und Meßkriterien aufzuspüren, war anscheinend ein besonderes Anliegen von Klotz. Hierzu hatte er ein größeres Werk, den ‚genius seculi‘ verfaßt. ‚Genius seculi‘ ist um 1760 in Altenburg erschienen und beschreibt in 190 Seiten genau das, was Herder als ‚Zeitgeist‘ begreift und was wir auch noch heute darunter verstehen: die Eigenart einer bestimmten Epoche, bzw. den Versuch, uns diese zu vergegenwärtigen.“22

So schlüssig diese Beweisführung auf den ersten Blick erscheinen mag – wie sonst ließe sich ihr fulminanter Erfolg im World Wide Web erklären?23 –, als so haltlos erweist sie sich bei näherer Betrachtung. Ganz davon abgesehen, dass Hiery, indem er den faktischen Nachweis zu führen sucht, dass Herder mit seiner Verwendung des Wortes Zeitgeist 1769 nichts Originelles geschaffen habe, letztlich nur die aus sprachwissenschaftlicher Sicht äußerst problematische Fokussierung auf Herders Urheberschaft an der Entstehung des deutschen Wortes Zeitgeist verstärkt und damit letztlich das Gegenteil seiner Intention bewirkt, enthält seine Argumentation auch hinsichtlich Herders Auseinan-

22 HIERY, 2001, S. 1. 23 Im Artikel Zeitgeist der deutschen Wikipedia heißt es in Anlehnung an Hiery: „Als Begriffsschöpfer gilt der Dichter und Philosoph Johann Gottfried Herder, der erstmals 1769 in seiner in Riga erschienenen Schrift Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften vom ‚Zeitgeist‘ schrieb. In diesem Werk polemisierte Herder gegen den Philologen Christian Adolph Klotz und dessen Schrift genius seculi, die um 1760 in Altenburg erschienen war. In seinem Werk hatte sich Klotz bemüht, zeitübergreifende Instrumentarien und Messkriterien zu entwickeln, um die Eigenheit einer besonderen Epoche aufzuspüren.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Zeitgeist, 30.01.2012. Ähnlich die englischsprachige Wikipedia: „In 1769 Herder wrote a critique of the work Genius seculi by the philologist Christian Adolph Klotz and introduced the word Zeitgeist into German as a translation of genius seculi.“ http://en.wikipedia.org/wiki/Zeitgeist, 30.01.2012. 288

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

dersetzung mit Klotz Ungenauigkeiten und sachliche Fehler, die seine Schlussfolgerungen mehr als fragwürdig erscheinen lassen. Anders als es die zitierte Passage nahelegt, richtete sich Herders Polemik im Dritten Wäldchen nämlich gerade nicht gegen Klotz‘ Genius Seculi, sondern gegen dessen 1767 erschienenen Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen. Darin findet sich freilich weder die Formulierung genius saeculi noch gar irgendeine Form von „Zeitgeist-Beschreibung“. Zwar hatte sich Herder zwei Jahre früher in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur auch mit Klotz‘ Genius Seculi auseinandergesetzt; dort ist die Rede indes noch nicht vom Zeitgeist, sondern vom „Sekulargeist“ beziehungsweise vom „Geist der Zeiten“.24 Vor allem aber handelt es sich bei Klotz‘ Genius Seculi keineswegs, wie Hiery meint, um den Versuch, „[d]ie Eigenheit einer besonderen Epoche mit Hilfe von zeitübergreifenden Instrumentarien und Meßkriterien aufzuspüren“, sondern um eine satirische Schrift, in der Klotz in zwölf einzelnen „Satyren“ die Unarten seiner Zeit aufspießt und den Verlust von Bildung und Kultur beklagt. Darüber hinaus weist Hierys These aber auch offensichtliche argumentative Schwächen und logische Brüche auf: Zum einen macht Hiery nämlich selbst darauf aufmerksam, dass die lateinische Version des „Begriffs […] in der Frühneuzeit fest etabliert“ war und „sich jedenfalls lange vor Klotz“ findet, was doch mindestens theoretisch die Möglichkeit impliziert, dass Herder vor seiner Kritik bereits anderweitig mit dem Ausdruck beziehungsweise den damit verbundenen Bedeutungen in Berührung gekommen sein konnte. Der Vorwurf des geistigen Diebstahls beruht insoweit allein auf einem – obendrein fehlerhaften – Syllogismus: Herder verunglimpft Klotz, Klotz hat über den genius saeculi geschrieben, also muss Herder den Begriff Zeitgeist von Klotz gestohlen haben. Zum anderen bezieht sich Herder im Dritten Wäldchen nicht nur nicht auf Klotz‘ Genius Seculi, sondern verwendet darüber hinaus den Terminus Zeitgeist eben gerade nicht in dem später geläufigen Sinn.25 Vielmehr verstand Herder darunter an dieser Stelle offensichtlich geradezu das genaue Gegenteil von dem, was später darunter verstanden werden würde. Herder stellte nämlich Klotz‘ Ausgangspunkt, dass die Entwicklung des Ge24 KEMPTER, 1990/91, S. 53f. Auch Kempter insinuiert an dieser Stelle, dass Herder letztlich durch die Auseinandersetzung mit Klotz‘ Genius Seculi auf die Wortbildung Zeitgeist gekommen sei, allerdings unter Bemühung des Umweges über den „Sekulargeist“ und ohne Herder des Plagiates zu bezichtigen. Gleichwohl mag hier der Ausgangspunkt für Hierys zugespitzte These zu suchen sein. 25 Vgl. dazu auch KONERSMANN, 2004, Sp. 1267. 289

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schmacks einer Nation an der Geschichte der Gestaltung von Münzen abgelesen werden könne, mit dem Einwand in Frage, dass etablierte Traditionen die Gestaltung der Münzen zu sehr beeinflussten und auf ihnen daher das „Joch des Jahrhunderts“ laste. Die wesentlichen Entwicklungen der Zeit – also das, was später hauptsächlich mit dem Ausdruck Zeitgeist bezeichnet werden würde – kämen deshalb gerade auf Münzen nur sehr verzögert zum Ausdruck, bis dahin beherrsche diese, wie bereits zitiert, „Herkommen, Nationalgeschmack, der bleierne Druck des Zeitgeistes“. Das lateinische genius saeculi, wie es im 17. und frühen 18. Jahrhundert geläufig war, meint demgegenüber bis zu einem gewissen Grad tatsächlich dasselbe wie der spätere Ausdruck Zeitgeist: nämlich den unverwechselbaren Charakter eines bestimmten Zeitabschnitts. Die These, Herder habe den Begriff beziehungsweise die Idee des Zeitgeistes von Klotz gestohlen, muss angesichts dieser offensichtlichen Fehleinschätzungen fraglos genauso unsinnig erscheinen wie die Behauptung, das deutsche Wort Zeitgeist sei überhaupt erstmals bei Herder belegt. Zugleich erweist sich damit die Suche nach dem begriffsgeschichtlichen Ursprung eines Konzeptes – ganz im Sinne der schon gegen die Historischen Grundbegriffe vorgebrachten Kritik26 – einmal mehr als erkenntnistheoretische und methodologische Aporie, die im besten Fall zu nichts anderem als der Konstruktion einer neuen Ursprungslegende führen kann. Ich werde mich daher im Folgenden auch nicht etwa darauf kaprizieren, nun meinerseits eine neue oder gar wahre Version von der Entstehung des Zeitgeistes aus dem genius saeculi vorlegen zu wollen. Überhaupt geht es mir, wenn im Weiteren vom genius saeculi die Rede sein soll, anders als der bisherigen Literatur nicht primär darum, eine Vor- oder „Frühgeschichte“27 des Zeitgeistbegriffs zu zeichnen, muss eine solche doch wegen der ihr inhärenten Teleologie letztlich immer zu einer semantischen Verkürzung führen. Stattdessen werde ich mich, ganz im Sinne der von Achim Landwehr in der Einleitung zu diesem Band betonten Konzentration auf die Funktionalisierung von Zeitund Geschichtskonzepten, der Frage zuwenden, in welchen Kontexten die Vorstellung vom genius saeculi – und eben nicht nur der Begriff im Sinne einer expliziten sprachlichen Nennung – vor 1760/70 zum Tragen kam und wie verbreitet diese war. Zu diesem Zweck werde ich vorderhand skizzieren, was unter der Bezeichnung genius saeculi seit ihrem mutmaßlichen Aufkommen im frühen 17. Jahrhundert verstanden beziehungsweise was damit gemeint 26 Vgl. BUSSE, 1987. 27 Siehe den Titel bei KEMPTER, 1990/91. 290

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

wurde, um sodann vor allem einigen bislang weniger ausgeleuchteten Wegen und Verbindungen nachzugehen, auf denen die Vorstellung vom 17. in das 18. Jahrhundert tradiert wurde. Besonderes Augenmerk gilt daher neben der expliziten Verwendung des Terms in kulturellen und historiographischen Reflexionsdiskursen, die thematisch im weitesten Sinne dem als Querelle des anciens et des modernes bekannten Debattenkontext zugerechnet werden können, dessen eher impliziter Operationalisierung im Rahmen didaktisch-mnemonischer (also weniger begriffs- als vielmehr wissensgeschichtlich relevanter) Techniken und Praktiken sowie insgesamt der Zeit um 1700, die meines Erachtens in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt. Dies wird zum einen zeigen, dass die Vorstellung eines unverwechselbaren Charakters historischer Zeitabschnitte bereits deutlich vor dem späten 18. Jahrhundert sehr viel geläufiger war als bisher angenommen, und damit gleichsam nebenbei auch ein neues Licht auf die Etablierung des deutschen Lexems Zeitgeist – und somit auch die Zusammenhänge zwischen Klotz und Herder – werfen, ohne dass damit jedoch der Anspruch erhoben würde, dazu nun die richtige oder gar endgültige Version vorgelegt zu haben. Zum anderen wird deutlich werden, dass dem Konzept eines genius saeculi neben der historiographischen beziehungsweise geschichtsphilosophischen Dimension von Anfang an auch der Aspekt der kritischen Zeitdiagnose oder Kulturkritik, wie er später prominent bei Herder hervortritt,28 immanent war und in dessen Verwendungen somit also bereits seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem aber in der Zeit um 1700, deutliche Ansätze zur Verzeitlichung gesellschaftlicher Selbstbeobachtung sichtbar werden. Im Anschluss daran bleibt schließlich die Frage, ob genius saeculi in seinen vielfältigen Verwendungsweisen im späteren 18. Jahrhundert eigentlich zur Gänze im Zeitgeistbegriff aufgeht.

2. Vom Geist der Zeit zum Geist des Jahrhunderts: genius saeculi als historiographisches Konz ept Die Entstehungsgeschichte des Zeitgeistbegriffs ist, wie schon erwähnt, bereits zu wiederholten Malen behandelt worden und kann daher zumindest in ihren Grundzügen als bekannt gelten. Demnach verdankt sich die Vorstellung eines Geistes der Zeit im Sinne einer spezifischen Epochenidentität „dem frühneu28 Vgl. dazu KONERSMANN, 2006, S. 253f.; STADLER, 2006. 291

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zeitlichen Bemühen um die Identifikation und qualitative Bestimmung geschichtlicher Zeitabschnitte“29 im Rahmen der historiographischen Reflexionen des sogenannten Späthumanismus um 1600.30 Ideen- beziehungsweise begriffsgeschichtlich betrachtet, „rückt die Begriffsgenese [damit] in die Vorgeschichte des Historismus ein.“31 Eine Vorreiterrolle spielt dabei offensichtlich Westeuropa, wo sich bereits im 16. Jahrhundert entsprechende Überlegungen bei Louis Le Roy und anderen finden32 und wo schließlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch der Zeitgeistbegriff entstanden sein soll. Dabei sollen ausweislich der vorherrschenden Darstellung der Philosoph und Politiker Francis Bacon sowie der Schriftsteller John Barclay nahezu gleichzeitig, allerdings mit unterschiedlichen lateinischen Wendungen, den Begriff Zeitgeist geprägt haben.33 Geht man dem im Einzelnen nach, finden sich allerdings sowohl hinsichtlich des genauen Wortlautes wie auch hinsichtlich des ersten Beleges teilweise ungenaue beziehungsweise widersprüchliche Angaben in der Literatur, so dass es sinnvoll erscheint, darauf an dieser Stelle etwas näher einzugehen, um Unrichtiges zu korrigieren und zugleich die Entstehung der Wendung genius saeculi näher zu beleuchten.

2.1 Der Geist der Zeit bei Barclay und Bacon Folgt man der materialreichen und philologisch nach wie vor sorgsamsten Darstellung Jan Kamerbeeks aus den 1960er Jahren, findet sich der Begriff Zeitgeist erstmals in John Barclays 1614 in London erschienenem Icon animorum, einer Charakteristik der europäischen Völker.34 Barclay, der als Sohn eines Vaters aus alter schottischer Familie und einer lothringischen Mut29 30 31 32

KONERSMANN, 2004, Sp. 1266. Zum sog. Späthumanismus vgl. KÜHLMANN, 1982. KONERSMANN, 2004, Sp. 1266. KAMERBEEK, 1964, S. 191-194, sowie HASSINGER, 1994, S. 20 und S. 145. Hassinger erwähnt darüber hinaus auch Bodin (EBD., S. 143) und La Popelinière (EBD., S. 20-35). Zu Bodin vgl. auch KÜHLMANN, 1982, S. 123. Hassinger zufolge erwähnte George Hakewill in seiner Apologie von 1627/30 neben Barclay auch Bodin („With Bodin doth Barclay fully accord, omnia saecula (sayth hee) genium habent […].“), er (Hassinger) habe aber die Stelle bei Bodin nicht auffinden können (HASSINGER, 1994, S. 143 und S. 216, Anm. 20). Möglicherweise meinte Hakewill aber auch nicht Bodin, sondern Baudouin? 33 KAMERBEEK, 1964, S. 192-194; HASSINGER, 1994, S. 143f.; KONERSMANN, 2004. Sp. 1266. 34 Zum Inhalt siehe BECKER, 1904, S. 74-88.

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ter in Frankreich aufgewachsen war, wo sein Vater als Professor der Rechte lehrte,35 war bereits zehn Jahre zuvor mit dem ersten Teil seines autobiographisch geprägten, bis ins 18. Jahrhundert hinein viel gelesenen Romans Euphormio36 hervorgetreten. Zu diesem Roman stellte Icon animorum offensichtlich eine Art Fortsetzung dar. Barclay schrieb darin den später berühmt gewordenen Satz: „Nam omnia saecula genium habent, qui mortalium animos in certa studia solet inflectere“ („Denn alle Jahrhunderte/Zeitalter haben einen eigenen Geist, der die Geister der Sterblichen zu gewissen Studien zu neigen pflegt“).37 Neben der wirkungsgeschichtlich dominanten Wendung genius saeculi, die, wie noch zu sehen sein wird, in den folgenden anderthalb Jahrhunderten weitgehend exklusiv mit Barclays Namen verbunden werden sollte, finden sich in Icon animorum allerdings auch die sinnverwandten Formulierungen genius aetatis beziehungsweise genius animis et temporibus illis aptum.38 Wie genius saeculi bezeichnen auch diese den besonderen Charakter, der verschiedene Zeitalter voneinander unterscheidet und der auf „varia ingenia ac studia“ der Menschen zurückzuführen sei.39 Eine ganz ähnliche Vorstellung begegnet dem Leser in Francis Bacons neun Jahre später erschienener, als „Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften und Künste“40 konzipierter Schrift De dignitate et augmentis scientiarum (1623). Bacon trägt darin die „Forderung nach einer ‚historia litterarum et artium‘ als unentbehrlicher Teildisziplin“41 zur Vervollkommnung der Historie vor. Diese müsse in einer Weise geschrieben werden, „dass der literarische Geist des bezüglichen Zeitalters (genius illius temporis literarius) wie durch 35 Zu Barclay siehe EBD.; HASSINGER, 1994, S. 38f. 36 Zur Charakterisierung und zur Aufnahme des Romans beim Publikum siehe HASSINGER, 1994, S. 38; eine ausführliche Inhaltsangabe des Euphormio findet sich bei BECKER, 1904, S. 37-50. 37 Zitiert nach KAMERBEEK, 1964, S. 194 (Übersetzung MM). Vgl. HASSINGER, 1994, S. 144f. 38 Folgt man dem Artikel Zeitgeist im Historischen Wörterbuch der Philosophie, der sich dabei auf Hassinger beruft, sollen sich diese Formulierungen bereits im Euphormio finden; meines Erachtens handelt es sich dabei aber um einen Lesefehler. Vgl. KONERSMANN, 2004, Sp. 1266 und 1269, Anm. 5. 39 HASSINGER, 1994, S. 144. Vgl. auch KAMERBEEK, 1964, S. 195. Die Verwendung des Ausdrucks ingenium in diesem Zusammenhang deutet darauf hin, dass sich Barclays Wendung genius saeculi wahrscheinlich der Lektüre antiker Texte verdankt, in denen von den saeculi ingenia die Rede ist, etwa bei Quintilian oder in der Historia Romana des Historikers Velleius Paterculus. 40 KONERSMANN, 2004, Sp. 1266. 41 HASSINGER, 1994, S. 40 (Hervorhebung im Original). 293

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einen Zauberspruch wieder zum Leben erweckt wird“,42 und zwar nicht etwa allein durch das Lesen der vornehmsten Werke, sondern durch das Wahrnehmen und Prüfen von Argument, Stil und Methode.43 In der Literatur wird gelegentlich der Eindruck erweckt, Bacon habe diese Formulierung bereits 1605 in einer ersten, in englischer Sprache erschienenen Auflage von De augmentis verwendet, und sei daher als der eigentliche Urheber des Zeitgeistbegriffs anzusehen.44 Bei dieser Schrift mit dem Titel The advancement of learning handelt es sich jedoch eher um eine Vorfassung als eine erste Auflage von De augmentis, von der sie sich denn auch deutlich unterscheidet.45 Wohl findet sich darin, wie wiederum bereits Kamerbeek ausgeführt hat, die Vorstellung einer Entsprechung aller Kulturgebiete im Sinne einer Epochenidentität, diese wird jedoch von Bacon als „concurrence or near sequence in times“ bezeichnet46 – wahrscheinlich in direkter Anlehnung an den eben erwähnten Louis Le Roy und dessen Schrift De la Vicissitude ou Variete des choses en l‘Univers, et concurrence des armes et des lettres par les premieres et plus illustres nations du monde.47 Eine wie auch immer geartete Formulierung, die im Deutschen als Geist der Zeit oder gar als Zeitgeist zu übersetzen wäre, kommt darin jedoch nicht vor. Dasselbe gilt für das 1604 erschienene erste Buch von Barclays Euphormio, das ebenfalls gelegentlich als erster Beleg für den Begriff Zeitgeist genannt wird. Der darin von Erich Hassinger in seiner erstmals 1978 erschienenen Studie Empirisch-rationaler Historismus aufgespürte Zeitgeist verdankt sich wohl allein der Übersetzung von Gustav Waltz aus dem Jahre 1902, die Hassinger – übrigens ohne genauen Beleg – als einzige Quelle anführt, und ist insofern eher ein Zeugnis für die neuerliche Konjunktur des Zeitgeistes vor dem Ersten Weltkrieg.48 Im Euphormio 42 VAN DER POT, 1999, S. 60f. Vgl. auch KAMERBEEK, 1964, S. 191. 43 Die Formulierung bei Bacon lautet: „[…] ut ex eorum non perlectione […] sed degustatione, et observatione argumenti, styli, methodi, genius illius temporis literarius, veluti incantatione quadam, a mortuis evocetur.“ BACON, 1819b, S. 128. 44 Vgl. VAN DER POT, 1999, S. 60f. Auch das Historische Wörterbuch der Philosophie lässt den Eindruck entstehen, De augmentis sei bereits 1605 erstmals erschienen (KONERSMANN, 2004, Sp. 1269, Anm. 8). 45 Vgl. HASSINGER, 1994, S. 120. 46 BACON, 1819a, S. 13. 47 KAMERBEEK, 1964, S. 192f. Le Roys Schrift war 1594 in englischer Übersetzung erschienen: HASSINGER, 1994, S. 145. 48 BARCLAY, 1902, S. 7. Dort heißt es, „[…] daß der Zeitgeist manches ganz im Stillen abschafft, was unsre Vorfahren durch Gesetze, die sie für alle Zukunft gaben, der Welt empfohlen haben.“ Vgl. HASSINGER, 1994, S. 143. Auch die verschiedenen lateinischen Wendungen aus Barclays Icon wie genius saeculi und genius 294

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selbst ist dagegen nicht vom Zeitgeist die Rede, sondern vom „mutata hominum mens“, also dem „gewandelten Sinn der Menschen“.49 Es bleibt damit wohl dabei, dass das Konzept eines genius saeculi (und damit auch der Zeitgeistbegriff, wenn man diesen denn in einer lateinischen Entsprechung dingfest machen will), explizit zum ersten Mal 1614 in Barclays Icon animorum greifbar wird. Da sich Barclay bereits 1603/04 in London aufhielt, wohin sein Vater nach der Thronbesteigung Jakobs I., vormals Jakob VI. von Schottland, zurückgekehrt war und wo auch der erste Teil des Euphormio erschien, ist nicht auszuschließen, dass der junge Barclay hier beziehungsweise am gelehrten Hof in Westminster mit Bacon und dessen Idee einer Entsprechung der Kulturgebiete in Kontakt gekommen sein könnte und sich seine Vorstellung von einem genius saeculi im Sinne einer Epochenidentität zehn Jahre später diesem Austausch verdankt, somit letztlich also ebenfalls an Le Roy anschließt, wie Hassinger vermutet.50 Einen positiven Nachweis dafür gibt es freilich nicht, so dass dies letztlich im Bereich der Spekulation verbleiben muss. Zugleich ist grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass sich Vorstellungen von einer qualitas temporum beziehungsweise einer qualità dei tempi im Sinne eines spezifischen Handlungskontextes, den es zu erkennen gilt – auch wenn dieser eher auf die aktuelle politische Situation gemünzt ist als auf die spezifische Gestimmtheit einer historischen Epoche –, bereits bei Wilhelm von Ockham und Niccolò Machiavelli finden.51 Und auch in der Historiographie finden sich bereits lange vor Barclay und Bacon Ansätze, die Geschichte in qualitativ voneinander abgegrenzte Abschnitte zu gliedern, von den antiken Weltaltern, auf die noch einzugehen ist, und der Vier-Reiche-Lehre bis hin zu den fünf aetates, in die Philipp Melanchthon 1548 die Kirchengeschichte einteilte.52 Es ist daher nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob, und wenn ja, woher beziehungsweise von wem Barclay Anregungen erhalten haben mag. Fest steht indes, dass Barclay in den diesbezüglichen historiographischen beziehungsweise geschichtsphilosophischen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle einnimmt – und zwar noch vor Bacon, trotz des-

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aetatis werden von Waltz unterschiedslos mit Zeitgeist wiedergegeben, vgl. KEMPTER, 1990/91, S. 60. BARCLAY, 1606, S. 12: „Sed ignari non estis, Adolescentes, mutata hominum mente, plerumq; velut tacitis abrogate suffragiis, quae majores nostri tamquam mansuris legibus commendabant.“ (Übersetzung MM). HASSINGER, 1994, S. 145. MIETHKE, 1974, S. 288f.; DIETL, 2009, S. 11-16. Zu Melanchthon siehe POHLIG, 2007, S. 109. 295

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sen aus heutiger Sicht unzweifelhaft größerer Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte. Ursächlich dafür dürfte, neben der prägnanten Formulierung genius saeculi, der enorme schriftstellerische Erfolg von Barclays neulateinischer Prosa im 17. und zum Teil auch noch im 18. Jahrhundert gewesen sein.53 So erschienen allein von Icon animorum im Lauf des 17. Jahrhunderts „mehrere Dutzend Auflagen, größtenteils Übersetzungen in fast alle europäischen Nationalsprachen“, darunter 1649 und 1660 auch ins Deutsche.54 Als Folge verbreitete sich das Konzept eines genius saeculi über den Kontinent und war spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in mehreren europäischen Ländern und Sprachen geläufig, zuerst wohl im Französischen. 1630 schrieb Gabriel Naudé in seiner Addition à l‘histoire de Louis XI, übrigens einer „historia litterarum et artium“ im Sinne Bacons, über einige berühmte Gelehrte, diese hätten „surpassé en politesse, doctrine et bonnes conception le génie de leurs siècles“.55 1653 stellte dann der französische Kapuzinermönch Zacharie de Lisieux unter dem Pseudonym Petrus Firmianus erstmals eine Schrift ganz unter den Titel Saeculi Genius, wobei er die Wendung genius saeculi in satirischer Absicht zur Beschreibung seiner Zeitgenossen benutzte und zugleich einer kritischen Befragung unterzog.56 Und 1668 forderte der im englischen Exil lebende Militär und Essayist Saint-Évremond (Charles de Marguetel de Saint-Denis, seigneur de Saint-Évremond),57 der sich in den 1650er und 1660er Jahren in mehreren Schriften mit historiographischen Problemen auseinandersetzte, in seiner Dissertation sur le grand Alexandre: „Ceux qui veulent representer quelques Heros des vieux siècles, doivent entrer dans le génie de la nation dont il a esté, celuy du temps, dont il a vécu […].“58 Im selben Jahr 1668 konstatierte auch der englische Schriftsteller und Literaturkritiker John Dryden: „every age has a kind of universal genius, which inclines those that live in it”.59 53 Zu den Auflagen und Übersetzungen der beiden Romane Euphormio und Argenis siehe BECKER, 1904, S. 113f. 54 HASSINGER, 1994, S. 39; vgl. KEMPTER, 1990/91, S. 60. 55 Zitiert nach HASSINGER, 1994, S. 92f. (Hervorhebung im Original). 56 Siehe dazu den Aufsatz von Theo JUNG in diesem Sammelband. 57 Zur Person Saint-Évremonds vgl. HASSINGER, 1994, S. 42. 58 Zitiert nach EBD., S. 156 („Diejenigen, welche einen Helden vergangener Jahrhunderte darstellen wollen, müssen in den Geist der Nation, zu der er gehörte, und den der Zeit, in welcher er lebte, eintreten […].“ Übersetzung MM). An anderer Stelle heißt es bei Saint-Évremond in wortgetreuer Wiedergabe Barclays: „Tous les Tems ont un Caractére qui leur est propre […].“ 59 John Dryden, An Essay of Dramatick Poesie, zitiert nach KAMERBEEK, 1962, S. 27. 296

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Im deutschen Sprachraum findet sich der früheste bislang bekannte Beleg 1650 bei Isaak Leickher, der „den genius saeculi für den Wechsel der Zeiten verantwortlich“ macht.60 Rund 30 Jahre später schrieb Daniel Georg Morhof im Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682) in deutlicher Anlehnung an Barclay: „Es hat über dem ein jegliches saeculum seinen sonderlichen Genium, der sich wie in allen Dingen / so auch in Wissenschaften und Künsten hervortut / welchem niemand mit seinem eignen Witz zu wiederstreben [!] vermag.“61 Und wieder zehn Jahre später heißt es mit einer ganz ähnlichen Formulierung in Wilhelm Ernst Tentzels Monatlichen Unterredungen einiger guter Freunde von allerhand Büchern und anderen annehmlichen Geschichten, „ein iedwedes saeculum habe einen genium oder neigung, indem bisweilen alles von kriegsflammen brennet, bisweilen in ruhe sitzet”.62 Regelrecht Konjunktur hatte der genius saeculi aber vor allem seit der Wende zum 18. Jahrhundert im Zusammenhang der Querelle des anciens et des modernes, die nicht nur für die französische, sondern gerade auch für die weitere deutsche Rezeption von Barclays Konzept – und damit, wie noch zu zeigen sein wird, auch für die Entstehung des deutschen Wortes Zeitgeist – eine kaum zu überschätzende Rolle spielte.63

2.2 Die Querelle und der Geist des Jahrhunderts Die vorliegenden Ausführungen zum Zeitgeistbegriff ziehen meist von seiner Frühgeschichte bei Barclay und Bacon eine mehr oder weniger direkte Linie zu Herder und den Zeitgeist-Debatten des späten 18. Jahrhunderts. Dies ist insoweit plausibel, als Herders späteren Einlassungen aus den 1790er Jahren zufolge der Zeitgeist genau wie Barclays genius saeculi „die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Zeitalters hervorheben helfen“64 sollte. Darüber hinaus darf wohl definitiv davon ausgegangen werden, dass Herder Barclays Aus60 KAPITZA, 1981, S. 399. 61 Zitiert nach SCHMIDT-DENGLER, 1978, S. 294, Anm. 93 (Hervorhebung im Original). 62 Der Hinweis auf Tentzel findet sich bei KAMERBEEK, 1962, S. 27, der dabei seinerseits auf den Artikel Genie im Grimm‘schen Wörterbuch zurückgegriffen hat. Dort wiederum heißt es, die Formulierung sei bei Tentzel „im berichte über eine flugschrift des Thomasius, also ganz abstract“ verwendet worden. GRIMM, 1897, Sp. 3401. 63 Zum genius saeculi im Kontext der deutschen Querelle siehe KAPITZA, 1981, S. 399-408. 64 KONERSMANN, 2004, Sp. 1266. 297

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führungen zum genius saeculi kannte, da er 1769 nicht weniger als drei Ausgaben von Icon animorum besaß,65 was nebenbei bemerkt einmal mehr die Unhaltbarkeit der These, Herder habe den Begriff Zeitgeist von Klotz gestohlen, vor Augen führt. Eine solche ausschließlich auf den Zeitgeistbegriff und dessen vermeintliche Entstehung im späten 18. Jahrhundert fokussierte Wanderung durch die „Gipfelregionen der Geisteswelt“66 birgt allerdings das Problem, dass nahezu zwangsläufig die Bedeutung wichtiger Entwicklungen aus den dazwischen liegenden anderthalb Jahrhunderten übersehen wird. So waren, wie Irene Polke in ihrer Studie zum Hellenismusbild Heynes und Herders gezeigt hat, nämlich für Herder wichtiger noch als Barclay die Schriften Saint-Évremonds,67 in denen dieser Erich Hassinger zufolge die Kategorie des Geistes der Zeit als hermeneutisches Konzept im Sinne des Historismus – jedes Zeitalter hat seinen Charakter und seinen eigenen Wert – weiter entwickelte. Dass darüber hinaus sowohl Barclay als auch Saint-Évremond im späteren 18. Jahrhunderts auch über Herder hinaus im deutschen Sprachraum rezipiert wurden, zeigt sich daran, dass Icon animorum 1784 zusammen mit Saint-Évremonds Beobachtungen über die verschiedenen Charaktere der Römer in den verschiedenen Zeitaltern ihres Standes nochmals in deutscher Übersetzung erschien.68 Ins 18. Jahrhundert vermittelt und zugleich weiterentwickelt wurden Barclays und Saint-Évremonds Überlegungen aber vor allem durch die Querelle des anciens et des modernes, auf deren Einfluss auf den Wandel der Zeitkonzepte in der Frühen Neuzeit Arndt Brendecke in seiner Arbeit über die Jahrhundertwenden nachdrücklich hingewiesen hat.69 Diese begann nach üblicher Lesart mit der Sitzung der Académie française vom 27. Januar 1687, in der der Schriftsteller und vormalige Akademiesekretär Charles Perrault ein selbstverfasstes Poème sur le siècle de Louis le Grand zu Ehren Ludwigs XIV. vortrug.70 Darin verglich er die eigene Gegenwart, eben das siècle de Louis le Grand, mit dem beau siècle d‘Auguste als dem Höhepunkt der römischen Antike, was am bis dahin stillschweigend akzeptierten Konsens hinsichtlich der 65 POLKE, 1999, S. 217, Anm. 2. 66 KONERSMANN, 2006, S. 248. 67 „Nicht nur Barclay, sondern auch Saint-Evremond war Herder also bekannt….“ POLKE, 1999, S. 218 Anm. 13. Auf die Bedeutung Barclays und Saint-Évremonds für Herder verweist auch KEMPTER, 1990/91, S. 59f. 68 HASSINGER, 1994, S. 199, Anm. 116; POLKE, 1999, S. 217, Anm. 2. 69 BRENDECKE, 1999, S. 130-133. 70 EBD., S. 130. 298

