Freundlichkeit im Schulalltag: Überlegungen zur Interaktionsgestaltung in der Schule [1. Aufl.] 9783658305772, 9783658305789

Wer im Lehrberuf ist, steht in einem lebhaften Austausch mit den heranwachsenden Generationen. Wenn auch relativ zu den

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Freundlichkeit im Schulalltag: Überlegungen zur Interaktionsgestaltung in der Schule [1. Aufl.]
 9783658305772, 9783658305789

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einleitung (Gisela Steins)....Pages 1-14
Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil: Grundlegende Dimensionen (Gisela Steins)....Pages 15-37
Höflichkeit (Gisela Steins)....Pages 39-45
Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich (Gisela Steins)....Pages 47-60
Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind (Gisela Steins)....Pages 61-74
Erwartungen: So zutrauend wie möglich (Gisela Steins)....Pages 75-90
Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich (Gisela Steins)....Pages 91-96
Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich (Gisela Steins)....Pages 97-102
Freundlichkeit kritisch betrachtet (Gisela Steins)....Pages 103-119
Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung kritisch betrachtet (Gisela Steins)....Pages 121-128
Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand (Gisela Steins)....Pages 129-140

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Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln

Gisela Steins

Freundlichkeit im Schulalltag Überlegungen zur Interaktionsgestaltung in der Schule

Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln Reihe herausgegeben von Gisela Steins, Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland

Die Akteure im Bildungssystem verfügen zusammen genommen über ein immenses Wissen. Das Wissen aus den unterschiedlichen Perspektiven wird aber nicht immer zusammengebracht: Praktiker/innen wenden ihr Wissen nicht immer lehrbuchmäßig an und Wissenschaftler/innen schaffen Erkenntnisse, die nicht immer praktisch umgesetzt werden können. Das erste Ziel dieser Schriftenreihe besteht darin, die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Psychologie und Praxis zu mannigfaltigen und relevanten Aspekten des Bildungs- und Erziehungskontextes zusammenzutragen. Allerdings reicht Wissen alleine nicht aus um dann auch in Handlung umgesetzt werden zu können. Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln ist jedem bekannt, sowohl theoretisch als auch praktisch arbeitenden Menschen. Hier verfolgt die Schriftenreihe ein zweites Ziel: Das in einem Band zu einem Thema zusammengetragene Wissen aus Forschung und Praxis soll aus praxisorientierter Perspektive durch Praktiker/innen selber handlungsleitend reflektiert werden, so dass die Leser/innen die Erkenntnisse konkret umsetzen können. Beide Ziele zusammengenommen regen an, das Forschungsfeld und Berufsfeld im Erziehungs- und Bildungskontext aus neuen Perspektiven zu betrachten und mit neuen Ideen zu gestalten. Herausgegeben von Prof. Dr. Gisela Steins, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Stephan Dutke, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Deutschland Prof. emr. Dr. Maria Limbourg, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Prof. Dr. Marcus Roth, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Prof. Dr. Birgit Spinath, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/10707

Gisela Steins

Freundlichkeit im Schulalltag Überlegungen zur Interaktionsgestaltung in der Schule

Gisela Steins Institut für Psychologie Universität Duisburg-Essen Essen, Deutschland

ISSN 2625-1388 ISSN 2625-1396  (electronic) Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln ISBN 978-3-658-30577-2 ISBN 978-3-658-30578-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung deblik Berlin Planung/Lektoret: Eva Brechtel-Wahl Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Ihr wißt es schon, wir wissen noch nicht, mit Menschen freundlich zu leben ist wichtiger als nationale Pflicht und als religiöses Streben. Norbert Elias (1999, 2004; S. 128)1

1Elias

N. (2004) Gedichte und Sprüche. Suhrkamp, Stuttgart.

Vorwort

Dieser Band erscheint als der 9te Band in der Schriftenreihe Psychologie in Bildung und Erziehung. Mitunter wird der Psychologie vorgeworfen, sie würde sich mehr darum kümmern, dass Menschen sich an unhaltbare Umstände anpassen können, statt ihnen zu helfen, diese Umstände zu ändern. Dieser Vorwurf trifft nicht zu. Von Psychologen und Psychologinnen sind immense Anstrengungen ausgegangen und gehen aus, schwierige und belastende Umstände zu erkennen, zu beschreiben und zu verbessern und zwar in Hinblick auf viele relevante Themen (bspw. Mayo et al. 1995; Maslach et al. 2001; Miller et al. 2019). Dennoch ist der Blick auf die individuelle Perspektive, nämlich zu erkennen, was man selbst ändern kann, gleichermaßen entscheidend, besonders dann, wenn durch eigenes Verhalten auch andere Personen betroffen sind. Im Hinblick auf das Thema des vorliegenden Bandes – Freundlichkeit im Schulalltag – geht es darum, Lehrkräften Anregungen dafür zu geben, wie sie ihre Beziehungen zu Schüler/-innen so gestalten können, dass dadurch der Schulalltag nicht nur für sie selber weniger belastend und erfreulicher wird, sondern auch ein entwicklungsförderliches Klima für die Schüler/-innen entsteht. Lehrkräfte können nicht alle Umstände ihres Berufs in absehbarer Zeit ändern, sie können aber das Änderbare sondieren. Bestimmte Aspekte des eigenen Umgangs mit herausfordernden Situationen zu ändern, ist häufig möglich. Damit ist oft nicht nur der Lehrkraft selbst, sondern auch den Schüler/-innen gedient. Die größte Herausforderung für Lehrkräfte ist der Umgang mit Schülern/-innen, die sich ihnen gegenüber respektlos verhalten, unaufmerk­ sam und demotiviert sind und Unterrichtsabläufe stören: Die Interaktionen mit Schülern und Schülerinnen stellen die Quelle von Belastungen dar, welche im Schulalltag relevant ist. Diese Quelle von Belastungen ist oft verwoben mit den Interaktionen mit Eltern, aber auch den Kollegen/-innen. Wie man Interaktionen

VII

VIII

Vorwort

mit ­ Schüler/-innen so gestalten kann, dass das eigene Verhalten belastenden Gewohnheiten vorbeugt und für die Schüler/-innen entwicklungsförderlich ist, ist also das zentrale Thema dieses Bandes. Dabei spielt Freundlichkeit die zentrale Rolle; ihr möchte ich mit diesem Band auch eine Legitimation als wichtige Haltung im Schulalltag geben. Freundlichkeit kann erlernt werden und ist eine nützliche berufliche Begleiterin. In der Sozialpsychologie, die die Disziplin ist, in der ich forsche und lehre, sind Interaktionen zwischen Menschen das Thema schlechthin. Wir gehen davon aus, dass der Kontext, in dem Interaktionen stattfinden und die Qualität der Interaktionen zusammenhängen. Einer unserer wissenschaftlichen Großväter, Solomon Asch, ging davon aus, dass, wenn Menschen eine Chance bekommen, sie sich vernünftig und angemessen verhalten „… that people, given a chance, will behave reasonably and decently.“ (Ceraso et al. 1990, S. 14 f.). Unabhängig vom System, von Strukturen und Kulturen, können Menschen in freien Gesellschaften ihre Beziehungen bewusst gestalten und im Sinne dieses Bandes, können Lehrer und Lehrerinnen ihre Schüler und Schülerinnen bereichern und dadurch selber ein befriedigenderes Berufsleben leben. Das ist auch das wichtigste Ziel des Bandes, dass Menschen im Lehrberuf nach der Lektüre eine größere Wahl haben in ihren eigenen Verhaltensentscheidungen gegenüber Schülern und Schülerinnen. Hierzu hat die Psychologie vielfältiges Wissen beizutragen. Duisburg – Essen Sommer 2020

Prof. Dr. Gisela Steins

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Einleitende Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Was wir schnell übersehen: Der Mensch als soziale Spezies . . . . 3 1.3 Zur Bedeutung des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4 Grundlagen des Bandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.5 Was es mit einem macht, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.6 Das Telos der Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.7 Zum Aufbau des Bandes und zur Schreibweise. . . . . . . . . . . . . . . 12 1.8 Ist der Band ein moralischer Appell?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2

Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil: Grundlegende Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Zur Relativität von Erziehungsvorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Begrifflichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.3 Welche Schüler/-innen entwickeln sich positiver, wenn ­Lehrer/-innen dieses Interaktionsmuster gestalten?. . . . . . . . . . . . 21 2.4 Warum und wie wirkt das Interaktionsmuster?. . . . . . . . . . . . . . . 22 2.5 Entwicklungsförderliches Interaktionsmuster und Schulleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.6 Wie es den Lehrer/-innen mit diesem Interaktionsmuster geht. . . 24 2.7 Zur Sicherung der Dimensionen eines entwicklungsförderlichen Interaktionsstils für Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . 26 2.8 Heuristiken für die verschiedenen Dimensionen der Interaktionsgestaltung zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 IX

X

Inhaltsverzeichnis

2.9 Zur Relevanz des elterlichen Erziehungsverhaltens. . . . . . . . . . . . 29 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3 Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1 Definitionen von und Perspektiven auf Höflichkeit. . . . . . . . . . . . 40 3.2 Höflichkeit in der Interaktion zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4

Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich. . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.1 Entstehung von Freundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.2 Bezeichnungen für die Wärmedimension in der Interaktion zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.3 Wärme in der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.4 Was ist Unterstützung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.5 Für wen ist Freundlichkeit und Wärme gut?. . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.5.1 Freundlichkeit beeinflusst die Quelle der Freundlichkeit selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.5.2 Freundlichkeit beeinflusst die Empfänger. . . . . . . . . . . . 56 4.6 Eigenschaften von Wärme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

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Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind. . . . . . 61 5.1 Umgang mit Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.2 Kultursensibilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.3 Metalinguistische Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.4 Angemessene Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.5 Freundliche Präsenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.5.1 Gesten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.5.2 Kleidungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.5.3 Akustische Verständlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.5.4 Kommunikation außerhalb des Klassenzimmers. . . . . . . 71 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

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Erwartungen: So zutrauend wie möglich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6.1 Bezeichnungen für die Dimension Anforderungen in der Interaktion zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 6.2 Wie entstehen Fähigkeitskonzepte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 6.2.1 Realziel und Idealziel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

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6.2.2 Erfolg und Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6.2.3 Hohe Erwartungen angesichts von Misserfolg . . . . . . . . 78 6.3 Angemessene Erwartungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6.3.1 Argumente für ihre Wichtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6.3.2 Angemessene Erwartungen: Zweifel!. . . . . . . . . . . . . . . 80 6.4 Zum Ausdruck von Erwartungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6.4.1 Wie werden Erwartungen transportiert? . . . . . . . . . . . . . 81 6.4.2 Erwartungen an die ganze Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6.4.3 Erwartungen an einzelne Schüler/-innen. . . . . . . . . . . . . 83 6.5 Was unterscheidet Lehrkräfte mit hohen Erwartungen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.6 Elterliche Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 7

Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich . . . . . . . . . . . . . . . 91 7.1 Bezeichnungen für Kontrolle in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 7.2 Kontrolle als Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 7.3 Somatic Devices als negative Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

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Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich . . . . . . . . . 97 8.1 Bezeichnungen für Negativität in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 8.2 Negative Verzerrungen sind wahrscheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 8.3 Negativität als Statussymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

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Freundlichkeit kritisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 9.1 Reziprozität. Wie du mir, so ich dir?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 9.1.1 Reziprozität kann nicht erwartet werden: Die erwachsene Position. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 9.1.2 Normverletzungen und ihre Auswirkungen. . . . . . . . . . . 107 9.2 Macht Freundlichkeit verwundbar?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 9.3 Macht Freundlichkeit krank?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9.4 Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert Expertentum: Autorität unter dem Aspekt der Expertise. . . . . . . . 111 9.5 Ist Freundlichkeit Emotionsarbeit und somit verhandelbar?. . . . . 116 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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Inhaltsverzeichnis

10 Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung kritisch betrachtet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 10.1 Schulwärme und Schulzugehörigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 10.2 Die Schulumgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 10.3 Schulleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 10.4 Systemische Einflüsse: Das Schulklima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 11 Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 11.1 Umgang mit Stress im Lehrberuf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 11.2 Zufriedenheit mit sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 11.3 Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über Regeln. . . . . . . . . 135 11.4 Was man selber tun kann: Am Ball bleiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 11.4.1 Wissen aneignen und vermehren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 11.4.2 Begleiter für hilfreiche Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . 137 11.5 Hilfreiche Strukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Über die Autorin

Prof. Dr. Gisela Steins  lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen in der Arbeitsgruppe Allgemeine Psychologie und Sozialpsychologie zur Relevanz der Interaktionsgestaltung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in Bildung und Erziehung. Besondere Schwerpunkte sind Soziale Wahrnehmung, Sozialpsychologie des Schulalltags, Inklusion aus sozialpsychologischer Perspektive, Schulentwicklung und Genderforschung.

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1

Einleitung

Inhaltsverzeichnis 1.1 Einleitende Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Was wir schnell übersehen: Der Mensch als soziale Spezies . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Zur Bedeutung des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4 Grundlagen des Bandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.5 Was es mit einem macht, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt. . . . . . . . . . 9 1.6 Das Telos der Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.7 Zum Aufbau des Bandes und zur Schreibweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.8 Ist der Band ein moralischer Appell?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Dieser Band dient dazu, Menschen anzuregen, die mit jungen Menschen beruflich in einer besonderen Rolle zu tun haben. Das sind in vielen Gesellschaften die Lehrer/-innen junger Menschen. Zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen finden über eine lange Zeit Begegnungen statt. Die Überlegungen des Bandes sind darauf ausgerichtet, eigene Umgangsweisen und Verhaltensgewohnheiten in neuem Licht zu betrachten und das eigene Repertoire zu erweitern. In diesem einleitenden Kapitel wird herausgestellt, dass sich Menschen als eine soziale Spezies nach anderen Menschen ausrichten und somit für junge Menschen das Verhalten der Lehrkräfte relevant und richtungsweisend sein kann. Wärme und Freundlichkeit sind hierbei von zentraler Wichtigkeit für eine gute Zeit in der Schule. Wärme und Freundlichkeit sind mit weiteren Dimensionen der Gestaltung des Miteinanders verwoben: Erwartungen und Anforderungen an junge Menschen, Kontrolle und Negativität. Daraus ergibt sich, was in diesem Band als entwicklungsförderlicher Interaktionsstil bezeichnet wird. Alle Überlegungen im vorliegenden Band sind normativ am Telos der Schule ausgerichtet. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_1

1

2

1 Einleitung

Die Leitfrage ist also, wie jungen Menschen so begegnet werden kann, dass sie als mündige Personen die Schule verlassen, denn das ist das Telos der Schule.

1.1 Einleitende Überlegungen Menschen neigen dazu, sich einfache Regeln zurecht zu legen. Jedes Erziehungssystem ist ein Beweis dafür: Unerwünschte Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen ignorieren, bestrafen, besprechen, erwünschte Verhaltensweisen belohnen, aber nicht zu viel, das Kind lieben, aber Liebe allein genügt nicht, also etwas von ihm erwarten, dass es motiviert und vorantreibt: Die Moden der Erziehung sind wechselhaft und verwirrend (Baumrind 1967; Bettelheim 1971). Es gab und gibt zu jeder Zeit Menschen, die denken, so ist es richtig und sie werden kritisiert von anderen Menschen, die es anders sehen. Im Nachhinein neigen wir dann dazu, unser eigenes Erzogen-worden-Sein zu verklären oder zu verteufeln. Evidenz für die Angemessenheit der eigenen Interaktionsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen im Alltag zu haben, ist selten, denn wir verhalten uns aufgrund unserer eigenen Erfahrungen, deren Bewertungen und unseres Alltagsverständnis von dem, was eine gute Erziehung ist. Das ist auch durchaus Evidenz, aber eine subjektiv recht verzerrte Erscheinung davon. Mittlerweile gibt es viele systematische und wissenschaftliche Untersuchungen zu der Frage wie man Beziehungen mit Kindern und Jugendlichen entwicklungsförderlich gestalten kann. Manche dieser Untersuchungen sind sehr überzeugend, weil sie den meisten wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. Diese Studien geben Anregungen zu der Frage, wie Erwachsene ihre Begegnungen mit jungen Menschen gut gestalten können. So muss man sich nicht allein auf die eigenen Erfahrungen verlassen, die trügerisch sein können. Bei aller wissenschaftlichen Fundierung sollte man dennoch immer aufmerksam bleiben: Praktische Anwendung von fundierten Erkenntnissen zeigt oft die Übertragbarkeitsgrenzen auf. Dazu kommt, dass das Thema des Bandes komplex ist. Das hat mir nicht zuletzt die Arbeit an diesem Band noch einmal vor Augen geführt. Bei meinen ersten Überlegungen hierzu, die bereits länger zurückliegen, dachte ich, dass es recht einfach wäre, was zu sagen ist, ungefähr so: Das Wichtigste ist es, jungen Menschen mit Sympathie und Zuwendung zu begegnen, gepaart mit angemessen hohen Erwartungen und Unterstützungsangeboten. Und dann stellt sich heraus, sowohl in schulischen Situationen, in Gesprächen mit Praktikern/-innen und durch die Lektüre zahlreicher Forschungsarbeiten, dass das nicht unbedingt immer mit den erwarteten Wirkungen verbunden ist, dass manche

1.2  Was wir schnell übersehen: Der Mensch als soziale Spezies

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jungen Menschen eher auf Kontrolle reagieren, die aber nicht unbedingt geschätzt wird. Dann stellt sich heraus, dass selbst Freundlichkeit ihre Fallstricke hat und dass hohe Erwartungen zwar durchaus wichtig sind, aber manchmal schwer umzusetzen sind, wenn sie mutmaßlich Scheitern produzieren würden. Mein wissenschaftlicher Zweifel trug dann über die Zeit dazu bei, dass mein Bild zur Interaktionsgestaltung zwischen Lehrkräften und Schüler/-innen komplexer wurde. In diesem Band werden also keine einfachen Richtlinien der Verhaltensgestaltung zusammengeführt. Eine entwicklungsförderliche Interaktionsgestaltung ist eine Beziehungsarbeit, die nicht mühelos und schwungvoll von der Hand geht, sondern Wissen, Urteilsvermögen und auch einen kritischen intrapsychischen Zugang zu sich selbst voraussetzt. Ich hoffe, dass der Band so gelesen werden kann wie ich ihn dann geschrieben habe: als Anregung, wie man selber sein Verhaltensrepertoire erweitern kann. Vielleicht haben Sie nach der Lektüre eine größere Freiheit, individuell auf Schüler und Schülerinnen zu reagieren und sie bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Der Band kann auch als Anregung für Schulen gelesen werden, eigene Strukturen zu überdenken und sich zu überlegen, wie man die Schulumwelt als Ganzes so gestalten und entwickeln kann, dass Schüler/-innen sich sowohl geborgen als auch angeregt und herausgefordert fühlen können.

1.2 Was wir schnell übersehen: Der Mensch als soziale Spezies Menschen gehören einer sozialen Spezies an. Sozial bedeutet in der Fachsprache nicht nett, fürsorglich und sozial kompetent zu sein, sondern angewiesen auf die Zuwendung anderer Menschen zu sein und deshalb stets darauf bedacht, sich zugehörig zu anderen Menschen zu fühlen (Baumeister und Leary 1995). Damit einher geht eine so gut wie nie reflektierte Fähigkeit, sich mit den Menschen der Umgebung zu synchronisieren (Hatfield et al. 1994). Das fällt in der Schule dann positiv auf, wenn zwei Schüler beginnen, konzentriert zu lesen und die anderen es ihnen nach machen – aufgrund einer emotionalen Ansteckung. Eine solche konzentrierte Arbeitsatmosphäre ist verständlicherweise für Lehrkräfte ein überaus erfreuliches Ereignis und für die Schüler/innen ein wertvoller Lernmoment. Das fällt dann unangenehm auf, wenn zwei Schüler beginnen Unfug zu treiben und einige andere lassen sich hiervon anstecken. Diese letzte Art von Ereignissen, eine klassische Unterrichtsstörung, machen vielen Lehrkräften, aber auch durchaus vielen Schülern und Schülerinnen, das Schulleben recht unangenehm.

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1 Einleitung

Wie die Schüler/-innen sich gegenseitig anstecken können, so kann diese Synchronisation auch zwischen Lehrkräften und Schüler/-innen stattfinden. Ein Lehrer hat vielleicht den Eindruck, dass viele Schüler/-innen seinen Unterricht langweilig finden: sie melden sich kaum, er wird lustlos, der Unterricht wird schleppend, die Schüler/-innen noch teilnahmsloser etc. Als Lehrkraft tut man gut daran, sich die Freiheit zu erobern, sein eigenes Verhaltensrepertoire so auszustatten, dass man selber entscheiden kann, wie die Synchronisation verläuft. Ein erweitertes Verhaltensrepertoire bedeutet eine höhere, wenn auch relative, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit: Man kann etwas tun, man hat eine Wahl, sich auf eine bestimmte Art und Weise jungen Menschen gegenüber zu verhalten. Erziehung und Bildung in der Schule, normativ und gesetzlich geregelt, kann aus sozialpsychologischer Perspektive als die bewusst eingesetzte Synchronisation gesehen werden, die Schüler/-innen veranlasst, sich allgemein bildendes Wissen auf eine bestimmte Art und Weise anzueignen, die sie dem Telos der Schule näherbringt.

1.3 Zur Bedeutung des Themas In seinem Roman „Eine Pfarrerstochter“ verarbeitete George Orwell seine Erfahrungen als Lehrer. Wenn man seine Beschreibung einer englischen Privatschule liest, der „Ringwood House Academy“ für Mädchen, im ersten Drittel des 20zigsten Jahrhunderts, empfindet man spontan großes Mitleid mit den Mädchen der Klasse, die von Dorothy Hare, so heißt die Heldin des Romans (eben die Pfarrerstochter) nun neu unterrichtet werden. Der bisherige Unterricht ist stumpfsinnig und die Mädchen erscheinen Dorothy beim ersten Mal als „stumpf aussehende, lethargische Kinder mit schlechtem Teint“ (Orwell 1983, S. 228). Dorothy begreift schnell, dass die Kinder individuelle Zuwendung brauchen und selber mit gestalten müssen. Durch Dorothys fantasievollen, an den Interessen der Kinder ausgerichteten Unterrichtsideen, entwickeln die Mädchen Interesse, werden aktiv und blühen auf. Ausgelöst wird dieses Engagement durch ein kleines Geschenk der Kinder an die von Selbstzweifeln geplagte Dorothy, es geht „ein Gefühl von Loyalität und Zuneigung“ in ihrem Herzen auf (S. 236): „Sie hatte auf den ersten Blick erkannt, dass das, was die Kinder am meisten brauchten und was sie bisher nie bekommen hatten, individuelle Zuwendung war.“ (S. 242/243). Dorothy schafft es mit vielen Einfällen, aus einer lethargischen Gruppe eine lebendige Klasse zu machen. Dass dieser Erfolg zunichte gemacht wird, ihre gute Beziehung zu den Schülern/-innen zerstört wird,

1.3  Zur Bedeutung des Themas

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hat Gründe, die in dem Roman sehr genau erklärt werden, die aber nichts mit ihr selber zu tun haben. George Orwell hat in diesem Roman seine eigenen Erfahrungen als Lehrer verarbeitet und fast hellseherisch in Bezug auf die Ergebnisse der modernen Forschung die Problematiken der Schüler/-innen durch die Augen von Dorothy Hare auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig ist das, was Orwell in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtete, ein roter Faden der Geschichte der Kindheit: Freundlichkeit, individuelle Zuneigung und Zeit für einen jungen Menschen aufzuwenden, ihn dabei teilhaben zu lassen, etwas zu lernen, ihn Gelerntes so verarbeiten zu lassen, dass er es auch wirklich begreifen kann, ist zwar eine empirisch abgesicherte Empfehlung, aber für das Aufwachsen junger Menschen leider nicht gesichert, auch nicht in einer modernen Gesellschaft wie der unsrigen. Die Studien von Volker Krumm und seiner Arbeitsgruppe zeigen zum Beispiel deutlich, dass immer noch viel zu oft Schüler und Schülerinnen barsch und entwürdigend behandelt werden (2003). Und selbst dann, wenn Lehrer und Lehrerinnen das nicht tun, wäre es interessant zu wissen, wie viele Schüler und Schülerinnen wirklich in der Schule so etwas wie Wärme und Freundlichkeit bzw. individuelle Zuwendung, wie es Orwell nennt, erfahren, gefolgt von der Frage wie viele Lehrer und Lehrerinnen das Zutrauen zu den Schülern und Schülerinnen haben, dass sie lernfähig und nicht zu dumm für den Unterrichtsstoff sind. Außerdem müsste man auch fragen, wie viele Schüler und Schülerinnen unterstützt werden in dem, was sie zu tun haben, was ihre Schulpflicht ist. Lehrkräfte sind wichtige Bezugspersonen im Leben von jungen Menschen, sie verbringen viel Zeit mit den Schülern/-innen. Menschen als soziale Spezies werden durch das Miteinander geprägt, auch wenn man sich nicht beeinflussen lassen will, kann man sich sozialen Einflüssen kaum entziehen (Latané 1981). Man kann sich also überlegen, an welchen Begegnungspunkten man die eigene Interaktionsgestaltung ( =Beziehungsarbeit) mit den Schülern/-innen überprüfen und ändern möchte. Interaktionsgestaltung ist ein Wort, das man in der Alltagssprache wohl kaum verwendet. Außerdem ist es sperrig und lang. „Beziehungsgestaltung“ ist der geläufigere Begriff. In deutschsprachigen Fachpublikationen ist die Rede vom Lehrkraft/Schüler/-innen/Verhältnis. Das eine gute Wort gibt es nicht, um präzise zu bezeichnen, um was es in diesem Band geht: Die Art und Weise wie Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen umgehen können, wenn sie daran interessiert sind, dass Kinder und Jugendliche sich so entwickeln wie es das Telos der Schule vorsieht. In diesem Band geht es aber nicht um eine allgemeine Betrachtungsweise, sondern um Schule als einem wichtigen Lebensbereich von

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1 Einleitung

Kindern und Jugendlichen und daher wendet sich dieser Band besonders an Lehrer und Lehrerinnen. Es hat für mich die Arbeit an dem Band erleichtert, dass es sich nur um den Bereich Schule handelt. Schule hat ein gesetzlich vorgegebenes Telos, ein Ziel, dem alle Lehrer und Lehrerinnen verpflichtet sind. Das macht es leichter, die Zusammenhänge zwischen dem Verhalten von Lehrkräften mit denjenigen beobachtbaren Aspekten bei den Schülern/-innen herauszuarbeiten, welche Hinweise dafür sind, dass diese sich dem Telos der Schule annähern. Wenn also in diesem Band normativ von entwicklungsförderlicher Interaktionsgestaltung die Rede ist, oder von einem förderlichen oder guten Umgang mit Schülern und Schülerinnen, dann ist dies stets in Bezug auf dieses Telos gemeint, Schülerinnen und Schüler als mündige Bürger und Bürgerinnen aus der Schule zu entlassen, die kritisch und konstruktiv an der Gesellschaft teilhaben und mitgestalten können. Zwar sind Eltern die relevanteren Bezugsfaktoren für Kinder und Jugendliche, allerdings ist es wesentlich schwieriger einen gültigen normativen Rahmen für elterliche Erziehung zu finden, der verhindert, dass ich als Forscherin aus einer sehr engen und individuell zu stark geprägten Perspektive auf elterliches Verhalten schauen würde. Ich gehe also bei diesem Band davon aus, dass Lehrer und Lehrerinnen die gesetzlichen Aufträge der Schule kennen, sich ihnen verpflichtet fühlen und ein stets waches Interesse daran haben, ihren Schülern und Schülerinnen behilflich zu sein, ihren Weg zu finden in ein mündiges Leben.

1.4 Grundlagen des Bandes Es fehlt bis heute eine umfassende, kohärente Theorie des Sozialen, die es aber vielleicht auch gar nicht geben kann. Deswegen versammeln sich in diesem Band viele Aspekte, aus verschiedenen theoretischen Perspektiven. Allerdings gibt es eine fundierte Quelle für nahezu alle Ideen und Konzepte zur Interaktionsgestaltung, sozusagen eine universale Grundlage für alle Variationen von Interaktionen in allen Kontexten: Den symbolischen Interaktionismus (Stryker 2008). Seine Grundannahmen sind: Menschen sind in der Lage, sich selbst zu sehen, aber sich selbst auch aus den Perspektiven anderer Personen zu sehen. Menschen sehen andere Menschen und können wissen, dass sie andere sehen. Menschen werden gesehen und wissen, dass sie gesehen werden. Diese Perspektivenpluralität geschieht zwischen Individuen (Beispiel: „Ich merke, dass mein Lehrer mich anschaut und weiß, dass er möchte, dass ich mit dem Quatschen aufhöre.“), aber auch zwischen Gruppen (Beispiel: „Unser Kollegium merkt, dass diese Clique uns nicht respektiert, aber

1.4  Grundlagen des Bandes

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wir wissen nicht, wie wir es ändern könnten.“). Der Vergleich zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf einen selbst kann zu Verstärkungsprozessen, aber auch Konflikten führen, er erzeugt Spannungen, Diskrepanzen, verdeutlicht Normen und Standards. Der Blick der anderen, besonders derjenigen Personen, die einem wichtig sind, macht etwas mit Menschen; sie entwickeln ein Wertesystem, aus dem Überzeugungen hervorgehen, wie man etwas zu denken, wie man zu fühlen, wie man sich zu verhalten hat (Ellis 1994). Menschen beeinflussen sich also gegenseitig und das permanent (Latané 1981). Die Fähigkeit des Menschen zur Reflexion und Selbstreflexion macht ihn suggestibel, aber auch zu einem Einfluss für andere. Menschen synchronisieren sich mit ihrer sozialen Umgebung, die gleichzeitig auch von ihnen mit beeinflusst wird. Abb. 1.1 und 1.2 geben einen Überblick über mögliche Perspektiven, die Menschen als reflexive und soziale Spezies einnehmen können und soll verdeutlichen, dass Menschen ein Bündel von Perspektiven verinnerlicht haben, die durch den äußeren Blick salient werden können (Wicklund 1982) und zwar sowohl für das Individuum als Person mit einem persönlichen Selbst (Abb. 1.1.) als auch einem kollektiven Selbst (Abb. 1.2). Und weil das so ist, ist es ganz und gar nicht egal, sondern, ganz im Gegenteil, von Einfluss und Wichtigkeit, wie sich erwachsene Bezugspersonen verhalten. Die Gedanken zur Interaktionsgestaltung, die in diesem Band beschrieben werden, beruhen, neben dieser theoretischen Rahmung, auch auf zahlreichen Untersuchungen, die von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen, nicht nur der Psychologie, durchgeführt wurden. Interaktionsgestaltung zwischen jungen Menschen und Erwachsenen ist ein Thema, das mit

Abb. 1.1   Das individuelle Selbst als ein Bündel von Perspektiven

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1 Einleitung

Abb. 1.2   Das kollektive Selbst als ein Bündel von Perspektiven

so vielen Bereichen und Funktionen von Gesellschaften verflochten ist, dass hierzu Untersuchungen aus der Anthropologie, der Ethnologie, den Erziehungswissenschaften und der Soziologie gehören. Gleichfalls haben hierzu Lehrer und Lehrerinnen Perspektiven formuliert und ihre Erfahrungen eingebracht. Die Wissensgrundlage des Bandes ist also interdisziplinär und besteht aus vielen Puzzlesteinen, hinter deren Bestand eine große Anstrengung, sehr viel Mühe und Arbeit steckt. Manche dieser Arbeiten stellen sogar ein Lebenswerk dar wie beispielsweise die Arbeit des Anthropologen Rohner (1986 ) und der Entwicklungspsychologin Maccoby (Maccoby 2000; Maccoby und Martin 1983). Es ist an sich kein besonders gutes Kriterium für den Wahrheitsgehalt einer Erkenntnis, zahlreiche Untersuchungen als Grundlage heranziehen zu können. Die in dem Band zugrunde gelegten Untersuchungen weisen aber eine hohe methodische Vielfalt und eine hohe Qualität auf. Das Repertoire der Untersuchungen schließt Fallstudien mit ein, welche Beobachtungen in natürlichen Umgebungen als Grundlage haben und solche Untersuchungen, die auf Interviews beruhen. Aber auch groß angelegte Untersuchungen, welche mit standardisierten Fragebögen arbeiten und dabei gleichzeitig verschiedene Perspektiven einbeziehen, von Lehrer, Lehrerinnen oder Schüler, Schülerinnen oder Eltern, werden berücksichtigt. Besonders hervorzuheben sind die relativ vielen Längsschnittstudien wie zum Beispiel von Hamre und Pianta (2001), Maldonado-Carreño und Votruba-Drzal (2011) und die unterschiedlichen untersuchten Gruppen von Schülern und Schülerinnen wie zum Beispiel Studien mit Kindern im Grundschulalter (Howes et al. 1994; Birch und Ladd, 1997) und mit Schülern und Schülerinnen im mittleren und höheren Alter (Ryan et al. 2016; Wentzel 2002).

1.5  Was es mit einem macht, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt

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Diese methodische Vielfalt findet sich besonders in Untersuchungen, welche im nordamerikanischen Raum durchgeführt wurden. Nordamerikanische Forscher und Forscherinnen beschäftigen sich schon besonders lange mit diesen Fragen, was der Tatsache geschuldet ist, dass Multikulturalität und damit verbundene Diskriminierungsprozesse und Risiken negativer Schulkarrieren schon sehr früh als Problem erforscht (wenn auch nicht gelöst) wurden. Diese empirischen Arbeiten habe ich durch Untersuchungen von Forschern und Forscherinnen aus verschiedenen Kulturen ergänzt; manche von ihnen haben auch interkulturell gearbeitet, wie beispielsweise Rohner (1986). Trotz all dieser methodischen Unterschiede und Variationen in den untersuchten Stichproben sind die Ergebnisse konsistent. Weisen aber Ergebnisse, gewonnen durch unterschiedliche Herangehensweisen in unterschiedlichen Kontexten in eine Richtung, kann davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse einen wahren Kern haben. Natürlich immer nur so lange wie keine gravierenden und widersprüchlichen Indizien auftauchen. Bei aller gebotenen Skepsis sind die Grundlagen des Bandes also durchaus einige Überlegungen wert.

1.5 Was es mit einem macht, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt Eine meiner beruflichen Aufgaben besteht darin, jedes Semester eine Vorlesung zum Thema Classroom Management zu halten (Steins 2014, 2017; Steins et al. 2018). Diese Vorlesung wird von allen Studierenden besucht, welche an meiner Universität einen Lehramtsstudiengang studieren und den Masterabschnitt ihres Studiums beginnen. Classroom Management bezieht sich auf den geschickten, komplexitätsreduzierenden Umgang mit einer ganzen Klasse und der Herstellung bestmöglicher Lernmöglichkeiten für alle Schüler/-innen. Wenn jemand ein guter Nachhilfelehrer bzw. eine gute Nachhilfelehrerin ist, heißt das noch lange nicht, dass er oder sie ein guter Lehrer bzw. Lehrerin sein wird. Die Interaktion mit durchschnittlich 28 Schülern und Schülerinnen gestaltet sich anders als die Nachhilfesituation. Das Unterrichten einer ganzen Klasse ist mit grundsätzlich anderen Herausforderungen und Möglichkeiten verbunden als das Unterrichten in einer Nachhilfesituation. Fachlich mag man gut erklären können, aber kann man auch die Klasse zusammenhalten, motivieren, für ein gutes Lernklima sorgen, Außenseiter integrieren? Kann man seine Schüler und Schülerinnen in ihrer Gesamtheit dem Telos näherbringen?

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1 Einleitung

Jedes Semester bin ich damit beschäftigt, die Wissensgrundlagen der Vorlesung zu überprüfen, anzupassen, die Argumente für bestimmte Herangehensweisen an Herausforderungen auf den Prüfstand zu stellen, denn die Studierenden sind kritisch: Sie haben bereits mit eigenen Augen gesehen, wie einer Lehrkraft ihr sorgfältig geplanter Unterricht entgleiten kann, wie Schüler und Schülerinnen eine Lehrkraft so provozieren können, dass sie nicht mehr weiter weiß. Zu Beginn erwarten viele Studierende in der Vorlesung Classroom Management zu lernen wie sie Schüler und Schülerinnen so disziplinieren können, dass so etwas nie mehr passieren wird. Zunächst ist ihnen oft nicht bewusst, dass das Verhalten der Lernenden auch etwas mit dem Verhalten der Lehrenden zu tun hat. Mein Eindruck von den Studierenden, den künftigen Lehrern und Lehrerinnen, ist, dass die meisten Angst vor Kontrollverlust in der Klasse haben. Einen Kontrollverlust (Schüler/-innen machen nicht, was gefordert wird, die Klasse ist laut und undiszipliniert) bewerten sie als eine persönliche Niederlage. Viele verspüren Ärger, Wut und Aggression, aber auch schiere Angst, wenn sie nur daran denken, was Schüler und Schülerinnen ihnen antun könnten. Manche haben bereits Feindbilder gegenüber bestimmten Merkmalen von S ­ chüler/-innen verinnerlicht. Statt am Thema Bullying unter Schülern und Schülerinnen interessiert zu sein, sind manche viel mehr am Thema Bullying von Schülern und Schülerinnen gegenüber Lehrkräften interessiert. Gleichzeitig sind die Studierenden als Gruppe eine sehr freundliche, zugewandte Gruppe, welche sich nach Kräften bemüht, zu verstehen wie sie ihren zukünftigen Beruf gut ausüben kann. Die Studierenden haben also viele Fragen und es gibt lebhafte Diskussionen zu dem Thema des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen, weil die Inhalte der Vorlesung häufig mit ihren Vorstellungen und dem, was sie in der Schule bereits erfahren haben, kollidieren. Deswegen bin ich sehr gut vorbereitet. Ich brauche überzeugende Argumente, empirische Nachweise und ich tue gut daran, diese plausibel vorzutragen, ich tue gut daran, geduldig die immer gleichen Fragen zu diskutieren und ich bin quasi verpflichtet, die Prinzipien anzuwenden, welche die Forschungsergebnisse im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nahelegen: Freundlichkeit und hohe Erwartungen und Rechenschaftslegung sollte ich als wichtige Gestaltungsprinzipien vorleben können. Die ständige Beschäftigung mit diesen drei Merkmalen entwicklungsförderlicher Beziehungsgestaltung macht auch etwas mit mir selbst: Ich entdecke semestrig blinde Flecken bei mir selbst, Interaktionen, die nicht gut gelaufen sind, emotionale Erlebnisse aufgrund sozialer Interaktionen, die unprofessionell sind. Aber ich meine, dass ich kompetenter werde, dass sich mein Repertoire im Umgang mit Heranwachsenden vergrößert, dass ich eine Wahl bekomme.

