Freier Wille und Natur(alismus): Ein integrativer Ansatz zur Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage [1 ed.] 9783666573415, 9783525573419

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Freier Wille und Natur(alismus): Ein integrativer Ansatz zur Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage [1 ed.]
 9783666573415, 9783525573419

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Hildegard Peters

Freier Wille und Natur(alismus) Ein integrativer Ansatz zur Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage

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Religion, Theologie und Naturwissenschaft / Religion, Theology, and Natural Science

Herausgegeben von Christina Aus der Au, Celia Deane-Drummond, Agustn Fuentes, Jan-Olav Henriksen und Markus Mühling Band 36

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Hildegard Peters

Freier Wille und Natur(alismus) Ein integrativer Ansatz zur Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage

Vandenhoeck & Ruprecht

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Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2021 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertationsschrift angenommen und für die Publikation geringfügig überarbeitet. Betreuer: Prof. Dr. Magnus Striet, Prof. Dr. Patrick Becker Dekan: Prof. Dr. Ferdinand R. Prostmeier

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.  2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Roy Scott: Phrenology head divided into numbered sections. Ikon Images / akg-images. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1110 ISBN 978-3-666-57341-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................ 11 1.

Einleitung ...................................................................................... 13

2.

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit...................................... 2.1 Grundbedingungen libertarischer Willensfreiheit ......................... 2.2 Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen .................. 2.3 Willensfreiheit und Bewusstsein ................................................. 2.4 Bedingte Freiheit ......................................................................

3.

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit (Roth, Singer, Prinz) .................... 3.1 Das Bewusstsein ....................................................................... 3.1.1 Was ist Bewusstsein? ......................................................... 3.1.2 Wie, wann und wo entsteht Bewusstsein? ............................ 3.1.2.1 Der Ort des Bewusstseins..................................... 3.1.2.2 Produktion und Kontrolle des Bewusstseins ........... 3.1.2.3 Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und die Begrenztheit des Bewusstseins ......................... 3.1.2.4 Das Bindungsproblem ......................................... 3.1.2.5 Metarepräsentationen als Erklärung für Qualia ....... 3.1.3 Das Bewusste und das Unbewusste ..................................... 3.2 Der Wille und das Gehirn .......................................................... 3.2.1 Das Libet-Experiment ....................................................... 3.2.2 Initiierung von Handlungen............................................... 3.2.3 Entscheidungsprozesse: unbewusste und emotionale Einflüsse ......................................................... 3.2.4 Einflüsse von Genen und Umwelt ....................................... 3.2.5 Das Ich – Urheber des Willens? .......................................... 3.2.5.1 Wie entsteht das Gefühl der Urheberschaft? ........... 3.2.5.2 Was ist die Funktion des Gefühls der Urheberschaft?.................................................... 3.3 Schlussfolgerungen bezüglich der Willensfreiheit .......................... 3.4 Konsequenzen .......................................................................... 3.5 Kritik ...................................................................................... 3.5.1 Das Libet-Experiment .......................................................

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Inhaltsverzeichnis

3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 4.

Die Irrelevanz des Ich........................................................ Determination durch unbewusste Einflüsse ......................... Neuronaler Determinismus ............................................... Fazit ...............................................................................

Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes ................................................................................... 4.1 Der physikalische Determinismus ............................................... 4.2 Der Physikalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen .. 4.3 Das Zufallsproblem und die Schwierigkeiten des Kompatibilismus .. 4.4 Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem ................................ 4.4.1 Was meint ‚Reduktion‘ und wie erfolgreich sind Reduktionsversuche? ........................................................ 4.4.2 Zum Verhältnis von Geist und Materie – die meistdiskutierten philosophischen Optionen ....................... 4.4.3 Das Problem der mentalen Verursachung oder warum starke Emergenz kein Physikalismus ist .................... 4.5 Einwände gegen Determinismus und Physikalismus...................... 4.5.1 Determinismus und Quantenphysik ................................... 4.5.1.1 Experimentelle Befunde und mathematischer Formalismus ............................... 4.5.1.2 Die Deutungen der Quantenmechanik im Hinblick auf den Determinismus .......................... 4.5.1.2.1 Die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik............................................... 4.5.1.2.2 Die Bohm’sche Quantenmechanik ......................... 4.5.1.3 Schlussfolgerungen bezüglich des Determinismus ... 4.5.1.4 Quantenphysik und die probabilistischen Gesetze der Thermodynamik ................................ 4.5.2 Einwände gegen den Determinismus jenseits der Quantenphysik................................................................. 4.5.3 Ist die physische (d. h. mikrophysikalische) Welt kausal geschlossen?........................................................... 4.6 Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn.......................................................... 4.6.1 Probleme des Ansatzes ...................................................... 4.6.2 Der Protopanpsychismus als mögliche Problemlösung (Patrick Becker) .........................................

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Inhaltsverzeichnis

4.7 Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen .................................................. 4.7.1 Ontologischer, methodologischer und semantischer Naturalismus ................................................................... 4.7.2 Naturalismus, Willensfreiheit und Emergenz ....................... 4.7.3 Kritik des Naturalismus..................................................... 4.7.4 Gerhard Roths Naturalismus.............................................. 4.8 Das Zufallsproblem im Kontext der Metaphysik............................ 5.

6.

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes................................. 5.1 Voraussetzung: Kommunikative Vernunft .................................... 5.2 Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung ........................................... 5.3 Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung ................................................................ 5.3.1 Die Sprachpragmatik stiftet einen doppelten Weltbezug ........ 5.3.2 Realismus nach der (sprach-)pragmatischen Wende – zur Deutung der Wissenschaftspraxis..................... 5.3.3 Schlussfolgerungen in ontologischer Hinsicht ...................... 5.4 Die Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen – Geist als Produkt der Evolution ............. 5.5 Genaueres zur Naturgeschichte des Geistes aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie....................... 5.5.1 Die Naturgeschichte des menschlichen Geistes nach Michael Tomasello............................................................ 5.5.2 Rezeption Tomasellos durch Habermas ............................... 5.6 Willensfreiheit bzw. mentale Verursachung nach Habermas ........... 5.7 Diskussion, Kritik und Ertrag ..................................................... 5.7.1 In welchem Sinn ist Habermas ein Naturalist? ...................... 5.7.2 Natur als lebensweltliches Konzept – Warum Habermas einen ontologischen Monismus vertritt ................ 5.7.3 Ertrag: Habermas und die Theorie starker Emergenz............. Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein? Subjekt- bzw. bewusstseinsphilosophische und phänomenologische Anfragen ........................................................ 6.1 Das Zirkelproblem in der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins .. 6.2 Das Zirkelproblem bei Fichte...................................................... 6.3 Henrichs Bewusstseinstheorie: präreflexives, ich-loses (Selbst-)Bewusstsein..................................................................

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Inhaltsverzeichnis

6.4 Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung........................................... 6.4.1 (Selbst-)Bewusstsein auf dem Niveau nicht-propositionaler Gebärdenkommunikation .................. 6.4.2 (Selbst-)Bewusstsein auf dem Niveau propositional ausdifferenzierter Sprache.................................................. 6.4.3 Mead im Vergleich zu Tomasello ........................................ 6.4.4 Der Zirkel in der Habermas’schen Erklärung von Selbstbewusstsein ............................................................. 6.5 Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie ............. 6.5.1 Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein und Leiblichkeit in der Phänomenologie ..................................................... 6.5.2 Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein – egologisch oder nicht-egologisch? ......................................................

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7.

Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein (Antonio Damasio)............................................. 303

8.

Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit: Überlegungen ausgehend von Hermann Krings .................. 8.1 Krings: Willensfreiheit impliziert ein Unbedingtheitsmoment ........ 8.2 Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit ..... 8.2.1 Krings: die Bedingung der Möglichkeit von Wissen .............. 8.2.1.1 Erkennen als reflexe Transzendenz ........................ 8.2.1.2 Die Krings’sche Alternative zur Reflexionstheorie: immanente Retroszendenz des Erkennenden........................... 8.2.2 Krings: Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ............. 8.2.3 Zur Krings’schen Methodik................................................ 8.3 Vermeidet Krings den Zirkel? ..................................................... 8.4 Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit .................................... 8.4.1 Der Zirkel bei Striet und das Albert’sche Trilemma ............... 8.4.2 Striet und Henrich im Vergleich ......................................... 8.5 Magnus Lerch: Gleichursprünglichkeit von Beisichsein und Freiheit ............................................................................. 8.6 Vergleich und Diskussion........................................................... 8.7 Fazit: Kommunikative Vernunft, präreflexives Selbstbewusstsein und transzendentale Freiheit ............................

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Inhaltsverzeichnis

9.

Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit – oder die Kontinuität von Leben und Geist............... 9.1 Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus ......................... 9.1.1 Die Autonomie selbsterhaltender dynamischer Systeme ........ 9.1.2 Autonomie und Kognition – die Kontinuität von Leben und Geist ............................................................... 9.1.3 Emergenz durch Abwärtskausalität bzw. zirkuläre Kausalität .. 9.1.4 Organismische, sensomotorische und die Autonomie sozialer Interaktionen....................................... 9.1.5 Antirepräsentationalismus ................................................. 9.2 Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein ................................................. 9.3 Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)............................................................................... 9.3.1 Freeman zur Bedeutung des Bewusstseins für Handlungsentscheidungen ................................................ 9.3.2 Enaktivismus und Willensfreiheit – eine Hypothese .............. 9.4 Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion..... 9.4.1 Schwache oder starke Emergenz im Enaktivismus? ............... 9.4.2 Theorien komplexer Systeme und ihre naturphilosophischen Deutungen ....................................... 9.4.3 Kollision mit anderen naturphilosophischen Annahmen? ...... 9.5 Enaktivismus, Naturwissenschaft, Naturalismus (und Habermas) – Diskussion ............................................................ 9.6 Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen ........................................ 9.6.1 Konvergenzen zum Thema Freiheit ..................................... 9.6.2 Konvergenzen zum Thema Bewusstsein .............................. 9.7 Enaktivismus vs. Quantenphysik: zwei Varianten von Willensfreiheit durch starke Emergenz.........................................

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10. Ergebnisse und Schlussfolgerungen................................................ 419 Literaturverzeichnis .............................................................................. 443 Personenverzeichnis............................................................................. 463

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2021 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertationsschrift angenommen und für die Publikation geringfügig überarbeitet. Mit der reduktiv-naturalistischen Bestreitung von Willensfreiheit, auf die mich während meines Lehramtsstudiums der katholischen Theologie und der Biologie ein Seminar der Fakultät für Biologie der Universität Freiburg zur „naturwissenschaftlichen Bewusstseinsforschung“ aufmerksam gemacht hat, habe ich mich bereits in meiner Staatsexamensarbeit auseinandergesetzt. Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie an der Universität Freiburg, hat mich damals auf die Fährte der Habermas’schen Philosophie gesetzt – ein Weg, der mir den geistigen Zugang zu zeitgenössischer Philosophie überhaupt erst eröffnet und mir völlig neue philosophische Sichtweisen auf die Welt ermöglicht hat. Nicht zuletzt hat er es mir dadurch ermöglicht, auch mit einer persönlichen, existenziellen Betroffenheit von der naturalistischen Infragestellung der Willensfreiheit intellektuell umzugehen. Dafür möchte ich ihm meinen ausdrücklichen Dank aussprechen ebenso wie für seine Ermutigung, das Thema im Rahmen einer Dissertation weiter zu verfolgen, und für seine Unterstützung als Doktorvater auf diesem Weg. Ulrich Lüke, bis 2017 Professor für Systematische Theologie, der mich im Jahr 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für katholische Theologie der RWTH-Aachen einstellte und Patrick Becker, Lehrstuhlvertreter in Aachen nach der Pensionierung von Ulrich Lüke und aktuell Professor für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Universität Erfurt, verdanke ich die praktischen (zeitlichen und finanziellen) Rahmenbedingungen, unter denen es mir möglich war, die vorliegende Arbeit zu verfassen. Zunächst als Kollege und später als Vorgesetzter und Zweitbetreuer meiner Arbeit hat mich Patrick Becker wohlwollend, ermutigend, auf Augenhöhe, geduldig, fachlich kompetent und stets mit einem offenen Ohr durch die Höhen und Tiefen der Promotionsphase begleitet. Sowohl für die fachlichen Diskussionen, die ich mit ihm als Experten für mein Promotionsthema führen durfte, als auch für die emotionale Unterstützung möchte ich mich von Herzen bedanken. Weiterhin möchte ich dem Naturphilosophen Hans-Dieter Mutschler danken für das große Interesse, die Ermutigung und die wichtigen fachlichen Hinweise, mit denen er das Entstehen meiner Dissertation begleitet hat. Wichtig und hilfreich waren für mich ebenso der fachliche Austausch und inhaltliche Rückmeldungen mit bzw. von Martin Breul, der aktuell die Professur für Systematische Theologie an

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Vorwort

der TU Dortmund vertritt, Magnus Lerch, aktuell Juniorprofessor für Dogmatik / Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität zu Köln, Aaron Langenfeld, der aktuell die Professur für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaften an der Theologischen Fakultät Paderborn vertritt, und Reinhold Breil, außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie und am Philosophischen Institut der RWTH-Aachen. Bedanken möchte ich mich außerdem bei den Herausgeber:innen für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Religion, Theologie und Naturwissenschaft“, bei Izaak de Hulster und Jehona Kicaj vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Betreuung während der Manuskripterstellung, bei meiner Schwägerin Louise Probst für das akribische und langwierige Korrektur-Lesen der Arbeit, bei Andrea Kett, meiner aktuellen Vorgesetzten beim Bistum Aachen, für die zeitlichen Spielräume, die sie mir ermöglich hat, und bei der „Bischof-Klaus-Hemmerle-Stiftung zur Förderung pastoraler Dienste im Bistum Aachen“ für die finanzielle Förderung. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern Hans-Heinz und Hannelore Peters und meinem Mann Martin Probst für ihre fortwährende Ermutigung, emotionale Unterstützung und ihre Geduld mit mir während der Entstehungszeit dieser Arbeit. Hildegard Peters Düren, 30. März 2022

1.

Einleitung

Die alte philosophische und theologische Frage nach der menschlichen Willensfreiheit rückte im ersten Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts wieder verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Angesichts neuer methodischer Zugänge und entsprechender Erkenntnisfortschritte innerhalb der Neurowissenschaften sahen sich führende Wissenschaftler:innen dieses Bereiches veranlasst, beträchtliche Erschütterungen des Menschenbildes schon in absehbarer Zeit in Aussicht zu stellen.1 Mit Vehemenz, großer Öffentlichkeitswirksamkeit und in zahlreichen Publikationen verbreiteten in Deutschland insbesondere die Neurowissenschaftler Gerhard Roth und Wolf Singer die Ansicht, der menschliche Geist könne grundsätzlich auf der Basis physikochemischer Vorgänge erklärt werden.2 Sie kündigten an, auf lange Sicht habe die Hirnforschung das Potential, die schweren Fragen der Erkenntnistheorie nach dem Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erkennendem Verstand und zu erkennendem Objekt basierend auf ihrem Wissen über biologische Prozesse zu beantworten.3 Auch die Frage nach der Willensfreiheit meinten die drei Wissenschaftler beantworten zu können. Menschliche Entscheidungen, das menschliche Wollen und Handeln sei von naturgesetzlich ablaufenden neuronalen Prozessen im Gehirn determiniert.4 Deterministische Kausalzusammenhänge würden festlegen, wie die Entscheidungen eines Menschen ausfallen werden, noch bevor dieser überhaupt über die Entscheidung nachgedacht habe.5 Wenn der Mensch sich in einer Entscheidung frei fühle, gaukle sein Gehirn ihm Willensfreiheit perfiderweise nur vor.6 Tatsächlich handele es sich dabei aber um eine Illusion.7 Dafür spreche außerdem, meinte Roth, dass bewusste Überlegungen für Entscheidungen ohnedies weitgehend irrelevant seien.8 In der analytischen Philosophie, die im 20. Jahrhundert in Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Forschungszweigen wie Psychologie, Forschungen zur künstlichen Intelligenz und den Kognitionswissenschaften die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Geistes dominierte, rannten die Neurowissenschaftler:innen offene Türen ein. Denn reduktionistische Ansichten gemäß denen der

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Vgl. Roth/Singer u. a.: Manifest, 37. Vgl. Roth/Singer u. a.: Manifest, 33. Vgl. Roth/Singer u. a.: Manifest, 37. Vgl. Roth: Sicht (2003), 167 und 180. Vgl. Roth: Sicht (2015), 184. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 158. Vgl. Roth: Sicht (2003), 180. Vgl. Markowitsch: Willen, 167. Vgl. Roth: Sicht (2003), 180. Vgl. Markowitsch: Willen, 167. Vgl. Roth: Fühlen, 526–528.

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Einleitung

menschliche Geist mit Zuständen des Gehirns identisch ist oder durch sie erklärt werden kann, waren (und sind) schon seit Jahrzehnten die Standardposition in der analytischen Philosophie des Geistes.9 Auch deterministische Grundannahmen, die ihre Wurzeln in der klassischen Physik haben, sind in der analytischen Philosophie verbreitet.10 Folglich wurde (und wird) auch hier zumeist die Willensfreiheit entweder zur Illusion erklärt, oder es wurden (und werden) sogenannte kompatibilistische (d. h. mit dem Determinismus kompatible) Konzepte von Willensfreiheit entwickelt, die dem Begriff durch Uminterpretation eine neue Bedeutung geben wollen.11 Die Thesen der Neurowissenschaftler:innen dürften ihrerseits von dieser analytischen Sichtweise beeinflusst worden sein. Ihre Behauptungen sind auch nicht vollkommen neu sondern wurden in ähnlicher Weise bereits früher vertreten. Die philosophische These des physikalischen Determinismus beispielsweise, in ihrer modernen Form zum ersten Mal vom französischen Mathematiker und Naturforscher Pierre-Simon Laplace (1749–1827) formuliert,12 gewann schon für die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts auf Grund des raschen Erkenntniszuwachses der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, an Plausibilität.13 Mit naturwissenschaftlichem Anspruch, wenn auch im Nachhinein betrachtet auf spekulative Weise, versuchte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Franz Joseph Gall in seiner ‚Schädellehre’, Freiheit als Illusion zu entlarven.14 Die zu Beginn des aktuellen Jahrhunderts wieder neu aufgekommene Diskussion hat aber aus verschiedenen Gründen eine neue Qualität. Zum einen behaupten die Neurowissenschaftler:innen, ihre Thesen durch eindeutige empirische Daten belegen zu können.15 Zum anderen ist ein Naturalismus, der den Naturwissenschaften die alleinige epistemische Autorität für alle Gegenstandsbereiche zuspricht, in den letzten Jahrzehnten zu einer auch oder vielleicht gerade außerhalb der Wissenschaft gesellschaftlich weit verbreiteten Ansicht geworden, die das Denken hinsichtlich vieler Einzelfragen bestimmt.16 Gemäß dieser Ansicht können die Naturwissenschaften prinzipiell alle Phänomene und somit auch den Menschen in jeder Hinsicht erklären und hinsichtlich der Beschaffenheit der Wirklichkeit

9 So behauptet etwa Michael Esfeld, dass „die funktionalistische Version des Physikalismus“ (Esfeld: Philosophie, 187) die Standardposition in der Philosophie des Geistes der letzten fünfzig Jahre sei. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 4. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 43–64. 10 Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 4. 11 Vgl. Bieri: Handwerk. Einen Überblick gibt Evers: Neurobiologie. 12 Vgl. Walde: Willensfreiheit, 32. 13 Vgl. Hardegger: Willenssache, 46. 14 Vgl. Geyer: Vorwort, 11. 15 Vgl. Geyer: Vorwort, 12. 16 Vgl. Essen: Mensch, 133.

Einleitung

einschließlich des Menschen geben einzig die Naturwissenschaften zuverlässig Auskunft.17 Weil dieser Naturalismus auf die Lebenswelt der Menschen einwirkt und Sprach- wie Denkformen durchsetzt,18 konnte die These der Neurowissenschaftler:innen von der Illusion der Willensfreiheit ein neues Maß an Plausibilität für die breite Öffentlichkeit gewinnen. Zugleich ist Willensfreiheit aber eine Fähigkeit, die Menschen einander in ihrem Sprechen und Handeln tagtäglich unterstellen und die sie ebenso tagtäglich in ihrem Sprechen und Handeln für sich in Anspruch nehmen. Vermutlich gehört sie deshalb auch zu den elementaren Grunderfahrungen menschlichen Selbsterlebens. Sie ist außerdem nicht nur Grundlage für den individuellen Umgang von Menschen miteinander sondern auch Basis des gesellschaftlichen Miteinanders einschließlich des staatlichen Handelns. Was das persönliche Selbstverhältnis, die zwischenmenschlichen Beziehungen und das gesellschaftliche Miteinander betrifft, ist es deshalb völlig unklar, ob Menschen als Handelnde überhaupt in der Lage sind, ihr „normativ geprägtes Bewußtsein“19 , das Willensfreiheit einschließt, einer naturwissenschaftlichen Beschreibung, die sie ausschließt, unterzuordnen.20 Immanuel Kant bringt diese Zweifel in einem bekannten Zitat ausdrucksstark auf den Punkt: Ebenso muß der entschlossenste Fatalist, der er ist, solange er sich der bloßen Spekulation ergibt, dennoch, sobald es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige Tat hervor, und kann sie auch allein hervorbringen. Es ist schwer den Menschen ganz abzulegen.21

Das handelnde und das erkennende Subjekt sind jedoch ein und dasselbe und was das eine weiß, kann das andere nicht ignorieren.22 Willensfreiheit wäre zwar nicht die erste lebensweltliche Intuition, die die Wissenschaften als unzutreffend entlarven. Müsste man Willensfreiheit aber auf Grund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse tatsächlich für eine Illusion halten, dürfte – wegen der Einheit von handelndem und erkennendem Subjekt – zukünftig niemand mehr für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden. „Wir dürften niemandem mehr etwas übel nehmen, brauchten uns für nichts mehr zu schämen und dürften weder Dankbarkeit noch Lob erwarten.“23 In stoischer Gelassenheit müsste jede:r das Verhalten

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Vgl. Essen: Mensch, 133. Vgl. Essen: Mensch, 133. Habermas: Sprachspiel, 294. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 294. Kant: Rezension (RezSchulz AA08), 185. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295. Hardegger: Willenssache, 42.

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Einleitung

seiner:ihrer Mitmenschen hinnehmen und müsste das Gleiche sich gegenüber von ihnen erwarten, denn „Keiner kann anders als er ist“24 . Das gilt zumindest für die Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen. Die Erziehung von Kindern müsste sich auf das manipulative Hervorrufen gesellschaftlich konformen Verhaltens beschränken. Beziehungen von Liebe und Freundschaft würden sich vermutlich in ihrer Qualität tiefgreifend verändern, wenn jede:r jeweils annehmen müsste, dass der:die andere sich nicht aus freien Stücken für oder gegen diese Beziehung entscheidet. Erhebliche Probleme würden sich auch für die Legitimation der gesellschaftlichen Praxis des Strafens ergeben. Das deutsche und allgemein das kontinentaleuropäische Strafrecht beruhen auf dem Schuldprinzip, wonach Strafe Schuld voraussetzt.25 Wenn aber niemand jemals die Möglichkeit hatte, anders zu handeln als es tatsächlich geschehen ist, kann von Schuld keine Rede sein.26 Eine Revision des Strafrechts wäre unumgänglich.27 Ebenso wie in der Philosophie wurde auch innerhalb des Christentums und der christlichen Theologie die Frage, ob der Mensch in seinen Entscheidungen (und Handlungen innerlich) frei ist, keineswegs immer positiv beantwortet. Der Apostel Paulus ist der erste christliche Theologe, der die Frage der Willensfreiheit explizit thematisiert.28 Durch ihn wird der Willensbegriff erst in die theologische Anthropologie eingeführt. Der Wille ist nach Paulus eine Instanz, die eingespannt ist zwischen Vernunft bzw. Gesetz und negativen Affekten und eigentlich den Zweck hat, die negativen Affekte zu kontrollieren. Der Mensch will dementsprechend auch das Gesetz befolgen und die Affekte kontrollieren, ist aber wegen seiner Willensschwäche nicht in der Lage, die beabsichtigte, gewollte Handlung entgegen seinen affektiven Antrieben auch zu vollziehen. Nur durch das befreiende Handeln Gottes, durch das Wirken der göttlichen Gnade wird die ganze Person radikal umgewandelt und so auch ihre Willensschwäche geheilt. Deshalb beschreibt Paulus das Wesen des christlichen Glaubens als Freiheit und Befreiung.29 Nach Augustinus, der in dieser Hinsicht Paulus rezipiert, verfügt der Mensch zwar über die Freiheit, sich für das Gute zu entscheiden, kann diese Entscheidung aber auf Grund der Erbsünde nicht umsetzen.30 Er hat zwar Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium), aber ohne die göttliche Gnade keine Handlungsfreiheit

24 Singer: Selbsterfahrung, 159. 25 Vgl. Hardegger: Willenssache, 75. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 134. Vgl. Roth: Perspektive, 178. Vgl. StGB §46, Absatz 1: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.“ 26 Vgl. Roth: Sicht (2003), 181. 27 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 293. 28 Vgl. zum ganzen Absatz: Achtner: Willensfreiheit, 40–46. 29 Vgl. Pesch: Wille/Willensfreiheit, 79. 30 Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 60.