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Überlegenheit der antiken Kultur rüttelte und deshalb eine erbitterte Kontroverse auslöste, die rund 25 Jahre anhielt und als battle of the books auch in England sowie mit einiger zeitlicher Verzögerung auch in Deutschland ihren Widerhall fand.71 Diese bis in die 1730er Jahre anhaltende Diskussion über die Vorzüge der Alten vor den Neuen, die in Deutschland unter anderem von den Halleschen Frühaufklärern wie Thomasius und Gundling sowie von Gottsched geführt wurde, bildet ihrerseits gleichsam den Vorlauf zu den Debatten um den Charakter der antiken Kunst, in die Herder und Klotz, der eine Reihe von Schriften über antike Autoren veröffentlicht und frühen Ruhm als „lateinischer Gottsched“72 genossen hatte, mehrere Jahrzehnte später verwickelt waren. Nicht zufällig spielten in diesem diskursiven Kontext schon seit dem frühen 17. Jahrhundert geläufige Vergleichs- beziehungsweise Bewertungskategorien wie der Geist oder Geschmack einer Zeit eine entscheidende Rolle.73 Denn obwohl Perraults Gedicht oberflächlich zunächst auf Herrscherlob zielte und er 1696/1700 tatsächlich eine Anthologie der berühmten Männer des 17. Jahrhunderts veröffentlichte, geht es in der Querelle – anders als in der Geschichtsmnemonik – nicht mehr vorrangig um die Taten der Könige und Kaiser, sondern wie in der Klotz-Herder-Kontroverse um kulturelle Leistungen. Darüber hinaus ist die Querelle aber gerade auch für die Operationalisierungen des genius saeculi von eminenter Bedeutung, indem sie nämlich den Akzent von der historiographischen Kategorie, also dem Vergangenheitsbezug, der bei Bacon und Barclay dominant ist, hin zur Gegenwartsbestimmung verschiebt, die ja auch in der späteren „Rede vom Zeitgeist“ vorrangig zum Ausdruck kommt. Diese Gegenwartsdiagnose manifestiert sich nicht nur im diachronen Kulturvergleich, der gewissermaßen per se eine Gegenwartsbestimmung impliziert, sondern wird auch in dem in der Querelle zentralen Term saeculum beziehungsweise siècle sichtbar. Dessen Semantik, im Französischen bis heute doppelt konnotiert, schwankt dabei schon seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen den beiden Bedeutungen Zeitalter und Jahrhundert.74 71 Zur Querelle im deutschen Sprachraum siehe KAPITZA, 1981. 72 JAUMANN, 2004, S. 370. 73 Vgl. KEMPTER, 1990/91, S. 53. Bereits in den 1620er Jahren hatte François Ogier in seiner Vorrede zu Jean de Schelandres Drama Tyr et Sidon die Frage nach dem Vorzug der Alten gestellt, wobei er feststellte, dass jede Zeit ihren eigenen „goust“ (Geschmack) habe. Vgl. HASSINGER, 1994, S. 146. 74 Nach STADTMÜLLER, 1951, bildete sich die Bedeutung Jahrhundert seit dem Spätmittelalter im humanistischen Neulatein heraus und trat neben die bis dahin alleinige Bedeutung Zeit- beziehungsweise Weltalter; um 1600 sei die Bedeutung Jahrhundert dann bereits geläufig gewesen, was von zeitgenössischen Wörterbü299

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Die durchweg auf die Entstehung des Zeitgeistbegriffs fokussierte Begriffsgeschichte geht, der späteren deutschen Wortbildung Geist der Zeit oder eben Zeitgeist folgend, im Allgemeinen stillschweigend davon aus, dass das saeculum in der Wendung vom genius saeculi stets und ausschließlich im Sinne von Zeitalter zu verstehen sei. Tatsächlich scheint dies für Barclay zuzutreffen, wenn man davon ausgeht, dass er genius saeculi synonym mit genius aetatis verwendet, und findet sich noch deutlicher in Bacons Formulierung vom genius illius temporis literarius. Es wird dabei aber übersehen, dass das Konzept des genius saeculi im Laufe seiner Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs unverändert blieb beziehungsweise nicht nur innerhalb seines Entstehungskontextes bei Barclay und Bacon verwendet wurde, oder anders gesprochen: dass sich die Diskurse, in denen sich die Formulierung genius saeculi findet, mit der Zeit thematisch verbreiterten. So verbindet sich die Vorstellung vom genius saeculi in der Querelle mit der um 1700 erkennbaren Identifizierung des Jahrhunderts als sinnstiftender Zeiteinheit, die durch die bewusster als 100 Jahre zuvor wahrgenommene Jahrhundertwende befördert wurde75 – ganz im Sinne der Bemerkung des Halleschen Historikers Christoph Cellarius: „Ein neues Jahrhundert gibt allem ein neues Gesicht.“76 Nicht das Zeitalter oder ganz allgemein die Gegenwart wird um 1700 also zum Träger zeitlicher und kultureller Selbstverortung im Sinne des Zeitgeistes, sondern ganz konkret das eigene Jahrhundert, wie es sich in Christian D. Funcks gegenwartsoptimistischer Formulierung vom saeculum nostrum manifestiert.77 Das dieser Gegenwartsbestimmung zugrundeliegende Verständnis von genius saeculi als Geist des Jahrhunderts war auch im späteren 18. Jahrhundert durchaus noch geläufig und fand – in Anlehnung an Voltaires ganz im Sinne der modernes verfassten Siècle de Louis XIV (1751), in dem dieser den klassischen Blütezeiten der griechisch-römischen Antike und der Renaissance das Zeitalter Ludwigs XIV. an die Seite stellte – seinen wohl geläufigsten Ausdruck in der verbreiteten Rede vom Jahrhundert Friedrichs, dem siècle de Frédéric II.78 Der Geist des Jahrhunderts stellt somit neben dem Geist der Zeit

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chern wie Thomæ Thomasii dictionarium tertio (1592) gedeckt wird. Daneben wurde saeculum im 17. Jahrhundert auch weiterhin im Sinne von Welt (als Gegensatz zu Gott) verwendet, siehe dazu EBD. Vgl. auch SCHRÖDER, 2002, S 12-21. BRENDECKE, 1999, S. 132f.; MÜNCH, 1999, S. 283. EBD. BRENDECKE, 1999, S. 382, Anm. 45; vgl. auch KAPITZA, 1981, S. 391. Auch diese Wendung geht wohl auf Voltaire zurück und wurde in Frankreich von d’Alembert, der damit die historische Überlegenheit der Aufklärung gegenüber der

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

eine zweite, gleichfalls historiographisch wie auch gegenwartsdiagnostisch orientierte Filiation der Operationalisierungen des genius saeculi im 18. Jahrhundert dar. Geschichtsphilosophisch vor allem mit der Querelle konnotiert, kam dieses Verständnis von genius saeculi um 1700 aber noch in einem anderen diskursiven Kontext zum Tragen, dem sie mutmaßlich auch ihre Popularisierung verdankte: der barocken Geschichtsdidaktik, die vor allem auf mnemonische Verfahren und die Gliederung nach Jahrhunderten als Epochenabschnitten setzte.

3. Genius sae culi al s Kul tur technik: Das Jahrhundert als Gedächtnisort der barocken Geschichtsmnem onik Die Einteilung nach Jahrhunderten als Gliederungshilfe der Historiographie findet sich nach derzeitigem Kenntnisstand erstmals im frühen 16. Jahrhundert in der Mainzer Chronik des „Benediktinerhumanisten“ Hermann Piscator, deren Rezeption indes begrenzt war.79 Modellbildend wirkten erst die zwischen 1559 und 1574 erschienenen so genannten Magdeburger Zenturien, die „erste große Kirchengeschichte des Protestantismus“, die die nachchristliche Geschichte in Jahrhunderte einteilten – die bis dahin übliche Einteilung nach Päpsten verbot sich aus reformatorischer Sicht – und durch die Zuweisung eines Bandes zu einem Jahrhundert indirekt auch die ordinale Nummerierung der Jahrhunderte etablierten.80 Unter den Gutachtern, deren Stellungnahme zu dem Vorhaben vorab eingeholt wurde, sprach sich vor allem der artesische Rechtsgelehrte François Baudouin für die Jahrhunderteinteilung aus, da man in jedem Jahrhundert eine Veränderung wahrnehmen könne („in singulis sæculis insignis aliqua mutatio cernitur“81), womit Baudouin gewissermaßen den Barclayschen genius saeculi vorwegnahm und ihn bereits in den 1570er Jahren an das Jahrhundert knüpfte. Vergangenheit zum Ausdruck brachte, sowie in Deutschland u.a. von Herder, Kant, Ewald Friedrich von Hertzberg und Thomas Abbt aufgegriffen. Vgl. dazu eingehend SCHRÖDER, 2002. 79 BRENDECKE, 1999, S. 75f. 80 EBD., S. 76f. Ausführlich siehe dazu BURKHARDT, 1971, S. 11-35. 81 Zitiert nach BRENDECKE, 1999, S. 370, Anm. 9. Zu Baudouin siehe auch HASSINGER, 1994, S. 106f. 301

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Andere Stimmen waren allerdings skeptischer, darunter Jean Calvin, der einwandte, „daß sich manchmal in zehn Jahren mehr ereigne als in einem ganzen saeculum.“82 Trotzdem setzte sich die Jahrhundertgliederung gegenüber anderen schematischen Einteilungen wie Fünfzigjahrabschnitten schnell durch, wahrscheinlich durch die Verbreitung der Jahrhunderteinteilung auf anderen Gebieten wie der spätmittelalterlichen Komputistik,83 und wurde, nachdem sie noch im 16. Jahrhundert von katholischen Autoren wie Wilhelm Eisengrein und Cesare Baronio nachgeahmt worden war,84 zum paradigmatischen Einteilungsschema der Kirchengeschichte – bis hin zu Gottfried Arnolds 1699 erschienener Kirchen- und Ketzerhistorie. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Einteilung der Geschichte nach Jahrhunderten dann zum vorherrschenden historiographischen Gliederungsschema und fand Eingang in die Rechts- beziehungsweise Staatswie auch in die Universalgeschichte.85 Zu ihrer Popularisierung trugen aber vor allem historische Tabellenwerke und didaktische Geschichtsdarstellungen bei, die sich dem Ziel verschrieben hatten, die Weltgeschichte mittels mnemonischer Verfahren memorier- und damit verfügbar zu machen.86 Die ursprünglich mündliche Tradition der ars memorativa, der Gedächtniskunst, deren Wurzeln in der römischen Rhetorik liegen, hatte sich im 16. und 17. Jahrhundert zu einem weitläufigen Wissensgebiet mit einer Vielzahl komplizierter Regeln und ausgefeilter Techniken entwickelt. Dazu gehörte die Verbindung bestimmter Wissensbereiche mit räumlichen Konzepten, zum Beispiel mit einzelnen Körperteilen und -stellen wie den Wölbungen der Handinnenfläche, Vorbildern aus der Architektur oder bildhaften Imaginationen wie der Gestalt anmutiger junger Frauen. Auf sprachlicher Ebene zählten vor allem die Umsetzung von Wörtern in Zahlen sowie (Merk-)Reime zu den beliebtes-

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BRENDECKE, 1999, S. 77 (Hervorhebung im Original). EBD., S. 80-90. Vgl. auch BURKHARDT, 1971. BRENDECKE, 1999, S. 78f. BURKHARDT, 1971, S. 44-49, verweist darauf, dass in Hermann Conrings De origine Juris Germanici (1643) die einzelnen Jahrhunderte erstmals eine inhaltliche Qualität bekamen, indem Conring auf Jahrhunderte verweist, sie aber nicht länger in ihrer ordinalen Reihenfolge abhandelt. Ähnlich verfuhr Jacques Bénigne Bossuet in seinem Discours sur l’histoire universelle von 1681, in dem er damit begann, „Jahrhundertbestimmungen frei heranzuziehen“ (EBD., S. 49). 86 Vgl. EBD., S. 36-62. Zu den Tabellenwerken auch http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/projekte/zusatz/HistorischeTabellenwerke/Index.html, 30.01.2012. 302

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ten und wirksamsten Mnemotechniken.87 Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nahm die ars memorativa nachgerade die Züge einer Matrix an, die wie kaum etwas anderes den barocken Zeitgeist zu verkörpern scheint,88 und stieg namentlich in der Geschichtsdidaktik für beinahe ein Dreivierteljahrhundert zum vorherrschenden Paradigma der Wissensorganisation auf. Im Zuge dieses mnemonic turn wurden immer umfangreichere Geschichtskompendien verfasst, die ihren Stoff nunmehr in immer kleinere Einheiten und dezimale Intervalle gliederten und ihn zugleich durch die Beigabe sprachlich-metaphorischer (loci) wie zum Teil auch bildlicher (imagines) Marker unverwechselbar und damit einprägsam zu machen suchten.89 Eines dieser Verfahren war die Hervorhebung der Jahrhunderte durch ein Epitheton, einen prägenden Beinamen, der das eine Jahrhundert von den anderen unterschied und einem jeden zugleich einen unverwechselbaren, seine historisch-kulturelle Einzigartigkeit beschwörenden Charakter im Sinne des Barclayschen genius saeculi verlieh. Erstmals scheint in dieser Weise der Windsheimer Stadtpfarrer Georg Leonhard Model in seinem 1685 erschienenen Mnemoneuma historicum verfahren zu sein. Dort werden unter anderem das 14. Jahrhundert als ein abergläubisches, das 15. als kriegerisches und das 16. als gelehrtes Saeculum bezeichnet.90 Model konnte dabei auf die eben angesprochenen Tabellenwerke zurückgreifen, in denen schon seit den 1630er Jahren neben den Ordinalzahlen der Jahrhunderte auch charakterisierende Beinamen für jedes Saeculum angegeben wurden.91 Am konsequentesten verfuhr in dieser Hinsicht ein großformatiges, mit 48 Kupferstichen in Folio aufwändig illustriertes Lehrbuch mit dem opulenten Titel Sculptura Historiarum Et Temporum Memoratrix: Das ist/ Gedächtnußhülfliche Bilder-Lust/ Der Merckwürdigsten Welt-Geschichten aller Zeiten/ Von der Erschaffung der Welt Bis Auf das gegenwärtige Jahr, das 1697 bei Christoph Weigel in Nürnberg erschien.92 Darin präsentiert der kurz vor der Fertigstellung des Bandes an den Folgen eines Unfalls verstorbene Nürnberger Jurist Gregor Andreas Schmidt auf insgesamt weit über 400 Seiten einen 87 STRASSER, 2000, S. 27-32 (mit Bildbeispielen). Vgl. auch RIEGER, 1997, S. 194234. 88 Vgl. EBD. 89 Vgl. BURKHARDT, 1971, S. 58-62. Die Bindung von Inhalten an loci und imagines entspringt bereits der antiken Gedächtnislehre. Vgl. BRENDECKE, 1999, S. 124. 90 EBD., S. 135. 91 Vgl. BURKHARDT, 1971, S. 82f. 92 Vgl. EBD., S. 82f.; zu Weigel und den Kupferstichen siehe BAUER, 1982. 303

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Überblick über die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte, die in biblischer Tradition ihren Anfang mit der Erschaffung der Welt 4000 Jahre vor Christi Geburt nimmt. Die Sculptura verlieh indirekt, nämlich über die Beigabe eines unverwechselbaren Sinnbildes in den Kupfertafeln, selbst Jahrzehnten einen eigenen Genius, wie wir ihn noch heute in der Rede von den wilden Zwanzigern, den swingenden Vierzigern, den spießigen Fünfzigern oder den coolen Neunzigern wiederfinden, um nur einige der geläufigsten zu nennen.93 Die nachchristlichen Jahrhunderte waren darüber hinaus explizit mit Beinamen versehen. Die des ersten Jahrtausends heißen in der Sculptura das „blühende“ und das „reifende“, „das wurmichte und unglückliche“, das „Christliche“, das „Barbarische“, das „Rechtliche“, das „Wider-Christliche oder Muhammedische“, das „Bilderstürmerische“, das „Carolinische oder CarlKaiserische“ und schließlich das „Kaiser-Sächsische“ Jahrhundert.94 Auch die ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends sind nach den regierenden Kaiserhäusern benannt (das „Kaiser-Fränkische“, „Kaiser-Schwäbische“, „Habspurgische oder Oesterreichische“ sowie das „Böhmische“), ab dem 15. Jahrhundert stehen dann aber wiederum herausragende Ereignisse beziehungsweise Entwicklungen bei der Benennung Pate: Auf das „Hußitische“ und das „Reformations=Seculum“ folgt abschließend Schmidts eigenes, das 17. Jahrhundert, das „wegen der vielen und grossen Kriege/ so sich in demselben geeußert“, als „ein Eißernes oder Martialisches“ bezeichnet wird. 95 Die auch andernorts in mnemonischer Absicht verwendeten Epitheta sind dabei ebenso vielfältig wie wandelbar: Sie unterscheiden sich nicht nur von Werk zu Werk, sondern wandelten sich auch von Auflage zu Auflage ein und desselben Werkes, wie die Sculptura zeigt, die zunächst 1698 und 1701 in weitgehend unveränderter Form erschien und danach in einer billiger herzustellenden, weitgehend vom Text befreiten Version unter dem Titel Die Welt in einer Nuß zu einem der verbreitetsten Schulbücher der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde, das 1739 ein letztes Mal aufgelegt wurde.96 So wurde das 17. Jahrhundert, das dem Zeitgenossen Schmidt 1697 noch als ein kriegerisches erschien, im Rückblick dreier Jahrzehnte als das der „Staatisten“, also der Staatstheoretiker, wahrgenommen, was eindrücklich demonstriert, dass die 93 Vgl. BRENDECKE, S. 125. 94 Die Epitheta für die beiden ersten Jahrhunderte werden erst nachträglich am Textanfang zum dritten Jahrhundert n. Chr. eingeführt. 95 SCHMIDT, 1697, S. 229. 96 Ein von mir verfasster Artikel zur Welt in einer Nuß befindet sich derzeit im Druck. 304

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

Zuschreibung des genius saeculi an eine bestimmte Epoche nicht nur von den Eigenheiten derselben abhängt, sondern maßgeblich durch den Zeitgeist und die Perspektivierungen der namengebenden Nachwelt beziehungsweise deren Gegenwart geprägt ist – worauf letztlich ja auch das in Zeitgeist-Zusammenhängen omnipräsente, zeitgeist-kritische Goethe-Zitat aus Faust I zielt: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Die Verbreitung der Welt in einer Nuß wie auch anderer mnemotechnischer Werke, die ebenfalls mit Jahrhundertbeinamen operierten – darunter die ebenfalls 1697 erschienene Istoria Universale des römischen Universalgelehrten Francesco Bianchini – trug zweifellos erheblich zur Popularisierung der Idee eines genius saeculi im Sinne einer Epochensignatur bei. Diese konnte sich allerdings nicht nur auf die Späthumanisten um 1600 berufen, sondern vor allem auf das antike Vorbild der aufeinanderfolgenden vier metallischen Weltalter, die neben der grundsätzlichen Idee von Geschichte als Verfall und Niedergang auch bereits – wenn auch in reduzierter, da auf nur vier unterschiedliche Varianten beschränkter Form – den Gedanken unterschiedlicher epochaler Qualitäten und Charaktere in sich trugen und somit ideengeschichtlich ebenfalls als Vorläufer des genius saeculi gelten müssen.97 Dieser Zusammenhang wird deutlich in Bianchinis Istoria Universale, die neben dem biblisch-heilsgeschichtlichen zugleich auch einem zyklischen Geschichtsverlauf folgt, wobei sie sich an dem antiken Verfallsmodell der vier Weltalter orientiert. Dieser Zyklus von Goldenem, Silbernem, Bronzenem und schließlich Eisernem Zeitalter wiederholt sich vom Anbeginn der Welt an stets aufs Neue, so dass er nach dieser Logik im 17. Jahrhundert mit dem Goldenen Zeitalter neu hätte beginnen müssen.98 Dies ist ein interessanter Kontrast zur Sculptura, deren Autor die Semantik des antiken Weltaltermodells mit einer äußerst kulturpessimistischen Diagnose verband und das eben zu Ende gehende 17. Jahrhundert als ein „Eisernes oder Martialisches“ klassifizierte, wobei er seinerseits in einer Tradition der Kritik der eigenen Zeit stand, die ihren Ausgang anfangs des 17. Jahrhunderts nahm und ohne Zweifel eine der Wurzeln der kulturkritischen Variante der „Rede vom Zeitgeist“ sein dürfte.

97 Vgl. HASSINGER, 1994, S. 145. 98 Vgl. DIXON, 2005, S. 104-106. Zum antiken Modell der Weltalter siehe u.a. GATZ, 1967. 305

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4. Zeitdiagnose und Kulturkri tik: Der „ ver derbte Genius Seculi“ und das 17. J ahrhundert als Ei sernes Zei talter Der Topos der Zeitklage, die Rede de saeculo als Reflexion der eigenen Zeit, geht wie die Formulierung des genius saeculi wohl ebenfalls auf den so genannten Späthumanismus um 1600 zurück: „Johann Valentin Andreae ließ beispielsweise 1618 in einem fingierten Dialog die Meinungen aufeinanderprallen, ob es sich bei dem laufenden saeculum um ein gebildetes, unfrommes, erfinderisches oder eitles handele.“99 In ihrer gegenwartskritischen Variante konnte sich die Zeitdiagnose dabei einer pessimistischen Verwendung der antiken Weltaltersemantik bedienen, die die eigene Gegenwart mit dem Eisernen Zeitalter gleichsetzte.100 Entsprechende Belege, die mit einer zunehmend ironischen Wendung der Rede vom Goldenen Zeitalter einherging, finden sich um 1600 etwa bei Robert Greene, John Donne und Robert Burton ebenso wie in Miguel de Cervantes‘ Don Quijote (1605/15).101 Die Metapher ist in den genannten Beispielen allerdings durchweg mehr auf die allgemeine Schlechtigkeit und Habgier der eigenen Zeit gemünzt als auf deren kriegerischen Charakter, der in den kommenden Jahrzehnten zunehmend in den Vordergrund der Semantik treten sollte.102 Den diskursiven Kontext dafür lieferten die revolutionsartigen Ereignisse in Frankreich und England in der Mitte des 17. Jahrhunderts beziehungsweise die damit verbundenen publizistischen Auseinandersetzungen, als deren Ausgangspunkt Paris angenommen werden kann: Im zweiten Jahr der Fronde (1649) erschien dort ein anti-mazarinisches Pamphlet, das seine Zeit als „ce siecle de fer de sang & de feu“ („dieses Zeitalter aus Eisen, Blut und Feuer“) bezeichnete.103 Im selben Jahr klagte der schottische Exilant Robert Menteith, der sich in Frankreich Mentet de Salmonet nannte, in seiner

99 BRENDECKE, 1999, S. 126. Dieser beruft sich dabei auf KÜHLMANN, 1982, S. 35-43 und S. 183. 100 Nach KAMEN, 1974, S. 142, war die Gleichsetzung der eigenen Zeit mit dem Eisernen Zeitalter “[b]y the mid-sixteenth century […] a common literary conceit in France“. 101 LEVIN, 1969, S. 114-116, S. 141-144, S. 148f. Vgl. auch KAMEN, 1974, S. 147150. 102 Vgl. MEUMANN, 2007, bes. S. 666-674. Dort auch genauere Angaben zu den im Folgenden genannten Autoren und Werken. 103 ANONYMUS, 1649, Zitat S. 5 (Übersetzung MM). 306

Der Zeitgeist vor dem Zeitgeist

ebenfalls in Paris verlegten Histoire des trovbles de la Grand‘ Bretagne über seine Zeit: „Ie ne veux rien prononcer sur les moeurs du siecle où nous sommes, je peux bien asseurer seulement qu’il n’est pas des meilleurs, estant vn siecle de fer qui est vn mauuais reformateur de la vie des hommes, la guerre apportant d’ordinaire vn débordement de vices auec la desolation des Prouinces. Tousjours est-il fameux pour les grandes & estranges reuolutions qui y sont arriuées.“104

Während siècle hier noch allgemein das eigene Zeitalter bedeuten kann, wurde das Epitheton des Eisernen Zeitalters wenige Jahre darauf durch ein anderes historiographisches Werk, den 1653 veröffentlichten Abrégé de L‘Histoire de ce siècle de fer des in Verdun geborenen und seit 1650/1651 in Brüssel lebenden Jean-Nicolas de Parival zweifelsfrei an das eigene Jahrhundert gebunden.105 Damit verband sich zugleich eine äußerst pessimistische Sicht auf diesen Zeitraum, was Parival ebenfalls mit den vielen Kriegen begründete: „I‘appelle ce siècle, le siècle de fer, à cause que tous les maux et prodiges sont arrivez en gros, qui n‘ont esté aux siècles precedents, qu‘en detail. Si les desordres furent grands en quelques coins, ils les sont en celuy-cy par tout.“106 Die Charakterisierung des 17. Jahrhunderts als Kriegerisches Zeitalter scheint – wie Parivals Werk, das bis 1705 mindestens acht Auflagen erlebte, ins Englische übersetzt wurde und auch in deutschen Bibliotheken relativ häufig ist – rasch Verbreitung gefunden zu haben und begegnet jedenfalls bereits vor Gregor Andreas Schmidts oben zitierter Zuschreibung in der Sculptura im deutschen Sprachraum. So forderte 1677 der anonyme Verfasser der Schrift 104 MENTET DE SALMONET, 1649, „Avant propos“ („Ich will nichts weiter über die Sitten unseres Jahrhunderts beziehungsweise Zeitalters sagen; ich kann lediglich versichern, dass es keines der besseren ist, sondern ein eisernes Jahrhundert [beziehungsweise Zeitalter], das ein schlechter Reformator des Lebens der Menschen ist, indem der Krieg ein Übermaß an Sünden und die Verwüstung der Provinzen bringt.“ Übersetzung MM). 105 Dies wird – neben dem Vergleich mit dem vorausgegangenen Jahrhundert in dem anschließenden Zitat – vor allem darin deutlich, dass die historiographische Darstellung mit dem Frieden von Vervins 1598 einsetzt. 106 PARIVAL, 1653, „Au lecteur“. („Ich nenne diese Jahrhundert ein eisernes, weil alle Übel, die im vergangenen noch en detail eingetroffen sind, in diesem nun en gros auf uns niederkommen. Wenn damals die Unordnung in einigen Ecken groß war, so ist sie es jetzt überall.“ Übersetzung MM). 307

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Germania milite destituta, et literatis sua ceu mole laborans, sich lieber der Militärdisziplin zuzuwenden statt den litterae, „da der genius saeculi dem Mars eher zugeneigt sei als den Musen.“107 Und in der ebenfalls bereits zitierten Besprechung aus Tentzels Monatlichen Unterredungen heißt es, dass „das ietzige saeculum mehr dem Marti als den Musen ergeben sey“. 108 Während hier eine eher pessimistische Sicht auf die eigene Gegenwart beziehungsweise den genius saeculi zum Ausdruck kommt, die Anfang des 17. Jahrhunderts eine Steigerung in Valentin Ernst Löschers nunmehr stärker religiös geprägtem Wort vom „verderbten Genius Seculi“ erfuhr109 – das seinerseits im späteren 18. und im 19. Jahrhundert eine Fortsetzung in dem häufig gebrauchten Wort vom eigenen als „verderbten“ Jahrhundert fand –, begründete der bereits erwähnte Zacharie de Lisieux alias Petrus Firmianus in seinem Saeculi Genius, der im selben Jahr wie Parivals Abrégé, 1653, erschien und ebenfalls wiederholt aufgelegt wurde, eine gänzlich andere Möglichkeit der kritischen Gegenwartsanalyse in ironisch-satirischem Modus. Beim Saeculi Genius handelt es sich um acht einzelne, von einer Rahmenhandlung zusammengehaltene Satyren, die die sich verbreitenden jansenistischen Sympathien und die Ausbreitung einer Pseudo-Gelehrsamkeit bis in weibliche Zirkel kritisieren. Dies erinnert nicht nur von ungefähr an Klotz‘ Genius Seculi rund 100 Jahre später, auch wenn Klotz unter diesem Titel zwölf – und nicht acht – Satyren versammelte. Darüber hinaus nimmt der Autor Firmianus nicht nur seine Zeitgenossen aufs Korn, sondern richtet seinen Spott auch auf das Konzept des genius saeculi selbst und begründet damit eine zeitgeistkritische Tradition. Das Bemerkenswerte daran ist, dass er, wie Theo Jung in seinem Beitrag zu diesem Sammelband ausführt, neben dem metaphysischen Charakter des genius besonders auf das Jahrhundert als sinnstiftende Einheit zielt – ein Beleg dafür, dass saeculum bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts zumindest im frankophonen Kontext überwiegend die Bedeutung Jahrhundert trägt und das Verständnis von genius saeculi als Geist des Jahrhunderts somit noch vor der Querelle des anciens et des modernes neben den Geist der Zeit tritt. Dass diese Filiation der Operationalisierungen des genius saeculi nicht weniger bedeutend, ja vielleicht im 17. und 18. Jahrhundert sogar verbreiteter war als der Geist der Zeit, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die 1775 erschienene deutschsprachige Ausgabe von Klotz‘ genius seculi, der Herder zu der Be107 KAPITZA, 1981, S. 399. 108 Zitiert nach GRIMM, 1897, Sp. 3401. 109 Zitiert nach BAUR, 2006, S. 425. 308

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griffsschöpfung Zeitgeist angeregt haben soll, den Titel der Schrift nicht mit Geist der Zeit übersetzte, sondern eben mit Geist des Jahrhunderts!110

5. Noch einmal: Zei tgeist und genius saeculi Herder war also keineswegs, darin ist Hermann Josef Hiery beizupflichten, „der ‚Erfinder‘ des Begriffes“ Zeitgeist. Anders als Hiery und Kempter meinen, hat Herder aber nicht einmal das deutsche Wort Zeitgeist geschaffen. Dieses ist auch keine „schlechte Nachbildung des französischen esprit du siècle“, die „wohl von Montesquieu und Voltaire her gegen Ende des 18. Jahrhunderts über die Gelehrtensprache ins Allgemeinbewusstsein eingedrungen“ sei, wie Hans-Joachim Schoeps 1959 vermutete.111 Vielmehr findet sich das deutsche Wort Zeit-Geist – zwar noch mit einem Bindestrich gesetzt, was aber wohl keine etymologische Relevanz besitzt – als feststehende Wendung bereits fast 40 Jahre vor dem ersten Beleg bei Herder: In seinen 1730 erschienenen Anfangs-Lehren Der Historie der Gelehrsamkeit, Zum Gebrauch der auf Schulen studirenden Jugend abgefast. Sammt Einem Discurs Uber die Frage Ob, und wie ferne es rathsam sey, Historiam Literariam auf Schulen und Gymnasiis zu tractiren reflektierte Johann Friedrich Bertram, seit 1728 Rektor des Lyzeums zu Aurich, darüber, „ob man die Universal Historie der Gelehrsamkeit/ in gewisse periodos einiger massen bringen könne“, wobei er in der Anmerkung auf den „Barclajanischen Zeit-Geist oder genius seculi“ verwies.112 Bertram, der seinerseits vier Jahre später von dem Halleschen Historiker und Philosophen Nikolaus Hieronymus Gundling in dessen Vollständiger Historie der Gelahrheit wortwörtlich zitiert wurde,113 bezog sich dabei auf den Göttinger Theologen und Polyhistor Christoph August Heumann, der im ersten Band seiner Acta philosophorum aus dem Jahr 1715, wo er neben Morhofs circulatio studiorum, einem ähnlich gelagerten historiographischen Konzept aus dem

110 KLOTZ, 1775, zweytes Buch. 111 SCHOEPS, 1959, S. 13. Laut HIERY, 2001, S. 2, findet sich darüber hinaus sogar die Behauptung, „‚genius saeculi‘ sei nur als künstliche Rückübersetzung des ursprünglich Herderschen Begriffes zu verstehen, um ihm durch das Lateinische einen stärkeren Wissenschaftscharakter zu geben.“ 112 BERTRAM, 1730, S. 76. 113 GUNDLING, 1734, S. 730. 309

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Kontext der historia literaria, auch Barclays genius saeculi erörtere, zu dem Schluss gekommen sei, es handele sich dabei um „ein utopisches Gespenst“.114 Tatsächlich handelt Heumann an der angegebenen Stelle in den Acta philosophorum von Barclay und dem genius saeculi, von einem „utopischen Gespenst“ ist dort allerdings nicht die Rede.115 Wahrscheinlich hatte Bertram hier seine Lektüren durcheinandergebracht und meinte nicht die Acta, sondern die ebenfalls 1715 erschienenen Aufrichtigen und unpartheyischen Gedancken über die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften. Darin spricht Heumann vom „genio Seculi, aus welchem etliche/ ich weiß nicht/ was vor übernatürliches und Göttliches machen wollen. Doch ich habe mir niemals von diesem uncörperlichen Dinge einen Concept formiren können […].“116 Heumann greift damit, in der Tradition Firmianus‘ stehend, in spöttischer Weise den Begriff des genius saeculi mit dem Hinweis auf die Herkunft der Geistsemantik aus der antiken Götterwelt an und verweist ihn so ins Reich der Geistwesen.117 Es mag durchaus sein, dass die Formulierung Zeitgeist bei Bertram – die nicht von ungefähr an die Zeitgeister erinnert, die in Jakob Böhmes Mysterium Magnum von 1640 in der Hierarchie der Geistwesen unmittelbar unter den Engeln angesiedelt sind – durch die „uncörperliche“ Natur des genius saeculi inspiriert war.118 Mit seiner Kritik am genius saeculi jedenfalls nimmt Heumann bereits die späteren Vorwürfe an den Zeitgeist hinsichtlich seiner Flüchtigkeit und Unfassbarkeit vorweg. Überhaupt finden sich die späteren Semantiken des Zeitgeistes bereits gut erkennbar im genius saeculi angelegt, auch wenn natürlich die diskursiven Kontexte andere sind. Dies gilt für die beiden philosophiegeschichtlichen Filiationen des Zeitgeistbegriffs – die geschichtsphilosophische, für die exemplarisch Hegel steht, wie die kulturphilosophische nach Herder119 – ebenso wie für den eher spöttisch-kritischen Umgang mit dem Phäno-