1.6  Das Telos der Schule

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Und das ist genau das, was ich mir für die Studierenden wünsche mit so einer Vorlesung: dass all dieses Wissen ihnen hilft, eine Wahl zu bekommen, nicht immer dasselbe zu machen, aus ihrer Haut zu schlüpfen und sich an der Realität zu prüfen und nicht ihre Vorstellungen als Maßstab für die Wirklichkeit zu nehmen. Man merkt also durch die Beschäftigung mit diesem Thema, wo man sich strecken kann.

1.6 Das Telos der Schule Schule hat ein Telos. In Deutschland ist Schule der Bildung, Erziehung und individuellen Förderung der Schüler und Schülerinnen gesetzlich verpflichtet. Die Inhalte, Prozeduren und Ziele sind nicht beliebig, sondern sind trotz ihrer Fluidität und Variabilität normativ: Nach dem Schulbesuch soll ein Schüler, eine Schülerin über zentrale Kompetenzen verfügen und allem übergeordnet ist die Befähigung an der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung unserer Gesellschaft teilzuhaben. Die Mündigkeit der heranwachsenden Generationen ist die Sorge der Schule. Das Telos der Schule ist mit den Vorstellungen davon verflochten wie sich Beziehungen zwischen Lehrern, Lehrerinnen, Schülern und Schülerinnen gestalten. Es liegt auf der Hand, dass in einer modernen Demokratie konzentriertes Arbeiten, regelkonformes Verhalten oder Lernmotivation weder über Kollektivstrafen, noch durch körperliche Züchtigung hergestellt werden kann und beides ist gesetzlich auch explizit untersagt (Paragraph 53 Schulgesetz). Aber wie kann angesichts des Telos von Schule für eine gute Lernumgebung gesorgt werden? Was ist angemessen, unterstützend, zugewandt und gleichzeitig wirksam? Wie ist die momentane Wirklichkeit in den Schulen? Einige Untersuchungen, die von der Arbeitsgruppe um Volker Krumm durchgeführt wurden, weisen darauf hin, dass manche Lehrer und Lehrerinnen unangemessen auf Herausforderungen durch Schüler und Schülerinnen reagieren und selbst ohne besondere Anlässe die Lernenden ungebührlich behandeln (Krumm 2003). Auch wenn Lehrkräfte Schüler/-innen nicht schlagen, sind Kollektivstrafen immer noch weit verbreitet, aber auch andere wenig respektvolle negative Bestrafungsakte, Akte der Beschämung, unangemessene Anforderungen an das, wie die Lernenden zu sitzen, zu gucken, zu lächeln, zu sprechen haben (Burdelski 2010; Ryan 1991). Wiederum zeigen andere Untersuchungen, dass manche Lehrer und Lehrerinnen sich belastet fühlen, wobei sehr deutlich die Quelle der am stärksten empfundenen Belastung negative Interaktionen mit Schülern und

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1 Einleitung

Schülerinnen sind, gefolgt von negativen Interaktionen mit Eltern und Kollegen wie Kolleginnen (Friedman 2006). Wenn Lehrkräfte externalisierend oder internalisierend auf Belastungen reagieren, haben weder die Agierenden selbst, noch die Schüler/-innen davon einen Nutzen. Insgesamt kann man sagen, dass das soziale Leben in der Schule kompliziert ist und an der ein oder anderen Stelle nicht immer so gut läuft, dass man sagen könnte, Schule ist die allermeiste Zeit eine gute, inspirierende und produktive Zeit für alle Beteiligten. Schule aber birgt diese Möglichkeit in sich.

1.7 Zum Aufbau des Bandes und zur Schreibweise Der Band orientiert sich in seiner Aufteilung an den zentralen Prinzipien entwicklungsförderlicher Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Lernenden. In Kap. 2 „Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil: Grundlegenden Dimensionen“ werden diese Prinzipien eingeführt und dann getrennt voneinander in verschiedenen Kapiteln erläutert: • • • •

Freundlichkeit und Wärme: so viel wie möglich (Kap. 4) Erwartungen: So zutrauend wie möglich (Kap. 6) Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich (Kap. 7) Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich (Kap. 8)

Das Kap. 3 über Freundlichkeit als zentrales Prinzip im Lehrenden/Lernenden Verhältnis wird flankiert von der Beschreibung der Erkenntnisse über Höflichkeit, als minimale Voraussetzung für eine entwicklungsförderliche Beziehungsgestaltung (Kap. 3) und ausgewählten Verhaltensaspekten von Lehrkräften, welche Freundlichkeit erzeugen (Kap. 5). Die vier zentralen Prinzipien, so wie sie oben aufgelistet sind, lesen sich wie eine simple Anleitung, die, wenn man sich an sie hält, zu einer entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung führen. So einfach ist es nicht: Diesem Umstand sind die beiden letzten Kapitel geschuldet. Denn Freundlichkeit als zentrales Prinzip kollidiert mit so vielen Vorstellungen über das Dasein als Lehrer und Lehrerin, dass es erforderlich ist, Freundlichkeit als zentrales Prinzip von allen Seiten eingehend und kritisch auf den Prüfstand zu stellen (Kap. 9) und auch den Kontext zu betrachten (Kap. 10). Und selbst wenn man überzeugt wäre, dass es wichtig und zentral sei, zu allen Schülern und Schülerinnen, egal wie sich verhalten, freundlich zu sein oder zumindest höflich zu bleiben, wäre es immer noch schwer, das zu tun ohne sich auch selber kritisch zu beurteilen und sich auch selber auf den Prüfstand

Literatur

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zu stellen. Deswegen ist das letzte Kap. 11 den Anregungen gewidmet, die ein kritisches und konstruktives Zwiegespräch ermöglichen. Ein kurzes Wort zur Schreibweise möchte ich hier an die Leser/-innen richten: Auch wenn viele Menschen es umständlich und unästhetisch finden mögen, habe ich mich entschieden, immer dann, wenn es angemessen ist, von Lehrern und Lehrerinnen und Schülern und Schülerinnen, der Abwechslung halber auch von Lehrer/-innen und Schüler/-innen zu reden. Ich finde es einfach merkwürdig nur von Lehrern und Schülern zu sprechen, genauso wie ich es falsch finde, nur von Lehrerinnen und Schülerinnen zu sprechen. Und die Praxis, nur in die Fußnote zu Beginn eines Bandes zu schreiben, dass, ganz gleich wie man auch immer schreiben wird, alle gemeint ist, funktioniert nicht.

1.8 Ist der Band ein moralischer Appell? Ist dies ein moralisches Buch, habe ich mich gefragt. Nein, das ist es nicht. Ich selbst erfahre mich als stets an mir arbeitende Person in der Bewältigung alltäglicher Interaktionen im Berufskontext und oft reicht es gerade dafür, nicht unfreundlich zu sein. Dennoch, so meine ich, lohnt es sich, daran zu arbeiten, freundlicher zu werden, denn meiner Erfahrung nach geht es nicht nur mir besser, wenn ich humorvoll und freundlich bleiben kann (humorvoll ist die Kür und klappt nicht immer so wie ich es gerne hätte), sondern die Probleme lassen sich besser lösen und aus Mücken werden keine Elefanten. Dies ist also keine moralische Abhandlung, sondern der Versuch über etwas zu schreiben, was noch gar nicht formalisiert ist, zu keinem Ausbildungsinhalt dazu gehört und sich in der Forschung mehr oder weniger zwischen den Zeilen ergibt. Dieser Band ist also ein etwas anderer, ungewöhnlicher Blick auf das Schüler/-innen/Lehrkraft/Verhältnis und der Freundlichkeit als grundlegendem Gestaltungsprinzip möchte ich hiermit einen legitimen Platz einräumen.

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1 Einleitung

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Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil: Grundlegende Dimensionen

Inhaltsverzeichnis 2.1 Zur Relativität von Erziehungsvorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Begrifflichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.3 Welche Schüler/-innen entwickeln sich positiver, wenn Lehrer/-innen dieses Interaktionsmuster gestalten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.4 Warum und wie wirkt das Interaktionsmuster?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.5 Entwicklungsförderliches Interaktionsmuster und Schulleistungen. . . . . . . . . . . . 24 2.6 Wie es den Lehrer/-innen mit diesem Interaktionsmuster geht. . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.7 Zur Sicherung der Dimensionen eines entwicklungsförderlichen Interaktionsstils für Kinder und Jugendliche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.8 Heuristiken für die verschiedenen Dimensionen der Interaktionsgestaltung zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen . . . . . . . . . . . . . 28 2.9 Zur Relevanz des elterlichen Erziehungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Es ist überhaupt nicht egal, wie Erwachsene mit den nachwachsenden Generationen umgehen. Mittlerweile gibt es einen substanziellen Wissensfundus über einen guten Umgang mit jungen Menschen. Was gut für junge Menschen ist, bemisst sich an deren Gedeihen, Mitdenken, aktiv sein, und deren Entwicklung. Die zahlreichen Einzelbefunde lassen sich vier grundlegenden Dimensionen zuordnen, welche maßgeblich die Kapitelstruktur des Bandes ausmachen. In diesem Kapitel werden alle diese Dimensionen begrifflich eingeführt, sie werden in Bezug zueinander vorgestellt und diejenigen Untersuchungen werden zusammenfassend dargestellt, die Hinweise darauf liefern, wie bestimmte Interaktionsstile wirken und wie insbesondere der in diesem Band präferierte Interaktionsstil auf die Schüler und Schülerinnen sowie die Lehrer und Lehrerinnen wirkt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_2

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

2.1 Zur Relativität von Erziehungsvorstellungen Da Individuen in Gruppen von Individuen leben, müssen sie Verständigungsregeln erwerben und beherrschen, die von der Gruppe als solche anerkannt werden. Solche Verständigungsregeln zu kennen und anwenden zu können, sind basale Voraussetzungen für soziale und emotionale Kompetenzen von Individuen (Limbourg und Steins 2011). Gruppen entwickeln sich nur weiter, wenn ihre Mitglieder über das Potenzial kreativer und intelligenter Gedanken verfügen (Haager und Baudson 2019). Sind ihre Mitglieder also neugierig, explorativ, kreativ und kognitiv befähigt, sich konstruktiv mit der Welt auseinanderzusetzen, dann bestehen Chancen der Weiterentwicklung einer Gruppe. Das muss allerdings auf eine Art und Weise geschehen, welche eine Gruppe von Individuen zusammenhält und nicht auseinanderbringt. Soziale und emotionale Kompetenzen, die von einer Gruppe erkannt und akzeptiert werden, sind also notwendige Begleiterscheinungen von Weiterentwicklungen. Gesellschaften, deren Mitglieder in ihrer sozial-emotionalen, kognitiven und moralischen Entwicklung unterstützt werden, haben möglicherweise eine hohe Befähigung auf einem zufriedenstellenden Niveau zusammen zu leben und dieses Niveau aufrechtzuerhalten oder auch weiterzuentwickeln und gegenüber anderen Gruppen kooperatives Verhalten zu entwickeln. Die verschiedenen nationalen Gruppen von Menschen entscheiden, welche normativen Anforderungen sie an die Fähigkeiten und Werte der nachfolgenden Generationen stellen. Dies wird nicht unbedingt geplant entschieden, sondern kristallisiert sich im Laufe der Entstehung von Zeitgeist heraus. Was als konstruktiv sich entwickelnde Gruppe von Individuen verstanden wird, kann je nach gegenwärtig vorherrschendem nationalem, gesellschaftlichem, wirtschaftlichem (usw.) Interesse recht unterschiedlich ausgelegt werden. Auch können sich Widersprüche auftun zwischen institutionalisierten Normen an Erziehung in Hinblick auf die Entwicklungsziele Heranwachsender und sich parallel dazu von anderen mächtigen Subgruppen entwickelnder Interessen. So ist z. B. die Erziehung zur Mündigkeit ein durch staatlich regulierte Schulen institutionalisiertes Entwicklungsziel für Kinder und Jugendliche in Deutschland und umfasst kognitive, sozial-emotionale und moralische Kompetenzen als Grundlage von Mündigkeit. Gleichzeitig jedoch gestalten sich Entwicklungen neben der staatlichen Regulierung in verschiedenen Bereichen wie z. B. Medien, Industrie etc. nicht immer als widerspruchsfrei zu diesem Ziel. Allen Gedanken über die Interaktionsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen in einem staatlich-institutionellen Kontext liegen also Standards einer Werteorientierung zugrunde und auch Vorstellungen darüber, woran sich der Wert und

2.1  Zur Relativität von Erziehungsvorstellungen

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das Gelingen dieser Standards fest machen lässt. Dies ist z. B. in Deutschland Gegenstand intensiver Debatten und oft genug widersprüchlich (z. B. Kompetenzorientierung, Rohlfs et al. 2014). Die Geschichte von Nationen enthält auch immer die Geschichte der Kindheit. Diese wiederum ist auch eine Geschichte der Eltern und wie diese zu ihren Kindern stehen und folglich, wie sie ihre Kinder erziehen (Ariès 1998; Badinter 1991), aber auch die Geschichte der Schule und wie Lehrer/-innen mit Schüler/-innen interagieren. Erziehung hängt also von grundsätzlichen Wert­ überzeugungen der erziehenden Individuen und Institutionen ab, die jeweils in einem komplexen Kontext gebildet und genährt werden. Dieser Kontext ist durch historische, ökonomische, soziale und kulturelle Eigenheiten spezifisch (Gergen 1985). Elterliche Erziehung spiegelt, wie oben schon anklingt, gesellschaftliche Verhältnisse wieder. Sie kann, muss aber nicht kongruent sein mit den Vorstellungen, die eine Gesellschaft davon hat, wie Erziehung in einer institutionalisierten Welt wie Schule aussehen soll. Inwiefern beide Vorstellungswelten von Erziehung deckungsgleich sind, hängt davon ab, ob beide Lebensbereiche durch zu vereinbarende kulturelle Dimensionen beschrieben werden können. Dafür müssen gemeinsame Vorstellungen von der Zukunft einer Gesellschaft vorliegen. Damit zusammen hängt, was als Erfolg wahrgenommen wird und wiederum was diesem Erfolg nutzt. Ein Beispiel sind unterschiedliche Nutzenvorstellungen von Bildung. Je nach Kongruenz oder Nicht-Kongruenz kommen also unterschiedliche Konflikte zwischen den Erziehungsvorstellungen elterlicher und staatlicher Welten zustande. Schule in Deutschland will für viele Kinder und Jugendliche gleichzeitig und kumulativ einen bestimmten Standard an Allgemeinbildung als Grundlage für Mündigkeit sichern. Schule hat damit in Deutschland einen gesetzlich verankerten Bildungs- und einen Erziehungsauftrag. Die Bildungsinhalte werden durch Rahmenverordnungen für Curricula geregelt. Wie aber eine Erziehung zur Mündigkeit aussehen soll, ist nicht spezifisch geregelt und wird der jeweiligen Policy der Schulen überlassen. Auch findet hier keine spezielle Ausbildung im Beruf zur Lehrkraft statt. Angehende Lehrer/-innen haben überwiegend in ihrem Beruf etwas von Erziehungsstilen gehört, sie haben aber in der Regel kein systematisches Wissen und Kompetenzen darüber erworben, sich entsprechend eines Erziehungsauftrags gegenüber Gruppen von Heranwachsenden zu verhalten (Steins et al. 2015; Steins und Behravan 2017). Die Erkenntnisse zur Interaktionsgestaltung zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen sind international fundiert, empirisch gut abgesichert, sind aber in der Ausbildung von Lehrer/-innen und für die Berufsausübung nicht gesichert (Steins et al. Steins et al. 2016). Lehrer/-innen handeln also nach eigenem Gutdünken hinsichtlich der Interaktionsgestaltung

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

mit ihren Schüler/-innen und richten sich oft danach, was sie in ihrer Zeit als Schüler/-in von den eigenen Lehrer/-innen oder im Referendariat von ihren Mentor/-innen abgeguckt haben, eine Zeit, die von Lortie als „apprenticeship of observation“ bezeichnet wird (Lortie 1975, S. 60). Insofern hat jeder Mensch, der zur Schule ging, eine solche Lehre durch Beobachtung hinter sich. Es ist aber nicht egal wie Erwachsene sich gegenüber jungen Menschen verhalten. Schauen wir uns ein Zitat von Bruno Bettelheim an: Wie man ein nützliches und befriedigendes Leben führt, wurde bis vor kurzer Zeit im Elternhaus oder in Institutionen wie der Kirche gelehrt. Kinder lernten es hauptsächlich durch das Beispiel, durch die unausgesprochenen Wertvorstellungen der Erwachsenen, die sie aufzogen. Oft war es den Erwachsenen nicht einmal klar, dass es dies war, was sie ihre Kinder lehrten, und gar nicht viele Erwachsene hielten es überhaupt für nötig, die Kunst des Lebens zu lehren. Dass sie gelernt wurde, wurde oft für selbstverständlich gehalten. Aber nur in einer Gesellschaft, wo die wünschenswerte Art zu leben und zusammen zu leben von der großen Mehrheit allgemein akzeptiert wird (und darum auch dem Kind von seinen Eltern übermittelt wird), kann die Schule sich darauf beschränken, schulisches Wissen und schulische Fertigkeiten zu lehren. Die wichtigste aller Künste, die Fähigkeit, gut mit sich selbst und anderen zu leben, lässt sich nur dadurch erwerben, dass man in einer emotionell beständigen und befriedigenden menschlichen Umwelt lebt. Wenn zu viele Familien keine derartige Umwelt mehr bilden, entsteht ein circulus vitio, weil Eltern ihren Kindern nicht etwas übermitteln können, was sie selbst nie gelernt haben. Dieser circulus vitio muß unterbrochen werden (Bettelheim 1971, S. 364–365). Durch ihr Verhalten leben Erwachsene jungen Menschen also Normen und Werte vor, die Zeit eines Lebens als Kompass für die eigene Verhaltensausrichtung dienen können. In diesem Kapitel wird deswegen der Welt des subjektiv Tatsächlichen, nur zu oft Inhalte der „Apprenticeship of Observation“, die Systematik wissenschaftlich geprüfter Erkenntnisse, gegenübergestellt. Diese Systematik wird als Grundlage entwicklungsförderlicher Interaktionsgestaltung betrachtet.

2.2 Begrifflichkeiten Intuitiv weiß jeder Mensch, dass sein eigenes Wohlbefinden nicht unabhängig von seiner sozialen Umgebung ist. Wenn man selber nicht gut behandelt wird, dann empfindet man das sehr schnell; aber auch, wenn andere Menschen nicht gut behandelt werden und wir sehen dies, dann hat das eine Wirkung auf uns. Menschen, als eine soziale Spezies, neigen dazu, sich miteinander zu

2.2 Begrifflichkeiten

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synchronisieren (siehe Abb. 2.1 und 2.2), und wenn sie das nicht tun wollen, dann wenden sie Energie auf, um sich voneinander abzugrenzen. Sie sind mit den sozialen Ereignissen in ihrer sozialen Realität beschäftigt. Schüler und Schülerinnen, als unterschiedliche Individuen in einer Gruppe, sind hiervon in doppelter Hinsicht betroffen: Sie sind darauf angewiesen, dass die Klasse irgendwie miteinander auskommen kann und darauf, dass die Lehrenden ihnen als Gruppe wohlgesonnen sind. All das ist sehr gut untersucht und es ist eine soziale Tatsache, dass sowohl der Umgang der Schüler und Schülerinnen untereinander erheblich dazu beiträgt, ob Schüler und Schülerinnen motiviert eine Schule besuchen, als auch dieser Umgang erheblich davon mitbestimmt wird, wie Lehrende mit den Lernenden umgehen (Achermann et al. 2006). Die Bezeichnungen für diese Forschung sind nicht unbedingt eingängige Begriffe. Im weitesten Sinne handelt es sich um „Interaktionsgestaltung“, also um die die Art und Weise wie man miteinander umgeht. Ein anderer Begriff ist Beziehungsgestaltung. Bezogen auf die Schule wird in Deutschland vom sogenannten Lehrer/-innen/Schüler/-innen/Verhältnis geredet. Alle drei Begriffe sind unvollkommene Begriffe für den eigentlichen Sachverhalt. In der internationalen Forschung wird diesen Begriffen häufig die Eigenschaft „Qualität“ hinzugefügt, wie z. B. „High Quality Relationship“ (Pianta et al. 2012). Übersetzt man diesen Begriff, klingt das merkwürdig: „qualitätsvolle Beziehung“ oder „Beziehung von hoher Qualität“. Auch die Beifügung der Eigenschaft „positiv“ ist üblich wie z. B. „positive relationship“, also positive Beziehung ­(Cornelius-White 2007; Wang et al. 2013). Um es in einer weniger begrifflicher Sprache auszudrücken, könnte man die Forschung so zusammenfassen: eine entwicklungsförderliche Art und Weise von Lehrenden mit Lernenden umzugehen, besteht darin, dass Lehrende sich Lernenden gegenüber warm, unterstützend und gleichzeitig anregend und herausfordernd verhalten und genau das richtige Maß an Kontrolle finden, das nicht in Negativität umschlägt. Abstrakte Beschreibungen klingen häufig schön und logisch. Die Frage ist nun, was diese Schlüsselwörter in der täglichen Begegnung und Kommunikation konkret bedeuten. Das soll in den nächsten Kapiteln detailliert beschrieben werden. Auch die Frage nach den Wirkungen eines solchen Umgangs auf die Schüler und Schülerinnen ist mit dem Begriff entwicklungsförderlich nicht wirklich gut beantwortet. Gesellschaften würden je nach ihrem politischen System, dem historischen Zeitpunkt ihrer Existenz, ihren wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen etc. sehr unterschiedlich beantworten, was sie als gute

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

Entwicklung bezeichnen würden, eben immer in Abhängigkeit davon, wie die kulturellen Imperative der betreffenden Gesellschaft gerade formuliert sind. In Deutschland ist der Begriff durch die gesetzlich geklärten Ziele der Schule mit Inhalt und Bedeutung gefüllt; wir würden unter entwicklungsförderlich verstehen, dass ein Schüler, eine Schülerin sowohl die bildungsorientierten Kompetenzen erreicht, als auch die erzieherischen Ziele, die ihn/sie befähigen, sich kompetent in eine Gesellschaft einbringen zu können, als mündiger Bürger, mündige Bürgerin in der Lage zu sein, an der Gesellschaft teilzuhaben und sie mitzugestalten. Einige dieser Ziele sind direkt messbar, wie z. B. die erreichten, fachlichen Kompetenzen. Es gibt aber Begleiter dieser Ziele, die sehr viel darüber aussagen, wie es einem Schüler, einer Schülerin geht, nämlich innere Zustände wie Schullust und Motivation, welche sich alle an der Häufigkeit der Teilnahme im Unterricht zeigen können, aber nicht müssen (denn auch ein Schüler, der heftig unter Druck steht, dem es schlecht geht, der inhaltlich demotiviert ist, wird sich viel beteiligen können und kann fachlich sehr gute Kompetenzen erwerben). Wir haben es also in Bezug auf die Messbarkeit von Entwicklung und das Begreifen der Wirklichkeit mit erheblichen Überprüfungsschwierigkeiten zu tun. Was wir wissen, ist allerdings: Schüler/-innen entwickeln sich besser, wenn das oben beschriebene Interaktionsmuster auftritt. Die Erklärungen hierfür liegen auf der Hand. Sie haben viel damit zu tun, dass Menschen sich aus den Augen der anderen sehen und sich daraufhin differenzierend bewerten (siehe Abb. 2.1 und 2.2). Ruht der positive Blick einer relevanten Bezugsperson wie einem Lehrenden auf einem Schüler, dann kann der Schüler sich gut entwickeln, da er ein Zutrauen spürt, weiß, dass darauf geguckt wird, was er tut und es nicht egal ist, was er tut. Dann beginnt er selber genauer auf das, was er tut, zu schauen. Bekommt er Rückmeldung, dann versteht er die Augen des anderen auf ihn selbst besser und damit auch seinen eigenen Blick auf sich selbst. Bekommt er Unterstützung, individuelle Zuwendung, Vergewisserung über seinen Fortschritt, dann ermuntert das ihn, weiter zu machen. So entsteht Interesse, das wiederum zu mehr Interesse führt und ganz ohne Druck die Teilnahme am Unterricht stärken kann. Eine motivierte Schülerschaft geht Hand in Hand mit motivierten Lehrkräften; beide werden so lieber die Schule aufsuchen und weniger Gefahr laufen, an einem Burn Out zu erkranken und depressiv zu werden bzw. schulabsent zu werden und demotiviert zu sein. Wie bei vielen sozialen Prozessen ist es schwierig, Huhn und Ei zu trennen, also eine exakte Kausalanalyse herzustellen; deswegen erscheinen mitunter Begründungen tautologisch; soziale Beeinflussungsprozesse sind oft reziprok, verlaufen nicht linear und können sich gegenseitig oft auf überraschende Weise

2.3  Welche Schüler/-innen entwickeln sich positiver …

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beeinflussen, denn im menschlichen Verhaltensrepertoire ist Freiheit angelegt (Bieri 2003). Je nach Forschungstradition wird ein entwicklungsförderliches Interaktionsmuster zwischen Lehrkräften und Schüler/-innen unterschiedlich bezeichnet. Die begriffliche Vielfalt weist diese Gemeinsamkeit auf: Lehrer/-innen verhalten sich warm, unterstützend, freundlich. Sie erwarten von allen Schüler/-innen, dass diese lernen und fordern dies ein und unterstützen ihre Schüler und Schülerinnen dabei, Lernziele zu erreichen und sich selber zu regulieren. Schüler/-innen wiederum reagieren positiv auf dieses Interaktionsangebot: Sie sind motivierter und lernen mehr. Mit den Bezeichnungen für einen entwicklungsförderlichen Interaktionsstil wird direkt die Qualität der Interaktion angesprochen (Ladd et al. 1999; Ly et al. 2012; Pianta et al. 2012; Zee et al. 2013), so z. B. Teacher-child relationship quality (TCRQ), High quality relationship, Quality of student-teacher relationship und Quality of teacher-student interactions. Es gibt jedoch auch Bezeichnungen, die einen bestimmten Schwerpunkt der Interaktion betonen wie zum Beispiel Unterstützung (Stanton-Salazar 2005, 2011; Masten und Coatsworth 1998; Ware 2006), Wärme (Ware 2006; Sandilos et al. 2016) oder positive Interaktionen (Cornelius-White 2007; Wang et al. 2013). Herausstechend ist der Begriff des authoritativen Interaktionsstils, der vielen Leser/-innen aus der Erziehungsstilforschung bekannt sein dürfte (Gregory et al. 2012). Je nach Schwerpunkt wird also von supportive relationship, warm Demander Pedagogy, positive teacher student relationships, positive ­learner-centered relationship oder auch authoritative approach gesprochen.

2.3 Welche Schüler/-innen entwickeln sich positiver, wenn Lehrer/-innen dieses Interaktionsmuster gestalten? Besonders positiv sprechen auf dieses Interaktionsmuster Schüler/-innen an, die Minoritäten angehören und Schüler/-innen mit emotionalen und sozialen Schwierigkeiten. Die Zusammenhänge lassen sich aber, wenn auch schwächer, für alle Schüler und Schülerinnen finden und zwar über alle Altersstufen hinweg (Pianta und Steinberg 1992; Birch und Ladd 1997; Mason et al. 1996; Crosnoe et al. 2004; Pianta und Stuhlman 2004; Maldonado-Carreno und ­Votruba-Drzal 2011). Die Unterschiede in der Wirkung kommen durch den Status der Schüler/-innen im Beziehungsgeflecht der Klasse zustande: Minoritäten und ­ junge Menschen mit emotionalen und sozialen Problemen, beides also Gruppen,

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

die durchschnittlich keine hohe Position in den Statushierarchien von Klassen haben, profitieren besonders stark von diesem Interaktionsmuster. Schüler/-innen, die Minoritäten angehören, sind häufig Menschen mit von der lokalen Nationalität abweichender Herkunft, aber auch Schüler/-innen, die von den durchschnittlichen, normativen Erwartungen ihrer Schulumgebung abweichen.

2.4 Warum und wie wirkt das Interaktionsmuster? Ein Schlüsselbegriff, um zu verstehen, warum dieses Interaktionsmuster wirkt, ist Motivation. Wenn z. B. ein Schüler gerne in die Schule geht, sich auf den Unterricht und die Lehrerin freut, ist er motiviert. Er freut sich auf die positive Zuwendung, er fühlt sich gut im Unterricht. Weil er motivierter ist, macht er mit und stört weniger im Unterricht, weil er mehr mitmacht, wird er kompetenter… So stellen diese Interaktionsmuster einen Puffer gegen negative Gewohnheiten dar, die demotivierte Schüler und Schülerinnen entwickeln können wie zum Beispiel antisoziale Verhaltensweisen und Unterrichtsstörungen. Und sie helfen den Schüler und Schülerinnen erfolgreich die Schule zu meistern. Ein weiterer Schlüsselbegriff zum Verständnis der Wirkung dieses entwicklungsförderlichen Interaktionsmusters ist Reziprozität. Schüler/-innen geben durchaus zurück, was man durch die eigene Interaktionsgestaltung in sie reinsteckt. Reziprozität als eine verbreitete Interaktionsregel kann ermöglichen, dass ein Investment auf Seite der Lehrer/-innen das Investment der Schüler/-innen erhöht (Cialdini 2013). Auch aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive erscheint eine solche Beziehung hochwahrscheinlich (Walster et al. 1973). Ein letzter Schlüsselbegriff zum Verständnis der Prozesse, die durch ein solches Interaktionsmuster in Gang gesetzt werden ist das Klassenklima. Ein positives Klassenklima bedeutet: Man geht positiv miteinander um, sieht die Anderen nicht als Konkurrenz (Achermann et al. 2006). Das beschriebene Interaktionsmuster hängt vermutlich mit einem positiven Klassenklima zusammen bzw. begünstigt ein solches, das wiederum positive Interaktionsmuster etabliert. Lehrer/-innen, die das beschriebene Interaktionsmuster zeigen, etablieren Normen von Gleichheit und Höflichkeit, sodass es weniger wahrscheinlich zur Bildung von starren Hierarchien kommt. Vorurteile der Schüler/-innen untereinander werden dadurch eher abgebaut als verstärkt. Ein positives Klassenklima geht einher mit einer stärkeren Motivation der Schüler/-innen, die Schule zu besuchen und zu lernen. In zahlreichen Untersuchungen wurden diese Prozessvariablen zusammenhängend mit dem beschriebenen Interaktionsmuster gefunden (Goodenov et al. 1993; Nichols

2.4  Warum und wie wirkt das Interaktionsmuster?

23

2006; Pianta et al. 2012; Wubbels et al. 2006; Maldonado-Carrêno und VotrubaDrzal 2011; Pianta und Steinberg 1992; Ladd et al. 1999; Burchinal et al. 2002; Cornelius-White 2007; Howes et al. 1994; Bowen 2010; Phillippo und Stones 2013; Hughes et al. 2008). In Abb. 2.1 wird der interaktive Prozess von Ermutigung durch freundliche Zuwendung und Erwartungen und Motivation illustriert. Bettelheim (1971), der eingehend mit Kindern und Jugendlichen arbeitete, die emotionale Probleme hatten, war der Ansicht, dass für diese Kinder ein gutes Klima die Voraussetzung ist, damit sie überhaupt motiviert sind, zu lernen: Wir sind der Ansicht, dass vor allem anderen ein Kind zutiefst davon überzeugt sein muß, dass – im Gegensatz zu seinen früheren Erfahrungen – diese Welt angenehm sein kann, bevor es irgendeinen Antrieb verspüren kann, in ihr weiterzukommen. Wenn ein solcher Wunsch aufgekeimt ist und wirklich Teil seiner Persönlichkeit geworden ist, dann – und erst dann – können wir auch von dem Kind erwarten, die weniger angenehmen Aspekte des Lebens zu akzeptieren und mit ihnen zurechtzukommen. (Bettelheim 1971; S. 36).

Abb. 2.1   Die DNA einer entwicklungsförderlichen Interaktion: Freundliche Zuwendung kann positive Interaktionsmuster etablieren

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

2.5 Entwicklungsförderliches Interaktionsmuster und Schulleistungen Das entwicklungsförderliche Interaktionsmuster hängt nicht nur mit emotionalen und motivationalen Qualitäten bei Schüler/-innen zusammen, sondern auch mit deren Schulleistungen und sozialen Kompetenzen. Je ausgeprägter das entwicklungsförderliche Interaktionsmuster ist, desto besser entwickeln Schüler/-innen sich schulisch. Sie können besser kritisch denken, sind besser in Mathematik, bei sprachlichen Aufgaben, d. h. der Wortschatz, auch in der nicht muttersprachlichen Landessprache, ist reicher. Und sie machen ihre Abschlüsse zu angemessener Zeit und nicht mit Verzögerung. Je ausgeprägter dieses Interaktionsmuster ist, desto sozial kompetenter verhalten sich auch die Schüler/-innen. Das macht sich bemerkbar an weniger störendem Verhalten und Fehlverhalten, einem kleineren Risiko, von den Mitschüler/-innen zurückgewiesen zu werden und einem kleineren Risiko ­ eines Drop Outs. Zu diesen Zusammenhängen gibt es ebenfalls zahlreiche Untersuchungen (Pianta und Nimetz 1991; Hamre und Pianta 2001, 2005; Burchinal et al. 2002; Pianta und Stuhlman 2004; McDonald et al. 2005; Pianta 2006; Cornelius-White 2007; Lopez 2012; Wang et al. 2013; Hughes und Im 2016).

2.6 Wie es den Lehrer/-innen mit diesem Interaktionsmuster geht Man kann sich leicht vorstellen, dass Lehrkräfte, welche sich freundlich und unterstützend verhalten und ihren Schülern/-innen viel zutrauen, eher einen positiven Zugriff auf ihren Berufsalltag haben. Dementsprechend finden wir, dass, je ausgeprägter dieses Interaktionsmuster ist, desto lieber gehen Lehrer/-innen in die Schule, desto höher sind ihre Arbeitszufriedenheit und ­ Motivation, desto mehr Enthusiasmus zeigen und berichten sie und desto engagierter sind sie am Arbeitsplatz (Brekelmans et al. 2005; Grayson und Alvarez 2008). Je weniger ausgeprägt dieses Interaktionsmuster ist, desto häufiger weisen Lehrer/-innen eine emotionale Erschöpfung auf, desto häufiger scheiden sie verfrüht aus dem Berufsleben aus, desto höheren Stress erfahren sie am Arbeitsplatz und desto häufiger erkranken sie an einem Burnout (Friedman und Farber 1992; Byrne 1999; Spilt et al. 2011; Ingersoll und Smith 2003; Tatar und Horenczyk 2003; Friedman 2006; Chang 2009).

2.6  Wie es den Lehrer/-innen mit diesem Interaktionsmuster geht

25

Eine wichtige Rolle kommt hier der Arbeitszufriedenheit zu. Arbeitszufriedenheit wird immer wieder im Zusammenhang mit der Prävention von frühzeitigem Eintritt in die Rente, Burn out, Depression und anderen arbeitsbezogenen Erkrankungen und Belastungen genannt. Aber wie kann man selber konkret überprüfen, woran sich die eigene Arbeits(un)zufriedenheit messen lässt? Hilfreich sind hier die verschiedenen Überlegungen, die Anregung geben können, was genau es ist, das die eigene Zufriedenheit beeinflusst: Eine traditionelle Definition von Arbeitszufriedenheit stammt von Locke (1976). Demnach empfinden wir Arbeitszufriedenheit als eine angenehme Bedingung eines positiven emotionalen Zustandes, die aus einer Wertschätzung der eigenen Arbeit und den damit verbundenen Erfahrungen resultiert. Brekelmans et al. (2005) beschreiben grundlegende Aspekte von Arbeitszufriedenheit, die in Kap. 10 nochmals wichtig werden: die Wahrnehmung von Unterstützung durch das Management bzw. die Leitung, Autonomieerfahrung bei der Organisation der eigenen Arbeit, positive Beziehungen im Kollegium, die Art der Arbeit und die generellen Arbeitsbedingungen. Im Lehrberuf kommt ein entscheidender Faktor dazu, der oben bereits angesprochen wurde, nämlich die Interaktion mit den Schülern und Schülerinnen. Forschende aus verschiedenen Kulturen stimmen darin überein, dass die größte Quelle von Arbeitsstress aus den Interaktionen zwischen Lehrkräften und

Abb. 2.2   Befriedigende Interaktionen mit Schüler/-innen als Quelle von Arbeitszufriedenheit – Fallbeispiel einer Lehrerin. (Nach Brekelmans et al. 2005)

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

Abb. 2.3   Ein unsicher aggressives Interaktionsmuster. (Nach Brekelmans et al. 2005)

Schüler/-innen resultiert (Chang 2009; Friedman 2006; Maag 2008; Spilt et al. 2011; Veldman et al. 2013). Wie jedoch Abb. 2.2 zeigt, können befriedigende Interaktionen mit Schüler/-innen die Quelle von Arbeitszufriedenheit sein. In gegensätzlicher Weise legt Abb. 2.3 nahe, dass ein unsicher aggressives Interaktionsmuster mit Belastungen im Alltag einhergehen wird und wahrscheinlich nicht mit belohnenden Ereignissen einhergeht, bei einem freundlichen Interaktionsmuster ist es umgekehrt.