Einleitung

(voluntas).31 Auf Grund seiner Entscheidungsfreiheit kann der Mensch sich allerdings der Gnade widersetzen.32 Martin Luther indessen bestreitet auch noch die Entscheidungsfreiheit, den liberum arbitrium, weil er sie mit dem Vorauswirken bzw. der Allwirksamkeit Gottes für nicht vereinbar hält.33 Durch die Erbsünde sei der Mensch zudem von unausrottbarer Selbstbezogenheit geprägt, die seinen Willen sowohl in weltlichen Belangen als auch im Hinblick auf sein Heil unfrei mache.34 Frei wird der Mensch nach Luther erst im Glauben, welcher den passiven Glaubenden in eine Bewegung über sich hinaus versetze.35 Gemäß der Auffassung der meisten systematischen Theolog:innen der Gegenwart – wenigstens der katholischen – und des katholischen Lehramts ist die Willensfreiheit ein Grundbegriff christlicher Anthropologie.36 Auch diese Theologie kann sich für ihre Auffassung auf Schrift und Tradition berufen. Bei zahlreichen Schriftstellen ist eine Interpretation naheliegend, gemäß der an diesen Stellen Willensfreiheit vorausgesetzt wird: Die Dekaloggebote (Dtn 5,6–21) beispielsweise sowie das Verbot, von den Früchten des Baumes der Erkenntnis zu essen (Gen 2,16–17), verweisen auf die freie Entscheidungsfähigkeit des Menschen gemäß oder entgegen der Weisung Gottes zu handeln.37 Gottes Ruf an Adam ‚Wo bist du?‘ in Gen 3,9 macht zudem deutlich, dass die Verantwortung für das Übertreten der Gebote Gottes allein beim Menschen liegt.38 Die Botschaft ist: „Du hast gesündigt und kannst dich durch keinerlei Hinweis auf unwiderstehliche Verführung entschuldigen!“39 Diese Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln kommt auch in den Lohnverheißungen und Strafandrohungen des Alten Testaments (z. B. Ez 18) zum Ausdruck.40 Das Lehrgedicht in Sir 15,11–20 reflektiert das frühjüdische Denken über das Verhältnis der Allmacht Gottes und der Freiheit des Menschen.41 Dort heißt es: „Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen. […] Wenn du willst, kannst du das Gebot halten […]. Der Mensch hat Leben und Tod vor sich; was er begehrt, wird ihm zuteil.“ (Sir 15,14–17) An dieser Stelle ebenso wie in Dtn 30,19 („[…] Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben […].“) wird deutlich, dass die

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 60–64 und 70. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 60 und 70. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 170. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 174 und 178. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 176 und 179. Vgl. Schockenhoff: Mensch, 53. Vgl. Schockenhoff: Theologie, 199 und 200f. Vgl. Schockenhoff: Theologie, 203. Vgl. Pesch: Wille/Willensfreiheit, 77. Vgl. Bläser: Freiheit, 328. Vgl. Pesch: Wille/Willensfreiheit, 77. Vgl. Schockenhoff: Theologie, 210.

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Menschen frei sind, sich für oder gegen Gott, für den Weg des Lebens oder den des Todes zu entscheiden.42 Das Alte Testament weiß um die Neigung des Menschen zum Bösen, aber diese wird nicht als Verhängnis oder als unabwendbares Schicksal, sondern als persönliche Schuld gewertet.43 Der Wille des Menschen und sein Handeln in der Zeit sind für die alttestamentliche Anthropologie entscheidend.44 Auch die Rede vom Bund Gottes mit den Menschen setzt Freiheit voraus.45 Abraham „gilt zu allen Zeiten als das Urbild des freien, von Gott zu seinem Bundespartner erwählten Menschen“46 . Im Neuen Testament setzt Jesu Ruf zur Umkehr und Nachfolge die Freiheit der so Angesprochenen voraus.47 Eberhard Schockenhoff fasst den biblischen Befund zur Willensfreiheit folgendermaßen zusammen: Grundlegend für das biblische Freiheitsdenken ist die Überzeugung: Der Mensch ist als Geschöpf Gottes zur Freiheit berufen. Gott hat den Menschen nicht als eine Marionette geschaffen, die er an langen Fäden auf der Weltbühne tanzen lässt. Vielmehr hat er ihn vor allen anderen Geschöpfen dazu bestimmt, als sein geschöpfliches Ebenbild zu existieren und diesem Auftrag in freier Selbstbestimmung zu entsprechen.48

Wichtige theologische Denker wie Klemens von Alexandrien, Origenes, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham haben an der Willensfreiheit des Menschen (auch) gegenüber der Gnade Gottes festgehalten.49 Nach Schockenhoff muss das freiheitsskeptische Zeugnis des Paulus von der ganzen Schrift her ausgelegt werden.50 In Übereinstimmung mit dieser Ansicht hat das katholische Lehramt immer wieder herausgestellt, dass die menschliche Freiheit unverlierbarer Bestandteil der Natur des Menschen ist und sie als Freiheit von äußerem und innerem Zwang sowie von jeglicher Prädestination zum Bösen beschrieben, auch wenn gleichzeitig klar ist, dass die menschliche Freiheit absolut unvermögend ist, das Heil ohne die Gnade Gottes zu erlangen.51

42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. Pesch: Wille/Willensfreiheit, 77. Vgl. Schockenhoff: Netz, 116. Vgl. Bläser: Freiheit, 329. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 26. Vgl. Pröpper: Freiheit. IV., 104. Vgl. Schockenhoff: Theologie, 215. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 37f. Vgl. Schockenhoff: Netz, 115f. Vgl. Pröpper: Freiheit. III., 102. Vgl. Schockenhoff: Netz, 125. Vgl. Achtner: Willensfreiheit, 51–54, 97, 99, 102, 105f, und 120f. 50 Vgl. Schockenhoff: Netz, 118. 51 Vgl. Pröpper: Freiheit. III., 105.

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Das II. Vatikanische Konzil schreibt zum Thema Freiheit in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: Gott wollte nämlich den Menschen ‚in der Hand seines Entschlusses lassen’, so daß er seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange. Die Würde des Menschen verlangt daher, daß er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußeren Zwang.52

In der Erklärung über die Religionsfreiheit heißt es: Es ist Hauptbestandteil der katholischen Lehre […], daß der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll, daß dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf. Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt, da der Mensch […] dem sich offenbarenden Gott nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, Gott einen vernunftgemäßen und freien Glaubensgehorsam leisten würde.53 Gott ruft die Menschen zu seinem Dienst im Geiste und in der Wahrheit, und sie werden deshalb durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn er nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll.54

Der Begriff des Glaubens setzt also voraus, dass der Mensch sich aus freien Stücken für oder gegen das Vertrauen auf Gott entscheiden kann. Nur weil der Mensch frei ist, können ihm außerdem Sünde und Schuld als persönlich vor Gott zu verantwortendes Fehlverhalten vorgeworfen werden.55 Die gegenwärtige (katholische) systematische Theologie versucht an das thomanische Freiheitsverständnis anzuschließen,56 wonach „das Tun des Guten unter jeweils verschiedener Rücksicht ganz der Gnade Gottes und ganz der Mitwirkung des Menschen zuzuschreiben ist“57 . Sie versteht das Verhältnis zwischen der allmächtigen Gnade Gottes und der Freiheit des Menschen nicht als ein Konkurrenzverhältnis.58 Vielmehr geht sie davon aus, dass die Allmacht der göttlichen

52 53 54 55 56 57 58

Concilium Vaticanum II: Gaudium et spes, Abschnitt 17. Concilium Vaticanum II: Dignitatis humanae, Abschnitt 10. Concilium Vaticanum II: Dignitatis Humanae, Abschnitt 11. Vgl. Ecclesia Catholica: Katechismus, 1732, 1734 und 1736. Vgl. Schockenhoff: Netz, 125. Schockenhoff: Netz, 124. Vgl. Schockenhoff: Netz, 126.

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Liebe sich selbst begrenzt, um der endlichen Freiheit neben sich Raum zu gewähren.59 Gott kann so als der Grund menschlicher Freiheit verstanden werden, „der sie in ihrem Selbstvollzug freigibt“60 . Diese Selbstbeschränkung ist ein besonderer Ausdruck der Liebe Gottes und entspricht dieser, denn nur ein frei auf Gottes Anruf antwortender Mensch kann Partner Gottes im eigentlichen Sinne sein.61 Systematische Theolog:innen wie Thomas Pröpper und seine Schüler:innen führen die mit Karl Rahner in der katholischen Theologie begonnene anthropologische Wende weiter und küren dabei die menschliche Freiheit zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Theologie. Nach Pröpper kann Liebe nur als ein Freiheitsgeschehen adäquat gedacht werden.62 Demnach könnte man nicht von einer durch gegenseitige Liebe geprägten Beziehung zwischen Gott und Mensch sprechen, wenn nicht auch der Mensch sich frei zu dieser entschließen könnte. Georg Essen betont: „Es gehört gerade zum Wesen der freien Menschenzuwendung Gottes, dass Gott sich die Unbedingtheit menschlicher Freiheit voraussetzt, um sich als Liebe erweisen zu können.“63 Die Freiheit des Menschen ist also die Instanz seiner Antwortfähigkeit auf die Liebe Gottes.64 Sie verweist auf Gottes unbedingt bejahende Liebe, in deren freier Beantwortung der Mensch – wie durch die geschichtliche Selbstbestimmung Gottes offenbar geworden ist – auf die Treue Gottes zählen kann und die Vergebung der Sünden und Befreiung aus der Sündenmacht, d. h. Erlösung, finden kann.65 Für Pröpper und seine Schüler:innen stellt die Freiheit des Menschen auch das Prinzip seiner Ansprechbarkeit für Gott dar.66 Sie ist die „von Gottes Offenbarung und Gnade selbst beanspruchte anthropologische Voraussetzung […], die auch durch die Sünde niemals so restlos zerstört werden kann, daß sie von der Gnade nicht aktualisiert und wieder freigesetzt werden könnte“67 . Die Frage nach Gott stellt sich dem Menschen erst, wenn er sich in seiner endlichen Freiheit gleichsam selbst eine offene Frage bleibt, weil seine Freiheit in den realen zwischenmenschlichen Vermittlungsverhältnissen nicht alles realisieren kann, was sie intendiert.68 Nur die in jeder Hinsicht unbedingte Freiheit Gottes kann – so Pröpper – die Freiheit, die die der Mensch selbst ist, erfüllen.69 Hier wird die „wesenhafte Hinordnung“70 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. Schockenhoff: Netz, 126. Pröpper: Freiheit. IV., 104. Vgl. Schockenhoff: Netz, 126f. Vgl. Pröpper, 21. Essen: Mensch, 137. Vgl. Pröpper: Evangelium, 81. Vgl. Essen: Mensch, 136f. Vgl. Pröpper: Evangelium, 21. Vgl. Pröpper: Evangelium, 81. Vgl. Essen: Mensch, 136f. Pröpper: Evangelium, 81. Vgl. Essen: Mensch, 136. Vgl. Pröpper: Freiheit. IV., 104. Pröpper: Freiheit. IV., 104.

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der menschlichen Freiheit auf Gott deutlich. Von der Antwort auf die Frage nach der Willensfreiheit hängt also auch für den christlichen Glauben und die Theologie einiges, für manche christliche Theologien alles ab. In Reaktion auf die Bestreitung der Willensfreiheit durch Neurowissenschaftler:innen und weite Teile der analytischen Philosophie erschienen im ersten Jahrzehnt des aktuellen Jahrhunderts (und kurz danach) zahlreiche Publikationen von philosophischer und theologischer Seite, die sich kritisch mit der reduktionistischen Verhältnisbestimmung von Geist und Gehirn, mit der These von der physikalischen Determiniertheit der Welt und der mit beidem zusammenhängenden Infragestellung von Willensfreiheit sowie mit kompatibilistischen Freiheitskonzeptionen auseinandersetzten.71 Bis in die Feuilletons großer Tageszeitungen hinein wurde über das Problem diskutiert. In den letzten Jahren hat die Debatte um die Willensfreiheit an Intensität und öffentlicher Aufmerksamkeit verloren. Es existiert gleichwohl weiterhin ein lebhafter wissenschaftlicher Diskurs, der in der Philosophie und auch in der deutschsprachigen Theologie geführt wird.72 Neurowissenschaftler:innen sind insgesamt zurückhaltender darin geworden, sich zur philosophischen Frage nach der Willensfreiheit zu äußern. Roth und Singer haben sich von ihren ursprünglichen Aussagen allerdings nicht distanziert. Singer wiederholt vielmehr seine früheren Thesen auch in jüngeren Publikationen weitgehend unverändert.73 Roths Ansichten zum Thema unterliegen einem gewissen Wandel, auf den noch

71 Exemplarisch: Becker: Bewusstseinsfalle. Klein: Willensfreiheit. Zunke: Kritik. Rosenberger: Determinismus. Wingert: Grenzen. Geyer: Hirnforschung. Mutschler: Wirklichkeit. Falkenburg: Mythos. Jäckels: Anthropologie. Keil: Willensfreiheit und Determinismus. Herz: Determinismus. Benk: Physik. Beck: Menschenbild. 72 So fördert die John Templeton Foundation von 2017 bis 2019 ein Projekt mit dem Titel „Die Offenheit des Universums für Willensfreiheit und Gottes Handeln“ an der Internationalen Akademie für Philosophie in Liechtenstein. Die DFG förderte von 2015 bis 2019 ein theologisches Forschungsprojekt mit dem Titel „Freiheit als theologische Schlüsselkategorie. Eine Auseinandersetzung mit Libertarismus, Determinismus und Kompatibilismus“ unter der Leitung von Klaus von Stosch und Saskia Wendel. Exemplarische theologische Publikationen der letzten Jahre zum Thema: Redemann: Mensch. Stürzekarn: Freiheit. Bruder: Freiheit. Exemplarische philosophische Publikationen der letzten Jahre zum Thema: Tewes: Libertarismus. Rosenthal: Entscheidung. Søvik: Free Will. Walter: Illusion. Muders u. a.: Willensfreiheit. Gottfried Seebaß arbeitet aktuell an einem dreibändigen Buchprojekt zum Thema Willensfreiheit und Determinismus. Der erste Band ist bereits erschienen: Seebaß: Willensfreiheit. Ein jüngerer Ansatz, der die Schwierigkeiten bisheriger Emergenz-Konzepte zur Erklärung des Geistes überwinden möchte, arbeitet mit der Vorstellung, dass Vorstufen des Mentalen zu den fundamentalen Eigenschaften jeglicher Materie gehören, und firmiert unter dem Namen ‚Pan-psychismus‘ oder auch ‚Protopanpsychismus‘. Einer der deutschsprachigen Vertreter:innen dieses Ansatzes ist Godehard Brüntrup, der zusammen mit Tobias Müller (Dilthey Fellowship „Das Rätsel des Bewusstseins“) und Ludwig Jaskolla ein entsprechendes Forschungsnetzwerk mit dem Titel „Geiststaub“ koordiniert. 73 Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, besonders 134f. Vgl. Singer: Determinist View.

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genauer einzugehen sein wird. Konstant und auch in jüngeren Publikationen ist er jedoch der Auffassung, Bewusstseinsvorgänge würden (von nicht ausgeschlossenen, aber irrelevanten Zufallsereignissen abgesehen74 ) deterministisch ablaufen,75 der Wille sei entsprechend determiniert76 und das bewusste Ich habe auf ihn auch keinen Einfluss.77 In jüngster Zeit ergibt sich eine bemerkenswerte Verschiebung in der Debattenlage dadurch, dass sich die lange Zeit tonangebende Allianz aus Kognitionswissenschaften und analytischer Philosophie des Geistes für phänomenologisch orientierte Ansätze öffnet, die den menschlichen Geist unter nicht-reduktionistischen Vorzeichen erforschen oder doch wenigstens entsprechende metaphysische Fragen zunächst ausklammern.78 Man versucht hier, die Erfahrungsperspektive bzw. ErstePerson-Perspektive auf Bewusstsein für eine Weitung der naturwissenschaftlichen Sicht fruchtbar zu machen. Dass für Bewusstsein ein Körper bzw. Leib, der mit der Umwelt interagiert, (und nicht nur ein Gehirn) notwendig ist, ist beispielsweise eine Erkenntnis, die sich phänomenologischen Einsichten verdankt, ebenso wie die Annahme, dass jedem Bewusstsein ein präreflexives Selbstbewusstsein zu Grunde liegt. Insgesamt besteht unter den Philosoph:innen und Theolog:innen (und Kognitionswissenschaftler:innen), die an einem nicht-reduktionistischen Blick auf den Menschen und an Willensfreiheit (in einer nicht kompatibilistischen Variante) festhalten, allerdings keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, wie dies geschehen soll, d. h. auf Basis welcher Methodik und welcher Argumente. Tatsächlich wird sehr unterschiedlich vorgegangen und argumentiert. Andere Argumentations- und Vorgehensweisen werden oftmals nicht wahrgenommen und dementsprechend die eigene Argumentationsweise selten dazu in Bezug gesetzt. Dabei besteht möglicherweise gerade in der Integration verschiedener Ansätze die Chance auf Fortschritte im Hinblick auf die Frage nach der Willensfreiheit. Die vorliegende Arbeit wird sich kritisch mit den naturwissenschaftlichen und philosophischen Argumenten, mit denen Willensfreiheit bestritten wird, auseinandersetzen. Zudem soll ein Beitrag dazu geleistet werden, den beschriebenen Mangel auf der Seite des nicht-reduktionistischen ‚Lagers‘ zu beheben: Mehrere methodisch unterschiedliche, nicht-reduktionistische Ansätze zum Thema Willensfreiheit bzw. zu dem damit assoziierten Problem, das menschliche Bewusstsein zu erklären, werden aufgegriffen, analysiert und kritisiert. Darauf aufbauend soll geprüft werden, in

74 75 76 77 78

Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 164. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270. Vgl. Roth: Sicht (2015), 198f. Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 164f. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 228. Vgl. Etzelmüller/Fuchs/Tewes: Verkörperung. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Philosophie. Vgl. Alloa u. a.: Leiblichkeit. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind. Vgl. Gallagher/Varela: Redrawing.

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welchem Verhältnis die verschiedenen Ansätze zueinander stehen bzw. in welches Verhältnis zueinander man sie sinnvollerweise bringen kann. Es wird sich zeigen, dass die Ansätze sich überwiegend nicht gegenseitig ausschließen, sondern in der Lage sind, sich zu ergänzen, indem sie jeweils unterschiedliche, aber gleichermaßen wichtige Aspekte von Willensfreiheit und (Selbst-)Bewusstsein erfassen und zur Geltung bringen. Unter Berücksichtigung der Einsichten der verschiedenen methodischen Herangehensweisen einschließlich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse soll so eine integrative, möglichst plausible Theorie zur Willensfreiheit (und zu dem damit zusammenhängenden Problem der Erklärung des (Selbst-)Bewusstsein) entwickelt werden. Konkret wird sich das Vorgehen dazu in folgende Schritte untergliedern: In einem ersten Schritt gilt es, dem Begriff der Willensfreiheit, die im weiteren Verlauf der Arbeit als möglich erwiesen werden soll, eine schärfere Kontur zu geben (Kapitel 2). In einem zweiten Schritt werden die Argumente dargelegt und geprüft, auf deren Basis einige Hirnforscher:innen – insbesondere Gerhard Roth und Wolf Singer – die menschliche Willensfreiheit in Abrede stellen (Kapitel 3).79 Weil diese Bestreitung der Willensfreiheit im Kontext übergreifender Versuche der Naturalisierung des Geistes steht und für Willensfreiheit das Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielt, geht es dabei zunächst darum, wie die freiheitsskeptischen Hirnforscher:innen das Bewusstsein auf der Basis neuronaler Prozesse erklären und wie sie das Verhältnis zwischen bewussten und unbewussten neuronalen Prozessen beurteilen (Kapitel 3.1). Anschließend werden konkrete neurowissenschaftliche Experimente zur Willensfreiheit sowie neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Hypothesen zur Initiierung von Handlungen und zum Ablauf von Entscheidungsprozessen dargestellt (Kapitel 3.2). Die Schlussfolgerungen der freiheitsskeptischen Hirnforscher:innen bezüglich der Willensfreiheit sowie die von ihnen daraus abgeleiteten Konsequenzen für die Gesellschaft werden in den Kapiteln 3.3 und 3.4 zusammengefasst. Anschließend geht es in Kapitel 3.5 darum zu beurteilen, ob die dargestellten empirischen Ergebnisse der Hirnforscher:innen aus naturwissenschaftlicher Sicht eine ausreichende Grundlage für die weit reichenden Schlussfolgerungen bezüglich des illusorischen Charakters der Willensfreiheit darstellen. Im nächsten Schritt erfolgt ein Wechsel von der naturwissenschaftlichen auf eine philosophische Ebene. Genauer gesagt, werden in Kapitel 4 Thesen erörtert und

79 Schon seit längerer Zeit bestreitet Roth – angeregt durch seine Zusammenarbeit mit dem Philosophen Michael Pauen – Willensfreiheit eigentlich nicht mehr, sondern vertritt einen sogenannten kompatibilistischen, d. h. mit der Determinismusthese vereinbaren Begriff von Willensfreiheit (vgl. Roth: Sicht (2015), 198f. Vgl. Roth: Perspektive). Da es sich hier jedoch um eine mit der alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs der Willensfreiheit und mit dem menschlichen Selbstverständnis (vgl. Kapitel 2) nicht vereinbare Umdeutung handelt (vgl. Kapitel 4.3), läuft seine Position auf eine Bestreitung von Willensfreiheit hinaus, wie sie im Kontext dieser Arbeit verteidigt wird.