114 BERTRAM, 1730, S. 76f. 115 HEUMANN, 1715a, S. 622. 116 DERS., 1715b, S. 4f. Für den Hinweis auf diesen Fundort bin ich Herrn Dr. Olaf Simons (Gotha) außerordentlich dankbar. Wohl in Anlehnung an diese Stelle bezeichnet auch Georg Heinrich Ayrer 1735 in seiner Comparatio eruditionis antiquae ac recentioris den genius saeculi als „spiritus incorporeus“; Kapitza, 1981, S. 407. Zu Ayrer vgl. auch JAUMANN, 2004, S. 54. 117 Zum Genius im Allgemeinen vgl. SCHMIDT-DENGLER, 1978, bes. S. 180 zum „Genius der Zeit“. 118 Auf die Bedeutung von Zeit beziehungsweise Zeitlichkeit im Sinne von Vergänglichkeit weist Theo Jung in seinem Aufsatz zu diesem Sammelband hin. 119 So die Grundthese bei KONERSMANN, 2006, vgl. dort S. 248. 310

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men Zeitgeist. Insofern kann der Zeitgeist seine Herkunft aus dem genius saeculi in der Tat nicht verleugnen. Die begriffsgeschichtliche Fokussierung auf den Zeitgeistbegriff droht indessen den Blick dafür zu verstellen, dass, wie vor allem die historiographischen und mnemonischen Operationalisierungen des genius saeculi gezeigt haben, dieser keineswegs zur Gänze in der seit dem späten 18. Jahrhundert so beliebten deutschen Wendung Zeitgeist aufging. Dies zeigt sich zum einen in temporaler Hinsicht daran, dass noch in den 1790er Jahren, also lange nach Herders vermeintlicher Begriffsbildung 1769 und zeitlich parallel zur ersten Konjunktur der Rede vom Zeitgeist, auch der genius saeculi weiterhin durchaus geläufig war.120 Daneben kursierten auch hybride Wortbildungen; so ist bei Franz Josias von Hendrich 1797 vom „Genius des Zeitalters“ die Rede; parallel dazu spricht er von „Temperament, Tendenz oder Stimmung des Zeitalters“ oder vom „Geist der Zeit“ beziehungsweise „Geist der Zeiten“.121 Vor allem aber scheint mir der genius saeculi, während der Zeitgeist heute mehr oder weniger auf seine gegenwartsdiagnostische Dimension reduziert ist, in seiner Eigenschaft als historiographisches Konzept weiterhin – beziehungsweise seit einiger Zeit sogar wieder vermehrt – Wirkung zu entfalten. Dies gilt zum einen für die aktuellen Periodisierungstendenzen in der Geschichtswissenschaft, aber auch in anderen historisch arbeitenden Disziplinen, in denen gerade das affirmativ an das Säkulum gebundene Verständnis von genius saeculi als Geist des Jahrhunderts im Sinne der Querelle erneut an Bedeutung gewinnt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich die Geschichtswissenschaft, nachdem sie sich im 18. Jahrhundert von der mnemonischen Darstellung abgewandt und die Gliederung nach Jahrhunderten zugunsten von Epochen – die freilich ebenfalls einen unverwechselbaren Charakter im Sinne einer Epochensignatur zugeschrieben bekamen – aufgegeben hatte, inzwischen zunehmend wieder an Jahrhunderten ausrichtet, die nun ihrerseits durch ein Epitheton gekennzeichnet werden, das ihnen Unverwechselbarkeit im Sinne eines genius saeculi verleihen soll. Das bekannteste Beispiel dürfte hier das in letzter Zeit mit Macht wiederkehrende Jahrhundert der Aufklärung sein, in dem unschwer das siécle des lumières der französischen philosophes zu erkennen ist. Aber auch in anderen inhaltlichen Qualitäten zeitlicher Einheiten – wie den immer zahlreicher werdenden langen Jahrhunderten – scheint mir das Konzept 120 Entsprechende Belege lassen sich über die Volltextsuche bei google books leicht finden. 121 STADLER, 2006, S. 274. 311

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des genius saeculi nach wie vor zum Tragen zu kommen. Letztlich lebt dieses überall dort fort, wo ein geschichtlicher Zeitabschnitt narrativ einem gemeinsamen Geist unterworfen wird; dies gilt insbesondere dann, wenn darunter nicht nur die Ereignisse der politischen Geschichte gefasst werden, sondern auch die Hervorbringungen und Ereignisse anderer Kulturgebiete. Zum anderen scheint mir auch in Periodisierungskonzepten wie Thomas Kuhns Paradigma oder Foucaults épistemé, die wohl nicht zufällig zuerst im Kontext der Wissenschaftsgeschichte – als moderner Nachfolgerin der Historia literaria – entstanden sind, das Konzept des genius saeculi, der, wie es bei Barclay heißt, „die Geister der Sterblichen zu gewissen Studien zu neigen pflegt“,122 unverkennbar weiterzuwirken.

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122 Zitiert nach KAMERBEEK, 1964, S. 194 (Übersetzung MM). 312

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317

Z EITGEI ST

IM LANGEN

D IMENSIONEN

18. J AHRHUNDERT :

EINES UMSTRITTENEN

B EGRIFFS

THEO JUNG

1. Einleitung Der Mensch ist auf die Zeit angewiesen. Seine Gegenwart erschließt sich ihm aus der Vergangenheit heraus und in die Zukunft hinein. Die Art und Weise, wie diese drei Dimensionen einander zugeordnet sind, ist allerdings keine Konstante, sondern unterliegt selbst historischem Wandel. Ausgehend von dieser Leitidee ist die These vertreten worden, dass das Charakteristikum der Neuzeit im spezifisch modernen, geschichtlichen Zeitbezug liege. Etwas pointiert kann sie in der Formel das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit zusammengefasst werden.1 Maßgeblich ist dieses Verzeitlichungsmodell der Moderne von Reinhart Koselleck formuliert worden.2 In der Neuzeit, so seine Hauptthese, sei eine spezifische Asymmetrie zwischen Erfahrung und Erwartung entstanden, die dem modernen Menschen mit der geschichtlichen Prozesshaftigkeit der Zeit selbst konfrontiert habe. Das Modell ist inzwischen in vielerlei Hinsicht kritisiert und qualifiziert worden. Seine enge chronologische Verknüpfung mit der Sattelzeit (ca. 1750-1850) erscheint angesichts der unterschiedlichen regionalen und sektorialen Entwicklungen als zu beschränkt. Vor allem aber ist eine genauere Bestimmung der Reichweite des Modells erforderlich. In 1

2

Vgl. dazu ausführlich, mit Literaturhinweisen: JUNG, [im Druck], sowie die Beiträge von Stefanie Stockhorst, Jan Marco Sawilla und Jörn Leonhard in: JOAS/VOGT, 2010. Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan JORDAN in diesem Band. 319

Theo Jung

seiner abstrakten, übergreifenden Gestalt wird es den pluriformen Zeitkulturen der Moderne (und der Vormoderne) nicht gerecht. Das Postulat einer uniformen modernen Zeiterfahrung ist nur um den Preis eines radikalen Ausschlusses großer Gruppen und gesellschaftlicher Sektoren aus der Moderne zu haben. Allerdings setzt die umgekehrte Schlussfolgerung, das Verzeitlichungsmodell sei, weil es nicht auf jedes Phänomen in der Moderne anwendbar ist, im Ganzen hinfällig, de facto dieselbe Generalisierung voraus, die sie zu vermeiden vorgibt. Selbst wenn kategorische Aussagen über die Zeit der Moderne verfehlt sind, ist unverkennbar, dass sich die Erfahrung, Reflexion und Artikulation des menschlichen Zeitverhältnisses in unterschiedlichen gesellschaftlichen Reflexionsdiskursen während des 17. und 18. Jahrhunderts grundlegend änderten. Die von Koselleck und anderen herausgearbeiteten Momente – das Auseinandertreten von Erfahrung und Erwartung, die Öffnung einer kontingenten Zukunft, die Singularisierung der Geschichte, ihre Beschleunigung sowie ihre Entkoppelung von den Vorgaben einer allwissenden Vorsehung, die ambivalente Bezugnahme auf sie als eigenmächtiges Subjekt einerseits und als machbaren Gegenstand menschlichen Handelns andererseits – behalten somit als Parameter einer Reihe von neuartigen gesellschaftlichen Reflexionsdiskursen ihre Gültigkeit. Anstatt einer kategorialen Bestimmung der Zeitlichkeit der Moderne schlechthin bezeichnet der Begriff Verzeitlichung in diesem beschränkten Sinne die Emergenz und Verbreitung einer Gruppe geschichtlicher Zeitlichkeitssemantiken. In diesen wurde eine neuartige Perspektive auf die menschliche Lebensform formuliert. Vom Zeitlichen als irdischem, einer transzendenten Ordnung unterworfenem Bereich verschob sich der Fokus auf die geschichtliche Entwicklung einer autonomen, eigendynamischen Sphäre menschlichen Lebens. Ein Begriff, der in diesem semantischen Feld eine zentrale Rolle spielen würde, war der des Zeitgeists. Anfang 1831 veröffentlichte der junge John Stuart Mill unter dem Pseudonym A. B. in The Examiner eine Reihe von Artikeln mit dem Titel The Spirit of the Age. Bezüglich des im Titel verwendeten Begriffs bemerkte er: „The ‚spirit of the age‘ is in some measure a novel expression. I do not believe that it is to be met with in any work exceeding fifty years in antiquity. The idea of comparing one’s age with former ages, or with our notion of those which are

320

Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert yet to come, had occurred to philosophers; but it never before was itself the dominant idea of any age.“3

Wie Mill konstatierte, nahm der Zeitgeistbegriff in den frühen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine dominante Stellung im öffentlichen Diskurs ein.4 Der Grund für sein Gedeihen müsse, Mills Auffassung nach, paradoxerweise in der spezifischen Verfassung des Zeitalters selbst, das er bezeichnete, gesucht werden: „It is an idea essentially belonging to an age of change. […] The conviction is already not far from being universal, that the times are pregnant with change; and that the nineteenth century will be known to posterity as the era of one of the greatest revolutions of which history has preserved the remembrance, in the human mind, and in the whole constitution of human society.“5

Obwohl Mill die Vorgeschichte des Zeitgeistbegriffs mit seiner Schätzung von fünfzig Jahren definitiv zu eng fasste, hatte er den Kontext, vor dessen Hintergrund sich der Begriff nach der Französischen Revolution durchsetzte, doch treffend erfasst. Die Auffassung, die Gegenwart sei ein Übergangszeitalter, war im frühen 19. Jahrhundert weit verbreitet.6 So hatte Hegel in der Vorrede zu seiner Phänomenologie des Geistes (1807) seine Gegenwart als „eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode“ bezeichnet. „Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen,

3

4

5 6

MILL, 1831, S. 20. Und: „The first of the leading peculiarities of the present age is, that it is an age of transition. Mankind have outgrown old institutions and old doctrines, and have not yet acquired new ones.“ Mill reagierte auf einen Aufsatz von David Robinson, in dem dieser klagte: „That which, in the slang of faction, is called the Spirit of the Age, absorbs, at present, the attention of the world. All confess its omnipotence, advise submission to it, and proclaim that it will produce, at the least, a season of chaos and horrors.“ ROBINSON, 1830, S. 900. Vgl. CHANDLER, 1999, S. 105-107. So klagte auch August von Kotzebue: „Man riecht jetzt überall den Zeitgeist, so wie man vormals überall den Jacobiner roch. Es ist ein Modewort, das in alle Saalbadereyen passt, und bey dem man sich durchaus nichts Klares denken kann.“ KOTZEBUE, 1818b, S. 143. Siehe auch: WEBER, 1833, S. 293. MILL, 1831, S. 20. Vgl. BLIX, 2006, und, mit Ansätzen zu einem europäischen Vergleich: LAUSTER, 1994. 321

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und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zuversenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.“7 Der Zeitgeistbegriff spielte in der Artikulation dieser Vorstellung eine Hauptrolle. Er stellte als Bezeichnung des Kulturganzen unter Berücksichtigung seiner geschichtlichen Verfassung ein zentrales Element der neuartigen Geschichtssemantiken dar, in denen die Erfahrung einer sich stetig beschleunigenden, geschichtlichen Dynamik artikuliert wurde. Im Folgenden soll die Periode der Verbreitung dieses Kernbegriffs in verschiedenen neuen Formen der Geschichtsreflexion im Mittelpunkt stehen.8

2. Verzei tlichung i m Bereich der Geistessemanti k Die Grundlage für den modernen Zeitgeistbegriff bildete die Frage nach der Einheit historischer Epochen. Anfangs wurde diese in erster Linie im Kontext der Historiographie – speziell der Literaturgeschichte – aufgeworfen, wo es um die Identität und Konstitutionsbedingungen literarischer oder kultureller Hochphasen ging. In diesem Sinne erklärte Francis Bacon in seinem De dignitate et augmentis scientiarum (1623), dass es in der Literaturgeschichte nicht unbedingt erforderlich sei, die gesamte literarische Produktion einer bestimmten Periode zur Kenntnis zu nehmen. Die Schriftsteller eines Zeitalters seien durch einen gemeinsamen Geist untereinander verbunden, der durch den Historiker mit Geschmack und Scharfsinn heraufbeschworen werden könne: „degustatione, & obseruatione Argumenti, Stili, Methodi, Genius ilius temporis Literarius, veluti Incantatione quâdam, à Mortius euocetur.“9 In solchen Kontexten war spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert eine epochale Verwendungsweise des Geistbegriffs gegeben, die in der Folge die Basis für die Verbreitung des Zeitgeistbegriffs bilden sollte. Sie kann als geschichtlich orientierte Variante des äußerst vielseitigen geistigen Vokabulars – mit dem unter anderem die prinzipielle Zusammengehörigkeit verschiedener, scheinbar getrennter Phänomene artikuliert wurde – betrachtet werden. Insbesondere konnte sie an den etablierten Sprachgebrauch der christlichen Meta7 8 9

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HEGEL, 1807, S. XIII. Zur Vorgeschichte des Zeitgeist-Begriffs vgl. den Beitrag von Markus MEUMANN in diesem Band. BACON, 1623, S. 89. Vgl. mit Hinweisen auf weitere Stellen: KAMERBEEK, 1964, S. 191-197; HASSINGER, 1978, S. 139-147; KEMPTER, 1990/91, S. 59-60.

Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert

physik anknüpfen, in dem der Geist einerseits als Gegenbegriff zur Materie, andererseits aber auch als das sie beherrschende, ihre wesentliche Einheit konstituierende Prinzip aufgefasst worden war.10 Rückblickend scheint die epochale Verwendungsweise des Geist-Vokabulars nur eine minimale Variation innerhalb eines äußerst vielfältigen, weit verbreiteten und langfristig etablierten semantischen Feldes zu sein. Dennoch muss konstatiert werden, dass diese Erweiterung erst relativ spät in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang fand. Lange Zeit spielte die geschichtliche Dimension nur eine untergeordnete Rolle. Während allenthalben vom Geist einer Nation, einer Sprache oder eines Standes, vom Geist der Freiheit, des Christentums, der Wahrheit, der Dichtung und der Liebe, oder auch pejorativ vom Geist des Widerspruchs, der Freigeisterei und der Korruption die Rede war, blieb die Anwendung des Geistbegriffs auf einen mehr oder weniger genau umgrenzten Zeitabschnitt eine Seltenheit. Dieser Sachverhalt überrascht umso mehr vor dem Hintergrund der vereinzelten Stellen, in denen der Begriff tatsächlich schon epochal verwendet wurde. Diese hätten durchaus zum Katalysator einer weiteren Verbreitung werden können, was aber nicht geschah. Dieser Befund bestätigt sich auch ex negativo, wenn wir die Wörter und Wortgruppen, die ab dem späten 18. Jahrhundert mit dem Zeitgeistbegriff verknüpft sein sollten, onomasiologisch – wie es im Jargon der Historischen Semantik heißt – zurückverfolgen. Ausdrücke wie Zeitgeist, Geist des Zeitalters, esprit du temps, du siècle oder spirit of the age vermittelten, so zeigt sich, vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumeist völlig andere Bedeutungsdimensionen, als der moderne Sprachgebrauch vermuten ließe. Dabei lassen sich zwei größere Bedeutungsfelder unterscheiden. Zunächst stößt man auf, aus der mittelalterlichen Verknüpfung des saeculum mit dem Irdischen stammende, pejorativ gefärbte Verwendungen des Zeitgeistes als Bezeichnung des bloß zeitlichen Lebens. So unterschied Jakob Böhme zwischen Engeln, die „die Stimme des geoffenbahrten Worts Gottes“ direkt verlautbarten und „der Zeit Geister“, deren Artikulationsmodus als „Wiederaussprechen aus der Zeit Formungen“ zu verstehen sei. Grundlegend war in diesem Zusammenhang die metaphysische Unterscheidung zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen.11 Als der Bischof Jacques Bénigne Bossuet in der Fastenzeit des Jahres 1662 am Hofe Ludwigs XIV. eine Predigt über den Ehrgeiz hielt, setzte er den Aus-

10 Vgl. OEING-HANHOFF, 1974, Sp. 169-180 et passim. 11 BÖHME, 1682, S. 43. 323

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druck esprit du siècle mit dem amour du monde in eins.12 Die negative Konnotation, die dem Begriff in solchen Zusammenhängen anhaftete, bildet bis heute eine wichtige Komponente seines Verwendungsspektrums. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass die neuere Kritik am jeweils aktuellen Zeitgeist zumeist eine unterschiedliche temporale Struktur aufweist. Sie betrifft als umfassende Kulturkritik das Zeitalter im Ganzen in seiner geschichtlichen Verfassung. In den genannten religiösen Verwendungen dagegen galt der Begriff weniger der Charakterisierung eines Zeitabschnitts als der Abwertung bestimmter Verhaltensmuster als dem Geist der Zeitlichkeit verfallene. Auch die Rede von den Zeichen der Zeit spielte in solchen Kontexten eher auf ein apokalyptisches, denn auf ein kulturgeschichtliches Zeitmodell an.13 Solchen, an dem Gegensatz Ewigkeit-Zeitlichkeit orientierten Verwendungsweisen stellte sich eine zweite Gruppe zur Seite, in denen Geist im Sinne eines kognitiven Vermögens, einer mondän-literarischen Gewandtheit oder eines witzigen Tonfalls aufgefasst wurde. In solchen Kontexten konnten Ausdrücke wie esprit du siècle eine für uns völlig unvermutete Bedeutung haben. So enthielt der Band L‘esprit du siècle, der 1746 von François Xavier Bon de Saint-Hilaire, dem Präsidenten der Rechenkammer der Stadt Montpellier, Vorsitzender der dortigen Akademie der Wissenschaften und Pionier der europäischen Seidenproduktion, veröffentlicht wurde, keine geistige Bestandsaufnahme seiner Gegenwart. Das Buch stand vielmehr in der Tradition der Sammlungen geistreicher Maximen und Aphorismen (Esprit de Sénèque, Esprit de Montaigne, Esprit de Marivaux). Die von Bon de Saint-Hilaire vorgenommene und in der temporalen Bestimmung du siècle ausgedrückte Variation bestand lediglich darin, dass er sich nicht auf die Maximen eines einzigen Autors beschränkte. Anstatt dem Leser der „tyrannie“ einer einzigen Perspektive auf das jeweilige Thema zu überlassen, bot er ihm die Gelegenheit, „de connoître comment differens esprits ont pensé sur cette matiere; vous jouissez de la singularité des uns, de l’injustice ou de la déraison des autres: plaisir qui ne peut naître que de la comparaison.“14 Wie sich dem gleichnamigen Kapitel der Zitatensammlung entnehmen ließ, bezeichnete das Wort esprit in diesem Kontext einerseits – wie Fontenelle es

12 BOSSUET, 1772, S. 362. 13 In religiösen Zusammenhängen blieb dieser Gebrauch bis in das späte 18. Jahrhundert hinein üblich. Siehe beispielsweise: MÜLLER, 1744; LINN, 1794. 14 BON DE SAINT-HILAIRE, 1746, S. V. Die Ambivalenz der beiden Bedeutungsdimensionen kam exemplarisch zum Tragen in: LUBIÈRES, 1707. 324

Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert

ausdrückte – „une certaine facilité de produire des pensées brillantes“,15 andererseits diejenigen Personen, die sich durch den Besitz dieser Fähigkeit auszeichneten, die so genannten gens d‘esprit. Als Claude Adrien Helvétius dem esprit du siècle ein ganzes Kapitel seines Bestsellers De l‘esprit (1758) widmete, bezog dieses sich dementsprechend auf den typischen homme d‘esprit der Gegenwart vielmehr als auf den Geist des Zeitalters schlechthin. Genau genommen handelte es sich um den bel-esprit, eine redegewandte und in den geselligen Umgangsformen geschulte Figur, die in le monde zu Hause war und die Helvétius dafür kritisierte, dass sie keinerlei Beitrag für den Fortschritt der Künste und Wissenschaften leistete.16 Dass die Wortkörper, die später zur Artikulation des Zeitgeistbegriffs verwendet wurden, vor der Mitte des 18. Jahrhunderts noch ohne Weiteres für die Artikulation anderer Bedeutungsdimensionen zur Verfügung standen, bestätigt, dass der Begriff Zeitgeist erst um diese Zeit den Durchbruch in den allgemeinen Sprachgebrauch erreichte. Im späteren 18. Jahrhundert wurden die nicht-epochalen Verwendungsweisen solcher Wortkörper zunehmend an den Rand gedrängt. Wenn nun vom Zeitgeist, esprit de ce temps oder spirit of the times die Rede war, war die Erwartungshaltung des Publikums auf die zusammenfassende Betrachtung eines Zeitabschnitts abgestimmt. Während sich die Forschung zum Zeitgeistbegriff oft darauf konzentriert hat, immer frühere Stellen ausfindig zu machen, an denen der Begriff schon verwendet wurde, stellt sich vor diesem Hintergrund eher die Frage, welche Barrieren die Verbreitung der geschichtlichen Dimension des Geistbegriffs so lange verhinderten. Warum konnte sich diese augenscheinlich so nahe liegende semantische Erweiterung eines so allgegenwärtigen Vokabulars erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzen? Oder umgekehrt: Welche semantische Entwicklung führte dazu, dass die epochale Verwendung des Geistbegriffs aus dem Abseits vereinzelter Höhenkamm-Stellen in den Mittelpunkt der kulturellen Reflexionsdiskurse rückte, so dass die von den Zeitgenossen beobachtete Ubiquität des Geredes vom Zeitgeist in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts eine Welle metasprachlicher Reflexionen auslöste? Die Antwort ist gleichzeitig einfach und hochkomplex, viel- und nichtssagend. Sie lautet in aller Kürze: Verzeitlichung. Der Zeitgeistbegriff steht in seiner Entwicklung nicht allein. Er hat seinen Platz in einer langen Reihe von Begriffen, Metaphern, raumzeitlichen Deu15 FÉNELON, 1715, S. 58. 16 HELVÉTIUS, 1758, Bd. 3, S. 97-111. Siehe auch: ALLETZ, 1761, S. 212. 325

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tungsmustern, Narrativen und Gemeinplätzen, in der ein neuer, geschichtlicher Blick auf die menschliche Kultur artikuliert wurde. Diese Perspektive gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich an Popularität und wurde spätestens mit der gesellschaftlichen Verarbeitung der Französischen Revolution zu einem zentralen Thema kultureller Reflexion. Sie bildete den Nährboden, auf dem der Zeitgeistbegriff eine weitere Verbreitung finden konnte. Doch so aufschlussreich der Begriff Verzeitlichung als Ausgangspunkt konkreter Forschungsvorhaben ist, so vage und diffus ist er als Erklärungsprinzip. Er beschreibt den Wandel einer ganzen Bedeutungswelt, der erst als makroskopisches Resultat eines komplexen Geflechts uneinheitlicher Bewegungen auf der semantischen Mikro- und Mesoebene – die jeweils eine eigene Dynamik entfalten – erkennbar wird. Als solches hat dieses Phänomen nicht den Charakter eines einmaligen Ereignisses oder selbst einer einheitlichen Entwicklung. Es ereignet sich als räumlich und zeitlich verstreute Emergenz. Aus diesem Grund kann seine Erörterung nur in der Form einer fortschreitenden, einkreisenden Charakterisierung geschehen. Einen kleinen, aber wichtigen Schritt in diesem Vorhaben bildet die Geschichte des Zeitgeistbegriffs. Nicht nur, weil in ihm die neue geschichtliche Perspektive paradigmatisch auf den Begriff gebracht wurde, sondern auch, weil sich an seiner Entwicklung die Hindernisse und Widerstände, mit denen die geschichtlichen Semantiken zu kämpfen hatten, exemplarisch nachzeichnen lassen. Analytische Kategorien wie Aufstieg, Emergenz und Verbreitung haben in der Historischen Semantik ihren Platz, können aber leicht den falschen Eindruck einer reibungslosen Erfolgsgeschichte wecken. Sie verdecken, dass die Etablierung eines neuen Begriffsgebrauches stets in der expliziten und impliziten Auseinandersetzung mit alternativen Semantiken geschieht, die andere – zum Teil sehr langfristig etablierte – Deutungsmuster für die jeweiligen zur Diskussion stehenden Phänomenbereiche bereitstellen. Aus diesem Grund sollen im Folgenden die diskursiven Effekte solcher semantischen Konfliktlinien im Mittelpunkt stehen. In einem zweiten Schritt soll dabei auf die Rolle der Gegen- und Meta-Diskurse, die den Zeitgeistbegriff stets begleiteten, eingegangen werden. Diese bildeten, so wird zu zeigen sein, nicht nur einen wesentlichen kontextuellen Faktor in der Verbreitung des Begriffs, sondern hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf seine Semantik.

326

Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert

3. Montesqui eu: Synchrone und diachrone Logiken des Geistes Ein Phänomen, das gleichzeitig als eminenter Ausdruck des neuen kulturgeschichtlichen Bewusstseins und als Katalysator seiner Verbreitung angesehen werden muss, ist die Etablierung einer neuen Gattung kulturgeschichtlicher Reflexionen um die Mitte des 18. Jahrhunderts.17 Exemplarisch dafür war Voltaires Essai sur les mœurs (1756), dessen erklärtes Ziel es war, „toûjours d’observer l’esprit du tems; c’est lui qui dirige les grands événements du monde.“18 Neben solchen historiographischen Zusammenhängen wurde der Begriff Zeitgeist zunehmend auch auf das eigene Zeitalter angewendet. Eine Vielzahl von Schriften widmete sich unter seiner Überschrift der spirituellen Bestandsaufnahme der Gegenwart. Ein charakteristisches Merkmal solcher Schriften war, dass sie die Kultur als Kampfplatz geistiger Mächte beschrieben. Dieses Deutungsmuster verbreitete sich nach der Jahrhundertmitte schnell. Die philosophes bekämpften mit dem esprit de doute den metaphysischen esprit de systême. Rousseau und seine Anhänger machten den esprit de société für den Rückfall des Menschen aus seinem glücklichen Naturzustand verantwortlich. Überall in Europa warnte man vor dem verheerenden Einfluss des Parteigeistes auf den Geist nationaler Einheit. Im Hinblick auf den allgemeinen Geist des Zeitalters erschienen solche Tendenzen als Siege und Niederlagen in einem immerwährenden Kampf um die spirituelle Herrschaft über die Zeit. Ein Werk, das Geist als analytischen Begriff zu neuem Ansehen verhalf und als solches eine entscheidende Etappe in seiner Verbreitung bildete, war Montesquieus De l’esprit des loix (1748).19 Das Anliegen dieses Werks war es, der hinter der positiven Rechtsordnung liegenden Identität politischer Systeme – die Montesquieu als den Geist der Gesetze bezeichnete – auf die Spur zu kommen. In einem zweiten Schritt brachte der Autor die Eigenart dieser Identität mit dem esprit général der jeweiligen Nation in Verbindung.20 Diese wiederum ließ sich anhand einer Vielfalt geographischer, sozialer, wirtschaftlicher und historischer Bedingungen kontextualisieren. 17 Vgl. zur Einführung: PERINETTI, 2006. 18 VOLTAIRE, 1756, Bd. 2, S. 162. 19 Vgl. GEMBICKI, 1996, S. 247-249; ROMANI, 2002, S. 19-62; SPECTOR, 2005; KOSCHORKE, 2006. 20 MONTESQUIEU, 1749, Bd. 1, S. 14; Bd. 2, S. 311. 327

Theo Jung

Eine eigenartige – aber für die zeitgenössische Semantik bezeichnende – Ambivalenz durchzog Montesquieus Verwendungen des Geistesvokabulars. Wie es die Logik seines Hauptwerks erforderte, verwendete er den Geistbegriff zunächst, um synchrone Unterscheidungen zwischen gesellschaftlichen Sektoren oder unterschiedlichen Herrschaftssystemen zu artikulieren. In diesem Sinne kontrastierte er den Geist der Monarchie mit dem der Republik, oder den des Adels mit dem des Handels. Unterschwellig klang in solchen Unterscheidungen aber auch ein alternatives Deutungsschema an, das mit der Architektur des Werks nicht lückenlos zusammenpasste, nichtsdestotrotz aber immer wieder hervortrat. Grundprinzip dieser alternativen Verwendungslogik des Geistesvokabulars war weniger die synchrone Gegenüberstellung unterschiedlicher Herrschaftstypen oder kultureller Sektoren, als vielmehr die diachrone Entwicklung des Geistes der europäischen Kultur im Ganzen. Ein Beispiel, an dem sich die Effekte dieser gegensätzlichen Logiken in der kulturellen Reflexion der Zeit nachzeichnen lassen, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Adel und Kommerz. Die traditionelle dérogeanceGesetzgebung formulierte bezüglich der erlaubten Erwerbstätigkeit des Adels klare Beschränkungen: der überseeische und der Großhandel waren ihm gestattet, nicht aber der Einzelhandel. In solchen Regulierungen kam eine langfristig etablierte und verbreitete Vorstellung zum Ausdruck, welche die militärische und die kommerzielle Sphäre als Gegensätze begriff, deren Verbindung unpassend sei. Seit dem 17. Jahrhundert waren, zunächst in England und den Niederlanden, gegen diese traditionelle Ansicht immer wieder Einwände vorgebracht worden. Indem auf das verarmte Dasein vor allem provinzieller Adeliger oder auf die Verluste für die Wohlfahrt der jeweiligen Nation hingewiesen wurde, stellte man die prinzipielle Trennung der militärischen von der kommerziellen Sphäre als überholt dar. Im französischen Kontext wurde dabei immer wieder auf das Vorbild Englands hingewiesen, wo – wie der populäre Autor von Erziehungsliteratur Charles-François-Nicolas Le Maître de Claville bemerkte – sich auch die „familles les plus distingués“ am Handel beteiligten. „Je ne sai pas pourquoi le commerce est moins en honneur parmi nous? Trouve-t’on moins de probité, moins de sincerité, moins de franchise, & moins d’esprit chez un bon Marchand que chez la plûpart des gens de qualité?“21 21 LE MAÎTRE DE CLAVILLE, 1737, Bd. 2, S. 118. Und: „Je crois que le commerce & la guerre concourent également à la gloire d’un Etat, & qu’il est aussi convenable aux interêts d’un grand Roi d’enricher ses sujets que de reculer ses frontieres.“ 328