2.7 Zur Sicherung der Dimensionen eines entwicklungsförderlichen Interaktionsstils für Kinder und Jugendliche Freundlichkeit und Wärme ist eine völlig ungesicherte Dimension der Interaktionsgestaltung zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche dieser Dimensionen im Laufe einer Kindheit und Jugend im Zusammensein mit Eltern und Lehrkräften gesichert sind, wird einem klar, dass im Elternhaus nahezu nichts von diesen entwicklungsförderlichen Dimensionen wirklich gesichert ist. Zwar ist anzunehmen, dass viele Eltern ihre

2.7  Zur Sicherung der Dimensionen eines entwicklungsförderlichen …

27

Kinder lieben und nur das Beste für sie wollen, aber verhalten sie sich ihnen gegenüber freundlich und warm? Drücken sie Sympathie und Zuneigung aus? Akzeptieren sie ihre Kinder auch dann, wenn es Probleme gibt? Auch wissen wir, dass durchaus ein bestimmter Prozentsatz von Eltern altersangemessene Erwartungen an die eigenen Kinder stellt und von ihnen altersangemessene Tätigkeiten verlangt (Schmidtchen 1997; Schneewind 2012), aber gehen diese Erwartungen auch einher mit Unterstützung? Wir wissen auch nicht wie Eltern es wirklich mit Kontrolle halten. Haben sie alles abgegeben, an die Lehrkräfte delegiert? Oder kontrollieren sie so stark, dass es von ihren Kindern als Bevormundung empfunden wird? Gesichert ist eine Kontrolle dessen, was ­Schüler/-innen vermutlich gelernt haben, nur durch schulische Klausuren und Tests. Auch durch definierte Kompetenzniveaus wird gesichert, dass Lehrkräfte zumindest wissen, welche Erwartungen als angemessen empfunden werden (können). Aber weder in der Schule, noch im Elternhaus ist es gesichert, dass diese Erwartungen mit Unterstützung oder Ermutigung einhergehen. Tab. 2.1 fasst die Sicherung der Dimensionen eines entwicklungsförderlichen Interaktionsstils für junge Menschen in unserer Gesellschaft auf einen Blick zusammen. Demnach sieht es für die Schule so aus: • Freundlichkeit/Wärme, Zuwendung sind nicht gesichert, • Erwartungen sind minimal gesichert (durch Standards), • Kontrolle ist einigermaßen gesichert (durch Leistungstests). Für das Elternhaus sieht es so aus: • Freundlichkeit/Wärme, Zuwendung ist nicht gesichert, • Erwartungen sind nicht gesichert, • Kontrolle ist nicht gesichert. Tab. 2.1   Überlegungen zur Sicherung von Zuwendung, Erwartungen und Kontrolle in Schule und Elternhaus Freundlichkeit/Wärme

Schule

Elternhaus

g

n

Förderliche Erwartungen

t

n

Kontrolle

g

g

g: gesichert t: teilweise gesichert n: nicht gesichert

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

Wir können also zwar davon ausgehen, das durchaus viele junge Menschen Wärme und Freundlichkeit in ihrer Kindheit erfahren, wahrscheinlich häufiger im Elternhaus als in der Schule, aber dass es auch immer wieder junge Menschen gibt, die an beiden Orten nicht die Erfahrung von Zuwendung, freundlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren, zumal der Eindruck von Zuwendung nicht durch Einzelepisoden entsteht, sondern durch eine kontinuierliche Beziehungsgestaltung. Freundlichkeit und Wärme ist eine schlecht gesicherte Dimension im Leben junger Menschen. In der Schule ist es wahrscheinlicher, dass ein junger Mensch kontrolliert wird und Forderungen an ihn gestellt werden, als dass die Forderungen mit Zuwendung und Unterstützung einhergehen. Das Interaktionsmuster, das sich als hervorstechend im Schulalltag abzeichnet, kollidiert also mit den Heuristiken einer entwicklungsförderlichen Interaktionsgestaltung auf der Basis von empirischer Evidenz und modernen Wissens (Bauer 2004). In den gegenwärtigen Konstellationen ist eine unproduktive Negativität in den Beziehungen zwischen manchen Lehrkräften und Kindern und Jugendlichen wahrscheinlicher als wünschenswert ist.

2.8 Heuristiken für die verschiedenen Dimensionen der Interaktionsgestaltung zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen Für die verschiedenen Dimensionen einer entwicklungsförderlichen Interaktionsgestaltung kann man als Leitlinien folgende Heuristiken formulieren, die nachfolgend in getrennten Kapiteln erläutert werden: • • • •

Wärme: Je mehr, desto besser! Anforderungen: Je höher, desto besser? Auf keinen Fall zu niedrig! Negativität: Je weniger, desto besser! Kontrolle: So wenig wie möglich, so viel wie nötig.

Abb. 2.4 stellt diese Heuristiken vereinfacht dar. Der Nutzen einer vereinfachten Heuristik kann sich besonders in Konfliktsituationen als hilfreich erweisen. In Konfliktsituationen kann es deeskalierend wirken, wenn man sie sich ins Gedächtnis rufen kann. Abb. 2.5 setzt die Dimensionen einer entwicklungsförderlichen Interaktionsgestaltung in ein proportionales Verhältnis.

2.9  Zur Relevanz des elterlichen Erziehungsverhaltens

29

Abb. 2.4   Heuristiken für einen entwicklungsförderlichen Interaktionsstil: Verkürzte Darstellung

Abb. 2.5   Vier Dimensionen eines entwicklungsförderlichen Interaktionsstils im Verhältnis zueinander

2.9 Zur Relevanz des elterlichen Erziehungsverhaltens In der elterlichen Erziehung spielen Zuwendung, Liebe und Anforderungen und Erwartungen ebenfalls eine große Rolle, auch wenn hierfür sehr unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden. Die Forschung zu den Zusammenhängen zwischen den elterlichen Erziehungsmustern und der Selbstkonzeptentwicklung junger Menschen ist vielfältig und recht konsistent (Baumrind 1967; Maccoby und Martin 1983; Rohner 1986; Lamborn et al. 1991; Darling und Steinberg 1993;

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

Steinberg et al. 1994; Fletcher et al. 1995; Acquilino und Supple 2001; Steinberg 2001; Rubin et al. 2004; Deater-Deckard et al. 2006; Hipwell et al. 2008; Burt et al. 2013; Zhao et al. 2015; Wentzel 1990). Es wundert nicht, dass in der Literatur immer wieder angemerkt wird, dass Lehrer-/innen und Eltern sehr ähnliche Wirkungen auf Heranwachsende ausüben können (Wentzel 2002). Wärme, d. h. hohe Zuwendung und Unterstützung bei entwicklungsförderlichen Erwartungen, hängt zusammen mit positiven Entwicklungsverläufen von Heranwachsenden. Es entstehen Kompetenzen, die ein Selbstbild fördern, das eine Pufferfunktion gegen das Auftreten von Verhaltensproblemen einnimmt, zur Exploration anregt und also neugierig macht, eine Pufferfunktion gegen das Entstehen eines niedrigen Selbstwertes ausübt und das Risiko einer niedrig ausgeprägten Lebenszufriedenheit senkt. Welche Rolle Zuwendung spielen kann, soll an dieser Stelle kurz an Beispielen aus unserem Schülerhilfeprogramm illustriert werden. In diesem Programm werden ausgesuchte Kinder im Grundschulalter, in der Regel dritte Klasse, im Rahmen von engmaschig betreuten Patenschaften von Studierenden des Lehramts und der Sozialen Arbeit, über ein Schuljahr hinweg begleitet. In den 1:1 Treffen unternehmen die Studierenden einmal wöchentlich etwas

Abb. 2.6   Acht Interaktionsmuster, je nach Ausprägung von Kontrolle und Freundlichkeit. (Nach Brekelmans et al. 2005)

2.9  Zur Relevanz des elterlichen Erziehungsverhaltens

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Besonderes mit ihrem Kind: Sie gehen in den Streichelzoo, spielen Minigolf, basteln, legen Fotoalben an, rudern, schwimmen, backen, etc. Unsere Ergebnisse (Rückmeldungen von den Klassenlehrern/-innen und Eltern) zeigten wiederholt, dass die Kinder vor allem fröhlicher und aufgeschlossener werden. Einer der Nebeneffekte ist, dass sie, ohne dass dies geübt wurde, besser in den Hauptfächern Deutsch und Mathematik werden (Kuck et al. 2007; Maas et al. 2012). Hierzu muss man wissen, dass die Kinder deshalb in das Projekt aufgenommen werden, weil die Eltern aus unterschiedlichen Problemlagen heraus, mit den Kindern nichts außerhalb des eigenen Wohnviertels unternehmen. Langenkamp, selber Grundschullehrerin, untersuchte viele Jahre später die möglichen Langzeitwirkungen des Patenschaftsprogramms. Sie fand, dass einige der befragten, ehemaligen Kinder des Programms noch nach etlichen Jahren Kontakt zu den Paten/-innen hatten und dass viele der ehemaligen Kinder wichtige Inhalte, die sie gelernt hatten, nicht vergessen hatten, sondern als hilfreich empfanden (Langenkamp 2018). Langenkamp arbeitete in ihrer Dissertation heraus, wie man diese Zuwendung, die man in einer 1:1 Beziehung intensiv erreichen kann, mit einer ganzen Klasse realisieren kann. Sie verteilt ihre Zuwendung systematisch (mithilfe einer Liste) auf die Kinder ihrer Klasse; so bekommen jeden Tag 5–6

Abb. 2.7   Ein authoritatives Interaktionsmuster: Kontrolle und Freundlichkeit stehen in einem idealen Verhältnis zueinander. (Nach Brekelmans et al. 2005)

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2  Ein entwicklungsförderlicher Interaktionsstil …

Kinder in den Stillarbeitsphasen die Gelegenheit mit ihr alleine über bestimmte Anliegen zu sprechen. Durch viele außerunterrichtliche Gelegenheiten arbeitet sie systematisch an der Beziehung mit den Schülern/-innen, hier erwähnt sie die gemeinsame, bewertungsfreie Zeit im Schulgarten. Und schließlich hat sie mit den Kindern ein Regelsystem entworfen, welches ihnen verlässliche Strukturen des Miteinanders ermöglichen soll. Langenkamp erwähnt, dass sie mit der Arbeit an diesen drei Faktoren gut fährt und viele positive Erfahrungen mit den Kindern macht. Kontrolle ist auch in der elterlichen Erziehung ein zweischneidiges Schwert, d.  h. behaftet mit der Wahrscheinlichkeit, unerwünschte Nebeneffekte zu produzieren. Kontrolle kann, auch wenn sie notwendig ist, zu negativen Interaktionen führen. Hier sind Synergien zwischen Wärme und Kontrolle zu vermuten: Ohne Wärme wirkt Kontrolle negativer und weniger überzeugend, sodass die Wirkungen von Kontrolle sehr wahrscheinlich vom Vorliegen und der Ausprägung der Wärmedimension beeinflusst werden. In Abb. 2.6 wird versucht darzustellen wie wichtig die Ausprägungen der entwicklungsförderlichen Dimensionen für das Interaktionsmuster sind, das sich etablieren wird. In Abb. 2.7 wird der sogenannte authoritative Erziehungsstil illustriert, wie oben schon beschrieben, ein Begriff, der ausdrückt, wie ein ideales Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen aussehen kann.

Literatur Achermann, N., Pecorari, C., Winkler-Metzke, C., & Steinhausen, H. C. (2006). Schulklima und Schulumwelt in ihrer Bedeutung für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen – Einführung in die Thematik. In H. C. Steinhausen (Hrsg.), Schule und psychische Störungen (S. 15–37). Stuttgart: Kohlhammer. Aquilino, W. S., & Supple, A. J. (2001). Long-term effects of parenting practices during adolescence on well-being: Outcomes in young adulthood. Journal of Family Issue, 22(3), 289–308. Ariès, P. (1998). Geschichte der KIndheit. München: Dtv. Badinter, E. (1991). Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München: Dtv. Bauer, J. (2004). Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt: Eichborn. Baumrind, D. (1967). Child-care practices anteceding three patterns of preschool behavior Genetic. Psychology Monographs, 75(1), 43–88. Bettelheim, B. (1971). Liebe allein genügt nicht. Die Erziehung emotional gestörter Kinder. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Höflichkeit

Inhaltsverzeichnis 3.1 Definitionen von und Perspektiven auf Höflichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2 Höflichkeit in der Interaktion zwischen ­Lehrer/-innen und Schüler/-innen . . . . . . 43 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Höflichkeit ist eine Vorbedingung für alles Weitere. Wenn man sich mit anderen Menschen über höfliches Verhalten unterhält, stößt man häufig auf unterschiedliche Auffassungen davon, was als höflich empfunden wird. Was für den einen ein unbedingtes Muss ist, ist dem anderen nicht so wichtig. Eine entscheidende Rolle für diese Unterschiede spielen unsere Auffassungen darüber, welche Verhaltensweisen öffentlich gezeigt werden können und welche nicht und was die öffentliche Zurschaustellung von bestimmten Verhaltensweisen über den Charakter der Person aussagen würde, welche diese Verhaltensweisen zeigt. Das zeigt: Das, was als höflich gilt, ist das Verhandlungsresultat davon, was in einem sozialen Kontext als Konvention zu gelten hat und wie es zu bewerten sei, wenn diese Konvention gebrochen wird. Deswegen kann man Höflichkeit nicht einfach mit einer Art Knigge gleichsetzen, also einer Liste von Anstandsregeln, denn, was höflich und was unhöflich ist, hängt stark von dem Bewertungssystem des Gegenübers ab und vor allem von dessen Rigidität und Absolutheitsanspruch. Wärme als eine grundlegende Dimension einer wie eingangs definierten entwicklungsförderlichen Interaktionsgestaltung, also einer wichtigen positiven Dimension des Umgangs miteinander, hat als Vorbedingung, dass minimale Regeln von Höflichkeit gewahrt bleiben. Deswegen ist es wichtig, sich hiermit zu beschäftigen. Wärme kann sich unmöglich entfalten, wenn z. B. eine Lehrkraft als unhöflich von ihren Schüler/-innen wahrgenommen wird. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_3

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3 Höflichkeit

Höflichkeit findet in einem sozialen Kontext statt. An einem so öffentlichen Ort wie der Schule wird jedes Verhalten hundertfach bewertet: Wenn eine Lehrkraft sich unhöflich gegenüber einem Schüler oder einer Schülerin verhält oder andersherum, dann ist es nicht nur das unhöfliche Verhalten selbst, das als unhöflich empfunden wird, sondern es entsteht wahrscheinlich durch die soziale Tatsache, dass es Augenzeugen gibt eine nicht hilfreiche Dramaturgie durch unhöfliches Verhalten. Man kann unhöfliches Verhalten einem selbst gegenüber nicht auf sich sitzen lassen und schon beginnen Auseinandersetzungen, die oft nur das eine Ziel haben, sich von dem vermeintlich schlechten Bann des unhöflichen Verhaltens zu distanzieren, mit Hilfe von Sanktionen oder Gegenrede. Gesichtsherstellende und- wahrende Bestrebungen entstehen, Verletztheit zieht Rache nach sich, das Drama nimmt seinen Lauf. In diesem Kapitel wird es also keine dem Knigge ähnliche Liste geben, sondern eine Darstellung unterschiedlicher systematischer Perspektiven auf Höflichkeit, die anregen können, eigene Höflichkeitsauffassungen besser zu verstehen, möglicherweise auch neue Auffassungen hinzuzufügen. Zentrales Erkenntnisziel des Kapitels ist es, die eigene Höflichkeit nicht als Unterwerfung zu verstehen, sondern als die Anerkennung der anderen Person als bewusstes Wesen. Davon leitet sich auch eine wichtige Erkenntnis des Kapitels ab, die in Kap. 9 eine wesentliche Rolle spielen wird, nämlich, dass wir durchaus die Wahl haben, zu entscheiden wie wir mit unhöflichem Verhalten anderer Personen umgehen. Im Laufe des Bandes wird immer wieder die Frage aufgegriffen werden, von wem in der Schule dieser Mindeststandard gewahrt bleiben sollte. Höflichkeit ist der Mindeststandard interaktiven Verhaltens, der erreicht sein muss, damit sich konstruktive Beziehungen entwickeln können.

3.1 Definitionen von und Perspektiven auf Höflichkeit Es gibt keine umfassende Definition, welche die verschiedenen Aspekte der Bedeutung von Höflichkeit in sich vereinen würde. Viel nützlicher ist es, sich zu merken, dass die Abgrenzung von Höflichkeit zu Begriffen wie Respekt, Takt, und Zivilisierung wichtig ist. Höflichkeit ist also z. B. nicht mit Respekt gleichzusetzen. Es wird in Anlehnung an Fraser (1990) folgende Arbeitsdefinition vorgeschlagen: Was wir in einer normalen Interaktion als höfliches oder unhöfliches Verhalten ansehen, ist Gegenstand unmittelbarer, einzigartiger kontextueller und verhandelbarer Faktoren und kann nicht interessant kodifiziert werden. In anderen

3.1  Definitionen von und Perspektiven auf Höflichkeit

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Worten: Es gibt nicht die Höflichkeit, sondern sie entsteht durch Bedeutungszusammenhänge, die es zu verstehen gilt. Höflichkeit kann also nicht einfach definiert werden. Die folgenden Perspektiven auf Höflichkeit zeigen, dass Höflichkeit komplex ist (Goffman 1967, 1971; Lakoff 1973; Grice 1975; Fraser und Nolen 1981; Brown und Levison 1987; Fraser 1990; Locher und Watts 2005; Burdelski 2010; Artamonova 2018). Sie werden im Folgenden dargestellt und durch konkrete beispielhafte Indikatoren in Abb. 3.1 und im Überblick illustriert. Auf Höflichkeit kann vor dem Hintergrund bestehender sozialer Normen geblickt werden. Im Original wird diese Perspektive als the social-norm view of politeness bezeichnet (Fraser 1990). Es wird angenommen, dass jede Gesellschaft ein bestimmtes Set sozialer Normen und Regeln mehr oder weniger ausdrücklich vorschreibt, also bestimmte Verhaltensweisen, Denkweisen und Umgangsweisen in bestimmten Kontexten als angemessen bewertet. Höflichkeit, als positive Bewertung, wird wahrgenommen, wenn eine Handlung in Übereinstimmung mit der geltenden Norm ist. Eine negative Bewertung, Unhöflichkeit, gleichbedeutend mit Grobheit, wird vorgenommen, wenn die Handlung der Norm zuwiderläuft. Eine Perspektive, die sich auf Formen der Konversation bezieht, im Original the conversational-maxim perspective, weist darauf hin, dass Gesprächsakte, gemessen an den eigentlichen Zielen des Gesprächs, häufig redundante Inhalte beinhalten (Grice 1975). Ein Grund hierfür ist, dass die impliziten Regeln eines Gesprächs angewendet werden, die darauf abzielen, den Gesprächspartner sich gut fühlen zu lassen. Gemäß eines Kooperationsprinzips sagen wir dann, was wir zu sagen haben, wenn wir es sagen sollen und wie wir es sagen können. Höflichkeit hat aus einer weiteren Perspektive eine Gesicht wahrende Funktion, im Original the face-saving view (Goffman 1967; Brown und Levinson 1987). Face, ein Gesicht, ist ein öffentliches Selbstbild, das jede Person für sich wahren möchte und dass sie bei Bedrohung verteidigt. Die das Gesicht wahrenden Bedürfnisse schließen den Wunsch nach Anerkennung ein, also ein

Abb. 3.1   Indikatoren für bestimmte Formen von Höflichkeit

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3 Höflichkeit

positives Gesicht zu bekommen (positive face want) und den Wunsch, nicht beschädigt zu werden (negative face want). Personen versuchen das Gesicht der anderen Personen zu wahren und wollen im Gegenzug ihr Gesicht gewahrt wissen. Da jede soziale Interaktion potenziell gefährlich für das eigene Gesicht ist, wird angenommen, dass die Gefahr der Interaktion durch positive Höflichkeit ständig gemildert wird. Aus einer Perspektive, welche Gespräche innerhalb bestimmter Vertragsregeln betrachtet (Fraser 1990; Fraser und Nolan 1981), im Original the ­conversational-contract view, wird Höflichkeit als eindeutig kontextgebundenes Verhalten betrachtet. Personen verhalten sich nicht höflich, um den anderen sich gut fühlen zu lassen oder zu vermeiden, dass der Andere sich schlecht fühlt, sondern weil bestimmte Verhaltensweisen in einem bestimmten Vertragskontext so verlangt werden und eine Verletzung dieses Vertrages die Zuschreibung von Unhöflichkeit nach sich ziehen würde. Unhöflichkeit schwächt gute Argumente, Höflichkeit kann schlechte Argumente kaschieren. Unhöfliches Verhalten wird manchmal schön geredet: Es sei direkt und damit authentisch. Die gleichen Inhalte könnten aber auch auf eine Art und Weise dargeboten werden, die andere Menschen nicht vor den Kopf stößt. Unhöfliches Verhalten weist nicht direkt auf gute Intentionen hin. Höfliches Verhalten ist wiederum kein Garant für gute Intentionen, sondern letztendlich nur ein Symbol, mit dem man dem Gesprächspartner signalisiert, dass man sich an die angenommenen Standards der Höflichkeit hält. Höflichkeit eröffnet zunächst nur eine Interaktion bzw. Kommunikation und erzeugt bei dem Gegenüber nicht direkt eine Abwehr und den Wunsch nach Distanz. Insofern ist sie die grundlegende Voraussetzung für eine konstruktive Interaktion. Die Relativität von Höflichkeit ist eine wichtige Eigenschaft von Höflichkeit: In unterschiedlichen Kontexten kann eine Verhaltensweise als höflich oder unhöflich gelten. Höflichkeitsindikatoren aus verschiedenen Perspektiven • Höflichkeit und soziale Normen – the social-norm view of politeness – Gute Manieren, zum Beispiel: ein bestimmter Sprechstil, je korrekter und formaler, desto höflicher. • Formen der Konversation – the conversational-maxim perspective. Nach Grice gelten drei Regeln in Gesprächen, wobei alle Regeln auch der dritten Regel dienen: – Sich nicht aufdrängen (im Kontext sowohl formeller als auch informeller Höflichkeit)

3.2  Höflichkeit in der Interaktion zwischen Lehrer/-innen …

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– Gebe Optionen (im Kontext informeller Höflichkeit) – Vermittle ein gutes Gefühl (wenn eine persönliche Höflichkeit erforderlich ist) • Höflichkeit als Gesichtswahrung – the face-saving view – Bedrohliche Handlungen für das Gesicht der zuhörenden Person; Negative Face: anordnen, beraten, drohen, warnen; Positive Face: beschweren, kritisieren, widersprechen, Tabuthemen – Bedrohliche Handlungen für das Gesicht der sprechenden Person; Negative Face: ein Angebot annehmen, einen Dank annehmen, ein unwillig gegebenes Versprechen; Positive Face: entschuldigen, Komplimente annehmen, etwas gestehen. • Höflichkeit als Einhalten der Vertragsregeln eines Gesprächs – the conversational-contract view – Sprache, Sätze, Verhaltensweisen sind nicht aus sich selbst heraus höflich oder unhöflich, sondern gehorchen den Verpflichtungen im Sinne der Regeln gegenseitigen Respekts eines Kontextes. • Forschung zu sozialen Hinweisreizen – die Untersuchungen hierzu zeigen Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung einer Person, hier dargestellt in schwächer werdender Reihenfolge, – als höflich und Dankbarkeit, Respekt, Indirektheit, Gefälligkeit, counterfactual modal, Grüßen, Entschuldigen. – als unhöflich und Direktheit, Faktizität, direkte Fragen, negative Begriffe.

Dass diese Perspektiven sehr unterschiedliche Aspekte von Höflichkeit thematisieren, ist an den jeweiligen Beispielen sehr gut zu erkennen (Goffman 1967, 1971; Lakoff 1973; Grice 1975; Fraser und Nolen 1981; Brown und Levinson 1987; Fraser 1990; Locher und Watts 2005; Schneider et al. 2015).

3.2 Höflichkeit in der Interaktion zwischen ­Lehrer/innen und Schüler/-innen Wenn unhöfliches Verhalten eines Lehrers bzw. einer Lehrerin zum Erfolg führt, dann kann es so aussehen, dass z. B. der Schüler dieses unhöfliche Verhalten gebraucht hat, um eine Einsicht zu bekommen. „Muss ich dich denn erst anschreien, unfreundlich werden, etc., damit du hörst“, heißt es dann. Wenn ein

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3 Höflichkeit

Schüler ruhig im Unterricht wird, weil er zuvor unhöflich behandelt wurde, ist das allerdings kein Gewinn, wenn wir uns das Telos der Schule vergegenwärtigen (siehe Abschn. 1.6 dieses Bandes), sondern einfach nur Ausdruck von Autoritätshörigkeit oder Angst. Der Stärkere hat gewonnen (Welling und Steins 2010). Die Schule und das Klassenzimmer sollten aber Orte sein, an denen Schüler und Schülerinnen sicher sein können, höflich behandelt zu werden. Von Schülern/-innen werden im Alltag verschiedene Formen von Höflichkeit verlangt, die Lehrkräfte ihnen umgekehrt nicht schulden. Ganz im Gegenteil neigen manche Lehrkräfte dazu, ihr Vorrecht kraft ihrer legitimen Rolle dadurch zu sichern, dass sie genau das machen, was die Schüler/-innen gar nicht dürfen. Solche Verhaltensweisen reichen von „Mit dem Handy im Unterricht telefonieren“ (im Vergleich mit den Schüler/-innen glaubt man, immer erreichbar sein zu müssen und das durchsetzen zu können) bis „Kaugummi kauen“ (im Vergleich mit den Schüler/-innen glaubt man, dies legitimer Weise tun zu dürfen, da man so viel reden muss). Hier lassen sich viele weitere Beispiele für solche Normasymmetrien aufzählen, die Verhaltensweisen salonfähig machen, die für die Schüler/-innen verboten sind. Solch ein Verhalten ist nicht vorbildhaft und es ist nach den oben beschriebenen Auffassungen von Höflichkeit unhöflich und schafft also schlechte Bedingungen für die Gestaltung entwicklungsförderlicher Interaktionen. In den Abb. 3.2 und 3.3 sind einige Beispiele für höfliches Verhalten in verschiedenen Situationen aus unterschiedlichen Höflichkeitsperspektiven dargestellt. Die Beispiele verdeutlichen die Asymmetrie der Höflichkeitserwartungen. Wichtig ist die Erkenntnis: Höfliches Verhalten der Lehrkraft ist eine Vorbedingung für die Gestaltung entwicklungsförderlicher Interaktionen.

Abb. 3.2    Beispiele für höfliches Verhalten von Lehrkräften in unterschiedlichen Situationen

Literatur

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Abb. 3.3   Beispiele für höfliches Verhalten von Schüler*innen in unterschiedlichen Situationen

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Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

Inhaltsverzeichnis 4.1 Entstehung von Freundlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.2 Bezeichnungen für die Wärmedimension in der Interaktion zwischen Lehrer/-innen und ­­Schüler/-innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.3 Wärme in der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.4 Was ist Unterstützung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.5 Für wen ist Freundlichkeit und Wärme gut?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.6 Eigenschaften von Wärme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Höflichkeit ist also eine notwendige Grundlage für die Entstehung einer freundlichen Beziehung. Aber was bedeutet es, freundlich zu sein, insbesondere in Bezug auf das Lehrer/-innen/Schüler/-innen/Verhältnis? In diesem Kapitel wird herausgearbeitet, wie Freundlichkeit als eine warme zwischenmenschliche Dimension, zustande kommt und wie Freundlichkeit konkret in der Schule aussieht. Warum die Heuristik, so viel Freundlichkeit und Wärme wie möglich, plausibel ist, wird anhand zentraler Argumente erläutert. Das Kapitel schließt mit einer Reflexion über eine kritische Eigenschaft von Wärme, die zeigt, wie wichtig es ist, freundliches Verhalten als Standard in Berufen, in denen sie wichtig ist, zu erlernen. Denn freundliches Verhalten, das Wärme erzeugt, ist ein Auftrieb, eine Motivationsquelle und macht einen Ort anziehend. Freundlichkeit und Wärme können als Grundlage des Gedeihens betrachtet werden. 1960 schreibt Elizabeth Bradburn, eine englische Lehrerin folgendes in einem Fachzeitschriftenbeitrag (eigene Übersetzung): In erzieherischen Handlungsfeldern sind gute Beziehungen zwischen Zuhause und Schule wichtig und Freundlichkeit zwischen den Personen innerhalb der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_4

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4  Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

Schule beeinflusst die Entwicklung der Kinder. Persönliche Beziehungen sind das Herz der Erziehung (are the heart of education): Intellektuelle Entwicklung, plötzliche Einsichten, Inspiration entstehen bekanntermaßen häufig durch diejenigen Menschen, deren Wärme und Großzügigkeit sich überträgt, wenn sie ihr Fach unterrichten. (…) Darum sind gute Beziehungen essenziell für eine persönliche Entwicklung und für das Zusammenleben sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene; es würde vernünftig sein, anzunehmen, dass Schulen die Entwicklung freundlicher Beziehungen als ein bewusstes und wichtiges Ziel akzeptieren und dass die Forschung Wege und Mittel untersucht, gute Beziehungen zu fördern und deren Ergebnisse zu untersuchen. (…) Die Zukunft der Zivilisation hängt nicht so sehr von besseren Schulgebäuden oder wissenschaftlichen Erfindungen ab als von besseren menschlichen Beziehungen. Während wir Lehrer uns für die Haltungen, welche die Kinder mit zur Schule bringen, nicht verantwortlich fühlen, können wir nicht gleichgültig gegenüber den Haltungen bleiben, welche sie aus der Schule mitnehmen.“ (Bradburn 1960, S. 123–124). Dass Freundlichkeit wichtig im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist, wird an dem Text von Elizabeth Bradburn deutlich. Ihre Sicht auf Beziehungsgestaltung wird von zahlreichen disziplinären Perspektiven geteilt. So z. B. wird die Wichtigkeit von Beziehungsarbeit ebenfalls von dem Soziologen Norbert Elias betont. Elias weist darauf hin, dass soziale Umgangsformen auch in modernen Gesellschaften dem technischen Fortschritt hinterherhinken (Elias 2003).

4.1 Entstehung von Freundlichkeit Freundliches Verhalten ist mit einem bestimmten emotionalen Zustand verbunden. Wie Gefühle entstehen und wie man sie bis zu einem gewissen Grad selbst beeinflussen kann, ist ein Thema, das weit bis in die Antike zurückgeht; die Schriften von Epikur und Seneca sind Beispiele hierfür. Heute sprechen wir von Selbstregulation, damals war es die Sorge um sich selbst. Das lebendige Interesse von Menschen an diesem Thema liegt sicher daran, dass wir genau wissen, wie sehr negative und intensive Emotionen uns und unserer Umwelt schaden können. Sorge um sich selbst besteht darin, dieser Verantwortung gerecht zu werden, den Schaden zu begrenzen und die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, nicht aber so, wie sie sich spontan anfühlen. Heute sind z. B. die Schriften von beispielsweise Seneca wieder populär geworden, der sich ganz explizit um einen guten Umgang mit Ärger Gedanken machte, De ira, (Wildberger und Seneca 2007),

4.1  Entstehung von Freundlichkeit

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eine Emotion, die nachweislich freundlichem Verhalten im Wege steht (Steins 2014). Senecas Abhandlungen über Ärger und auch Güte, De clementia (Büchner und Seneca 1992), die sich im Zustand des Ärgers nicht einstellen wird, zeigen, wie hilfreich es sein kann, seine Gedanken zu kennen, sie prüfen und in Relation zur Wirklichkeit setzen zu können, um zu einer wirklichkeitskongruenteren Einstellung und einem breiteren Verhaltensrepertoire kommen zu können. Freundliches Verhalten kann dann nicht gezeigt werden, wenn wir negative intensive Emotionen verspüren (Haep et al 2017; Forsyth 2019). Diese kommen wiederkehrend zustande, wenn wir wirklichkeitsinkongruente Vorstellungen von uns, anderen und der Welt haben: Einstellungen, Bewertungen, Interpretationen beziehen sich auf diese drei Entitäten unseres Lebens (siehe Abb. 4.1). Wirklichkeitsinkongruente Vorstellungen sind z. B. nach Ellis (1994) durch absolutistische Forderungen charakterisiert, welche sich sprachlich meistens durch Schlüsselwörter wie MÜSSEN, DÜRFEN, SOLLTEN, UNBEDINGT identifizieren lassen. Absolutistische Forderungen an sich selbst (siehe Abb. 4.2), an andere (siehe Abb. 4.3), an die Welt (siehe Abb. 4.4) gehen Hand in Hand mit negativen und intensiven Emotionen (siehe Abb. 4.5), welche alles in allem einen wirklichkeitsinkongruenten Stress erzeugen. Stehen wir jedoch unter Stress, ist unser Verhaltensrepertoire eingeschränkt, wenig kreativ und unhöfliches sowie unfreundliches Verhalten wahrscheinlicher als das gegenteilige Verhalten.

Abb. 4.1   Drei Entitäten des Bewertungssystems einer Person

Abb. 4.2   Beispiele für absolute Forderungen an sich selbst

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4  Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

Abb. 4.3   Beispiele für absolute Forderungen an andere Personen

Abb. 4.4   Beispiele für absolute Forderungen an die Welt

Glücklicherweise ist das Bewertungssystem von Menschen fluide und plastisch. Menschen können es regulieren; allerdings ist die Regulation der eigenen Emotionen eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss (Bitan et al. 2013, Haep et al 2017). Da Menschen beeinflussbar und selbstsuggestibel sind, reagieren viele Menschen auf Stress mit Anspannung (Lewin 1951). So wird es wahrscheinlich, dass genau dann, wenn eigentlich kreative Lösungen und Humor hilfreich wären, dieser nicht gezeigt werden kann, denn humorvoll und kreativ sind wir eher, wenn wir entspannt sind (Haager und Baudson 2019). Freundlichkeit setzt also einen bestimmten emotionalen Modus und bestimmte Inhalte des Bewertungssystems voraus. Sie wird eher ermöglicht, wenn wir relativ gelassen sind und auch angesichts von sozialen Herausforderungen, wie z. B. einer wahrgenommenen Respektlosigkeit eines Schülers, ruhig bleiben können.

Abb. 4.5   Emotionale Folgen von absoluten Forderungen in den drei Entitäten Selbst, andere Personen, Welt

4.2  Bezeichnungen für die Wärmedimension in der Interaktion zwischen …

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4.2 Bezeichnungen für die Wärmedimension in der Interaktion zwischen Lehrer/-innen und Schüler/­­ innen Freundlichkeit und Wärme sind assoziativ eng verknüpft (Asch 1946). Was nun ist mit Wärme im Lehrer/-innen/Schüler/-innen/Verhältnis gemeint? Wärme bezeichnet sozial-emotionale Qualitäten der Lehrer/-innen-Schüler/-innen Interaktion. Im Deutschen sprechen wir von Zuwendung, Zugänglichkeit oder Freundlichkeit. Mit Wärme kann verschwenderisch umgegangen werden: Je mehr, desto besser. Die folgenden Begriffe umschreiben die Wärmedimension und man sieht an der Begriffswahl, dass, je nach Perspektive, unterschiedliche Facetten dieser Dimension fokussiert werden: Personal Involvement, Warmth, Support (social, emotional, institutional), Empathy, Encouragement, Responsivität, Caring, Trust (Voelkl 1995; McDonald Connor et al 2005; Friedmann 2006; Cornelius-White 2007; Ly et al. 2012; Phillippo und Stone 2013; Wang et al. 2013). Wie könnte man die Wärmedimension beobachten? Einige konkrete Verhaltensweisen werden in diesem Zusammenhang genannt und wurden untersucht (Stanton Salazar 2005; Stanton Salazar und Spina 2005; Wentzel 2002; Herrero et al. 2006; Masten 2001; Masten und Shaffer 2006; Lopez 2012; Stronge et al. 2011; Zee et al. 2013). Sie unterteilen sich in allgemeine und besondere Attribute von Verhalten. Abb. 4.6 stellt einige Beispiele für diese Attribute zusammen.