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diskutiert, die im weitesten Sinne zu dem gehören, was zum Thema Willensfreiheit und Bewusstsein im Bereich der analytischen Philosophie des Geistes thematisiert wird. Da es hierzu bereits zahllose Publikationen gibt, gilt es in erster Linie, einen Überblick zu gewinnen, die verschiedenen Thesen zu prüfen und darauf aufbauend diejenigen Thesen zu benennen, die am ehesten überzeugen können. Erörtert und geprüft werden die Thesen des physikalischen Determinismus, des Physikalismus einschließlich dessen, was in diesem Zusammenhang mit ‚Reduktion‘ gemeint ist, die These des nicht-physikalistischen Naturalismus, der kausalen Geschlossenheit des Physischen, das Zufallsproblem und die Schwierigkeiten des Kompatibilismus, verschiedene Theorien zur Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Materie bzw. Bewusstsein und Gehirn sowie das damit zusammenhängende Problem der mentalen Verursachung. Ausführlich werden die Quantenphysik und deren Deutungen thematisiert, weil hier die stärksten Einwände gegen den physikalischen Determinismus zu finden sind. Unter Voraussetzung dieser Einwände erweist sich aus dem Spektrum der Theorien, die in der analytischen Philosophie des Geistes diskutiert werden, die Theorie starker Emergenz in Kombination mit quantenphysikalischen Überlegungen vorübergehend als am ehesten geeignet zu erklären, wie mentale Verursachung und damit Willensfreiheit möglich sein könnten (Kapitel 4.6). Vollständig überzeugen kann jedoch auch diese Theorie nicht, denn sie wirft zu viele Fragen auf, die unbeantwortet bleiben. Jürgen Habermas, der sich in seinen philosophischen Arbeiten zuvor eher auf die Erarbeitung einer kritischen Gesellschaftstheorie konzentrierte, hat im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit zwei Veröffentlichungen auf die naturalistische Herausforderung und die damit verbundene Bestreitung von Willensfreiheit reagiert.80 Sein nicht-reduktionistischer, an Willensfreiheit festhaltender Ansatz weist eine Nähe zur Theorie starker Emergenz auf, unterscheidet sich aber von den meisten Theorien innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes dadurch, dass er zuerst eine Erkenntnis- bzw. Rationalitätstheorie entwickelt und die metaphysischen Fragen, die mit dem Willensfreiheitsproblem verbunden sind, dann unter strenger Berücksichtigung der Grenzen und Eigenart menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu beantworten sucht. Die Inkonsistenzen der Theorie starker Emergenz kann sein Ansatz, der deshalb in Kapitel 5 erörtert wird, so vermeiden. Seine Überlegungen sind komplex, reichhaltig und beinhalten Bezüge zu seinem gesamten philosophischen Werk, auf das zum Verständnis der beiden Aufsätze zurückgegriffen werden muss. Seine Erkenntnistheorie entwickelt er durch Reflexion auf die sprachpragmatischen Voraussetzungen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Auf diese Weise gelingt es ihm, verschiedene (erkenntnistheoretische) Perspektiven

80 Habermas: Freiheit. Habermas: Sprachspiel.

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auf Willensfreiheit und Bewusstsein zu integrieren: Weil er naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eine hohe Relevanz für (und Realismus in Bezug auf) die Erkenntnis der Welt zusprechen kann, ohne sie zugleich reduktiv-naturalistisch zu verabsolutieren, hat seine Theorie in Richtung der Naturwissenschaften eine große Integrationskraft. Auch zur Untermauerung seiner eigenen Annahmen bezieht sich Habermas auf empirische Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und der vergleichenden Verhaltensforschung. Zugleich ist er in der Lage, die Relevanz und Unverzichtbarkeit der von Nicht-Reduktionist:innen viel beschworenen Teilnehmer:innenperspektive innerhalb seines Konzeptes stringent zu plausibilisieren. Ausgehend von seiner Erkenntnistheorie, von Untersuchungen der Sprachpragmatik und von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entwickelt Habermas einen monistischen, nicht-reduktionistischen Naturbegriff und eine nicht-reduktionistische Vorstellung von dem Hervorgehen des menschlichen Geistes aus dieser Natur und erklärt so, wie Willensfreiheit möglich sein könnte. Auch seine Theorie weist Schwächen auf, wie die Kapitel 5.7, 6 und 7 zeigen werden. Dennoch ist sie insgesamt so überzeugend, dass sie ein zentrales Element innerhalb des integrativen Ansatzes dieser Arbeit ist und zudem Anregung dazu gibt, wie die verschiedenen methodischen Herangehensweisen zu einem Gesamtbild integriert werden können. Habermas konzeptualisiert zwar die intersubjektiven und kommunikativen Bedingungen der Genese von Bewusstsein und Willensfreiheit sehr überzeugend, lässt aber zwei Voraussetzungen, die dafür auf der Subjektseite gegeben sein müssen, außer Acht. Sein Ansatz muss um diese Aspekte ergänzt werden. Die erste Voraussetzung ist das sogenannte präreflexive Selbstbewusstsein, das sich nicht der sprachpragmatischen, wohl aber der phänomenologischen und der transzendentalen Analyse erschließt und um das es in den Kapiteln 6, 7 und teilweise auch in Kapitel 8 geht. Die phänomenologische Analyse qualifiziert das präreflexive Selbstbewusstsein u. a. als ein leibliches. Zweitens braucht Willensfreiheit, auch wenn sie, wie Habermas meint, die kommunikative Sozialisierung der Person voraussetzt, ein Moment von Unbedingtheit auf Seiten des Subjektes, das der Sozialisierung wenigstens logisch vorausliegen muss, also nicht vollständig durch sie erzeugt werden kann (Kapitel 8). Damit Willensfreiheit möglich wird, braucht es nicht nur die sprachliche Sozialisierung des Menschen, sondern es bedarf einer endogenen, weder innerlich noch äußerlich determinierten Aktivität des Subjektes. Auf dieses Unbedingtheitsmoment und darauf, in welchem Verhältnis es zum präreflexiven Selbstbewusstsein steht, reflektiert die sogenannte transzendentallogische Freiheitsanalyse des Philosophen Hermann Krings, die ihrerseits ausgehend von Pröpper unter katholischen Theolog:innen des deutschsprachigen Raumes rezipiert wird. Die Art und Weise, in der Krings das Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Unbedingtheitsmoment bestimmt, ist, wie in Kapitel 8.3 deutlich wird, problematisch. Alternative Vorschläge aus der katholischen Theologie zu dieser

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Verhältnisbestimmung werden in den Kapiteln 8.4 bis 8.6 diskutiert. Kapitel 8.7 erläutert, wie der Habermas’sche Ansatz durch die genannten Aspekte ergänzt werden kann. Habermas plädiert zu Recht dafür, dass es (auch) weiterer naturwissenschaftlicher Forschung bedarf, um das Hervorgehen des menschlichen Geistes aus der Natur zu erklären. Die vorliegende Arbeit greift deshalb zwei Forschungsansätze auf, die möglicherweise einen Beitrag zu dieser Erklärung leisten können: Ein naturwissenschaftlicher Versuch, präreflexives Selbstbewusstsein zu erklären, findet sich bei dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Seine Überlegungen werden in Kapitel 7 erörtert. Der relativ neue kognitionswissenschaftliche Ansatz namens Enaktivismus (Kapitel 9) versucht sich an einer (anderen) durch phänomenologische Einsichten modifizierten, naturwissenschaftlichen Erklärung für präreflexives Selbstbewusstsein und für eine basale Form organismischer Freiheit, die Bedingung der Möglichkeit des Unbedingtheitsmoments von Willensfreiheit sein könnte. Dabei verwirft der Ansatz herkömmliche kognitionswissenschaftliche Ansichten und die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit werden auf eine Art und Weise mitbedacht, die der Habermas’schen sehr ähnlich ist. Im Zentrum steht die Theorie, dass komplexe dynamische Systeme unter bestimmten, empirischen Bedingungen, wie sie paradigmatisch bei lebenden Zellen gegeben sind, über die Eigenschaft sogenannter adaptiver Autonomie verfügen können. Dies impliziert, dass ein solches System irreduzibel auf seine Komponenten einwirken und so seine Identität durch eine endogene Aktivität aufrechterhalten kann. Bewusstsein kann nach enaktiver Auffassung nicht allein durch Aktivitäten des Gehirns erklärt werden. Als Korrelat des Bewusstseins wird vielmehr die Interaktion des gesamten Organismus mit seiner Umwelt angesehen. Im Vergleich zur analytischen Theorie starker Emergenz (in Kombination mit quantenphysikalischen Überlegungen) gibt der Enaktivismus genauer an, wie bzw. unter welchen biologischen Voraussetzungen Kognition und Bewusstsein entstehen und wie es dem Subjekt bei der Ausübung von Willensfreiheit möglich sein könnte, seine biologische Basis zu beeinflussen (Kapitel 9.3 und 9.7). Die zentrale Annahme des Enaktivismus, dass ein komplexes System zielorientiert und irreduzibel auf seine Komponenten wirken kann, ist wissenschaftlich allerdings äußert umstritten. Entsprechende Einwände werden deshalb in Kapitel 9.4 diskutiert. Zwischen den Thesen des Enaktivismus und der transzendentalen Subjektphilosophie im Anschluss an Krings bestehen erstaunliche Gemeinsamkeiten (Kapitel 9.6). Sie lassen vermuten, dass beide Ansätze auf unterschiedlichen methodischen Wegen dieselben Sachverhalte bzw. Aspekte am Subjekt beschreiben: das Unbedingtheitsmoment in seinem Verhältnis zu präreflexivem Selbstbewusstsein. Aufbauend auf den Einsichten der verschiedenen methodischen Herangehensweisen an das Problem der Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage, die sich in der detaillierten Analyse bewährt haben, gilt es im Fazit (Kapitel 10) dann

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aus den verschiedenen Puzzleteilen eine plausible, integrative, unvermeidlich metaphysische Theorie zur Willensfreiheit zusammenzusetzen. Eine Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Einsichten zueinander stehen, ist dazu unerlässlich. Nur unter Voraussetzung bestimmter, ebenfalls im Rahmen der Arbeit gewonnener erkenntnistheoretischer Prämissen lassen sich die andernfalls inkommensurablen Einsichten bzw. ‚Puzzleteile‘ überhaupt zu einem Gesamtbild integrieren. Aus diesen Prämissen ergibt sich allerdings auch, dass dieses Gesamtbild Lücken aufweist und dass diese Lücken unvermeidlich sind. Eine Vernunft, die sich seit Kant ihrer Grenzen im Hinblick auf die Metaphysik bewusst geworden ist, darf (oder muss) sich damit vielleicht begnügen.

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2.

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

Es gibt in der Philosophie kein einheitliches Konzept von Willensfreiheit. Wie der Begriff inhaltlich zu füllen ist, ist umstritten.1 Um jedoch klären zu können, ob Willensfreiheit real oder doch wenigstens als Möglichkeit denkbar ist, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, was im Rahmen dieser Arbeit mit dem Begriff der Willensfreiheit überhaupt gemeint ist. Üblicherweise wird dazu in der Gegenwartsphilosophie die in der analytischen Philosophie entwickelte Methode der Analyse des vorwissenschaftlichen Sprachgebrauchs angewandt,2 die ein vorwissenschaftliches Modell3 der Willensfreiheit liefert. Dieses Vorgehen findet sich beispielsweise bei Michael Pauen und Gerhard Roth,4 bei Bettina Walde5 und bei Peter Bieri, der entsprechend betont: „Ideen oder Begriffe erschließen sich in Wörtern […]. Denn es geht nicht darum, auf Wörter zu starren, wie sie im Wörterbuch stehen. Es geht darum, Wörter in Aktion zu betrachten: in ihrem Beitrag, den sie zur Artikulation von Gedanken leisten.“6 Dass Philosoph:innen diese Methode anwenden, ist aus folgendem Grund sinnvoll: Vor jeder wissenschaftlichen Herangehensweise ist dem Menschen die Willensfreiheit als ein Phänomen des kommunikativen Handelns,7 z. B. wenn Menschen sich gegenseitig für ihre Handlungen verantwortlich machen, und – möglicherweise infolgedessen – auch des inneren Erlebens8 gegeben. Genau genommen ist dem Menschen das Phänomen der Willensfreiheit primär nur aus dieser Teilnehmer:innenperspektive,9 d. h. der Perspektive von Menschen, die zur sprachlichen Kommunikation fähig sind, zugänglich. Alle weitere wissenschaftliche Erörterung des Themas ist allein deshalb auf diese Teilnehmer:innenperspektive angewiesen, weil sich die Bedeutung des Begriffs der Willensfreiheit nur aus dieser Perspektive, d. h. von Teilnehmer:innen an kommunikativen Handlungen, explizieren lässt. Analysiert man aus der Perspektive von Teilnehmer:innen heraus den alltäglichen Gebrauch der Sprache, so lässt sich das in diesem Gebrauch implizit enthaltene

1 Vgl. Tewes: Libertarismus, 19. 2 Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 24. Habermas bezeichnet diesen Sprachgebrauch in Bezug auf die Willensfreiheit als „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“ (Habermas: Sprachspiel, 272). 3 Vgl. Walde: Willensfreiheit, 25. 4 Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 24. 5 Vgl. Walde: Willensfreiheit, 25. 6 Vgl. Bieri: Handwerk, 29. 7 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 274–276. 8 Vgl. Walde: Willensfreiheit, 25. 9 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 275.

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Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

Wissen – hier bezüglich der Willensfreiheit – zu Tage fördern. Über eine Analyse des „Sprachspiel[s] verantwortlicher Urheberschaft“10  – also über eine Analyse dessen, was impliziert ist, wenn Personen sich gegenseitig Verantwortung für ihre Handlungen zusprechen – kann aufgedeckt werden, was das intuitive Wissen der Teilnehmer:innenperspektive beinhaltet und so ein dem Phänomen angemessener Begriff bzw. eine dem Phänomen angemessene Vorstellung von Willensfreiheit gefunden werden.11 Ich werde diese Analyse nicht selbst vornehmen, sondern mich auf die Ergebnisse verschiedener Autor:innen, zu denen auch Jürgen Habermas gehört, stützen. Nicht alle der im Folgenden dafür zitierten Autor:innen weisen die Methodik, durch die sie zu ihrem Willensfreiheitsbegriff kommen, so ausdrücklich aus wie Habermas dies tut. Da es aber wie gesagt wenigstens in der analytischen Philosophie üblich ist, vorwissenschaftliche Begriffsdefinitionen auf Grund einer Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs vorzunehmen und die Autor:innen außerdem zu ähnlichen Ergebnisse wie Habermas kommen, gehe ich davon aus, dass auch ihren Ergebnissen die genannte Methodik zu Grunde liegt.

2.1

Grundbedingungen libertarischer Willensfreiheit

Obwohl Philosoph:innen heute zur Explikation der Bedeutung des Willensfreiheitsbegriffs mehrheitlich die beschriebene Methodik anwenden, kommen sie dabei dennoch nicht zu demselben Ergebnis. Sogenannte Kompatibilist:innen unter den Philosoph:innen vertreten zumeist einen anderen Begriff von Willensfreiheit als die sogenannten Libertarier:innen. Die im Folgenden dargestellten Grundbedingungen entsprechen dem libertarischen Begriff von Willensfreiheit. Dies ist die Bedeutung des Willensfreiheitsbegriffs, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorausgesetzt wird. Der kompatibilistische Begriff von Willensfreiheit wird in Kapitel 4.3 thematisiert und problematisiert.

10 Habermas: Sprachspiel, 272. Der Ausdruck des ‚Sprachspiels‘ geht auf Ludwig Wittgenstein zurück (vgl. Runggaldier: Sprachphilosophie, 73). Er expliziert die pragmatische Komponente der Philosophie der Normalen Sprache. Man kann unter einem Sprachspiel einen regelgeleiteten Gebrauch von Wörtern innerhalb eines bestimmten Kontextes verstehen. Die Bedeutung eines Wortes kann nur erfasst werden, wenn man es im Kontext des Sprachspiels betrachtet, dem es zugehört (vgl. Leerhoff/Rehkämper/Wachtendorf: Einführung, 51). Die Sprachspiele sind nach Wittgenstein Teil einer Lebensform (vgl. Runggaldier: Sprachphilosophie, 73). Die Regeln der Sprachspiele enthalten nach Ansicht von Habermas das intuitive Wissen der Lebenswelt und vermitteln dieses Wissen den Teilnehmern an sprachlicher Kommunikation (vgl. Horster: Habermas, 29). 11 Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 157.

Grundbedingungen libertarischer Willensfreiheit

Der Begriff der Willensfreiheit bezeichnet die Fähigkeit einer Person, in ihrem Wollen bzw. als Wollende frei zu sein bzw. eine freien Willen zu haben.12 Da ein Wollen bzw. eine Entscheidung am Ende eines Willensbildungsprozesses steht,13 muss die Fähigkeit der Person sich in diesem Prozess auswirken, so dass der am Ende stehende Wille als frei gelten kann. Der Begriff der Willensfreiheit wird oftmals gleichbedeutend mit „Entscheidungsfreiheit“ und „Wahlfreiheit“ gebraucht.14 Unterschieden werden muss er vom Begriff der „Handlungsfreiheit“. „Handlungsfreiheit“ liegt vor, wenn eine Person durch keinen äußeren (oder inneren) Zwang daran gehindert wird, ihren Willen in die Tat umzusetzen.15 Der Wille muss sich nicht immer auf eine mögliche Handlung beziehen, allerdings stellt eine Handlungsentscheidung einen sehr typischen Ort der Artikulation der Willensfreiheit dar.16 In unserem Erleben, das im „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“17 , welches Bestandteil unseres kommunikativen Handelns ist, zugänglich ist, wird deutlich, welche Merkmale im Prozess der Willensbildung den Willen unserer Intuition nach frei machen: Personen haben, wenn sie ihren Willen als frei empfinden,

12 13 14 15

Vgl. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 21. Vgl. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 23. Vgl. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 23. Vgl. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 22. Nach Paulus und Augustinus hätte der Mensch demnach, wie in der Einleitung zu dieser Arbeit erläutert, durchaus Willensfreiheit, jedoch keine Handlungsfreiheit. Allerdings impliziert Willensfreiheit auch eine (sicherlich nicht unbegrenzte) Fähigkeit, im Rahmen des Willensbildungsprozesses höherrangigen Zielen, Plänen und Absichten gegenüber spontanen, affektiven Impulse, die sich auf Ziele beziehen, die als weniger wichtig beurteilt werden, den Vorrang zu geben und die Orientierung an den höherrangigen Zielen auch bis zur Umsetzung der Entscheidung aufrecht zuerhalten. Paulus und Augustinus scheinen von einem Willensbildungsprozess auszugehen, der rein rational und ohne Einfluss von Affekten verläuft. Diese spielen dann erst für die Ausführung (oder Nichtausführung) des Willens eine Rolle. Dies wird dem Phänomen des Willensbildungsprozesses jedoch nicht gerecht, denn erstens spielen schon bei diesem Prozess Affekte durchaus eine Rolle. Zweitens ist der Wille nicht – wie Paulus und Augustinus meinen – den Affekten völlig wehrlos ausgeliefert. Einen solchen Willen könnte man wohl kaum als frei bezeichnen. Nichtsdestotrotz kann es natürlich Fälle geben, bei denen die Willensbildung unter Einbezug von Affekten frei erfolgt ist, also Willensfreiheit vorliegt, es dennoch innere Zwänge gibt, die die Person von der Ausführung ihres Willens abhalten. Insofern ist die Unterscheidung von Willensfreiheit und Handlungsfreiheit prinzipiell sinnvoll. Das, was Paulus und Augustinus unter Handlungsfreiheit rechnen, rechnet auch der Psychologe Wolfgang Prinz dem Willen zu. Er meint: „Häufig brauchen wir ein beträchtliches Maß an Willenskraft, beispielsweise um bei einer bestimmten Entscheidung zu bleiben und den Versuchungen zu widerstehen […].“(Prinz: Selbst, 168) „Sowohl Entscheidungen zu treffen als auch sie in die Tat umzusetzen gehört somit zum Handwerk des Willens.“(Prinz: Selbst, 168). 16 Vgl. Prinz: Kritik, 201. 17 Habermas: Sprachspiel, 275.

31

32

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

das Bewusstsein, dass es an ihnen gelegen hat, wie sie sich entschieden haben,18 dass sie selbst – trotz aller Umstände, die die Entscheidung beeinflussen – Verursacher:innen bzw. Urheber:innen ihrer Entscheidungen sind, und genau dies unterstellen Personen einander, wenn sie sich Verantwortung für ihre Handlungen zuschreiben.19 Dieses Prinzip der Urheberschaft,20 das Habermas auch als das Ergreifen einer Initiative beschreibt,21 setzt voraus, dass die Entscheidung der Person nicht determiniert war, d. h. dass tatsächlich unterschiedliche Entscheidungsalternativen offen standen.22 „Wenn allein das handelnde Individuum es war, das eine Handlung […] veranlasst hat, dann hätte es genau diese Handlung schließlich auch unterlassen können und sich für eine andere Handlung entscheiden können.“23 Mit dem Prinzip der Urheberschaft ist also auch das Prinzip des Andershandelnkönnens24 bzw. Andersentscheidenkönnens, und zwar unter gleichen Bedingungen bzw. Umständen, verbunden.25 Teilt man den Freiheitsbegriff in die beiden Aspekte der positiven Freiheit zu etwas und der negativen Freiheit von etwas, stellt das Andersentscheidenkönnen die negative Freiheit im Sinne der Freiheit von Zwang dar.26 Gleichermaßen setzt die Urheberschaft aber auch voraus, dass die Entscheidung nicht zufällig gefallen ist. Dies verweist auf ein weiteres Prinzip der Willensfreiheit: Die Annahme, dass Personen die Fähigkeit und Möglichkeit haben, ihre Entscheidungen basierend auf ihren Wünschen, Überzeugungen, Werten und Zielen zu treffen.27 Habermas fasst diese Komponenten unter dem Begriff Gründe zusammen.28 Unter Gründen sind in diesem Fall also keineswegs ausschließlich rationale, objektiv geltende Argumente, sondern ebenso subjektive, aktuelle oder aus der Lebensgeschichte resultierende Wünsche und Präferenzen zu verstehen.29 Auch Emotionen können Gründe sein. Die Fähigkeit, entsprechend der Gründe, von denen man selbst überzeugt ist, zu handeln, kann als Selbstbestimmung bezeichnet werden.30 Ohne die Bedingtheit durch Gründe wäre eine Willensentscheidung nicht vom Zufall zu unterscheiden

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 164. Vgl. Prinz: Selbst, 278. Vgl. Tewes: Libertarismus, 39f. Vgl. Prinz: Selbst, 279. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 164. Vgl. Tewes: Libertarismus, 41. Walde: Willensfreiheit, 26. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 274. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 27. Vgl. Tewes: Libertarismus, 41. Tewes spricht hier vom „Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten“. Vgl. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 21. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 27. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 159. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 27. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 277.

Grundbedingungen libertarischer Willensfreiheit

und könnte somit der entscheidenden Person nicht im Sinne der Urheberschaft zugerechnet werden. Die Selbstbestimmung stellt den Aspekt der positiven Freiheit im Sinne einer Freiheit zu etwas dar. Das Prinzip der Urheberschaft wird von Habermas als die volitive Dimension, das Prinzip der Selbstbestimmung durch die Abwägung von Gründen als die kognitive Dimension der Willensfreiheit bezeichnet.31 Willensfreiheit kann also als Fähigkeit einer Person zur Bindung ihres Willens auf der Basis von Gründen unter der Vorannahme alternativer Handlungsmöglichkeiten definiert werden. Die beschriebenen Merkmale von Willensfreiheit werden vorausgesetzt und zeigen sich, wenn Personen sich in intersubjektiver Kommunikation Verantwortung für ihre Handlungen zuschreiben und sich gegenseitig zur Rechenschaft ziehen. Im „Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft“32 werden Handlungsgründe verhandelt, alternative Entscheidungsmöglichkeiten unterstellt und es wird davon ausgegangen, dass eine Entscheidung einer Person zugerechnet werden kann, es also von ihr abhing, wie die Entscheidung ausfiel.33 Habermas weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in praktischen Diskursen dem Sichbestimmenlassen von Gründen der Charakter eines Sollens zukommt.34 Das hat damit zu tun, dass gemäß dem alltäglichen Verständnis von Willensfreiheit diese voraussetzt, dass die entscheidende Person während des Abwägungsprozesses über die Fähigkeit verfügt, eine Hierarchisierung von Gründen vorzunehmen und gemäß dieser Hierarchisierung zu entscheiden. D. h. sie ist in der Lage, aktuelle Wünsche, Präferenzen und affektive Impulse als pragmatische „Gründe erster Ordnung“35 auch dann, wenn sie möglicherweise affektiv sehr stark sind, gegenüber längerfristigen und als wichtiger beurteilten Plänen und Zielen oder auch gegenüber moralischen Gründen nur nachrangig zu berücksichtigen.36 Welchen Gründen sie für die Willensbildung Priorität eingeräumt, muss wiederum im Sinne der Urheberschaft letztlich von der freien Stellungnahme der entscheidenden Person abhängen. Nur weil die Person in dieser Stellungnahme frei ist, kann sich an sie ein ‚Sollen‘ richten, das sie genaugenommen auffordert, sich von den höherrangigen Gründen bestimmen zu lassen.

31 32 33 34 35 36

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 274. Habermas: Sprachspiel, 275. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 274–276. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 275. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 281. Vgl. Tewes: Libertarismus, 24f.