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Auch Montesquieu mischte sich in diese Diskussionen ein. Zunächst differenzierte er den commerce, dem Aufbau seines Werks gemäß, nach den unterschiedlichen politischen Systemen. Während die Monarchie aufgrund ihrer Vorliebe für „grands objets“ dazu neige, sich auf den Luxushandel zu konzentrieren, widme sich die Republik eher dem auf kleine, aber stetige Gewinne ausgerichteten „commerce d‘économie“. Den Prototyp einer kommerziellen Nation bilde England: im Namen eine Monarchie, im Geiste eine Republik. „D’autres nations ont fait ceder des interêtt [sic] de commerce à des interêts politiques: celle-ci a toujours fait céder ses interêts politiques aux interêts de son commerce.“22 Montesquieus Darstellung der Briten war durchaus positiv. Daraus sollte aber, so betonte er wiederholt, nicht gefolgert werden, dass Frankreich sich an ihnen ein Beispiel nehmen solle.23 Dies würde dem Grundsatz widersprechen, dass sich die Gesetzgebung eines Landes nach dem Geist seines politischen Systems zu richten habe. England sei als Republik wesentlich dem Kommerz verschrieben. Gerade auch die Tatsache, dass der Adel am Handel beteiligt war, habe dazu beigetragen, den monarchischen Geist dieser Nation zu schwächen. Im Falle der französischen Monarchie würde eine solche Politik also ihre Grundordnung gefährden, denn: „Il est contre l‘esprit de la monarchie que la noblesse y fasse le commerce.“ Und umgekehrt: „Il est contre l‘esprit du commerce que la noblesse y fasse dans la monarchie.“24 In solchen Kontexten verwendete Montesquieu den Geistbegriff synchron, um die Bereiche des Kommerzes und des Militärs voneinander zu trennen. An anderer Stelle jedoch klang eine diachrone Bedeutungsdimension durch, die sich mit der Logik des Werkes nur schwer in Einklang bringen ließ. So beispielsweise, als Montesquieu die Kirchenpolitik Ludwigs des Frommen auf den „esprit général de son temps“ zurückführte.25 Auch bezüglich des kommerziellen Geistes lässt sich dieselbe Ambivalenz beobachten. Während Montesquieu diesen Begriff in erster Linie zur Charakterisierung eines gesellschaftlichen Sektors und – demgemäß – des republikanischen Herrschaftssystems verwendete, verknüpfte er ihn an anderer Stelle mit dem Charakter der Moderne schlechthin. Auch die – immer wieder abgestrittene, aber gerade deswegen umso auffälligere – Tendenz des Werks, seinem französischen Publikum Eng-

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MONTESQUIEU, 1749, Bd. 3, S. 5-8, S. 10. EBD., Bd. 1, S. 139-146. Vgl. BAKER, 1990, 173-178. MONTESQUIEU, 1749, Bd. 3, S. 23-26. EBD., Bd. 4, S. 321. 329

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land als weiter fortgeschrittenes Exempel zu empfehlen, führte in diese Richtung. In seinem privaten Notizbuch schrieb Montesquieu: „Chaque siècle a son génie particulier: un esprit de désordre et d‘indépendance se forma en Europe avec le gouvernement gothique; l‘esprit monacal infecta les temps des successeurs de Charlemagne; ensuite regna celui de la chevalerie; celui de conquête parut avec les troupes réglées; et c‘est l’esprit de commerce qui domine aujourd‘hui.“26

Der entscheidende Gegensatz in diesem Deutungsmodell – der im Ausdruck génie du siècle auf den Begriff gebracht wurde – befand sich also nicht zwischen der französischen Monarchie und der englischen Republik, sondern zwischen dem modernen Europa und seinen Vorgängern. Die Differenz zwischen den beiden Modellen kam in der unterschiedlichen Stellung des Kommerzes zum Ausdruck. Der Handel an sich war, betonte Montesquieu, nichts Neues. Ihn hatte es auch schon in der Antike gegeben. Doch sei er damals stets dem kriegerischen „esprit de conquête“ dieses Zeitalters untergeordnet gewesen. Seitdem aber habe sich das Ansehen Europas geändert. Die Entwicklung der Technologie moderner Kriegsführung, die Steigerung des Lebensstandards, die Angleichung nationaler Wohlfahrtsniveaus und die (wesentlich aus dem Handel entstehende) Intensivierung des Informationsaustausches hätten dazu geführt, dass Europa nunmehr ein eng verknüpftes System sei, in dem die Nationalstaaten und ihre Eigenart zugunsten einer höheren – kommerziell geprägten – Einheit in den Hintergrund träten. Erst in der Gegenwart sei der Geist des Kommerzes folglich zu einem herrschenden Prinzip ausgewachsen.27 Die widersprüchlichen Verwendungslogiken des montesquieuschen Geistesvokabulars sind in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Für manche Interpreten stellen die Hinweise auf das geschichtliche Entwicklungsschema eine unwesentliche Abweichung von der eigentlichen Systematik seines Denkens dar.28 Andere – wie jüngst Henry C. Clark29 – haben gerade solche Äuße26 DERS., 1941, S. 50f. Die Notiz bezog sich allem Anschein nach auf ein berühmtes Wort Saint-Évremonds: „Tous les Tems ont un Caractére qui leur est propre, ils ont leur Politique, leur Interêt, leurs Affaires: ils ont leur Morale, en quelque façon, ayant leurs Défauts & leurs Vertus.“ SAINT-ÉVREMOND, 1706, S. 112. 27 MONTESQUIEU, 1749, Bd. 1, S. 42; Bd. 3, S. 75-89. 28 So beispielsweise Joachim Moras, der bezüglich der historischen Dimension des Geistbegriffs einräumen muss, dass Montesquieus „Gedanke des ‚esprit général‘ 330

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rungen als seine wahre Ansicht angesehen. Sie verstehen die Struktur des Hauptwerkes als Verdeckungsstrategie, die auf dem Instrument eines doppelten Vergleichs gründet: Indem Montesquieu immer wieder die Vorteile der Monarchie dem Despotismus gegenüber betont, lenke er von der Tatsache ab, dass diese im Vergleich zur (englischen) Republik nicht so gut abschneidet. Sicherlich enthielt die Logik des geschichtlichen Deutungsmusters implizit eine politisch kontroverse und somit nicht ungefährliche Botschaft. Wenn Europa im Geiste schon eine föderale Republik des Kommerzes war, dann war die zentralistische Monarchie Frankreichs vielleicht nicht der Motor der Modernität, für den ihn viele hielten. War sie dann nicht eher ein Anachronismus, ein geschichtlicher Überrest, der nur noch darauf wartete, dass der kommerzielle Geist der Moderne ihn beseitigte? Es gab gute Gründe, eine solche Analyse hinter einer scheinbar unparteiischen Systematik zu verdecken. Andererseits ist eine Lektüre Montesquieus, bei der der Interpret gezwungen ist, einen Großteil seiner Aussagen außer Acht zu lassen, aus hermeneutischer Sicht nicht unproblematisch.30 Aus einer begriffsgeschichtlichen Perspektive stellt sich der Widerspruch zwischen den synchronen und diachronen Verwendungsweisen aber nicht als zu lösendes Interpretationsproblem dar. Die Frage, welche der beiden Alternativen Montesquieu in der Tiefe seines Herzens bevorzugte, ist aus biographischer Perspektive sicherlich interessant – geht an den Fragestellungen der Historischen Semantik aber vorbei. Aus ihrem Blickpunkt ist die Uneinheitlichkeit des Begriffsgebrauchs selbst ein wichtiges Phänomen, das aus zweierlei Gründen Relevanz für die Entwicklung des Zeitgeistbegriffs hat. Erstens zeigt es exemplarisch an einem konkreten Fall, wie sich die diachrone Bedeutungsebene des Geistbegriffs allmählich neben der synchronen etablierte. Zweitens wird an dieser Stelle aber auch deutlich, dass die beiden Bedeutungsebenen nicht unvermittelt nebeneinander standen. Zwischen ihnen herrschte eine semantische Spannung, die auf der Ebene der Argumentation zu Widersprüchen führen konnte. nicht überall dem logischen Zwang seiner Ableitung unterliegt und dass es Stellen gibt, an denen er, allerdings in begrifflicher Verschwommenheit, Ausblicke in Weiten tun lässt, die erst Spätere begangen haben.“ MORAS, 1930, S. 17. 29 Vgl. CLARK, 2007, S. 90 und S. 123-125. 30 Clark sieht sich gezwungen, verschiedene Äußerungen Montesquieus explizit aus seiner Interpretation auszuschließen. Wo es um die erwähnte These geht, die Tatsache, dass es dem englischen Adel erlaubt war, Handel zu treiben, habe die Monarchie ebendort geschwächt, schreibt er: „It is simply not possible, given all that we know from elsewhere, to take this apparent preference of France seriously.“ EBD., S. 128. 331

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4. Die Deba tte um die noblesse commerçante: Ausw irkungen sem antischer Ambi vale nz Die im Werk Montesquieus aufgezeichnete Spannung zwischen der diachronen und der synchronen Bedeutungsdimension des Geistbegriffs kam in den Diskursen der Folgezeit immer wieder zum Tragen. Die zeitgenössische Resonanz des De l‘esprit des loix und seiner Terminologie kann kaum überschätzt werden. Was den Geistbegriff betrifft, war sie aber, wie das Werk selbst, keineswegs einheitlich. Auch hier bietet die Diskussion um das Verhältnis zwischen Adel und Kommerz wiederum ein prägnantes Beispiel.31 Mit der Veröffentlichung der Streitschrift La noblesse commerçante (1756) des Abbé Gabriel-François Coyer erreichte die Kontroverse einen neuerlichen Höhepunkt.32 Dass dieses Pamphlet solche Wellen schlug, hing nicht zuletzt mit dem Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs zusammen, der der Frage nach der militärischen Rolle des Adels erneute Dringlichkeit verlieh. Gleichzeitig rückte der Machtstreit zwischen dem Hof und den Parlamenten über die Rechte der Nation und die despotischen Tendenzen Ludwigs XV. seine politische Funktion ins Rampenlicht. Schließlich stellte die fortschreitende systematische Vermarktung von Ämtern, die eine Aufnahme in den Adel mit sich brachten, die Legitimität dieser Titel in Frage.33 Nicht weniger wichtig war es aber, dass der Abbé die Fragestellung auf eine neue Ebene hob. Er stellte die Frage nach den Erwerbstätigkeiten des Adels nicht nur als politisch-rechtlichen Streitpunkt, sondern als Grundsatzfrage nach den Prinzipien der sozialen Ontologie zur Diskussion. In der bestehenden Gesellschaftsordnung des Ancien Régime, so Coyer, galt der Kaufmann nichts. Wollte er „parvenir à ce qu‘on appelle en France être quelque chose“, so sähe er sich gezwungen, seinen Beruf aufzugeben. Genau das war seiner Meinung nach das Grundproblem der französischen Gesellschaft: „Ce mot mal entendu fait de grands ravages. Pour être quelque

31 Helvétius erklärte die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem esprit de commerce und dem esprit militaire zu einem der großen ungelösten Probleme der Moralphilosophie. HELVÉTIUS, 1758, Bd. 3, S. 105. 32 COYER, 1756. Vgl. SMITH, 2000; DERS., 2005, S. 104-131. In Frankreich erschienen mindestens dreißig individuelle Beiträge. Noch im selben Jahr kam eine deutsche Übersetzung der Texte von Coyer und d’Arc, einschließlich einer Einleitung aus der Feder des berühmten Staatsökonomen Johann Heinrich Gottlob von Justi, heraus. Zur weiteren Rezeption, vgl. ADAM, 2003. 33 SMITH, 2005, S. 109, S. 129-131. 332

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chose, une grande partie de la Noblesse reste dans le rien.“34 Das Wortspiel wies auf die prinzipielle Frage hin, was es hieß, etwas zu sein. Der Autor unterschied zwei mögliche Antworten, die er nicht nur als eine aristokratische und eine kommerzielle, sondern vor allem als eine veraltete und eine moderne Alternative darstellte. Damit war die Streitfrage um eine geschichtliche Dimension bereichert. Die Idee eines Handel treibenden Adels sei, räumte Coyer ein, in den „tems barbares du gouvernement féodal“, abwegig gewesen.35 Aber die Zeiten, in denen das Schwert entschied, seien vorbei. Seine Herrschaft sei von der des Geldes abgelöst worden. Kommerz sei in der modernen Welt also nicht länger bloß ein Teilbereich der Kultur. Er sei zu ihrem wesentlichen Charakteristikum ausgewachsen. Sogar über seinen traditionellen Kontrastbereich, die Kriegsführung, habe er mit der Erfindung des Schießpulvers und der Feuerwaffe seine Herrschaft ausgebreitet.36 Kommerz sei also nicht nur „nerf de l‘Etat“, sondern im aktuellen politischen System Europas auch „l‘ame des interêts politiques & de l’équilibre des Puissances.“37 Anhand solcher Ausdrücke konstruierte Coyer eine Geschichtsnarration, die am Adel in seiner traditionellen Form längst vorbeigeschritten war. Coyers Pamphlet löste eine Fülle von Erwiderungen aus. Die wirkungsreichste unter ihnen war das noch im selben Jahr erschienene Pamphlet La noblesse militaire des Chevalier Philippe-Auguste de Sainte-Foix d‘Arc.38 Wie schon bei Coyer war hier der Titel Programm. Der Adel, so die Kernthese, sei als Kriegerstand für das Wohlergehen der patrie unersetzbar. Obwohl d‘Arc an sich am Handel nichts auszusetzen hatte, werde die Beteiligung des Adels an ihm unweigerlich zu Luxus und Verweichlichung führen und so schließlich die

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COYER, 1756, S. 144. EBD., S. 11. EBD., S. 107. EBD., S. 112. D’ARC, 1756. Im folgenden Jahr veröffentlichte Coyer eine zweibändige Antwort, in der er seine Argumente in verschärfter Form wiederholte. Von seinen Gegnern herausgefordert, ließ er sich sogar zu der durchaus revolutionären Äußerung verführen, die Gesellschaft bestehe aus zwei Gruppen: „L’une active qui produit sans cesse: tels sont les laboureurs, les ouvriers, les artisans, les matelots & les commerçants. L’autre classe comprend le clergé seculier & regulier, les gens de guerre, de justice, de finances, les rentiers, les laquais, les mendians, les fainéans & grands seigneurs. Cette seconde classe [...] fait uniquement pour user, ne produit aucune richesse.“ COYER, 1757, Bd. 1, S. 37-38. Vgl. MAZA, 1997, S. 204-206; SMITH, 2000, S. 348; DERS., 2005, S. 112. 333

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nationale Sicherheit gefährden. Die „inégalité harmonique des rangs“, das Grundprinzip der monarchischen Staatsform, wurde somit als funktionale Differenzierung der Gesellschaft legitimiert.39 Wie Jay M. Smith betont hat, sollte diese Debatte nicht voreilig anhand des einfachen Gegensatzes zwischen Aufklärung und Konservatismus, Bürger und Adel, Fortschrittsdrang und Nostalgie interpretiert werden. Die Auseinandersetzung so zu lesen, hieße ihrer Rhetorik anheimzufallen. Selbst wenn ihre Lösungen unterschiedlich ausfielen, konzipierten die beiden Kontrahenten das Problem, vor das sie sich gestellt sahen, prinzipiell in ähnlichen Kategorien. Auch d‘Arc war von der Notwendigkeit einer Reform des Adels überzeugt. Auch er sprach mit Abscheu von einer im Luxus schwelgenden, untätigen Klasse. Auch er goss seine Argumente in ein Vokabular, das letztendlich mehr auf Produktivität und Patriotismus denn auf Geburt und Ehre ausgerichtet war: „Le citoyen oisif, par conséquent inutile, est criminel envers sa patrie, & lui dérobe tout ce qu‘il consomme. Le Gentilhomme est citoyen avant d‘être Noble“.40 Auf solche Sätze hätten sich Coyer und d‘Arc einigen können. Die Parameter dieses „struggle for classification“, wie Smith ihn nennt, waren durch die Kategorien von De l‘esprit des loix vorgegeben.41 Dass beide Seiten der Auseinandersetzung sich auf dieses Werk stützten, war ein Zeichen seiner unangefochtenen Autorität in Fragen politischer Systematik. Dass sich trotz dieser gemeinsamen Ausgangsbasis eine dermaßen heftige und bis in die 70er Jahre des 18. Jahrhunderts andauernde Kontroverse entfaltete, rührte von der semantischen Ambivalenz her, die das Werk durchzog. D‘Arc nutzte die republikanischen Konnotationen des Kommerzbegriffs, um ihn als Gefahr für die monarchische Ordnung darzustellen. Das monarchische Prinzip der hierarchisch geordneten Ungleichheit war sein Hauptargument gegen die noblesse commerçante. Die von Montesquieu vorgebrachten Argumente konnte er dankbar benutzen: Jeder gesellschaftlichen Klasse lag ein unterschiedliches Wertesystem zugrunde, nach dem sie sich konstituierte. Ehre (honneur), Ansehen (considération) und Ruhm (gloire) als Grundwerte des militärischen Standes passten nicht mit den Werten des Interesses (intérêt) und Eigennutzes (amour propre) zusammen, welche den Bereich des Kommerzes konstituierten. D‘Arc beschrieb die beiden Wertetafeln als alternative, parallel ablaufende Ökonomien: 39 D’ARC, 1756, S. 40. 40 EBD., S. 188. Siehe auch: S. 149. 41 SMITH, 2005, S. 110f. Vgl. auch: CLARK, 2007, S. 136, S. 150. 334

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„L‘honneur se paye par l‘honneur; [...] L‘intérêt se paye par l‘intérêt“. 42 Die Mischung beider Bereiche würde die hierarchisch geordnete, funktionale Differenzierung der Gesellschaft und damit das monarchische System im Ganzen gefährden.43 Coyer stellte dieser funktionalen Differenzierung eine geschichtliche entgegen. Die Vorstellung, dass sich eine Kriegerklasse auf die Aufgabe der Grenzverteidigung konzentriere, während der Rest des Volkes die Existenz der Nation auf tagtäglicher Basis sicherte, schien ihm im Kontext der modernen, kommerziellen Gesellschaft absurd.44 So entfaltete sich die Auseinandersetzung im Rahmen des Geistesvokabulars. D‘Arc stellte dem „esprit de combinaison“ des Adels und dem „esprit de conquête“ der Monarchie den „esprit de calcul“ des Händlers gegenüber.45 Auch für Coyer war der Händler im Wesentlichen ein Rechner: „La vie d’un commerçant est un calcul continuel“.46 Gerade das aber machte ihn in seinen Augen zum modernen Menschen, zur Gestalt des kommerziellen Zeitalters. Kommerz und Kalkül seien die Werte der Zukunft und – ihr Geist: „Il paroît que ce double esprit fait chaque jour de nouveaux progrès chez les Nations les plus réfléchies & qu’il se prépare à fixer le sort de notre Continent.“47 Der geschichtliche Gegensatz zwischen dem kommerziellen Geist der Moderne und dem in die Vergangenheit projizierten martialischen Geist würde sich in der Folge durchsetzen. Bekannt ist der Ausruf Burkes: „The age of chivalry is gone. – That of sophisters, oeconomists, and calculators has succeeded, and the glory of Europe is extinguished for ever.“48 Andere deuteten den Aufstieg des kommerziellen Geistes jedoch positiv. In einer Zeit, in der Europa immer wieder von gewaltsamen Konflikten heimgesucht wurde, konnte der Handel als zukunftsträchtige Form zwischenstaatlicher Kommunikation gelten. Montesquieu hatte in seinem Kapitel über den esprit de commerce geschrieben: „[C]‘est presque une règle générale, que partout où il y a des mœurs 42 D’ARC, 1756, S. 141, S. 60f., S. 105. 43 „Chaque classe principale ou dérivée, a ses fonctions séparées, & forme des membres qui la composent une espece de corps qui se meut sous l’autorité des loix & sous le pouvoir du Prince. Les fonctions de chacun de ces corps ont toutes pour objet l’intérêt général, & cet intérêt est le point central où ces trois classes se réunissent.“ EBD., S. 3f. 44 COYER, 1757, Bd. 2, S. 187-189. 45 D’ARC, 1756, S. 13f., S. 58, S. 61f. 46 EBD., S. 49; COYER, 1757, Bd. 2, S. 153. 47 EBD., Bd. 2, S. 153f. 48 BURKE, 1790, S. 113. 335

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douces, il y a du commerce; et que partout où il y a du commerce, il y a des mœurs douces.“ Auf der nächsten Seite zog er die nahe liegende Schlussfolgerung: „L‘effet naturel du commerce est de porter à la paix.“49 Die friedliche Konnotation des Kommerzes konnte in der Folge zum Ausgangspunkt einer positiven Bewertung der Kommerzialisierung Europas werden, die gerade vor dem Hintergrund immer neuer Kriege Aktualität besaß. So beispielsweise im Jahr 1814, als Benjamin Constant eine Schrift mit dem Titel De l‘esprit de conquête et de l‘usurpation, dans leur rapports avec la civilisation européenne veröffentlichte. Die Basis seiner Argumentation bildete der Gegensatz zwischen den peuples guerriers der Antike und den friedlich gesinnten Völkern der Moderne. Die kriegerische Realität Europas war, so Constant, dementsprechend eine üble, aber vorübergehende Abweichung vom gegenwärtigen „esprit des nations et celui de l‘époque“, vom „esprit général“ und dem „esprit du siècle“.50 „Nous sommes arrivés à l’époque du commerce, époque qui doit nécessairement remplacer celle de la guerre, comme celle de la guerre a du nécessairement la précéder. […] L‘une est l‘impulsion sauvage, l‘autre le calcul civilisé.“51

Am Beispiel des kommerziellen Geistes lässt sich die Entwicklung der Geistsemantik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts exemplarisch nachzeichnen. Um die Mitte des Jahrhunderts überwogen im Geistvokabular weiterhin Verwendungen im Sinne eines synchronen Modells funktionaler Differenzierung – sei es innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen unterschiedlichen Gesellschaftstypen. Ab diesem Zeitpunkt jedoch verbreiteten sich allmählich auch diachrone Verwendungen im Sinne einer geschichtlichen Bedeutungsdimension – des Zeitgeistes. Deren Logik ließ sich aber nicht immer mit den synchronen Deutungsschemata in Einklang bringen, so dass konkrete gesellschaftliche Kontroversen anhand der Ambivalenzen des Geistvokabulars ausgetragen werden konnten. Im Laufe der Zeit setzte sich die historische Dimension stärker durch, so dass der als notwendig dargestellte Gang des Geistes in der Geschichte zu einem Argument für oder gegen bestimmte gesellschaftliche Phänomene oder politische Ziele ausreifte. 49 MONTESQUIEU, 1749, Bd. 3, S. 2f. Vgl. HIRSCHMAN, 1977, S. 56-63. 50 CONSTANT, 1814, S. 1f., S. 6-10. 51 EBD., S. 7f. 336

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5. Geschichtspoli tik und die Macht des Zeitgeiste s Der definitive Durchbruch des Zeitgeist-Begriffs setzte mit der Reaktion und Reflexion auf die Französische Revolution ein.52 Mehr noch als ein sozialpolitisches stellte der Zusammenbruch des Ancien Régime für die Zeitgenossen ein spirituelles Ereignis dar. Franz Josias von Hendrich, geheimer Regierungsrat in Meiningen, war einer von vielen, die den Zeitgeist für die Krise verantwortlich machten. In seinem anonym erschienenen Ueber den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffentlichen Meynung (1797) warnte er sogar ausdrücklich davor, die Ursachen der Revolution auf der materiellen Ebene anzusiedeln. „Man irret wirklich, wenn man glaubt, dass die Hauptquelle der französischen Revolution das allgemeine Elend gewesen sey. […] Was hat also zunächst die Revolution veranlasst? Ich antworte: der Genius des Zeitalters, den man zur Widersetzung reizte, anstatt ihn vorsichtig zu leiten und nicht auf Abwege gerathen zu lassen.“53

Eine richtige Erklärung müsse, so erläuterte er, bei der „Veränderung der Menschen in ihren Begriffen und Ideen“ ansetzen und den „dadurch erzeugten Geist des Zeitalters“ berücksichtigen.54 In der Suche nach den Ursachen der Revolution spielte die Frage nach dem richtigen Verhalten des Staatsmannes angesichts der sich wandelnden geistigen Konstitution der Zeit eine Hauptrolle. Nach von Hendrichs Ansichten war es nicht zuletzt die geschichtspolitische Ungeschicklichkeit der Führungsschicht gewesen, die den Zeitgeist zur Rebellion gereizt hatte. Sicherlich solle man, räumte er ein, nicht jeder Innovation unmittelbar nachgeben. Ideen, die einmal Wurzel geschlagen hatten, zu unterdrücken, sei aber ebenso sinnlos wie gefährlich. Politische Weisheit bestehe, so meinte er, vor allem darin, „dem Geiste des Zeitalters [zu] folgen.“55 Solche Argumente waren weit verbreitet. Speziell Autoren, die graduelle Reformen für notwendig hielten, bezogen sich zur Begründung ihrer Unausweichlichkeit auf den eigengesetzlichen Fortschritt des Zeitgeistes. Anpassung

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Vgl. STADLER, 2006, S. 266 et passim. Von HENDRICH, 1797, S. 92. EBD., Vorbemerkung, o. S. EBD., S. 175f. Siehe auch: DERS., 1794, S. 61f. 337

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war, so meinte auch der Schriftsteller Johann Jakob Engel in seinem Fürstenspiegel (1798), die einzig praktikable Option. „Könige! Ruft so laut die Geschichte, wagt es nicht, gegen den herrschenden Geist eurer Zeit anzukämpfen; er ist durch eine Folge von Jahrhunderten eben so unwidertreiblich herbeigeführt, als es durch die periodischen Umwälzungen des Himmels die Jahreszeiten sind: es ist gleich thöricht, diese oder jenen zurückhalten zu wollen.“56

Auch Arthur Young, Sekretär der englischen Landwirtschaftskammer, rief im Bericht von seiner Reise über das europäische Festland die Regierungen der italienischen Kleinstaaten dazu auf, sich dem Gang der Geschichte zu beugen. „The wisdom applicable to the present moment, is to watch the colour and spirit of the age; to compound, and to yield, where yielding is rational.“57 Doch gab es auch andere Stimmen. So meinte der preußische Staatsmann Jean Pierre Frédéric Ancillon, der kapitale Fehler der französischen Regierung vor der Revolution habe gerade darin bestanden, sich der „Knechtschaft des sogenannten Zeitgeistes“ auszuliefern, „anstatt sie zu beherrschen“.58 Der Dichter Johann Wilhelm Vater Gleim (1719-1803) ging noch weiter. In seinem Der Geist der Zeit riet er: „Kennst du den Geist der Zeit, so stürm‘ auf ihn und tobe / So lange bis er stirbt!“59 Während der Zeitgeist einerseits als Argument für einen bestimmten politischen Kurs herangezogen werden konnte, bot seine Unabwendbarkeit rückblickend einen Legitimationsgrund für bereits gefällte politische Entscheidungen. Eine Politik, die mit dem Geist der Zeit in Einklang war, sei notwendigerweise vorteilhaft; stelle sie sich diesem entgegen, so könne sie auf Dauer nur schädliche Folgen nach sich ziehen. Die rhetorische Wirkungskraft dieses Topos war groß, so dass er auf allen Seiten des politischen Spektrums zur Anwendung kam. In März 1814, kurz nach Napoleons erstem Sturz, veröffentlichte der Diplomat und Schriftsteller François-René de Chateaubriand ein Pamphlet, in dem er die Franzosen zur Unterstützung der wiederhergestellten Monarchie 56 ENGEL, 1802, S. 172f. So auch Chateaubriand, der schrieb: „Tout change, tout se détruit, tout passe. On doit, pour bien servir sa patrie, se soumettre aux révolutions que les siècles amènent; et, pour être l’homme de son pays, il faut être l’homme de son temps.“ CHATEAUBRIAND, 1814b, S. 89. 57 YOUNG, 1794, Bd. 2, S. 258, siehe auch: WEBER, 1833, S. 294. 58 ANCILLON, 1816, S. 75f. 59 GLEIM, 1794, S. 181. 338

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aufrief. „Buonaparte“, wie er den einstmaligen Kaiser jetzt wieder nannte, sei „un aventurier extraordinaire“ gewesen, „enfantant sans cesse de nouveaux plans, imaginant de nouvelles lois, ne croyant régner que quand il travaille à troubler les peuples, à changer, à détruire le soir ce qu’il a créé le matin.“ Ein solcher Mensch sei in dieser Situation für Frankreich nicht der Richtige. Ludwig XVIII. dagegen, so meinte er, bekannt wegen seiner umsichtigen und gemäßigten Politik, „convient le mieux à notre position et à l’esprit du siècle.“60 Napoleon selbst sah das – als er im nächsten Jahr für weitere hundert Tage auf die europäische Bühne zurückkehrte – offensichtlich anders. Er war davon überzeugt, dass seine Regierung mit dem Zeitgeist in Einklang war. In der in unterschiedlichen Zeitungen abgedruckten Präambel zur Verfassung des neu gegründeten Kaiserreichs war zu lesen: „Nous avions alors pour but d’organiser un grand système fédératif européen, que nous avions, adopté comme conforme à l’esprit du siècle, et favorable aux progrès de la civilisation“.61 Seine Offenheit für unterschiedliche Deutungen machte den Zeitgeistbegriff vielseitig verwendbar. Dieselbe Flexibilität konnte aber – darauf wird noch ausführlicher einzugehen sein – auch als Unschärfe oder Beliebigkeit ausgelegt werden. Eine populäre Strategie, diese Ungreifbarkeit des Zeitgeistes zu stabilisieren, war, ihn entweder von alternativen kulturellen Tendenzen ohne wirkliche gesamtkulturelle Signifikanz oder von anderen, negativ konnotierten Geistern abzugrenzen. Vor allem mit der Mode – seiner „unächte[n] Schwester“62 – wurde der Zeitgeist immer wieder positiv kontrastiert. Die Verwendungsspektren beider Begriffe überschnitten einander offensichtlich stark. Der Modebegriff aber brachte Konnotationen flüchtiger Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit mit sich, welche die Interpreten des Zeitgeistes nicht gebrauchen konnten. Ein zweiter wichtiger Kontrastbegriff war der Parteigeist. Auf ihn konnten negative Konnotationen ausgelagert werden, um so den wahren Zeitgeist für die eigene Position in Anspruch zu nehmen. Die Flexibilität dieser Argumentationsform war groß, so dass die Autorität des Zeitgeistes nicht nur für die Notwendigkeit von Reformen, sondern auch gegen sie herangezogen werden 60 CHATEAUBRIAND, 1814a, S. 58f. Rückblickend würde er diese Situation ganz anders einschätzen: „Retomber de Bonaparte et de l’Empire à ce qui les a suivis, c’est tomber de la réalité dans le néant, du sommet d’une montagne dans un gouffre. Tout n’est-il pas terminé avec Napoleon?“ DERS., 1860, Bd. 4, S. 115. 61 BONAPARTE, 1815, o. S. 62 HERDER, 1793-1797, Bd. 2, S. 8. 339

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konnte. Als die Vertreter des deutschen Reichsadels auf dem Wiener Kongress eine Petition für ihre Erhaltung als politische und rechtliche Kategorie in der post-napoleonischen Ordnung vorlegten, betonten sie, die Revolution habe einen Kampf zwischen Parteigeist und Zeitgeist dargestellt. Da bestimmte Gruppen den Letzteren aber als Deckmantel für ihre eigenen Interessen benutzten, sei es besonders wichtig, zwischen beiden geistigen Kräften klar zu unterscheiden. Der Parteigeist, so erklärte man, zeichne sich hauptsächlich durch „Eigennutz, Verblendung, Unterdrückungssucht“ aus. In der Revolution habe er „ein ganzes Meer von Blut vergossen, Tyrannei und Willkühr auf den Thron gesetzt“.63 Der echte Zeitgeist dagegen sei an seiner Allgemeinheit erkennbar. Er sei nichts denn gerecht und edel und könne mit dem Finger Gottes identifiziert werden. Selbstverständlich, so folgerte man, verlange er „die Unterdrückung des Erbadels eben so wenig, als eine Gleichstellung aller Stände“.64

6. Metasprac hliche Beobachtungen und begriffliche Kri tik An solche Kontroversen über den Zeitgeist hatte man sich inzwischen gewöhnt. Der Begriff Zeitgeist nahm nicht nur in der Historiographie eine Schlüsselrolle ein, sondern auch in den diversen neuen Gattungen der Gegenwartsdeutung. Im politischen Diskurs diente er der Legitimation (und der Kritik) der unterschiedlichsten Positionen. Als Hegel den Geistbegriff in das Zentrum seines philosophischen Projektes – seine Zeit in Gedanken zu erfassen – stellte, machte er den Weg frei für dessen nachhaltigen Erfolg im 19. Jahrhundert.65 Eine solche Verbreitung hätte leicht zu sprachlichen Inflationsphänomenen führen können. Die Verwendungen von Begriffen, deren Gebrauch so weit verbreitet ist, dass sie einen selbstverständlichen Teil des zeitgenössischen Sprachschatzes bilden, erhalten oft einen formelhaften, beiläufigen Charakter. Ihre rhetorische Kraft scheint mit der vielfachen Verwendung abgenutzt. Doch war dies beim Begriff Zeitgeist nicht der Fall. Wie die eingangs zitierte Passage von Mill belegt, wurde die außerordentliche Popularität des Begriffs von Zeitgenossen durchaus beobachtet. Viele ärgerten sich über seine 63 DIE BEVOLLMÄCHTIGTEN, 1819, S. 126f. Siehe auch: VON DALBERG, 1816, S. 251; [ANONYM], 1816, S. 102; [NO POLITICIAN], 1821. 64 DIE BEVOLLMÄCHTIGTEN, 1819, S. 125 [Herv. i. O.]. 65 HEGEL, 1821, S. XXIf. 340