Abb. 4.6   Beispiele für allgemeine und besondere Attribute von Verhalten, die Wärme erzeugen

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4  Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

4.3 Wärme in der elterlichen Erziehung In seiner PART (Parental acceptance – rejection theory, übersetzt: Theorie elterlicher Akzeptanz-Zurückweisung) verarbeitete Rohner (1986) seine sich über 25 Jahre erstreckende Forschung in unterschiedlichen Kulturen. Elterliche Wärme sieht er als ein Kontinuum sozialisierender Verhaltensweisen, das von elterlicher Akzeptanz bis hin zu elterlicher Zurückweisung reicht. Elterliche Wärme drückt sich durch akzeptierendes Verhalten aus, wie z. B. küssen, umarmen, streicheln und durch verbale Äußerungen, wie z. B. loben, nette Dinge sagen. Elterliche Zurückweisung drückt sich durch drei Komponenten aus. • Feindseligkeit, physisch: schlagen, schubsen, treten, kratzen usw.; verbal: verfluchen, Sarkasmus, gemeine Dinge sagen, klein machen, • Vernachlässigung: den Bedürfnissen des Kindes wird keine Aufmerksamkeit geschenkt, • Undifferenzierte Zurückweisung, die sich in der Wahrnehmung des Kindes niederschlägt, nicht geliebt und geschätzt zu werden. Elterliche Zurückweisung bewirkt bei Kindern wahrscheinlicher eine negative Selbstbewertung, eine negative Weltsicht, emotionale Instabilität, emotionale Empfindlichkeit, Feindseligkeit und Aggression sowie die Abhängigkeit von anderen Menschen. Die Befunde von Rohner sind auch für Lehrkräfte wichtig. Denn sie zeigen, dass man als Erwachsener gut daran tut, sich vor Augen zu führen, welche Gesten der Zurückweisung man jungen Menschen gegenüber demonstriert. Viele dieser Gesten sind Erwachsenen nicht bewusst, sie wirken aber auf junge Menschen verunsichernd. Beispiel

Im Schulkontext gibt es einige Gelegenheiten, bei denen Eltern mit Lehrkräften über ihr Kind sprechen können. Obwohl sich sicher viele Eltern als Anwälte ihrer Kinder begreifen und mitunter auch berechtigte Kritik nicht annehmen können, gibt es auch Eltern, die ihr Kind regelrecht schlecht machen, selbst dann, wenn es daneben sitzt. Generalisierende, negative Zuschreibungen wie „Das hat er von seinem Vater!“, „Der interessiert sich für gar nichts!“ oder „Die ist auch zu Hause so eine Zicke!“, illustrieren wie die Eltern wahrscheinlich die meiste Zeit mit dem Kind umgehen und dass

4.4  Was ist Unterstützung?

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sie es in seiner Entwicklung keinesfalls vorbehaltlos positiv unterstützen. Lehrkräfte können solche negativen Aussagen, Rohner würde sagen Zurückweisungen, relativieren, indem sie ihrerseits positive Aspekte des Kindes in das Gespräch einbringen. „Dann hat er wohl auch die guten Seiten von seinem Vater? Er ist wirklich ein besonders aufmerksamer Schüler in Erdkunde“, „So nehme ich ihn überhaupt nicht wahr – ganz im Gegenteil, er interessiert sich sehr für Sport!“, „Sie hat neulich einer Freundin vorbildlich bei einer Aufgabe geholfen und es von sich aus sehr gut erklärt.“ sind Möglichkeiten, den Eltern eine andere Perspektive auf das Kind zu zeigen. Es ist sicherlich nicht zielführend, Eltern darüber zu belehren, aber es selber anders zu machen, kann die Atmosphäre positiv beeinflussen. ◄

4.4 Was ist Unterstützung? Unterstützung ist ein Schlüsselbegriff, der im Zusammenhang mit Wärme häufig erwähnt wird. Ertesvag (2009, 2016) stellt verschiedene Formen von Unterstützung zusammen, die eine Lehrkraft leisten kann. Sie unterscheidet zwischen emotionaler Unterstützung, Monitoring und Unterstützung durch Instruktion (siehe auch Steins 2008). Emotionale Unterstützung beinhaltet eine Sorge um das Klassenklima, also den freundlichen Umgang der Schüler/-innen untereinander, aber auch der Lehrkräfte mit den Schülern/-innen. Ertesvag weist auf die Untersuchungen hin, die zeigen, dass diese Art emotionaler Unterstützung für alle Schüler/-innen gleichermaßen bedeutsam ist. Fälschlicherweise wird häufig angenommen, dass nur jüngere Schüler/-innen emotionale Unterstützung nötig hätten. Emotionale Unterstützung ist aber auch für ältere Schüler/-innen wichtig. Man kann sich selber vergegenwärtigen, wie wichtig auch für Erwachsene das Klima am Arbeitsplatz ist und versteht dann, dass es für Jugendliche, die oft in einer besonders sensiblen Phase ihrer Entwicklung sind, mindestens ebenso bedeutsam ist. Mit Monitoring ist nicht Überwachung gemeint, sondern es sind hiermit die organisationalen Strukturen gemeint, die im Klassenzimmer etabliert werden. Lehrkräfte unterstützen durch Monitoring die Schüler/-innen in ihren Lernprozessen, wenn sie die Zeit gut organisieren und einen Überblick über das haben, was im Klassenzimmer vor sich geht. So können sie unerwünschten Verhaltensweisen vorbeugen und, wenn sie auftreten, schnell und gezielt daran arbeiten, dass diese minimiert werden. Monitoring ist ein wichtiger Aspekt des Classroom Managements (Steins et al. 2018).

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Folgendes Beispiel zeigt, wie ein guter Überblick der Lehrkraft über die Klasse Ungerechtigkeiten und bestimmte Formen des Bullying verhindern kann: Würde die Lehrkraft als zugänglich wahrgenommen werden, würde sie einen großen Schutzfaktor darstellen. So jedoch muss Maria es hinnehmen, dass sie ungerecht behandelt wird; Katja und Luise lernen, dass ein solches Verhalten stillschweigend geduldet wird. Die Lehrkraft ist sich nicht der Tatsache bewußt, dass sie durch ihr unzugängliches Verhalten dafür sorgt, dass sich in der Klasse anti-soziale Normen verstärken. Beispiel

Maria, Katja und Luise sollen zusammen in einer mehrwöchigen Gruppenarbeit aus Pappmaché einen Obstkorb basteln. Es wird sowohl der individuelle Beitrag sowie die Gruppenleistung bewertet. Maria beweist großes Geschick und kann sehr schnell schöne Früchte aus Pappmaché herstellen. Katja bemüht sich, kommt aber nicht so schnell voran. Luise engagiert sich gar nicht. Nach jeder Stunde packen die Mädchen ihre Früchte an einen bestimmten Ort in ein Fach. Immer wenn sie wieder daran arbeiten, nimmt sich Luise die Früchte von Maria und behauptet, dass es ihre seien, malt sie nach ihrem Geschmack an und zeigt sie der Lehrerin. Maria muss immer wieder von vorne anfangen. Katja ist das egal, sie findet es eher lustig. Maria traut sich nicht zu ihrer Kunstlehrerin zu gehen. Sie hat schon mehrfach beobachtet, wie sie auf die psychischen Nöte anderer Mitschüler/innen abweisend reagiert hat, mit den Worten, dass sie das selber regeln und sich nicht so anstellen sollen. ◄ Unterstützung durch Instruktion ist gegeben, wenn Schüler/-innen verständliche und weiterführende Anweisungen erhalten und zwar nicht nur in Bezug auf inhaltliche und fachliche Aufgaben, sondern auch auf soziale und emotionale Aspekte des Miteinanders. Wenn Schüler/-innen verstehen, warum sie was tun sollten, sind bereits häufige Quellen von Unruhe vermieden.

4.5 Für wen ist Freundlichkeit und Wärme gut? 4.5.1 Freundlichkeit beeinflusst die Quelle der Freundlichkeit selbst In ihrem Buch der Gefühle beschreibt Watt-Smith (2017) den „Warm Glow“ (S. 335), der empfunden wird, wenn man selber freundlich ist oder/und wenn

4.5  Für wen ist Freundlichkeit und Wärme gut?

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wir jemandem geholfen haben. Warm Glow kann man als warmes Leuchten oder auch wohlige Wärme übersetzen. Watt Smith arbeitet hierzu folgendes heraus: Ob wir etwas geben oder bekommen scheint sich in unserem mesolimbischen System in gleicher Weise widerzuspiegeln. Dieser emotionale Zustand ist neurobiologisch nachgewiesen, wird aber in der englischen und deutschen Sprache nicht durch einen treffenden Begriff sprachlich gefasst; wir haben also kein Wort für eine Empfindung, die durchaus eine physische Grundlage hat und einen Aspekt unseres emotionalen Erlebens darstellt. Die Autorin vermutet, dass unsere Kultur immer noch von einer von Calvin beeinflussten Definition einer christlichen Pflicht beeinflusst sei, sich zu bemühen, unsere eigentlich schlechte Natur zu überwinden; dem liegt der Glaube zugrunde, dass uns Freundlichkeit von Natur aus schwer fällt und wir uns also gegen unsere Natur verhalten müssen, um freundlich sein zu können. Zweig zitiert in seinem Werk über Calvin folgende Worte von Calvin, die diesen Aspekt europäisch-christlicher Tradition verdeutlichen (Zweig 1936, S. 56): Blickt man den Menschen nur auf seine natürlichen Gaben hin an, so findet man an ihm vom Scheitel des Kopfes bis zur Sohle des Fußes nicht die geringste Lichtspur des Guten. Alles, was in ihm noch ein wenig lobenswert ist, kommt von der Gnade Gottes […] All unsere Gerechtigkeit ist Ungerechtigkeit, unser Verdienst Dreck, unser Ruhm Schande. Und die besten Dinge, die aus uns entstehen, sind noch immer verseucht und lasterhaft gemacht durch die Unreine des Fleisches und mit Schmutz vermengt. Watt-Smith weist darauf hin, dass diese Art und Weise, auf den Menschen zu blicken möglicherweise auch mit dafür verantwortlich ist, dass Freundlichkeit nicht als ein natürlicher Ausdruck des Menschen gesehen wird, sondern eher als eine Art Pflicht (Watt-Smith 2017, S. 335–336): Vielleicht lässt sich dieser blinde Fleck in der englischen (und deutschen) Sprache auf ein Unbehagen an der Vorstellung zurückführen, dass Freundlichkeit überhaupt Freude machen könnte. Der Gedanke, dass Menschen von Natur aus egoistisch sind, ist in der westlichen Kultur fest verankert. […] es ist irgendwie merkwürdig erleichternd, dass das Vergnügen biologisch unvermeidlich ist, eine Art „Belohnung der Natur“ für ein Verhalten, das dem Überleben unserer Art dient. Vielleicht verändert dieses Wissen im Lauf der Zeit unser Denken so stark, dass wir eines Tages vergessen haben, dass Freundlichkeit jemals als Pflicht galt, und sie nur noch als Vergnügen genießen. Und vielleicht tauchen im Gefolge davon bald weitere Begriffe für das warm glow, das wir verspüren, auf.

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4  Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

4.5.2 Freundlichkeit beeinflusst die Empfänger Wie oben bereits angemerkt, ist Freundlichkeit altersunabhängig entwicklungsförderlich für die Empfänger (Ertesvag 2016). Menschen neigen aber dazu, nur zu sehr jungen Kindern freundlich zu sein und diese Freundlichkeit und Zuwendung dann mit steigendem Alter der jungen Menschen zu reduzieren. Für jüngere Kinder, die älter wirken als sie sind, kann das zu Nachteilen führen, aber auch für jüngere Kinder, die nicht in das Bild des süßen jungen Kindes passen. Dazu kommt, dass Menschen dazu neigen, Personen, die als unfreundlich oder gar aggressiv wahrgenommen werden, unfreundlich zu begegnen (Friedman 2006). Gerade aber Kinder und Jugendliche, die sich selber nicht gut regulieren können und deshalb auch unhöfliches Verhalten zeigen, profitieren besonders stark von einer freundlichen Zuwendung (siehe Abschn. 2.3). Durch freundliche Zuwendung lernen sie auch ihren eigenen moralischen Kompass anders auszurichten (Díaz-Aguado Jalón und Martínez Arias 2013). Freundlichkeit von Lehrkräften richtet die Normen des Miteinanders positiv aus. Ein Hinweis dafür ist die Forschung zum Bullying. Hughes und Im (2016) stellten zum Beispiel in ihren Untersuchungen im Grundschulbereich fest, dass freundliches und zugewandtes Verhalten der Lehrkräfte mit einer geringeren Auftretenshäufigkeit von Außenseitern einherging. Hierbei war ein unfreundliches Verhalten besonders stark negativ wirksam: Unfreundliches Verhalten von Lehrkräften im Klassenzimmer erhöht die Wahrscheinlichkeit von Stigmatisierungsprozessen unter den Schüler/-innen und nachweislich das Aufkommen von Bullying. Der moralische Kompass der Schüler/-innen wird vom Verhalten der Lehrkräfte beeinflusst (Roland und Steins 2019). Wenn Lehrer/-innen sich einer Klasse gegenüber warm verhalten und weniger Konflikte mit ihr haben, dann ist also die Wahrscheinlichkeit, dass es Außenseiter gibt, weniger hoch (Hughes und Im 2016). Vor allem wirkt hier, dass ­Schüler/-innen, welche von Lehrkräften unfreundlich behandelt werden, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch von ihren Mitschülern/-innen unfreundlich behandelt werden. Diese Schüler/-innen stehen also wahrscheinlicher nicht nur in einer negativen Beziehung zur Lehrkraft, sondern auch zu ihren Mitschüler/-innen, damit wiederum ist die Wahrscheinlichkeit von Bullying erhöht. Wenn sich Lehrkräfte also durch ihr eigenes Verhalten nicht an Normen des freundlichen Umgangs miteinander halten, mindern sie deren Wert (siehe Beispiel Abschn. 4.4). Unfreundliches Verhalten wiederum zieht weitere negative Emotionen nach sich (siehe Abb. 4.7). Deshalb, so schlussfolgern Díaz-Aguado Jalón und Martínez Arias (2013) sind Präventionsprogramme

4.6  Eigenschaften von Wärme

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Abb. 4.7   Freundlichkeit zieht weitere warme Emotionen nach sich; das Gegenteil gilt auch: Der Versuch einer Illustration

gegen Bullying nur nützlich, wenn Lehrkräfte durch diese Programme lernen, entwicklungsförderliche Interaktionen mit allen Schülern/-innen zu entwickeln.

4.6 Eigenschaften von Wärme Es ist schwieriger auf Dauer warm als auf Dauer kompetent zu wirken. Zugänglich, warm und freundlich zu wirken kann viel leichter durch Verstellung erreicht werden als kompetent zu wirken. Wenn man sich also einmal unfreundlich verhält, dann kann das als ein Beweis für Verstellung interpretiert werden: In Wirklichkeit war man also immer unfreundlich gewesen; das wahre Gesicht kommt zum Vorschein. Wenn man einmal etwas nicht weiß, kann man das immer nachholen und mit neuer Kompetenz verbinden, denn man kann nicht immer alles wissen (Sigall und Aronson 1967). Woran liegt das? Durch Freundlichkeit signalisiert man dem Gegenüber eine Wertschätzung und das Gegenüber erhält ein positives Gesicht, sein Selbstwert ist gesichert, die Beziehung ist gesichert. Durch Unfreundlichkeit ist all dies in Gefahr. Es entsteht ein Verlustgefühl. Umgekehrt entsteht ein großes Gewinngefühl, wenn man plötzlich von jemandem gut behandelt wird, der zuvor eher distanziert war. Was bedeutet das für die Schule? Die Forschung zeigt ebenfalls, dass eine konstante freundliche Behandlung als belohnend erlebt wird. Hier gilt es, in längeren Zeiträumen zu denken und zu fokussieren, wozu Schule da

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4  Freundlichkeit und Wärme: So viel wie möglich

Abb. 4.8   Freundlichkeit und Sympathie

ist. Eine konstante freundliche Zuwendung minimiert das Risiko, gerade die ­Schüler/-innen nicht zu erreichen, die diese Zuwendung am nötigsten brauchen. Also nicht mit Freundlichkeit bis Weihnachten sparsam umgehen, um sie dann als Belohnung einzusetzen, sondern sich einen konstanten freundlichen Stil zu Eigen machen, wäre im Sinne des Telos von Schule. Abb. 4.8 zeigt die Ergebnisse einer frühen Untersuchung von Sigall und Aronson (1967) zu der Frage, ob sich ein Kontrasteffekt auszahlt, also es besser ist, erst sehr unnahbar zu sein und dann freundlich zu werden. Wie die Ergebnisse zeigten, wächst die Sympathie im letzten Fall durchaus proportional stärker an; umgekehrt wird es wenig verziehen, wenn man freundlich beginnt und dann unfreundlich wird, sodass der Wechsel von Unfreundlichkeit zu Freundlichkeit letztlich nur selten gemacht werden könnte. Deutlich ist aber, dass Freundlichkeit sich in der Sympathiezuschreibung bezahlt macht.

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Literatur

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Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

Inhaltsverzeichnis 5.1 Umgang mit Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.2 Kultursensibilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.3 Metalinguistische Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.4 Angemessene Forderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.5 Freundliche Präsenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

In diesem Kapitel wird Verhalten, das indirekt Freundlichkeit und Wärme speist, genauer betrachtet. Freundlichkeit wird durch viele Dinge erzeugt, die wir machen. Abb. 5.1 gibt einen Überblick über die Bereiche, in denen freundliche Verhaltensweisen im Lehrberuf wichtig und möglich sind. Diese stellen eine Auswahl dar, der Fantasie für das Erzeugen von Freundlichkeit durch Interaktionsgestaltung sind keine Grenzen gesetzt. Ich habe überlegt, die Inhalte dieses Kapitels mit dem Kap. 4 zu Freundlichkeit und Wärme zusammenzuführen, habe mich aber dann dagegen entschieden, weil alle die Aspekte, die in diesem Kapitel aufgeführt werden, auch unabhängig von Freundlichkeit betrachtet werden können; sie haben sozusagen ein inhaltliches Eigenleben und wirken indirekt auf Wärme und Freundlichkeit.

5.1 Umgang mit Eltern Fritz Heider hat im letzten Jahrhundert eine wichtige Theorie formuliert, die sogenannte Balancetheorie (Heider 1958). Einen Teil dieser Theorie möchte ich hier in aller Kürze einführen, um zu verdeutlichen wie wichtig der Umgang © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_5

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

Abb. 5.1   Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind: Eine ­Auswahl

der Lehrkraft mit den Eltern ist. Wenn eine Person A und eine Person B sich sympathisch finden, A auch C mag, C jedoch nicht von B gemocht wird, dann entsteht eine, von Heider sogenannte, unbalancierte Relation, die eine unangenehme Spannung erzeugt. Unangenehme Spannungen will man jedoch reduzieren und am besten ganz loswerden. Unbalancierte Beziehungskonstellationen neigen also dazu in balancierte Beziehungskonstellationen überführt zu werden, wobei die Nähe zwischen den Personen die Richtung der Auflösung beeinflusst. Wenn also A beispielsweise mit C zusammenlebt, dann wird A wahrscheinlich über kurz oder lang dazu neigen, auch B weniger zu mögen, wodurch die Beziehungskonstellation harmonisiert würde. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die grundlegenden Prinzipen des Symbolischen Interaktionismus (siehe Abb. 1.1 und 1.2): Wir sehen, dass wir gesehen werden und ziehen unsere Schlüsse daraus; wir sehen, wie andere

5.1  Umgang mit Eltern

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gesehen werden und auch das beeinflusst uns. Diese Prozesse des Wahrnehmens gegenseitiger Wahrnehmung spielen bei den Relationen der Konstellationen Schüler/-in (S), Eltern (E) und Lehrkraft (L) eine wesentliche Rolle. Schüler und Schülerinnen bekommen mit wie ihre Eltern von ihren Lehrer/-innen behandelt werden. Eine geschätzte Lehrkraft wird sehr wahr­ scheinlich nicht mehr geschätzt werden (können), wenn z. B. ein Schüler den Eindruck bekommt, dass seine eigenen Eltern von seiner geschätzten Lehrkraft schlecht behandelt werden, z. B. auf Distanz gehalten werden. Es kann sein, dass die Eltern diesen Eindruck zum Beispiel von einem Elternsprechtag berichten. Es kann auch sein, dass der Schüler diesen Eindruck erhält, weil er Vergleichsinformationen bekommt: Möglicherweise duzen sich andere Eltern mit der Lehrkraft, möglicherweise berichten seine Mitschüler/-innen von anderen, positiven Gesprächsverläufen. Da Schüler/-innen mit höherer Wahrscheinlichkeit die Beziehung zu ihren Eltern als relevanter als die zu ihrer Lehrkraft einschätzen werden, wird sich diese Beziehungskonstellation so auswirken, dass die Beziehung zwischen Schüler und Lehrkraft negativ ausgerichtet werden wird. Sie wird zumindest eine deutliche Abkühlung erfahren, die der Lehrkraft selber gar nicht bewusst werden muss. Auch kann es so kommen, dass der Schüler durch diesen Vorfall seine Eltern damit beginnt, seine Eltern mit dem negativen Blick der Lehrkraft zu betrachten und dadurch innerfamiliäre Konflikte auftauchen, die sehr belastend sein können und deren eigentliche Ursache lange verborgen sein kann. In Abb. 5.2 ist dieser Prozess von einem Wandel von Zu- in Abneigung ­dargestellt.

Abb. 5.2   Dynamische Relationen zwischen Eltern, Schüler/-in und Lehrkraft

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

Freundlichkeit zu Eltern zahlt sich also aus. In unseren Schulprojekten kam es leider immer wieder vor, dass einige Lehrer/-innen untereinander über die Elternschaft, auch für die Schüler/-innen vernehmbar, negativ redeten. Bewertende Aussagen wie „Was erwarten wir von diesen Schülern bei diesem Abschaum von Eltern“ bis „Wir haben hier leider nur sehr schwache und arme Eltern“ vermitteln keine Wertschätzung (Haep et al. 2010). Natürlich versteht auch schon ein Grundschulkind, was es bedeutet, wenn so geredet wird.

5.2 Kultursensibilität Manche Forschende sind der Meinung, dass nur Lehrkräfte, welche die Herkunftskultur ihrer Schüler und Schülerinnen teilen, mit diesen kultursensibel umgehen könnten, sodass sich eine konstruktive und motivierende Beziehung ergibt. Carpenter Ford und Sassi (2014) kommen in ihrem Vergleich eines weißen Lehrers gegenüber einer schwarzen Lehrerin zu dem Schluss, dass nur letztere verstehen könne, wie sie schwarze Schüler und Schülerinnen erreichen kann, nämlich indem sie die Beziehungsebene betonen müsse, in einer kulturell kongruenten Art und Weise kommunizieren müsse, mit den Schülern und Schülerinnen Allianzen schmieden und das Curriculum kritisieren solle. Diese Ansicht erinnert an die Meinung vieler Menschen, dass männliche Lehrkräfte für das Gedeihen von Jungen in der Schule unentbehrlich seien (Steins 2012). Die Logik ist: • Schüler hat ein Merkmal x • Lehrer hat ein Merkmal x • Lehrer mit dem Merkmal x ist ein besserer Lehrer für den Schüler mit dem Merkmal x als ein Lehrer ohne das Merkmal x. Hier ist der Trugschluss relativ schnell zu sehen, nämlich davon auszugehen, dass mit Merkmal x alle anderen Merkmale einer fähigen Lehrkraft für den Schüler mit Merkmal x automatisch gegeben seien. Dies ist falsch, wenn man von der Annahme ausgeht, dass eine Kultur nicht Klone erzeugt, sondern auch hier eine erhebliche individuelle Variation aller möglichen Merkmale und Fähigkeiten vorliegt. Schaut man sich Studien wie die von Carpenter Ford und Sassi kritisch an, sieht man die Tautologie der Ausführungen: Die Lehrkraft mit dem Merkmal x (in diesem Fall gleiche Kulturzugehörigkeit wie ihre Schüler und Schülerinnen, definiert durch Hautfarbe) weist auch die Merkmale y und z auf, gute Merkmale,

5.2 Kultursensibilität

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die auf eine gute Lehrkraft hinweisen; die Lehrkraft ohne das Merkmal x weist nicht y und z auf. Kann man die Anwesenheit bzw. Abwesenheit von y und z nun auf das Fehlen bzw. Nicht Fehlen von x zurückführen? Ja, das könnte man bei einer großen Stichprobe, die aber in diesem Fall, der Studie von Carpenter Ford und Sassi (2014), nicht vorliegt. In Studien, wo diese Zusammenhänge systematischer untersucht wurden und auch anhand angemessener Stichproben überprüft wurden, finden sich keine Zusammenhänge zwischen Kulturzugehörigkeit bzw. angeblichen Merkmalen von Kulturzugehörigkeit und anderen erwünschten Kompetenzen von Lehrkräften wie Kultursensibilität (Sandilos et al. 2016). Kurz gesagt: Die kulturelle Herkunft macht noch keine gute Lehrkraft, genauso wenig wie das Merkmal biologisch männlich zu sein, keinen guten Lehrer garantiert. Ob Schüler und Schülerinnen gut und gerne lernen, hängt zwar von Faktoren wie Kultursensibilität als ein Aspekt von Freundlichkeit ab, aber diese wiederum nicht von der kulturellen Herkunft der Lehrkraft oder deren Kongruenz mit der kulturellen Herkunft der Lernenden. Unwissen über kulturell geprägte Normen führt häufig zu Missverständnissen und Kultursensibilität fördert daher eine freundliche Beziehung. Auch ein Blick auf eigene Wertvorstellungen und die Kontexte von Eltern kann beispielhaft beschreiben wie sich Kultursensibilität ausdrücken kann: Die Interpretation elterlichen Verhaltens als unterstützend und warm kann missdeutet werden, wenn kulturelles Wissen nicht vorhanden ist. Interessante Untersuchungen z. B. zu den verschiedenen Erziehungspraktiken städtisch lebender und städtisch sozialisierter chinesischer Mütter im Vergleich zu ländlich sozialisierten und nun städtisch lebenden chinesischen Müttern führten Zhao, Chen und Wang (2015) durch. Sie fanden folgendes: Chinesische Mütter vom Land ermuntern ihre Kinder nicht zum emotionalen Ausdruck. Chinesische Mütter vom Land vermitteln eher traditionelle Werte, nach denen eine Emotionsunterdrückung angemessen ist und drücken auch selbst ihre Emotionen verhalten aus. Die Autoren betonen aber, dass dies nicht bedeutet, dass in diesen Familien kein warmer Erziehungsstil vorzufinden sei: „However, we argue that parental warmth in migrant Chinese families may be expressed in specific ways of parent-child interaction or directed toward specific aspects of child development that are important for migrant families“ (S. 548). Lehrkräfte haben oft selbst sehr genaue und innerhalb ihrer Subkultur vorherrschende Vorstellungen davon, wie man seinem eigenen Kind gegenüber Feinfühligkeit und Liebe ausdrücken sollte; hier zu gibt es aber bestimmt nicht nur die Mittel, die zufällig in der eigenen Subkultur als richtig erachtet wurden. Deshalb ist letzten Endes der Blick auf das Kind entscheidet: Ist

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

es ein Kind, das gedeiht und das zufrieden ist? Hat es Zutrauen, ist es neugierig? Kann es Kontakt aufnehmen? Lo (2009) beschäftigt sich mit der Frage unterschiedlicher Kulturbewertungen in Hinblick auf die gegenseitige Kommunikation und Deutung von Respekt, insbesondere in Bezug auf Überlegungen von Agha (2007) und Morford (1997). Demnach gibt es nicht einfach kulturspezifische Modelle von Respekt, sondern Modelle von Respekt variieren auch innerhalb einer Kultur in Abhängigkeit von gesellschaftlicher Gruppenzugehörigkeit, Generationszugehörigkeit und weiteren Variablen. Lo (2009) schlussfolgert aufgrund der Befundlage und ihren eigenen Untersuchungen wie zum Beispiel Lo und Howard (2009), dass das, was als „höfliches“ oder „gutes“ Verhalten gilt, häufig, ethnisch aufgeladen sei. Kulturelle Unterschiede würden essenzialistisch als mangelndes Interesse an Schule und Lehrern interpretiert. Freundlichkeit, Höflichkeit und Respekt, ethnisch aufgeladen, würden mit allen möglichen Variablen, wie bspw. Blickkontakt, Gesten, Haltung, Kleidung und Körper assoziiert werden, sodass Höflichkeit als Indikator von Respekt aus einer Art Index bzw. Verhaltensstil geschlussfolgert würde, der nur von denjenigen entziffert werden kann, die diesen kennen bzw. teilen. Lo analysierte rekursive Kreisläufe negativer Emotionen in der ­Schüler/-innen-Lehrer/-innen-Interaktion. Ihre linguistischen Analysen legen nahe, dass es sehr wichtig ist wie Lehrer/-innen selber Respekt zeigen und wie sie kommunizieren, was unter Respekt und Höflichkeit verstanden wird. Sie zeigt, dass Ideen über Respekt und Höflichkeit, welche die Schüler/-innen motivieren und sie mit einbeziehen, sehr positive Konsequenzen für die Lernbereitschaft von ­Schülern/-innen haben können. Zusammengefasst könnte man sagen: Wenn Lehrkräfte das Bewertungssystem ihrer Schüler/-innen kennenlernen wollen, müssen sie es empathisch und vorurteilsfrei betrachten und Brücken bauen zwischen sich und den Schüler/-innen. So kann durch die Beachtung kultursensibler Aspekte Wärme und Freundlichkeit entstehen.

5.3 Metalinguistische Achtsamkeit Viele Erwachsene setzen als Mittel der Darstellung ihres Humors und ihrer Intelligenz sprachliche Mittel ein wie z. B. Ironie und Sarkasmus. Artamonova (2018) illustriert am Beispiel des vordergründig lustigen Neckens ethnischer Minderheiten, dass dies ein riskantes Spiel sei, denn es kann beleidigend wirken. Sarkasmus ist bei jungen Menschen wenig beliebt. Warum? Ironie und Sarkasmus sind sprachliche Mittel, die entwicklungsbedingt erst spät verstanden werden (Perner und Wimmer 1985; Filippova und Wilde

5.3  Metalinguistische Achtsamkeit

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Astington 2008; Taylor 2017). Um das Verhalten von Menschen verstehen zu können, müssen Kinder zunächst in der Lage sein, über zwischenmenschliche Beziehungen nachzudenken und nicht nur die beobachtbaren Handlungen von Personen in der realen Welt als Grundlage zu nehmen. Die aktuellen oder möglichen inneren Zustände einer Person, mit der man in einer Beziehung steht, müssen als ein Teil der intentionalen mentalen Zustände einer anderen Person gesehen werden können. Perner und Wimmer (1985) zeigen, dass Kinder im Alter von 7 bis 8 beginnen, mentale Zustände einer sekundären Ordnung zu repräsentieren und darüber nachzudenken (x glaubt, dass y p glaubt). Sie beginnen also zu verstehen, dass Menschen nicht nur Annahmen über die Welt haben (die richtig oder falsch sein können), sondern, dass sie auch Annahmen über die Annahmen anderer Personen haben (die ebenfalls richtig oder falsch sein können). Um zum Beispiel zwischen einem Witz und einer Lüge unterscheiden zu können, müssen die Kinder entdecken lernen, ob der Sprecher weiß, was der Zuhörer weiß, sie müssen sich also der Gedanken zweiter Ordnung des Sprechers bewusst sein. Bei einem Witz können die Bedeutungsebenen unterschiedlich sein; anders als bei erfolgreicher Alltagskommunikation, wo das gesagt wird, was gemeint ist, sind Witz, Ironie und Sarkasmus komplizierter. Menschen müssen schon ein komplexeres Wahrnehmungsniveau von Ursachenzuschreibungen entwickelt haben, um solche komplexen Kommunikationsformen richtig zu interpretieren. Der Gebrauch von Ironie enthält indirekt übermittelte Werte und Haltungen, welche die beabsichtigten Bedeutungen des Sprechers darstellen. Der Zuhörer muss die ausgesprochenen, wörtlichen Bedeutungen durch die beabsichtigten oder implizierten Bedeutungen ersetzen. Das aber können Kinder noch nicht: Wenn die Aussagen des Sprechers nicht mit den situativen Tatsachen übereinstimmen, neigen Kinder dazu, die Tatsachen abzuschwächen und interpretieren die Äußerung als wahr. Oder aber sie meinen, dass der Sprecher die Tatsachen nicht sieht und daher seine Äußerung falsch ist. Dabei geht die Fähigkeit, die wörtliche Bedeutung einer Aussage zu beurteilen, der Fähigkeit voraus, den Bewusstseinszustand, also die Absicht des Sprechers zu beurteilen. Die Fähigkeit, Wirklichkeit und Bedeutungsebenen wirklichkeitskongruent zu entziffern vollzieht sich in bestimmten Entwicklungsabfolgen, die sehr deutlich zeigen, dass Kinder noch mit 13 Jahren keine verlässlichen Unterscheidungen vornehmen können (Ackerman 1981; Demorest et al. 1984). Ganz deutlich ist es Kindern im Alter von sechs Jahren nicht möglich, Ironie zu verstehen: Absichtlich falsche Äußerungen werden als wahrhaftig interpretiert. Die Äußerung wird als Evidenz für die wirkliche Meinung und Absicht

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

genommen, die Tatsachen werden abgeschwächt. Erst mit ungefähr neun Jahren, dann, wenn sich die Fähigkeit, Perspektiven zu übernehmen, herausbildet, beginnen Kinder die Inkonsistenzen zwischen ironischen Äußerungen und Kontext zu verstehen. Allerdings können sie noch nicht die Absicht dahinter entziffern. Sie sind weiterhin abhängig davon, ob der Sprecher seine Absicht enthüllt. Auch wenn Kinder und junge Jugendliche also schon wissen, dass etwas nicht wörtlich gemeint ist, können sie dennoch nicht unbedingt die Absicht des Sprechers erkennen. Die Identifikation einer Haltung hinter einer ironischen Bemerkung setzt ein Verständnis auf höherer mentaler Ebene voraus. Natürlich verläuft die Entwicklung eines Sprachverständnis höherer Ordnung nicht streng schematisch und altersgebunden und variiert sicher mit anderen Komponenten von Sprachkompetenz. Manche Kinder werden also schon früher als andere ironische Bemerkungen verstehen. Es stellt sich aber die Frage, ob auch alle ironischen Bemerkungen wirklich lustig sind. Dazu kommt, dass wir wissen, dass gerade die Bereitschaft und das Gelingen von Perspektivenübernahme ein anfälliger Prozess ist, der unter bestimmten Umständen auch bei Erwachsenen misslingen kann (Steins und Wicklund 1996, 1997; Steins 2016). All dies zeigt, dass im unterrichtlichen Kontext der Gebrauch von Ironie und Sarkasmus eher verwirrend sein wird und nicht instruierend; außerdem ist er, wie Artamonova schreibt (2018) dann ein riskantes Spiel, wenn er mit scherzhaft gemeinten Bemerkungen über Subgruppen von Schüler/-innen verbunden ist. Wärme und Freundlichkeit kann also durch Ironie und Sarkasmus gemindert werden.

5.4 Angemessene Forderungen Warum bitten wir nicht jedermann darum, in unserer Ferienzeit unsere Blumen zu gießen? Einfach, weil es einer minimalen Legitimation bedarf, das zu tun, selbst wenn wir einem Menschen spontan vertrauten, müssten wir eine bestimmte Art von Beziehung zu diesem Menschen haben, um ihn fragen zu können. Wir müssten Anlass für die Richtigkeit der Vermutung haben, dass diese Person uns auch irgendwie o.k. findet und die angefragte Tätigkeit müsste im Rahmen dessen sein, was höflich ist. Man kann sich selber fragen, wen man bei welchen Tätigkeiten unter diesen Aspekten um Hilfe bitten würde. Bei Schüler-/innen sollte man sich genauso verhalten, wenn Aufforderungen nicht als grenzverletzend wahrgenommen werden sollen und somit deutlich Wärme und Freundlichkeit mindern würden. Schüler/-innen haben ihre eigenen Heuristiken für die Einschätzung von Angemessenheit. Die besondere

5.5  Freundliche Präsenz

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­ chwierigkeit der Situation „Lehrer/-in fordert Schüler/-in auf, etwas zu tun“ liegt S in der sozialen Tatsache begründet, dass ein/-e Schüler/-in oft nicht einfach Nein sagen kann (Steins et al 2019). Eine unangemessene bzw. illegitime Anforderung an Schüler/-innen wird umso stärker Reaktanz, also Widerstand mit allen Folgen (negative Emotionen, negative Einstellung) bei ihnen hervorrufen, wenn die Beziehung zwischen Schüler/-innen und Lehrkraft bereits eher distanziert ist. Einer angemessenen bzw. legitimen Bitte von einem/-r Lehrer/-in, mit dem ein/-e Schüler/-in eine vertrautere Beziehung hat, kann ein/-e Schüler/-in eher entsprechen. Zhang und Sapp (2013), die hierzu forschten und die Unterschiede zwischen beiden psychologisch unterschiedlichen Situationen herausgearbeitet haben, empfehlen deswegen Lehrkräften, sich folgende Fragen zu stellen, bevor sie eine Anforderung stellen: • • • •

Wie freundlich ist die Aufforderung/Bitte/Forderung? Wie legitim ist die Aufforderung/Bitte/Forderung? Wie gut ist meine Beziehung zu dem Schüler bzw. der Schülerin? Als wie vertrauenswürdig nimmt mich der Schüler bzw. die Schülerin wahr?

Lehrer/-innen arbeiten also auch an der Beziehungsqualität in Bezug auf ihre Schüler/-innen, wenn sie bei Forderungen an Schüler/-innen die Regeln der Höflichkeit beachten (siehe Kap. 3).