33

34

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

2.2

Die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen

Walde sieht allerdings in den Anforderungen der Selbstbestimmung und der Urheberschaft einen Widerspruch, da erstere die Determination des Willensbildungsprozesses durch Wünsche und Überzeugungen bedeute, während letztere indeterministische Zusammenhänge erfordere.37 Roth teilt diese Auffassung.38 Auf der Ebene des Erlebens und des kommunikativen Handelns lässt sich dieser Widerspruch im Phänomen der Willensfreiheit jedoch nicht finden. Eine Person kann gleichzeitig annehmen, Gründe für eine Entscheidung gehabt zu haben und selbst Urheber:in der Entscheidung zu sein. Es scheint deshalb sinnvoll, entsprechend dem Vorschlag von Habermas davon auszugehen, dass in Bezug auf das Phänomen der Willensfreiheit zwischen Gründen und Ursachen unterschieden werden muss.39 Habermas erläutert, dass Gründe zwar rational motivieren und somit eine Entscheidung rational bedingen, dass sie eine Entscheidung aber nicht wie Ursachen im Sinne eines kausal hinreichend erklärbaren Naturprozesses verursachen können.40 Habermas spricht in einer Kurzformel vom „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“41 . Aus eben diesem Grund können Gründe auch nicht wie eine gewöhnliche Kausalerklärung hinreichende Bedingungen für das faktische Eintreten einer Handlung sein.42 Der Willensbildungsprozess stellt sich durch Gründe weder als determiniert noch als zufällig dar, denn „Einsichten entstehen nicht willkürlich, sie bilden sich nach Regeln [der Abwägung von Gründen]“43 . Diese Regeln zwingen aber nicht in der Art, wie es Naturgesetzen unterstellt wird.44 Sie erfordern vielmehr ein zu ihnen Stellung nehmendes Subjekt, das somit sicherlich nicht als die vollständige, aber als die hinreichende Ursache für die Entscheidung angesehen werden muss.45 Der Anforderung der Urheberschaft ist durch die Unterscheidung von Gründen und Ursachen also Genüge getan, denn letztlich kommt es auf die Person selbst an, von welchen Gründen sie sich bestimmen lässt und sie kann auch wider besseren Wissens handeln.46

37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Walde: Willensfreiheit, 28. Vgl. Roth: Evolution, 150. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 160–162. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 276–278. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 161. Habermas: Sprachspiel, 277. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 164. Habermas: Freiheit und Determinismus, 161. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 279. Vgl. Tewes: Libertarismus, 27. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 277.

Willensfreiheit und Bewusstsein

Die Unterscheidung von Ursachen und Gründen ist umstritten.47 Sie gehört auch nicht mehr im eigentlichen Sinne zum vorwissenschaftlichen Modell der Willensfreiheit, da sie erst durch eine rationale Problematisierung der in der Sprache enthaltenen Hintergrundüberzeugungen zu Stande kommt.48 Aufbauend auf der Sprachanalyse wurden innerhalb der analytischen Philosophie verschiedene analytische Handlungserklärungen entwickelt. Hierzu gehören die kausale Handlungstheorie und die rationale Handlungstheorie.49 Die rationale Handlungstheorie unterscheidet Ursachen und Gründe, die kausale Handlungstheorie nicht.50 Die Unterscheidung von Ursachen und Gründen wird dem vorwissenschaftlichen Modell der Willensfreiheit, das hier beschrieben werden soll, besser gerecht, da sie es nicht als immanent widersprüchlich disqualifiziert. Insofern sie eine adäquate Explikation des vorwissenschaftlichen Modells darstellt, scheint es also gerechtfertigt, diese Unterscheidung in die Darstellung des vorwissenschaftlichen Modells mit einzubeziehen, obwohl sie bereits Teil einer philosophischen Explikation dieses Modells ist.

2.3

Willensfreiheit und Bewusstsein

Möchte man Gründe von Ursachen unterscheiden, ergibt sich daraus eine weitere Voraussetzung von Willensfreiheit, nämlich die Fähigkeit zur Reflexivität und Selbstreflexivität bzw. das Vorhandensein von Bewusstsein.51 Gründe stellen semantische Gehalte dar52 , d. h. sie stellen nach sprachlichen Regeln einen Gegenstandsbezug her. Deshalb lassen sich Gründe nur im (sprachlich sozialisierten) Bewusstsein finden, denn nur dieses kennt die Regeln, die den Gegenstandsbezug festlegen. Im Bereich des Nicht-Bewussten gibt es keine Gründe, denn das Haben von Gründen setzt Sprachfähigkeit voraus. Nur Gründe, nicht aber Ursachen, implizieren ein sich seiner selbst bewusstes Subjekt, das zu ihnen Stellung nimmt und dementsprechend ‚die Wahl hat‘, d. h. Urheber der Entscheidung ist. Nur die Fähigkeit zu bewusster Reflexion ermöglicht es außerdem dem Subjekt, sich von unmittelbaren Neigungen, Affekten oder auch Gewohnheiten zugunsten anderer, subjektiv höherrangiger Handlungsmotive und/ oder -pläne zu distanzieren.53 Die „Fähigkeit zur Reflexion [ist] zum Aufbau einer

47 48 49 50 51 52 53

Vgl. Walde: Willensfreiheit, 50–52. Vgl. Beckermann: Handlungserklärungen, 7. Vgl. Horster: Habermas, 29. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 157. Vgl. Beckermann: Handlungserklärungen, 7. Vgl. Beckermann: Handlungserklärungen, 7. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 276. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 277. Vgl. Tewes: Libertarismus, 20 und 24f.

35

36

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

motivationalen Hierarchie unabdingbar […] wie auch zur Handlungsplanung und Realisierung von übergeordneten Zielen.“54 „Das Bewusstmachen von Motiven und Umständen befreit vom Druck der Unmittelbarkeit.“55 Nur wenn eine Entscheidung bewusst getroffen wird, kann sie also dem Prinzip der Urheberschaft entsprechen. Wird der Wille von unbewussten Motiven bestimmt, kann er deshalb nicht frei genannt werden; die Zurechenbarkeit der resultierenden Handlung ist nicht gegeben. „Frei ist nur der überlegte Wille.“56 Dies ergibt sich zusätzlich auch daraus, dass ein Verhalten (bzw. die dem Verhalten vorausgehende Entscheidung) üblicherweise nur als frei angesehen wird, wenn die daraus resultierenden Folgen beabsichtigt wurden oder wenigstens absichtlich in Kauf genommen wurden.57 Folgen können aber nur beabsichtigt oder absichtlich in Kauf genommen werden, wenn sie zuvor bewusst antizipiert wurden.58 Eine nicht-bewusst initiierte, gleichwohl aber möglicherweise (in einem biologisch-funktionalen Sinne) zweckgerichtete Körperbewegung, wird üblicherweise nicht als absichtlich bezeichnet.59 Bei „der Absichtsbildung [müssen] mentale Gehalte in Form von Wünschen, Überzeugungen und Intentionen grundsätzlich eine Rolle spielen […], was unter vollständigem Ausschluss von Bewusstseinsprozessen ausgeschlossen zu sein scheint.“60 Wie kann es dann aber sein, dass Personen, wie eine Analyse des Sprachspiels verantwortlicher Urheberschaft zeigt, auch für unreflektierte, auf Grund von Gewöhnung, gesellschaftlicher Normen oder Stimmungen ausgeübte Handlungen zur Verantwortung gezogen werden (können)? Ist bei einer Person grundsätzlich die Fähigkeit zur Selbstreflexion gegeben, wird davon ausgegangen, dass es die freie Entscheidung der Person war, in diesem Fall keine Überlegung anzustrengen, sondern sich auf zur Routine geronnene Handlungsgründe zu verlassen oder sich von unreflektierten Stimmungen leiten zu lassen.61 Anders gesagt: Einer zur Reflexion fähigen Person wird die Fähigkeit zugeschrieben, einen routinemäßigen Handlungsablauf zu unterbrechen oder einen unreflektierten Handlungsimpuls einer Reflexion zu unterziehen, wenn eine Situation dazu in Form von Gründen Anlass gibt, und so ihre Handlungen zu modifizieren. Dieser interne Zusammenhang von Reflexivität und Freiheit macht verständlich, warum man von Freiheit in einem

54 55 56 57 58 59 60 61

Tewes: Libertarismus, 26. Habermas: Sprachspiel, 276. Habermas: Freiheit und Determinismus, 160. Vgl. Tewes: Libertarismus, 21f. Vgl. Tewes: Libertarismus, 22. Vgl. Tewes: Libertarismus, 21f. Tewes: Libertarismus, 23. Vgl. zum ganzen Absatz: Habermas: Sprachspiel, 280–282.

Bedingte Freiheit

komparativen Sinne sprechen kann. Auch wenn allen Personen Willensfreiheit zugesprochen wird, gilt: Je größer die Reflexionsfähigkeit einer Person ist, desto eher ist sie in der Lage, Gründe einer höheren Ordnung zu erwägen und desto größer ist ihre Verantwortung, wenn sie – statt dieser – Gründe einer unteren Ordnung ihr Handeln bestimmen lässt.

2.4

Bedingte Freiheit

Die beschriebene Freiheit des Willens ist, entgegen der Vermutung, welche die Unterscheidung von Ursachen und Gründen möglicherweise hervorrufen könnte, jedoch keine vollkommen und in jeder Hinsicht unbedingte Freiheit, die losgelöst von allen empirischen Zusammenhängen Kausalketten aus dem Nichts ins Leben rufen kann.62 Unser Wille ist vielmehr vielfältig bedingt. Im Folgenden seien einige dieser Bedingungen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt. Zunächst ist der Spielraum möglicher Handlungen, für die eine Person sich entscheiden kann, begrenzt durch die Gelegenheit, die Mittel und die Fähigkeiten der Person63 und ebenso durch Naturgesetze.64 Darüber hinaus kann außerdem die Kenntnis möglicher Handlungsalternativen geringer sein als der tatsächliche Handlungsspielraum.65 Sicherlich haben gesellschaftliche Normen und Rollenzuschreibungen einen Einfluss auf diese Kenntnis, aber auch die Reflexionsfähigkeit der Person selbst dürfte eine Rolle spielen. Darüber hinaus sind auch die Gründe, auf deren Basis Personen Handlungsalternativen erwägen, nicht unbedingt. Die Wünsche und Präferenzen einer Person hängen von ihren körperlichen Bedürfnissen, ihren Gefühlen, ihrer Lebensgeschichte und ihrem Charakter ab.66 Findet ein bewusster Abwägungsprozess, der ja bereits als Bedingung einer freien Willensentscheidung definiert wurde, statt, so können alle diese Faktoren zu Gründen werden.67 Gründe, insbesondere solche der höheren hierarchischen Ebenen, sind aber auch gesellschaftlich vermittelt:68 Sie affizieren eine Person über ihre Verkörperung in 62 Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 163 und 165f. Vgl. Prinz: Selbst, 284f. Prinz suggeriert hier, libertarische Willensfreiheit würde das autonome Subjekt als einen „unbewegten Beweger“ ansehen, „der die gottähnliche Fähigkeit besitzt, das Handeln sozusagen aus dem Nichts zu erschaffen.“(Prinz: Selbst, 285) Dies ist jedoch keine angemessene Beschreibung des Phänomens libertarischer Willensfreiheit. 63 Vgl. Bieri: Handwerk, 45–47. 64 Vgl. Tewes: Liberatismus, 27. 65 Vg. Bieri: Handwerk, 45–47. 66 Vgl. Bieri: Handwerk, 49–51. 67 Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. 68 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 277.

37

38

Der libertarische Begriff der Willensfreiheit

kulturellen Überlieferungen, über ihre soziale Verankerung in „sanktionsbewehrten Institutionen oder Verhaltenserwartungen“69 sowie über die „kommunikative Verarbeitung von Gründen in Interaktionszusammenhängen, die durch die rational motivierende Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche koordiniert werden“70 . Auch auf den unteren hierarchischen Ebenen der Gründe könnte diese gesellschaftliche Vermittlung eine große Rolle spielen, z. B. bei der Bewertung von Gefühlen oder körperlichen Bedürfnissen. Gründe haben also Ursachen und werden nicht – oder nur sehr beschränkt, wenn man den Einfluss der Willensfreiheit auf die Lebensgeschichte bedenkt – von der handelnden Person selbst hervorgebracht. Zu diesen Gründen kann sich die Person dann im Sinne der Urheberschaft verhalten. Eine bedenkenswerte Frage in diesem Zusammenhang ist, ob unser Wille von den real existierenden Handlungsmöglichkeiten beeinflusst wird. Anders gesagt: Kann man etwas wollen, das man nicht realisieren kann? Kann man mehr intendieren, als man realisieren kann? Bleibt die Fähigkeit des Andersentscheidenkönnens bestehen, wenn die Möglichkeit des Andershandelnkönnens wegfällt? Bieri beantwortet diese Frage negativ: „Was sich mir als Gelegenheit bietet, legt den Spielraum fest, innerhalb dessen sich mein Wille bilden kann.“71 Man könne zwar Unmögliches wünschen, aber nicht wollen.72 Es kann diesem Gedanken hier nicht sehr viel weiter nachgegangen werden. Möglicherweise stellt es aber eine Verengung des Begriffs „Wille“ dar, diesen nur in Verbindung mit einer tatsächlich möglichen Handlung zu denken. Beispielsweise wäre es vorstellbar, dass eine Person einen Beruf ergreifen will, den es nicht gibt oder für den sie keine Eignung besitzt. Auch Patient:innen mit einem Locked-in-Syndrom würde niemand die Willensfreiheit absprechen, nur weil sie unfähig sind, ihren Willen auszuführen oder zu äußern.73 In diesem Sinne wäre also für die Willensfreiheit nicht entscheidend, welche tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten es gibt, sondern welche theoretischen Handlungsmöglichkeiten im Denkhorizont der entscheidenden Person liegen. Dies allerdings kann wiederum vielfältig bedingt sein. Verwehrt z. B. eine Gesellschaft ihren Mitgliedern bestimmte Handlungsmöglichkeiten, so kann es geschehen, dass diese Möglichkeiten auch aus dem Denkhorizont der theoretischen Möglichkeiten der Mitglieder dieser Gesellschaft verschwinden. Die beschriebenen Faktoren, welche die Freiheit des Willens einschränken, sind zugleich Ermöglichungsbedingungen des freien Willens und zwar in zweierlei Hinsicht:74 Zum einen wäre eine Person ohne einen Körper gar nicht in der Lage,

69 70 71 72 73 74

Habermas: Sprachspiel, 277. Habermas: Sprachspiel, 278. Bieri: Handwerk, 49. Vgl. Bieri: Handwerk, 50. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 32. Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165.

Bedingte Freiheit

überhaupt eine Handlung, die Gegenstand der Willensbildung sein kann, auszuführen. Und ohne ein Gehirn wäre die Person nicht in der Lage dazu, überhaupt etwas zu wollen und wohl auch nicht dazu, Gründe abzuwägen. Aus der Perspektive dieser Leiberfahrung verwandeln sich für den Handelnden die vom limbischen System gesteuerten vegetativen Prozesse – wie auch alle anderen aus der neurologischen Beobachterperspektive ‚unbewusst‘ ablaufenden Prozesse des Gehirns – aus kausalen Determinanten in ermöglichende Bedingungen.75

Zum Anderen gilt: Hätte eine Person keinen Körper, keine Lebensgeschichte, keine Emotionen, die ihr zu Gründen werden können und wäre sie nicht Mitglied einer Gesellschaft die sie mit Gründen affiziert, gäbe es kein Überlegen und somit auch keinen freien Willen, sondern nur Verhalten. Urheber:in einer Entscheidung ist immer die bestimmte Person, die man geworden ist,76 und dieses Gewordensein entzieht sich zu großen Teilen dem Einfluss der handelnden Person. Damit die Bedingung der Urheberschaft erfüllt ist, genügt es, dass dieses Gewordensein zusammen mit all den anderen Rahmenbedingungen, die hier exemplarisch genannt wurden, eine Entscheidung nicht vollständig festlegt.77 Solange es diesen Spielraum für die Stellungnahme des Subjekts gibt, kann eine Entscheidung als frei angesehen werden. Darüber hinaus muss sicherlich aber auch zugestanden werden, dass nicht jede Entscheidung, die dem betreffenden Subjekt oder auch intersubjektiv als frei erscheint, auch tatsächlich frei ist. Täuschungen können hier nicht ausgeschlossen werden.

75 Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. 76 Vgl. Habermas: Freiheit und Determinismus, 165. 77 Insofern hat Prinz Recht, wenn er feststellt, dass libertarische Willensfreiheit ein Subjekt impliziert, das seinen Willen determiniert, ohne selbst durch vorausgehende Ereignisse (vollständig) determiniert zu sein (vgl. Prinz: Selbst, 285).

39

3.

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit (Roth, Singer, Prinz)

Führende Vertreter:innen der modernen Hirnforschung (und der Psychologie) bestreiten auf Grund der Forschungsergebnisse ihres Fachbereichs, dass es Willensfreiheit, wie sie in Kapitel 2 definiert wird, geben kann. In Deutschland zählen, wie bereits erwähnt, Gerhard Roth und Wolf Singer zu den bekanntesten Bestreiter:innen libertarischer Willensfreiheit. Etwas weniger bekannt ist Wolfgang Prinz, der dieselbe Position im Hinblick auf libertarische Willensfreiheit vertritt. Auf die Argumente dieser drei Forscher werde ich mich im vorliegenden Kapitel im Wesentlichen beschränken. Darstellungen anderer Hirnforscher:innen werden nur herangezogen, wenn es dem besseren Verständnis der von Roth, Singer und Prinz thematisierten neurobiologischen und psychologischen Zusammenhänge dienlich ist. Roth ist promovierter Philosoph und Biologe, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen und einer der bekanntesten europäischen Hirnforscher:innen.1 Bis zu seiner Pensionierung war er Direktor des Instituts für Hirnforschung der Universität Bremen2 und er ist Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs der Länder Bremen und Niedersachsen.3 Außerdem war er acht Jahre lang Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes.4 Singer war 30 Jahre lang Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung und gehört zu den weltweit bedeutendsten Neurowissenschaftler:innen.5 Prinz ist Psychologe. Er war 14 Jahre lang Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München und anschließend von 2005 bis 2010 in der gleichen Funktion am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.6 Während Singer sich, wie ursprünglich auch Roth, darauf beschränkt, mit der Möglichkeit libertarischer Willensfreiheit die Möglichkeit von Willensfreiheit generell zu bestreiten, ließ sich Roth durch den Philosophen Michael Pauen von

1 2 3 4 5 6

Vgl. Roth Institut: Über uns. Vgl. Roth: Gehirn, 2. Vgl. SWR2: Motivation. Vgl. Roth Institut: Über uns. Vgl. Leopoldina: Curriculum vitae. Vgl. Max-Planck-Gesellschaft: Wolfgang Prinz.

42

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

einer kompatibilistischen Umdeutung des Willensfreiheitsbegriffs überzeugen.7 Auch Prinz vertritt einen solchen kompatibilistischen Begriff von Willensfreiheit und bestreitet libertarische Willensfreiheit.8 Warum diese Umdeutung nicht überzeugend ist, ist an anderer Stelle zu klären (vgl. Kapitel 4.3). Dass libertarische Willensfreiheit möglich ist, bestreiten alle drei Hirnforscher. Die drei Forscher vertreten ihre Auffassung zu libertarischer Willensfreiheit bereits seit dem ersten Jahrzehnt des aktuellen Jahrhunderts. In dieser Zeit haben sie am meisten, am ausführlichsten und mit der größten Öffentlichkeitswirksamkeit zum Thema publiziert. Ein Teil der in diesem Kapitel zitierten Veröffentlichungen stammt deshalb aus dieser Zeit. Obwohl die Positionen und Argumente von Roth, Singer und Prinz also schon ein wenig ‚in die Jahre gekommen sind‘, sind sie eindeutig nicht nur von historischem Wert. Denn erstens wiederholen die drei Forscher, wie bereits erläutert, ihre Kernthese von der Determiniertheit des menschlichen Willens auch in jüngeren Veröffentlichungen zum Thema.9 Zweitens ist die Art und Weise, wie die drei Wissenschaftler empirische Erkenntnisse unter Voraussetzung eines bestimmten (überwiegend reduktiv-naturalistischen, teils auch einfach nur deterministischen) Weltbildes als (vermeintliche) Belege für dieses Weltbild interpretieren, auch gegenwärtig insbesondere – aber nicht nur – im populärwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Bereich noch stark verbreitet. Drittens sind von anderen Neurowissenschaftler:innen seit ca. 2010 kaum Publikationen erschienen, in denen sie sich zum Thema Willensfreiheit äußern.10 Man könnte dies zwar einerseits so deuten, dass vermehrt Neurowissenschaftler:innen zu dem Schluss gekommen sind, dass die empirischen Erkenntnisse keine ausreichende argumentative Grundlage für die Bestreitung von Willensfreiheit sind. Eben so 7 Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 26–36 und 141f. Vgl. Roth: Perspektive. 8 Vgl. Prinz: Selbst, 278–302. Vgl. Prinz: Kritik. 9 Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 228. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270. Vgl. Roth: Sicht (2015), 198f. Roth: Willensfreiheit, Physik, 164f. Singer: Freiheitserfahrung, besonders 134f. Singer: Determinist View. Prinz: Selbst, 278–302. 10 Folgende Publikationen sind mir bekannt: David Eagleman (Eagleman: Brain) vertritt ähnliche Ansichten wie Roth. Fachlich sind seine populärwissenschaftlichen Darstellungen allerdings deutlich stärker vereinfacht, als es bei Roth der Fall ist, weshalb ich Eagleman nicht als Quelle heranziehe. Christof Koch zweifelt an der Existenz libertarischer Willensfreiheit (vgl. Koch: Bewusstsein, 359). Dem Bewusstsein spricht er für Entscheidungen eine noch geringere Rolle zu als Roth (vgl. Koch: Bewusstsein, 342f). Stanislas Dehaene (Dehaene: Gehirn) erörtert sehr detailliert die neurobiologischen Bedingungen der Entstehung von Bewusstsein – teilweise detaillierter und unter Einbezug aktuellerer Forschung als Roth dies tut. Was die Willensfreiheit betrifft, scheint er Roth, Singer und Prinz zu widersprechen. Er erläutert nämlich, grundlegend für das Gehirn sei seine Fähigkeit zu intensiver spontaner Aktivität (vgl. Dehaene: Gehirn, 25). Er hält den Menschen deshalb für „eine Maschine ‚mit freiem Willen‘“(Dehaene: Gehirn, 25). Auch schreibt er dem Bewusstsein eine wichtige Bedeutung für Entscheidungen zu (vgl. Dehaene: Gehirn, 135–137). Dehaene geht allerdings nicht ausführlich auf diese Thematik ein.

Das Bewusstsein

gut könnte man dies aber auch als Zustimmung zu den deterministischen Thesen deuten. Zudem scheint es viertens im Wesentlichen auch keine neuen empirischen Erkenntnisse zum Thema zu geben, welche Neurowissenschaftler:innen zu neuen Publikationen motivieren könnten.11 Auch die von Roth, Singer und Prinz zum Thema Willensfreiheit erörterten empirischen Zusammenhänge sind also keineswegs veraltet, was auch daran deutlich wird, dass die drei Autoren die meisten dieser Zusammenhänge auch in jüngeren Publikationen unverändert darstellen. Wie zu zeigen sein wird, werden von Roth, Singer und Prinz im Kern zwei verschiedene Argumente vertreten, welche libertarische Willensfreiheit widerlegen sollen. Auf welche naturwissenschaftlichen Experimente und Forschungsergebnisse sie sich dabei genau berufen, soll im Folgenden dargestellt werden, um anschließend prüfen zu können, ob das Dargestellte die weitreichende Schlussfolgerung tatsächlich legitimiert. Der besseren Verständlichkeit der teilweise komplexen Zusammenhänge halber werde ich in der Darstellung der Positionen der drei Neurowissenschaftler überwiegend auf die indirekte Rede verzichten.

3.1

Das Bewusstsein

Gemäß Singer lassen sich neuronale Vorgänge untergliedern in solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum Bewusstsein haben, solche, die unter bestimmten Umständen ins Bewusstsein gelangen können und solche, die grundsätzlich bewusst sind.12 Bewusstsein ist, wie bereits festgestellt wurde, eine Voraussetzung von Willensfreiheit. Die Frage, ob es der Hirnforschung möglich ist, Bewusstsein vollständig zu erklären, spielt in der philosophischen Debatte über die Willensfreiheit außerdem eine wichtige Rolle. Deshalb sollen hier zunächst die Erkenntnisse und Hypothesen von Roth und Singer zu diesem Phänomen dargelegt und mögliche Konsequenzen für die Willensfreiheit aufgezeigt werden. 3.1.1

Was ist Bewusstsein?

Bewusstsein wird von Roth als Bündel inhaltlich verschiedener Zustände eines Individuums bezeichnet, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestehe, dass sie vom Individuum bewusst erlebt werden und deshalb sprachlich berichtet werden können.13 Es gliedert sich nach Roth in das Aktualbewusstsein und das Hintergrund11 Bei Eagleman (Eagleman: Brain) finden sich einige neue, genauere Erkenntnisse dazu, unter welchen neuronalen Voraussetzungen im Gehirn Bewusstsein entsteht. Für die Frage nach der Willensfreiheit sind diese Details jedoch nicht relevant. 12 Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 155. 13 Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 76.