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unscharfe Verwendung. „Unterdeß Tausende vom Zeitgeist sprechen, und auf ihn sich berufen, wissen die Wenigsten, wo er herkommt, und wo er hingeht“, beklagte sich ein anonymer Autor 1816.66 Doch waren es gerade solche kritischen Beobachtungen und Metareflexionen, die die rhetorische Intensität des Zeitgeistbegriffs pflegten. Schon im 17. Jahrhundert war der ungreifbare Charakter des Zeitgeistes immer wieder der Kritik ausgesetzt gewesen. In seinem Saeculi Genius (1653) stellte Petrus Firmianus – hinter diesem Pseudonym verbarg sich der französische Kapuzinermönch Zacharie de Lisieux – den Begriff nicht nur in den Mittelpunkt seiner satirischen Gesellschaftsdeutung, er machte ihn ausdrücklich zum Thema begrifflicher Reflexion. Einer der im Text aufgeführten Dialogpartner versucht den Begriff mehrfach zu problematisieren. Er zieht die Jahrhundertwende (saeculum) als Epochengrenze ins Lächerliche und fragt, ob sich die gesamte Konstitution der Welt nach hundert Jahren wirklich stehenden Fußes ändere. Ein weiteres Problem sieht er im Verhältnis zwischen der Einheit des herrschenden Zeitgeistes und der offensichtlichen Pluriformität seiner Untertanen. Schließlich stellt er den metaphysischen Status des Geistes in Frage, indem er auf die gespenstischen Konnotationen des Begriffs anspielt. Vielsagend ist die Antwort des Gesprächspartners: Dieser bietet an, statt des missverständlichen genius den Ausdruck ingenium zu verwenden, um so den Verdacht auf Gespensterglauben zu umgehen: „quos eo sensu admitti aequum non est, quo olim delusa antiquitas, inferum orben geniorum potestate regi ineptissime existimavit“.67 Als sich der Begriff Zeitgeist im 18. Jahrhundert immer stärker durchsetzte, wurden auch solche Gegenstimmen immer lauter. Die Ubiquität des Begriffs im öffentlichen Sprachgebrauch rief eine Welle begrifflicher Metareflexionen hervor. Seine semantischen Dimensionen wurden ausgelotet, er wurde parodiert und kritisiert. Man suchte eine allgemeingültige Definition und setzte sich mit seinen konzeptionellen Problemstellen auseinander. Dabei standen ontologische, epistemologische und pragmatische Fragestellungen im Mittelpunkt. Ontologisch: Als Ausdruck für das Ganze – hinter den konkreten Phänomenen liegend oder über sie hinausweisend – war der ontologische Status des Zeitgeists stets umstritten. Zwei Vokabulare steuerten seine Artikulation. Zum einen nutze man ein sensorisches Vokabular – Ton, Kolorit, Geschmack, Geruch, Textur –, um den schwer fassbaren Charakter einer Zeitspanne zur Spra66 [ANONYM], 1816, S. 101. 67 Zit. n. KAMERBEEK, 1964, S. 213. 341

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che zu bringen.68 Andererseits wurde eine Reihe von Ausdrücken, die ursprünglich auf Individuen angewendet worden waren, metaphorisch auf die Zeit bezogen. Derart wurde dem Zeitgeist Charakter, Denkart, Disposition, Meinung, Gesinnung, Haltung, Stil und Physiognomie zugesprochen.69 Vor allem die hypostasierende Verwendung des Zeitgeistbegriffs, die aus der Charakterisierung eines Zeitabschnitts eine quasi-persönliche Entität machte, rief scharfe Kritik hervor. Der Glaube an spirituelle Mächte war von Anfang an ein zentraler Zielpunkt aufklärerischer Kritik gewesen. Jetzt, da die gerade verjagten Phantome zumindest sprachlich ihre Rückkehr anzukündigen schienen, wurde heftig gegengesteuert. In Parodien wurde der Zeitgeist als Gespenst der Zeit, Dämon, Phantom oder Poltergeist dargestellt, um ihm seine Legitimität zu nehmen.70 Gerade an seinen Grenzen war der Zeitgeist ungreifbar – und dadurch angreifbar. Es wurden Fragen bezüglich seiner chronologischen, geographischen und sozialen Abgrenzung aufgeworfen. „Ist sein Zeitkörper ein Jahrhundert lang,“ fragte sich Jean Paul: „[…] und zwar nach welcher Zeitrechnung, angefangen nach jüdischer, türkischer, christlicher, oder französischer? […] Oder streckt sich ein Zeitkörper von Einer großen Begebenheit (z. B. der Reformazion) bis zu einer zweiten großen aus, so dass sein Geist entflieht, sobald die zweite gebiert?“71

Und selbst wenn die Möglichkeit gegeben war, die Herrschaft eines bestimmten Geistes zeitlich einigermaßen präzise zu bestimmen, berührte er dann alle seine Untertanen gleichermaßen? Die Rede vom Zeitgeist rief eine Spannung zwischen der geschichtlichen und der chronologischen Zeit hervor. Unter der Perspektive seines Wandels erschienen manche – formal zeitgenössischen – Phänomene als zurückgeblieben, andere als ihrer Zeit voraus. Dadurch eröffnete sich eine differenzierte, geographische Perspektive auf die Geschichte: Indi-

68 Es müssen hier jeweils wenige Beispiele genügen. MÖSER, 1768, Vorrede, o. S.; NEEB, 1795, S. 5; HERDER, 1806, S. 311. 69 VON CÖLLN, 1808, S. 96f.; [H.], 1812, S. 421-423. 70 Herder fragte sich: „Ist er ein Genius, ein Dämon? oder ein Poltergeist, ein Wiederkommender aus alten Gräbern? Oder gar ein Lufthauch der Mode, ein Schall der Aeolsharfe? Man hält ihn für Eins und das Andere.“ HERDER, 1793-1797, Bd. 2, S. 5. Siehe auch: SCHILLER, 1802, S. 177; CHATEAUBRIAND, 1802, Bd. 3, S. 162; KOTZEBUE, 1818a, S. 34; BÖRNE, 1821. Vgl. CLARK, 2006. 71 JEAN PAUL, 1807, Bd. 1, S. 101f. Siehe auch: DE SÉGUR, 1818, S. 380. 342

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viduen und Kulturen, die sich anderswo befanden, konnten geschichtlich früher oder später sein, sich gleichsam in einer anderen Zeit befinden. Analoge Folgerungen ließen sich aber auch innerhalb einzelner Kulturen ziehen, da offensichtlich nicht alle Individuen und Praktiken gleichermaßen vom Geist der Zeit betroffen waren – oder: sich auf der Höhe der Zeit befanden. „Es kann einer hinter seinem Zeitalter zurück sein,“ schrieb Johann Gottlieb Fichte: „[…] weil er während seiner Bildung nie mit einer sattsamen Masse der allgemeinen Individualität in Berührung gekommen, der enge Cirkel aber, in welchem er sich gebildet, noch ein Ueberrest der alten Zeit ist. Es kann ein anderer seinem Zeitalter vorgeeilt seyn, und in seiner Brust schon den Anfang der neuen Zeit tragen, indess rund um ihn her die für ihn alte, in der Wahrheit aber wirkliche, dermalige und gegenwärtige herrscht.“72

Dementsprechend stellte sich die Frage, wo und bei wem der Zeitgeist aufgefunden werden konnte. Welche Gruppe oder welches Individuum konnte Anspruch darauf erheben, als „Groß-Siegelbewahrer der Ideen der Zeit“73 gelten zu können? Oder musste man, wie Jean Paul vermutete, folgern, dass „dieselbe unausmeßbare Jetzo-Zeit Millionen verschiedene Zeit-Geister haben muß“?74 Damit wäre der Begriff aber definitiv ad absurdum geführt. Epistemologisch: Eine zweite offene Flanke des Begriffs, die durch seine Kritiker immer wieder ausgenutzt wurde, war seine kognitive Legitimität. Der Geist selbst wurde als eine Macht konzipiert, die nur zu Sichtbarkeit gelangte, insofern er in Gegenständen, Institutionen, Praktiken und Ereignissen zum Ausdruck kam. Dieser Übergang wurde dem Sprachgebrauch der metaphysischen Tradition gemäß mit der Materialisierung eines Geistes, der Prägung einer Münze oder der Artikulation einer Stimme in Verbindung gebracht.75 Aber gerade solches Vokabular stieß in einer Zeit, die fest davon überzeugt war, metaphysische Erklärungsmuster hinter sich gelassen zu haben, auf Skepsis. Welche Phänomene konnten beanspruchen, Zeichen der Zeit zu sein? Wie konnte man diese von anderen zeitgenössischen Phänomenen, deren Existenz keine Signifikanz für die spirituelle Verfassung der Zeit im Ganzen hatte, unterscheiden? Wenn mehrere Interpreten unterschiedliche Zeichen wahrzunehmen

72 73 74 75

FICHTE, 1806, S. 13. Siehe auch: ANCILLON, 1816, S. 70f. KOTZEBUE, 1818c, S. 214 [Herv. i. O.]. JEAN PAUL, 1807, Bd. 1, S. 103. Siehe auch: HERDER, 1793-1797, Bd. 2, S. 15. VON HENDRICH, 1797, S. 187; VON CÖLLN, 1808, S. 99, S. 104. 343

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meinten, gab es dann eine verlässliche Methode, zwischen widersprüchlichen Behauptungen zu unterscheiden?76 Und wenn nicht, müsste man dann nicht folgern, dass dasjenige, was als Zeitgeist präsentiert wurde, nur ein kognitives testimonium paupertatis war, eine irreleitende Bezeichnung für noch nicht erklärte phänomenale Zusammenhänge?77 Oder schlimmer noch, ein bloßer Vorwand für die Interessen einer bestimmten Gruppe? „L’esprit du siècle devrait être facile à connaître, puisque c’est l’esprit de tout le monde; mais il est souvent estrangement défiguré par l’esprit de parti, de secte, de classe, de société, de coterie, qui tous le représentent à leur manière; chacun le voit avec ses lunettes, le mesure à sa taille, le juge avec son opinion, et lui prête sa couleur.“78

Dann aber war der so genannte Zeitgeist, wie es Goethes Faust vermutete, tatsächlich nur „der Herren eigner Geist / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“79 Die Deuter des Zeitgeistes jedoch ließen sich nicht so leicht von ihrem bevorzugten Analyse-Instrument trennen. Die Einsicht in die spirituelle Konstitution der Zeit, war – als Erkenntnismodus, in dem Augenblicksgebundenheit 76 [V. K.], 1808, S. 13f.; CARLYLE, 1829, S. 441; VON WESSENBERG, 1837, S. 387. 77 Der Historiker William Roscoe war der Meinung, der Zeitgeistbegriff sei nur „another phrase for causes and circumstances which have not hitherto been sufficiently explained“. ROSCOE, 1806, Bd. 1, S. XXXVIII. Vgl. KAMERBEEK, 1964, S. 209. 78 DE SÉGUR, 1808, S. 382. Der Jenaer Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold verwies in dieser Hinsicht auf die natürliche Tendenz eines jeden, sich selbst als den „Mittelpunkt des Universums“ zu betrachten. „Daher kommt es, dass die Maximen und Vorurtheile desjenigen Standes, zu welchem ein respektives Ich gehört, und der den nächsten Kreis um jenen Mittelpunkt beschreibt, sehr oft der Geist unsres Zeitalters genannt werden.“ REINHOLD, 1790, S. 225. 79 GOETHE, 1809, S. 39. Siehe auch: BRANDES, 1808, S. 251; KOTZEBUE, 1818a, S. 34; SAPHIR, 1835, S. 27. Wilhelm Nienstädt, Schriftsteller und Erzieher des preußischen Prinzen Albrecht, hielt die Fähigkeit, „den Blick, nie zerstreut durch das Einzelne, stets auf das große Leben des Ganzen gerichtet zu halten“ für eine seltene Gabe. Ihre größte Schwierigkeit schien ihm darin zu bestehen, dass der Mensch, „[…] wie hoch er sich zu stellen und wie weithin sein Blick die Gebiete des Wissens durcheilen möge, nirgend die Schranken seines eigenthümlichen Daseins zu verläugnen vermag, sondern unwillkührlich allem, was er vornimmt, das Gepräge seiner Erfahrungen und Umgebungen, der Sprache wie der Sitten in welchen er gewöhnt worden, und unzählicher andrer Umstände mittheilen wird, die ihn im Leben hemmend oder fördernd, überall umlagern.“ NIENSTÄDT, 1819, Bd. 1, S. 8. 344

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und Zeitlosigkeit einander begegneten80 – offensichtlich keine gewöhnliche Erkenntnis. Daraus aber zu folgern, dass es gar keine sei, dazu waren sie durchaus nicht bereit. Vielmehr müsse man, so die übliche Entgegnung, zwischen den geläufigen Erkenntnisweisen und der speziellen Einsicht in die Verfassung der Zeit unterscheiden. In dieser Weise räumte Friedrich von Cölln, preußischer Staatsmann und Herausgeber einer populären politischen Zeitschrift, ein, man könne den Zeitgeist nicht mit „mathematischer Gewissheit“ berechnen. Die „Meßkunst“ beziehe sich nur auf leblose Körper. Um den Zeitgeist zu erkennen, reiche solche gewöhnliche Geometrie nicht aus. Hier sei wahre „Vernunft“ erforderlich.81 Alternativ wurde der Einblick in die Verfassung der Zeit auch Inspiration, Intuition, Divination oder Ahnung genannt. Entscheidend für seine definitorische Bestimmung war aber stets, dass es sich um eine dezidiert esoterische Erkenntnisart handelte: Nicht jeder sei im Stande, die Zeichen der Zeit zu deuten und nicht jeder könne diese Fähigkeit erlernen. Den Wenigen, die es konnten – natürlich rechnete sich der jeweilige Autor selbst dazu –, kam dementsprechend ein spezieller Status zu. So machten die Zeitgeist-Interpreten aus einer Schwäche eine Tugend und inszenierten ihre Erkenntnisweise mittels der überlieferten Weisheits-Semantik als kognitive Überlegenheit. Paradoxerweise bewirkte die Kritik des Zeitgeistbegriffs in diesem Fall somit das genaue Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte. Die epistemologischen Einwände führten nicht zu seiner Entwertung, sondern wurden zum Anlass für eine Infragestellung des herkömmlichen Erkenntnisbegriffs, aus dessen Sicht die kognitive Legitimität des Zeitgeistes angezweifelt worden war. Dies bot den Befürwortern des Zeitgeistbegriffs die Gelegenheit, ihren außergewöhnlichen und überlegenen Status noch einmal zu unterstreichen. Von Cölln bezeichnete die Auserwählten, die den Zeitgeist zu erkennen vermochten, selbst als „Geister“. Es handele sich um Individuen, die einen solch hohen Grad moralischer Größe besaßen, dass sie über die irdischen Phänomene hinwegschauend ihren geschichtlichen Sinn zu erkennen vermochten.82 Andere nannten solche Exzentriker Weise, Priester, Dichter, Philosophen, Genies oder Visionäre.83 Ihr kontemplatives Dasein am Rande der Gesellschaft befähige

80 81 82 83

Vgl. zu diesem „Zeitgeist-Paradox“: KONERSMANN, 2006. VON CÖLLN, 1808, S. 103f. EBD., S. 99f. Vgl. KAMERBEEK, 1964, S. 203; KEMPTER, 1990-1991, S. 66-72. 345

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sie, weiter als andere zu blicken. Ihre Stimme sei demnach nicht länger nur ihre eigene: Sie verlautbarten die Stimme der Zeit selbst. Die diskursive Einordnung in die etablierte Tradition der vita contemplativa bot den Deutern des Zeitgeistes eine wirksame Legitimationsstrategie. Andererseits konnte sie auch neue Möglichkeiten für Kritik eröffnen. Klang das Pathos dieser Visionäre nicht etwas bekannt? „[D]ie vormaligen Traumdeutereien und Anschauungen der Gegenwart,“ so wiederum Jean Paul, „lehren uns Mißtrauen in unserer jetzigen.“84 Die Entlarvung der spirituellen Interpreten des Zeitalters als weitere Folge in einer langen Reihe falscher Propheten wurde zu einem zentralen Topos der kritischen und satirischen Auseinandersetzung mit ihnen. Pragmatisch: Schließlich wurde in Bezug auf den Zeitgeistbegriff immer wieder die Frage nach seinem Verhältnis zum Menschen – speziell zum großen, weltgeschichtlichen Individuum – aufgeworfen. Erneute Aktualität erhielt diese Frage im Kontext der Französischen Revolution, über die Joseph de Maistre schrieb: „ce ne sont point les hommes qui mènent la Révolution, c’est la Révolution qui emploie les hommes.“85 In solchen Zusammenhängen erhielt die alte Frage nach der menschlichen Freiheit angesichts determinierender Umstände eine neue, geschichtsfatalistische Dimension. Solche Fragen wurden durch zwei weitere Merkmale des Zeitgeistbegriffs weiter verkompliziert. Erstens wurde der Begriff selbst in einem politischen Vokabular beschrieben. Sein Verhältnis zu den Ereignissen eines bestimmten Zeitabschnitts wurde als Herrschaft, Regierung oder Machtausübung charakterisiert. Semantisch stellte er demnach nicht nur einen entscheidenden Situationsfaktor für politisches Handeln dar, er trat selbst als quasi-politischer Akteur in Erscheinung. Verstärkt wurde diese Tendenz noch dadurch, dass der Zeitgeist syntaktisch immer öfter als Subjekt von Verbalkonstruktionen verwendet wurde. Eine solche Personifizierung implizierte, dass der Geist selbst als aktive Kraft in die Geschichte eingriff. Die Ambivalenzen in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Handeln einerseits und seiner geschichtlich-spirituellen Situation andererseits führten regelmäßig zu widersprüchlichen Äußerungen, wie zum Beispiel, wenn der Philosoph Johann Neeb einerseits festhielt, dass „es in verschiedenen Epochen der Wissenschaft immer einen allgemeinen herrschenden Zeitgeist gab, der die Denkart der einzeln [sic] modifizirte“, gleichzeitig aber auch einräumte, dass dieser „oft auch selbst von 84 JEAN PAUL, 1807, Bd. 1, S. 104. 85 MAISTRE, 1797, S. 15. Siehe auch: FORSTER, 1793, S. 356. 346

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einem mächtigeren Genius eines Mannes, der über sein Zeitalter hervorragte, selbst modificirt wurde“.86 Spätestens seit dem Siècle de Louis le Grand hatte sich die Praxis, Zeitabschnitte panegyrisch nach den sie prägenden Personen zu benennen, fest etabliert.87 So häuften sich Formeln, in denen das Zeitalter nach einer zentralen Persönlichkeit – zunächst primär Fürsten, später auch Wissenschaftlern, Schriftstellern und anderen Prominenten – benannt wurde. Aus dieser Praxis ging aber auch die Frage hervor, wie das Verhältnis zwischen solchen Ausnahmemenschen und ihrem Zeitalter genau zu bestimmen sei. Als beispielhafte „Helden des Zeitalters“88 galten neben Jesus vor allem Mohammed, Caesar, Luther, Newton, Ludwig XIV., Voltaire, Friedrich II. und schließlich Napoleon.89 Die Art und Weise, wie diese auf ihre Zeit gewirkt hatten, war allerdings umstritten. Waren sie tatsächlich im Stande gewesen, den Geist ihrer Zeit zu lenken, oder beschränkte sich ihre besondere Fähigkeit darauf, seine Tendenzen zu erkennen und dieses Wissen für ihre eigenen Zwecke einzusetzen? Waren sie bloße Repräsentanten des Zeitgeistes oder hatten sie tatsächlich Macht über ihn?90 Nicht weniger drängend, auch für die Geisterseher selbst, war die Frage, inwiefern es überhaupt möglich sei, sich von seiner Zeit zu lösen und zu einem unbefangenen Überblick über sie zu gelangen. „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf“, riet Schiller.91 Das war aber leichter gesagt als getan. Konnte man sein Zeitalter und somit seine eigene geschichtliche Identität hinter sich lassen und wirklich unzeitgemäß sein? Metasprachliche Beobachtungen, kritische Infragestellungen und begriffliche Reflexionen bildeten eine stetige Begleitung des Zeitgeistbegriffs und in-

86 NEEB, 1795, 5f. Siehe auch: EWALD, 1799, S. 16. 87 Vgl. zur Entwicklung dieser Praxis im Kontext der barocken Geschichtsmnemonik den Beitrag von Markus MEUMANN in diesem Band. Vgl. auch: SCHLOBACH, 1987; SCHRÖDER, 2002. 88 FICHTE, 1806, S. 85. 89 Siehe beispielsweise: MERCIER, 1772, S. 10; EWALD, 1799, S. 30f; [W.R.R.], 1806, S. 386f; ARNDT, 1807, S. 21, S. 309, S. 428f.; [V. K.], 1808, S. 81f. Nach derselben Logik enthielt William Hazlitts The Spirit of the Age eine Reihe von biographischen Skizzen eminenter Persönlichkeiten. Hazlitt, 1825. Vgl. GEMBICKI, 1996, S. 250, S. 258f. 90 HERDER, 1793-1797, Bd. 2, S. 10f.; JACKSON, 1798, S. 40f.; CARUS, 1799, S. 165168; DE SÉGUR, 1818, S. 382f. 91 SCHILLER, 1795, S. 47. Siehe auch: ROUSSEAU, 1751, S. 43; EWALD, 1799, S. 6068; FICHTE, 1806, S. 49, S. 528f., S. 532. 347

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folgedessen einen seiner wichtigsten Verwendungskontexte. Rückblickend scheinen uns viele der erwähnten Einwände gegen den Begriff berechtigt. Bis heute werden sie in regelmäßigen Abständen wiederholt.92 Aus der Perspektive der Historischen Semantik muss jedoch festgestellt werden, dass sie den Gebrauch des Begriffs kaum ver- oder behinderten. Es gehört zu den Paradoxien der Begriffsgeschichte, dass letztendlich weder die satirische Infragestellung seiner Glaubwürdigkeit, noch die systematischen Argumente gegen seine ontologische, epistemologische oder pragmatische Legitimität im Stande waren, seine Verbreitung aufzuhalten. Daraus folgt jedoch nicht, dass solche Begleitdiskurse folgenlos blieben. Zunächst spielten die Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeistbegriff selbst eine eigentümliche, aber nicht zu unterschätzende Rolle für seine Verbreitung. Jede Kritik wiederholte die Semantik des kritisierten Begriffs und vergrößerte somit hinterrücks ihren Bekanntheitsgrad. Darüber hinaus beeinflusste das Vorhandensein solcher – meist kritischer – metasprachlicher Reflexionen auch seinen positiven Gebrauch. Leidenschaftslose und neutrale Verwendungen des Zeitgeistbegriffs bildeten – darauf hat Ralf Konersmann hingewiesen – seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Ausnahme.93 Es handelte sich um einen umstrittenen Begriff. Die sprachlichen Akteure wussten darum und stellten ihre Äußerungen in vorgreifender Rücksichtnahme auf (mögliche) Entgegnungen ein. Sie nahmen den Begriff nicht einfach als gegeben an, sondern versuchten immer erneut – mittels Definitionen und anderen Sprachstrategien – Einfluss auf den Sprachgebrauch zu nehmen. Selbst wo solche Arbeit am Begriff nicht explizit vorhanden war, ging sie in das semantische Hintergrundwissen der Akteure ein, und beeinflusste somit den Charakter ihrer Äußerungen. Wer sich auf den Zeitgeist bezog, sah sich in diesem Kontext vor eine Entscheidung gestellt. Man sprach sich – auch auf der metasprachlichen Ebene – für oder gegen ihn aus. Dies hatte zur Folge, dass der Begriff seine hohe rhetorische Intensität auch dann, als er immer geläufiger, ja in den Augen vieler sogar allgegenwärtig wurde, nicht verlor.

92 Vgl. HERMAND, 2007, S. 72-75. 93 KONERSMANN, 2005, Sp. 1266. 348

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V ERZEITLI CHUNGSTENDENZ DES

J OSEPHINISMUS

SEBASTIAN HANSEN

1. Zum Vers tändnis des Josephinismus Der Josephinismus erscheint uns heute als sehr komplexer Begriff, der vielseitig besehen und damit einhergehend zeitlich weit ausgelegt wird. So betrachtet Helmut Reinalter den Josephinismus als „die österreichische Form einer allgemein gesellschaftlichen, politischen und kulturell-geistigen Bewegung, die im 18. Jahrhundert mit der Krise des europäischen Bewusstseins (Paul Hazard) begann“ und mit seinen unterschiedlichen Wirkungen in den österreichischen Ländern schließlich bis weit in das 19. Jahrhundert hineinreichte, indem er dann „bis zu einem gewissen Grad eine defensive Modernisierung in Österreich einleitete“.1 Diese Bestimmung geht weit über die ursprüngliche Auffassung hinaus, die nach dem Tod Josephs II. aufkam, als man mit Blick auf seine reformeifrige Alleinregierungszeit (1780-1790) von Josephinismus zu sprechen begann;2 und ebenso hat sie die nachfolgenden begrifflichen Veränderungen mit ihren dahinter stehenden Auseinandersetzungen absorbiert und ist über sie hinausgewachsen. Der Begriff hat allerdings angesichts seiner erreichten Spannweite auch entsprechend an Kontur verloren, und in seiner permissiven Erscheinung entweicht er der Bestimmbarkeit. Harm Klueting, der im Josephinismus eine seit Karl VI. und vor allen Dingen unter Maria Theresia vorherrschende „reaktive 1 2

REINALTER, 2008, S. 7f. Vgl. KOVÁCS, 1980, S. 24. 357

Sebastian Hansen

Reformbewegung“ sieht, „die auf die großen Veränderungsprozesse des 18. Jahrhunderts reagierte“, hat entsprechend darauf hingewiesen, dass der Begriff „mit seinem heute stark ausgeweiteten Begriffsinhalt nichts anderes ist als eine konventionelle Chiffre für diesen Reformabsolutismus – oder die theresianisch-josephinischen Reformen – und daher auch ersetzbar wäre.“3 Die erreichte starke Exzentrizität des Begriffs, die eine Begreifbarkeit vermindert, wenn nicht verstellt, führt auf die Frage nach dem genuinen Angelpunkt des Josephinismus zurück. Hierbei scheint es mir angebracht, noch einmal stärker Joseph II. selbst und zugleich das in diesem Zusammenhang zu betrachtende Verhältnis von Staat und Kirche in den Mittelpunkt zu rücken. Denn erst zur Zeit des Mit- und späteren Alleinregenten vollzog sich am Wiener Hof ein radikaler Wandel eigener Art. Wir können diesen zwar mit dem Ineinandergreifen jener beiden Entwicklungslinien ausmachen, die den Josephinismus erst konkret in Erscheinung treten ließen, nämlich einerseits, wie Erich Zöllner formulierte, die „weit ins Mittelalter zurückreichende, teils österreichische, teils europäische staatskirchliche Tradition und andererseits das, was man den ‚Geist der Aufklärung‘ nennen könnte, die dominanten Strömungen und Tendenzen der damaligen Gegenwart und ihrer jüngeren Vergangenheit, die Ideen der Aufklärung.“4 Das herausragende Moment der Haltung Josephs II., das im Kern auch den Josephinismus wesentlich bestimmt, ist damit jedoch noch nicht hinreichend benannt. Es wird erst unter dem Aspekt von Verzeitlichung genauer greifbar. Paul Hazard befand, dass „nahezu alle Ideen, die 1760 oder sogar noch 1789 revolutionär erschienen, um 1680 bereits ausgesprochen waren“,5 und daher das europäische Bewusstsein zu dieser Zeit eine Krise durchmachte, die wir mit Heinz Dieter Kittsteiner gelesen gleichzeitig als wesentlichen Teil der Stabilisierungsmoderne verstehen können, in der – nicht zuletzt mit der Querelle des Ancien et des Modernes – der „Aufbruch in eine neue, selbstbewusste Zukunft“6 grundgelegt wurde. Es begann ein Bewegungsdenken her-

3 4 5 6

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KLUETING, 1995, S. 3 und S. 6. ZÖLLNER, 1965, S. 204. HAZARD, 1939, S. 24. KITTSTEINER, 2010, S. 349. Vgl. zur Rolle von Charles Perrault mit seinem Gedicht Siècle de Louis le Grande und von Bernard Le Bovier de Fontenelle mit seiner Streitschrift Digression des anciens et des modernes, mit der Fontenelle über Perrault hinausgehend die zyklische Geschichtstheorie hinter sich lässt und zu einer linearen Vorstellung vom Ablauf der Zeit, dem eigentlichen Fortschritt, vordringt: KRAUSS/KORTUM, 1966, S. XXX-XXXIV.

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

vorzutreten, das die geltende Autorität der tradierten Vergangenheit, zunächst insbesondere der anleitenden Antike, abschüttelte und sich zu einer offenen Orientierung auf Gegenwart und Zukunft hin ausrichtete. Dieses veränderte Denken bestimmte auch Joseph II., der es nicht nur in den 1760er Jahren markant artikulierte, sondern anschließend auch politisch umzusetzen versuchte. Im Folgenden soll das neue Weltverständnis, das sich durch die Tendenz zur Verzeitlichung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Wien entfaltete, näher dargelegt werden. Es lässt sich erstmals in den Denkschriften erfassen, mit denen der junge Joseph in Erscheinung tritt. Bezieht man die Äußerungen von Staatskanzler Kaunitz und Hofrat Heinke, dem Leiter des Amtes für Kirchenfragen, aus dieser Zeit mit ein, wird die mit Joseph II. verbundene Dynamik des Wandels noch deutlicher. Zusammen geben sie den Blick frei auf das enge Verhältnis von Josephinismus und Verzeitlichung. Bevor wir uns den entsprechenden Denkschriften zuwenden, möchte ich noch ein wenig genauer die Dimension von Verzeitlichung hervorheben, die erst die Perspektive auf den geschichtsphilosophischen Sinn von Säkularisierung anzeigt, auf die wir im Josephinismus letztlich treffen.