5.5 Freundliche Präsenz 5.5.1 Gesten Menschen zeigen sehr deutlich durch nonverbales Verhalten Zuwendung (Navarro 2008; White und Gardner 2012). Augenkontakt mit Schülern und Schülerinnen, alle im Blick haben, offene und zugewandte Körperhaltung signalisieren ein aufrichtiges Interesse an einem Kontakt. Wirkliches Lächeln – Augen und Mund senden kongruente Signale – als ein sicherer Ausdruck von freundlicher Zuwendung ist ein ebensolches Signal. Den Radius dem Kontakt angemessen gestalten, d. h. sich Schüler und Schülerinnen angemessen annähern, mit denen man spricht, denen man zuhört, unterstreicht diese positiven Signale (Steins et al. 2018). Man kann selber an seinem gestischen Ausdruck von Zuwendung arbeiten, sich Feedback von Kollegen und Kolleginnen zu holen, wenn man annimmt, dass die eigenen Gesten nicht so ankommen, wie sie gemeint sind.

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

Zwei einschränkende Anmerkungen sind hier wichtig. Die eine betrifft die Interpretation nonverbaler Signale. Nonverbale Signale von Schüler und Schülerinnen können falsch interpretiert werden. Wenn z. B. ein Schüler keinen Augenkontakt zur Lehrkraft hält, kann das alles Mögliche bedeuten; wenn Schüler und Schülerinnen mit gerunzelter Stirn zuhören, kann das Ausdruck von Konzentration sein und sollte nicht vorschnell als schlechte Laune interpretiert werden; wenn eine Schülerin aus dem Fenster schaut, wenn Sie reden, signalisiert das nicht unbedingt Desinteresse. Eine Lehrkraft kann also selbst viel machen, um die Schüler/-innen motivierend zu adressieren; umgekehrt bedeutet das Fehlen dieser Gesten auf Seite der Schüler und Schülerinnen nicht, dass sie kein Interesse hätten; sie verhalten sich in einer anderen Rolle und es gelten andere Ausdrucksregeln. Die andere einschränkende Anmerkung betrifft die Gültigkeit der Forschung zur nonverbalen Kommunikation in Bezug auf die Schule: Wenn eine Lehrkraft nicht über eine offene, motivierende nonverbale Kommunikation verfügt, bedeutet das nicht, dass dies nicht kompensierbar wäre. Zuwendung kann durch viele Verhaltensweisen hergestellt werden. Da Schüler und Schülerinnen und Lehrer und Lehrerinnen über einen längeren Zeitraum zusammen sind, gibt es viele solcher Möglichkeiten, Zuwendung zu zeigen. Solide Forschung zu nonverbaler Kommunikation betont immer den Kontext und die Hintergrundinformation (Navarro 2008): Eine Person, die im Erstkontakt vielleicht reserviert und zurückhaltend wirkt, weil sie nicht so viel lächelt, kann sich mittelfristig dennoch als sehr zugewandt erweisen, wenn sie auf wichtige Fragen von Schüler und Schülerinnen eingeht und diese konkret unterstützt. Nonverbales Verhalten ist als Hinweis zu verstehen und sollte nicht überinterpretiert werden.

5.5.2 Kleidungsstil Gerade jüngere und angehende Lehrkräfte versuchen mitunter über einen bestimmten Kleidungsstil den Eindruck von Kompetenz und Autorität bei den Schüler und Schülerinnen zu beeinflussen. Ein formeller Kleidungsstil gilt als seriöser und steht in dem Ruf, eher Autorität herzustellen als ein lässiger Kleidungsstil. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ein formeller Kleidungsstil stellt nicht unbedingt Autorität her, sondern mindert erst einmal den Eindruck von Zugänglichkeit (Chatelain Amber 2015). Bei solchen Ergebnissen ist es wichtig, sich immer Folgendes ins Gedächtnis zu rufen: In der Schule dauern Interaktionen an!

5.5  Freundliche Präsenz

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Das bedeutet: Ergebnisse, die durch Untersuchungen zur ersten Eindrucksbildung gewonnen wurden, können keinesfalls unkritisch und absolut auf die Schule übertragen werden. Hier zeigen die Studien, die es gibt (White und Gardner 2012), dass das Äußere überschätzt wird: Weit wichtiger als der Kleidungsstil und andere Äußerlichkeiten ist das Verhalten der Lehrer und Lehrerinnen gegenüber den Schüler und Schülerinnen. Was Lehrkräfte tun, zählt und wie sie es tun, nicht wie sie dabei aussehen.

5.5.3 Akustische Verständlichkeit Was man den Schüler und Schülerinnen zu sagen hat, das sollte man so sagen, dass sie es akustisch verstehen können. Interessanterweise gilt verständliches Sprechen als eine minimale und universelle Grundlage von Höflichkeit. Akustisch für Schüler und Schülerinnen verständlich zu sein, signalisiert auch die Relevanz des Inhalts (Fraser 1990) und die Wahrnehmung des Anderen als bewusste Person. Dies ist wahrscheinlich deshalb so, weil akustische Verständlichkeit ein Minimum an Perspektivenübernahme signalisiert bzw. Nicht-Verständlichkeit erst gar kein Interesse entstehen lassen kann, möglicherweise auch Ignoranz dem Gegenüber symbolisiert. Ein ganz alltägliches Beispiel: Die Lehrkraft steht vorne und redet zu leise, um von allen Schüler/-innen verstanden werden zu können, besonders die ­Schüler/-innen im hinteren Teil des Klassenzimmers verstehen nichts. Ein höfliches Minimum wäre es, dass bei der Rückmeldung der Lernenden, es sei zu leise, die Lehrkraft entsprechend lauter würde; eine Lehrkraft sollte es nicht leugnen, wenn sie zu leise spricht und nicht behaupten, die Schüler/-innen seien zu laut. Das kommt einer Kollektivstrafe gleich. Die eigene Sprechlautstärke sollte regelmäßig auf ihre akustische Verständlichkeit hin abgeglichen werden.

5.5.4 Kommunikation außerhalb des Klassenzimmers Mit seinen Schüler/-innen auch die Welt außerhalb der Schule zu erforschen, ist sinnvoll: Je mehr man mit seinen Schüler/-innen außerhalb der Schule macht und vor allem kommuniziert, desto motivierter sind diese (Bolkan und Holmgren 2012; Jaasma und Koper 1999; Kuh 1995). Kontakt außerhalb des Klassenzimmers signalisiert Interesse. Die Schüler/-innen registrieren, dass sie wirklich gesehen werden (vgl. Abb. 1.1 und 1.2); die Beziehungen werden komplexer, reichhaltiger, ein Blick von außen macht alles realer, er schafft eine soziale Realität.

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5  Aspekte, die mit Freundlichkeit und Wärme verbunden sind

Wo aber ist die Grenze? Schüler und Schülerinnen wollen es natürlich nicht, wenn eine Lehrkraft sich in ihre Aktivitäten einmischt. Schüler und Schülerinnen reden anders untereinander; deswegen wollen sie auch, wenn sie können, eher unter sich bleiben. Da Lehrkräfte sanktionsmächtige Zeugen sind und in der Statushierarchie höher stehen (Steins et al. 2019), ist davon auszugehen, dass Schüler/-innen auch im zwanglosen sozialen Miteinander eher konformes Verhalten zeigen, also beispielsweise so tun als würden sie zuhören, wenn eine Lehrkraft viel erzählt. Monologe zu führen ist nicht gleichbedeutend mit Zuwendung und Freundlichkeit, im Gegenteil. Ein kurzer Small Talk, dem Anderen durch Gestik und Mimik zeigen, dass man ihn kennt und sich freut, ihn oder sie zu sehen, unterscheidet sich von den Signalen des Anspruchsstatus, die Lehrkräfte gewohnheitsmäßig in Diskussionen und informelle Gespräche mit Kindern und Jugendlichen hineinbringen (also lange Redezeit, selbstzentrierte Inhalte: siehe vorausgreifend Abb. 8.3). Eine Untersuchung von Veldman et al. (2013) zeigt deutlich, dass Lehrkräfte sich hier mitunter durchaus falsch einschätzen. Nur weil sie viel mit Schüler/-innen reden oder überhaupt viel von sich erzählen, wird keine Zugänglichkeit geschaffen und auch keine Zuwendung erzeugt. Sennett (1986) schildert in seinem bekannten Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“, wie Nähe eigentlich erst durch eine Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit erzeugt werden kann und die eigene, persönliche und private Zurückhaltung für ein Gegenüber erst ein Interesse signalisieren kann. Er illustriert mit vielen Beispielen diesen interessanten Zusammenhang zwischen Enthüllung und Unzivilisiertheit bzw. Enthüllung von Privatem als falsches Mittel zur Herstellung von Nähe und Vertrautheit. Nach Sennett ist es wichtig sich der Ritualisierung von Zeichen bewusst zu sein, um diese mehr als einmal darstellen zu können. Er bemüht Diderots Ideen zur Rolle des Schauspielers, um zu illustrieren, dass durch Zeichen ein Gefühlsausdruck mehr als einmal dargestellt werden kann: Eine Empfindung kann mehr als einmal vermittelt werden, wenn der Schauspieler aufgehört hat, sie zu „erleiden“, wenn er dahin gelangt ist, sie aus der Distanz zu studieren und das Wesentliche ihrer Form zu bestimmen. Dieses Wesentliche ergibt sich, wenn man alles Zufällige abstreift […] Gelangt er zur Herausbildung solcher Zeichen, so hört der Schauspieler auf, die Gefühlsregung auf die gleiche Art zu empfinden wie das Publikum, der er sie vorführt. Er hört nicht auf zu empfinden […], aber die Empfindungen, die der Schauspieler mit seinen Gesten verbindet, unterscheiden sich von denen, die diese Gesten beim Publikum auslösen. […] Allein durch solche Gesten kann der Ausdruck von Gefühlen Stabilität und Dauerhaftigkeit gewinnen. Ziel der Geste ist es, der Verformung durch die Zeit zu entgehen. Wiederholbarkeit macht geradezu das Wesen

Literatur

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eines Zeichens aus. (S. 149) […] So muss die Darstellung auch unabhängig vom jeweiligen Darsteller, seinen privaten Empfindungen und vorübergehenden Stimmungen Bedeutung besitzen. (S. 152). Es ist also hilfreich und gewinnbringend sich Gesten der Freundlichkeit, die wiederholt werden, anzueignen. Gesten d r Freundlichkeit sind zeitlose Routinen, die sich auszahlen. Freundlichkeit und Zuwendung für die ­ Schüler/-innen außerhalb des Klassenzimmers ist eine zeitlose Geste, die schlicht Interesse signalisiert und den Schüler, die Schülerin als Figur vor einem unpersönlichen Hintergrund heraushebt.

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Erwartungen: So zutrauend wie möglich

Inhaltsverzeichnis 6.1 Bezeichnungen für die Dimension Anforderungen in der Interaktion zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen . . . . . . . . . . . . . 76 6.2 Wie entstehen Fähigkeitskonzepte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 6.3 Angemessene Erwartungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 6.4 Zum Ausdruck von Erwartungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6.5 Was unterscheidet Lehrkräfte mit hohen Erwartungen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.6 Elterliche Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Es ist wichtig an Schüler/-innen hohe Erwartungen an deren Können zu richten, damit sie sich selbst auch einiges zutrauen. Der Ausdruck der eigenen Erwartungen signalisiert dem Gegenüber, was man ihm zutraut. Es ist aber sofort verständlich, dass noch andere Dimensionen der Interaktion dazu kommen müssen und eine große Rolle spielen, damit der Ausdruck hoher Erwartungen eine entwicklungsförderliche Wirkung entfalten kann. Identische, hohe Erwartungen können je nach Anwesenheit und Abwesenheit von Wärme, Zuwendung und Freundlichkeit grausam bzw. förderlich sein. Hohe Erwartungen und herausfordernde Anforderungen, gepaart mit unterstützender Zuwendung können motivieren und regelrecht Spaß machen. Zunehmend eigenständig eine Sache immer besser zu können, ist zunächst etwas, was von positiven Emotionen begleitet ist und auch andere Lebensbereiche positiv beeinflussen kann. Verbunden jedoch mit einer fordernden und abweisenden Haltung erscheinen hohe Erwartungen als das genaue Gegenteil; in diesem Fall werden sie als negativer Druck erlebt und erzeugen Stress. In diesem Kapitel wird genau © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_6

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dieser Erwartungsaspekt zu klären versucht: Was geht mit Erwartungen Hand in Hand? Was wissen wir über Lehrkräfte und ihre Erwartungen? Wie wirken sich die Erwartungen der Lehrkräfte auf die Lernfreude und Motivation der ­Schüler/-innen aus? Im Zuge der Erläuterungen hierzu werden wichtige Konzepte eingeführt, die das Verständnis für das Thema elaborieren sollen.

6.1 Bezeichnungen für die Dimension Anforderungen in der Interaktion zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen Die bekannteste Bezeichnung für die Dimension der Anforderungen, die Lehrer und Lehrerinnen an Schüler und Schülerinnen stellen, ist „Erwartung“ (Ware 2006; Rubie-Davies 2010; Levi et al. 2014; Melkman et al. 2016), in der internationalen Literatur auch aufgeführt unter den Begriffen „Academic expectations“ und „Teacher expectations“. Weitere Bezeichnungen verweisen auf Aspekte, die mit Erwartungen einhergehen und ebenfalls in den Bereich der Anforderungen fallen bzw. auch auf einen wichtigen Aspekt der Lehrer und Lehrerinnenrolle verweisen (Friedman 2006; Sandilos et al. 2016; Erevestag 2009) wie z. B. „Challenge“, „Authority“ und „Academic Press“. Academic Press weist darauf hin, dass die Dimension Anforderung nicht einfach ist, denn wir wissen, dass ein zu hoher Druck auch hemmend und belastend wirken kann: Je stärker die Ausprägung der Interaktionsmerkmale dieser Dimensionen, desto besser die Interaktionsgestaltung, wäre also eine falsche Annahme.

6.2 Wie entstehen Fähigkeitskonzepte? Warum glaubt man, etwas zu können und anderes nicht? Heider (1958) war davon überzeugt, dass unsere Fähigkeitseinschätzungen stark von unseren Überzeugungen über uns selbst abhängen (vgl. Abb. 4.2). Diese Überzeugungen von uns selbst aber übernehmen wir von anderen Personen (vgl. Abb. 2.1). Heider schreibt: What we can do is influenced by what we think we can do, and what we think we can do is influenced by what other people think we can do. Therefore, what we can do is influenced by what other people think we can do. […].

6.2  Wie entstehen Fähigkeitskonzepte?

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Such is the syllogistic sequence behind the fact that the opinion of other people, their suggestions, prejudices and stereotypes often determine what a person can do. […] The opinions of others may have a lasting effect on a person’s over-all feeling of what he can do. Then it is that the syllogistic sequence becomes mediated by a change within the personality as a whole. [..] It is well known that inferiority feelings may become fixed because of inexpedient treatment by those around the person. […]. The cognition of can in another person is also influenced by stereotyped judgments. The syllogistic sequence is of the following order: Men in general can do z. John is a man. John can do z. (Heider 2015, S. 97–98). Wir lernen also durch die Zuschreibungen der Umwelt über uns selbst, was wir können und was wir nicht können. Der Bereich der stereotypen Zuschreibungen und Vorurteile ist in allen Lebensbereichen wirksam und wie die Forschung zeigt, ebenso in der Schule (Steins et al. 2018). Alle diese Zuschreibungen münden in das sogenannte Anspruchsniveau von Schüler/-innen, d. h. ihren Kalkulationen darüber wie gut sie etwas können und sie beeinflussen ihre Fähigkeitskonzepte. Anspruchsniveau ist ein traditioneller Begriff, um erfassen zu können, was sich hier psychologisch abspielt. Das Anspruchsniveau bildet sich mit den Erfahrungen heraus, die man mit einer Aufgabe gemacht hat. Das Anspruchsniveau ist “die Höhe der zukünftigen eigenen Leistung, die eine Person bei einer ihr bekannten Aufgabe [momentan] explizit zu erreichen sucht und dabei die Höhe ihrer letzten Leistung bei dieser Aufgabe kennt” (Frank 1935, S. 119: zitiert nach Meyer 2017). Wenn z. B. ein Schüler noch keine Erfahrungen mit einem Fach, einer Aufgabe oder einem Thema hat, schaut er erst einmal, was er kann und hinbekommt. Mit zunehmender Erfahrung zieht er Schlüsse über das, was er schaffen kann: Er hat ein Anspruchsniveau gebildet. Das Anspruchsniveau ist nicht statisch, bewegt sich aber nur in engen Grenzen, in einer bestimmten Schwierigkeitszone, in der die Aufgaben liegen, die man sich zutraut. Alles andere ist zu leicht oder zu schwer, liegt also unter oder über dem eigenen Anspruchsniveau. Veränderungen des Anspruchsniveaus erfolgen, wenn sie erfolgen, in kleinen Schritten. Nach einem richtigen Erfolg steigt das Anspruchsniveau, nach einer Misserfolgsserie sinkt es (Hoppe 1930; Jucknat 1937; Meyer 2017). Im Folgenden sollen hierzu einige wichtige Begriffe erläutert werden, die klären können, wie so ein Anspruchsniveau zustande kommt.

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6  Erwartungen: So zutrauend wie möglich

6.2.1 Realziel und Idealziel Ein Realziel entspricht dem Anspruchsniveau einer Person (Hoppe 1930; Meyer 2017). Wenn eine Schülerin denkt, dass sie eine befriedigende Note in der nächsten Englischklausur bekommen kann, ist dieses Anspruchsniveau ihr Realziel. Ein Realziel ist, je nach Erfahrung, unterschiedlich weit entfernt von einem Idealziel. Ein Idealziel besteht in einem über das Realziel hinausgehenden, übergreifendem Ziel (z. B. letztendlich sehr gut in Englisch werden zu können). Eine Schülerin kommt diesem Ideal näher, wenn sie sich in Englisch verbessert, entfernt sich bei Verschlechterung ihrer Leistung aber auch von diesem Ziel. Wenn die Diskrepanz zwischen Real- und Idealziel zu groß wird, oder aber als zu groß wahrgenommen wird, kann das Idealziel so unrealistisch wirken, dass es nicht mehr relevant für die eigene Verhaltensorganisation ist.

6.2.2 Erfolg und Misserfolg Wenn ein Schüler unter seinem Anspruchsniveau bleibt und zu dem Schluss kommen muss, dass dies an ihm selbst liegt, wird er Misserfolg erleben. Wenn er über seinem Anspruchsniveau liegt oder ein hohes Anspruchsniveau erfüllt und kommt zu dem Schluss, dass er dies sich selbst zuschreiben kann, erlebt er Erfolg. Für das Erleben von Erfolg und Misserfolg ist also die Diskrepanz zwischen Anspruchsniveau und Resultat und die Zuschreibung des Ergebnisses auf die eigene Person entscheidend (Habe ich mich vorbereitet? Habe ich mich angestrengt?). Das Anspruchsniveau stellt also einen Bewertungsmaßstab dar, nach dem ein eigenes Handlungsergebnis als Erfolg oder Misserfolg bewertet wird. Das Erleben von Erfolg und Misserfolg hängt also nicht von der Leistung, sondern von der Zielerreichungsdiskrepanz ab (Hoppe 1930; Meyer 2017).

6.2.3 Hohe Erwartungen angesichts von Misserfolg Die Erwartung der Lehrkraft spielt nun eine entscheidende Rolle für die Einschätzung des Schülers bzw. der Schülerin, ob das Idealziel realistisch ist. Das soll an folgendem Beispiel illustriert werden: Ein Schüler schreibt eine schlechte Arbeit nach der nächsten. Hat seine Lehrkraft ebenfalls niedrige Erwartungen,

6.3  Angemessene Erwartungen

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dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Schüler die Zuversicht verliert, es könnte besser werden und damit die Motivation, sich um seine Aufgaben zu kümmern; er bereitet sich nicht mehr vor und beteiligt sich kaum noch. Niedrige, wenig zutrauende Erwartungen auf Seite der Lehrkraft an die Schüler/-innen werden von Gedanken begleitet wie: Er kann es eben nicht. Er ist faul! Typisch für diese Familie! Dafür kann er Sport! Unsere Schüler sind arme Schluffen! Wie kann ich ein Goethegedicht interpretieren lassen, wenn der Schüler kein Pausenbrot hat? Dies sind beispielhafte Bewertungen, die zeigen, dass man eine Verbesserung für unmöglich hält. Niedrige Erwartungen führen leider häufiger als man es selber denkt zu Bestätigungen im Sinne selbsterfüllender Prophezeiungen und perpetuieren damit die Herkunftsschicksale der jungen Menschen (Steins 2016). Eine Lehrkraft könnte aber auch sagen, dass sie sich sicher ist, dass der Schüler das schaffen kann, was auch andere schaffen, dass sie keinen Grund dafür sieht, dass er bei besserer Vorbereitung und Übung auch bessere Resultate erzielen könnte, dass der Schüler realistischer Weise über die Möglichkeit verfügt, sich am Unterricht zu beteiligen. Sie kann ihm also sehr viele konkrete Möglichkeiten der Teilnahme und Involviertheit mitteilen, die gleichzeitig beinhalten, dass der Schüler es potenziell kann. Eine schlechte Leistung ist kein Beweis dafür, dass man etwas nicht kann. Sie ist nur ein Beweis dafür, dass man etwas zu diesem Zeitpunkt nicht gezeigt hat. Eine Lehrkraft beeinflusst also sowohl die Realziele als auch die Idealziele ihrer Schüler/-innen. Sie kann durch Zutrauen ihre Schüler/-innen darin unterstützen, ein hohes Niveau anzustreben bzw. zu halten, wenn sie ihnen machbare Wege dahin aufzeigt und den Schüler/-innen immer wieder ihr Zutrauen ausspricht, dass sie diese Wege gehen können.

6.3 Angemessene Erwartungen 6.3.1 Argumente für ihre Wichtigkeit Erwachsene fragen sich häufig, wie hoch denn Erwartungen sein sollten. Sind sie zu hoch, so wird befürchtet, erlebt ein Kind Misserfolg und kommt unter Stress, verliert den Spaß und das Selbstvertrauen. Diesen Schaden versucht man vorauseilend zu begrenzen, indem man sich mit dem Anspruchsniveau und den Idealzielen des Kindes zufriedengibt. Sind aber die eigenen Erwartungen zu niedrig, so befürchtet man gleichermaßen, gibt man dem Lernen nicht genug Gewicht,

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6  Erwartungen: So zutrauend wie möglich

nimmt das Kind das Ganze vielleicht nicht ernst genug und fühlt sich unterfordert. In der Wirklichkeit stehen junge Menschen in einem ständigen sozialen Vergleichsprozess: Dadurch, dass ihre Mitschüler/-innen oder Geschwister z. B. besser englisch sprechen als sie selbst, können sie sehen, dass sie dies grundsätzlich auch besser könnten. Was Erwachsene als angemessen beurteilen, wird also für Schüler und Schülerinnen durch die Leistungen ihrer unmittelbaren sozialen Bezugsumgebung fortwährend validiert bzw. relativiert. Ohne angemessene Erwartungen würden junge Menschen sehr schnell eine realitätsnahe Orientierung verlieren. Schüler/-innen brauchen angemessene Erwartungen an ihre Verhaltensweisen, um ein Gefühl für realistische Möglichkeiten zu bekommen. Angemessene Erwartungen geben ihnen Orientierung. Lehrkräfte haben vorgegebene Kriterien für die Beurteilung von Standards. Es geht darum, davon auszugehen, dass Schüler und Schülerinnen das auch schaffen können. Die Zweifel der Lehrer und Lehrerinnen sind hier Hindernisse für die Überzeugung der Schüler/-innen, es schaffen zu können; Lehrer/-innen sind Einflussgrößen für die Selbstwirksamkeit von Schülern/-innen (Schmitz und Schwarzer 2000). Positiv wirken angemessene Erwartungen so: Ein Schüler x sieht, dass Schülerin y Z kann und y erklärt x dann wie sie selber Z hinbekommt. Das validiert die hohen Erwartungen einer Lehrkraft für alle Schüler/-innen. Hätte die Lehrkraft nicht diese hohen Erwartungen, wäre Schülerin y möglicherweise nicht offen dafür x Z zu erklären und zu zeigen (Steins 2016). Angemessen hohe Erwartungen der Lehrkraft wirken sich also auf die gesamte Normsetzung der Klasse aus, in diesem Beispiel auf die Motivation der gegenseitigen Unterstützung.

6.3.2 Angemessene Erwartungen: Zweifel! Inhaltlich ist es schwer festzulegen, was angemessen ist. Wir müssen uns hier nach durchschnittlichen Erfahrungswerten richten, aber auch nach den Möglichkeiten des Lehrens und Lernens, die wir vielleicht aufgrund neuer Technologien und Erkenntnisse anders beurteilen. Unser Anspruchsniveau als Erwachsene schwankt ebenfalls mit den Erfolgen bzw. Misserfolgen, die wir als Lehrende erleben. Es ist in der Schule aber nicht ganz so schwer: Was eine angemessene Erwartung ist, wird von den curricularen Vorgaben mit bestimmt und es werden Mindeststandards formuliert, es ist also durchaus meistens mehr möglich.

6.4  Zum Ausdruck von Erwartungen

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Denkt man über Angemessenheit nach, dann wird schnell deutlich, dass dieser Begriff, wie es schon in Bezug auf Höflichkeit thematisiert wurde, nur im Kontext aussagekräftig wird. Als Lehrkraft muss man allerdings aufpassen, dass man sich nicht zu sehr von dem unmittelbaren Kontext leiten lässt (Steins 2016).

6.4 Zum Ausdruck von Erwartungen 6.4.1 Wie werden Erwartungen transportiert? Wie können Schüler/-innen die Erwartungen der Lehrkraft sehen bzw. wie zeigen Lehrkräfte ihnen ihre Erwartungen? Die mit Erwartungen verbundenen Verhaltensweisen zielen darauf ab, Schüler und Schülerinnen zu orientieren, indem geklärt und instruiert wird und das kann durch verschiedene Tätigkeiten erfolgen (Stanton-Salazar  2005; Cornelius-White 2007; Ertesvag 2009; Lopez 2012; Zee et al. 2013). Wenn man zum Beispiel Schüler/-innen ermutigt, weiterzudenken, zu lernen, über den Tellerrand zu schauen und dafür auch Materialien und Gelegenheiten nennt, zeigt man ihnen damit ganz nebenbei, dass man sie als fähig ansieht, von diesen Gelegenheiten Gebrauch zu machen. Auch wenn man Schüler/-innen dabei unterstützt, Arbeitsanweisungen besser zu verstehen, signalisiert man ihnen, dass sie sicher in der Lage sein werden, diesen Anweisungen Folge zu leisten und dass es manchmal nur einer anderen Formulierung einer Fragestellung bedarf, dass sie es verstehen. Wenn man Schüler/-innen bei komplexen Aufgaben eine Idee davon gibt wie sie vorgehen können, einen guten Zeitplan machen können und Stolpersteine beachten können, kann das sehr ermutigend sein; alleine schon die Tatsache, dass man hierzu Worte verliert, bedeutet ja, dass es der Rede wert ist, darüber zu sprechen und dass ein unbefriedigendes Zeitmanagement wohl häufiger vorkommt, aber lösbar ist und vor allem, dass sie es können werden. Auch wenn man immer wieder Schüler/-innen zugesteht, dass sie alleine und selbstständig an Aufgaben herangehen und dabei auch Fehler machen können und sich offen auf Kommunikation einlässt, ohne Schüler/-innen übermäßig und dirigistisch zu steuern, zeigt man, dass man sie ernst nimmt und sie nicht an der kurzen Leine führen muss, damit sie überhaupt auf Ideen und Antworten kommen. In folgenden Verhaltensweisen kommen also (und dies ist nur eine Auswahl) hohe Erwartungen im Unterricht zum Ausdruck:

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• • • • • •

6  Erwartungen: So zutrauend wie möglich

Die Schüler/-innen ermutigen, zu denken und zu lernen Unterstützende Anweisungen geben Gelegenheiten bieten auf einem höheren Niveau Themen durchzudenken Arbeitsgelegenheiten schaffen Organisation: Zeit und Arbeit sowie Aufmerksamkeit managen lernen Autonomie und offene Kommunikation unterstützen

6.4.2 Erwartungen an die ganze Klasse Schüler und Schülerinnen profitieren also ganz konkret davon, wenn sie von der Lehrkraft mitgeteilt bekommen, dass diese überzeugt ist, dass sie es schaffen können und, falls es nicht gut läuft, betont, dass sie es auf alle Fälle mit ein wenig Unterstützung schaffen werden. Mitunter haben Lehrkräfte ein negatives Bild von einer ganzen Klasse und teilen diese in leistungsstarke und leistungsschwache Klassen ein, eine Zuschreibung, die sich dann in interaktiven Prozessen bewahrheitet und stabilisiert (Brophy und Good 1970; Brophy 1986). Mir ist keine Untersuchung bekannt, in der ermittelt würde, wie häufig Schüler/-innen sich Aussagen von Lehrkräften über sich anhören müssen, in denen sie generalisierend als leistungsschwache bzw. leistungsstarke Klasse im Vergleich zu anderen Klassen bezeichnet werden. Eine solche Schätzung könnte Aufschluss über dringend zu vermittelnde Grundlagen in der Lehrer/-innenausbildung geben. Rubie-Davies et al. (2006) können in mehreren Untersuchungen nachweisen wie wichtig es für den Lernfortschritt und die Motivation ganzer Klassen ist, dass sie positiv angeschaut werden und die Lehrkraft zuversichtlich in Bezug auf den zu erwartenden Lernfortschritt ist. Ihre Forschung zeigt, dass es entscheidend ist, die ganze Klasse anzusprechen und der Klasse als Ganzem das Zutrauen in ihre Möglichkeiten auszusprechen. Der positive Blick ist nicht nur wichtig, wenn Lehrkräfte die Schüler/-innen direkt ansprechen, sondern ein positiver Blick auf die Klasse zahlt sich auch auf Elternabenden aus. Es macht einen großen Unterschied in den Wirkungen auf die Eltern aus, von einer Klasse freundlich und zugewandt sowie positiv zu sprechen und einzelne Probleme lösungsorientiert anzugehen oder aufgrund einzelner Probleme generalisierend eine ganze Lerngruppe im Grunde genommen zu beschimpfen. Es werden hier ähnliche Probleme erzeugt wie diejenigen, die in Abschn. 5.1. beschrieben wurden.

6.4  Zum Ausdruck von Erwartungen

83

6.4.3 Erwartungen an einzelne Schüler/-innen Über Feedback, Kommentierungen unter Klausuren und Interaktionsgestaltung werden in der Regel differenzielle Erwartungen an einzelne Schüler/-innen kommuniziert (Brophy und Good 1970; Brophy 1986; Steins 2008; Steins et al. 2018; Schober und Ziegler 2001). Als besonders schädigend für die Motivation der Lernenden hat sich Feedback herausgestellt, das Schüler/-innen suggeriert, ihre Fähigkeiten würden auf unabänderlichen Ursachen beruhen. Unabänderliche Ursachen für schlechte Schulleistungen anzunehmen und mitzuteilen hat auf Schüler/-innen eine demotivierende Auswirkung. Unabänderliche Ursachen sind genetische Erklärungen. Diese Erklärungen können sich in den merkwürdigsten Äußerungen widerspiegeln: Die ganze Familie konnte es noch nie; dieser Schüler hat eben kein Mathehirn; diese Schülerin hat nur ein Sprachenhirn; Jungen können eben nicht feinmotorische Tätigkeiten ausführen; Mädchen fehlt der Biss für gute Argumentationen. Mangelnde Intelligenz oder mangelnde grundsätzliche Fähigkeit für ein Fach anzunehmen, wird oft von Annahmen über genetische Veranlagungen gespeist. Dass solche Annahmen sich in Erwartungen niederschlagen und für Schüler/-innen demotivierend sind, gilt interessanterweise im Guten wie im ­ Schlechten (Dweck 2017). Glauben Schüler/-innen aufgrund des Feedbacks, sie können es einfach, weil sie Naturtalente seien oder sie können es nicht, weil sie nur für andere Fächer Begabungen hätten, erfahren sie keinerlei Kontrolle über den Zusammenhang zwischen ihrem eigenen Verhalten und den Leistungsergebnissen. Auch sehr leistungsstarken Schüler/-innen fallen gute Leistungen nicht in den Schoß; wie wir aus der Kreativitätsforschung wissen, steht hinter „genialen“ Ergebnissen eine intensive Auseinandersetzung mit einer Sache (Gardner 2002). Beide Schüler/-innengruppen entwickeln aufgrund eines wirklichkeitsinkongruenten Selbstkonzepts unangemessene Verhaltensweisen und Emotionen, z. B. Angst und Demotivation trotz guter Leistung und Apathie angesichts schlechter Leistung, obwohl im letzten Fall Anstrengung besonders wichtig wäre (Dweck 2017). Es ist wichtig, Intelligenz immer als das sich beschäftigen mit den Themen und Aufgaben zu sehen. Dabei kann man herauszustellen: Wenn man sich mit einer Sache beschäftigt, wird man besser: Diese Sichtweise auf Lernen in Kombination mit hohen Erwartungen daran, dass es auch machbar ist, ist motivierend für alle Schüler/-innengruppen. Als besonders förderlich hat sich herausgestellt, Schülern/-innen möglichst konkretes Feedback zu geben (was hat warum geklappt oder nicht geklappt, und

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6  Erwartungen: So zutrauend wie möglich

was steigert die Wahrscheinlichkeit, sodass es wieder klappen wird bzw. endlich klappen wird) über die Verhaltensweisen, die Schüler/-innen möglichst selbstständig ausführen können, um sich zu verbessern. Auch kann man dabei immer wieder die Variabilität von Leistungen betonen, weil diese mit eigenen Anstrengungsbemühungen im Zusammenhang stehen. Schüler/-innen, die lernen, dass es sich lohnt, sich um ein Thema zu kümmern und sich mit einer Sache zu beschäftigen, entwickeln Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen in ihre eigenen Anstrengungsbemühungen (Dweck 2017). Wichtig ist es, Schüler/-innen hierbei die Zeitperspektive aufzuzeigen: Beschäftigt man sich mit einer Sache, wird man kontinuierlich besser, auch wenn sich Erfolge nicht sofort zeigen. Das ist besonders bei Schüler/-innen wichtig, die wiederholte negativen Leistungsrückmeldungen bekommen. Ihnen kann man aufzeigen, dass die nicht so gute Leistung wohl noch viel schlechter aussehen würde, hätten sie sich immer noch nicht mit dem Fach beschäftigt. Es ist also für ein Feedback, das die Selbstwirksamkeit von Schüler/-innen fördert, zentral, dass Lehrkräfte ihren S ­ chüler/-innen immer wieder vor Augen führen, dass es einen Zusammenhang zwischen Leistung und der Beschäftigung mit einer Sache gibt. Es ist also angemessen, von Schüler/-innen zu erwarten, dass sie leistungsbezogene Kriterien erfüllen können, wenn sie üben und sich anstrengen, auch dann, wenn sie mehr üben müssen als der Durchschnitt, weil sie bereits Rückstände haben, Lücken aufweisen und Motivationsprobleme haben. Schüler/-innen, die ein niedriges Anspruchsniveau entwickelt haben, mit niedrigen Erwartungen zu begegnen, heißt, dieses Anspruchsniveau zu zementieren. Es ist also durchaus angemessen, eigene Erwartungen auch für diese Schüler und Schülerinnen an den allgemeinen Kriterien auszurichten. Erwartungen sollten also für alle ­Schüler/-innen an den allgemeinen Kriterien ausgerichtet werden. Mit den folgenden Abbildungen soll nochmals die Relevanz der Lehrkrafterwartungen für die Motivation der Schüler/-innen verdeutlicht werden. Abb. 6.1.

Abb. 6.1   Demotivierte Schüler/-innen als Resultat einer Auffassung von Intelligenz als feste Größe plus niedrigen Erwartungen an das Können der Schüler/-innen

6.4  Zum Ausdruck von Erwartungen

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illustriert die demotivierende Wirkung einer Vorstellung von Intelligenz als unveränderliche Größe in Kombination mit niedrigen Erwartungen. Mit Abb. 6.2. soll die motivierende Wirkung der Kombination von hohen Erwartungen an das Können der Schüler/-innen und einer Sicht von Intelligenz als etwas Beeinflussbarem verdeutlicht werden. Die Abb. 6.3, 6.4 und 6.5 illustrieren die Relevanz des Zusammenspiels zwischen dem jeweiligen Fähigkeitskonzepts von Schüler/-innen und der Wahrnehmung des Zutrauens, das die Lehrkraft an die Fähigkeit der Schüler/-innen zeigt: Beide Faktoren zusammen beeinflussen stark Demotivation versus Motivation und Lernfreude.