43

44

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

bewusstsein.14 Das Hintergrundbewusstsein besteht aus dem Ich-Bewusstsein und der Unterscheidung von Realität und Vorstellung.15 Das Ich-Bewusstsein stellt wiederum ein Bündel verschiedener Zustände dar: Es gehören dazu nach Roth (1) das Körper-Ich, also das Gefühl, dass das, worin ich ‚stecke‘ und das ich tatsächlich oder scheinbar beherrsche, mein Körper ist; (2) das Verortungs-Ich, also das Bewusstsein, dass ich mich gerade an diesem Ort und nicht anderswo oder sogar gleichzeitig an zwei Orten befinde; (3) das perspektivische Ich, d. h. der Eindruck, dass ich den Mittelpunkt der von mir erfahrenen Welt bilde; (4) das Ich als Erlebnissubjekt, also das Gefühl, ich habe diese Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle, und nicht etwa ein anderer; (5) das Autorschafts- und Kontroll-Ich, d. h. das Gefühl, dass ich Verursacher:in und Kontrolleur:in meiner Gedanken und Handlungen bin; (6) das autobiographische Ich, d. h. die Überzeugung, dass ich der:diejenige bin, der:die ich gestern war und dass ich eine Kontinuität in meinen verschiedenen Empfindungen erlebe; (7) das selbst-reflexive Ich, d. h. die Möglichkeit des Nachdenkens über mich selbst; und schließlich (8) das ethische Ich oder Gewissen, also das Gefühl, es gebe eine Instanz in mir, die mir sagt oder befiehlt, was ich zu tun und zu lassen habe.16 Das Aktualbewusstsein ist, wie Roth erläutert, ein Begleitzustand von Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Erinnern, Handeln, Emotionen, Affekten und Bedürfnissen und hat eben diese Prozesse zum Inhalt.17 Es wird auch Aufmerksamkeitsbewusstsein genannt, weil es eng mit Aufmerksamkeit verbunden, wenn nicht gar mit Aufmerksamkeit identisch ist.18 In dem Maße, in dem Aufmerksamkeit auf bestimmte innere oder äußere Geschehnisse gerichtet ist, werden diese bewusst.19 Wahrnehmungsinhalte, die auf der sensorischen Erschließung der Umwelt beruhen, werden als verschieden vom Ich und als nicht zum Ich gehörig erlebt, welches diese Wahrnehmungserlebnisse hat.20 Affekte, Gefühle und Wünsche sind eher inhaltsarme Arten von Wahrnehmungen und meist eng mit der Körperwahrnehmung verbunden.21 Bewusstseinsinhalte wie Denken oder Vorstellen erscheinen dem Subjekt dagegen völlig unkörperlich.22 Die Inhalte des Aktualbewusstseins werden in diesem Fall zwar als zum Ich gehörig erlebt, können aber doch von diesem unterschieden werden. Insofern das Ich aber bestimmte Wahrnehmungen,

14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 76f. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 243f. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 77. Vgl. Roth: Sicht (2009), 149f. Vgl. Roth: Fühlen, 197. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 76f. Vgl. Roth: Gehirn, 214. Vgl. Roth: Gehirn, 214. Vgl. Roth: Gehirn, 214. Vgl. Roth: Sicht (2009), 132. Vgl. Roth: Sicht (2009), 132. Vgl. Roth: Sicht (2009), 132.

Das Bewusstsein

Emotionen, Vorstellungen etc. hat, hängt das Aktualbewusstsein stets mit dem Ich-Bewusstsein zusammen.23 Die verschiedenen Bewusstseinszustände, auch die des Ich-Bewusstseins, werden nach Roths Auffassung von unterschiedlichen Bereichen des Gehirns hervorgebracht und sind deshalb modular gegliedert.24 Dies zeigt sich daran, dass verschiedene Bewusstseinszustände unabhängig voneinander ausfallen können.25 Beispielsweise gibt es Patient:innen, die bestimmte Sinnesinhalte, wie z. B. individuelle Merkmale von Gesichtern, nicht bewusst erleben können, oder Patient:innen, die leugnen, dass bestimmte Körperteile zu ihnen gehören.26 Gleichzeitig sind die Bewusstseinszustände, insbesondere die Zustände des Ich-Bewusstseins, so eng miteinander verbunden, dass sie im Erleben eine Einheit bilden.27 Vom Hintergrundbewusstsein und vom Aktualbewusstsein muss der Aktivitäts- bzw. Wachheitsgrad unterschieden werden, der ein breites Spektrum besitzt.28 3.1.2

Wie, wann und wo entsteht Bewusstsein?

3.1.2.1

Der Ort des Bewusstseins

Da es Bewusstsein nur bei hinreichender Aktivität der Großhirnrinde (Cortex) gibt, wird diese als der „Sitz des Bewusstseins“ bezeichnet.29 Alles, was sich außerhalb der Großhirnrinde ereignet, kann grundsätzlich nicht bewusst erlebt werden.30 Roth vermutet in einer Publikation aus dem Jahr 2009, dass dies mit dem gleichförmigen Aufbau der Großhirnrinde, ihrer riesigen Speicherkapazität und ihrer Fähigkeit zu sehr schneller Umverknüpfung ihrer Netzwerke zusammenhängt.31 In einer Publikation aus dem Jahr 2019 erklärt er die alleinige Bewusstseinsfähigkeit der Großhirnrinde durch das besondere Verknüpfungsmuster der Neuronen im Cortex, das u. a. eine ausgeprägte Selbstreferentialität der Großhirnrinde ermöglicht.32 Nicht alle Aktivitäten der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde werden dem Individuum bewusst.33 Prozesse, die eine zu geringe Zahl an Neuronen erregen oder

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 76. Vgl. Roth: Fühlen, 198. Vgl. Roth: Fühlen, 198. Vgl. Roth: Fühlen, 198. Vgl. Roth: Sicht (2009), 133. Vgl. Roth: Gehirn, 214. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 81. Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 234f. Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 251–254. Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 233.

45

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

eine zu niedrige Aktivität haben, werden nicht bewusst.34 Ebenso sind alle Prozesse der Großhirnrinde unbewusst, die sich erst auf dem Weg zur Bewusstwerdung befinden,35 sowie alles, was in den primären und sekundären sensorischen und motorischen Zentren des Cortex geschieht.36 Bewusstsein ist darüber hinaus immer an die Aktivität der assoziativen Areale des Cortex gebunden.37 3.1.2.2

Produktion und Kontrolle des Bewusstseins

Wie Roth betont, produziert die Großhirnrinde das Bewusstsein aber nicht alleine, sondern in Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen, unbewusst arbeitenden Hirnzentren:38 (1) Die Formatio reticularis – eine Struktur des Hirnstamms – bestimmt den Wachheitsgrad der Hirnrinde in Abhängigkeit von eingehenden Signalen aus Körper und Umwelt.39 (2) Darüber hinaus verändern verschiedene neuromodulatorische Systeme außerhalb der Großhirnrinde (das Noradrenalin- Serotonin-, Dopamin-, und Acetylcholin-System) deren Aktivität und Leistungsfähigkeit.40 Das DopaminSystem spielt – darauf wird in Kapitel 3.2.2 genauer eingegangen – bei der Initiierung von Handlungen eine wichtige Rolle. (3) Treten in den unbewussten Hirnbereichen Erregungen auf – seien es Wahrnehmungen des Körpers oder der Umwelt oder unbewusste Wünsche oder Motive41  – werden diese durch Teile der Formatio reticularis nach den Kriterienpaaren „bekannt – unbekannt“ und „wichtig – unwichtig“ sortiert.42 An diesem Prozess sind unbewusste Gedächtnisinhalte und unbewusste emotionale Bewertungskomponenten anderer Hirnbereiche beteiligt.43 Wird ein Ereignis anhand der neuronalen Erregung als unwichtig und unbekannt eingeschätzt, gelangt es nicht ins Bewusstsein.44 Wird ein Ereignis als unwichtig und bekannt eingeschätzt, so dringt

34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 233. Vgl. Roth: Sicht (2009), 137. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 234 und 250. Vgl. Roth: Gehirn, 228. Vgl. Roth: Gehirn, 229. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 85. Obwohl sich Roth an Stellen, an denen er sich ausdrücklich zu diesem Thema äußert, gegen die Identifizierung von mentalen Gehalten mit bestimmten Hirnaktivitäten ausspricht (vgl. Kapitel 4.7.4), identifiziert er hier beides in reduktionistischer Weise miteinander. 42 Vgl. Roth: Gehirn, 229. 43 Vgl. Roth: Gehirn, 229. 44 Vgl. Roth: Gehirn, 229.

Das Bewusstsein

es nicht oder nur sehr geringfügig ins Bewusstsein, wie z. B. Hintergrundgeräusche.45 Schätzt das Gehirn ein Ereignis als wichtig und bekannt ein, wird ihm ein niedriges Niveau an Aufmerksamkeit zu Teil.46 Das Gehirn aktiviert in diesem Fall meist unbewusste Bearbeitungsprogramme, bei denen der betreffenden Person zwar bewusst wird, dass sie etwas tut, aber nicht, wie sie es tut.47 Es handelt sich um ein begleitendes Hintergrundbewusstsein, vergleichbar z. B. mit dem Bewusstsein, wo ich mich befinde, oder das Bewusstsein meiner Identität mit mir selbst.48 Wird ein Ereignis als wichtig und unbekannt beurteilt, gelangt die Erregung, nachdem sie in Verarbeitungszentren außerhalb der Großhirnrinde bearbeitet wurde,49 in die unbewusst arbeitenden primären und sekundären sensorischen Areale der Großhirnrinde, in denen das Ereignis nach einfachen Details sortiert wird, und von dort in die assoziativen Areale, die das Ereignis mit Gedächtnisinhalten verknüpfen und ihm so eine Bedeutung geben.50 Über rückwirkende Bahnen gestalten diese Bedeutungen (immer noch unbewusst) in den sensorischen Arealen die Wahrnehmungsdetails.51 Erst wenn dann die Ergebnisse der Verarbeitungsprozesse von sensorischen und assoziativen Arealen zusammengeführt werden, entsteht Bewusstsein – und zwar etwa eine drittel Sekunde nachdem ein Reiz das Gehirn erregt hat.52 3.1.2.3

Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und die Begrenztheit des Bewusstseins

Aufmerksamkeit ist, wie bereits erwähnt, ein wichtiger Faktor für das Bewusstsein und dies auf zweierlei Weise: Zum einen können, nach Roth, Hirnprozesse ohne eine grundsätzliche Aufmerksamkeit nicht oder nur schwach (als Hintergrundbewusstsein) bewusst werden.53

45 46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. Roth: Gehirn, 229. Vgl. Roth: Gehirn, 229f. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 81. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 246f. Vgl. Roth: Gehirn, 230. Vgl. Roth: Sicht (2009), 138. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 81f. Vgl. Roth: Sicht (2009), 138. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 261f. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 82. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 261f. Vgl. Roth: Fühlen, 205. Roth suggeriert hier, die Aufmerksamkeit würde sich auf die Hirnprozesse richten. Dies ist aber sicherlich nicht zutreffend, denn das Bewusstsein kann die ihm zu Grunde liegenden Gehirnprozesse nicht wahrnehmen. Die Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf die Bewusstseinsgehalte. Da Roth aber davon ausgeht, dass auch die Aufmerksamkeit mit neuronalen Aktivitäten identisch ist, geht er davon aus, dass sich hier bestimmte neuronale Aktivitäten aufeinander beziehen und so Bewusstsein entsteht (vgl. Kapitel 3.1.2.5).

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

Singer erläutert hierzu das Folgende: Durch Aufmerksamkeit erlangen Erregungsmuster ein kritisches Maß an Kohärenz, Ordnung und Synchronisation, das für die Bewusstwerdung notwendig ist.54 Da diese Art von Aufmerksamkeit Voraussetzung für die Bewusstwerdung ist, kann die Steuerung nur unbewusst erfolgen. Singer geht von einem distributiven, selbstorganisierenden Wettbewerb von Erregungsmustern aus.55 Ein starker und unerwarteter Reiz zieht z. B. automatisch Aufmerksamkeit auf sich.56 Zum anderen ist Aufmerksamkeit im Sinne von Konzentration eine Steigerung des Bewusstheitsgrades, die erhöhte, aber gleichzeitig zeitlich, räumlich und inhaltlich eingeschränkte Sinnesleistungen und mentale Prozesse ermöglicht,57 und die Wahrnehmung von Schmerzen und Gefühlen verstärken kann.58 Bei der Steuerung dieser Art von Aufmerksamkeit kann auch das Bewusstsein in Form des Willens eine Rolle spielen.59 Aufmerksamkeit ist also gleichsam ein Scheinwerfer des Bewusstseins.60 Das Phänomen der Aufmerksamkeit ist der Hirnforschung bisher jedoch nur als psychischer Zustand bekannt, dessen neuronale Korrelate noch nicht gefunden wurden.61 Man vermutet, dass der Thalamus (ein Teil des Zwischenhirns) die Aufmerksamkeit steuert.62 Das Bewusstsein ist außerdem eng verknüpft mit dem Kurzzeitgedächtnis,63 das auch Arbeitsgedächtnis genannt wird.64 Im Arbeitsgedächtnis können einige aktuelle Wahrnehmungen und die hiermit verbundenen Gedächtnisinhalte und Vorstellungen bis zu einer halben Minute lang im Bewusstsein festgehalten und bearbeitet werden.65 Es befindet sich im präfrontalen Cortex und wird beispielsweise beim Kopfrechnen benötigt, wenn eine Zwischensumme behalten wird, während die nächste Zwischensumme ermittelt wird, oder auch beim Planen eines Zuges beim Schachspiel.66 Erst recht notwendig ist das Arbeitsgedächtnis für Sprachverständnis, Lernen und schlussfolgerndes Denken.67

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 147. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 155. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 155. Vgl. Roth: Fühlen, 206. Vgl. Roth: Sicht (2009), 132. Vgl. Roth: Fühlen, 206. Vgl. Hubert: Mensch, 79. Vgl. Crick/Koch: Problem, 168f. Vgl. Crick/Koch: Problem, 169. Vgl. Gadenne: Bewußtsein, 93. Vgl. Goldmann-Radic: Arbeitsgedächtnis, 68. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 244. Vgl. Goldmann-Radic: Arbeitsgedächtnis, 68. Vgl. Roth: Sicht (2009), 99. Vgl. Roth: Fühlen, 159. Vgl. Goldmann-Radic: Arbeitsgedächtnis, 68. Vgl. Goldmann-Radic: Arbeitsgedächtnis, 68.

Das Bewusstsein

Sowohl die Aufmerksamkeit als auch das Arbeitsgedächtnis haben eine begrenzte Kapazität.68 Je stärker sich unsere Aufmerksamkeit auf etwas konzentriert, desto mehr verschwinden andere Geschehnisse aus unserem Bewusstsein.69 Das Arbeitsgedächtnis kann nur wenige und nur einfache Inhalte gleichzeitig speichern.70 Die Enge und Begrenztheit des Bewusstseins gehen mit diesen Eigenschaften der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses einher.71 3.1.2.4

Das Bindungsproblem

Wie bereits erwähnt, ist das Bewusstsein nach Auffassung der Hirnforscher modular gegliedert und erscheint uns dennoch in unserem Erleben als einheitlich. Die Frage, wie diese Einheit im Erleben trotz des modularen Aufbaus des Bewusstseins zu Stande kommt, wird als das ‚Bindungsproblem‘ bezeichnet.72 Roth und Singer beschreiben das Problem folgendermaßen: Das Gehirn arbeitet außerordentlich arbeitsteilig.73 Beispielsweise werden die visuellen Einzelmerkmale eines Objekts, wie Form, Farbe, Bewegung und Ort im Cortex räumlich getrennt voneinander und parallel bearbeitet.74 Ebenso werden unterschiedliche Informationen des Tastsinnes, wie Druck oder Temperatur, an unterschiedlichen Orten verarbeitet75 und auch die verschiedenen Ich-Zustände kommen in unterschiedlichen Arealen des Cortex zu Stande.76 Es stellt sich deshalb die Frage, wie die Bruchstücke der Wahrnehmung und des Gedächtnisses im Gehirn zu kohärenten bedeutungshaften Bewusstseinsinhalten zusammengefügt werden, da unser Bewusstsein im Erleben eine zusammenhängende Einheit darstellt.77 Lange Zeit wurde angenommen, es gäbe im Gehirn ein Konvergenzzentrum, das man ‚Ich‘ nennen könnte,78 in dem alle Signale zusammenlaufen und zu einer einheitlichen Wahrnehmung zusammengefügt werden.79 Dies ist jedoch nicht der Fall. Singer, Roth und andere Hirnforscher:innen vermuten hier vielmehr folgenden Mechanismus, für den bereits einige experimentelle Belege gefunden wurden:80 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Vgl. Gadenne: Bewusstsein, 93–95. Vgl. Roth: Fühlen, 206. Vgl. Roth: Sicht (2009), 99. Vgl. Roth: Gehirn, 220. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 144. Vgl. Roth: Sicht (2009), 40–42. Vgl. Roth: Sicht (2009), 40. Vgl. Singer: Beobachter, 66. Vgl. Roth: Sicht (2009), 43. Vgl. Roth: Sicht (2009), 150f. Vgl. Roth: Persönlickeit (2007), 82. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 145. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 144. Vgl. Singer: Beobachter, 65. Vgl. Engel/König/Singer: Bildung, 42–44.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

Die korticalen Neuronen werden, wie beschrieben, einerseits durch Eingänge von außerhalb der Großhirnrinde erregt, andererseits erregen sie sich gegenseitig.81 Sie beginnen dabei nach und nach im selben „Takt“ zu feuern, d. h. sie synchronisieren ihre Aktivität.82 Ein bestimmter Bewusstseinsinhalt entspricht dann dem synchronen Feuern ganz bestimmter Verbände von Nervenzellen mit eine Frequenz von 30–70 Hz (Gamma-Wellen83 ), die sich über weite Bereiche der Großhirnrinde und über beide Großhirnhälften verteilen können und die jeweils Teilinformation über die verschiedenen Merkmale des Bewusstseinsinhalts beisteuern.84 Durch die Synchronisation der Aktivität kann ein bestimmter Bewusstseinsinhalt von anderen gleichzeitig vorhandenen Bewusstseinsinhalten oder von nicht an dem Bewusstseinsinhalt beteiligten Hirnaktivitäten abgegrenzt werden.85 Teilinformationen, die z. B. zu einem Wahrnehmungsgegenstand gehören, werden so integriert bzw. als zusammengehörig gekennzeichnet.86 Neuronen, die einen bestimmten Bewusstseinsinhalt A repräsentieren, feuern synchron; ebenso Neuronen, die einen anderen Bewusstseinsinhalt B repräsentieren, wobei diese aber asynchron zu den Neuronen des Bewusstseinsinhalts A feuern.87 Die Verbindung zwischen Neuronen eines Bewusstseinsinhalts wird durch Synapsen mit bestimmter Übertragungsstärke vermittelt.88 Organisieren die Neuronenverbände sich um, um einen neuen Bewusstseinsinhalt zu bilden, verändert sich die Übertragungsstärke der Synapsen.89 Diese Veränderung dauert ca. ein bis drei Sekunden.90 An anderer Stelle nennt Roth den Zeitraum von 0,3 bis 3 Sekunden.91 Das entspricht der Dauer eines einzelnen Gedankens oder einer Vorstellung.92 Unser Bewusstsein schreitet also im Takt von ein bis drei Sekunden bzw. von 0,3 bis drei Sekunden voran.93 Für ein einheitliches Aktualbewusstsein braucht es gemäß dieser Hypothese kein ‚Ich‘ als Konvergenzzentrum. Kohärente Wahrnehmungen müssten als „emergente Qualitäten oder Leistungen eines Selbstorganisationsprozesses verstanden werden“94 . Wenn das ‚Ich‘ selbst, wie beschrieben, aus verschiedenen Ich-Zuständen

81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 82. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 84. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 257. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 255. Vgl. Engel/König/Singer: Bildung, 42f. Vgl. Crick/Koch: Problem, 170. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 257. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 258. Vgl. Crick/Koch: Problem, 170. Vgl. Roth: Sicht (2009), 140. Vgl. Roth: Sicht (2009), 140. Vgl. Roth: Sicht (2009), 140. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 258. Vgl. Roth: Sicht (2009), 140. Vgl. Roth: Sicht (2009), 140. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 258. Singer: Beobachter, 66f. Vgl. auch Roth/Strüber: Gehirn, 255.

Das Bewusstsein

besteht, die an verschiedene Hirnareale gebunden sind, kann es außerdem logischerweise nicht als Konvergenzzentrum fungieren. Auch die Einheit der verschiedenen Aspekte des Ich-Bewusstseins mitsamt des Bewusstseins, dass ich es bin, der:die bestimmte Wahrnehmungen hat oder Bewegungen ausführt, kommt laut Singer vermutlich durch den beschriebenen Mechanismus der synchronen Aktivität von Neuronenverbänden zu Stande.95 Wie die Aspekte des Ich-Bewusstseins mit den Inhalten des Aktualbewusstseins in Verbindung gesetzt werden, scheint noch unklar zu sein. Das Ich und die Inhalte des Aktualbewusstseins selbst entstehen aber demnach auf die gleiche Art und Weise. Das Ich stellt also, wie Singer betont, keine „Kommandozentrale“96 des Bewusstseins dar, sondern ist ein Bewusstseinszustand – bzw. mehrere Bewusstseinszustände – neben anderen (zur Entstehung und Bedeutung des Ich siehe auch Kapitel 3.2.5). 3.1.2.5

Metarepräsentationen als Erklärung für Qualia

Dieser Mechanismus erklärt aber noch nicht vollständig, wie es sein kann, „daß wir nicht nur das in unserem Gehirn repräsentieren können, was in der Umwelt vorhanden ist, sondern daß wir uns dessen auch bewußt sein können, daß wir uns gewahr sind, Wahrnehmungen und Empfindungen zu haben […]“97 . Singer spricht hier die Frage an, warum bestimmte neuronale Aktivitäten überhaupt mit irgendeiner Form von Erleben, mit subjektiven Empfindungen verbunden sind, warum es sich irgendwie ‚anfühlt‘, wenn bestimmte neuronale Aktivitäten auftreten. Diese sogenannten Qualia, d. h. subjektive Erlebniszustände, die in Kapitel 4.4.1 noch einmal genauer in den Blick genommen werden, stellen für Hirnforscher:innen, die das Bewusstsein neurowissenschaftlich erklären wollen, ein erhebliches Problem dar. Es gibt zwar Vorschläge zur Lösung des Problems, im Großen und Ganzen wird es jedoch in der analytischen Philosophie des Geistes – auch von vielen reduktiv-naturalistisch eingestellten Philosoph:innen – als bisher ungelöst angesehen.98 Gemäß Singers Hypothese stellt Bewusstsein eine Art „Metarepräsentation“99 dar. Demnach tritt Bewusstsein auf, wenn die Ergebnisse primärer kognitiver Prozesse, z. B. unbewusster Wahrnehmung, erneut einer Analyse unterzogen bzw. weiterverarbeitet werden.100 Das Ergebnis dieser Analyse wird dann wiederum einer Analyse unterzogen, so dass beispielsweise nicht nur die Wahrnehmung selbst bewusst ist,

95 96 97 98 99 100

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 146. Singer: Selbsterfahrung, 145. Singer: Beobachter, 70. Vgl. Pauen: Grundprobleme, 94. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 144. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 144.