2. Veränderung des Zeitbew usstseins Das Phänomen der Verzeitlichung geht mit einem neuen Erwartungshorizont einher, der sich in der Frühen Neuzeit einstellte. Während die Zeit im ausgehenden Mittelalter noch im Rahmen der Heilsgeschichte verstanden wurde und es von daher Gott war, der kommen und die Zeit aufheben würde, veränderte sich durch die Erfahrung der Reformation, die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und die Aufklärung mehr und mehr das Bewusstsein. Zwar wurde nicht gleich die ganze historia sacra in Zweifel gezogen und verworfen, aber sie wurde in der Frühen Neuzeit brüchig, erforderte ein anderes Verständnis und musste im Angesicht der eigenen neuen Erkenntnisse und Fragen anders interpretiert werden.7 Damit einhergehend veränderte sich das Zeitbewusstsein, und zwar mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft. Beide gewannen eine neue Tiefendimension: Die Vergangenheit, da man feststellte, dass sie älter war als bislang gesagt und gedacht; die Zukunft, weil sie entfristet wurde, indem die eschato-

7

Vgl. hierzu LEHMANN-BRAUNS, 2006. 359

Sebastian Hansen

logische Naherwartung weiter zurückging und den Raum frei gab für „die Idee der Zukunft als eines leeren zeitlichen Raumes"8. Die Zeit wurde nun nicht mehr in einem fest gefügten Rahmen gedacht wie ihn beispielsweise jener ordo temporum abgab, den prägend Augustinus beschrieben hatte: Gott „handelt nach einer uns zwar verborgenen, ihm aber klar vor Augen liegenden Ordnung der Dinge und Zeiten. Aber dieser Ordnung der Zeiten ist er nicht unterworfen und zu Diensten verpflichtet, sondern regiert sie als Herr und verfügt darüber als Lenker.“9 Im veränderten neuzeitlichen Bewusstsein erwuchs die Zeit zur autonomen menschlichen Eigenzeit. Die Dinge in der Zukunft wurden von daher auch nicht mehr als präexistent betrachtet. Vielmehr entdeckte der Mensch, dass seine Zeit offener und ungewisser war, er nicht nur durch sie bestimmt wurde, sondern umgekehrt auch über sie zu verfügen vermochte. Der Perspektivwandel bedeutete hinsichtlich der Zukunft, dass die Dinge nicht mehr passiv auf einen zukamen, sondern der Mensch umgekehrt aktiv auf sie zuging: „Neben die idiomatische Rede von der ‚Zukunft des Herrn‘ (adventus Domini) trat im Laufe des 17. Jahrhunderts die Rede von der ‚Zukunft‘ des Menschen.“10 In der Frühen Neuzeit vollzog sich damit ein „schleichende[r] Wechsel des Subjekts.“11 Nicht mehr Gott, sondern der Mensch entwickelte sich zum Herrn des Handelns und damit der Zeit. Die geschichtliche Zeit stand in einem ganz neuen Kontext: Es trat ein modernes Geschichtsbewusstsein hervor, das sich durch seine Verweltlichung auszeichnete. So können wir etwa bei Giambattista Vico und seinen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker von 1744 entdecken, wie die alte Metaphysik verabschiedet wurde. Vico verwies darauf, dass der Mensch nur von dem Kenntnis erlangen könne, was er auch selbst gemacht habe: „[…] wie nämlich alle Philosophen sich ernsthaft darum bemüht haben, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur, von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen kann, und wie sie vernachlässigt haben, die Welt der Völker oder politische Welt zu erforschen, von der, weil die Menschen sie geschaffen hatten, die 12 Menschen auch Wissen erlangen konnten.“

8 9

HÖLSCHER, 1999, S. 39. AUGUSTINUS, 1997, hier Bd. 1: Buch 1 bis 10, S. 216f. [4. Buch, Kapitel 33]. Vgl. hierzu auch EBD. Bd. 2: Buch 11 bis 22, S. 11f. [11. Buch, Kapitel 6]. 10 HÖLSCHER, 1999, S. 39. 11 KOSELLECK, 2003, S. 189. 12 VICO, 2009, S. 143. Vgl. ferner hierzu EBD., S. 93, S. 142f. und S. 154f. 360

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

Über das Wissen war damit auch die Wahrheit vom Menschen zweifellos und einzig zu erlangen, indem er auf seine Geschichte blickte. Vico konzentrierte sich ganz auf die Eigenwelt des Menschen, die als historisch-zeitlich besehene Welt ein säkulares Verstehen bedeutete. Mit der Hinwendung zum kulturellen Dasein des Menschen, der Historisierung, sind bereits die Denaturalisierung und die Verzeitlichung verflochten. Wie bei Vico, Voltaire und anderen sehen wir eine Geschichtsphilosophie entstehen, die sich auf die geschichtliche Zeit und ihren Verlauf konzentrierte. Die entstandene Leerstelle Zukunft konnte entsprechend sogleich durch die eigene Geschichte aufgefüllt werden. Dem Fortschrittsdenken der Aufklärung kam hierbei eine besondere Rolle zu. Für das 18. Jahrhundert wird sichtbar, dass durch das geschichtsphilosophische Deutungsschema „alle Aufgaben und Herausforderungen“, die „in der geschichtlichen Zeit“ liegen, auch als diesseitig lösbar betrachtet wurden, eben „mit und durch die geschichtliche Zeit selber“.13 Das ältere dualistische Oppositionspaar von Diesseits und Jenseits wurden durch jenes von Vergangenheit und Zukunft ersetzt. Treffend konstatierte Reinhart Koselleck, dieser Vorgang sei nicht einfach als Verweltlichung, sondern vielmehr als Verzeitlichung zu betrachten: „‚Zeit‘ steht nicht gegen ‚Ewigkeit‘: Die Zeit vereinnahmt sich die Ewigkeit.“14 Und indem die geschichtliche Zeit beziehungsweise die Geschichte zur letzten Begründungsinstanz für jegliches Handeln wurde, darunter etwa die politische Planung und soziale Organisation, wurde auch das Heil in den Vollzug von Geschichte selbst hineingezogen: „Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber.“15 Das eigene Dasein zu revolutionieren, teleologisch ausgerichtete Erwartungen an die Zukunft zu stellen und sie sich selbst zur Erfüllung aufzuerlegen, das scheint der große Umbruch zu sein, der die Einheit von Verzeitlichung und Verweltlichung markiert. Als in der Französischen Revolution Maximilien de Robespierre die Beschleunigung der Zeit als Aufgabe des Menschen begriff, um die goldene Zukunft, das vollendete Glück, herbeizuführen, war ein Erwartungshorizont präsent geworden, der sich völlig verkehrt hatte gegenüber jenem, den noch Martin Luther zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte, als die Verkürzung der Zeit Gottes Kraft und Hoheit war und den Beginn des Jüngs-

13 KOSELLECK, 2003, S. 183. 14 EBD. 15 DERS., 1989, S. 321. 361

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ten Gerichts bedeutete.16 Reinhart Koselleck hat aus diesem Grund die geschichtsphilosophische Dimension von Säkularisierung um 1800 verortet. Viel früher dagegen zeigt ebenso deutlich der Josephinismus durch Joseph II. diese Tendenz zur Verzeitlichung. Ihr wollen wir nun anhand einiger Denkschriften ein wenig genauer nachgehen.

3. Die Rolle Josephs II. Der Wandel, der mit Joseph II. verbunden ist, wird deutlich, wenn man seine Äußerungen im Kontext betrachtet zu jenen Denkschriften, die Staatskanzler Kaunitz 1758 und 1761 verfasst hat und mit denen die Neuordnung der Verwaltung forciert wurde, zu der auch die Gründung des Staatsrates gehörte. Hier begegnet uns im Vergleich noch ein ganz anderer Ton. In seinen Ausführungen, deren Ziel es war, die Wohlfahrt des Landesfürsten und der Untertanen auf Dauer sicherzustellen, orientierte sich Kaunitz ganz pragmatisch an den wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen. Es sollte gewährleistet sein, dass der Staat mehr einnahm als er ausgab. Von hier aus argumentiert er, wenn er auf notwendige Reformen zu sprechen kommt. Sein Ziel einer grundsätzlichen Veränderung des Staatssystems war hierauf ausgerichtet: „Es bestehet aber das wesentliche in der wichtigen wahrheit, daß die wohlfahrt des landesfürsten und seiner unterthanen unzertrennlich miteinander verknüpffet seye und keine ohne die andere bestehen könne. Dahero auch die vermehrung der landesfürstlichen macht und einkünfften nicht anderst als in der beforderung der gemeinschaftlichen wohlfahrt und bereicherung gesuchet werden 17 müße.“

In diesem Sinne mahnt er Reformen an, durch die der „große endzweck“18 erreicht werden soll. Mit Reformen, die nicht dieses Ziel im Blick haben, habe man nur eine „zeitfrist“19 gewonnen. Einerseits war Kaunitz daran gelegen, mit Bedacht dieses große Vorhaben anzugehen, andererseits galt es für ihn auch,

16 17 18 19 362

Vgl. hierzu KOSELLECK, 1989, hier insbes. S. 20-22. KLUETING, 1995, S. 67. EBD., S. 55. EBD.

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

„nichts an der zeit zu verabsaumen“20. Durchaus erkennen wir hier bei Kaunitz, dass die Zeit als wichtiges Gut betrachtet wird, das genutzt sein will, um den Staat, das heißt seine Verwaltung und die Staatswirtschaft, effektiver zu gestalten und ohne selbst verschuldeten Verlust von Zeit auf den Wohlstand hinzuarbeiten. Aus seinen Instruktionen und den angegebenen Grundsätzen müsse sich, so Kaunitz, „die glückselige folge ergeben, daß sich der wahre regierungs-geist nach und nach von oben nach unten in alle glieder des staats-cörpers ausbreite und in denen nach denen sitten und gedenkensarten sehr unterschiedenen erblanden ein gleichförmiger, allgemeiner und solcher esprit wurzeln faße, welcher sich auf die religion, gerechtigkeit, billigkeit, würthschafft, arbeitsamkeit und wohlfahrt des staats gründe und von dem gegenwärtigen sehr unterschieden seyn wür21 de.“

Kaunitz richtete situationsbedingt seinen Blick in die Zukunft – ohne über dieses Wort zu verfügen –, um auf das Ziel eines zur eigenen Gegenwart ganz veränderten Staates hinzuweisen, der durch Reformen herbeigeführt werden soll, damit „die Monarchie in einem blühenden Wohlstand erhalten“22 bleibe. Ganz anders trat dagegen 1763 Joseph II. mit seinen Rêveries und drei Jahre später mit seiner ersten Denkschrift zu Beginn seiner Mitregentschaft auf. Auch der 22-jährige Verfasser der Träumereien strebte nach Veränderungen und wünschte sich einen Staat, der „sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft glücklich und angesehen wäre.“23 Aber er sprach sogleich auch von einer „Gewaltkur“24, die dafür notwendig sei. Im Gegensatz zu Kaunitz wirkt Joseph hastig und rastlos. Er wolle den Staat „augenblicklich wieder instand“25 20 21 22 23

EBD., S. 56. EBD., S. 68. EBD., S. 48. EBD., S. 83. Der Text ist im Original in französischer Sprache verfasst und wiedergegeben bei Beales, 1980. Klueting übersetzt das Wort avenir (vgl. BEALES, 1980, S. 159) mit Zukunft. Dieser uns selbstverständliche Singular bildete sich erst mit säkularer Perspektive im ausgehenden 18. Jahrhundert aus (vgl. HÖLSCHER, 1999, S. 43f.). Folgt man der Eintragung zum Begriff „Avenir. s[ubstantif]. m[asculin].“ im Dictionnaire de l’Academie française, 1762, S. 128, scheint mir die gewählte Übersetzung angemessen. Im Folgenden wird der bei Klueting zu findende Text zitiert. 24 EBD., S. 82. 25 EBD. 363

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setzen. Seine „Gewaltkur“ soll dazu dienen, „die Monarchie in der Gegenwart zu unterstützen und in der Zukunft aufrechtzuerhalten.“26 Joseph II. richtet seinen Blick auf einen vollkommenen Staat, der nicht in einer fernen Zukunft liegt, etwa als Utopie oder als civitas dei begriffen, sondern der realisierbar ist, also in einer Zukunft liegt, auf die hinzuarbeiten, die zu verwirklichen ist. Die eigene Zukunft bestimmt für ihn das Handeln in der Gegenwart, die Zukunft ist damit gegenwärtig. Daher rührt auch sein Bestreben, sich mit einer unumschränkten Macht ausstatten zu lassen. Denn um als Herrscher „Großes zu vollbringen“ und es dem Staat zu ermöglichen, „glücklich zu sein“, sei es „ein Prinzip, daß zur Lenkung der großen Maschine ein einziger Kopf, selbst ein mittelmäßiger, besser ist als zehn ausgezeichnete, wenn es zwischen ihnen über alle Maßnahmen zu einer Verständigung kommen muß.“ 27 Welch wichtige Rolle Zeit für Joseph II. spielt, verdeutlicht auch seine in der ersten Denkschrift vorgenommene Bewertung des von Kaunitz neu geschaffenen Staatsrats und der verschiedenen Ressorts, an deren Sitzungen der auszubildende Thronerbe teilnahm. Hier habe er ein Jahr damit verbracht, „Bagatellen anzuhören, die vergessen zu haben ich Gott danke“28. Im Staatsrat sei er auf ganz neue Ideen gekommen: „Ich stürzte mich also Hals über Kopf in diese neuen Ideen, ohne mich damit aufzuhalten, was man von den Kaisern Ferdinand und Leopold erzählte, und war lediglich erstaunt, daß man so lange in dieser krassen Unwissenheit gelebt hatte, weil ich alles, was vorher geleistet worden war, als ein Werk von Iroke29 sen betrachtete.“

Allerdings musste er auch hier erkennen, dass man seine Ideen nicht begriff: „[…] und ich konnte nicht verstehen, wie eine Sache, die mir so einfach erschienen war, und die ich, ohne darüber nachzudenken, in fünf Minuten verstanden hatte, unseren Herren nicht in den Kopf wollte.“30 Joseph sah sich daher nicht nur ausgebremst, er konstatierte auch ein verkehrtes Denken, das ihm begegnet sei und das nicht dem Wohl des Staates diene, denn: „Kurz, aus al-

26 27 28 29 30 364

EBD. EBD., S. 78. EBD., hier S. 89. EBD., S. 89f. EBD., S. 90.

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

lem, was ich gehört und gesehen habe, habe ich nichts weiter gelernt, als den Geist und alle Spitzfindigkeiten zu fürchten.“31 Er schließt daraus: „Ich erkenne kein Argument mehr an, das von den alten Griechen oder den modernen Franzosen stammt. Die aus einem vergangenen Jahrhundert und einer hundertjährigen Anwendung abgeleiteten Lehrsätze überzeugen mich nicht, die österreichische Monarchie gleicht keiner anderen, und das Jahr 1765 könnte mit 32 keinem Jahr seit der Geburt Jesu Christi verglichen werden.“

Joseph II. begreift die eigene Situation als einmalig. Die für ihn hier und heute gestellten Probleme sind ihm so eigen, dass sie auch eigener Lösungen bedürfen. Dabei sind nicht Kontinuität, Erfahrung oder traditionelle Lehren und Gewissheiten angebracht, sondern nur das, was man aus der Gegenwart (mit Blick auf die Zukunft) selbst ableitet. In diesem Zusammenhang haben wir auch zu verstehen, was Joseph meint, wenn er davon spricht, dass „uns die Stärke der Überlegungen und die wiederholten gedanklichen Verbindungen, die man in bezug auf denselben Gegenstand herstellt,“ dazu bringen, „immer beim alten zu bleiben“, wohingegen „man nur den ersten Eindrücken seines Geistes folgen“ müsse, um „sich auf etwas Neues einzulassen“33. Das Neue knüpft nicht mehr an das Alte an, sondern verweist auf sich selbst. Die Gegenwart erweist sich dabei mehr als ein Moment des Übergangs, indem sie auf die Zukunft hin ausgerichtet ist, die zu gestalten ist: „Unsere gegenwärtige Situation verdient meiner Ansicht nach alle Aufmerksamkeit und ein schnell wirkendes Heilmittel.“34 Wenn es um die Zukunft geht, verfolgt der Erzherzog das Ziel, einen glücklichen Staat zu erschaffen. Hierauf sind seine „frommsten Wünsche für die Zukunft“35 ausgerichtet, die er in der Denkschrift von 1766 formulierte. Um dieses Ziel zu erreichen, ist alles darauf hin zu besehen und zu konzentrieren, dass es dem Staat von Nutzen ist. Die Nützlichkeit ist der Dreh- und Angelpunkt, wenn es darum geht, den Staat zu seinem Glück zu führen. Entsprechend manifestiert sich bei Joseph jede Kritik am Mangel von Nützlichkeit für den Staat und ruft hierüber den Reformbedarf hervor. Nicht nur an den „glänzende[n] Hof“ mit seinen „Bankette[n], Festtage[n], kostbare[n] Stoffen, Dia31 32 33 34 35

EBD. EBD. EBD., S. 88. EBD. EBD., S. 91. 365

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manten, vergoldete[n] Säle[n], Geschirre[n] aus Gold, Schlittenrennen, usw.“ wird die Frage „aber wozu ist dieser nütze?“36 gerichtet und entsprechend als reformbedürftig bewertet. Diese Sichtweise betrifft auch die Kirche. In seiner ersten großen Denkschrift nimmt er die Kirche selbst noch nicht in den Blick, aber er kommt auf einige Aspekte wie etwa das Profess-Alter und Geistliche Stiftungen zu sprechen. Hier wird bereits das erste Hineingreifen des staatlichen Interesses in das christliche Leben beobachtbar, wenn Joseph bekundet, dass auch geistliche Stiftungen „gleichzeitig für den Staat nützlich sein sollten, namentlich die Kindererziehung, die, indem sie die Kinder zu Christen heranzieht, diese gleichzeitig zu guten Untertanen macht.“37 Für Joseph ist die Religion auf den Staat hin orientiert und hat ihren Zweck darin, dem Staat nützlich zu sein. Mit Blick auf die Kirchenreformen gilt dies in materieller aber eben auch in ideeller Hinsicht: „Die Religion und die Sitten bilden unbestreitbar eines der wesentlichsten Anliegen eines Herrschers“.38 Die Ansichten, die hier bereits präsent sind, werden dann auch für die nachfolgenden Reformen und die Auseinandersetzung mit der Kirche entscheidend und noch deutlicher. Mit eingeflossen sind hierbei die Überlegungen von Hofrat Heinke.39 Der 1767 nach Wien berufene Jurist prägte fortan die kirchenrechtlichen und politischen Maßnahmen mit und ließ auch den bis dahin kaum in Erscheinung getretenen theologischen Aspekt in den Vordergrund treten. Er steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den nachfolgenden Überlegungen und Reformen Josephs II. Heinke zeigt bereits in seiner ersten Denkschrift von 1768, dass er den Staat als „eine Gesellschaft der Menschen“ begreift, „die sie wegen ihrer zeitlichen Wohlfahrt und Sicherheit nach denen bestimmten Verfassungen errichtet haben“, wohingegen die Kirche „blos auf Erfüllung des wahren GottesDienstes und das Heyl der Seelen gerichtet seye“. „Beyde sind von einander ganz und gar unabhängig.“40 Heinke legte hiermit den Grundstein nicht nur für die Auffassung, dass sämtliche zeitlichen Güter, die die Kirche besitze, dem Staat gehörten, sondern eben auch, dass die Kirche alle zeitlichen Dinge vom Staat geliehen habe.41 Heinke definiert Kirche um, indem sie für ihn nur das 36 37 38 39

EBD., S. 79. EBD., S. 101. EBD., S. 102. Zu Heinke vgl. MAASS, 1956, insbes. den ersten Teil zu Leben und Werk Heinkes S. 3-137. 40 KLUETING, 1995, S. 114. 41 Vgl. MAASS, 1956, hier S. 190. 366

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

ist, was Christus zu Lebzeiten selbst eingesetzt hat. Die römisch-katholische Kirche sei „in ihrem Weesen und Endzweck nach dem klaren Willen Gottes ein blos geistliches und pur zu übernatürlichen Dingen bestimmtes Werk“.42 Jegliche auf die Zeit Jesu folgende Entwicklung und Entfaltung der Kirche sei eine zeitliche Sache. Da alles Veränderbare zufällig sei,43 gehöre es in den weltlichen und damit gesellschaftlichen beziehungsweise staatlichen Bereich. In diesem Zusammenhang ist Heinke auch der Auffassung, „die größte Verherrlichung unseres geheiligten Glaubens“ habe es „just in dem Verhältnüß der Zeiten“ gegeben, „in welchen die Kirche am wenigsten mit weltlichen Dingen verbunden, oder mit zeitlichen Güttern versehen ware.“44 Wer hieran zweifle, sei „in unserer ächten Kirchen-Geschichte ein unbewanderter Fremdling.“45 Heinke vollzog mit seinem Kirchenverständnis einen enormen Bruch: Er verwarf die traditio der katholischen Kirche. Kirche wird von ihm auf ein zeitlichzufälliges, also historisch gemachtes Gebilde des Menschen reduziert. Jener Wandel des Kirchenbegriffs, der sich im 18. Jahrhundert aus einem dominant werdenden Kirchenrecht ergab, das das territoriale Staatskirchenrecht mit der Souveränität des Staates über die als einfache Gesellschaftsbildung verstandene Kirche beförderte, wird hier greifbar.46 Wie wirksam Heinkes Ausarbeitungen waren, zeigt die umgehende Aufnahme etwa bei Staatskanzler Kaunitz. Bereits ein halbes Jahr nach Abfassung der Denkschrift folgt Kaunitz dem Hofrat, in dem er die Grundsätze der kirchlichen und weltlichen Gewalt benennt und darauf verweist, dass für Kirche und Priestertum nur das zulässig ist, „was Christus selbst, als er noch auf Erden war, seinen Aposteln zugestanden und aufgetragen hat“47. Man kann nicht von der Hand weisen, dass sich damit bereits am Ende des Jahrzehnts, zu einer Zeit, in der auch die österreichische Politik durch die Verhandlungen um das Graubündner Konkordat, die Bischofsernennungen in der Lombardei und nicht zuletzt die Exkommunikation Herzog Ferdinands von Parma im Januar 1768 von einem Ausgleich mit Rom abließ,48 in Wien ein Kirchenbild dominierte, 42 43 44 45 46

EBD., S. 157. Vgl. EBD., S. 159. KLUETING, 1995, S. 115. EBD. Vgl. hierzu dicht gefasst HEGEL, 1975, S. 8. Vgl. ferner PLASSMANN, 1968, S. 9-19 und S. 26-32. 47 KLUETING, 1995, S. 120, und vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Kaunitz eigenhändig korrigierte Geheiminstruktion für die staatliche Kirchenbehörde (Giunta Economale) in Mailand vom 2. Juni 1768, in: EBD., S. 118f. 48 Vgl. hierzu MAASS, 1951, S. 25-39 und S. 69-93, sowie DERS., 1948, S. 303-319. 367

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„in welchem sowohl die äußeren Erscheinungsformen wie die inneren kirchlich-religiösen Vollzüge als politisch relevante Sachverhalte erscheinen und damit einer staatlichen Reglementierung unterliegen.“49 Bemerkenswert bleibt abschließend noch ein Aspekt aus einer Denkschrift Heinkes von 1781, mit dem der Bogen in die Alleinregierungszeit Josephs II. gespannt ist. Heinke kritisiert hier, dass „canonische und theologische Schriftsteller aus den mittleren Zeiten […] die Welt durch saecula getäuschet“ haben, indem sie verschleierten, dass „zeitliche Güter“ dem „weltlichen Arm“ entstammen.50 Schließlich weist er ihre Behauptung zurück, „daß die Kirche und somit die Geistlichkeit auch in allen anderen zeitlichen Dingen von Gott eine Gewalt erhalten habe unter dem Vorwand, weil alles Zeitliche dem viel höheren Zweck des ewigen Heils untergeordnet seyn müße.“51 Damit vollzieht Heinke eine deutliche Trennung zwischen Staat und Kirche, indem er die Kirche geradezu aus der Zeit herauskatapultiert und Zeit dadurch definiert, dass sie menschliche Verfügungsgewalt, menschliche Entwicklung ausmacht und daher Eigenzeit ist, die der Gestaltung und Verwirklichung dient. Heinke leugnet nicht die Endzeit, aber sie spielt keine Rolle bei ihm. Ihm geht es um Vergangenheit und Zukunft. Die Zeit dazwischen, seine Zeit, erfährt er als rein geschichtliche Zeit.

4. Die Bedeutung der Verzei tlichung für den Josephinis mus Man wird nicht übersehen können, dass sich bereits vor den Veränderungen der 1760er Jahre unter Maria Theresia Reformschritte abzeichneten, von denen die Kirche nicht unberührt bleiben sollte. Jede staatliche Neuordnung in einem katholischen Land wie Österreich berührte in dieser Zeit mehr oder minder auch die Kirche, ganz besonders, wenn es um die Festigung der eigenen Herrschaft und um die damit verknüpfte Vereinheitlichung des Habsburgerreiches ging. Die großen Staatsreformen der späten 1740er und frühen 1750er Jahre, mit denen der Name des Grafen Friedrich Wilhelm von Haugwitz verbunden ist, stellten eine hierauf ausgerichtete pragmatische Konsolidierung nach dem aufreibenden Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) dar. Sie implizierten 49 PRANZL, 2008, S. 34. 50 KLUETING, 1995, S. 222. 51 EBD. 368

Verzeitlichungstendenz des Josephinismus

zugleich aber auch deutliche Eingriffe in den kirchlichen Bereich, die dazu führten, dass die entsprechenden Reformer schon in den 1750er Jahren „von ihren Gegnern offenbar in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung schlicht und einfach ‚Neoteriker‘, also Neuerer, genannt wurden.“52 Mit den Entscheidungen in der Ministerialkonferenz vom 12. November 1753 und auch der anschließenden Ernennung Johann Christoph Freiherr von Bartensteins zum Vorsitzenden der Hofkommission für Religionssachen zeigte sich Wien jedoch fortan an einem guten Verhältnis zu Rom interessiert und ließ von belastenden Reformüberlegungen ab.53 Die „erste Welle der geistlichen Gesetzgebung“54 unter dem aus Preußen kommenden Haugwitz blieb damit eine Episode. Kaunitz, der 1753 zum Staatskanzler ernannt wurde, stand zunächst für eine andere Politik. Erst durch Joseph II. änderte sich, abgesehen von angedeuteten begleitenden Ereignissen, das Denken und die Politik seit dem darauffolgenden Jahrzehnt gravierend und unvergleichlich. Wir können sein auffälliges Selbstbewusstsein und seine vorgetragenen Überlegungen, die gewiss ein Stückweit auch durch seine Ausbildung mitgeprägt wurden,55 als Ausdruck einer Verzeitlichung lesen. Mit ihm erst beginnt der Josephinismus wirksam zu werden, der fortan eine Dynamik entwickelte, die sich dann in der 1780 beginnenden Alleinregierungszeit voll entfaltete. Dies zeigen insbesondere die durchgreifenden Reformen im kirchlichen Bereich. Der Staat griff nicht nur mit konkreten Bestimmungen in die Liturgie ein, er nahm auch starken Einfluss auf die zu lehrende Theologie in den Generalseminaren. Durch die vorhergehenden etablierten Überlegungen Hofrat Heinkes und die Einstellungen Josephs II. war der Boden hierfür schon bereitet. Eine entsprechende politische Umsetzung war unter Maria Theresia in den 1770er Jahren aber noch nicht möglich. Der Mitregent konnte beispielsweise 1771 lediglich mit Blick auf die bereits existierende Mailändische Giunta Economale das Fehlen einer solchen selbständigen Verwaltungsabteilung für Kirchenfragen beklagen, sie selbst errichten konnte er erst ein Jahrzehnt später.56 52 KLINGENSTEIN, 1970, S. 96. 53 Vgl. hierzu insgesamt, 1969, S. 13-25; SZABO, 1985; ferner in diesem Zusammenhang REINHARDT, 1965. 54 SZABO, 1985, S. 527. 55 Vgl. hierzu beispielsweise CONRAD, 1964, S. 157f. und S. 209; DERS., 1968, hier etwa Punkt 14 der Anweisung Josephs II. für die Erziehung seines Neffen, des Erzherzogs Franz, S. 599; darüber hinaus HARTL, 1979; BENNA, 1967. 56 Vgl. SZABO, 1985, S. 545. 369

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Indem die Kirche und die Theologie unter Joseph II. auf ihre Nützlichkeit hin betrachtet, bewertet und benutzt wurden, erwies sich die gegenwartsbezogene beziehungsweise geschichtliche Zeit als bestimmend. Der Josephinismus holte die Kirche geradezu in seine Gegenwart und die zu gestaltende Zukunft hinein – und löste sie damit von jeder Vorstellung einer traditio oder einer heilsgeschichtlichen Pilgerreise auf Gott hin. Damit erweist sich der Josephinismus insgesamt als Versuch, politisch Pluralität aufzulösen, und die Vereinheitlichung von oben erweist sich als Tendenz, Herr der Zeit zu werden. Politische Macht wird in der verzeitlicht verstandenen Verwirklichung von Idealzuständen und der damit verbundenen Ordnung der Zeit-Begriffen. Für den Josephinismus ist Verzeitlichung, angesichts der eingeschriebenen geschichtsphilosophischen Dimension von Säkularisierung und der Beschleunigung, die sich in Joseph II. und seinem Reformtempo zeigt, geradezu konstitutiv.

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D IE S ATTELZEIT T R AN SF OR M AT I O N

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REV OL U T IO NÄ R ER

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1. Einleitung Reinhart Koselleck war ein großer ‚Begriffspräger‘: Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, das „Vetorecht der Quellen“, das Spannungsfeld von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ und nicht zuletzt auch die „Sattelzeit“ wurden als Termini maßgeblich von ihm etabliert. Eingebunden in Kosellecks Gedankensystem einer sozialgeschichtlich orientierten Begriffsgeschichte, die besonderes Augenmerk auf Zeitstrukturen und historische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster legt, zählen sie heute zum zentralen Vokabular einer modernen Ideen- beziehungsweise Geistesgeschichte der Neuzeit. Darüber hinaus fanden die Begriffe – allen voran die „Sattelzeit“ – auch Eingang in die Sprache anderer Wissenschaften, so etwa in Studien aus dem Bereich der Theologie1, der Pädagogik2, der Sprachwissenschaft,3 der Literaturwissenschaft4 oder der Rechtswissenschaft.5 Es gibt sicherlich mehrere Gründe dafür, dass der Sattelzeitbegriff ein theoretischer Grundbegriff über die Geschichtswissenschaft hinaus geworden ist. 1 2 3 4 5

GRAF, 2005; OGNOIS, 2009; hierzu auch: JOAS, 2011. BRACHMANN, 2008. RIEDEL, 2007; WILCZEK, 2007. FRÜHWALD, 2003. HÄRTER, 2008. 373

Stefan Jordan

So kann er – wie bereits angedeutet – für Analysen komplexerer Problemstellungen verwendet werden.6 Die Sattelzeit ist kein reiner Epochenbegriff, wie etwa ‚Weimarer Republik‘ oder ‚Zeitalter der Industrialisierung‘, sondern verbindet Sozialgeschichte mit Ideen- und Wahrnehmungsgeschichte sowie sprachlich-begriffliches Handeln einzelner Akteure mit kollektiven Vorstellungen.7 Gerade dieser Umstand hat den Begriff für neueste Arbeiten attraktiv gemacht, die unter dem Etikett einer Neuen Kulturgeschichte die synoptische Verbindung einer auf historische Gegenstände bezogenen Geschichtsbetrachtung mit der Untersuchung der entsprechenden Rezeptionsmuster und Wahrnehmungsbilder anstreben. Forschungsschwerpunkte der Neuen Kulturgeschichte, wie die Untersuchung historischer Räume und historischer Eliten, bedienen sich daher der Sattelzeit.8 Einen weiteren Grund für die Popularität der Sattelzeit darf man in der hohen metaphorischen Aufladung des Begriffs vermuten, der ihn relativ deutungsoffen und für unterschiedlichste Überlegungen adaptierbar macht. Ein Beleg hierfür ist die Übertragung der Vorstellung einer Sattelzeit auf andere Zeitstufen: Friedrich Wilhelm Graf etwa benutzte den Terminus nicht nur für die Zeit um 1800, sondern auch für die Zeiten um 1900 und die 1980er Jahre;9 Reinhold Bauer sprach mit wirtschaftswissenschaftlichem Interesse von den 1970er Jahren als „Sattelzeit im ostdeutschen Automobilbau“;10 und Wolfgang Weiß interpretierte die Epoche zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils als „religiöse Sattelzeit“.11 Die leichte Adaptierbarkeit des Begriffs wird begünstigt durch die definitorischen Vagheiten, die fast alle metaphorischen Begriffe Kosellecks auszeichnen. So benutzen heute viele Autoren, die über die Objektivität geschichtswissenschaftlicher Forschung arbeiten, das Bild vom Vetorecht der Quellen. Fast alle würden aber die Vorstellung, dass Quellen sprechen können, als frühhistoristischen Idealismus abtun. Die Vorstellung, dass man Quellen nur kritisch zu ‚reinigen‘ habe, um dann aus ihnen ‚die Geschichte‘ heraus zu lesen oder zu hören, entsprang nämlich der Zuversicht der ersten Historikergeneration des 19. Jahrhunderts. Sie verlor sich aber schon bald – spätestens mit Droysens 6 7 8 9 10 11 374

JORDAN, 2011. DERS., 2010b. KASPER, 2009; LOTZ-HEUMANN, 2010; ENGELS, 2010. GRAF, 2009. BAUER, 2010. WEISS, 2009; zusammenfassend hierzu: JORDAN, 2011.