Abb. 6.2   Motivierte Schüler/-innen als Resultat einer Auffassung von Intelligenz als fluide Größe plus hohen Erwartungen an das Können der Schüler/-innen

Abb. 6.3   Demotivierte Schüler/-innen als Resultat einer Auffassung von Intelligenz als fluide Größe plus hohen Erwartungen an das Können der Schüler/-innen

Abb. 6.4   Motivierte Schüler/-innen trotz eines niedrigen Fähigkeitskonzepts der Schüler/innen durch hohes Zutrauen der Lehrer/-innen an die Schüler/-innen

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6  Erwartungen: So zutrauend wie möglich

Abb. 6.5   Motivation und Lernfreude als Resultat eines hohen Fähigkeitskonzepts von Schüler/-innen und hohem Zutrauen der Lehrkräfte an die Schüler/-innen

6.5 Was unterscheidet Lehrkräfte mit hohen Erwartungen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen? In mehreren Untersuchungen ging Rubie-Davies (2010; Rubie-Davies et al. 2006), der Frage nach, was Lehrkräfte mit hohen Erwartungen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen unterscheidet. Die Autor/-innen konzentrierten sich nicht nur auf Unterrichtsbeobachtungen, sondern beschäftigten sich auf der Basis von Interviews auch mit den grundlegenden Überzeugungen der Lehrkräfte über die Leistungspotenziale von Schüler/-innen. Tab. 6.1 zeigt die Unterschiede auf. Die Tabelle illustriert einen besonders starken Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Lehrkräften: Lehrkräfte mit hohen Erwartungen gehen zunächst vom Besten, vom Positiven aus und fördern dieses; Lehrkräfte mit niedrigen Erwartungen gehen grundsätzlich vom Schlechtesten aus; sie arbeiten gleichzeitig auch nicht an einem positiven Klassenklima. Die erste und letzte Zeile der Tabelle zeigt die Indikatoren hierfür auf. Diese unterschiedlichen Verhaltensmuster der beiden Gruppen legen den Schluss nahe, dass Lehrkräfte durch ihr Verhalten dazu beitragen, dass ihre Vorstellungen von Schüler/-innen zur Wirklichkeit werden. Die Schüler/-innen sind sehr aufmerksam diesen Erwartungen der Lehrkräfte gegenüber und entziffern die Botschaften in Bezug auf ihr Begabungskonzept (Weinstein 1993, 2002). Es liegt deswegen nahe, dass Lehrkräfte mit hohen Erwartungen nicht nur die Motivation, Leistungsbereitschaft und das Lernniveau der Schüler/-innen deswegen positiv beeinflussen, weil sie wirklichkeitsangemessenes Feedback aufgrund ihrer eigenen positiven Überzeugungen geben können, sondern weil sie auch positive Beziehungen etablieren, die an sich motivierend sind (vgl. Kap. 2). Wenn Schüler/-innen konsistent auf freundliche Weise ermutigt werden und konstruktiv instruiert werden, entwickeln sie sich

6.6  Elterliche Erwartungen

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Tab. 6.1   Was unterscheidet Lehrkräfte mit hohen Erwartungen an das Können der Schüler/-innen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen? (Rubie-Davies et al. 2006; Rubie-Davies 2010) Beobachtung/Selbstbericht

Lehrkräfte mit hohen Erwartungen

Lehrkräfte mit niedrigen Erwartungen

Lernumgebung

Positive, sozial-emotional befriedigende Gestaltung



Haltung der Schüler/-innen zu Schularbeit

Gehen von einer grundsätzlich positiven Haltung aus

Unterstellen den Schüler/innen Desinteresse

Beziehungen der Schüler untereinander

Gehen von positiven Beziehungen aus



Unterstützung durch die Familie

Gehen von unterstützenden Familien aus

Gehen von negativen Einflüssen aus

Potenzial der Schüler

Positiver Blick

Negativer Blick, unterdurchschnittliche Erwartungen

Schülerfehlverhalten

Kümmern sich

Negative Reaktionen

Fragetechniken

Viele offene Fragen

Geschlossene Fragen

Gruppenkonstellationen

Bilden häufig leistungsheterogene Gruppen

Bilden häufig leistungshomogene Gruppen

Instruktionsverhalten

Sorgfältig, offen, Autonomie Direktiv fördernd

gut. Im Kontrast hierzu kann der Verhaltensstil von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen entmutigend sein, besonders für Schüler/-innen mit einem niedrigen Fähigkeitskonzept.

6.6 Elterliche Erwartungen Wie oben schon festgehalten, sind hohe Erwartungen an Kinder und Jugendliche nicht durch das Elternhaus gesichert (siehe Tab. 2.1). Es wäre gut für Kinder und Jugendliche, würden ihre Eltern ihnen viel zutrauen und sie dabei unterstützen. Es gibt einige Längsschnittstudien, welche zeigen, dass die elterlichen Erwartungen und die elterliche Involviertheit und Unterstützung ein Schutzfaktor in der Schulzeit, besonders bei Schulübergängen ist (Bowen 2010; Bowen et al. 2012). Man kann sich leicht vorstellen wie demotivierend es für einen Schüler oder eine Schülerin sein muss, wenn sowohl die eigenen Eltern als auch die eigenen Lehrer und Lehrerinnen ihnen keine guten Leistungen zutrauen. Selbst

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wenn die Kinder nicht zu Hause bei den Eltern leben, spielen deren Erwartungen eine große Rolle, wie an einer Stichprobe von 1360 Jugendlichen, die in Wohngruppen und Heimen in Israel leben, gezeigt werden konnte (Melkman et al. 2016). Ich verweise an dieser Stelle auf den Symbolischen Interaktionismus: Die signifikanten Anderen – und Eltern sind sicher signifikante Andere – bleiben lange Zeit die Augen, die auf uns gerichtet sind, auch wenn sie leibhaftig nicht da sind (siehe Abb. 1.1. und 1.2). Natürlich ist es schwierig, die Angemessenheit von Erwartungen zu beurteilen. Eltern könnten sich überlegen, ob sie mindestens erwarten, dass ihr Kind die Vorgaben der Lehrkräfte bearbeitet, also die Materialien besorgt, die benötigt werden, die Hausaufgaben durchführt, die aufgegeben wurden, sich angemessen auf Tests vorbereitet, sich am Unterricht beteiligt, sich sozial kompetent verhalten lernt. Das wären die Mindeststandards, auf die Eltern achten könnten und auf die sie auch von Lehrkräften hingewiesen werden können. Wenn man Eltern wirklich dabei unterstützen will ihren Kindern zu helfen in der Schule gut zu lernen, dann ist es ein guter Schritt, ihnen mitzuteilen, dass ihre elterlichen Erwartungen ihrem Kind genau signalisieren, was es tun muss und kann, wenn es Lernfortschritte erleben möchte. Hattie (2009) berichtet in diesem Zusammenhang von einem interessanten Projekt, dem Flexmoreprojekt, in dem Eltern sehr konkret in den Handlungen instruiert werden, welche ihre Kinder unterstützen können. Gleichzeitig ist es auch wichtig, Eltern gegenüber die Möglichkeiten des Kindes zu betonen, das eigene Zutrauen auszusprechen und freundlich darauf zu beharren, dass jede freundliche Unterstützung aus dem Elternhaus gut für das Kind sein wird (vgl. Abschn. 5.1).

Literatur Bowen, G. L. (2010). Preventing school dropout: The eco-interactional developmental model of school success. The Prevention Researcher, 16, 3–8. Bowen, G. L., Hopson, L. M., Rose, R. A., & Glennie, E. J. (2012). Students‘ perceived parental school behavior expectations and their academic performance: A longitudinal analysis. Family Relations, 61, 175–191. Brophy, J. (1986). Classroom Management Techniques. Education and Urban Society, 18 (2), 182–194. Brophy, J. E., & Good, L. (1970). Teachers‘ communication of differential expectations for children’s classroom performance: Some behavioral data. Journal of Educational Psychology, 61, 365–374. Brophy, J. E., & Good, T. L. (1986). Teacher Behavior and Student Achievement. In M. C. Wittrock (Hrsg.), Handbook of Research on Teaching (3. Aufl., S. 376–391). New York, NY: Macmillan.

Literatur

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Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich

Inhaltsverzeichnis 7.1 Bezeichnungen für Kontrolle in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 7.2 Kontrolle als Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 7.3 Somatic Devices als negative Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Kontrolle weckt bei den meisten Menschen dann negative Assoziationen, wenn sie selbst kontrolliert werden sollen, ist aber wahrscheinlich positiv besetzt, wenn andere kontrolliert werden sollen, damit man selber geschützt oder anerkannt wird. Damit scheint eine wichtige Funktion von Kontrolle auf, nämlich bestimmte Standards zu sichern. Grundsätzliche Fragen, über die kontrovers diskutiert wird, betreffen die Notwendigkeit von Kontrolle, und die Rigorosität von Kontrolle. Der Spruch, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, bezieht hier sehr eindeutig Position und ist sehr bekannt (Evans 2018). Dass dieser Spruch von Lenin stammt, ist weniger bekannt (Evans 2918). Wie Lenin es meinte, dürfte bekannt sein. Kontrolle löst bei vielen Menschen die Assoziation mit Zwang aus und wird als Machtinstrument abgelehnt. Oft ist aber auch die Auffassung zu hören, dass ohne Kontrolle, im Sinne von Zwang, Menschen faul und nicht vertrauenswürdig seien (vgl. hier auch die Erwartungen von Lehrkräften mit niedrigen Erwartungen, Tab. 6.1 oder vergleiche 4.5.1). Ohne einen äußeren Blick können Fehler nicht erkannt werden (Behnke und Steins 2017). Wo aber wird aus wohlmeinender Kontrolle negativ empfundener Zwang? Was ist eine nützliche Kontrolle, was ist eine negative Kontrolle? Was ist sinnvoll zu kontrollieren? Und wie wäre es sinnvoll? Eine Heuristik für den © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_7

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7  Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich

Einsatz von Kontrollen könnte sein: Wenn Kontrollen einen positiven Effekt nach sich ziehen, werden sie als sinnvoll empfunden, wenn sie nur Arbeit machen ohne positive Folgen zu haben, dann sind sie nur eine Belastung. Idealerweise sollten Schüler/-innen nicht lernen, weil sie kontrolliert werden, sondern eine Kontrolle sollte ihnen helfen, etwas besser zu lernen. Russell (1935) greift dieses Problem unter dem Aspekt der Freiheit in der Erziehung auf (S. 234–236): Zum Problem der Freiheit in der Erziehung haben wir heute hauptsächlich drei geistige Richtungen, die teils aus abweichenden Auffassungen von den Zielen (der Erziehung und Bildung) und teils aus unterschiedlichen psychologischen Theorien entstanden sind. Die einen sagen, alle Kinder sollten vollkommen frei aufwachsen, so schlecht geartet sie auch immer sein mögen; die anderen behaupten, sie müssten voll und ganz einer Autorität unterworfen werden, so gutartig immer sie sein mögen; und die dritten erklären, die Kinder sollten ohne Zwang aufwachsen, jedoch ungeachtet dieser Freiheit immer gut und brav sein. Diese letzte Gruppe ist größer, als irgendwie logisch berechtigt erscheint, denn Kinder werden so wenig wie Erwachsene durchweg tugendhaft sein, wenn sie alle ganz frei sind. Die Ansicht, dass Freiheit moralische Vollkommenheit gewährleistet, ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Rousseauismus und könnte einer wissenschaftlichen Untersuchung der Tiere und Kleinkinder nicht standhalten. Die Anhänger dieser Überzeugung glauben, die Erziehung brauche keinem positiven Zweck zu dienen und solle nur eine angemessene Umgebung für die Entfaltung der natürlichen Anlagen des Kindes schaffen. Ich kann mich dieser Schule nicht anschließen, die mir allzu individualistisch und ungebührlich gleichgültig der Bedeutung der Wissenschaft gegenüber erscheint. Wir leben nun einmal in Gemeinschaften, die eine Zusammenarbeit erfordern, und es wäre utopisch anzunehmen, die ganze notwendige Zusammenarbeit könne sich zwanglos aus dem natürlichen Impuls der einzelnen ergeben. Das Fortbestehen einer großen Bevölkerung auf begrenztem Raum ist nur dank Wissenschaft und Technik möglich; die Erziehung muss daher das erforderliche Mindestmaß von beidem vermitteln. […] Vom Standpunkt der Gemeinschaft aus gesehen muss die Erziehung etwas Positives sein und nicht allein die Gelegenheit zum Heranwachsen bieten. Selbstverständlich muss sie auch das ermöglichen, zugleich aber für ein geistiges und moralisches Rüstzeug sorgen, wie es die Kinder aus eigenem nicht erwerben können. Im Folgenden wird nun überlegt, welche Formen der Kontrollen unterstützend sein können, welche nicht und wie Kontrolle mit den weiteren Dimensionen der Interaktionsgestaltung zusammenhängt.

7.2  Kontrolle als Überblick

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7.1 Bezeichnungen für Kontrolle in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden Wenn man Erwartungen an Schüler und Schülerinnen stellt, liegt es nahe, dass es auch Interaktionen geben wird, durch welche geprüft wird, wieweit sich Schüler und Schülerinnen in Richtung dieser Erwartungen bewegen (Friedman 2006; Ertesvag 2009; Dollase 2012, 2014; Sandilos et al. 2016). In der Fachliteratur gibt es hierfür Bezeichnungen wie Control, Monitoring oder Rechenschaftslegung. Die von Dollase (2012) verwendete Bezeichnung Individuelle Rapporterwartung, d. h. Schüler und Schülerinnen wissen, dass jederzeit darauf geschaut werden kann, was sie gemacht haben, ist z. B. eine konkrete Umsetzung von Rechenschaftslegung. Kontrolle im Sinne von Rechenschaftslegung ist dann besonders wichtig, wenn Schüler und Schülerinnen nicht selbstständig lernen. In diesem Sinne sollte sie ein Mittel dafür sein, wie Schüler und Schülerinnen lernen können, sich selbstkritisch eigenständig zu überwachen. Rechenschaftslegung sollte aber transparent eingefordert werden und nicht willkürlich als negative Sanktion verhängt werden. Man kann mit den Schüler/-innen altersangemessen entscheiden, welche Methoden der Rechenschaftslegung man auswählt und wie man es macht. Beispiele für verschiedene Methoden sind kurzer mündliche Bericht, Hausarbeiten einsammeln, Tests. Beispiele für das Wie sind Rechenschaftslegungen für alle, per Los oder per Plan. Wichtig ist eine Methodenvielfalt und für die Schüler/-innen die Vorhersehbarkeit, das Feedback und der Sinn des Ganzen.

7.2 Kontrolle als Überblick Ein positiver Blick auf Kontrolle sieht Kontrolle als den Grad, den eine Lehrkraft über das hat, was im Klassenzimmer vor sich geht (Wubbels et al. 2006, Veldman et al. 2013). Kontrolle wird besonders im Zusammenhang mit Wärme und Freundlichkeit destruktiv oder förderlich. Brekelmans et al. (2005) wenden hier ein Modell von Kiesler (1983) und Tiedens und Jimenez (2003) an, welches diesen Sachverhalt gut illustriert (siehe Abb. 2.6): Ohne Wärme und Zuwendung und bei hohen Erwartungen verstärkt Kontrolle das Gefühl von Druck und eine Beziehung bekommt eine negative Qualität. In Kombination mit Wärme und Unterstützung geht man davon aus, dass Kontrolle ein anderes Gesicht hat und anders wahrgenommen wird.

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7  Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich

Einem Schüler, der einen verbesserungswürdigen Leistungsstand hat, könnte man anbieten, dass man ihm häufiger Feedback gibt, als einer/-m Schüler/-in, der oder die gute Fortschritte macht. Dies wird ein Schüler dann als Kontrolle im negativen Sinn empfinden, wenn das Feedback nicht unterstützend und unfreundlich ist. Abgesehen von den normalen Kontrollen sollten zusätzliche Feedbackmöglichkeiten angeboten werden, der Schüler aber selber entscheiden können, ob er sie annimmt oder nicht. In einem unserer Projekte haben wir einen Schüler in einer dritten Klasse beobachten können, der das mangelnde Interesse seiner Mathematiklehrerin an den Leistungsfortschritten der Schüler/-innen so genutzt hat, dass er reine Zufallszahlen in die Aufgabenblätter geschrieben hat. Dies ist ein besonders krasses Beispiel dafür, dass geforderte Rechenschaftslegungen nötig sind. Kontrolle ist gleichbedeutend mit einem Blick von außen. Die meisten ­Schüler/-innen benötigen diesen Blick, um motiviert zu bleiben.

7.3 Somatic Devices als negative Kontrolle Ein empirisches Beispiel für negative Kontrolle beschreiben Solis et al. (2009) am Beispiel einer interkulturell integrierten dritten Klasse im Rahmen eines bestimmten Programms. Charakteristisch für dieses Programm ist die explizite Offenlegung von Regeln respektvollen Verhaltens im Klassenzimmer. Wie allerdings die Lehrkräfte die Regeleinhaltung einfordern, wird als unangemessen dirigistisch beschrieben. Ein Beispiel für dirigistisches Verhalten zur Einforderung von Aufmerksamkeit ist „I expect your eyes stoke on me.“ (S. 287). Äußerungen wie diese werden von den Autoren als Kontrolle über die Gespräche und Körper der Schüler/-innen gesehen, als Einimpfen der Regeln respektvollen Verhaltens und somit als Produktion kulturellen Wissens und soziale Reproduktion (siehe auch Ryan 1991). Dieses Beispiel zeigt aus der Perspektive der Autor/-innen auch ein Dilemma auf, in dem Lehrkräfte sich befinden können: Sie sollen für ein positives Klassenklima sorgen, dafür sind Regeln wichtig, die für alle gelten; die Regeldurchsetzung erfolgt allerdings dirigistisch, weil es als respektlos erlebt wird, wenn es Regelverstöße gibt. Dirigistisches Verhalten einer Lehrkraft ist nun auch nicht unbedingt respektvoll und erschwert somit die Entstehung eines positiven Klassenklimas. Lehrkräfte mögen es mitunter ungeschickt anfangen, diese Regeln zu implementieren, sogar in Projekten, die soziale Kompetenzen vermitteln wollen.

Literatur

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Abb. 7.1   Beispiele für negative Kontrolle: Somatic Devices, die nichts mit dem Telos der Schule zu tun haben

Allgemein ist der Einsatz somatischer Devices eine unnötige und negative Kontrolle. Burdelski (2010) weist darauf hin, dass Regeln wichtig sind, dass sie aber auch angemessen sein müssen und angemessen angemahnt werden müssen, um zu einem positiven Klassenklima beizutragen. Der Einsatz sogenannter Somatic Devices vermittelt negative Kontrolle, d. h. Kontrolle, die eher als Machtgebrauch, denn als Unterstützung wahrgenommen wird und keinen weiteren Lerneffekt nach sich zieht. Somatic Devices sind neben der expliziten Instruktion, wo die Augen zu sein haben auch, wie Schüler/-innen zu sitzen haben, ob und wie sie lächeln sollen, wann sie aufzustehen haben, ob und wie sie sich an den Händen zu fassen haben, in welchen Formationen sie zu gehen, zu stehen und zu warten haben etc. Abb. 7.1 gibt einen kleinen Einblick in häufige Somatic Devices. Der Wunsch nach Kontrolle über eine Gruppe junger Menschen ist menschlich nachvollziehbar; es besteht sicher ein allgemeiner Konsens darüber, dass Gruppen von Menschen, gleich welchen Alters, nur durch explizite prozedurale Regeln erfolgreich miteinander kommunizieren und lernen können. Sofern Regeln diesem Zweck dienen, sind sie allgemein nachvollziehbar und formal eine positive Verfahrensregelung. Diese Ausführungen über Somatic Devices in Abb. 7.1 aber sind Beispiele für eine sinnlose, negative Kontrolle, die einem positiven Miteinander abträglich ist, eher Anspruchsstatus verkörpern und vor allem Wärme und Freundlichkeit erschweren.

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7  Kontrolle: So viel wie nötig, so wenig wie möglich

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Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich

Inhaltsverzeichnis 8.1 Bezeichnungen für Negativität in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 8.2 Negative Verzerrungen sind wahrscheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 8.3 Negativität als Statussymbol. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Interaktionen zwischen Menschen bergen in vielerlei Hinsicht Konfliktpotenzial. Wenn Konflikte gemeinsam gelöst werden können, stärken sie nicht nur die Beziehung der beteiligten Personen, sondern machen sie auch klüger in Hinblick auf ihre Problemlösefertigkeiten (Forsyth 2019). Allerdings wird es auch in den freundlichsten Beziehungen kaum möglich sein, negative Episoden zu vermeiden. Negativität in zwischenmenschlichen Interaktionen wird wahrscheinlich, wenn ein Part der Interaktion irrational reagiert, tritt aber dann mit Sicherheit auf, wenn der andere Part darauf seinerseits irrational reagiert. Da junge Menschen von ihren Möglichkeiten eher wahrscheinlicher zu irrationalen Handlungen neigen als erwachsene Bezugspersonen, ist vor allem in der Schule eine hohe Wahrscheinlichkeit für negative Interaktionen vorhanden. Es hängt aber letztendlich von den Handlungen der erwachsenen Bezugsgruppen ab, in der Schule also von den Handlungen der Lehrkräfte, wie ausgeprägt die negativen Episoden verlaufen werden. Negativität ist nicht wünschenswert, weil sie häufig den Beginn für eskalierende Konfliktstrategien darstellt und aus Mücken Elefanten werden (Forsyth 2019). Was mit leichter, ruhiger Hand noch geregelt hätte werden können, wenn eine Lehrkraft vernünftig auf ein irrationales Verhalten reagiert © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_8

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98

8  Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich

hätte, wird zu einem Riesenproblem, bei dem man hinterher nicht mehr Wirkung und Ursache auseinanderzuhalten vermag: Dritte werden hinzugezogen, dem Gegenüber werden böse Intentionen unterstellt, negative Aspekte werden akzentuiert, die Persönlichkeit des/der Anderen wird schlecht gemacht und es tritt eine hohe Motivation auf, unbedingt Recht zu haben, Rachsucht und Ärger kommen auf (Forsyth 2019). Negativität ist in einer bestimmten Ausprägung unvermeidlich. Auch ein sehr freundlicher Mensch wird nicht jederzeit mit leichter Hand Probleme angehen können. Allerdings kommt es hier auf das Ausmaß und die Dauer an. Deswegen gilt die Heuristik: Negativität sollte so gering ausgeprägt wie möglich sein und so selten wie möglich vorkommen. Sie ist nicht notwendig, aber unumgänglich. Und wenn sie auftritt, sollte man den eigenen Anteil schnellstmöglich erkennen und ausräumen. Missverständnisse und auch reale Missstände anzusprechen und aufzulösen ist ein erfolgreicher Weg der Deeskalation. Wenn man sich einmal auf eine unhaltbare anklagende Position festgelegt hat, ist der Boden für die Eskalation schon bereitet. In diesem kurzen Kapitel wird besonders herausgearbeitet, warum Negativität in Beziehungen kompensiert werden sollte.

8.1 Bezeichnungen für Negativität in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden Die Dimension Negativität bezeichnet eskalierende, negative Qualitäten von Interaktionen (Ladd et al. 1999; Ly et al. 2012; Zee et al. 2013; Hughes und Im 2016). Hier gilt: Je weniger davon in der Interaktion zwischen Lehrer und Lehrerinnen und Schüler und Schülerinnen auftritt, desto besser. Bezeichnungen in der internationalen Fachliteratur für Negativität sind Conflict, Discordance oder Negativity. Alles, was Schüler und Schülerinnen in Abhängigkeit hält, ihnen Selbstkontrolle nimmt, verstärkt Negativität. Das wird ausgedrückt durch Begriffe wie Dependency und Possessiveness. Negativität überlappt sich also stark mit negativer Kontrolle (siehe Kap. 7), muss aber nicht unbedingt durch negative Kontrolle entstehen. Deswegen wird sie auch in einem eigenen, wenn auch knappen, Kapitel behandelt. Alternative Interaktionsmuster zur negativen Kontrolle, durch die Negativität entsteht, werden als Nondirectiveness (Cornelius-White 2007) und Freiheit in Grenzen bezeichnet; dieser letzte Begriff stammt aus der elterlichen Erziehungsstilforschung (Schneewind 2012).

8.3  Negativität als Statussymbol

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8.2 Negative Verzerrungen sind wahrscheinlich Negativität ist auch deswegen unvermeidlich, da die Bereitschaft von Menschen, Negatives zu sehen, größer ist als die Bereitschaft, Positives zu sehen. In Kap. 6 wurde beschrieben, dass insbesondere Lehrkräfte mit niedrigen Erwartungen an Schüler/-innen in vielerlei Hinsicht negative Erwartungen haben und möglicherweise auch eine besonders hohe Bereitschaft haben, Negatives zu sehen. In der Fachliteratur wird diese Bereitschaft als Negativitätsbias bezeichnet (Kanouse 1984): Negatives sieht man sehr schnell, für Stärken ist man oft blind. Diese Erklärung ist in Abb. 8.1 in Form eines Merkzettels abgebildet. Will man sich selber beispielsweise zu einer ausgewogeneren Wahrnehmung disziplinieren, kann es sehr hilfreich sein, sich diese Definition zu eigen zu machen. Dies gilt auch für den folgenden Aspekt: Negative Bewertungen üben einen stärkeren Einfluss auf unsere Meinungsbildung und unser Verhalten aus als positive Bewertungen und sind resistenter gegen Veränderung (Hamilton und Zanna 1972). Dem Pollyanna Prinzip (Matlin und Stang 1978), das besagt, dass man, solange man keine negative Information bekommt, erst einmal von positiven Bewertungen ausgeht, arbeitet das Blasting Phänomen entgegen (Cialdini und Richardson 1980), wonach man andere abwertet, besonders wenn man eine negative Beziehung zu ihnen hat (siehe Abb. 8.2).

8.3 Negativität als Statussymbol Dazu kommt, dass negative Bewertungen intellektueller Produkte als intelligenter wahrgenommen werden als positive Bewertungen und zwar auch dann, wenn die positive Evaluation als qualitativ besser eingeschätzt wurde, also besser

Abb. 8.1   Was ist der Negativitätsbias?

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8  Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich

Abb. 8.2   Was ist das Blasting Phänomen?

begründet wurde (Amabile und Glazebrook 1981). Allerdings werden negative Kommentatoren/-innen auch als weniger sympathisch eingeschätzt. Es ist anzunehmen, wie Amabile und Glazebrook (1981) scheiben, dass deswegen negative Bewertungen häufig als Selbstdarstellungsstrategie eingesetzt werden. So kann man sich als klug und intelligent darstellen und auf eine bestimmte Machtposition hinweisen. Negative Kritik kann deswegen auch als Ausdruck symbolischer Selbstergänzung interpretiert werden, insbesondere, wenn Unsicherheit über den eigenen Status herrscht. Auch Schüler/-innen können sich diese Dynamik zu eigen machen; es wäre hier die Aufgabe der Lehrkraft, allein nur die sachliche Argumentationskraft ins Auge zu nehmen und sich nicht von der scheinbaren Intellektualität negativer Kritik blenden zu lassen. In Abb. 8.3 werden ausgewählte wichtige Signale von Anspruchsstatus aufgeführt, die man in der Forschung untersucht hat. Natürlich sind Lehrkräfte in einer Rolle, in der sie ihre Leitungsverantwortlichkeit wahrnehmen müssen, um die gesamte Lerngruppe zusammenzuhalten. Für den Zusammenhalt ist aber auch Freundlichkeit und Zugänglichkeit wichtig, auch sollten Lehrkräfte Schüler/-innen sehr viel selber aktiv machen lassen. Zeit ist wichtig, in der sich Schüler/-innen auch einbringen können und selber sprechen dürfen. Signale von Führungsanspruch zu zeigen heißt nicht, dass damit auch hohe Produktivität von Gruppen einhergeht. Wie die Forschung von Amabile et al. (2004) zeigt, ist ein Führungsstil, der soziale Unterstützung, Anregung und Aufgabenfokus vereint mit erhöhter Produktivität verbunden. Amabile et al. (2004) schreiben, dass das Setzen von klaren Zielen, die Autonomie, sie zu erreichen, Ressourcen hierfür, genug Zeit, aber nicht zu wenig, Unterstützung, problemorientiertes Lernen, Offensein für Ideen, Katalysatoren für Produktivität sein können. Anderen mit Negativität zu begegnen, besonders negativ kritisch zu sein, Respektlosigkeit, Entmutigung,

8.3  Negativität als Statussymbol

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Abb. 8.3   Symbole von Anspruchsstatus und der Lehrberuf

emotionale Vernachlässigung, Antagonismus gelten als Toxine. Das Klima wird vergiftet, die Produktivität sinkt. In der Schule würde das Telos verfehlt werden, würde Negativität als Selbstdarstellungsstrategie benutzt, nur um vergleichsweise überlegener da zu stehen. Negativität als Selbstdarstellungsstrategie einzusetzen ist nichts weiter als eine symbolische Selbstergänzung (Gollwitzer et al. 2002): Man setzt ein Symbol ein (z. B. negative Kritik an einem Schüler), um damit darauf hinzuweisen, dass man eine bestimmte Qualität besitzt (z. B. überlegenes Expert/-innenwissen). Innerhalb dieser Theorie gilt als bestätigt, dass Menschen, die sich symbolisch selbst ergänzen, dafür stets andere Menschen brauchen (in diesem Fall bedient sich die Lehrkraft der Schüler/-innen), dass aber gleichzeitig die Bedürfnisse und Perspektiven dieser Anderen nicht mehr wahrgenommen werden: Sie sind Statisten im Stück der Person, die sich symbolisch selbst ergänzt (Gollwitzer et al. 2002). Symbolische Selbstergänzungen der Lehrkraft widersprechen eindeutig sowohl dem Bildungs- als auch dem Erziehungsauftrag der Schule. Sie sind zwar menschlich nachvollziehbar, denn Personen, die in einem Gebiet eher verunsichert sind, ergänzen sich besonders stark durch Symbole mithilfe eines Publikums. Aber es wäre für die Schüler/-innen erheblich besser und letztendlich auch für eine Person in Unsicherheit, wenn eine eigene Unsicherheit wirklich angegangen würde und nicht nur durch Symbole kaschiert würde.

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8  Negativität: So gering wie möglich, so selten wie möglich

Es gibt sicher harmlose Symbole, möglicherweise Minuten der Eitelkeit oder Kompensation von Unsicherheit. Symbole jedoch, die Negativität produzieren, sind besonders schädlich für eine konstruktive Lehrkraft/Schüler/-in Beziehung.

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Freundlichkeit kritisch betrachtet

Inhaltsverzeichnis 9.1 Reziprozität. Wie du mir, so ich dir?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 9.2 Macht Freundlichkeit verwundbar?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 9.3 Macht Freundlichkeit krank?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9.4 Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert Expertentum: Autorität unter dem Aspekt der Expertise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9.5 Ist Freundlichkeit Emotionsarbeit und somit verhandelbar?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Ist es wirklichkeitsfremd, freundlich zu Schüler/-innen zu sein? Freundlichkeit als zentrales Interaktionsprinzip bedeutet nicht, einem Schüler bzw. einer Schülerin einen unangenehmen Sachverhalt, wie zum Beispiel eine Rückmeldung über ein negatives Sozialverhalten, mit einem lieben Lächeln mitzuteilen. Seligman (2012) argumentiert, dass die soziale Realität im Gegensatz zur physikalischen Realität formbar wäre und es deswegen besser sei, ihr optimistisch zu begegnen. Aber ob Optimismus nicht nur eine positive Illusion ohne bemerkenswerten Effekt im Vergleich mit einer realistischen Sicht auf die Dinge ist, ist in der Psychologie bis heute nicht zufriedenstellend zu Ende diskutiert (Taylor und Brown 1988; Colvin und Block 1994). Letztendlich sollten Verhaltensprinzipien, die man sich für eine verbesserte berufliche Ausübung angewöhnen möchte, an der Realität gemessen werden und auch an der Realität entwickelt worden sein. Auch die soziale Realität unterliegt bestimmten Gesetzen und ist nicht grundsätzlich durch eine optimistische Herangehensweise zu ändern. Wenn es also hier um Freundlichkeit geht, genügt es also nicht, einfach zu lächeln und nett zu sein, sondern es gibt durchaus viele Einwände gegen ihren © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_9

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Abb. 9.1   Prüfung der Frage: Ist Freundlichkeit ein angemessenes Prinzip der Interaktionsgestaltung in der Schule?

Einsatz und Risiken bei ihrem Gebrauch im schulischen Kontext, so positiv auch ihre Begleiterscheinungen sein mögen. Über allem steht natürlich, dass man junge Menschen prinzipiell mag und ihnen vorurteilsfrei und offen begegnet, sonst ist es unmöglich, freundlich zu sein. In diesem Kapitel steht also Freundlichkeit als zentrales Interaktionsprinzip auf dem Prüfstand und wir werden uns mit einigen Bedenken und Einwänden gegen ihren unkritischen Gebrauch auseinandersetzen. Abb. 9.1 gibt einen Überblick über die Argumente, die möglicherweise die Wirkkraft von Freundlichkeit als zentralem Interaktionsprinzip einschränken könnten.

9.1 Reziprozität. Wie du mir, so ich dir? Ein universelles Interaktionsprinzip ist Reziprozität. Wenn wir uns jemandem gegenüber freundlich verhalten, erwarten wir ein solches Verhalten zurück und keinesfalls feindliches Verhalten als Reaktion auf unsere Freundlichkeit. Wenn wir etwas bekommen, fühlen wir uns verpflichtet, etwas zurückzugeben. Dadurch wird ein friedliches Miteinander wahrscheinlicher. Gesellschaftliche Konventionen des Miteinanders wie das Reziprozitätsprinzip, haben in der Regel diese Funktion, das friedliche Miteinander zu sichern. Das gegenseitige implizite

9.1  Reziprozität. Wie du mir, so ich dir?

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Geflecht aus Geben und Nehmen funktioniert mehr oder weniger, aber nicht immer. Wenn es nicht funktioniert, entstehen Konflikte. Was kann man machen, was sollte man machen, wenn jemand unfreundlich auf Freundlichkeit antwortet, nur nimmt, aber nichts gibt? Diese Art von Konflikt ist zentral in der Erforschung sogenannter sozialer Spiele, in denen es um kooperatives Verhalten geht. Wenn sich Person A gegenüber Person B kooperativ verhält, kann sie nach dem Reziprozitätsprinzip erwarten, dass Person B kooperativ antwortet. Verhält sich Person B nicht kooperativ, ist das bei Person A gleichermaßen mit negativen Emotionen und negativen Bewertungen über Person B verbunden. Person A wird sich ärgern, Person B als unfreundlich, rücksichtslos und undankbar einschätzen und ihr kooperatives Verhalten einstellen und sich möglicherweise sogar rächen (wie du mir, so ich dir). Die Forschung zum Tit for Tat zeigt folgende Lösungsmöglichkeit auf, welche als hart, aber fair wahrgenommen wird und mit einiger Wahrscheinlichkeit unkooperatives Verhalten beenden kann (Axelrod 1984; Forsyth 2019): Wird auf eigenes kooperatives Verhalten mit unkooperativem Verhalten geantwortet, sollte die eigene Antwort darauf ebenfalls unkooperativ sein (aber nicht unkooperativer und nicht auf einem moralisch inakzeptablem Niveau). Sobald aber kooperative Signale kommen, wird wieder kooperativ geantwortet. Rache, Nachtragen und andere eskalierende Strategien werden hier also vermieden, damit Eskalation verhindert und Kooperation wahrscheinlicher wiederhergestellt wird. Was zwischen Erwachsenen durchaus funktioniert, ist zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden unangemessen. Menschen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen und damit auch (Selbst)-Bewusstheitsstufen, können nicht wie Erwachsene behandelt werden, weil sie erst lernen müssen, sich als solche zu verhalten. Warum ist es so schwer, das zu berücksichtigen? Vielen Erwachsenen fällt es bereits schwer, die sogenannte goldene Regel nicht zu verdrehen. Die goldene Regel, dass man jemandem nichts antun sollte, was man selbst nicht für sich wünscht, besagt in der Umkehrung, dass man jemandem, der einem etwas Negatives angetan hat, dies zurückgeben müsste oder aber, dass jemand, dem man selbst etwas Gutes getan hat, dies zurückgeben müsste. Diese Verdrehungen geben aber nicht den eigentlich unmissverständlichen Inhalt der goldenen Regel wieder. Sie gehen aber Hand in Hand mit negativen Emotionen wie Rachsucht, Bitterkeit etc. (Ellis 1994). Schüler und Schülerinnen sollte man erklären, warum eine Verhaltensweise nicht akzeptabel ist und welche Alternativen aus welchen Gründen besser wären, Tit for Tat sieht eine solche Erklärung nicht vor.

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Auch verhindert man durch den Verzicht auf Tit for Tat und durch die Weigerung, die goldene Regel umzukehren, dass Machtkämpfe vor der Klasse ausgetragen werden und so, in der Regel, die immer selben Schüler und Schülerinnen als Teil eines Konfliktes mit der Lehrkraft wahrgenommen werden. Solche Prozesse spalten Gruppen und begünstigen ein negatives Klassenklima. Machtkämpfe dieser Art tragen dazu bei, dass sich diese Schüler und Schülerinnen einen ungünstigen Ruf erwerben, Lehrkräfte auch. Das Telos der Schule wird so sicher nicht erreicht (Hughes und Im 2016). Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive kann eine Lehrkraft solch ein Spiel nicht gewinnen, denn sie sitzt auf alle Fälle am längeren Hebel und wo die Spielvoraussetzungen ungleich verteilt sind, muss der Stärkere hüten, sich durchzusetzen, wenn er nicht unfair sein möchte (Walster et al. 1973).