51

52

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

sondern auch das Bewusstsein besteht, eine bewusste Wahrnehmung zu haben.101 Diese Metarepräsentationen bilden dann nicht die Umwelt ab, sondern hirninterne Prozesse.102 Ein Beleg für diese Hypothese ist, dass in der Evolution später hinzugetretene Areale der Großhirnrinde ihre Eingangssignale nicht mehr direkt von den Sinnesorganen, sondern von anderen Arealen, die mit den Sinnesorganen direkt verbunden sind, erhalten.103 Die neuen Areale verarbeiten also Signale der älteren Areale weiter.104 Viele Hirnforscher:innen vertreten ähnliche Hypothesen. Der Neurowissenschaftler Christof Koch beispielsweise geht davon aus, dass Qualia die unbewusste, riesige Menge an Informationen, die z. B. im Zusammenhang mit einer Wahrnehmung im Gehirn aktiviert wird, symbolisch repräsentieren.105 Qualia seien „eine Kurzschrift, um all diese Daten zu codieren“106 . Ganz offensichtlich geht er dabei davon aus, dass es wiederum Hirnaktivitäten sind, welche diese symbolisierende bzw. repräsentierende Funktion übernehmen, dass das subjektive Erleben also identisch mit bestimmten, andere Hirnaktivitäten repräsentierenden Hirnaktivitäten ist.107 Dass dies allerdings weder eine überzeugende noch eine allgemein akzeptierte Erklärung für Qualia ist, räumt er ein.108 Die Erklärung von Bewusstsein durch Metarepräsentationen ist deshalb nicht überzeugend, weil es unplausibel ist, dass aus dem Verhältnis zweier für sich alleine jeweils nicht bewusster neuronaler Zustände zueinander Bewusstsein entstehen soll. 3.1.3

Das Bewusste und das Unbewusste

Das Bewusstsein und unbewusste Hirnprozesse erfüllen unterschiedliche Funktionen im Gehirn bei der Steuerung von Wahrnehmung und Verhalten: Ein großer Teil der Gehirnprozesse des Menschen ist grundsätzlich nicht von Bewusstsein begleitet.109 Zu diesen Prozessen zählen alle Prozesse, die außerhalb der Großhirnrinde ablaufen, wie z. B. autonome Funktionen, die für das ordnungsgemäße Funktionieren aller Organe, einschließlich des Gehirns, sorgen.110 Des Weiteren gehören 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 144. Vgl. Singer: Beobachter, 70. Vgl. Singer: Beobachter, 70. Vgl. Singer: Beobachter, 70. Vgl. Koch: Bewusstsein, 263f. Koch: Bewusstsein, 269. Vgl. Koch: Bewusstsein, 331. Koch schreibt hier: „Ein Teil von Neuronen, der auf explizite [ebenfalls neuronale] Repräsentationen der äußeren Welt zugreift, ist hinreichend für bestimmte bewusste Perzepte.“ 108 Vgl. Koch: Bewusstsein, 351. 109 Vgl. Roth: Gehirn, 219. 110 Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 155.

Das Bewusstsein

unbewusste kognitive Prozesse dazu, welche Wahrnehmungsreize verrechnen und filtern (bevor sie ins Bewusstsein gelangen können) oder nach Erinnerungen im Gedächtnis, nach Worten oder grammatischen Regeln suchen.111 Unbewusst ist außerdem das implizite Gedächtnis.112 Dazu gehören das prozedurale Gedächtnis (gebunden an das Kleinhirn und die Basalganglien (s. u.)), welches die Abläufe automatisierter Fertigkeiten speichert, das emotionale Gedächtnis (vor allem gebunden an das limbische System (s. u.)), welches die Verbindung bestimmter Ereignisse mit bestimmten Emotionen erinnert, und das Priming-Gedächtnis, welches Reize, die unbewusst wahrgenommen wurden, schnell wiedererkennt.113 Ebenso gehören Erfahrungen, die ein Mensch als Säugling und Kleinkind bis zum dritten oder vierten Lebensjahr gemacht hat, zum impliziten Gedächtnis.114 Da die bewusstseinsfähige Großhirnrinde in diesem Alter noch nicht ausgereift ist, können die Erfahrungen nicht – oder nur zum Teil – bewusst erlebt und später nicht mehr bewusst erinnert werden.115 Dieses Phänomen wird als frühkindliche Amnesie bezeichnet.116 Nicht bewusst, aber zum Teil potentiell bewusstseinsfähig, ist eine Vielzahl von Wahrnehmungen. Viele Wahrnehmungen werden, bevor sie ins Bewusstsein gelangen können, herausgefiltert, weil das Gehirn sie als unwichtig einschätzt oder unbewusste Routineprogramme zur Bearbeitung dieser Wahrnehmungsinhalte besitzt.117 Das Gleiche gilt für den Ablauf und die Kontrolle bestimmter automatisierter Fertigkeiten, die allerdings bewusst werden können, wenn sich Aufmerksamkeit auf sie richtet.118 Auch die Inhalte des sprachlich zugänglichen, deklarativen Gedächtnisses befinden sich normalerweise nicht im Bewusstsein. Damit ein Mensch sich etwas merken kann, müssen diese Gedächtnisinhalte zwar einmal bewusst gewesen sein, dann sinken sie aber ins Nicht-Bewusste ab. Durch aktives Erinnern oder auf Grund bestimmter Hinweisreize können diese Gedächtnisinhalte meist schnell wieder ins Bewusstsein geholt werden. Wird das Abrufen von Gedächtnisinhalten durch Organisatoren des Gedächtnisses verhindert, spricht die Psychologie von „Verdrängung“.119 Das Gehirn ist also auch ohne Bewusstsein zu vielen Leistungen fähig:120 Dinge und Vorgänge können, sofern sie nicht zu kom-

111 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Hubert: Mensch, 91. Vgl. Hubert: Mensch, 92. Vgl. Hubert: Mensch, 92. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 78. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 233. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 78f. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 150. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 78. Vgl. Roth: Gehirn, 219. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 80. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 79.

53

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

plex sind, wahrgenommen werden und Wahrnehmungsinhalte werden vorsortiert. Sofern bestimmte Verhaltensweisen stark automatisiert sind, können sie unbewusst ablaufen und sie können sogar unbewusst erlernt werden. Zwingend von Bewusstsein begleitet sind dagegen alle sprachlich gefassten Vorgänge,121 da Menschen den Sinn von Gesprochenem oder Geschriebenem ohne Bewusstsein nicht erfassen können. Gleiches gilt für das Erlernen komplizierter motorischer Fertigkeiten bevor sie automatisiert werden, das Aneignen von Inhalten des deklarativen Gedächtnisses, das Nachahmungslernen und in den meisten Fällen das Problemlösen.122 Ebenso können Menschen ohne Bewusstsein keine detaillierten Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Erinnerungen besitzen.123 Zwar können Menschen auch unbewusst Dinge wahrnehmen oder erinnern, dies erfolgt aber immer sehr undifferenziert.124 Das Bewusstsein ist ein „besonderes Werkzeug des Gehirns“125 und wird grundsätzlich immer gebraucht, wenn Menschen mit Neuem und Ungewohntem konfrontiert sind, bei dem es darum geht, komplexe Details zu verarbeiten,126 und wenn Menschen vor schwierigen kognitiven oder motorischen Problemen stehen.127 Zu den beschriebenen Fähigkeiten wäre der Mensch ohne Bewusstsein nicht fähig. Bewusste Prozesse haben den Vorteil, dass sie schnell veränderbar sind und Inhalte auf sehr komplexe Weise verarbeiten können.128 Ihr Nachteil ist, dass nur eine geringe Anzahl von Variablen gleichzeitig im Bewusstsein gehalten werden können, weshalb rationale Prozesse mit sehr vielen Variablen das Bewusstsein überfordern.129 Außerdem laufen bewusste Prozesse vergleichsweise langsam ab, sind sehr störanfällig und energetisch-stoffwechselphysiologisch sehr teuer.130 Wenn möglich versucht das Gehirn deshalb, möglichst viele Funktionen aus der Großhirnrinde auszulagern und unbewussten Hirnarealen zu übertragen.131 Diese arbeiten schneller, sind weniger störanfällig, effektiver und energetisch-stoffwechselphysiologisch sparsamer.132 „Bewusstsein ist für das Gehirn ein Zustand, der tunlichst zu vermeiden und nur im Notfall einzusetzen ist.“133 Unbewusste automatisierte und 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 156. Vgl. Roth: Gehirn, 220. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 77. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 77. Roth: Fühlen, 239 (Hervorhebung im Original). Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 77. Vgl. Roth: Fühlen, 239. Vgl. Roth: Fühlen, 238. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 158. Vgl. Roth: Fühlen, 240. Vgl. Roth: Fühlen, 240. Vgl. Roth: Fühlen, 240. Roth: Fühlen, 240.

Der Wille und das Gehirn

implizite Prozesse sind allerdings nur schwer veränderbar und der willentlichen Kontrolle weitgehend oder vollständig entzogen.134 Zusammenfassend kann für die Frage nach der Willensfreiheit festgehalten werden, dass Bewusstsein nur in Abhängigkeit von unbewussten Hirnzentren entsteht und dass diese Hirnzentren eine weitreichende Kontrolle darüber haben, welche Wahrnehmungen, Erinnerungen etc. überhaupt in unser Bewusstsein treten und mit wie viel Aufmerksamkeit sie belegt werden. Abgesehen davon hat das Bewusstsein nur eine sehr begrenzte Kapazität. Eine Vielzahl von Hirnprozessen, die unser Verhalten beeinflussen, wie z. B. Wahrnehmung, Erinnern oder das Abrufen und Ausführen automatisierter Fertigkeiten, laufen unbewusst ab. Das Unbewusste ist weitaus umfassender als das Bewusstsein und bestimmt uns in unserem alltäglichen Handeln – und demnach auch in unserem Entscheiden und Wollen – gemäß Roth stärker als das Bewusstsein.135 Roth spricht auch von einer „Dominanz des Unbewussten“136 . Wie Kapitel 3.2.5 zeigt, bedeutet die beschriebene Hypothese zum Bindungsproblem darüber hinaus eine schwerwiegende Infragestellung der Urheberschaft als Bedingung der Willensfreiheit.

3.2

Der Wille und das Gehirn

3.2.1

Das Libet-Experiment

In den frühen 80er Jahren führte der Neurophysiologe Benjamin Libet ein berühmt gewordenes Experiment durch, das Anlass zu der Annahme gab, das Gefühl, durch unseren Willen eine Handlung zu bewirken, sei eine Illusion.137 Dieses Experiment nimmt bis heute eine Schlüsselrolle in der Debatte um die Willensfreiheit ein.138 Roth referiert es auch in jüngeren Publikationen immer wieder.139 Das Experiment stellt die Willensfreiheit in Frage, weil es die Vermutung nahe legt, dass der bewusste Wille erst auftritt, wenn das Gehirn die betreffende Handlung bereits unbewusst eingeleitet hat. Libets eigentliche Absicht war es, zu zeigen, dass der Wille bzw. eine bewusste Entscheidung zu einer Bewegung der Einleitung dieser Bewegung auf

134 135 136 137 138 139

Vgl. Roth: Fühlen, 237. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 79. Roth/Strüber: Gehirn, 282. Vgl. Libet: Time. Vgl. Roth: Fühlen, 518–520. Vgl. Hardegger: Willenssache, 160. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 241–246. Vgl. Roth: Sicht (2015), 192–196. Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 171f.

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neuronaler Ebene zeitlich vorausgeht.140 Auf diese Weise wollte er die Existenz von Willensfreiheit objektiv beweisen.141 Der Versuch verlief folgendermaßen: Versuchspersonen erhielten die Aufgabe, innerhalb einer gegebenen Zeit spontan, ohne Vorausplanung oder Konzentration, den Entschluss zur Bewegung eines Fingers der rechten Hand oder der ganzen rechten Hand zu fassen und diese Bewegung auszuführen.142 Es war also allein Aufgabe des Willens der Versuchspersonen, den Zeitpunkt der Bewegung festzulegen. Diese wurde durch ein Elektromyogramm (EMG), das am Muskel gemessen wurde, angezeigt. Um den Zeitpunkt des Willensentschlusses feststellen zu können, sollten die Versuchspersonen während des Versuchs auf eine Art Oszilloskop-Uhr schauen, auf der ein Punkt mit einer Geschwindigkeit von 2,56 Sekunden pro Runde rotierte.143 Anhand der Position des Punktes auf der Uhr sollten die Personen sich den Zeitpunkt ihres bewussten Willensentschlusses zur Ausführung der Bewegung merken. Um eine Vorstellung zu haben, wie lange der visuelle Reiz der Uhr bis zur Bewusstwerdung braucht, und so die Wahrnehmung der Beziehung zwischen Willensakt und dem angegebenen Zeitpunkt seines Auftretens eichen zu können, führte Libet eine zweite Versuchsserie durch, in der die Versuchspersonen den Zeitpunkt der Empfindung eines somatosensorischen Reizes angeben sollten.144 Außerdem wurde jeweils mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) das so genannte symmetrische Bereitschaftspotential (readiness-potential RP) gemessen.145 Dieses wurde von den Wissenschaftlern Hans Kornhuber und Lüder Deecke 1965 entdeckt.146 Es handelt sich um ein negatives elektrisches Potential, das durch neuronale Aktivität in den motorischen Arealen der Großhirnrinde entsteht.147 Im Falle von Willenshandlungen bereitet es eine bestimmte Bewegung vor und tritt ein bis zwei Sekunden vor Beginn der Bewegung ein.148 Es ist allerdings so schwach, dass es bei einer einmaligen Messung nicht festgestellt werden kann, sondern auf Grund von vielen Versuchsdurchläufen ermittelt werden muss.149

140 Titel der Studie: „Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity“ (Libet: Time). 141 Vgl. Roth: Fühlen, 519. 142 Vgl. zum ganzen Absatz: Libet: Time, 624f. 143 Vgl. Libet: Time, 625. 144 Vgl. Roth: Fühlen, 519 und 521. In einer dritten Serie sollten die Versuchspersonen den Zeitpunkt der Empfindung der Bewegung angeben. 145 Vgl. Roth: Fühlen, 519. Vgl. Libet: Time, 624. 146 Vgl. Hardegger: Willenssache, 9. 147 Vgl. Hardegger: Willenssache, 9. 148 Vgl. Roth: Fühlen, 191f. 149 Vgl. Hardegger: Willenssache, 10.

Der Wille und das Gehirn

Es zeigte sich, wie erwartet, dass das symmetrische Bereitschaftspotential der Bewegung um 0,5–0,7 Sekunden vorausging.150 Überraschenderweise trat das Bewusstsein einer Willensentscheidung aber erst ca. 0,2 Sekunden vor Beginn der Bewegung, also nach Beginn des Bereitschaftspotentials auf.151 Der Wille entsteht also – so die Interpretation – erst 0,3 Sekunden oder mehr nach der Ingangsetzung der Handlungsabsicht durch neuronale Aktivitäten.152 Dies deutet darauf hin, dass der Wille durch unbewusste Hirnprozesse kausal verursacht wurde, die nicht der Kontrolle der betreffenden Person unterliegen. Libet folgert, dass offensichtlich das Gehirn ‚entscheide’, eine Handlung zu initiieren, bevor die Person sich bewusst werde, dass eine solche Entscheidung stattgefunden habe.153 Obwohl das Gefühl des Willens dies suggeriert, kann die Handlung also nicht frei sein, weil sie von unbewussten Hirnprozessen vorbereitet wird.154 Das Experiment trug wesentlich dazu bei, dass der freie Wille von vielen Autor:innen als Illusion und Epiphänomen bezeichnet wurde, von dem Willenshandlungen zwar begleitet werden, das aber keinen kausalen Einfluss auf diese Handlungen hat. Um berechtigten Einwänden zu begegnen,155 wurde das Experiment Ende der 90er Jahre in modifizierter Weise von Patrick Haggard und Martin Eimer wiederholt.156 Neben dem symmetrischen wurde dabei auch das lateralisierte Bereitschaftspotential (LRP) gemessen.157 Das symmetrische Bereitschaftspotential tritt in beiden Großhirnhälften auf.158 Das lateralisierte Bereitschaftspotential folgt auf das symmetrische und tritt nur in der Gehirnhälfte auf, die dem zu bewegenden Arm oder Bein gegenüberliegt.159 Es legt die Bewegung also detaillierter fest. Darüber hinaus durften die Versuchspersonen nicht nur wie bei Libet den Zeitpunkt der Bewegung bestimmen (fixed choice), sondern auch, mit welcher Hand sie die Bewegung ausführen wollten (free choice).160 Das Experiment bestätigte im Wesentlichen Libets Ergebnisse. Es zeigte, dass auch das lateralisierte Bereitschaftspotential der bewussten Willensentscheidung vorausgeht.161 Weder der Zeitpunkt des Willensentschlusses noch der Zeitpunkt des Beginns des Bereit-

150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. Hardegger: Willenssache, 10. Vgl. Libet: Time, 629. Vgl. Hardegger: Willenssache, 10. Vgl. Libet: Time, 640. Vgl. Roth: Fühlen, 520. Vgl. Roth: Fühlen, 521. Vgl. Haggard/Eimer: Relation. Vgl. Roth: Fühlen, 521. Vgl. Roth: Fühlen, 191f. Vgl. Roth: Fühlen, 191f. Vgl. Hardegger: Willenssache, 13. Vgl. Roth: Fühlen, 522. Vgl. Hardegger: Willenssache, 14.

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schaftspotentials unterschieden sich signifikant von der Versuchsdurchführung ohne Wahlmöglichkeit.162 Außerdem wollten Haggard und Eimer herausfinden, ob eine kausale Beziehung zwischen den Bereitschaftspotentialen und dem Willensentschluss besteht.163 Dazu untersuchten sie, ob die Potentiale mit dem Willensentschluss kovariieren, d. h. ob sich der Zeitpunkt der Potentiale ändert, wenn sich der Zeitpunkt des Willensentschlusses ändert.164 Sie stellten fest, dass der Willensentschluss mit dem lateralisierten Bereitschaftspotential kovariiert, nicht aber mit dem symmetrischen Bereitschaftspotential.165 Dies legt die Annahme nahe, dass der Willensentschluss eine kausale Folge des lateralisierten Bereitschaftspotentials ist.166 Die Interpretation des Libet-Experiments, dass der Willensentschluss eine kausale Folge des symmetrischen Bereitschaftspotentials sei, war also falsch. Die prinzipielle These, dass der Wille durch unbewusste Hirnprozesse festgelegt wird, kann aber aufrechterhalten werden, während das symmetrische durch das lateralisierte Bereitschaftspotential ersetzt wird. Bedeuten diese Experimente tatsächlich, dass der freie Wille nur eine Illusion und ein Epiphänomen ist? Libet selbst erwähnt folgende Einschränkungen dieser Interpretation seines Experiments:167 (1) Dem Willen könne bei der Initiierung von Handlungen eine Art Veto-Funktion zukommen, die dazu führe, dass eine vom Gehirn eingeleitete Handlung abgebrochen wird. Der zeitliche Abstand zwischen Beginn des Bereitschaftspotentials und Beginn der Handlung lasse dies zu. Tatsächlich berichteten einige Versuchspersonen, während des Experiments den Drang zu einer Bewegung verspürt zu haben, der dann aber abgebrochen sei, so dass die Bewegung nicht ausgeführt wurde. (2) Außerdem nimmt Libet an, dass die Erkenntnisse seines Experimentes nur für Handlungen gelten, die ähnlich spontan ausgeführt wurden. Bei Handlungen, die längere Zeit vorbereitet werden und denen bewusste Überlegungen vorausgehen, könne es dagegen möglich sein, dass der freie Wille diese Handlungen initiiert und kontrolliert. Wie später noch zu zeigen sein wird, geben die Experimente von Libet, Haggard und Eimer sowohl von naturwissenschaftlicher als auch von philosophischer Seite in Bezug auf Methodik und Interpretation vielfältigen, über die Überlegungen Libets hinausgehenden Anlass zu Kritik. Trotz dieser vielfältigen Einschränkungen der Ergebnisse der Experimente von Libert, Haggard und Eimer hält Roth als Ergebnis fest: „Das Gefühl, jetzt etwas

162 163 164 165 166 167

Vgl. Roth: Fühlen, 522. Vgl. Hardegger: Willenssache, 14. Vgl. Haggard/Eimer: Relation, 129. Vgl. Roth: Fühlen, 522f. Vgl. Roth: Fühlen, 523. Vgl. Libet: Time, 641.

Der Wille und das Gehirn

tun zu wollen, tritt auf, nachdem im Gehirn […] die unbewusste Entscheidung darüber getroffen wurde, ob etwas jetzt und in einer bestimmten Weise getan werden soll.“168 An anderer Stelle zieht er folgendes Fazit: „Das Gehirn hat die Handlung tatsächlich unbewusst festgelegt, und diese Entscheidung wird uns mit einer gewissen Verzögerung bewusst.“169 Der bewusste Wille kann demnach diese Entscheidung nicht bewirken, sondern alles scheint darauf hinzudeuten, dass der Inhalt des Wollens in diesem Fall durch die vorausgehenden, unbewussten Hirnaktivitäten bestimmt wird. Oder um es mit Prinz zu sagen: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.170 3.2.2

Initiierung von Handlungen

Der Initiierung von bewussten Handlungen, die nicht-automatisierte Bewegungen und Handlungsabläufe beinhalten und die die handelnde Person für willentlich verursacht hält, liegt ein spezifischer Erregungsverlauf im Gehirn zu Grunde, der sowohl Areale der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde (Cortex) als auch unbewusste Hirnzentren mit einbezieht. Ein bewusster Handlungswunsch bzw. eine Handlungsabsicht entsteht im präfrontalen und im orbitofrontalen Cortex, die beide Bereiche der Großhirnrinde sind.171 Genauer gesagt werden unbewusste Handlungswünsche aus dem subkorticalen limbischen System in diesem Bereich der Großhirnrinde bewusst, wenn das subkorticale limbische System die entsprechenden Bereiche der Großhirnrinde erregt.172 Der präfrontale Cortex befasst sich dabei mit dem „Wo?“ und „Wie?“ einer Handlung.173 Er ist zuständig für die zeitliche und räumliche Strukturierung von Sinneswahrnehmungen und entsprechenden Gedächtnisleistungen im Zusammenhang mit mittel- und langfristiger Handlungsplanung sowie für das Erinnern, Vorstellen und Denken.174 Außerdem ist er der Sitz des Arbeitsgedächtnisses, d. h. hier ist die Fähigkeit verortet, bestimmte Teile der Wahrnehmung, der Gedächtnisinhalte und Vorstellungen kurzfristig im Bewusstsein zu halten.175 Der orbitofrontale Cortex befasst sich mit dem „Wozu?“ und „Warum?“ der Handlung und ist für die Integration und Kontrolle von Emotionen zuständig.176 Er ist aktiv, wenn die sozialen Folgen von Handlungen

168 169 170 171 172 173 174 175 176

Roth: Fühlen, 531. Roth: Sicht (2015), 194. Vgl. Prinz: Freiheit, 87 (Hervorhebung im Original). Vgl. Roth: Fühlen, 490. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 239. Vgl. Roth: Fühlen, 481. Vgl. Roth: Fühlen, 148 und 481. Vgl. Roth: Fühlen, 148. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 229. Vgl. Roth: Fühlen, 481.

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berücksichtigt werden sollen.177 Im hinteren parietalen Cortex, der zuständig ist für Raum- und Bewegungswahrnehmung,178 wird der ungefähre zeitliche Verlauf und das Ziel einer bestimmten Bewegung festgelegt und vorbereitet.179 Dem hinteren parietalen Cortex kommt u. a. eine bewegungsleitende Funktion zu.180 Die Erregungen des präfrontalen, orbitofrontalen und hinteren parietalen Cortex werden dann zum prämotorischen Cortex geleitet, der das laterale prämotorische Areal, das mediale supplementär-motorische Areal (SMA) und das präsupplementär-motorische Areal (prä-SMA) beinhaltet und für die gröbere Bewegungsplanung zuständig ist.181 Das prä-SMA und das SMA müssen aktiv sein, damit eine Bewegung als gewollt empfunden wird.182 Das prä-SMA dient der Handlungsvorbereitung auf Grund intern generierter Ziele und ist auch bei nur vorgestellten Willkürbewegungen aktiv.183 Vom prämotorischen Cortex wird die Erregung zum primären motorischen Cortex weitergeleitet, der die Feinbewegungen festlegt.184 Über die Pyramidenbahn laufen die Erregungen dann vom primären motorischen Cortex zu den entsprechenden Motorsegmenten im Rückenmark, die die Bewegung in Gang setzen.185 Die genannten korticalen Areale sind jedoch alleine nicht in der Lage eine gewollte Bewegung auszulösen.186 Vielmehr müssen subkorticale, nichtbewusstseinsfähige, funktionale Strukturen des Gehirns gewissermaßen ihre Zustimmung geben. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Basalganglien und das limbische System. Die Basalganglien speichern vermutlich alle mehrfach erfolgreich durchgeführten Handlungsabläufe, sind also eine Art Handlungsgedächtnis.187 Sie liegen tief im Innern des Großhirns und umfassen das dorsale (obere) Striatum (gebildet aus dem dorsalen Nucleus caudatus und dem dorsalen Putamen), den dorsalen Globus pallidus, die Substantia nigra pars compacta und pars reticulata und den Nucleus subthalamicus.188 Die genannten Strukturen gehören teils dem Endhirn, teils dem Zwischenhirn und teils dem Mittelhirn an. Von allen genannten Cortex-Arealen laufen Bahnen zum dorsalen Striatum, von dort zum dorsalen Globus pallidus, dann zu Kernen des Thalamus (Teil des 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188

Vgl. Hubert: Mensch, 56. Vgl. Roth: Fühlen, 453. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Fühlen. 452. Vgl. Roth: Fühlen, 445. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Fühlen, 451. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 233. Vgl. Roth: Fühlen, 455f.