Die Sattelzeit

„Historik“-Vorlesung. Gleichwohl sagt das Bild vom Vetorecht der Quellen nichts anderes, als dass Quellen sprechen können. Es behauptet zwar nicht – und Koselleck hat sich hiergegen auch vehement ausgesprochen –, dass Quellen positiv ‚die Geschichte erzählen‘. Aber es insinuiert immerhin die merkwürdige Ansicht, dass Quellen als Quasi-Akteure einer ‚falschen Geschichte‘ widersprechen können. Trotz dieser metaphorischen Inkonsistenz wird weiter eifrig vom Vetorecht der Quellen gesprochen.12 Ähnliches lässt sich für die Sattelzeit beobachten. Koselleck hat sich auf Nachfragen, welche Vorstellung dem Bild des Sattels eigentlich zugrunde liege, immer in vieldeutiges Schweigen gehüllt oder – so in einem Gespräch mit Christof Dipper – äußere Gründe angeführt: Der „Ausdruck ‚Sattelzeit‘ ist natürlich ein Kunstbegriff, den ich benutzt habe, um Geld zu bekommen! Es war damals meine einzige Absicht, im Arbeitskreis [d. i. der Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte in Heidelberg] für mein Projekt [die Geschichtlichen Grundbegriffe] zu werben, und dabei fiel mir im Zuge der Argumentation dieses Wort ein. Ich hatte nie die Absicht, einen theoretischen Anspruch daran zu knüpfen. [...] Ich habe also ein Schlagwort geprägt, das sich dann als theorieträchtiges, aber doch semantisch als etwas schwaches oder metaphorisch arg anreicherbares Etwas erwiesen hat. Das ist die Herkunft dieses komischen Wortes.“13 Koselleck wusste also sehr genau, dass sowohl das Bild des Bergsattels als auch des Reitsattels für seine Sattelzeit nicht gut passte. Denn als Bergsattel bezeichnet man den tiefstgelegenen Punkt eines Berggrats zwischen zwei Massiven; ein Reitsattel ist definiert als der tiefste Punkt auf dem Rückgrat des Pferdes zwischen Schulter und Hüfte. Die Sattelzeit wäre demnach eine zwischen zwei höherwertig verstandenen Zeitpunkten eingeschlossene Phase des Übergangs. Diese Konnotation einer Tiefphase hatte Koselleck aber sicher nicht gemeint. Noch problematischer erweist sich die zeitliche Eingrenzung des Sattelzeitbegriffs. Die Sattelzeit beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts und endet Mitte des 19. Jahrhunderts. Geistesgeschichtlich spricht vieles dafür, nach dem ersten Drittel beziehungsweise in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Anfängen der Aufklärung eine epochale Zäsur zu sehen. Die Begründung des Endes der Sattelzeit fällt weitaus schwerer, auch wenn Koselleck selbst sie in dem Ge-

12 Zusammenfassend hierzu: JORDAN, 2010a. 13 KOSELLECK/DIPPER, 1998, S. 195; siehe auch KOSELLECK, 1996, S. 69f. 375

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spräch mit Dipper als „ziemlich objektivierbar“ bezeichnet hat.14 Erstens markiere die Zeit um 1850 das Ende des Alten Reichs, zweitens das Ende der Ständegesellschaft und drittens das Ende von Klassik, Romantik und Idealismus, die als Folge einer erweiterten Artikulationsfähigkeit entstanden seien. Verwunderlich daran scheint zunächst, dass Koselleck die Romantik als Teil der Sattelzeit bezeichnet, denn die Romantik bedeutete einen deutlichen Bruch mit den Prinzipien der Aufklärung. Das aufklärerische Geschichtsverständnis etwa wurde von den Romantikern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts komplett über den Haufen geworfen.15 Waren die Aufklärer in gewisser Weise die ersten ‚Modernen‘, so entwarfen die Romantiker die erste Gegen-Moderne. Dieser Umstand spricht dafür, die Sattelzeit schon viel früher, mit Beginn des 19. Jahrhunderts, enden zu lassen. Ein Blick auf das von Koselleck zur Begründung seiner Periodisierung herangezogene Ende des Alten Reiches (1806) beziehungsweise die Formierung des Deutschen Bundes (1815) oder das Ende der Klassik als literatur- und kunstgeschichtlicher Epoche, das sich spätestens mit Goethes Tod im Jahr 1832 datieren lässt, legt dies ebenfalls nahe. Auch ein ‚Abgleich‘ der ‚Epoche Sattelzeit‘ mit wirtschaftsgeschichtlichen Periodisierungen würde diese Verkürzung unterstützen. Denn die Sattelzeit, die ein typisch deutsches Phänomen ist (es gibt keine Pendants des Wortes in anderen europäischen Sprachen),16 wäre in dieser Hinsicht die letzte Phase vor dem Beginn der Industrialisierung, der von Henning mit dem Jahr 1835, von Kiesewetter sogar schon mit dem Jahr 1815 datiert wurde.17 Die Sattelzeit wäre dann, in dieser zeitlich verkürzten Form, als Kosellecks Synonym für ‚Aufklärung‘ beziehungsweise ‚Aufklärungszeit‘ zu betrachten. Auf die Gründe für diesen Umstand wird später zurückzukommen sein (4.). Zunächst soll aber ein Blick darauf geworfen werden, wie Koselleck die Beziehung zwischen der Sattelzeit und unserer Gegenwart sieht (2.), um daran die These anzuschließen, dass er seinen Begriff weniger als entwicklungsgeschichtliche „Schwellenzeit“, denn als Paradigma versteht (3.).

14 15 16 17 376

KOSELLECK/DIPPER, 1998, S. 195. SCHULIN, 1979; JORDAN, 1999. LEONHARD, 2008. HENNING, 1973; KIESEWETTER, 1989.

Die Sattelzeit

2. Die Spr ache der Sattelzei t und die Sprache unsere r Gegenw art Ihr Aufklärungscharakter macht die Sattelzeit für Koselleck zur „Schwellenzeit“ der in unserer Gegenwart entfalteten, nach seinem Verständnis ‚modernen‘ politisch-sozialen Sprache. Mit Hinblick auf die Geschichtlichen Grundbegriffe vertritt er die These: „Das Lexikon ist insofern gegenwartsbezogen, als es die sprachliche Erfassung der modernen Welt, ihre Bewußtwerdung und Bewußtmachung durch Begriffe, die auch die unsrigen sind, zum Thema hat. [...] Vielmehr werden Leitbegriffe aus der vorrevolutionären Zeit [vor 1789] über die revolutionären Ereignisse und Wandlungen hinweg in unseren Sprachraum hinein verfolgt.“18

Diese Behauptung scheint dann plausibel, wenn man an Begriffe wie ‚Emanzipation‘ oder ‚Freiheit‘ denkt – Begriffe also, die zum zentralen Bestand der Aufklärungssprache zählen. Aber wie sieht es etwa mit Begriffen wie ‚Volk‘, ‚Rasse‘ oder ‚Leben‘ aus – Begriffen also, die ihre Prägung maßgeblich während der so genannten ‚Gegen-Moderne‘ von der Romantik bis zu den völkischen, pseudo-materialistischen, biologistischen und neu-romantischen Denkströmungen erhielten? Sicherlich verwendet man den Begriff ‚Volk‘ heute nicht mehr in der Bedeutung, die ihm Ernst Moritz Arndt, Rudolf Virchow, Houston Stewart Chamberlain oder Alfred Rosenberg auf ihre jeweilige Weise zumaßen. Zu sehr sind diese Bedeutungen spätestens seit 1945 politisch desavouiert. Gleichwohl haben sie die Begriffsentwicklung für mehr als ein Jahrhundert maßgeblich beeinflusst und unterliegen auch heute noch – als unterschwelliger Gegendiskurs – unserem Begriffsgebrauch. Wer heute von ‚Demokratie‘ spricht, beruft sich dabei fast immer auf die Bedeutungen, die der Begriff Ende des 18. Jahrhunderts erhielt. Aber seine Pervertierung in den ‚Volksdemokratien‘ des 20. Jahrhunderts ist auch hier als Negativfolie in das Begriffsverständnis eingeflossen. In der Tat entspricht unser heutiges Verständnis etwa von Staat oder Geschichte jener Auffassung, deren Entstehung die Autoren der Geschichtlichen Grundbegriffe für die Sattelzeit ausgemacht haben. Aber diese Entsprechung beruht nicht auf einer linearen begrifflichen Entwicklungskette, die geradewegs von der Sattelzeit auf uns zuführte. Sie ba18 KOSELLECK, 1972, S. XIV. 377

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siert vielmehr auf einem bewussten Bezug unserer Gegenwart – zumindest jener in Europa und Amerika – auf Grundsätze der Aufklärung. Wer heute von ‚Demokratie‘ oder von ‚Volk‘ spricht, stellt sich in eine bestimmte Tradition, deren Wurzeln allgemein in den Jahrzehnten vor 1800 gesehen werden.

3. Die Sattelzeit als Paradigma Ich komme damit zu meiner These, dass die Sattelzeit nur als eine entwicklungsgeschichtliche Phase erscheint, tatsächlich aber wie ein strukturelles Paradigma gedacht ist. Reinhart Koselleck charakterisiert die Sattelzeit in der Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegriffen in entwicklungsgeschichtlicher Manier als eine Übergangszeit: Aus der Kritik an den sozialen und politischen Zuständen der Voraufklärungszeit sei seit 1750 eine neue Terminologie entwickelt worden, die wiederum Rückwirkungen auf die Gestaltung der politisch-sozialen Lebenswelt gehabt habe: etwa durch die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich oder auch durch das Bewusstsein einer zeitlichen Beschleunigung und Entgrenzung sowohl in Richtung auf die Vergangenheit als auch in Richtung auf die Zukunft. Die Entwicklung dieser Terminologie sei um 1850 abgeschlossen gewesen und werde seitdem – so Koselleck – als „moderne“ oder „gegenwärtige“ oder „unsere“ politisch-geschichtliche Beschreibungssprache gepflegt.19 Kosellecks Modell kennt erstens eine ‚alte Zeit‘ vor 1750. Es kennt zweitens eine Zeit, die dadurch definiert ist, dass die Zeitgenossen sie als ‚neu‘ erfahren und von der ‚alten‘ unterscheiden.20 Das ist die Sattelzeit, die bis 1850 dauert. Und es kennt drittens unsere Gegenwart, in der das in der Sattelzeit entwickelte Vokabular auf historische und gegenwärtige Gesellschaften und Staaten angewendet wird. Zwei Gründe sprechen nun dafür, dass es sich bei diesen drei Phasen der Neuzeit nicht, wie Koselleck argumentiert, um entwicklungsgeschichtliche Stufen handelt, sondern um Paradigmen. 1. Der erste Grund, der dafür spricht, dass Koselleck die Sattelzeit als Paradigma gedacht hat, ist bereits genannt: Wäre ihm an einer evolutionären Beschreibung gelegen gewesen, dann hätte er die Gegen-Moderne in sein Konzept integrieren müssen. So fehlt ihm nicht nur eine schlüssige Einbindung der 19 EBD., S. XVf. 20 Zum Verhältnis von neuer Zeit, Neuzeit und Sattelzeit im Denken Kosellecks vgl. meine Ausführungen in: JORDAN, 2003. 378

Die Sattelzeit

Romantik in sein Periodisierungsmodell, sondern auch die oben angeführte Phase völkischer, biologistischer, lebensphilosophischer Begriffsbildung, die die Sattelzeit mit unserer Gegenwart verbinden würde. Die Vermutung, dass Koselleck diese ‚Evolutionslücke‘ möglicherweise selbst bewusst war, liegt nahe, wenn man einen Text liest, den sein Autor zu Lebzeiten nicht veröffentlichte und der nun im dritten Band der ‚kleinen Werkausgabe‘ Kosellecks von Carsten Dutt herausgegeben wurde. Der Vortrag Das 19. Jahrhundert – eine Übergangszeit21 – gehalten in Tokio im Jahr 1978 – scheint die Idee einer ‚Sattelzeit‘ zu konterkarieren, indem er das 19. Jahrhundert als Schwellenepoche präsentiert, deren politische und soziale Probleme zu Beginn des Saeculums diagnostiziert wurden, in der 1848erRevolution kulminierten und nach der Reichsgründung 1871 unter neuen (national-)politischen Vorzeichen als erneuerte Fragen reformuliert wurden. Interessant daran ist nicht allein, dass dieses Epochenmodell in diametralem Gegensatz zum Sattelzeitmodell steht, indem es die epochale Einheit des 19. Jahrhunderts behauptet,22 sondern vor allem dass Koselleck zur Begründung des Übergangscharakters dieselben Theoreme und Argumente verwendet, die er zur Begründung der Sattelzeit gebraucht: So diagnostiziert er den Übergangscharakter des 19. Jahrhunderts nicht nur auf der Sachebene, zum Beispiel auf der Grundlage der rapiden Änderung menschlicher Lebensverhältnisse, sondern auch auf der Wahrnehmungsebene: „Man glaubte[,] in einer Übergangszeit zu leben.“23 Zu den prägenden Erfahrungen der Menschen zählten die „Beschleunigung“, der „Raumschwund“ und die „Grunderfahrung“, sich in „einer stets sich überholenden neuen Zeit, schlicht: der Neuzeit“ zu befinden.24 Nahezu identische Aussagen finden sich in der Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegriffen und verstreut in der Aufsätzen des Bandes Vergangene Zukunft25 – nur dass sie dort nicht auf das 19. Jahrhundert, sondern auf die Sattelzeit 1750 bis 1850 bezogen sind. Nun ließe sich folgern, dass Koselleck in diesem Aufsatz seiner eigenen These von der Sattelzeit als grundlegender Transformationsphase zwischen ‚alter‘ Zeit und Neuzeit beziehungsweise unserer Gegenwart widersprochen habe und stattdessen die Errungenschaften dem 19. Jahrhundert zuschreiben wollte. Dagegen spricht, dass Koselleck in der Tokioter Rede darauf hinweist, 21 22 23 24 25

KOSELLECK, 2010. EBD., S. 133. EBD., S. 131. EBD., S. 134, S. 136. DERS., 1979. 379

Stefan Jordan

dass die „Grunderfahrungen“ der Übergangsphase bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gemacht worden seien.26 Naheliegender ist es, der Argumentation des Vortrags von 1978 eine Brückenfunktion zuzumessen. Entwicklungsstränge, die in das 18. Jahrhundert zurückreichen, werden im 19. Jahrhundert fortgesetzt und münden direkt in unsere Gegenwart. Koselleck bettet hier – meines Wissens das einzige Mal in seinem Gesamtwerk – die Vorstellung von der Sattelzeit in eine wahrhaft entwicklungsgeschichtliche Perspektive ein. Der Preis dafür ist, dass die Sattelzeit ihren Status als abgeschlossene Transformationsphase des modernen Denkens an das 19. Jahrhundert als ‚Epoche‘ verliert und lediglich zur Begründungsphase dieser Epoche wird. Ein Ende der Sattelzeit um das Jahr 1850 anzunehmen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht plausibel. 2. Mein anderes Argument richtet sich auf die Begründung des Beginns der Sattelzeit. Schaut man sich Thomas S. Kuhns für Wissenschaftssprachen entwickeltes Paradigmenmodell an, so sieht man, dass Kuhn dann von „wissenschaftlichen Revolutionen“ spricht, wenn ein wissenschaftliches Erklärungsmodell vollständig durch ein anderes ersetzt wurde, wenn also eine neue „Normalwissenschaft“ an die Stelle einer alten tritt.27 Einen paradigmatischen Umschlag beschreibt auch Koselleck für die politisch-soziale Sprache. Sei der Begriff ‚Geschichte‘ vor der Sattelzeit etwa als Pluralbegriff (‚Geschichten‘) verstanden worden, der immer an einen jeweiligen konkreten Ereigniszusammenhang gebunden war (also etwa die Geschichte der Völkerwanderung, die Geschichte Karls des Großen usw.), so werde ‚Geschichte‘ seit der Sattelzeit immer als Kollektivsingular aufgefasst (also: die Geschichte an sich, die Geschichte über den Geschichten).28 Das ist strukturell nichts anderes als der revolutionäre Umschlag zwischen einem älteren geozentrischen und einem neuen heliozentrischen Weltbild, den Kuhn stets als Beispiel für sein Paradigmenmodell angeführt hat. Dass Koselleck im begrifflichen Einzelfall häufig einzelne Jahre oder Jahrzehnte als Zeitpunkte für begriffliche Umschläge ausgewiesen hat und nicht von einer Begriffsentwicklung über den gesamten Zeitraum der Sattelzeit ausgegangen ist, wird noch zu behandeln sein.

26 KOSELLECK, 2010, S. 136. 27 KUHN, 1976. 28 KOSELLECK, 1975. 380

Die Sattelzeit

4. Die Sattelzeit: Re form oder Revoluti on? Dass Koselleck die Sattelzeit als Reformzeit und nicht als aufklärerische Revolutionszeit ausweist, hat drei Ursachen: erstens die ambivalente Bedeutung, die dem Begriff ‚Aufklärung‘ im Deutschen zukommt, zweitens die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der von Koselleck angeführten Begriffe und drittens eine Unausgewogenheit der Quellen, auf der die begriffsgeschichtlich unterfütterte Sattelzeit beruht. 1. Anders als in anderen europäischen Sprachen ist der Begriff ‚Aufklärung‘ in Deutschland – spätestens seit 1945 – ‚dialektisch‘ gedacht. ‚Emanzipation‘ und ‚Freiheit‘ auf der einen Seite stehen ‚Moralismus‘ und ‚Terreur‘ auf der anderen gegenüber. Aufklärung ist also nichts durchweg Positives, und das war sie schon gar nicht für Koselleck, der seine wissenschaftliche Laufbahn mit der Dissertation Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt im Jahr 1954 begann.29 Mehr als fünfzig Jahre später schrieb er in seinem Aufsatz Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte: „Dann freilich stellte sich heraus, daß diese Aufklärung im Namen der Vernunft schnell die von ihr selbst postulierte Toleranz hinter sich ließ. [...] immer lauerte hinter der Aufklärung ein penetranter moralischer Despotismus, eine pädagogisch legitimierte Bevormundung“.30

Ohne dies hier weiter politisierend oder psychologisierend zu vertiefen, kann festgehalten werden, dass sich Koselleck mit der Verwendung des Aufklärungsbegriffs eher schwer getan hat. ‚Sattelzeit‘ erscheint zumindest gegenüber ‚Aufklärung‘ nicht nur als deutungsoffener, sondern auch als moralisch unvorbelasteter und damit freundlicherer Begriff. 2. Im Gegensatz zu Kuhn, der sich mit einzelnen Wissenschaften beziehungsweise bestimmten Wissenschaftstheorien beschäftigt, geht es Koselleck dem Ideal nach um die gesamte Sprache, die für die historische Beschreibung der politisch-sozialen Wirklichkeit benötigt wird. Während sich nun aber relativ genau jene Schriften datieren lassen, in denen die ‚revolutionäre‘ Theorie des Heliozentrismus entwickelt wurde oder in welchen Kant seine paradigmatische Kopernikanische Wende vollzog, folgt die Veränderung der politisch29 KOSELLECK, 1959. 30 DERS., 2010a, S. 126. 381

Stefan Jordan

sozialen Begriffe nicht einer umfassend geltenden Zeitlichkeit. Manche der Begriffe veränderten sich früher oder wurden früher als Neologismus geprägt, andere dagegen wurden später verändert oder geprägt.31 Auf das Gesamt der in den Geschichtlichen Grundbegriffen behandelten Begriffe gesehen, kann man nicht ein bestimmtes Jahr oder einen bestimmten Anlass ausmachen, an dem ‚aus alt neu wurde‘. Dies spricht aber nicht dagegen, dass der begriffliche Umschlag doch als paradigmatischer gedacht wird. Schließlich reden wir auch von der ‚Französischen Revolution‘ und haben dabei einen Ereigniszusammenhang im Blick, der sich über mindestens ein Jahrzehnt erstreckte. Entscheidender ist vielmehr, dass Koselleck bei seinen eigenen Begriffsstudien fast immer einen konkreten Zeitpunkt des Umschlags benannte. So schrieb er etwa im Jahr 1997 in seinem Aufsatz Vom Sinn und Unsinn der Geschichte: „Die ‚Geschichte selbst‘ ist ein moderner Ausdruck, den es vor etwa 1780 noch nicht gab.“32 Das Jahr 1780 erscheint hier also als recht konkreter Zeitpunkt des begrifflichen Umschlags. In Wozu noch Historie? aus dem Jahr 1971 heißt es: „Der alte Topos vom ewigen Wandel wurde seit rund 1800 auf die Einmaligkeit des jeweiligen Wandels eingeengt.“33 Hier ist das Jahr 1800 Zeitpunkt des Umschlags. Und im selben Aufsatz finden wir mit Blick auf die Geschichte als Kollektivsingular die folgende Datierung: „Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich.“34 Immer gibt Koselleck also einen genauen Zeitpunkt an, an dem sich Alt und Neu scheiden. Das ist nicht evolutionär gedacht, sondern revolutionär: An einem bestimmbaren Zeitpunkt wird ein alter Begriff durch einen neuen ersetzt. 3. Dass Kosellecks Modell entwicklungsgeschichtlich zu sein scheint, liegt zudem daran, dass Koselleck in seiner begriffsgeschichtlichen Analyse ausschließlich ‚Höhenkammliteratur‘ herangezogen hat. Um es anders zu sagen: Auf der Suche nach ersten, frühesten Belegen für einen spezifisch neuen oder neuzeitlichen Begriffsgebrauch bedient sich die Kosellecksche Begriffsgeschichte ausschließlich avantgardistischer Quellen. Es werden die Texte herausragender Denker ausgewertet oder Nachschlagewerke, die diese herausragenden Denker zitieren. Wie von Rolf Reichardt und anderen Mitwirkenden im Umfeld des Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 kritisiert, lassen die Geschichtlichen Grundbegriffe populärere

31 32 33 34 382

DERS., 1972, S. XIV. DERS., 2010b, S. 20f. DERS., 2010c, S. 33. EBD., S. 39.

Die Sattelzeit

Genres wie Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter sowie Belehrungs- und Unterhaltungsschriften bei ihrer Begriffsanalyse nahezu unberücksichtigt.35 Hierdurch entsteht unweigerlich der Eindruck, als seien die Auffassungen der philosophischen, wissenschaftlichen oder literarischen Avantgarde die leitenden Auffassungen ihrer Zeit gewesen. Ein ähnliches Phänomen jüngeren Datums kennen wir bezüglich der Beurteilung der Historischen Sozialwissenschaften. Sie werden immer als leitendes Paradigma der 1970er und 1980er Jahre gesehen. Das zu behaupten, mag hinsichtlich ihres avantgardistischen und für die spätere Geschichtswissenschaft wegweisenden Charakters angemessen sein; betrachtet man aber die geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen dieses Zeitraums insgesamt, so stellt man fest, dass die den Historischen Sozialwissenschaften zuzurechnenden Veröffentlichungen keineswegs die Mehrzahl ausmachen. Nicht die quantitative Verbreitung der Historischen Sozialwissenschaften, sondern die Bewertung dieser Richtung als neuartig oder höherwertig wird zum Indikator, um ihr innerhalb der Geschichtswissenschaft einen Paradigmenstatus zuzusprechen. Das gleiche lässt sich strukturell auch für die Sattelzeit behaupten. So ist es sicherlich richtig, dass fortschrittliche Historiker – wie etwa der von Koselleck edierte Johann Martin Chladenius oder die Vertreter der Göttinger Schule – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Idee von der ‚Geschichte an sich‘ entwickelten. Wirft man allerdings einen Blick auf die verbreiteten Lehrbücher dieser Zeit, so ist diese Idee darin keineswegs voll ausgereift. Die Begriffsgeschichte à la Koselleck konzentriert sich auf die Bildung neuer Begriffe, nicht aber auf das Verschwinden alter Begriffe. Dies zu unterscheiden, klingt nach Haarspalterei, ist es aber nicht: Durch die Konzentration allein auf das Neue kann die Kosellecksche Begriffsgeschichte im Unterschied zum Kuhnschen Paradigmenmodell keine Vorstellung von einem subversiven Gegendiskurs in ihr Zeitmodell integrieren – von einem Gegendiskurs, der sich langsam entwickelt und dann entweder revolutionär in einen leitenden, allgemein akzeptierten Diskurs umschlägt oder sich evolutionär zu einem solchen entwickelt. Vielmehr konzentriert sich Kosellecks Begriffsgeschichte immer einzig auf ein Stadium, das man mit Kuhn als ‚außerordentlich‘ bezeichnen kann und das dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Begriff von einzelnen Zeitgenossen bereits als problematisch empfunden und umkämpft wird. Indem Koselleck nur eine Seite dieses Kampfes thematisiert – nämlich die der Begriffserneuerer – 35 REICHARDT, 1982; DERS., 1985. 383

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statuieren seine Begriffsanalysen Paradigmen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Es geht seiner Begriffsgeschichte darum, auf welche Weise sich die Vorstellung von der ‚Geschichte an sich‘ bei bestimmten hochkarätigen Autoren gestaltet; es geht ihm nicht um die Entwicklungsgeschichte, die Unterschiede zwischen älteren und neueren Begriffsdeutungen thematisiert und in einer allgemeinen Durchsetzung letzterer mündet.36

5. Zusammenfassung 1. Die Sattelzeit wird von Reinhart Koselleck als eine entwicklungsgeschichtlich entfaltete „Schwellenzeit“ der Geistesgeschichte präsentiert, in der eine alte politisch-soziale Sprache und eine mit ihr verbundene politisch-soziale Wirklichkeit überwunden werden. Die in der Sattelzeit neu entwickelte Sprache wird als immer noch verwendete Sprache – als unsere gegenwärtige Sprache – verstanden, mit der wir heute die gegenwärtigen Realitäten beschreiben. Wenn wir also etwa von ‚Demokratie‘ sprechen, bedienen wir uns eines Begriffsverständnisses, das zwischen 1750 und 1850 entwickelt wurde und bis in unsere Zeit tradiert wird. Diese scheinbare Entwicklungsgeschichte wirkt auf den ersten Blick plausibel, weil die in der Sattelzeit entwickelte Sprache und unsere heutige Sprache auf denselben Prinzipien beruhen: den Grundsätzen der Aufklärung nämlich. Aber unsere politisch-soziale Sprache ist nicht aus der Sattelzeit hervorgegangen; sie wurde ebenso durch romantische, pseudo-materialistische, völkische, lebensphilosophische etc. Denkformen geprägt, auch wenn wir heute versuchen, diese Prägungen zu ignorieren beziehungsweise uns von ihnen zu distanzieren. Es waren nicht zuletzt die Generation und die Elterngeneration des 1923 geborenen Koselleck, die mit der Tradition der Sattelzeitsprache, mit ihren Deutungen von ‚Staat‘, ‚Demokratie‘, ‚Geschichte‘ oder ‚Volk‘ radikal gebrochen hatte. 2. Die Sattelzeit ist ein Synonym für die Aufklärung und zwar in paradigmatischer Sichtweise. Die Begriffswelt der alten Zeit wird vollständig negiert und ein bleibender Begriffshorizont für alle Zeiten und alle Gesellschaften geschaffen, die sich dem aufklärerischen Geist verpflichtet wissen. Sinnvoll wäre es daher, das Ende der Sattelzeit – sofern man mit diesem Begriff wirklich eine 36 Zur Kritik an der Koselleck‘schen Begriffsgeschichte siehe auch: SCHNEIDER, 2010. 384

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geistesgeschichtliche Epoche bezeichnen möchte – an den Beginn des 19. Jahrhunderts zu verlegen. Die Sattelzeit würde dann ein halbes Saeculum von etwa Mitte des 18. Jahrhunderts bis in das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts umfassen. Aber wahrscheinlich ist der Sattelzeitbegriff inzwischen viel zu etabliert, als dass sich eine solche Verkürzung durchsetzen ließe – gegen die sich zudem noch ins Feld führen ließe, dass man stattdessen gleich von ‚Aufklärung‘ sprechen könnte. 3. Beschreibt die Sattelzeit nun eine evolutionäre Transformation des Denkens oder ist sie ein revolutionärer Paradigmenwechsel? In gewisser Weise treffen beide Charakterisierungen nicht richtig zu. Eine Transformation des Denkens beschreibt die Sattelzeit insofern nicht, weil nur die Seite der Neuerer, genauer gesagt der innovativen Avantgarde, betrachtet wird. Die Unterfütterung der Sattelzeit geschieht nicht diskursgeschichtlich, indem Argumentationen für und wider einen bestimmten Begriff in ihrer Entwicklung dargestellt werden. Sie geschieht begriffsgeschichtlich, indem ein Begriff, ein Konzept oder eine Idee in ihrer innovativen Ausprägung bei den Denkern x, y und z ausgewiesen wird. Die Sattelzeit ist ein Paradigma, aber ist sie darum gleich – wie es Kuhn für sein Modell behaupten würde – revolutionär? Wohl kaum. Denn das begriffsgeschichtliche Konzept der Sattelzeit ist auf eine für einen Geschichts- und Zeittheoretiker wie Koselleck eigenartige Weise zeitenthoben. Es umfasst die Sprache der Aufklärung. Dadurch kann sich jeder, der sich den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet sieht, in die Tradition der Sattelzeit stellen. Prinzipiell stehen aber auch andere Paradigmen und Sprachen, etwa die in der Gegen-Moderne in der Gegenwart, zur Verfügung.

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F RÜHE N EUZEIT ,

MULTIPLE MODERNITIES ,

G LOBALE S ATTELZEIT CORNEL ZWIERLEIN Wie kann man die Zeitregime, die den Sicherheitsregimen einer Gesellschaft eingeschrieben sind, erfassen?1 Sicherheitsdenken und -planen sind für ein solches Fragen ein besonders günstiges Beispiel, da sie in der Neuzeit immer ganz spezifisch zukunftsbezogen sind, weil Sicherheit immer als NichtUnsicherheit und als Gewissheit des zukünftigen Bestandes von Werthaftem zu fassen ist. Unter Sicherheitsregime verstehe ich dabei die Gesamtheit von intentionalen wie nicht-intentionalen Prozessen, Strukturen, Planungen und Abläufen, die in einer Gesellschaft zur Produktion ihrer Sicherheit vom lokalen Milieu und der inneren Sicherheit bis zur äußeren Sicherheit von Staaten vorfindlich sind, wobei schon die letztgemachte Unterscheidung selbst ein historisch-epochal spezifisch gewachsener Typus von Sicherheitsregime ist. Unter Zeitregime verstehe ich weniger die Zeitsemantik einer Epoche oder Ge1

Zum weiteren Kontext vgl. die inzwischen erschienene Habilitationsschrift ZWIERLEIN, 2011; vgl. auch die Weiterführung der Frage hin auf die Vergleichbarkeit von prä- und postmodernen Sicherheitsproduktionsregimen in ZWIERLEIN u. a., 2010b. Die zugrunde liegenden Forschungen fanden im Rahmen des Bochumer DFGProjekts „Risikozähmung in der Vormoderne“ statt. Die Beiträge zum Panel des Historikertages 2010 in Berlin „Grenzen der Sicherheit, Grenzen der (Spät-)Moderne“ erscheinen als Heft 3/2012 von Geschichte & Gesellschaft, die Beiträge des Panels zur Versicherungsgeschichte auf dem Frühneuzeit-Historikertag Marburg erscheinen 2013 (hg. v. CHRISTOPH KAMPMANN). Für die Beiträge zu den Forschungstagen 2009/2010 „Sicherheit und Krise“ der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften vgl. ZWIERLEIN, 2012. 389

Cornel Zwierlein

sellschaft als die zeitbezogene Wahrnehmungsstruktur, ähnlich dem Begriff der Timescapes von Barbara Adam; also die Struktur von Zeitlichkeit, nicht ihre Semantik.2 Das Paradoxon der Sicherheit ist, dass es einen Zukunftsbezug in sich trägt, aber gerade auch ein Gegenwarts- und Stabilitäts-Erhaltungselement.3 Wenn Sicherheit als politischer Begriff in Europa erst ab etwa 1680/1700 zentral wurde, dann scheint hier die Frühe Neuzeit etwas von eminenter Bedeutung hervorgebracht zu haben.4 Gemeint ist dabei nicht nur der Begriff Sicherheit, sondern die Entstehung einer spezifischen kontrafaktischen Erwartungshaltung, die die Form der Gesellschaft prägt. Neuzeitliche Sicherheitsregime sind dann offensichtlich etwas anderes als vorherige, vielleicht kann man sie schon als (früh)modern bezeichnen – und wahrscheinlich steht dann eben nicht die Frühe Neuzeit als prägende Epoche im Zentrum, sondern die Vormoderne/Moderne-Differenz. Die Frage wäre weiter, ob es in der Gegenwart einen neuen Typus von Sicherheitsregimen gibt, der sich wieder deutlich von dem der Moderne unterscheidet. Man kann hier aus der soziologischen gegenwartsanalytischen Literatur meist ein historisches Narrativ des folgenden Dreischritts ablesen: 1. 2. 3.

Vormoderne: gottgegebene Gefahren, geschlossene Zukunft Erste/Hoch-Moderne: kalkulierbare Risiken, offene Zukunft Zweite/Spät-Moderne: Gesellschaft der unsicheren Unsicherheiten, erstreckte Gegenwart5

In der Soziologie erweist sich somit der Epochen-Dreischritt Vormoderne / Moderne / Spätmoderne in dieser oder jener Form als teilweise üblich, bringt aber auch erhebliche Probleme mit sich. Letztlich rückt die Frage nach der Leistung von Epochenbegriffen überhaupt in den Vordergrund; mit dem an sich selbst noch relativ jungen Epochenkonzept der Frühen Neuzeit (Early Modernity) beißt sich diese Einteilung ein wenig.6

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ADAM, 1998. Dies hielt schon KAUFMANN, 1973, S. 157-164 fest. Hieran wird deutlich, dass der beschreibungssprachliche Begriff Sicherheit in Sicherheitsregime sich auf eine viel weitere Gruppe von Phänomenen bezieht als die neuzeitlichen Politiken, Verfahren und Techniken, die Sicherheit schon begrifflich in sich tragen. Vgl. ZWIERLEIN, 2011, S. 22, S. 306-314 und passim. CONRAD, 2002, S. 145-69, insbes. S. 149; dazu ZWIERLEIN, 2009, S. 43-67.