9.1.1 Reziprozität kann nicht erwartet werden: Die erwachsene Position Im Sommer 2018 prügelte ein Lehrer einen Schüler krankenhausreif (U.S.A.). Der Schüler hatte den Lehrer wiederholt mit rassistischen Ausdrücken angesprochen. Die Reaktionen der Öffentlichkeit fielen unterschiedlich aus: Manche Menschen spendeten dem Lehrer für die bevorstehende juristische Auseinandersetzung Geld; andere beurteilten sein Verhalten als unerwachsen und unprofessionell. Nach allen Gesetzen und Regeln des Miteinanders war das Verhalten des Lehrers falsch und destruktiv. Dass viele Menschen ihn verstehen, liegt an der universellen Reziprozitätsregel, die die meisten Menschen verinnerlicht haben, dass man nämlich etwas zurückgibt, was man bekommt. Viele zivilisatorische Errungenschaften wie beispielsweise ein differenziertes und für einen Staat allgemeingültiges Rechtssystem, sind überhaupt erst entwickelt worden, um den immer wieder auftauchenden neuen sozialen Konflikten, die durch Eskalation und Vergeltungsmaßnahmen gekennzeichnet waren, zivili­ siertere Wege entgegenzusetzen, diese Konflikte anzugehen. Die menschliche Neigung, sich reziprok auch im Negativen zu verhalten, wurde zunehmend durch Gesetze reguliert (Evans 2018). Dennoch bleiben Konflikte ubiquitär und sind im Privat- und Arbeitsleben eine Quelle von Stress und Belastung. Menschen haben indes in zunehmendem Maße gelernt, Konflikte verbal auszutragen und nicht mit Gewalt zu lösen (Elias 2013). Dieser verbalen Auseinandersetzung sind allerdings in der Schule Grenzen gesetzt. Wie Jahn (2017) schreibt, können Lehrkräfte es nicht als gegeben annehmen, dass ihre Gegenüber über die Kompetenz einer differenzierten Aus-

9.1  Reziprozität. Wie du mir, so ich dir?

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einandersetzung verfügen, ganz im Gegenteil würde Schule als Institution durch diese Asymmetrie sogar Lehrkräfte Gefahr laufen lassen, sich zu infantilisieren und zu regredieren. Diese ständige Gefahr der Regression könne sogar dazu führen, dass auch Kolleg/-innen untereinander nicht mehr erwachsen miteinander umgehen. Die Lehrer/-innenrolle erwachsen auszufüllen, bedeutet, sich darüber stets klar zu sein, dass durch Alter, Erfahrung und vor allem durch die Rolle in der Organisation Schule Asymmetrien zwischen Lehrkraft und Schüler/-innen sind, die nicht aufhebbar sind, ohne dass Lehrkräfte in den Sog des Infantilen geraten (Jahn 2017). Im Guten kann zum Beispiel keine Reziprozität erwartet werden; dies kann unter Ungleichen nicht geschehen. Wenn eine Lehrkraft freundlich zu einer Klasse ist, kann sie nicht wirklichkeitskongruent Freundlichkeit der Klasse erwarten und sie kann unreifes Verhalten von Schüler/-innen nicht wirklichkeitskongruent zum Anlass nehmen, sich selber unreif und unfreundlich zu verhalten: All dies sind Signale dafür, dass die eigene Berufsrolle nicht erwachsen ausgeübt wird.

9.1.2 Normverletzungen und ihre Auswirkungen Um die Relevanz freundlichen Lehrer/-innenverhaltens für die Schüler/-innen zu verstehen ist die Forschung innerhalb des Rahmens der Broken Window Theorie nützlich (Keizer et al. 2008). Sie zeigt deutlich, dass Normverletzungen in spezifischen Gebieten nicht nur zu weiteren Normverletzungen in diesen Gebieten führen können, sondern die Norm der Normeinhaltung selbst infrage stellen kann, sodass generell Normverletzungen wahrscheinlicher werden. Die Autoren schlussfolgern, dass, wenn ein bestimmtes normverletzendes Verhalten üblich wird, es die Konformität für andere Normen und Regeln negativ beeinflussen wird, da Zeichen unangemessenen Verhaltens zu weiteren unangemessenen Verhaltensweisen führen, die wiederum zur Hemmung anderer Normen führen und das implizite gemeinsame soziale Ziel, sich angemessen zu verhalten, schwächen können (Keizer et al. 2008). Insbesondere ist zu mutmaßen, dass Schüler/-innen, die Lehrer/-innen, mit denen sie sich identifizieren, als unfreundlich gegenüber anderen Schülern/-innen wahrnehmen, deren Verhalten rechtfertigen und so selbst wahrscheinlicher unfreundlich werden oder ähnliche eigentlich normwidrige Verhaltensweisen bei sich selbst rechtfertigen. Der eigene moralische Kompass wird an die wahrgenommenen Standards justiert (Gino und Galinsky 2012). Freundlichkeit auszuüben, kann in der Schule also nicht an das Verhalten der ­Schüler/-innen gebunden sein.

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9  Freundlichkeit kritisch betrachtet

In Anbetracht des Telos der Schule wäre es gut, wenn Schüler/-innen nicht lernen würden, dass derjenige, der Macht hat, automatisch Recht hat.

9.2 Macht Freundlichkeit verwundbar? Freundlichkeit bedeutet nicht, dass man sein Inneres nach außen stülpen muss, allerdings verlangt ein freundliches Verhalten angesichts eines unfreundlichen Verhaltens durchaus eine Auseinandersetzung. Freundlichkeit wird nicht unbedingt durch eine reziproke Verhaltensweise des Gegenübers belohnt, sie wirkt aber deeskalierend und im positiven Sinne normsetzend. Dennoch wählen viele Menschen die reziproke unfreundliche Verhaltensweise. Dahinter steht in der Regel die Angst vor der eigenen Verwundbarkeit, für den Fall, dass man sich verletzt zeigen würde. Um anderen Personen innere Zustände mitzuteilen, muss man selbstbewusst sein im Sinne von sich selbst kennen und für sich einstehen können, d. h. auch standhaft Grenzen setzen können. Dem widersprechen viele implizite kulturelle Regeln, die im Kap. 3 zur Höflichkeit dargelegt wurden. Eine dieser impliziten Regeln ist es, das eigene Gesicht glauben wahren zu müssen, indem man über innere Zustände schweigt. Wie Hochschild schreibt, gilt es als Ressource, das eigene Gesicht wahren zu können (2006). Allerdings: „Rollenvorschriften liefern die Grundlage, nach der beurteilt wird, welche Gefühle einer bestimmten Ereignisabfolge angemessen erscheinen. Mit einem Wandel der Rollen ändern sich aber auch die Normen für das Erleben und Deuten von Ereignissen, es entsteht Unsicherheit über die eigenen Gefühlsnormen.[…] Wächter über die Gefühlsnormen sind in erster Linie gesellschaftliche Autoritäten.[…]“ (Hochschild 2006, S. 83–85). Ein Gefühlsausdruck kann als psychologische Verbeugung betrachtet werden: „Wir verbeugen uns nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Herzen voreinander.“ (Hochschild 2006, S. 85). Wenn aber Gefühle psychologische Verbeugungen sind, dann überlegt man sich genau, welche Gefühle dem eigenen Image schaden könnten und, auch umgekehrt, was welche Gefühlsausdrücke der anderen Personen für das eigene Image bedeuten könnten. Die eigene Freundlichkeit macht dann verwundbar, wenn man sie als Tauschwert ansieht und nicht als ein Verhalten, zu dem man sich entschieden hat (Hochschild 2006; Watt-Smith 2017). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll nun der Umgang mit respektlosem Verhalten reflektiert werden. Respektloses Verhalten von Schülern und Schülerinnen stellt die Hauptquelle von Stress für Lehrer und Lehrerinnen dar

9.2  Macht Freundlichkeit verwundbar?

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(Friedman und Farber 1992; Friedman 2006). Was aber genau ist respektloses Verhalten? Wie kommt die Bewertung als respektlos zustande? Eine sehr interessante Untersuchung von Nisbett und Cohen (1996) beschäftigt sich mit der „Culture of Honor“, also der Kultur der Ehre im Vergleich der nordamerikanischen Süd- und Nordstaaten. Die Autoren finden in ihren aufeinander aufbauenden vielseitigen Untersuchungen, dass im Süden ein und dieselben Äußerungen viel schneller als persönliche Beleidigung wahrgenommen werden als im Norden und dass im Süden die so als verletzt wahrgenommene Ehre wahrscheinlicher mit aggressiven Mitteln wiederhergestellt wird als im Norden. Die Autoren arbeiten mit harten Tatsachen: Es gibt im Süden viel mehr Morde und versuchte Morde wegen wahrgenommenen Mangels an Respekt im Vergleich zum Norden. Kulturelle Divergenzen über das, was als respektlos wahrgenommen wird, beeinflussen Menschen in der Bewertung, sodass ein und dasselbe Verhalten sehr unterschiedlich interpretiert wird: Was für den einen unfreundliches Verhalten sein mag, ist für den anderen extrem verletzend und droht, sein Image zu beschädigen und seine Ehre zu verletzen. Ein Beispiel hierfür ist die von Toprak (2008) berichtete Wichtigkeit von Respekt gegenüber Autoritäten und im Umkehrschluss auch die Wichtigkeit der Ehre für konservative Migrantengruppen aus der Türkei im Zusammenhang mit sozialisatorischen Einflüssen auf die Jungen der Familie. Zugeschriebene Respektlosigkeit geht oft mit einem befürchteten Gesichtsverlust und damit auch Autoritätsverlust einher (vgl. Kap.  3). Innerhalb eines Bewertungssystems, in dem Respekt von anderen einem selbst gegenüber erwartet werden (in welcher Form auch immer) signalisiert Freundlichkeit, und erst recht Freundlichkeit angesichts respektlosen Verhaltens, Unterordnung (Szczesny-Friedmann 1991). In „Die kühle Gesellschaft“ schreibt Szczesny-Friedmann, und kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Hochschild ­ (2006), dass in asymmetrischen Verhältnissen Freundlichkeit als Unterordnung interpretiert werden könnte. Freundlichkeit und Zuwendung, wie sie in Kap. 4 beschrieben werden, also dem anderen zuhören, ihm Sympathie zeigen, zugänglich sein, sind eher Symbole eines niedrigen Machtstatus; sie würden eher von Untergebenen erwartet. Die Person mit Macht kann sich distinguieren, reserviert sein, Distanz wahren, kühl und überlegen sein. Nonverbale Kommunikation, die Gesten, die Menschen zeigen, sind also „ Mittel, um Über- und Unterordnung zu konstituieren und zu befestigen.“ (Szczesny-Friedmann 1991, S. 36). Aus asymmetrischen Beziehungen ergeben sich also implizite asymmetrische Vorschriften für angemessenes soziales Verhalten, die Statusungleichheit betonen: Wer spricht wen an? Wer darf wen duzen? Wer muss zuhören? Wer darf reden? Wer darf sich

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zurückziehen? Wer darf wie nahe kommen? Wer muss welchen Abstand wahren? Im Kontext der Symbole von Anspruchsstatus im Lehrberuf (siehe Abb. 8.3) wurde bereits auf die Besonderheit von Autoritätssymbolen im Lehrberuf hingewiesen. Szczesny-Friedmann (1991) schreibt: „Wer ohne weiteres damit rechnen kann, ,für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Menschen Gehorsam zu finden‘ (Max Weber), wer also über Macht verfügt, der benötigt kein Einfühlungsvermögen, keine Liebenswürdigkeit, keinen Charme und kein Verständnis für den anderen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen.“ (S. 38–39). Wenn die eigene Rolle so verstanden wird, liegt es nahe, dass Freundlichkeit kein identitätsstiftender Aspekt der eigenen Persönlichkeit werden kann. ­Szczesny-Friedmann (1991) vermutet, dass Zugänglichkeit, Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit traditionellerweise zum weiblichen Rollenrepertoire gehören und eine Abwertung erfahren, weil sie nicht nur Zeit und Energie, sondern auch Macht und Überlegenheit kosten. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um soziale Kompetenzen, welche für den sozialen Zusammenhalt außerordentlich nützlich sind. So lange aber freundliche Gesten als ein Verzicht auf eine Machtanspruch bewertet werden, werden sie kaum Einzug in den Schulalltag finden.

9.3 Macht Freundlichkeit krank? Nahezu alle Menschen kennen es, dass sie sich phasenweise erschöpft fühlen und dann besonders schnell gestresst auf berufliche Anforderungen reagieren. Bei den meisten Menschen gehen diese Erschöpfungszustände relativ schnell wieder vorbei und stellen nur kurze Episoden dar. Burnout hingegen ist ein chronischer Erschöpfungszustand, der von belastenden emotionalen Zuständen begleitet wird. Die betroffenen Personen sind ihrer geistigen und physischen Energie beraubt. Die Arbeiten rund um Freudenberger und Maslach haben sehr dazu beigetragen, dass wir diese Erkrankung heute relativ gut verstehen (Freudenberger 1974; Maslach 1976; Maslach und Leiter 1997; Maslach et al. 2001). Die Arbeitsgruppe von Maslach lenkt den Blick auf die Arbeitsumstände in Hinblick auf Belastungserleben. Die Forschergruppe arbeitet drei entscheidende Merkmale von Burn out heraus: 1) Emotionale Erschöpfung, welche zu einer Implosion der emotionalen Ressourcen eines Individuums führt und das Gefühl, dass man nichts mehr zu geben hat. 2) Depersonalisation steht für die Entwicklung einer gleichgültigen oder negativen Attitüde gegenüber anderen Personen. 3) Die persönliche Leistung bezieht sich auf die Wahrnehmung einer Person als effektiv in Bezug auf ihre Arbeit.

9.4  Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert …

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Emotionale Erschöpfung scheint im Lehrberuf häufig vorzukommen, dennoch sind die meisten zufrieden mit ihrem Beruf und würden ihn wiederergreifen (Friedman und Farber 1992). Friedman (2006) meint, dass Burnout dann wahrscheinlicher entsteht, wenn in der Wahrnehmung einer Lehrkraft die Balance zwischen Geben und Bekommen gestört ist, sie also unrealistische Erwartungen an die Wirkungen ihres Engagements hat. Dann sind negative Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler/-innen besonders belastend. Sie werden aber erwartungsgemäß auftreten. Seelische Störungen lassen sich als Versuch interpretieren, mit belastenden Lebensumständen umzugehen. Die Zunahme an beziehungsverweigernden Störungen würde dann etwa auf eine Tyrannei der Intimität verweisen, auf einen Zwang zu Offenheit und Nähe, der es dem einzelnen zunehmend unmöglich macht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.[…] Gerade wer empfindsam ist, Enttäuschungen und Kränkungen schwer verwinden kann, dem sind die Kosten sozialer Beziehungen nun vielleicht tatsächlich zu hoch. ­(Szczesny-Friedmann 1991, S. 59). Nach Maslach und Leiter (2001) wissen Schüler/-innen, wann Lehrer/-innen an Burnout leiden. Schüler/-innen bemerken die Ungeduld und die Unaufmerksamkeit ihrer Arbeit gegenüber und erfahren selber einen Mangel an persönlicher Unterstützung ihrer Leistungen. Im Lehrberuf als „Hightouch Beruf“, in Abgrenzung zum „Hightech Beruf“ (Maslach und Leiter 1997, S. 22) fällt es auf, wenn das soziale Miteinander gestört ist. Freundlichkeit selbst macht also nicht krank, auch dann nicht, wenn sie nicht von allen und immer erwidert wird. Die Befunde zu Burnout zeigen eher, dass Freundlichkeit die Wahrscheinlichkeit freundlicher Beziehungen erhöht und also einen Schutz vor negativen Beziehungen und damit auch einen Schutz vor Stressoren darstellen kann. Auch zeigen sie, dass die Ursachen von Burnout sehr komplex sind. Sicher ist, dass Unfreundlichkeit keinen Schutz vor Burnout oder Depressionen darstellt.

9.4 Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert Expertentum: Autorität unter dem Aspekt der Expertise Weitere Fragen kommen auf, wenn man sich die Forschung aus der Perspektive der sozialen Wahrnehmungsforschung ansieht. Besonders die Ergebnisse aus der Forschung zu den implizite Persönlichkeitstheorien. Diese Forschungsbefunde gehen auf eine lange Forschungstradition zurück (Asch 1946, Bales 1999).

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Demnach spielen bei der Wahrnehmung einer Person folgende Bewertungsdimensionen eine große Rolle: warm versus kalt, sozial kompetent versus sozial inkompetent und intelligent versus nicht intelligent. Wärme spielt eine große Rolle in der Bewertung von Personen (Asch 1946). Personen, die als warm wahrgenommen werden, werden insgesamt als positiver wahrgenommen, auch wenn es sonst keine beobachtbaren Unterschiede beim ersten Eindruck gibt. Wärme übt also einen disproportionalen Effekt auf die Wahrnehmung einer Person aus, zumindest bei der ersten Eindrucksbildung. Wärme als ein Aspekt der Dimension „Social good versus Social bad“, also sozial kompetent versus sozial inkompetent (Rosenberg et al. 1968) überlappt sich mit einer weiteren Dimension, nämlich der zugeschriebenen Klugheit, also „intellectual good versus intellectual bad“, d. h. intelligent versus nicht intelligent. Die Befunde von Rosenberg et al. (1968) zeigen, dass die beiden Dimensionen überlappen: Wer als sozial gut wahrgenommen wird, dem schreibt man auch intuitiv mehr Klugheit zu, heute sagen wir Kompetenz. Wir werden sehen, dass soziale Wahrnehmung noch komplizierter ist. Warum sind Wärme und Kompetenz so allgegenwärtig und wichtig in der Wahrnehmung anderer? Rudmann und Glick (2008) argumentieren, dass diese beiden Eigenschaften zwei sozial wichtige Fragen über andere Personen beantworten: Wärme gilt als ein Indikator von guten oder bösen Absichten. Wir schätzen beim Kennenlernen ein, ob der Andere uns freundlich oder feindlich gesonnen ist, fragen also, welche Absichten die andere Person hat. Schüler/-innen fragen sich das sofort: Wird unsere Lehrkraft sich um uns kümmern? Wird sie uns schlecht oder gut behandeln? Wärme kann vorgetäuscht werden, aber nicht über eine längere Zeit. Deswegen lässt sie sich auch schwerer halten (vgl. Kap. 4). Wärme muss also immer da sein, sonst wird sie als Eigenschaft infrage gestellt. Im Gegensatz dazu lässt sich die Zuschreibung von Kompetenz leichter ändern. Wärme ist die wichtigere Dimension, auch weil sie vorgetäuscht werden kann; Leistungen sind diagnostischer, Wärmeindikatoren nicht unbedingt (Tausch et al. 2007). Für die Zuschreibung von Kompetenz reicht oft ein Erfolg. Wahrgenommene Wärme ist also eher bedroht und schwerer zurückzugewinnen als die Zuschreibung von Kompetenz. Wärme wird also schnell erkannt und die Zuschreibung von Wärme hat mehr Folgen (Ybarra et al. 2001); deswegen wird dies alle Wärme Primacy Effect benannt: ob jemand Freund oder Feind ist, ist ein dringlicher Aspekt der Personenwahrnehmung (siehe Abb. 9.2). Personenwahrnehmung gehorcht aber noch komplizierteren automatisierten Prozessen, die man sich gar nicht oft genug bewusst machen sollte. Rudmann

9.4  Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert …

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Abb. 9.2   Freund oder Feind? Kompetent oder inkompetent? Zwei wichtige Fragen der Eindrucksbildung

und Glick (2008) beschreiben die Verwobenheit der Dimensionen Wärme und Kompetenz mit Genderstereotypen, die besonders tief von Carli und Eagly (2012) untersucht wurden und die wiederum mit der schon von Rosenberg et al. beschriebenen Dimensionen Aktivität bzw. Zielorientierung (Agency) versus Passivität (Community) verwoben sind (Abele et al. 2016). Durch Gender Stereotype werden Frauen eher Aspekte der Community (also an andere Menschen denken), Wärme, also feminine Zuschreibungen zugeschrieben, die nicht als gleichermaßen Kompetenz verkörpernd wahrgenommen werden wie Aspekte der Agency und Instrumentalität, also maskuline Eigenschaften. In Organisationskontexten herrscht in der Regel ein Kompetenz Primat: Kompetenz hat Vorrang vor Wärme. Wenn also beides gefragt ist, vermindert die Wahrnehmung von Kompetenz, insbesondere bei Frauen, von denen Wärme erwartet wird, die Wahrnehmung von Wärme, in vielen Berufsdomänen zum Nachteil der Frauen (Steins und Wickenheiser 1995; Carli und Eagly 2012; Steins 2019). Frauen gelten schnell als kalt, auch wenn sie genauso warm sind wie Männer in vergleichbarer Position. Sind sie aber zu warm in den Augen der Anderen, gelten sie als weniger kompetent. Es gibt also zwar eine Überlappung der Bereiche, so wie Rosenberg et al. postulierten, aber keinen automatischen Halo-Effekt. Ein Halo-Effekt wäre, wenn die jeweilige Dimension eine andere positiv überstrahlen würde. Es kann also durchaus zu hydraulischen, negativen Beziehungen zwischen Kompetenzund Wärmeurteilen kommen, besonders, wenn Personen miteinander verglichen werden (Judd et al. 2005; Kervyn et al. 2009). Die eine Lehrkraft verkörpert dann eher Wärme, gilt aber nicht als Expertin und die andere Lehrerin gilt als unfreundlich, aber kompetent.

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Besonders interessant sind die Befunde zur Transitivität der Verkörperung dieser Dimensionen durch gelebte Verhaltensweisen: Unfreundlich und intelligent zu sein wird als Stil schneller imitiert als freundlich und nicht besonders intelligent zu sein und ist für die Synchronisation einer Gruppe einflussstärker, also ein hochinfektiöser Lehrstil (Cuddy et al. 2011). Übertragen auf die Schule kann das bedeuten, dass nur wenige unfreundliche Lehrkräfte das gesamte Schulklima maßgeblicher beeinflussen könnten als die gleiche Anzahl freundlicher Lehrkräfte. Diese Forschungsergebnisse geben wieder, wie Menschen intuitiv andere Personen, aber auch sich selbst durch die Augen der anderen Personen wahrnehmen, oder antizipieren, dass sie wahrgenommen werden würden, würden sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Der Schluss liegt nahe, dass man es als Lehrkraft bevorzugen würde, eher als kompetent, denn als freundlich wahrgenommen zu werden, schon aus Gesichtspunkten der Autorität. Diesen einfachen Schluss lassen aber diese Ergebnisse nicht zu. Warum nicht? Auch wenn ein deutliches Dilemma zu erkennen ist, weil es sich hier um teilweise hydraulische Prozesse der Wahrnehmung handelt und es so scheint, als hätte man nur die Wahl als freundlich und damit, insbesondere als Frau, als inkompetent zu gelten oder als kompetent und dann als unfreundlicher oder gemäß der Befund von Abele et al. (2016) als zielorientiert (Agency) und damit als kompetent und selbstbewusst im Gegensatz zu an Gemeinschaft interessiert und damit als warm und moralisch, am sozialen Zusammenhalt interessiert, also immer nur eine erwünschte Zuschreibung auf Kosten einer anderen erwünschten Zuschreibung erhalten zu können, darf man einige Aspekte nicht vergessen. Zunächst zeigt die Führungsforschung übereinstimmend, dass eine erfolgreiche Führungsrolle in der Vereinigung aller dieser Dimensionen besteht (Amabile und Kramer 2011; Forsyth 2019): Zielorientiert und aufgabenbezogen muss nicht ein unterstützendes und warmes Verhalten unterminieren. Erfolgreiche Führungskräfte können beides vereinen; das verlangt aber eine Reflexion der alltäglichen und automatisierten Selbst- und Fremdwahrnehmung. Gerne wird immer wieder das Mittel der negativen Kritik anderer praktiziert und der Bewertungsstrenge, um als kompetent zu gelten. Wie Amabile und Kramer (2011) jedoch zeigen können, birgt dies das Risiko, destruktive Wirkungen zu entfalten (Vgl. Abb. 8.3). Beide Dimensionen sind zu vereinbaren, das macht eine gute Erziehung und auch eine Autorität aus (Omer und von Schlippe 2012) und wird in Abb. 9.3 veranschaulicht. Weiterhin sind diese Befunde in Bezug auf die erste Eindrucksbildung zu verstehen. Lehrer/-innen und Schüler/-innen jedoch interagieren über einen längeren

9.4  Wärme und Kompetenz oder Freundlichkeit schmälert …

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Abb. 9.3   „Polarisierung lähmt die Autorität der Erwachsenen“. (Nach den Überlegungen von Omer und von Schlippe 2012, S. 205)

Zeitraum miteinander und können mehr Zeit darauf verwenden, ihre gegenseitigen Wahrnehmungen zu korrigieren und gegenseitig zu beeinflussen. Schließlich geht es in der Schule nicht um ein Image, um das man sich zu bemühen hat. Wenn es einem Lehrer z. B. wichtig wäre, gemocht zu werden und er wäre deshalb immer freundlich, wäre selbst das nicht von Erfolg gekrönt, denn man kann auch nicht so einfach behaupten, dass Wärme immer nur automatisch Wärme erzeugt (Folkesand und Sears 1977). Menschliche Interaktionen sind komplizierter und es kann zu Prozessen kommen, auf die man nicht vorbereitet ist. So diskutieren Wachtler und Counselman (1981) einige unerwartete Prozesse, die nachgewiesenermaßen durch Freundlichkeit und Wärme entstehen können. Aus dissonanztheoretischer Perspektive wurde zum Beispiel gefunden, dass unbeliebte Kommunikatoren möglicherweise einflussreicher sind als beliebte Kommunikatoren, wenn der Rezipient der Kommunikation sich entschließt zuzuhören (Zimbardo et al. 1965). Ein Argument kann viel überzeugender wirken, wenn es von einem übernommen wird, den man gar nicht so gerne mag, weil man die Übernahme eines Argumentes, das von einer freundlichen Person kommt, möglicherweise auf dessen Freundlichkeit, nicht aber auf die Stichhaltigkeit des Arguments zurückführt (Wachtler und Counselman 1981). Wie man es auch drehen und wenden mag: Es ist bestimmt nicht zielführend daran zu arbeiten, gemocht zu werden. Sondern es ist zielführend minimalerweise höflich zu sein und idealerweise freundlich zu sein und zu bleiben und sich realitätskongruent mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, zielführend in Bezug auf das Telos der Schule (siehe Abschn. 1.6).

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9.5 Ist Freundlichkeit Emotionsarbeit und somit verhandelbar? Welcher emotionale Ausdruck einer Lehrkraft angesichts eines Fehlverhaltens eines Schülers bzw. einer Schülerin erlaubt ist, wird wohl nicht einmütig diskutiert werden können. Nimmt man die bislang berichteten Ergebnisse der Forschung ernst, wäre es den Zielen der Schule gegenüber angemessen, dass Lehrkräfte sich besser regulieren könnten als der durchschnittliche Mensch und es schaffen, Schüler/-innen minimalerweise höflich und idealerweise freundlich zu begegnen. Ein cholerischer Anfall, bei dem Lehrkräfte Schüler/-innen physisch angehen oder verbal herabwürdigen, sollte immer als Anlass genommen werden, sich den Schüler/-innen gegenüber zu erklären und zu entschuldigen. Authentizität als wahrer Ausdruck des Selbst ist keine Rechtfertigung für unfreundliches Verhalten von Lehrkräften (Steins 2017). Höflichkeit und Freundlichkeit entsprechen jedoch sicher nicht einer ersten Reaktion auf das Fehlverhalten anderer, insbesondere nicht in stressreichen Situationen. Fällt Freundlichkeit also unter Emotionsarbeit? Von Emotionsarbeit ist dann die Rede, wenn Arbeitnehmer angewiesen werden, ihre eigenen Gefühle einzusetzen, um die Gefühle anderer zu beeinflussen (Watt-Smith 2017). Hochschild (2006) war eine Pionierin in der Beschreibung und Auseinandersetzung mit einer obligatorischen Fröhlichkeit am Arbeitsplatz, sie untersuchte insbesondere Flugbegleiterinnen, von denen auch angesichts unfreundlicher Kunden ein freundliches Verhalten erwartet wurde (vgl. Abschn. 9.3). Mittlerweile wird das in vielen Servicebereichen explizit erwartet. In diesem Band geht es nicht um gute Laune und Produktionssteigerung durch gute Stimmung, sondern um Freundlichkeit im Erziehungs- und Bildungskontext. Dennoch stellt sich auch hier die Frage, ob Freundlichkeit, die auch Regulationsarbeit bedeutet und also auch als Emotionsarbeit betrachtet werden kann, zumutbar ist? Eine ernste Frage im Berufsleben, das immer mehr Emotionsarbeit verlangt (Guggenbühl 2003). Hochschilds Analyse ist sehr erhellend und liest sich immer noch sehr aktuell: Sie beschreibt die Nebenwirkungen der Emotionsarbeit als potenziell gut (Hochschild 2006, S. 32). Auch arbeitet sie heraus, dass das innere Leben im Alltag schwankt und zwar in Abhängigkeit vom privaten Umfeld: Was man sich gefallen lassen darf und was nicht, kann Freundlichkeit am Arbeitsplatz sehr beeinflussen und einen unter einen gewissen moralischen Druck setzen (Hochschild 2006, S. 61). Szczesny-Friedmann (1991) sieht, dass Gefühlsarbeit in der Regel nicht honoriert wird (S.  122/123): „Gesamtgesellschaftlich ermöglichen diese

Literatur

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­ efühlsarbeiterinnen ein öffentliches Leben, in dem täglich Millionen von G Menschen die Erfahrung vertrauensvoller und angenehmer Interaktionen mit meist völlig fremden Menschen machen. Wäre unsere Gutwilligkeit ausschließlich auf Menschen in unserem privaten Lebenskreis gerichtet, wären Höflichkeiten und Einfühlungsvermögen in der Öffentlichkeit nur wenig verbreitet; wären unsere Gefühle nicht professionalisiert, sähe das öffentliche Leben gewiss grundlegend anders aus.[…] Damit schleichen sich die Ziele des Unternehmens in die Art und Weise ein, wie die Angestellten ihre eigenen Gefühle zu deuten haben.[…] Stimmt meine Wahrnehmung mit dem überein, was das Unternehmen von mir erwartet? Soll ich so über meinen Ärger denken? Auf diese Weise verlieren die Angestellten die Verbindung zu ihren Gefühlen, wie dies beim ,Ausgebrannt Sein‘ der Fall ist, oder sie müssten sich gegen die Interpretation des Unternehmens zur Wehr setzen.“ Schule ist jedoch kein mit der freien Wirtschaft vergleichbarer Arbeitsplatz. In Deutschland haben wir ein berufliches System geschaffen, dass es den meisten Lehrkräften erlaubt nicht den Regeln der freien Marktwirtschaft unterworfen zu sein; Freundlichkeit wäre hier keine Gabe oder Eigenschaft, die als Ware verkauft wird, um die Produktivität zu steigern, sondern die angemessene Kompetenz, welche Schüler/-innen hilft, sich gut zu entwickeln. Es gibt in der Schule nichts zu verkaufen und es gibt die Erwartung einer weiteren Interaktion, über eine längere Zeit hinweg; dass hier anders als in wirtschaftlichen Branchen, die Entwicklung eines besonderen Beziehungsgeflechtes zu erwarten ist, liegt auf der Hand. Hochschild (2006) beschreibt, dass viele Flugbegleiterinnen sich oft eine freundliche Reaktion der Kund/-innen wünschten, damit sie selbst aufrichtig freundlich sein könnten und nicht nur so tun müssten als ob. Reziprozität macht Freundlichkeit sicher einfacher. Von Heranwachsenden ist aber Reziprozität nicht vernünftigerweise zu erwarten, diese haben es noch zu lernen, was in einer Gesellschaft als angemessen gilt und wie sie sich dazu so zu verhalten haben, dass weitere Verhandlungen möglich bleiben. Freundlichkeit ist ein Wert für sich, auch wenn sie nicht so bewertet wird, wie wir denken bzw. es uns wünschen.

Literatur Abele, A., Hanke, N., Peters, K., Louvet, E., Szymkow, A., & Duan, Y. (2016). Facets of the fundamental content dimensions: Agency with competence and assertiveness – communion with warmth and morality. Frontiers in Psychology. https://doi. org/10.3389/psycg201601810.

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9  Freundlichkeit kritisch betrachtet

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Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung kritisch betrachtet

10

Inhaltsverzeichnis 10.1 Schulwärme und Schulzugehörigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 10.2 Die Schulumgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 10.3 Schulleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 10.4 Systemische Einflüsse: Das Schulklima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Handeln von Lehrkräften findet im Kontext statt. In einer Schule, die ein negatives Schulklima aufweist, kann eine Lehrkraft, die im Vergleich zu einem kritischen und abweisenden Kollegium zu den Schüler/-innen freundlich und zugewandt ist, viel bewirken, auch wenn sie durch ihr abweichendes Verhalten die ein oder andere harsche Kritik seitens des Kollegiums einstecken werden muss. Oft jedoch lassen sich gerade junge Lehrkräfte, die noch nicht über eine kontinuierliche Berufserfahrung verfügen, eher von der Kultur der Schule anstecken und synchronisieren sich mit ihr (Steins und Haep 2014; Steins und Behravan 2017); so können sie ihr eigenes Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigen. Die akademische Lehre der ersten Ausbildungsjahre, bereits oft im Referendariat durch den angeblichen Primat der Wirklichkeit herausgefordert, tritt in den Hintergrund und wird durch die angeblich alltagsnahe Kultur der Schule ersetzt. Über den Verlust von Wissen, das so in der Praxis verloren geht, ist bereits viel geschrieben worden und seit langer Zeit (Lortie 1975). Dass Schule allerdings oft so sehr anders aussieht als sie sein sollte ist kein Beweis dafür, dass sie so wie sie ist, richtig praktiziert wird. Es ist eher ein Beweis dafür, wie schnell Gruppen dazu neigen, den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen und sich unter ihren Möglichkeiten einzurichten. Auch heute gilt noch das, was Lortie (1975) als © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_10

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10  Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung …

Apprenticeship of observation bezeichnete: L ­ ehrer/-innen machen das, was sie als gut erachten und was sie schon bei ihren eigenen Lehrer/-innen beobachtet haben. In der Berufspraxis kommt dann noch das dazu, was sie sollen und in ihrem gegenwärtigen Arbeitskontext beobachten können. In diesem Kapitel möchte ich auf einige Konzepte aufmerksam machen, die es einer Lehrkraft erlauben, über ihren Unterricht hinaus auf Qualitäten der Schule zu achten, die sich nachweislich als wichtig für die Lernmotivation der S ­ chüler/-innen herausgestellt haben und die also auch ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten beeinflussen werden; dennoch steht die eigene Freundlichkeit über dem allen, so herausfordernd auch die Rahmenbedingungen sein mögen (Steins 2016).

10.1 Schulwärme und Schulzugehörigkeit Menschen ist es ein tiefes Bedürfnis dazu zu gehören (Goodenov und Grady 1993; Baumeister und Leary 1995; Nichols 2006; Forsyth 2019). Junge Menschen sind hier besonders sensibel. Dieses Bedürfnis der Zugehörigkeit steht im Zentrum des Begriffs der School Belongingness Forschung. Ein Defizit in einem Zugehörigkeitsgefühl kann mit Gefühlen der Einsamkeit und einem negativen Selbstkonzept und niedrigem Selbstwert einhergehen. So ist zum Beispiel eine exkludierende Sanktionspraxis von Schulen ein Mechanismus, der Zugehörigkeit nicht nur bei den Schüler/-innen untergräbt, die betroffen sind, sondern auch bei denen bedroht, die hier Zeugen werden (Steins und Welling 2010). School Belongingness ist nach Goodenow und Grady (1993) definiert als das psychologische Empfinden Mitglied der Schule zu sein und drückt die Gewissheit aus, sich der Schule zugehörig zu fühlen. Sich in einer Schulklasse zurückgewiesen oder nicht zugehörig zu fühlen, kann zwar durch tragfähige Beziehungen im Elternhaus kompensiert werden (Steins 2014). Ist es aber z. B. einem Schüler wichtig dazu zu gehören und gehört er nicht dazu, dann kann das negative Effekte auf das Selbstkonzept und den Selbstwert des Schülers haben (Steins 2014). Lehrer/-innen, die es schaffen, ein Klima der Zugehörigkeit in ihrer Klasse herzustellen, inkludieren damit wahrscheinlicher diejenigen Schüler/-innen, die wahrscheinlicher exkludiert würden, wenn dieses Klima nicht existent wäre. Angehörige von Minoritäten und auch Heranwachsende, die normabweichendes Verhalten zeigen, haben eher Schwierigkeiten dazu zu gehören und sich zugehörig zu fühlen (vgl. Abschn. 2.2). Wenn sie es aber tun, dann steigen ihre schulischen Leistungen (Stanton-Salazar und Dornbusch1995; Stearns 2004; Goodenov und Grady 1993; Nichols 2006). Schulzugehörigkeit geht Hand in Hand mit Schulmotivation.