Der Wille und das Gehirn

Zwischenhirns) und schließlich zurück zu den Cortex-Arealen.189 Roth nennt den Verlauf dieser Bahnen die „dorsale Schleife“190 . Die Substantia nigra hat Verbindung zum dorsalen Striatum und der Nucleus subthalamicus hat Verbindung zum dorsalen Globus pallidus.191 Die Substantia nigra produziert Dopamin. Nur wenn die Substantia nigra Dopamin in das dorsale Striatum ausschüttet, wird die Hemmung, welche die Basalganglien auf den Vorrat der gespeicherten Handlungen ausüben, spezifisch für die geplante Bewegung aufgehoben, während alle alternativen Bewegungen weiterhin unterdrückt werden. Der dorsale Globus pallidus und die Kerne des Thalamus können nun zusammen mit dem präfrontalen und parietalen Cortex den prämotorischen und primären motorischen Cortex so erregen, dass die Bewegung über die Pyramidenbahn ausgeführt werden kann. „Ohne die Freischaltung der Basalganglien und der thalamischen Kerne können keine Willkürbewegungen ausgeführt werden, und diese Freischaltung wird durch die Ausschüttung von Dopamin durch die Substantia nigra bewirkt.“192 Dass der bewusste Wille alleine keine Handlung bewirken kann, wird bei Parkinson-Patient:innen besonders deutlich:193 Im Spätstadium der Erkrankung können diese Patient:innen eine Bewegung, obwohl sie sie ausführen wollen, nicht in Gang setzen. Grund dafür ist das Absterben Dopamin-produzierender Zellen in der Substantia nigra. Dies führt dazu, dass geplante Handlungen in den Basalganglien nicht freigeschaltet werden können. Die Ausschüttung des Dopamins in der Substantia nigra wird wiederum durch das limbische System kontrolliert.194 Das limbische System beschäftigt sich mit emotional-affektiven Zuständen in Verbindung mit Vorstellungen, Gedächtnisleistungen, Bewertung, Auswahl und Steuerung von Handlungen.195 Es zählen dazu u. a. die Amygdala, das mesolimbische System – bestehend u. a. aus dem ventralen (unteren) Striatum (Nucleus accumbens, ventrales Putamen und ventraler Nucleus caudatus) und dem ventralen Teil des Globus pallidus – und der Hippocampus.196 Die Amygdala ist das wichtigste Zentrum emotionaler Konditionierung.197 Sie arbeitet unbewusst und „registriert, ob bestimmte Handlungen und Ereignisse positive oder negative Konsequenzen für den Organismus nach sich ziehen, und

189 190 191 192 193 194 195 196 197

Vgl. Roth: Sicht (2009), 188. Vgl. Roth: Fühlen, 482. Vgl. zum ganzen Absatz: Roth: Sicht (2009), 188–190. Roth: Sicht (2009), 190. Vgl. Roth: Sicht (2009), 190. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 237. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 238. Vgl. Roth: Fühlen, 256. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 238. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191.

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speichert dies ab.“198 Sie wird so – zusammen mit dem mesolimbischen System – zu einem unbewussten Erfahrungsgedächtnis,199 „wobei die Amygdala eher die negativen und stark bewegenden Erlebnisse vermittelt und das mesolimbische System eher die positiven und motivierenden Erlebnisse.“200 Der Hippocampus ist der Organisator des bewusstseinsfähigen, deklarativen Gedächtnisses und am Abruf dieser Gedächtnisinhalte beteiligt.201 Werden bestimmte Handlungen von der Großhirnrinde bewusst geplant, so laufen Erregungen zur Amygdala, zum mesolimbischen System und zum Hippocampus.202 Dort wird geprüft, welche Vorerfahrungen mit diesen Handlungen vorliegen.203 Über Kerne des Thalamus läuft die Erregung wieder zur Großhirnrinde zurück.204 Roth bezeichnet diesen Verlauf als „ventrale[n] Schleife“205 . Sind die Vorerfahrungen des limbischen Systems positiv, „so kommt es zu einer Einwirkung der Amygdala und des mesolimbischen Systems auf die Substantia nigra, die die Ausschüttung von Dopamin verursacht, so dass die geplante Bewegung in den Basalganglien freigeschaltet wird.“206 Ein bewusster Handlungswunsch bzw. ein bewusster Handlungsplan in der Hirnrinde (mit teils unbewussten emotionalen Ursprüngen im limbischen System) wird also zunächst über die ventrale Schleife (auch ein Teil des limbischen Systems) wiederum auf seine emotionale Verträglichkeit geprüft.207 Ist diese nicht gegeben, werden die Basalganglien nicht freigeschaltet und außerdem diese emotionale Unverträglichkeit an den Cortex gemeldet. Die vom Cortex geplante Handlung kann nicht ausgeführt werden. Erst wenn die ventrale Schleife einige Male mit positivem Ergebnis durchlaufen wurde, springt die Erregung über die Ausschüttung des Dopamins in der Substantia nigra auf die dorsale Schleife über und schaltet die Basalganglien frei.208 Durch das mehrmalige Durchlaufen der dorsalen Schleife baut sich im prämotorischen und primären motorischen Cortex eine Erregung auf, das bereits erwähnte Bereitschaftspotential.209

198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 238. Roth: Persönlichkeit (2019), 238. Vgl. Roth: Fühlen, 163. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Fühlen, 489. Vgl. Roth: Fühlen, 488. Roth: Sicht (2009), 191. Vgl. Roth: Fühlen, 489. Vgl. Roth: Fühlen, 490. Vgl. Roth: Sicht (2009), 191.

Der Wille und das Gehirn

Dieses Potential entsteht dadurch, dass immer mehr Cortexneurone, die mit dem Starten der Bewegung zu tun haben, in einen Gleichtakt geraten, bis schließlich die Gesamtstärke der Erregung so hoch ist, dass die Bewegung über die Pyramidenbahn und die Motorsegmente im Rückenmark ausgelöst werden kann.210

Der bewusst empfundene „Willensruck“211 fällt mit der Freischaltung der Handlung in den Basalganglien und der entsprechenden Wirkung im Cortex zusammen.212 Vor Beginn einer Willkürbewegung erstellt das Gehirn vermutlich eine Voraussage über die somatosensorische Rückmeldung, die zu erwarten ist, wenn die Bewegung so ausgeführt wird, wie vom Gehirn geplant. Die tatsächlichen somatosensorischen Rückmeldungen werden dann mit der Vorhersage verglichen. Stimmen Voraussage und Rückmeldung annähernd überein, entsteht das Gefühl, die Bewegung bewusst initiiert zu haben. Sind die Abweichungen zwischen Voraussage und Rückmeldung zu groß, wird die Bewegung als nicht gewollt beurteilt.213 3.2.3

Entscheidungsprozesse: unbewusste und emotionale Einflüsse

Der bewusste Wille ist nach Roths Ansicht durchaus ein wichtiger Faktor bei der Auswahl, der Vorbereitung und der Steuerung komplexer Handlungen.214 Er bewirke, dass innere oder äußere Widerstände überwunden, Energien gebündelt und Handlungsalternativen unterdrückt werden.215 Ist dies aber nicht ein Widerspruch zu den Erkenntnissen des Libet-Experiments, das den bewussten Willen als ein Epiphänomen ohne Auswirkung auf Handlungen erscheinen lässt? Offensichtlich belegt Roth unterschiedliche mentale Zustände mit dem Begriff des Willens: Den bewussten Willen, jetzt etwas zu tun, wie er uns im Libet-Experiment begegnet ist, der in enger, wenn nicht gar kausaler Verbindung mit dem Bereitschaftspotential steht216 und den Roth auch Willensruck nennt,217 unterscheidet er vom bewussten Willen im Sinne einer längerfristig wirksamen Handlungsabsicht, den auch Parkinson-Patient:innen haben können, ohne jedoch in der Lage zu sein, die Handlung auszuführen.218 Interessant ist im Hinblick auf die Willensfreiheit

210 211 212 213 214 215 216

Vgl. Roth: Sicht (2009), 191f. Roth: Persönlichkeit (2019), 241. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 241. Vgl. Roth: Fühlen, 478. Vgl. Roth: Fühlen, 512. Vgl. Roth: Sicht (2003), 179. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 226. Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 172. Roth spricht in diesem Zusammenhang von einem subjektiv empfundenen „Willensakt oder -ruck“. 217 Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 172. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2019), 241. 218 Vgl. auch Roth: Sicht (2015), 194.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

nun die Frage, wie diese zweite Form eines bewussten Willenszustands zu Stande kommt. Bezüglich der neuronalen Grundlage von Entscheidungsprozessen äußert sich Singer in der vorliegenden Literatur recht allgemein und vertritt folgende Auffassung:219 Das Gehirn verarbeite eine ungemein große Zahl von Variablen bewusster und unbewusster Natur, zu denen Wissen, emotionale und motivationale Bewertungen sowie aktuelle Signale aus der Umwelt und dem Körper gehören. Diese Variablen legen nach Singers Meinung in ihrer Gesamtheit das Ergebnis des Entscheidungsprozesses fest.220 In den verschiedenen, miteinander vernetzten Hirnbereichen würden Erregungsmuster miteinander verglichen und, falls sie sich widersprächen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem es schließlich einen Sieger gebe. Bei einem Entscheidungsprozess handelt es sich demnach um einen „distributiv angelegte[n] Wettbewerbsprozess“221 , der ohne „übergeordneten Schiedsrichter“222 , d. h. ohne die entscheidende Person als Urheber:in, auskommt. Er [der Entscheidungsprozess] organisiert sich selbst und dauert so lange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweiliges unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns.223

Bewusste Motive müssen dabei nicht unbedingt die Ausschlaggebenden gewesen sein.224 Vielmehr sind die bewussten Gründe, die Menschen anführen, um eine Entscheidung zu rechtfertigen, oft nicht die wirklichen Motive,225 weil ihre Entscheidungen „maßgeblich von unbewussten Motiven beeinflusst werden […].“226 Dies fällt allerdings nur auf, wenn bewusste Prozesse mit unbewussten Handlungsentscheidungen in Konflikt geraten, so dass man im Nachhinein den Eindruck hat, eine Handlung nicht gewollt zu haben.227 Häufig erfindet das bewusste Ich in einem

219 220 221 222 223 224 225 226 227

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 154. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 151. Singer: Selbsterfahrung, 154. Singer: Selbsterfahrung, 154. Singer: Selbsterfahrung, 154. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 157. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 126. Singer: Freiheitserfahrung, 126. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 157.

Der Wille und das Gehirn

solchen Fall aber auch Argumente, die eine unbewusst gefallene Entscheidung im Nachhinein rational begründen, so dass sie doch gewollt erscheint.228 Genaueres bezüglich des Verhältnisses bewusster und unbewusster Hirnprozesse sowie rationaler und emotionaler Einflüsse bei der Willensbildung erfährt man, wenn man Ausführungen von Roth hinzuzieht: Die Genese von bewussten, längerfristig wirksamen Handlungswünschen bzw. Handlungsabsichten – also das Treffen von Entscheidungen bzw. das Bilden eines Willens – ist offensichtlich nicht allein Sache des bewusstseinsfähigen präfrontalen und orbitofrontalen Cortex, in dem die Handlungsabsichten bewusst werden. Diese Cortexbereiche analysieren die äußerliche, sachliche Situation, d. h. äußere Antriebe, und generieren so kognitiv-rationale Handlungsmöglichkeiten.229 Hier sitzt gewissermaßen unsere Rationalität. Sie sind wichtig für eine detaillierte Analyse komplexer Situationen sowie für das Bedenken von Konsequenzen und Handlungsalternativen.230 Die verhandelten Variablen haben eine eher abstrakte Natur und können sehr komplex verknüpft werden.231 Diese Verstandesfunktionen des Cortex arbeiten laut Roth in gewisser Weise wie ein „Stab von Experten“232 , die dem Rest des Gehirns sagen: „Wenn du dies tust, dann wird dies wahrscheinlich diese Folgen haben, tust du jenes, dann wird das passieren usw. […]“233 Roth zu Folge sind die Aktivität und der Einfluss des Cortex aber auf verschiedene Weise begrenzt.234 1) Ob und in welchem Maße Menschen diesen Beraterstab überhaupt zu Rate ziehen – also unseren Verstand walten lassen und in ein rationales Abwägen eintreten – oder ob sie Entscheidungen rein intuitiv treffen, obliegt laut Roth nicht ihrem Willen, sondern hängt von ihrem Temperament, ihrer Persönlichkeit, ihrer Erziehung und ihrer bisherigen Erfahrung ab. 2) Welche Argumente Menschen beim rationalen Abwägen überhaupt zur Verfügung stehen und in den Sinn kommen, hängt von unbewussten Hirnzentren ab, über die sie keine willentliche Macht besitzen. 3) Letztlich motivieren nicht die logischen, rationalen Argumente als solche zu Handlungsabsichten, sondern die an Emotionen gebundene Vorstellung der hiermit verbundenen positiven oder negativen Konsequenzen. Diese Bewertung erfolgt weitgehend anhand der überwiegend unbewusst vorliegenden gesamten bisherigen Erfahrung eines Menschen. Auch wenn die positiven oder

228 229 230 231 232

Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 157. Vgl. Roth: Fühlen, 491. Vgl. Roth: Fühlen, 525. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 151. Roth: Fühlen, 527. Interessanter Weise vergleicht Dehaene die Aufgabe des Bewusstseins bzw. bewusster Hirnaktivitäten anders als Roth nicht mit einem Expertenstab sondern mit den leitenden Angestellten bzw. den Entscheidungsträgern einer großen Firma (vgl. Dehaene: Gerhirn, 135f.). 233 Roth: Fühlen, 527. 234 Vgl. zum ganzen Absatz: Roth: Fühlen, 526–528.

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negativen Gefühle ihm bewusst werden, liegt ihr Ursprung dennoch überwiegend im Unbewussten. 4) So wie ein Beraterstab letztlich keine Entscheidungen trifft, entscheidet laut Roth auch der Cortex nicht, sondern unbewusste Hirnzentren. Die relevanten unbewussten Hirnzentren, die in enger Verbindung zum präfrontalen und orbitofrontalen Cortex stehen und die genannten Aufgaben übernehmen, sind das limbische System, der Hippocampus als unbewusster Organisator des deklarativen Gedächtnisses und die Basalganglien.235 Limbisches System und Hippocampus bilden, wie bereits erwähnt, ein emotionales Erfahrungsgedächtnis.236 Dieses verbindet Wahrnehmungsinhalte, Erlebnisse und Erinnerungen mit Emotionen und Affekten und generiert so bewusste, emotional besetzte Handlungsmotive.237 Ebenso verbindet es die vom Cortex generierten kognitiv-rationalen Handlungsmöglichkeiten mit einer emotionalen Bewertung (ventrale Schleife, s. o.). Vorausgesetzt die emotionalen und affektiven Einflüsse sind nicht zu stark, kommt es vermutlich auf der Ebene des Cortex zu einem bewussten Abgleich bzw. einem Konflikt zwischen den verschiedenen Handlungsmotiven und Handlungsmöglichkeiten, währenddessen das emotionale Erfahrungsgedächtnis mehrfach befragt wird – Roth spricht von einem „Kreisprozess zwischen Großhirnrinde und subcorticalem limbischen System“238  – und an dessen Ende eine Handlungsabsicht, d. h. ein Wille, steht.239 Auch das letzte Wort bezüglich der Umsetzung des Willens hat dann wieder das unbewusst arbeitende limbische System, indem es die Ausschüttung von Dopamin in der Substantia nigra der Basalganglien kontrolliert (s. o.).240 Aus einem Willensakt folgt also wie bereits erwähnt nicht zwingend die gewollte Handlung.241 Nach Roths Einschätzung erscheinen uns in unserem alltäglichen Erleben unsere Entscheidungen umso freier, je mehr sie auf bewusstem, rationalem Abwägen beruhen und je mehr es uns gelingt, Affekte und Emotionen zurückzudrängen.242 Gemäß der in Kapitel 2 beschriebenen Phänomenologie der Willensfreiheit stellen Emotionen und Gefühle jedoch nur dann eine Einschränkung der Willensfreiheit dar, wenn sie nicht bewusst werden. Sind sie bewusst, können sie ebenso zu Gründen werden wie rationale Argumente, vorausgesetzt sie sind nicht so übermächtig, dass sie die Eigenschaften eines Zwangs haben. Die beschriebenen Annahmen der

235 236 237 238 239 240 241 242

Vgl. Roth: Fühlen, 490–492. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 13. Vgl. Roth: Fühlen, 491. Roth: Persönlichkeit (2019), 240. Vgl. Roth: Fühlen, 491. Vgl. Roth: Sicht (2009), 175. Vgl. Roth: Fühlen, 513. Vgl. Roth: Fühlen, 525.

Der Wille und das Gehirn

Hirnforschung bedeuten aber dennoch, dass auch unbewusste Gefühle und andere unbewusste Prozesse immer – egal wie lange ein Mensch über eine Entscheidung nachdenkt – einen starken Einfluss auf Entscheidungen haben. Der Mensch kann demnach zwar rational abwägen, aber nicht rational handeln.243 Roth erweckt durch die dargestellten Ausführungen den Eindruck, der Verstand sei bei der Entscheidungsfindung völlig abhängig von der Steuerung durch unbewusste Zentren.244 Auch die Stärke des Willens, mit der ein Mensch an Entscheidungen festhält, hängt seiner Auffassung nach von unbewussten Antrieben ab.245 Die Einschätzung des Neurowissenschaftlers Koch ist sogar noch radikaler: Er geht davon aus, dass schlicht alle kognitiven Prozesse – also auch das rationale Denken – unbewusst ablaufen,246 also vom Bewusstsein auch nicht kontrolliert werden können. Bewusst werde man sich – wenn überhaupt – nur der Repräsentationen von Gedanken.247 Wörtlich schreibt er: Der große, ununterbrochene Strom des Bewusstseins, der Ihr geistiges Leben ausmacht, ist nur eine Widerspiegelung Ihrer Gedanken, nicht die Gedanken selbst. […] Weder der Denkprozess noch sein Inhalt ist dem Bewusstsein zugänglich. Man ist sich seiner inneren Welt nicht direkt bewusst, wenn man auch die hartnäckige Illusion hat, dass dem so ist!248

Er meint, das Bewusstsein habe keinen „Zugang zu […] den Bereichen, wo verschiedene Handlungsabläufe erwogen, Entscheidungen getroffen und langfristige Ziele bewertet und aktualisiert werden.“249 Andere Hirnforscher:innen schätzen die Übermacht der Gefühle und des Unbewussten nicht ganz so groß ein wie Roth oder Koch. Sie gehen auf Grund von Experimenten davon aus, dass der präfrontale Cortex eine gewisse hemmende und kontrollierende Wirkung auf die Zentren des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses und auf den orbitofrontalen Cortex als deren Integrationsort ins Bewusstsein ausüben kann.250 Durch bewusste Rationalisierung von Wahrnehmungen können

243 Vgl. Hubert: Mensch, 52. 244 Besonders Roth: Fühlen, 526–528. 245 Vgl. Roth: Sicht (2015), 195. Roth schreibt hier: „Je stärker dieser limbische Antrieb, desto stärker der Wille!“ 246 Vgl. Koch: Bewusstsein, 330f. 247 Vgl. Koch: Bewusstsein, 331. 248 Koch: Bewusstsein, 324f. 249 Koch: Bewusstsein, 324. 250 Vgl. Hubert: Mensch, 58.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

die emotionalen Einflüsse zurückgedrängt werden.251 Auch Roth beschreibt diesen Sachverhalt an anderer Stelle.252 Ich komme darauf in Kapitel 3.5.3 zurück. Empirische Befunde legen jedenfalls die Annahme nahe, dass vernünftiges Handeln weder ohne die sinnvolle Integration von in unbewussten Gefühlen konzentrierter Erfahrung noch ohne Kontrolle dieser Emotionen möglich ist.253 Dies zeigen Beobachtungen an Patient:innen, die vermutlich auf Grund von Schädigungen im präfrontalen und orbitofrontalen Cortex die Einflüsse des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses nicht mehr kontrollieren und sinnvoll in ihr Entscheiden und Handeln integrieren können.254 Während intellektuelle, sprachliche und motorische Fähigkeiten erhalten bleiben, ist das Sozialverhalten der Betroffenen schwer beeinträchtigt.255 Sie reagieren beispielsweise als Kind nicht auf Bestrafungen, halten sich (auch im Erwachsenenalter) nicht an Regeln,256 sind unfähig aus Fehlern zu lernen oder können die Risiken ihres Verhaltens nicht abschätzen,257 vermutlich weil ihre Großhirnrinde keinen Zugang zu den unbewusst gespeicherten emotionalen Erfahrungen hat. Da andererseits vermutlich die Kontrolle des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses durch den präfrontalen Cortex gestört ist, reagieren Sie schnell unangemessen aggressiv und gewalttätig,258 neigen zu erhöhter Impulsivität und Ablenkbarkeit259 und zeigen einen Mangel an Empathie.260 Auch die neurologische Untersuchung von verurteilten Gewaltverbrecher:innen weist nach Auffassung einiger Hirnforscher:innen auf diesen Zusammenhang hin: In einer Untersuchung zeigten verurteilte Mörder:innen, die „im Affekt, also impulsiv, mit starker emotionaler Beteiligung getötet hatten“261 , in ihren frontalen Hirnregionen eine geringere Aktivität als normale Personen.262 In einer anderen Untersuchung zeigten sich bei verurteilten Gewaltverbrecher:innen signifikante Volumenverkleinerungen der grauen Substanz im präfrontalen Cortex.263 Der Zusammenhang ist aber nur im Rückblick feststellbar, denn nur ein Teil der Personen mit den genannten Hirnschäden entwickelt sich zu schweren Gewalttäter:innen,

251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263

Vgl. Hubert: Mensch, 58. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 16. Vgl. Roth: Perspektive, 180–182. Vgl. Roth: Gehirn, 212. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 12–14. Vgl. Hardegger: Willenssache, 30. Vgl. Roth: Gehirn, 211. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 15. Vgl. Roth: Gehirn, 221. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 15. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 16. Vgl. Hardegger: Willenssache, 30. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 16. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 15f. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 17.

Der Wille und das Gehirn

Psycho- oder Soziopath:innen.264 Außerdem kann Gewalttätigkeit auch andere Ursachen haben, denn es gibt auch Gewalttäter:innen, deren Funktion des Frontalhirns normal ist.265 Es gibt in der Hirnforschung noch weitere Annahmen über den Zusammenhang von Hirnphysiologie und gewalttätigem Verhalten, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann.266 Alle diese Ergebnisse zeigen, wie sehr der Wille und das Handeln des Menschen durch das Gehirn bestimmt werden. Nach Ansicht von Singer und Roth sind diese Ergebnisse ein starker Hinweis darauf, dass das Gehirn den Willen und das Handeln des Menschen – auch des Gesunden – determiniert. 3.2.4

Einflüsse von Genen und Umwelt

Das Wissen, dessen sich das Gehirn bei der Willensbildung bzw. der Entscheidungsfindung aber auch bei der Initiierung von Handlungen bedient, ist, so betont Singer, in der funktionellen Architektur des Gehirns enthalten.267 „Zu diesem Wissen zählt nicht nur, was über die Bedingungen der Welt gewusst wird, sondern auch das Regelwerk, nach dem dieses Wissen zur Strukturierung unserer Wahrnehmungen, Denkvorgänge, Entscheidungen und Handlungen verwertet wird.“268 Die funktionelle Architektur des Gehirns legt, weil sie das Wissen für Entscheidungsprozesse enthält, fest, wie Entscheidungsprozesse ablaufen.269 Das in der funktionellen Architektur gespeicherte Wissen ist laut Singer entweder angeboren oder erworben. Das angeborene Wissen ist in den Genen gespeichert und hat sich in der Evolution durch Versuch und Irrtum herausgebildet. Es legt einen Großteil der Grundverschaltungen des Gehirns fest.270 Das erworbene Wissen entwickelt sich durch die Erfahrungs- und Erziehungsprozesse, die ein Mensch bis zu seiner Pubertät durchmacht. Auch sie wirken sich auf die Architektur des Gehirns aus,271 indem Verbindungen zwischen Nervenzellen gekappt oder neu geknüpft werden.272 Vorgeburtlichen Einflüssen und Einflüssen in den ersten Lebensjahren kommt nach Singer der am meisten prägende Einfluss zu.273 Laut Roth 264 265 266 267 268 269 270

Vgl. Roth: Willensfreiheit, 17. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 16–18. Vgl. Strüber/Lück/Roth: Tatort, 12–19. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 152. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 127. Singer: Selbsterfahrung, 152. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 127. Vgl. Singer: Determinist View, 42. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 152. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 129. Vgl. Singer: Determinist View, 41. 271 Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 152. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 129. Vgl. Singer: Determinist View, 42. 272 Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 129. 273 Vgl. Hardegger: Willenssache, 24f.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

sind etwa 40–50 Prozent der Persönlichkeit genetisch determiniert, 30–40 Prozent sind durch Prägungsprozesse im Alter zwischen 0 und 5 Jahren bestimmt und nur etwa 20–30 Prozent der Persönlichkeitsstruktur werden durch spätere Erlebnisse und Erziehung beeinflusst.274 Aber auch nach Abschluss der Pubertät findet weiterhin ein lebenslanges Lernen statt, das das Gehirn strukturell verändert, indem es sich auf die Stärke von Verbindungen zwischen Nervenzellen auswirkt.275 Singer fasst zusammen: „Das seit Beginn der kulturellen Evolution zusätzlich erworbene Wissen über die Bedingungen der Welt, das Wissen um soziale Realitäten, findet also seinen Niederschlag in kulturspezifischen Ausprägungen der funktionellen Architektur der einzelnen Gehirne.“276 Von dieser funktionellen Architektur des Gehirns zusammen mit dem Aktivierungszustand des Gehirns kurz vor einer Entscheidung (der wiederum von auf das System einwirkenden Aktivitäten abhängig ist) wird nach Singers Auffassung der Wille determiniert.277 3.2.5

Das Ich – Urheber des Willens?