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

Ich will an dieser Stelle daher nicht erneut die Ergebnisse der Recherchen zur Geschichte von Sicherheitsregimen und Versicherungen vorstellen und aus den verschiedenen Quellen – juristischen Versicherungstraktaten vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, kameralistischen Versicherungstraktaten des 17. und 18. Jahrhunderts, Aktenmaterial deutscher und englischer Versicherungsinstitutionen – die unterschiedlichen zeit- und/oder raumbezogenen Strukturen der Sicherheitsregime herleiten.7 Stattdessen soll hier eher das epochentheoretische Grundproblem kurz skizziert werden, das sich anlässlich solcher in Wissenschaft und Praxis inzwischen gängiger historischer Narrative wie Vormoderne/Moderne/Spätmoderne stellt, und das uns gerade derzeit im Kontext von Globalisierung und EntSchleunigung des Zeitbewusstseins in der Forschungspraxis interdisziplinärer Zusammenarbeit wie sogar im Alltag beschäftigt. Es geht um die implizit oder explizit immer wieder aufscheinende Inkommensurabilität alteuropäischer Epochenkonzepte mit der globalen Gleichzeitigkeit der Geschichten und Gegenwarten differenter und doch zugleich verschränkter Kulturen – und um die gleichzeitig starke Persistenz eben jener Epochenschemata, die sich inzwischen in unterschiedlichen Formen in Asien, den Amerikas und Afrika finden. Zu diesen inkommensurablen Epochenkonzepten gehört nicht zuletzt die Frühe Neuzeit. Man kann mit gutem Grund das gängige Unterteilen von Geschichte in Epochen in Frage stellen.8 Die Rhetorik der Schwelle und der Diskontinuität zwischen der einen und anderen Zeit erfüllt gewiss oft nur den selbstreferentiellen Zweck, genau die vorausgesetzte Epochenfolge als gedankliches Konstrukt einer Abschnittsfolge auf dem Zeitstrahl zu reproduzieren. Gerade aus der Perspektive der Historischen Anthropologie oder der area studies ist das überkommene alteuropäische Dreierschema Antike/Mittelalter/Neuzeit wenig aufschlussreich. Es reproduziert nur den humanistischen Wahrnehmungsmodus des imitatio/emulatio-Verhältnisses zur Antike, nämlich die Absonderung des medium aevum zwischen Antike und moderni.9 Die Frühe Neuzeit kann als die letzte Subepoche gesehen werden, die sich im Großen und Ganzen erfolgreich im Rahmen dieser alteuropäischen Stufenfolge in der akademischen Welt durchgesetzt hat. Man hat dann in einer ersten 7 8 9

Vgl. hierzu die in Anm. 1 genannten Beiträge. Ein inzwischen klassischer interdisziplinärer Sammelband zur Epochenkonzeption ist GUMBRECHT/LINK-HEER, 1985. Vgl. VÖLKEL, 2006, S. 206-226; STEINER 2008 zur Verfestigung dieser Strukturmuster durch die mediale Repräsentation in Tabellenformen. 391

Cornel Zwierlein

Reaktion auf die neuen Herausforderungen der Globalgeschichte gefragt, ob die Frühe Neuzeit etwa doch eine global auszumachende Epoche sein, in der arabischen, chinesischen, jüdischen, türkischen, indischen Welt.10 „Zur Überraschung der Herausgeber/innen“, so fassten diese in der Einleitung des entsprechenden Bandes zusammen, sei die „Frühe Neuzeit“ doch nicht nur ein Modell der europäisch-westlichen Geschichtsunterteilung, sondern werde für viele Kulturkreise diskutiert. „Die erwartete geografische und kulturelle Beschränktheit des Begriffs fand empirisch gerade keine Bestätigung [...]. Ist die Frühe Neuzeit wider Erwarten doch ein brauchbares Konzept für eine Welthistorie?“11 Mein eigener Leseeindruck der Beiträge des besagten Bandes würde freilich nicht zu diesem Ergebnis kommen. Eine sozial autark entstandene und abgrenzbare Subepoche der Frühen Neuzeit scheint sich in vielen Gesellschaften gerade nicht abzuzeichnen. Eine Epoche wird durch Anfang und Ende charakterisiert, und diese werden für den europäischen Bereich zum einen mit verschiedenen politisch-religiös-wirtschaftlichen Kriterien bestimmt, für die Abgrenzung zum Mittelalter hin also mit dem bekannten Ensemble von europäischer Expansion, Reformation, Renaissance, Kommunikationsrevolution, Wissenschaftsrevolution, Entstehung des europäischen Staatensystems und hieraus folgend meist spezifische, eher national benannte politische Umbrüche. Zum Ende hin werden die europäischen Charakteristika der Sattelzeit und der Doppelrevolution genannt. Für das Auffinden einer Frühen Neuzeit global fehlt es in vielen Gesellschaften und Weltregionen an einer klar identifizierbaren ersten Epochengrenze, so jedenfalls mein gegenläufiger Lektüreeindruck zur Sicht der Herausgeber des Bandes Eigene und fremde frühe Neuzeiten. All die genannten Kriterien, die man für die Übergangsperiode 1450 bis 1650 für Europa zusammentragen kann als teils gleichzeitige, teils sukzessive Trennelemente zur vorherigen Zeit, scheinen sich kaum in einem strukturell vergleichbaren Maß in der arabischen, chinesischen, jüdischen, türkischen oder indischen Welt, auch nicht in der jeweiligen Selbstbeschreibung wiederzufinden. Zwar gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts moderne historiographische Werke zu diesen Regionen und gegebenenfalls enklavierten Gesellschaften, die ex post Renaissancen u.ä. zu identifizieren versuchten. Dies ist aber ein Phänomen zweiter Ordnung dergestalt, dass im Globalisierungsprozess die verfestigten europäischen Geschichtsschemata der Folge Antike/Mittelalter/Neuzeit/Moderne exportiert wurden und ihre universelle Gültigkeit zum Teil auch 10 DÜRR u. a., 2003. 11 EBD., S. 7. 392

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

von jeweils einheimischen Autoren angenommen wurde. Manche Autoren verweisen auf einen Einschnitt 1500/1600, der zumindest für die Amerikas epochal sei. Für die asiatische Welt sei hier der Einfluss des Außenkontakts erst später, um 1680 wirklich fühlbar geworden. Sicher ist diese kolonialhistorische Berührung von Europa mit Außereuropa ein extrem markanter Schnitt, zumindest für Siedlerkolonien und beim Aufbau einer komplett neuen Herrschaftsinfrastruktur und der krankheitsbedingten drastischen Dezimierung der einheimischen Bevölkerung.12 Der fundamentale, extrinsisch induzierte Einschnitt ersetzt aber dann hinsichtlich der Epochenbildungskriterien die im europäischen Fall anders, nämlich intrinsisch und inhaltlich begründete Epochenabtrennung entlang von Schwellenphänomenen à la wissenschaftliche Revolution/Kommunikationsrevolution/Renaissance. Frühe Neuzeit als letztes Subderivat der Grundunterteilung alt/mittel/neu ist also unter globalhistorischen Bedingungen ein keinesfalls voraussetzungslos übertragbares Konzept, ähnlich wie Renaissance. Auch das englische early modern ist hiervon betroffen, partizipiert aber automatisch stärker am modernity/Modernisierungs-Diskurs und seinen Problemen. Die Dreiteilung ist sicherlich eine Grundanforderung jedes Epochenschemas, weil jede Epoche eine Abgrenzung nach vorne und hinten benötigt.13 Insofern ist die erst sehr spät aufgekommene Unterteilung in Vormoderne/Moderne und Moderne/Spät- beziehungsweise Postmoderne auch nur in diesem Dreischritt eine echte neue Epochengliederung, weil nur so ein Anfang und ein Ende zumindest einer Epoche (der Voll-Moderne) benannt werden kann. Nun ist allerdings die Frage, ob jenseits dieser formalen Passung (auch Vormoderne/Moderne/Spätmoderne ist ein Dreischritt) die Epochenunterteilung überzeugt, die in der Philosophie, Risiko-Soziologie und Sicherheitsgeschichte gängig geworden ist.14 Die Skepsis ist zunächst angebracht, weil zu12 CROSBY, 1972; DERS., 2004; DERS., 1994; NOBLE COOK, 1998; BECK/KIPPLE, 1997; DIAMOND, 1997 hatte die Thematik universalhistorisch ausgeweitet. RAUDZENS 2001; vgl. ZWIERLEIN, 2010a, S. 25-49, S. 42f. 13 So schon LUHMANN, 1985. 14 Vgl. nur LYOTARD, 1979, S. 11, der auf die damals schon existierende Forschung zur Begriffsgeschichte von Postmoderne/Postmodernismus verweist. Zum Postmoderne-Begriff funktional äquivalent, wenn auch nicht identisch, ist der der Spätmoderne, meist von Anthony Giddens verwandt, oder der der Zweiten Moderne von Ulrich Beck; ein anderer, weniger auf geistige und soziale Differenzphänomene und -prozesse abhebender Epochenbegriff ist etwa der des Anthropozäns von Paul J. Crutzen, der auf die seit den 1950er Jahren exponentiell steigenden Da393

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mindest die Mittelalter/Moderne- beziehungsweise Mittelalter/Neuzeit-Unterscheidung in abstrahierter Form seit Ende des 19. Jahrhunderts bekanntlich in verschiedenen Disziplinen (frühe Ethnologie, frühe Soziologie) in eine Kulturoder Gesellschaftstypen-Lehre transformiert wurde, die dann sogar räumlichkartographisch abgetragen wurde. So unterschied man in der beginnenden Ethnologie des 19. Jahrhunderts zwischen Naturvölkern und Kulturvölkern und setzte meist noch eine Zwischenstufe der halbzivilisierten Völker ein – Abel Rémusat in den 1830ern und Gustav d‘Eichthal 1847 machten den Besitz der freien Wissenschaft zum Kriterium des Kulturvolkstatus. Der Geograph Oskar Peschel erhob das Abstraktionsvermögen zum definiens der Kulturvölker, Friedrich Ratzel die „Stetigkeit der Verhältnisse“. Alfred Vierkandt sah den Unterschied – dabei Spencer‘sche und Tönnies‘sche Kriterien verschmelzend – im Unterschied der Fähigkeit zu willkürlichen und unwillkürlichen Willensakten bei den Völkern.15 Der Begründer der deutschen Völkerkunde, Adolf Bastian, machte etwa den Schriftgebrauch zum Distinktionsmerkmal.16 Im Ergebnis führte dies meist dazu, dass das Europa seit der Renaissance und die USA sowie einige wenige weiße Siedlerkolonien als Vollkulturen angesehen wurden, während Indien, China, die antiken Kulturen und auch das europäische Mittelalter als Halbkulturen und der große Rest als nomadische oder sesshafte Naturvölker klassifiziert wurden.17 „Die Projektion zeitlicher Differenzen – gedacht als Entwicklungsunterschiede – auf den geographischen Raum wurde zum methodischen Grundinstrumentarium der modernen anthropologischen Theorie.“18 Dabei waren diese Kulturunterschiede relativ statisch, nur in manchen Fällen durch Kolonisierung und Mischkulturbildung (Lateinamerika) veränderbar gedacht, konnten so dann aber als Kulturtypeneinteilung auf der Weltkarte abgebildet werden.19 Seine Parallelität zur historischen Epocheneinteilung bestand in dem Muster, dass man in irgendeiner Form (evolutionistisch oder nicht) eine gerichtete Entwicklung zwischen den Kulturstufen ansetzte. Ähnlich unterschied die Soziologie – letztlich in der Nachfolge der bei Adam Smith klassisch ausgeformten, aber schon seit dem Beginn der

15 16 17 18 19

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ten von globalem Massenkonsum und Ressourcenübernutzung als Epochendifferenz-Indikator verweist: CRUTZEN, 2003, S. 251–257. VIERKANDT, 1896. Dort das Referat der vorstehenden Differenzen. FIEDERMUTZ-LAUN, 1970; KÖPPING, 2005. So bei VIERKANDT, 1896. FRANK, 2008, S. 109. So etwa bei VIERKANDT, 1897, S. 256-267, S. 315-326 (mit Kulturtypenkarten für das 16. Jh. und für die Gegenwart um 1900).

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

Frühen Neuzeit bekannten Stufenlehre20 – anhand des Theorems von der Entstehung der arbeitsteiligen Gesellschaft zwischen Naturgesellschaften, Feudalgesellschaften und arbeitsteilig organisierten Gesellschaften (Durkheim) oder später, in der abstrakteren Form etwa bei Parsons und dann bei Luhmann, zwischen segmentär, stratifiziert und funktional differenzierten Gesellschaften. Gerade vor dem Hintergrund dieser klassischen Mehrstufenteilung, deren logische Minimalform wieder die Dreistufigkeit von Gesellschaften war, mag eine allzu versteifte Ontologisierung einer Spät-/Post-/Zweiten Moderne dann allerdings wenig plausibel erscheinen, und das nicht nur für alteuropäische Denker wie Luhmann,21 sondern auch etwa im derzeit in postkolonialen Zusammenhängen stark favorisierten Konzept der multiple modernities von Shmuel Eisenstadt.22 Eisenstadt hat das Konzept mehrfach formuliert. Die Frage nach der Multiplizität von Moderne klingt bei ihm schon seit den 1980er Jahren immer wieder an, großen Nachhall hat sie aber vor allem mit den entsprechend betitelten Aufsätzen gefunden, deren dichtester 2000 in der Zeitschrift Daedalus erschienen war. Dabei muss man das Konzept der multiple modernities bei Eisenstadt im Gesamtblick auf sein Universal-Geschichtsbild sehen, das im Wesentlichen von zwei global universellen Epochenschwellen ausgeht, nämlich dem Übergang verschiedener Gesellschaften auf der Erde um 1000 v.Chr. (der Islam nachrückend) zu sogenannten Achsen-Gesellschaften beziehungsweise in die Achsen-Zeit. Der zweite Übergang ist derjenige in die Moderne im 20. Jahrhundert. Die intellektuelle Operation, um das gewünschte Ziel einer Multiplizität von Moderne zu erreichen, besteht letztlich darin, die frühe Epochenschwelle der Achsenzeit mit ihrer Ausbildung der Achsen-Zivilisationen (jüdische, christliche, buddhistische, hinduistische, islamische Weltreligionen) in ihrer Bedeutung so stark zu machen, dass der späteren Epochenschwelle (Moderne/Globalisierung) nicht die Kraft zugesprochen wird, die Eigenständigkeit des zuvor ausgebildeten Sockels (der Achsenzeit-Weltreligionen) auszulöschen. Hierin liegt die Attraktivität dieser Konzeption und ihre argumentative Funkti20 POCOCK, 2006, insbes. S. 94-104; zur Methode MEYER, 2008, insbes. S. 93-199. 21 „Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es rechtfertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten.“ LUHMANN, 1997, S. 1143. 22 Vgl. dazu die beiden Bände von EISENSTADT, 2003. 395

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on, denn so lässt sich die anscheinend unverzichtbare soziologische Fundamentalkategorie von Moderne/Modernisierung in einer Light-Version beibehalten, die mit postkolonialen Bestrebungen der Relativierung und Provinzialisierung Europas vereinbar ist.23 Dieses Geschichtsbild zweier großer Änderungen, einer Achsenzeit und dem Übergang zu einer wie auch immer zu erfassenden globalen Moderne, übernahm Eisenstadt von Karl Jaspers.24 Es ist erstaunlich zu sehen, wie die gesammelten Aufsätze Eisenstadts von 2003 ebenso in zwei Teile zerfallen wie das Jaspers‘sche Buch von 1949, jeweils zum einen um die AchsenzeitZivilisationen und dann um die Moderne kreisend. Jaspers hatte 1949 nach einem universalgeschichtlich gültigen Phänomen gesucht, das global als Achsenzeit für alle Hochkulturen identifizierbar wäre, so wie die christliche Geschichte das Auftreten Jesu als „Achse der Weltgeschichte“ konstruierte. Die Achse der nun universellen Weltgeschichte lag hierbei für Jaspers rund um 500 v. Chr. „in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß“.25 „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere; in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten.“26 Es gibt also Achsenvölker: Chinesen, Inder, Iranier, Juden, Griechen.27 Aus einem religionsvergleichenden Blickwinkel wird die stark aufgeladene Auffal23 24 25 26

CHAKRABARTY, 2000; dazu DIETZE, 2008, S. 69-84. JASPERS, 1949. EBD., S. 19. EBD., S. 20. Zur Ursache der Achsenzeit-Änderungen verweist Jaspers auf Alfred Webers These, dass hier die eurasiatischen Hochkulturen mit den indoeuropäischen Reitervölkern in Kontakt und Konflikt getreten seien, hält die These aber für nicht belegt und lässt die Warum-Frage dann unbeantwortet. 27 EBD., S. 76. 396

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

tung einer Weltlichkeit gegenüber einer überhöhten Transzendenz, getragen von kulturellen Eliten oder Intellektuellen als Trägern, zum zentralen universellen Kennzeichen dieses Epochenschritts für das Alte Israel (Propheten), das antike Griechenland (Dichter, Philosophen), das frühe Christentum (Apostel/Priester), den zoroastrischen Iran, das frühe kaiserliche China (seine Literaten) sowie die Hindu- und Buddhismus-Zivilisationen (Brahmanen, Sangha), verspätet auch für den Islam mit seinen Ulema. Die Institutionalisierung der Transzendenz/Weltlichkeit-Differenz wirkt als Stimulanz zur Neuordnung der Gesellschaften, zur Ausbildung spezifischer Formen von gesellschaftlicher Selbstreflexion, zur Ausbildung von sozialen Hierarchien, zu neuen Formen organischer Integration usw. Das alles übernimmt Eisenstadt aktualisierend und ein wenig mit global-soziologischer Literatur abgleichend im Grundgerüst von Jaspers.28 Es ist erstaunlich, dass in der aktuellen Diskussion über multiple Modernen den Beteiligten offenbar dieses Jaspers-Erbe kaum noch bewusst ist:29 Die gegenwärtige Diskussion ruht damit in einem bemerkenswerten Reaktualisierungsvorgang wieder ziemlich unmittelbar auf der älteren, zuvor angedeuteten deutschen völkerpsychologischen Kulturkreis-Lehre auf, deren Erbe Jaspers unzweifelhaft war, wie schon das teleologische Grundmuster seines Buches und dessen Titel Vom Ursprung und Ziel der Geschichte auf einen Blick zeigen. Ebenso verdeutlicht dies die von ihm zur Veranschaulichung gegebene Graphik mit den Kulturstufen:

28 EISENSTADT, 2003, Bd. 1, S. 197-217. 29 DERS., 2000; DERS., 2007. Dazu SACHSENMAIER u.a., 2002. 397

Cornel Zwierlein

Graphik nachgezeichnet nach Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. ŝĞĞŝŶĞtĞůƚĚĞƌDĞŶƐĐŚŚĞŝƚĚĞƐƌĚďĂůůƐ ŵĞƌŝŬĂƵƌŽƉĂZƵƘůĂŶĚ

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Aus Sicht Eisenstadts stellt sich der Übergang zur Moderne dann als das Problem dar, dass und ob Entwicklungen, die zufällig in nur einer der AchsenZivilisationen30 stattgefunden haben, nämlich der christlich-europäischen, nun hegemonial auf die anderen übergreifen und universalisierend aufheben. Er untersucht daher Moderne als einen eigenen Zivilisationstyp, der aus einem Achsenzeit-Zivilisationstyp hervorgegangen ist.31 Jaspers hatte selbst in seiner ei30 Dass sich, vermittelt über Jaspers, in Eisenstadts Konzept von Zivilisation (wie bei Huntington etc.) eine spezifische Denkform von ‚Zivilisation‘ niederschlug, die insbesondere die deutsche konservative Tradition um 1900 (Spengler, Toynbee) hervorgebracht hat, ist das Argument von DUARA, 2002, S. 79-99. 31 „The cultural program of modernity, rooted as it was in the transformations of the late medieval European civilizations and polities, and as it crystallized in tandem in Europe especially after the Revolutions in early modern Western, military, economic, technological and ideological expansion throughout the world – first to Eastern Christianity especially to Russia, to Islam and the great Asian Axial Civilizations – the Confucian, the Hinduist and Buddhist ones; and the only major non-Axial civilization from within which there crystallized the first successful nonWestern modernity – namely Japan, and to Africa. Such expansion can be seen as the first wave of modern globalization, which has by the end of this century 398

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

genen Gegenwart eine katastrophale Krise ausgemacht, die wir heute als negative Globalisierungserfahrung beschreiben würden. Den Umbruch des 20. Jahrhunderts empfand er als geistig entleerte, aber von der Bedeutung her ähnlich tief einschneidende Verwandlung der Welt wie die von ihm konstruierte Achsenzeit.32 Für Eisenstadt ist wichtig – und das sei das entscheidend Neue seines Ansatzes – dass „multiple modernities breaks with the classic approaches in Western sociology that, despite their divergent approaches, all tended to equate modernization with the homogenization of world cultures.“33 Aber auch

reached unprecedented dimensions. This world-wide expansion raised, almost from the beginning of modernity, certainly from the second half of the twentieth century, the question of whether the world, the modern world which crystallized under the impact of such expansion of the process of globalization, will be a uniform homogeneous world in which one transformed Axial civilization would become hegemonic.“ EISENSTADT, 2003, S. 502f. 32 „Daß die gesamte Menschheit, daß alle alten Kulturen gemeinsam in diesen einen Strom der Zerstörung oder Erneuerung gezogen werden, ist erst in den letzten Jahrzehnten in seiner Bedeutung bewußt geworden. Wir Älteren lebten als Kinder noch völlig im europäischen Bewußtsein. Indien und China waren fremde, unberührte, eigene Welten, die man nicht in der Geschichte kennenlernte. [...] Erst heute gibt es die reale Einheit der Menschheit, die darin liegt, daß nirgends etwas Wesentliches geschehen kann, das nicht alle angeht. In dieser Lage ist die technische Umwälzung, durch Wissenschaft und Erfindungen der Europäer bewirkt, nur der materielle Grund und Anlaß der geistigen Katastrophe. Von dem Gelingen der begonnenen Umschmelzung aber wird, was 1918 de Groot nur von China sagte: nach ihr würde China kein China, die Chinesen keine Chinesen mehr sein, vielleicht für alle Menschen gelten. Auch Europa wird nicht mehr Europa, die Europäer werden nicht mehr Europäer sein in dem Sinne, wie sie sich zur Zeit de Groots fühlten. Aber es werden doch neue Chinesen, neue Europäer da sein, deren Bild wir noch nicht sehen können. [...] Aus solcher Erfahrung unserer geschichtlichen Situation als der Wende der Zeiten geht der Blick immer wieder zurück. Auf die Frage: gab es schon solche radikale Verwandlungen? war unsere Antwort: [...] innerhalb der Geschichte ist die größte Wende jene Achsenzeit, von der die Rede war. Wenn wir jetzt in eine neue radikale Verwandlung des Menschseins eingetreten sind, so ist diese nicht eine Wiederholung der Achsenzeit, sondern ein in der Wurzel anderes Geschehen.“ JASPERS, 1949, S. 177f. 33 EISENSTADT, 2002, S. 2; DERS., 2003, S. 27: „Contrary to these views [Fukuyamas Ende der Geschichte, Huntingtons clash of civilizations], the idea of multiple modernities presumes that the best way to understand the contemprary world – indeed to explain the history of modernity – is to see it as a story of continual constitution and reconstitution of a multiplicity of cultural programs and cultural patterns of modernity.“ 399

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multiple-modernities-Vertreter können sehr deutliche Worte für die zeitliche Priorität und Einmaligkeit der europäischen, frühneuzeitlich geborenen Moderne finden: „Despite the claims made by East Asians that what they pursued was modernization, not Westernization, East Asia’s modernization is inescapably Westernization to some extent. Modernity was first achieved in Europe. […] Until now, strictly speaking, there has been only this [European] modernity, which has found its full expression as a ‚mode of vital experience‘, to use Berman’s words. The globalization of modernity today can be largely understood as the 34 spread, expansion, or diffusion of Western modernity.“

Damit ist für Eisenstadts Konzept aber der Dreischritt Vor-Achsenzeit/Achsenzeit-Zivilisationen/Moderne-Zivilisationen zentral, während ein Vormoderne/Moderne/Spätmoderne-Dreischritt weniger Bedeutsamkeit hat. Die Frühe Neuzeit als Epoche, die ihre Verankerung an sich noch im ältesten Dreischritt Antike/Mittelalter/Neuzeit hat, lässt sich vor diesem Hintergrund tatsächlich nur als eine auf Europa bezogene Epoche deuten. Die Vorstellung, dass diese Epoche weltweit auch in anderen Kulturen zu finden wäre, bedarf einer besonderen Argumentation, die derzeit noch nicht recht geleistet scheint und meiner Vermutung nach auch kaum zu leisten ist. Der letzte, der etwas Vergleichbares unternommen hat, ist Jürgen Osterhammel mit seiner These von einer globalen Sattelzeit: 35 Er übernimmt den Sattelzeit-Begriff von Koselleck und will ihn als eine globale Epochenstufe des 19. Jahrhunderts definieren in der Dreiteilung dieses langen Jahrhunderts in globale Sattelzeit/Viktorianismus/Fin de Siècle. Er definiert dabei die globale Sattelzeit mit Hilfe von sieben Punkten. 1770-1830 sei gleichzeitig global bedeutsam gewesen: • die Krise der Kolonialreiche (Spanien, England, Frankreich) und Großreiche (Osmanisches Reich, China, krimtatarische Föderation, Nachfolgestaaten Mogulreich) • eine globale Stärkung der Weißen (Unabhängigkeit der Siedlergesellschaften) • Aufstieg des Nationalismus • politisch sei – mit Ausnahme der USA – noch nirgends der Durchbruch zur Demokratie gelungen 34 KING, 2002, S. 140. 35 OSTERHAMMEL, 2008, S. 104-109. 400

Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit



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sozial sei weniger der Übergang von Ständen zu Klassen schon signifikant bemerkbar gewesen, als die Abschaffung der Sklaverei; eine bürgerliche Gesellschaft entsteht nirgends vor 1830 außer in einer Handvoll europäischer Staaten erst um 1820/30 sind global die Industrialisierungsfolgen und ein fossiles Zeitalter spürbar kulturell ist noch keine globale Synchronizität feststellbar.

Das sind durchaus einleuchtend zusammengetragene ereignis-, wirtschaftsund kulturhistorische Phänomene, die in etwa für 1770-1830 zutreffen. Dies hat aber wenig mit dem Koselleck‘schen Epochenbegriff von Sattelzeit zu tun, wo es bekanntlich um den fundamentalen begriffs- und sozialhistorischen Vorgang geht, dass die gesamte politisch-soziale Sprache sich so fundamental wandelte, dass die Welt, die durch die Begriffe begriffen wurde, eine andere war. Im Sinne der Ausführungen Stefan Jordans in diesem Band ist die Sattelzeit eben Paradigma-Begriff und ein Synonym für Aufklärung bei Koselleck, es ist ein hoch voraussetzungsvoller Begriff, der die These eines fundamentalen Wandels als Konnotat mitführt. Es geht nicht nur um ein SchubladenEtikett für einige in einem bestimmten Zeitabschnitt verortete Ereignisse und Phänomene. Es war eine These zur Auswirkung von Aufklärungs- und Revolutionszeit auf Gegenwarts- und Geschichtsbild, eine These zum Übergang in die Moderne aus einer begriffs- und konzeptgeschichtlichen Perspektive. Gerade eine solche Ebene jenseits ereignisgeschichtlicher Vorgänge, wie fundamental sie auch sein mögen, muss Osterhammel aber für seine Sattelzeit-Definition ausschließen: Kulturell sei eben noch keine globale Synchronizität feststellbar; Sprachkontakt- und Übersetzungsgeschichten zeigen, dass erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, korrespondierend mit der wirtschaftlichen VollGlobalisierung, europäisch-westliche Begriffe in der einen oder anderen Weise etwa in den asiatischen Ländern übernommen und amalgamiert wurden.36 So bleibt Osterhammels globale Sattelzeit also lediglich eine pragmatische Subepocheneinteilung. Die Frage, ob es sie gab oder nicht, ist überhaupt keine sinnvolle Fragestellung. Osterhammel entleert eigentlich den Sattelzeit-Begriff seiner auf die Moderne-Entstehung bezogenen Komponenten und verschiebt diese größtenteils in die späteren Zeitabschnitte. Obwohl der Titel des Buches 36 Vgl. das Projekt zu einer globalen Begriffsgeschichte http://www.helsinki.fi/hum/ nordic/strath/projects/Project%20outline%20for%20homepage%20Apr%2008.pdf, 6.3.2012. 401

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Verwandlung der Welt ganz offensichtlich das 19. Jahrhundert als Inkubationszeit der Umgestaltung des Globus schlechthin zum Thema hat, weicht er der Frage nach einer Vormoderne/Moderne-Übergangskonzeption eher aus. Wenn die Sattelzeit eine spezifische Fassung des hinteren Endes der Frühen Neuzeit und damit des ältesten Dreierschritts alt/mittel/neu war, so ist sie offenbar nicht so einfach global auffindbar. Wollte man Sattelzeit global untersuchen, käme man wohl fast dahin zurück, dass im doppelten ModerneBegriff, den das multiple-modernities-Konzept mit sich führt, der feste Maßstabs-Moderne-Begriff der europäische ist und bleibt, und dass gerade die kulturellen Sattelzeit-Elemente ihn inhaltlich füllen. Dann ist die Untersuchung einer globalen Sattelzeit aber identisch mit dem Nachzeichnen der Diffusion und Akkomodation europäischer Moderne-Elemente, was sich über mehrere Jahrhunderte hinzieht; es ist dies gerade keine Koinzidenz-Sattelzeit. Der zweite Moderne-Begriff der multiple modernities meint dann das Ergebnis der Diffusion/Akkomodation, einen Zivilisationshybrid. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Frühe Neuzeit, wie stets, methodisch derzeit besonders herausgefordert ist, aber auch die Chance hat, hier besondere Impulse zu geben: Nicht nur die deutsche Fassung dieses Subepochenbegriffs, sondern auch die anglophone (early modern) bringt sie in einen besonderen Legitimationsdruck, denn aus globalhistorischer und postkolonialer Perspektive könnte man zunächst vermuten, dass dem Epochenbegriff eine eurozentrische Teleologie-Ausrichtung geradezu inhärent eingeschrieben ist. Aus der eingangs kurz angerissenen Perspektive einer Sicherheitsgeschichte ist auch zunächst nicht von der Hand zu weisen, dass bestimmte Kulturtechniken und ihnen inhärente Raum/Zeit-Relationierungs-Schemata gerade in der europäischen Frühen Neuzeit entstanden und andere Regionen der Welt in der wirtschaftlichen Vollglobalisierung jedenfalls gezwungen waren, sich irgendwie zu diesen Kulturmustern in ein Verhältnis zu setzen. Und dies ist nur eines von vielen Beispielen an Errungenschaften, die die europäische Frühe Neuzeit früher wie selbstverständlich für sich verbuchte, als sie sich als Inkubationszeit und Laboratorium der Moderne verstand. Der Vergleich mit den anderen derzeitig diskutierten Epochenschemata wie dem eingangs erwähnten Dreischritt Vormoderne/Moderne/Spätmoderne und der multiple-modernities-Diskussion zeigt jedenfalls, dass auch diese stets mit Hypotheken arbeiten, die sie keinesfalls aus der Umarmung (oder je nach Wertung: dem Würgegriff) einer gewissen Euro-Bezogenheit entlassen, die Gewichtungen und die Typenmuster sind lediglich unterschiedlich. Ohne solche Schemata scheinen eben auch die area

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Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit

und postcolonial studies kaum auszukommen, über die Moderne-Diskussion scheinen implizit doch immer wieder Dreischritt-Modelle Eingang zu finden. Die Entwicklung hat teilweise zwar weit weg geführt von Antike/Mittelalter/Neuzeit – und doch erscheint die Diskussion noch als ein offener Prozess, an dem die Frühe Neuzeit als Epochenfach sehr wohl mitzureden hat und auch mitgestalten kann.

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A UTORINNEN

UND

A UTOREN

Bauer, Volker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Breul, Wolfgang, ist Universitätsprofessor für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Frietsch, Ute, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gutenberg-Forschungskolleg/Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Fuchs, Ralf-Peter, ist Privatdozent am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Ludwigs-Maximilian-Universität München. Hansen, Sebastian, ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hanß, Stefan, ist Doktorand an der Dahlem Research School der Freien Universität Berlin. Jordan, Stefan, ist Mitarbeiter bei der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München. Jung, Theo, ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Kusber, Jan, ist Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 407

Frühe Neue Zeiten

Landwehr, Achim, ist Universitätsprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. von Mallinckrodt, Rebekka, ist Universitätsprofessorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bremen. Meumann, Markus, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle/Saale. Resch, Claudia, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Winnerling, Tobias, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zwierlein, Cornel, ist Juniorprofessor für Umweltgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane September 2012, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2137-2

Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften Juni 2012, 282 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2150-1

Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1

Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9

Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.) Die Modernitäten des Nikolaus von Kues Debatten und Rezeptionen September 2012, ca. 600 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2167-9

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.) Textprofile stilistisch Beiträge zur literarischen Evolution 2011, 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1902-7

Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (unter Mitarbeit von Simone Leidinger und Sarah Wendel) 2010, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1406-0

Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen 2011, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5

Volker R. Remmert, Ute Schneider Eine Disziplin und ihre Verleger Disziplinenkultur und Publikations wesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949 2010, 344 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1517-3

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