10.2  Die Schulumgebung

123

Wenn sich Schüler und Schülerinnen einer Schule zugehörig fühlen, kann das also eine Ressource sein, welche die schulische Leistung positiv beeinflusst (Hernández et al. 2014). Hernández et al. zeigten dies an einer Stichprobe von 674 mexikanischen Schülern und Schülerinnen mit einem durchschnittlichen Alter von cirka 11 Jahren, wobei sie betonen, dass auch Kontextfaktoren des Elternhauses wichtige Einflussfaktoren für die schulische Leistung sind. Die konkreten Ergebnisse der Forschung aus der Perspektive der Zugehörigkeitsforschung sind kompatibel mit der Forschung zu positiven Interaktionen zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen. Zugehörigkeit zur Schule betont insbesondere den Aspekt der sozialen und schulischen Unterstützung und schließt die strukturellen Möglichkeiten für sinnvolle Aktivitäten mit ein. Diese theoretische Perspektive ist also durchaus kompatibel mit den bislang berichteten Befunden zum Verhältnis zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen. Man kann sich selber folgende Fragen stellen, um einen Eindruck von der Ausprägung des Zugehörigkeitsgefühls der Schüler/-innen zu ihrer Schule zu gewinnen: • Gibt es soziale Unterstützung von den Lehrer/-innen bzw. den Peers? Für alle? Kenne ich das Beziehungsgeflecht meiner Klassen? (Steins et al. 2019), • Existiert eine Lerngemeinschaft, d. h. gibt es eine Unterstützung für die schulische Entwicklung? Gibt es verbindliche und kleine Lerngruppen? • Gibt es neben dem Unterricht weitere Möglichkeiten für die Schüler/-innen (Spielmöglichkeiten etc.). Wie viele Schüler/-innen machen hier mit? Sind es immer dieselben Schüler/-innen? Wenn ja, haben sich hierdurch Ingroups entwickelt, sind die Gruppen durchlässig genug? Ein verlässlicher Indikator für ein negatives Schulklima ist, wenn es viele Außenseiter im Beziehungsgeflecht der Klassen gibt, es kaum soziale Unterstützung zwischen den Schüler/-innen gibt, Schüler/-innen auch nicht gerne den Lehrkräften helfen und nachmittags niemals Schüler/-innen freiwillig tätig in der Schule sind. Wäre es so, dann wäre es höchste Zeit, etwas zu tun.

10.2 Die Schulumgebung In der Forschung zur Zugehörigkeit zur Schule spielen die strukturellen Interaktions- und Aktivitätsmöglichkeiten außerhalb des Unterrichts eine relevante Rolle. Dieser Aspekt wird aus einer ökologischen Perspektive ebenfalls betont (Taylor-Greene et al. 1997; Grolnick und Ryan 1987; Horelli 2006).

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10  Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung …

Die Passung zwischen Person und Umwelt spielt aus dieser Perspektive eine entscheidende Rolle für das Wohlbefinden eines Individuums (Horelli 2006). In Horellis Definition spielt ein unterstützendes Muster, das als human-friendliness, also Menschen-Freundlichkeit, bezeichnet wird, eine wichtige Rolle: “Environmental human-friendliness is as complex multi-dimensional and multi-level concept that refers to environments or settings that provide support to individuals and different groups so that they can implement their goals or projects with a potential impact on the subjective well-being.” (Horelli 2006 S. 19). Man muss sich auch immer wieder die strukturellen Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen verdeutlichen: Wo können sie denn hin, wenn sie sich treffen wollen? Was sind ihre Möglichkeiten? Stimmt der Augenschein des Herumlungerns? Welche Alternativen gibt es für sie? Können sie sich an eine/n Hausmeister/-in wenden, wenn sie Räume benötigen? Gibt es für sie altersangemessene Angebote des Zusammenseins?

10.3 Schulleitung Der Führungsstil einer Organisation beeinflusst das Arbeitsklima, so auch in der Schule (Amabile et al. 2004; Steins et al. 2016). Wie ist das Klima der Schule in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung? Sind auffallend viele Lehrkräfte frustriert? Oder ist eine allgemeine Motivation spürbar? Eine interessante Perspektive wirft Watt-Smith (2017) auf das, was vielleicht als Lehrer/-innen Frust oder allgemeiner von ihr als Mitarbeiterfrust bezeichnet werden kann. Watt-Smith meint, dass der Begriff verharmlosend sei, da er nahelegen würde, man selber allein sei der Auslöser für diese Gefühle. In Wahrheit aber stecken hier Emotionen wie Mutlosigkeit und Missmut dahinter, die als Indikator für eine schwindende Vertrauenswürdigkeit in die gegenwärtige Situation gesehen werden können. Unzufriedenheit kann ein Hinweis für Praktiken am Arbeitsplatz sein, die sich auf die Mitarbeiter/-innen entfremdend auswirken. Amabile und Kramer (2011) beschreiben auf der Basis umfangreicher Studien in unterschiedlichen Unternehmenskulturen, dass diese emotionalen Zustände oft mit drei Faktoren erklärt werden können (vgl. Abb. 8.3). Arbeitsmotivation entsteht, wenn Fortschritt in der eigenen Arbeit erlebt wird und sogenannte Katalysatoren vorhanden sind. Damit sind inspirierende Anstöße gemeint, die den Fortschritt der Arbeit erleichtern und unterstützen, Inspirationen, auch emotionaler und sozialer Art. Durch diese Katalysatoren entsteht eine

10.3 Schulleitung

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motivierende Stimmung in Bezug auf die Arbeit und bei der Arbeit. Dagegen stehen drei Schlüsselereignisse, die mit einer negativen Stimmung einhergehen: Rückschläge in der eigenen Arbeit, Hemmungen und Toxine. Mit Toxinen sind vor allem interpersonelle Ereignisse gemeint, die toxisch für das Wohlbefinden eines sozialen Lebewesens sind wie zum Beispiel Respektlosigkeit, Entmutigung, emotionale Vernachlässigung und Antagonismus. Dabei ist zu beachten, dass negative Ereignisse doppelt so stark wirken wir positive Ereignisse. Das innere Arbeitserleben kann einen dauerhaft gut durch das Arbeitsleben führen, wenn Fortschritt erlebt wird, es hierfür Anstöße und Unterstützung gibt und wenn das sozial-emotionale Miteinander unterstützend ist. Konkret kann dieses innere Erleben als Zustand gehalten werden, wenn die eigene Arbeit als bedeutsam erlebt wird und davon geprägt wird, dass man Fortschritte macht. Dass man Fortschritte gemacht hat, weiß man indes oft nur durch Feedback. Amabile und Kramer (2011) schreiben, dass das Setzen von klaren Zielen, die Autonomie, diese Ziele zu erreichen, Ressourcen hierfür, genug Zeit, Unterstützung, problemorientiertes Lernen, Offensein für Ideen, Katalysatoren sein können. Wie Amabile und Kramer (2011) an konkreten Beispielen herausarbeiten, gibt es einige Aspekte, die man sich fragen sollte, um das Arbeitsklima an der eigenen Schule einschätzen zu können: • Habe ich die Erwartung, inhaltlich voranzukommen? Welche Fortschritte kann ich sehen? • Ist meine Arbeit vor Entwertung bedroht? Was entwertet meine Arbeit? • Habe ich Kontrolle, im Sinne von Autonomie, über meine Arbeit? • Wird meine Arbeit geschätzt? Bekomme ich positives Feedback? Von wem? Amabile und Kramer (2011) arbeiten an vielen eindrucksvollen Beispielen heraus, wie demotivierend es für tätige Menschen ist, wenn ihre Arbeit, die Zeit und Energie also, die sie in eine Sache investiert haben, ihnen dennoch nur das Gefühl von einem vergeblichen Auf der Stelle treten vermittelt und kaum gemacht, entwertet wird. Gerade in der Schule ist die Gefahr groß, dass jedes Gefühl von Entwicklung durch Routinen erstickt wird, die der Alltagsbewältigung dienen und Gedanken an Veränderung und Weiterentwicklung aus dem Blick geraten lassen. Schulleitungen können hier einen Blick auf das Bedürfnis der Kolleg/-innen nach Weiterentwicklung haben, dieses stärker mit in eigene Entscheidungen einbinden und dazu beitragen, dass viele Aufgaben von vielen Kolleg/-innen so übernommen werden, dass eine wertvolle und wertgeschätzte Arbeit zustande kommen kann.

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10  Bedeutung der Schulatmosphäre: Die eigene Umgebung …

10.4 Systemische Einflüsse: Das Schulklima Die Effekte von Freundlichkeit und Erwartungen, die das Verhalten der Lehrkraft auf die Anstrengungsbereitschaft und die schulische sowie soziale Entwicklung von Schüler/-innen ausüben kann, werden durch gegebene Strukturen beeinflusst. Es gibt einige Befunde, die zeigen, dass die individuelle Wärme einzelner Lehrkräfte nicht den angemessen großen Effekt haben kann, wenn diese durch die Organisation der Schule als Institution untergraben werden (Haep et al. 2010). Ein gutes Beispiel hierfür beschreibt Stearns (2004). In ihrer Forschung geht es um die Bedeutung eines Aufbaus eines interethnischen Beziehungsgeflechts zwischen Schülern/-innen. Stearns (2004) betont, dass in der Regel die Mitglieder einer ethnischen Gruppe unter sich bleiben, eine Beobachtung, die von Nathan (2005) ausführlich für eine amerikanische Campus Universität beschrieben wird. Eine heterogene Schülerschaft in Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit garantiert also auf keinen Fall alleine, dass es zu freundlichen interethnischen Beziehungen kommt. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn Schulen, die hier ein gutes Niveau interethnischer Beziehungen aufweisen, wirken langfristig auf die spätere Integration der Schüler/-innen ins berufliche Leben, insofern interethnische Beziehungen ein soziales und kulturelles Kapital darstellen können (Stanton-Salazar und Dornbusch 1995). In Anlehnung an Blau (1994) und Kubitschek und Hallinan (1998) schlussfolgert Stearns (2004), dass Schulen, die durch diverse Mechanismen wie durch Differenzierung und Segregation die soziale Organisation der Schüler/-innen beeinflussen, auch deren Beziehungen beeinflussen.

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Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

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Inhaltsverzeichnis 11.1 Umgang mit Stress im Lehrberuf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 11.2 Zufriedenheit mit sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 11.3 Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über Regeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 11.4 Was man selber tun kann: Am Ball bleiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 11.5 Hilfreiche Strukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Erwachsene verhalten sich gegenüber Kindern und Jugendlichen so wie es sich ergibt. Wenn alles nach dem eigenen Plan läuft, müssen sie nicht nachdenken wie sie etwas tun, sobald es aber nicht nach Plan läuft (weil es nach dem Plan des Gegenübers laufen soll, so ungeplant dieser auch sein mag), sollten sie nachdenken, was sie tun. Das Zwiegespräch mit sich selbst spielt als traditionelles Reflexionsinstrument eine zentrale Rolle für dieses Nachdenken. Ein Zwiegespräch mit sich selbst ist ein wichtiges Mittel, um Sorge für sich selbst zu tragen. Traditionelles Ziel des Zwiegesprächs ist es, die eigenen spontanen Bewertungen, Verhaltensabsichten und emotionalen Zustände in Hinblick auf die Wirklichkeit zu vergleichen, eigene, nicht hilfreiche Vorstellungen zu erkennen und sich zu bemühen, lösungsorientiert zu handeln. Realistische Selbsteinschätzungen sind allerdings schwer, selbst wenn sie möglich wären, sie können sehr stark mit Idealen und Wünschen kollidieren (Higgins 1987) und frustrierend sein und so vermieden werden. Dieses Kapitel enthält Anregungen wie man ein konstruktives Zwiegespräch trainieren kann. Besondere Bedeutung wird hierbei den eigenen Vorstellungen eingeräumt (vgl. Abb. 4.1 bis 4.5); diese spielen beim

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Steins, Freundlichkeit im Schulalltag, Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30578-9_11

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Handeln im Schulalltag die entscheidende Rolle und es ist gar nicht so leicht, sich konstruktiv mit ihrer Analyse und Veränderung zu beschäftigen (Becker und Steins 2010; Steins et al. 2016; Steins 2011, 2017).

11.1 Umgang mit Stress im Lehrberuf Viele verschiedene Forscher/-innen haben sich damit beschäftigt wie sich Menschen im Lehrberuf entwickeln. In diesem Band wurde mehrmals auf die zusammenfassende Arbeit von Friedman (2006) verwiesen. Häufig ist das mit dieser Forschung verbundene Ziel, zu verstehen wie es zum frühzeitigen Ausscheiden aus dem Lehrberuf kommt bzw. wie Depressionen oder Burnout sich entwickeln, um präventive Maßnahmen entwickeln zu können (Weber 2003). Aus dieser Forschung haben sich interessante Modelle entwickelt, welche versuchen Lehrkräfte in verschiedene Erlebenstypen einzuteilen. Wie für alle Modelle gilt, können sie nicht der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden, insofern Menschen normalerweise nicht Prototypen sind. So sind die Modelle auch nicht gemeint, sondern als eine Aufnahme einer momentanen Situation und als Versuch, sich auf artifiziell überschaubare Art einer Frage anzunähern. Im Rückblick auf die eigene berufliche Laufbahn wird jede Lehrkraft spezifische Phasen und Wandlungen in der eigenen Laufbahn ausfindig machen können. Modelle von Erlebenstypen können also dazu anregen, sich zu vergegenwärtigen, wo man zurzeit steht und anregen, darüber nachzudenken, wie man dahin gekommen ist und wie man dann, wenn die Diagnose nicht zufriedenstellend ist, sich weiterbewegen kann. In Deutschland ist sicherlich den meisten im Lehrberuf Tätigen das Modell von Schaarschmidt bekannt (Schaarschmidt 2009). Schaarschmidt befragte im Rahmen der sogenannten Potsdamer Lehrerstudie nahezu 20.000 Personen im Lehrberuf zu verschiedenen Indikatoren ihrer Tätigkeiten, nämlich zu Arbeitsengagement, psychischer Widerstandskraft und ihren Emotionen zum Beruf. Die von Schaarschmidt erfassten Gedanken der Lehrkräfte geben deren Einstellungen zu ihrem Berufsalltag wieder und enthalten auch die Einschätzung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten. In welcher Weise die drei Bereiche Arbeitsengagement, psychische Widerstandskraft und eigene Emotionen zum Beruf zu einander stehen zeigt nach Schaarschmidt, inwieweit die Anforderungen bewältigt werden können bzw. gesundheitliche Risiken zu erwarten sind. Schaarschmidt konstruierte auf der Basis dieser Daten verschiedene Bewältigungsmuster (siehe Abb. 11.1).

11.1  Umgang mit Stress im Lehrberuf

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Abb. 11.1   Bewältigungsmuster von Lehrkräften nach Schaarschmidt (2009)

Kein anderer Beruf – verglichen wurden andere Berufsgruppen wie Pflegepersonal, Existenzgründer, Strafvollzug, Polizei und Feuerwehr – hatte vergleichsweise so niedrige Anteile im gesunden Muster und so hohe Anteile im Risikomuster. Es bleibt jedoch offen, ob diese Befunde zeigen, dass Lehrer/-innen äußeren Umständen ausgesetzt sind, die nahezu automatisch zu einem hohen Stressniveau führen. Die Studie suggeriert, dass die äußeren Umstände im Lehrerberuf stressförderlich sind, nach dem Modell von Ellis sind es jedoch insbesondere auch die Bewertungen der Person, die negative Emotionen intensivieren und Stress mit verursachen (Ellis und Hoellen 2008), (vgl. Abb. 4.1). Die Studien von Rauin und Maier (2007) sind weniger bekannt. Sie ergänzen jedoch Schaarschmidts Studie entscheidend. Rauin und Maier finden, dass Lehrkräfte, die im Beruf ein Burnout entwickelten, auch bereits im Studium schnell überfordert waren. Sie kommen zu dem Schluss, dass wer ausbrennt, nie gebrannt hat. Die Forscher (2007) untersuchten in einer Längsschnittstudie (drei Messzeitpunkte in einem Zeitraum von 8 Jahren) den Kompetenzerwerb in der Lehrerausbildung von drei Hochschulen in Baden-Württemberg und entwickelten aus ihren Ergebnissen verschiedene Typen von Lehramtsanwärter/innen (Abb. 11.2).

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Abb. 11.2   Personentypen im Lehrberuf nach Rauin und Maier (2007)

Viele der Befragten (40 %) hatten keine Grundkenntnisse vom Umgang mit Disziplinproblemen, kompetent hierzu fühlten sich nach dem zweiten Staatsexamen nur 10 % der Lehrer/-innen. Auch gaben 40 % der Befragten an, noch nie etwas über schulexterne Beratungsmöglichkeiten gehört zu haben oder davon wie sie sich vor Überlastung schützen könnten. Wissen um Bewältigungsmöglichkeiten erhöht jedoch Selbstwirksamkeit und mindert Stress (Steins 2011). Nicht die äußeren Umstände, wie Schaarschmidt es ableitet, sind also vermutlich so dominant für Stress bei Lehrern/-innen, sondern die eigenen Bewertungen der Umstände stellen eine wichtige Ursache dar für Qualität und Intensität der Emotionen im Berufsalltag (Wilton und Steins 2012; Bitan et al. 2013). Dieser Schluss ist wichtig, denn er widerlegt den weit verbreiteten und wenig hilfreichen Glauben, dass Engagement ein Burnout begünstigen würde und dass man sich lieber nicht engagieren solle, um nicht krank zu werden. Ich hoffe sehr, dass während der Lektüre des Bandes deutlich geworden ist, dass die Interaktionsgestaltung die entscheidende Vermittlerin zwischen Umwelt und Stresserfahrung ist und nicht das Engagement selbst und dass nicht realitätskongruente Vorstellungen über Reziprozität, junge Menschen, Respekt etc. dazu beitragen, dass intensive, negative Gefühle entstehen, die Engagement, Freundlichkeit, Wärme und hohe Erwartungen verhindern. Deswegen wäre es auch im Sinne einer selbstkritischen Reflexion wichtig, sich zu fragen, ob Phasen der Erschöpfung und/oder Unzufriedenheit mit dem Beruf nicht auch bereits in früheren Lebensphasen aufgetreten sind, wie z. B. im Studium oder auch schon in der Schule. Wäre es so, dann ist es hilfreicher, herauszufinden, was das Gemeinsame an diesen Phasen war, als zu denken, der Lehrberuf ist die Ursache der Erschöpfung.

11.2  Zufriedenheit mit sich selbst

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Abb. 11.3   Berufsbiografische Entwicklungsverläufe von Lehrkräften nach Hargreaves (2005)

Einen etwas anderen Ansatz hat Hargreaves (2005) auf der Basis von Hubermans Gedanken und Beobachtungen (Huberman 1993) entwickelt. In Hargreaves Modell werden vier verschiedene Entwicklungsverläufe in den Laufbahnen von Lehrkräften beschrieben (Abb. 11.3). Hargreaves fand, dass die meisten Lehrkräfte den letzten drei Kategorien angehörten, fand also zwei Gruppen von Lehrer/-innen, die eher positiv durch ihr Berufsleben kommen und zwei Gruppen von Lehrer/-innen, die eher negative Laufbahnen durchliefen.

11.2 Zufriedenheit mit sich selbst Was nun, wenn Sie nach einem Abgleich ihrer Einstellungen mit all diesen Modellen zu dem Schluss kommen, sie seien zufrieden mit sich? Veldman et al. (2013) untersuchten die Entwicklung der Interaktion zwischen Schüler/-innen und Lehrer/-innen bei vier älteren Lehrkräften, die sich die Zufriedenheit mit ihrem Beruf bewahrt hatten. Die vier Lehrkräfte wurden ausführlich mit narrativen Interviewmethoden befragt, die Schüler/-innen erhielten einen standardisierten Fragebogen, in dem auch sie ihre Zufriedenheit mit der

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Lehrkraft Ausdruck geben konnten. Die Zufriedenheit der Lehrer/-innen war positiv mit deren Wahrnehmung der Interaktion zu den Schülern/-innen assoziiert. Positiv retrospektive Lehrkraftnarrative waren aber nicht immer kongruent mit den Einschätzungen der Schüler/-innen. Die Ergebnisse zeigten vielmehr, dass Lehrer/-innen eine hohe Zufriedenheit mit sich als Lehrkraft haben können, über viele Jahre hinweg bis zum Ende ihres Berufslebens, obwohl, in den Augen der Schüler/-innen, die Interaktionsqualität schlecht ist. Schüler/-innen sind oft höflich und verbergen ihre wahren Gefühle, besonders vor Lehrkräften, welche sie als unfreundlich wahrnehmen. Da Wärme signalisiert, ob das Gegenüber als Freund oder Feind wahrgenommen wird, werden Schüler/-innen sich vor einem „Feind“ eher verstellen als vor einem Freund. Wie könnte ein/-e Schüler/-in auch zurück melden, dass die Lehrkraft unzugänglich, unhöflich, unfreundlich wäre? Welche Möglichkeiten hätten Schüler/innen hierfür? Es ist also wichtig zu erkennen, dass Selbsteinschätzungen falsch sein können. Anders als in vielen anderen Berufen, haben Lehrer/-innen kein ebenbürtiges Korrektiv vor Augen (Jahn 2017). Schüler/-innen sehen also Lehrkräfte häufig anders als diese sich selbst sehen (Brekelmans et al. 2011). Lehrkräfte müssen die Anstrengung einer immer stattfindenden Perspektivenübernahme und Empathie leisten um sich selber durch die Augen der Schüler/-innen sehen zu können (Hattie 2009). Nichols (2006) schlägt in Anlehnung an die Arbeiten von Silberman (1971) und Jenkins (1972) einige selbstreflexive Fragen vor, mithilfe derer eine Lehrkraft prüfen kann, wie es um ihre eigene ehrliche Sympathie um die eigenen Schüler/-innen bestellt ist. Es geht also um die Beantwortung der Frage: Mag ich meine Schüler/-innen? Die Fragen fallen in vier verschiedene Bereiche, nämlich Bindung, Gleichgültigkeit, Sorge und Zurückweisung. • Bindung: Wenn Sie Schüler/-innen nennen könnten, mit denen sie ein weiteres Schuljahr haben könnten, einfach zu Ihrer Freude, wer käme infrage? • Gleichgültigkeit: Wenn die Eltern eines/-r Ihrer Schülers/-in unvorhergesehen für eine Besprechung hereinkämen, bei welchen Schüler/-innen wären Sie schlecht darauf vorbereitet? • Sorge: Wenn Sie all Ihre Aufmerksamkeit einem Kind widmen könnten, welche Kinder kämen infrage? • Zurückweisung: Wenn Sie eine/-n Schüler/-in aus Ihrer Klasse herausnehmen könnten, welche Schüler/-innen kämen zu Ihrer Erleichterung infrage? Wenn Sie keine oder nur sehr wenige Schüler/-innen nennen könnten, die Sie mit Freude unterrichten, bei den meisten Schüler/-innen auf Anhieb nicht viel über sie zu berichten wüssten, kaum Kinder nennen könnten, denen sie gerne

11.3  Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über Regeln

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eine weitere Förderung zuteil kommen lassen würden und viele Schüler/-inne nennen könnten, die sie am liebsten aus der Klasse entfernen würden, haben Sie sehr wahrscheinlich kaum Freude an der Ausübung Ihres Berufs und die ­Schüler/-innen auch wenig Freude mit Ihnen. Immerhin kann man das ändern. Diese Fragen wirken auf den ersten Blick provokant; sie decken aber zunächst einmal soziale Tatsachen auf, nämlich, dass es in den vielen, relativ großen Lerngruppen immer Schüler/-innen geben wird, die spontan und ohne große Anstrengung die Sympathie einer Lehrkraft bekommen; das sollte auch so bleiben. Aber auch das Gegenteil ist der Fall und hier ist es wichtig, ein gutes Verhältnis zu schaffen.

11.3 Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über Regeln Kinder und Jugendliche verspüren in der Regel mit zunehmendem Alter einen dringenden Wunsch nach Selbstbestimmung. Konventionen aller Art werden infrage gestellt und wann immer es möglich ist, in der Imagination oder aber auch tatsächlich verändert, gedehnt, umgedeutet, modifiziert etc. Von Erwachsenen werden diese gelebten Umdeutungen häufig als Regelverstoß wahrgenommen und dienen als Anlass für Gespräche. Wenn Erwachsene nicht aufmerksam sind, kann es passieren, dass diese Gespräche irgendwann die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen dominieren und andere Inhalte nicht mehr Thema sind. Den Beziehungen droht eine negative Färbung. Folgende Anhaltspunkte können als Selbstreflexion dienen: Wie häufig und wie intensiv haben die folgenden Themen inhaltlich zwischen Ihnen und einem/-r Schüler/-in ihre Gesprächsinhalte und ihre Interaktionen dominiert? • Eine Norm (Pflicht, Regel, Gewohnheit, Verbot, Absprache, Vorstellung) wurde verletzt bzw. nicht eingehalten oder anders als erwartet ausgeführt. – Du hast x nicht so gemacht wie es richtig ist! • Umgang mit Fehlverhalten in der Zukunft. – Das nächste Mal, machst du x wie es richtig ist! • Folgen, die es haben wird, wenn dieser Umgang damit nicht so läuft wie oben ausgeführt. – Wenn du x das nächste Mal nicht so machst wie es richtig ist folgt y! • Beeinflussungsabsichten: – Hast du eigentlich an x gedacht? Es so zu machen, wie es richtig ist? Wann machst du x? !

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Allen diesen Fragen liegt häufig eine erzieherische Absicht zugrunde. Kinder und Jugendliche empfinden diese Fragen jedoch, wenn sie zu häufig gestellt werden, als Kontrolle, die in Negativität umschlagen kann. Eine Herausforderung für erwachsene Bezugspersonen ist es, das rechte Maß zu finden, das für die jungen Menschen nicht zu frustrierend ist. Eine motivierende Balance zwischen den oben aufgelisteten Inhalten und solchen Inhalten, die interessant, weiterführend sind und ein aufrichtiges Interesse an dem Anderen signalisieren, ist erstrebenswert. Um es mit den Worten Russels zu sagen: „Kein Kind wird uns ein Interesse zu danken wissen, das nicht ihm selbst gilt […] Wünschenswert ist das Interesse, das nur aus der spontanen Freude am Umgang mit Kindern ohne jeden höheren Zweck besteht. Lehrer, die diese Fähigkeit haben, werden die Freiheit der Kinder selten einzuschränken brauchen, es aber andernfalls und wenn nötig tun können, ohne damit psychischen Schaden anzurichten.“ (Russell 1935, S. 242). Erzieherische Absichten sind am besten in ein reiches Repertoire weiterer Interaktionsinhalte eingebettet.

11.4 Was man selber tun kann: Am Ball bleiben Häufig ist es so, dass, wenn man ein Buch gelesen hat, es einen inspiriert hat, eine gute Empfehlung von jemandem bekommen hat oder einfach eine Einsicht in etwas bekommen hat, voller Schwung etwas Neues probiert und dann klappt alles am Anfang besser. Aber mit der Zeit verschwinden die Einsichten, es entstehen neue Probleme, man fällt zurück in alte Gewohnheiten. Es ist wichtig, damit man nicht zurückfällt, Einsichten vergisst, Neues verwässert oder stagnieren lässt, am Ball zu bleiben: Einsichten wollen gepflegt und genährt werden, Innovationen sind morgen schon alt und fehleranfällig. Deswegen habe ich zum Schluss dieses Bandes einige Empfehlungen formuliert, wie man am Ball bleiben kann in Bezug auf den Versuch, entwicklungsförderliche Beziehungen zu seinen Schüler/-innen zu entwickeln und für sich selbst einen befriedigenden Berufsalltag zu haben.

11.4.1 Wissen aneignen und vermehren Es gibt in der Tat eine Fachzeitschrift, die sich mit Höflichkeit auseinander setzt. Das Journal of Politeness Research widmet sich Höflichkeit unter vielen verschiedenen Aspekten aus interdisziplinärer und interkultureller Perspektive.

11.4  Was man selber tun kann: Am Ball bleiben

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Nicht nur wird so interessantes Wissen vermittelt, sondern durch die Beschäftigung mit Höflichkeit bleibt das Thema zugänglich und lebendig. Weiterhin wäre es für jede Lehrkraft sehr nützlich mehr über die Dynamiken einer Gruppe zu wissen. So kann sie wirklichkeitskongruenter das Verhalten ihrer Schüler/-innen beurteilen. Einen guten und lesbaren Überblick liefert hier der seit vielen Jahren stets auf den neuesten Stand gebrachte Band von Forsyth über gruppendynamische Prozesse, Group Dynamics (Forsyth 2019). Danach kennt man sich schon besser aus mit den Gesetzen von Gruppen. In Ergänzung hierzu empfiehlt sich das schmale, aber eindrucksvolle Handbuch Classroom Management von Dollase (Dollase 2012).

11.4.2 Begleiter für hilfreiche Selbstreflexion Es gibt verschiedene Lektüren, die hilfreiche Begleiter sein können. Eines dieser Bücher ist das des Stressforschers Lazarus: Der kleine Taschentherapeut (Lazarus und Lazarus 2012). Auf einer Radiosendung aufbauend, entstand ein kleines kompaktes Werk mit vielen kleinen Lektionen über alle möglichen Aufregungen des Lebens, die leicht auf den Berufsalltag zu übertragen sind und an und für sich wertvolle Interpretationsangebote der mitunter problematischen Wirklichkeit liefern. Auch das Gefühlsbuch von Watt-Smith (2017) ist hier erwähnenswert, zeigt es doch einen ganz neuen und weiteren Blick auf die uns umgebende emotionale Realität, die sicher das Verständnis für die soziale Umgebung erleichtern kann. Weiterhin gibt es zu fast jedem emotionalen Problem sehr gute Selbsthilfebücher über das Institute for Rational Living zu beziehen. Besonders die Werke von Albert Ellis, der als Großvater der kognitiven Verhaltenstherapie gilt, sind zu nennen. Es gibt sie häufig in deutscher Übersetzung (Ellis und Hoellen 2008). Empfehlenswert sind seine Bücher über Ärger oder über Prokrastination bzw. die Bücher zu diesen Themen aus rational-emotiver verhaltenstheoretischer Sicht. Bertrand Russell hat sehr anregende Überlegungen dazu aufgeschrieben, wie man selber daran arbeiten kann, ein glücklicheres Leben zu führen (Russell 1977). Seinen kleinen Band „Eroberung des Glücks“ empfehle ich wärmstens. Selbstanalysen in Form eines Zwiegesprächs können sehr hilfreich sein, wenn sie sich zum Ziel setzen, genauer hinzuschauen und etwas zu lernen, das problemlösend ist und nicht problemeskalierend. Zwiegespräche haben, über die Geschichte der Menschheit betrachtet, verschiedene, von ihrer jeweiligen Kultur geprägte Formen, angenommen. In der europäischen Tradition spielt sicher das Sokratische Gespräch eine große Rolle.

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Einen Schritt für Schritt Überblick bekommen Sie hierfür in einigen Bänden, zum Beispiel in dem Band von Schwartz (2018). Der empfohlenen Literatur ist gemeinsam, dass sie von kritischen Rationalisten geschrieben wurde; wem das nicht so sehr zusagt, kann möglicherweise mit dieser Literatur wenig anfangen. Bei dieser Perspektive ist weder der völlige Zweifel, noch der blinde Glaube an etwas berechtigt, sondern die empirische und wissenschaftliche sowie kritische Annäherung an die Realität spielt die zentrale Rolle bei den Entscheidungen, die man zu treffen hat.

11.5 Hilfreiche Strukturen Das Erleben von Stress hemmt bei vielen Menschen ihre Kompetenzen, höflich und freundlich zu sein. Ein großer Stressfaktor ist das Erleben von Enge (Bilotta et al. 2018). In Bildungsinstitutionen in Deutschland ist es in der Regel eng. Sehr viele Menschen auf wenig Raum fühlen sich aber nur dann besonders wohl, wenn sie als Gruppe miteinander eine große psychologische Nähe aufweisen, sich also mögen und sich sympathisch sind. Ist dies nicht so, dann kommt es zum gegenteiligen Effekt. Natürlich ist es selbstverständlich, dass mehr Raum nicht alleine und automatisch zu einem freundlicheren Verhalten miteinander führt, und auch ist es selbstverständlich, dass guter Unterricht auch dann in kleineren Gruppen ebenfalls nicht gemacht wird, wenn eine Lehrkraft es (bisher) nicht konnte, aber bei den Personen, die auf Stress durch Enge negativ reagieren, wird eine entspanntere Raumsituation diesen Stress mildern und Freundlichkeit wahrscheinlicher machen. Klassengrößen zu verkleinern wäre eine strukturelle Maßnahme, die es Lehrkräften und Schülern/-innen erleichtern würde, zugewandter miteinander umzugehen. Vielleicht können wir etwas aus den der Pandemiesituation (Covid19) geschuldeten Maßnahmen – kleinere Gruppen – lernen. Sicher gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, unnötigen, d.  h. nicht produktiven, Stress für Schüler/-innen und Lehrer/-innen zu reduzieren aus ökologischer Perspektive, lerntheoretischer Perspektive etc. Auf der anderen Seite wäre es für die Lernmotivation der Schüler/-innen sehr gut, wenn Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag, die vordergründig nicht curricular eingebettet sind, auch als Leistung von Lehrern/-innen zählen könnten. So hängen diese wichtigen Einrichtungen oft nur vom zufälligen Engagement eines Kollegiums ab. Schulen können als Institution viel dafür tun, dass Schüler/-innen sich zugehörig fühlen.

Literatur

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Literatur Becker, K. B, & Steins, G. (2010). Vom Nutzen sozialpsychologischer Erkenntnisse für die Lehrerbildung – Hochschule und Studienseminar im Dialog. Seminar. S. 19–42. Bilotta, E., Vaid, U., & Evans, G. W. (2018). Environmental stress. In L. Steg & J. I. M. de Groot (Hrsg.), Environmental psychology: An introduction. Chichester: John Wiley & Sons. https://doi.org/10.1002/9781119241072.ch4. Bitan, K., Haep, A., & Steins, G. (2013). Psychology of emotion and its application in educational settings. In C. Mohiyeddini, M. Eysenck, & S. Bauer (Hrsg.), Handbook of psychology of emotions: Recent theoretical perspectives and novel empirical findings (Bd. 1, S. 101–114). New York: Nova Publisher. Brekelmans, M., Mainhard, T., den Brok, P., & Wubbels, T. (2011). Teacher control and affiliation: Do students and teachers agree? The Journal of Classroom Interaction, 46, 17–26. Dollase, R. (2012). Clasroommanagement.Theorie und Praxis des Umgangs mit Hetesrogenität. Schulmanagement Handbuch (Bd. 142). München: Oldenbourg. Ellis, A., & Hoellen, B. (2008). Die rational-emotive Verhaltenstherapie: Reflexionen und Neubestimmungen. München: Piper. Forsyth, D. R. (2019). Group dynamics. USA: Cengage. Friedman, I. A. (2006). Classroom management and teacher stress and burnout. In C. M. Evertson & C. S. Weinstein (Hrsg.), Handbook of classroom management: Research practice and contemporary issues (S. 925–944). New York: Routledge. Hargreaves, A. (2005). Mixed emotions: Teachers’ perceptions of their interactions with students. Teaching and Teacher Education, 16, 811–826. Hattie, J. (2009). Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. New York: Routledge. Higgins, E. T. (1987). Self-discrepancy: A theory relating self and affect. Psychological Review, 94, 319–340. Huberman, M. (1993). The lives of teachers. London: Cassell. Jahn, R. (2017). (Verleugnete) Einflussnahme: allgemeine und besondere Organisationsdynamiken am Beispiel Schule. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 48, 203–209. Jenkins, J. M. (1972). The principal: Still the principal teacher. NASSP Bulletin, 56, 31–37. Lazarus, A. A., & Lazarus, C. N. (2012). Der kleine Taschentherapeut: In 60 Sekunden wieder o.k. Stuttgart: Klett-Cotta. Nichols, S. L. (2006). Teachers and Students’ beliefs about student belonging in one middle school. The Elementary School Journal, 106, 255–271. Rauin, Z., & Maier, U. (2007). Subjektive Einschätzungen des Kompetenzerwerbs in der Lehramtsausbildung. In M. Lüders & J. Wissinger (Hrsg.), Forschung zu Lehrerbildung, Kompetenzentwicklung und Programmevaluation (S. 103–133). Münster: Waxmann. Russell, B. (1935, 2019). Lob des Müßiggangs, Kapitel XII, Erziehung und Disziplin. München: dtv. Russell, B. (1977). Eroberung des Glücks. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schaarschmidt, U. (2009). Beanspruchung und Gesundheit im Lehrberuf. In K. Beck, D. Sembill, & R. Nickolaus (Hrsg.), Lehrprofessionalität, Bedingungen, Genese, Wirkungen und ihre Messung (S. 604–616). Weinheim: Beltz.

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11  Selbstreflexion: Das Ich auf dem Prüfstand

Schwartz, D. (2018). Vernunft und Emotion: Die Ellis-Methode – Vernunft einsetzen, sich gut fühlen, mehr im Leben erreichen. Dortmund: Borgmann. Silberman, C. E. (1971). Crisis in the Classroom. New York: Vintage. Steins, G. (2011). Bewertungssysteme von Lehrkräften und das Sozialverhalten von Schülern und Schülerinnen. In G. Steins (Hrsg.), Limbourg M (S. 499–522). Sozialerziehung in der Schule. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. Steins, G. (2017). Die Bedeutung von Menschenbildannahmen für Soziales Lernen in der Schule. In J. Standop, E. D. Röhrig, & R. Winkels (Hrsg.), Menschenbilder in Schule und Unterricht (S. 275–287). Weinheim: Beltz. Steins, G., Wittrock, K., & Haep, A. (2016). The effects of classroom management education on handling a class disruption among teacher students. Creative Education, 7, 2403–2422. Veldman, I., van Tartwijk, J., Brekelmans, M., & Wubbels, T. (2013). Job satisfaction and teacher-student relationships across the teaching career: Four case studies. Teaching and Teacher Education, 32, 55–65. Watt-Smith, T. (2017). Das Buch der Gefühle. München: dtv. Weber, A. (2003). Frühpension statt Prävention? Zur Problematik der Frühinvalidität im Schuldienst. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, 38, 376–384. Wilton, T., & Steins, G. (2012). Umgang von Lehrenden mit Stress: Zur Bedeutung des Konzeptes rationaler Gedanken in der Lehrerausbildung. Zeitschrift für ­Rational-Emotive & Kognitive Verhaltenstherapie, 23, 7–32.