Wie bereits festgestellt wurde, ist der freie Wille stets dadurch charakterisiert, dass wir das Gefühl haben, wir seien es, die diesen Willen gebildet haben und besitzen, wir seien die Urheber:innen unseres Willens. Auch die Hirnforschung teilt diese Phänomenologie der Willensfreiheit. Auch Roth meint, es gehöre zu einer Willenshandlung, dass wir das Gefühl haben, wir seien es, die diese Handlung verursacht haben.278 Dieses Gefühl dürfte gleichbedeutend sein mit dem beschriebenen Ich-Bewusstseinszustand des Autorschafts- und Kontroll-Ichs. Es beruht aber nach Auffassung Roths und Singers auf einer Illusion. Denn wie wir gesehen haben, werden der Wille bzw. Entscheidungen angeblich überwiegend unbewusst, teils auch bewusst, aber unabhängig vom bewussten Ich durch das Gehirn erzeugt. Er ist laut Roth so etwas wie ein innerer Drang oder eine innere Aufforderung, etwas zu tun. Das Ich hat mit diesem Drang seiner Ansicht nach zunächst einmal nichts zu tun. Deshalb kann es passieren, dass wir Dinge tun, von denen wir im Nachhinein meinen, wir hätten sie nicht gewollt.279 Ebenso wie das Ich kein Konvergenzzentrum und keine „Kommandozentrale“280 des Bewusstseins darstellt, ist es also auch

274 275 276 277 278 279 280

Vgl. Roth: Fühlen, 411. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 130. Vgl. Singer: Determinist View, 42. Singer: Selbsterfahrung, 152. Vgl. Singer: Freiheitserfahrung, 134f. Vgl. Singer: Determinist View, 43. Vgl. zum ganzen Absatz: Roth: Fühlen, 514. Vgl. Roth: Fühlen, 395. Singer: Selbsterfahrung, 145.

Der Wille und das Gehirn

nicht für die Entstehung des Willens verantwortlich.281 Es besteht, wie erwähnt, aus verschiedenen Ich-Zuständen, die sich zu einer Einheit zusammenfügen und Bewusstseinszustände unter anderen sind. Roth bezeichnet es als das Zentrum einer virtuellen Welt, die wir als unsere Erlebniswelt erfahren und erläutert Folgendes zu seiner Genese:282 Diese erlebte Welt wird von unserem Gehirn in mühevoller Arbeit über viele Jahre hindurch konstruiert und besteht aus den Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühlen, Wünschen und Plänen, die unser Gehirn hat. Innerhalb dieser Welt bildet sich […] langsam ein Ich aus, das sich zunehmend als vermeintliches Zentrum der Wirklichkeit erfährt, indem es den Eindruck gewinnt, es ‚habe‘ Wahrnehmungen […], es sei Autor der eigenen Gedanken und Vorstellungen […], es bewege den Arm […], es besitze diese Körper, und so fort. Selbstverständlich ist dies eine Illusion, denn Wahrnehmungen, Gefühle, Intentionen und motorische Akte entstehen innerhalb der Individualentwicklung lange bevor das Ich entsteht.283

Erst wenn der Wille ins Bewusstsein tritt, verbindet er sich mit dem Ich-Bewusstsein. „Was ich erlebe, ist ein Nebeneinander von Ich-Gefühl und ‚innerem Drang’, die zu einer einzigen Instanz verschmolzen werden, obgleich sie bei genauer Analyse (mindestens) zwei unterschiedliche Zustände sind.“284 Diesen Verschmelzungsprozess bezeichnet Roth als „automatische Ich-Aneignung“285 . Ohne selbst Produzent dieser Zustände zu sein, eignet sich das Ich alle Bewusstseinszustände, d. h. Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen und eben auch den Willen, an.286 Auf diese Weise geschieht es auch, dass wir uns oft die Verursachung von Handlungen zuschreiben, obwohl ihnen kein Willensakt vorausging und sie

281 Diese Auffassung Singers und Roths teilt Prinz ausdrücklich nicht (vgl. Prinz: Selbst, 291). Er meint vielmehr, dass „das Selbst sich entwickelt, um der Funktion eines Urhebers von Handlungsentscheidungen zu dienen.“ (Prinz: Selbst, 291) Wirksamkeit kommt dem Selbst seines Erachtens jedoch nur dadurch zu, dass es subpersonal (also neuronal) realisiert ist (vgl. Prinz: Selbst, 299). Für die zu Grunde liegenden neuronalen Prozesse muss aber seines Erachtens wiederum ein durchgängiger Determinismus postuliert werden (vgl. Prinz: Selbst, 281). Echte Urheberschaft, die alternative Entscheidungsmöglichkeiten impliziert, ist unter diesen Voraussetzungen auch bei Prinz nicht möglich. 282 Vgl. Roth: Fühlen, 395. 283 Vgl. Roth: Fühlen, 395f. 284 Vgl. Roth: Fühlen, 514. 285 Roth: Fühlen, 514. 286 Vgl. Roth: Fühlen, 514.

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völlig automatisiert abgelaufen sind.287 Auch wenn Handlungen gar nicht ablaufen wie geplant, empfinden wir sie wegen der Ich-Aneignung häufig als gewollt.288 Für das Phänomen der Ich-Aneignung gibt es eine Reihe experimenteller Hinweise:289 In allen Experimenten geht es darum, dass Personen sich fälschlicherweise die Verursachung von Bewegungen oder Handlungen zuschreiben. Es ist beispielsweise möglich, Versuchspersonen unterschwellige oder maskierte, d. h. unbewusste, Reize darzubieten, die ihr Verhalten beeinflussen. Im Nachhinein beharren die Personen aber darauf, Ursache ihres Verhaltens sei allein ihr Wille gewesen. Unter dem Einfluss von Hypnose können Menschen dazu gebracht werden, nach dem ‚Aufwachen‘ aus der Hypnose seltsame Dinge zu tun. Obwohl ihr Verhalten offensichtlich andere Ursachen hat, suchen sie dann nach Erklärungen für ihr Verhalten, die sich auf eigene Intentionen berufen. In Hirnstimulationsexperimenten konnten bei Personen, denen wegen einer Hirnoperation die Großhirnrinde freigelegt werden musste, durch elektrische Reizungen der Hirnrinde Bewegungen hervorgerufen werden, die die Patient:innen sich selbst zuschrieben. Offensichtlich besteht geradezu ein Zwang zur Selbstzuschreibung oder wie Martin Hubert meint: Das Gehirn will ein Ich.290 3.2.5.1

Wie entsteht das Gefühl der Urheberschaft?

Was genau führt aber zur Ich-Aneignung des Willens und von Willenshandlungen? Wie entsteht das Gefühl der freien Urheberschaft nach Ansicht der Hirnforschung? Als einen Grund (1) nennen Roth und Singer die Tatsache, dass das Ich die Entstehung des Willens nicht bis zu seinen unbewussten Quellen zurückverfolgen kann.291 Deshalb würden die meisten der Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes und nicht etwas Anderes zu tun, dem Ich verborgen bleiben.292 Kann das bewusste Ich aber keine Ursachen außerhalb seiner selbst erkennen, geht es nach dem Ausschlussprinzip vor, nimmt an, dass der Wille von ihm stammt, d. h. allein auf seinen bewussten Abwägungen und seiner freien Urheberschaft beruht.293 Dazu wird es außerdem (2) laut Roth durch die zeitliche Abfolge von bewussten Wünschen, Absichten, Willenszuständen und Handlungen veranlasst.294 Denn die-

287 288 289 290 291 292 293 294

Vgl. Roth: Fühlen, 513. Vgl. Roth: Fühlen, 518. Vgl. zum ganzen Absatz: Roth: Fühlen, 514–518. Vgl. Hubert: Mensch, 121. Vgl. Roth: Fühlen, 514. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 149. Vgl. Roth: Fühlen, 514. Vgl. Roth: Fühlen, 517.

Der Wille und das Gehirn

se nötigt nach Erkenntnissen der Assoziationspsychologie dazu, Kausalbeziehungen zwischen diesen Ereignissen anzunehmen:295 Bewusste Wünsche und Absichten, so scheint es dem Ich, bewirken – zusammen mit der angenommenen freien Urheberschaft – den Willen und dieser verursacht eine Handlung. Eine ähnliche Voraussetzung für das Gefühl der Urheberschaft formuliert nach Angaben von Pauen der Sozialpsychologe Daniel Wegner:296 Vor der Handlung müsse erstens eine bewusste Intention auftreten und die ausgeführte Handlung müsse zweitens mit dieser Intention übereinstimmen. Mit als wichtigste Ursache für das Gefühl der Urheberschaft des eigenen Wollens und Handelns (3) werden von Singer, Prinz und Roth Sozialisationsprozesse bezeichnet.297 Eine Voraussetzung dafür, dass Sozialisationsprozesse das Gefühl der Urheberschaft hervorrufen können, ist nach Singer vermutlich die Fähigkeit, eine ‚Theorie des Geistes‘ aufzubauen, zu sein.298 Dies bedeutet, eine Vorstellung davon zu haben, was eine andere Person denkt, weiß oder empfindet.299 Durch diese Fähigkeit, die möglicherweise mit Ausnahme der großen Menschenaffen nur der Mensch besitzt, kann sich eine Person in der Wahrnehmung einer anderen Person spiegeln.300 Ist die Fähigkeit zu einer Theorie des Geistes geben, lässt sich die Urheberschaft als Konstrukt sozialer Zuschreibungen erklären, meint Prinz:301 Im Alltag unterstellen sich Menschen gegenseitig, dass sie Bewusstsein und Subjektivität haben, dass sie Personen sind, deren Kern ein über die Zeit identisches Selbst bildet, und sie schreiben sich gegenseitig bestimmte Intentionen und die Verantwortung, d. h. die Urheberschaft für ihre Handlungen zu.302 In elementarster Weise vollziehen sich solche „Attributionsdiskurse“303 auch ohne Sprache, komplexer werden die vermittelten Inhalte, wenn sie an sprachliche Kommunikation gebunden sind.304 Die wechselseitige Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen hält laut Prinz durch diese Unterstellung für jede:n Teilnehmer:in eine „selbstförmige Rolle“305 bereit. Durch die Fähigkeit zur Theorie des Geistes oder eben schlicht durch sprachliche Kommunikation ist es dem:der Teilnehmer:in möglich, diese Fremd-

295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305

Vgl. Roth: Fühlen, 517. Vgl. Pauen: Illusion, 211. Vgl. Prinz: Kritik, 203f. Vgl. Roth: Fühlen, 517. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 147–149. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 148. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 148. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 148. Vgl. Prinz: Kritik, 203. Vgl. Prinz: Kritik, 203. Prinz: Kritik, 203. Vgl. Prinz: Kritik, 203. Prinz: Kritik, 203.

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zuschreibung wahrzunehmen und indem er sich so immer wieder im Spiegel der anderen wahrnimmt, wird die Fremdzuschreibung zur Selbstzuschreibung.306 Mit dieser Theorie steht Prinz, wie sich noch zeigen wird, in großer Nähe zu Habermas, der ebenfalls davon ausgeht, dass die Entstehung des Selbst und auch die Willensfreiheit das Ergebnis einer sozialen Interaktion ist.307 Bei Prinz verbindet sich allerdings im Gegensatz zu Habermas der psychologische Konstruktivismus mit einem Reduktionismus, der den in der Interaktion entstandenen, „künstlich erzeugte[n] Realität[en]“308 die kausale Eigenwirksamkeit abspricht und deshalb Willensfreiheit zur Illusion erklären muss.309 Die Aneignung der Fremdzuschreibung vollzieht sich nach Auffassung von Singer und Roth bereits in der frühen Kindheit.310 Indem die Eltern ihrem Kind bestimmte Handlungen zuschreiben und es z. B. für diese loben oder schelten, konstituiert sich im Kind das Autorschafts- und Kontroll-Ich und es lernt: „Da gibt es jemand, der ein Ich ist, und der veranlasst Handlungen!“311 Auf Grund der frühkindlichen Amnesie (vgl. Kapitel 3.1.3) kann dieser Lernprozess später nicht mehr erinnert werden.312 Die Erfahrung, dass wir die Urheber:innen unseres Wollens und Handelns sind, ist deshalb laut Singer wesentlich unerschütterlicher als andere später erlernte soziale Realitäten, deren Lernprozesse wir erinnern.313 3.2.5.2

Was ist die Funktion des Gefühls der Urheberschaft?

Welchen evolutionären Sinn haben dann das Ich und insbesondere das Autorschaftsund Kontroll-Ich, welches uns die freie Urheberschaft unseres Willens und unserer Handlungen suggeriert, überhaupt? Warum gibt es das Gefühl der Willensfreiheit, wenn unser Wille eigentlich durch unser Gehirn bestimmt wird? Das Autorschaftsund Kontroll-Ich ist zwar insofern eine Täuschung, als das Ich nicht der Produzent des Willens und der Handlungen ist, aber dass das Ich nicht völlig wirkungslos ist, zeigt sich am Beispiel schizophrener Menschen, die unter dem Verlust der Einheit des Ich leiden und als Folge davon Verhaltensstörungen zeigen.314 Es kann auch

306 307 308 309 310 311 312 313 314

Vgl. Prinz: Kritik 203. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 318f. Habermas: Sprachspiel, 319. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 319. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 149f. Vgl. Roth: Fühlen, 517. Roth: Fühlen, 517. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 150. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 149. Vgl. Hubert: Mensch, 117.

Schlussfolgerungen bezüglich der Willensfreiheit

deshalb nicht wirkungslos sein, weil es, wie Prinz betont, durch neuronale Prozesse entsteht und realisiert wird.315 (1) Das Ich erfüllt, wie Roth meint, zum einen die Funktion, die Erlebniseinheit des Bewusstseins herzustellen.316 Die Einheit von Bewusstsein und Verhalten über die Zeit hinweg, welche die Identität eines Menschen bildet, sei notwendig für das Leben und Überleben in einer komplexen Umwelt.317 (2) Das Autorschaftsund Kontroll-Ich, also das Gefühl, Urheber:in des eigenen Willens zu sein und Handlungen selbst verursacht zu haben, hat nach Roth die Funktion, den Willen auf eine einmal gefasste Handlungsabsicht zu ‚fokussieren‘ und macht es möglich, Handlungen effektiv zu steuern.318 Einen gewissen Einfluss auf den Willen schreibt Roth dem bewussten Ich also schon zu – wenn auch keinen Einfluss auf die Willensbildung. (3) Schließlich meint Roth, komme dem Gefühl der Urheberschaft eine wichtige Rolle in der sozialen Kommunikation zu.319 Handlungen würden nach sozial akzeptablen Erklärungen verlangen.320 Die Mitteilbarkeit von Motiven, Wünschen, Absichten und Gründen ermöglicht die Interpretation, Legitimation, Bewertung und Sanktionierung von Handlungen.321 Diese Aufgabe, die „unabdingbare Voraussetzung für die Organisation unserer Gesellschaft“322 ist und zur „Entwicklung und Stabilisierung sozialer Systeme beigetragen“323 hat, erfüllt das Ich „und zwar gleichgültig, ob die gelieferten Erklärungen auch den Tatsachen entsprechen“324 .

3.3

Schlussfolgerungen bezüglich der Willensfreiheit

Aus den beschriebenen Erkenntnissen der Hirnforschung lassen sich zwei unterschiedliche Argumentationslinien herausfiltern, die unabhängig voneinander der Möglichkeit von Willensfreiheit, wie sie in Kapitel 2 beschrieben wird, widersprechen. Argumentation 1: Sowohl der Wille als auch Willkürhandlungen von Personen werden nach den beschriebenen Erkenntnissen der Hirnforschung in erster Linie

315 316 317 318 319 320 321 322 323 324

Vgl. Prinz: Mensch, 24. Vgl. Roth: Fühlen, 396. Vgl. Roth: Fühlen, 528. Vgl. Roth: Fühlen, 396. Vgl. Roth: Fühlen, 517. Vgl. Roth: Fühlen, 517. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 157f. Vgl. Roth: Fühlen, 517 und 528f. Roth: Fühlen, 529. Singer: Selbsterfahrung, 157f. Roth: Fühlen, 529.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

von unbewussten Hirnprozessen determiniert und hervorgerufen.325 Auch bei Handlungen, die von den sie ausführenden Personen als gewollt empfunden werden, spielt der bewusste Wille oft (oder, wie Koch meint, immer) nicht die entscheidende Rolle.326 Diese Auffassung wird besonders in den Ausführungen Roths nahe gelegt. Er schreibt: „Unsere bewussten Wünsche und Absichten und unser Wille stehen unter Kontrolle des unbewussten, limbischen Erfahrungsgedächtnisses […].“327 Konsequent schlussfolgert er: Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ‚perfiderweise‘ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht. […] Das Ich ist unerlässlich für komplexe Handlungsplanung, es wägt ab, erteilt Ratschläge, aber es entscheidet nichts […].328

Zusammenfassend sprechen für diese These die folgenden der oben beschriebenen empirischen Ergebnisse und ihre Interpretation: (1) Bei der Willensbildung und Handlungssteuerung arbeiten zwar bewusste und unbewusste Prozesse zusammen, das Bewusstsein hat aber eine sehr begrenzte Kapazität (vgl. Kapitel 3.1.2.3).329 Singer vermutet, dass die Zahl der bei der Willensbildung im Unbewussten verarbeiteten, relevanten Variablen größer sein könnte als die bewusst überschauten.330 Welche Argumente einer Person überhaupt beim bewussten Abwägen zur Verfügung stehen, wird nach Roth von unbewussten Hirnzentren bestimmt, über welche die Person keine willentliche Kontrolle hat.331 Die Bewertung dieser Argumente erfolgt seiner Ansicht nach nicht logisch und rational – auch dann nicht, wenn sie der Person rein rational erscheinen – sondern wird durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis bestimmt, dessen emotionale Einflüsse uns zwar teilweise bewusst werden können, unsere Motivation aber überwiegend unbewusst beeinflussen (vgl. Kapitel 3.2.3).332 Die letzte Entscheidung über die Ausführung einer Handlung obliegt nach Erkenntnissen der Hirnforschung wiederum unbewussten Hirnzentren, nämlich den Basalganglien und dem limbischen System (vgl. Kapitel 3.2.2). Ist eine geplante Handlung auf unbewusster Ebene emotional nicht akzeptabel, so wird ihre Ausführung durch diese Zentren blockiert.

325 326 327 328 329 330 331 332

Vgl. Roth: Fühlen, 530. Vgl. Roth: Gehirn, 310. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 157. Roth: Fühlen, 553. Roth: Sicht (2003), 180. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 151. Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 151. Vgl. Roth: Fühlen, 526. Vgl. Pauen: Illusion, 220.

Schlussfolgerungen bezüglich der Willensfreiheit

(2) Das Libet-Experiment zeigt aus Sicht der Hirnforschung: Der bewusste Wille bzw. die Entscheidung jetzt etwas tun zu wollen, tritt auf, nachdem im Gehirn die unbewusste Entscheidung getroffen wurde, „[…] ob etwas jetzt und in einer bestimmten Weise getan werden soll“333 . Der bewusste Wille scheint hier also die kausale Folge einer unbewussten Entscheidung zu sein. Da er zeitlich nach der Entscheidung auftritt, kann er für diese nur kausal irrelevant sein.334 Roth nimmt zudem an, dass der bei Libet untersuchte bewusste Wille auch für die Ausführung der Handlung irrelevant ist. Er schreibt: „Das Gefühl des Willensentschlusses ist nicht die eigentliche Ursache für eine Handlung, sondern eine Begleitempfindung […].“335 (3) Beobachtungen an Personen, die auf Grund von Veränderungen oder Schäden im präfrontalen und orbitofrontalen Cortex die unbewussten Inhalte ihres emotionalen Erfahrungsgedächtnisses nicht mehr in ihre Willensbildung integrieren können, zeigen, dass diese Personen ein stark von der Norm abweichendes, pathologisches Verhalten an den Tag legen. Dies weist nach Ansicht von Roth darauf hin, dass die Einflüsse des unbewussten emotionalen Erfahrungsgedächtnisses unser Entscheiden und Handeln erheblich beeinflussen (vgl. Kapitel 3.2.3). (4) Andere Experimente zeigen, dass Personen durch unbewusste Reize oder Beeinflussung dazu gebracht werden können, Handlungen zu vollziehen, die sie fälschlicherweise als durch ihren Willen verursacht erleben (vgl. Kapitel 3.2.5). Sie schreiben sich also die Urheberschaft für Handlungen zu, die sie tatsächlich gar nicht selbst verursacht haben.336 Dies ist in den Augen vieler Hirnforscher:innen erstens ein weiterer Hinweis auf die kausale Irrelevanz bewusster Entscheidungen für das Handeln von Personen.337 Zweitens weisen diese Ergebnisse gemäß der Interpretation Roths und mancher Psycholog:innen darauf hin, dass es sich bei der Annahme der Urheberschaft grundsätzlich um einen Irrtum handeln könnte.338 Als Ursache für diese systematische Täuschung wird ein „Zwang zur Selbstzuschreibung“339 bzw. eine „automatische Ich-Aneignung“340 angenommen. Dies bedeutet, dass, nachdem eine Entscheidung unbewusst gefallen ist und die Handlung von diesen unbewussten Ursachen gesteuert vollzogen wurde, eine Kausa-

333 334 335 336 337 338 339 340

Roth: Fühlen, 531. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 95. Roth: Gehirn, 309. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 110. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 107. Vgl. Pauen: Illusion, 209–211. Vgl. Roth: Fühlen, 513–515. Roth: Fühlen, 518. Roth: Fühlen, 514.

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lattribution stattfindet, „[…] die keineswegs die tatsächlichen Kausalpfade […] widerspiegelt“341 . (5) Aus den unter (1), (2) und (3) genannten Erkenntnissen und der Feststellung, dass sich das Bewusstsein mitsamt dem Ich-Bewusstsein und dem Bewusstsein des Willens aus verschiedenen einzelnen Bewusstseinszuständen zusammensetzt, folgert Roth, dass, selbst wenn bewusste Hirnprozesse Einfluss auf den Willensbildungsprozess nähmen, das bewusste Ich keinen Einfluss auf diesen Prozess haben könne. Der Wille sei ein innerer Drang, der unabhängig vom Ich durch das Gehirn produziert werde (vgl. Kapitel 3.2.5). Roth meint: „Dieses Selbst hat vielerlei Funktionen […] aber eine Funktion hat es gewiss nicht, nämlich Handlungen zu entscheiden und zu steuern, zumindest nicht, was die bewussten Anteile des Ich betrifft.“342 Dieses Argument der Hirnforschung widerspricht dem Prinzip der Urheberschaft, das als eine Grundbedingung der Willensfreiheit definiert wurde (vgl. Kapitel 2.1). Wird der Prozess der Willensbildung bzw. der Entscheidungsfindung weitgehend von unbewussten Faktoren determiniert, so bedeutet dies, dass er nicht der Kontrolle der Person unterliegt und somit auch nicht durch die Person bestimmt ist. Selbst wenn in der Welt der natürlichen Dinge kein Determinismus herrscht, kann der Wille nicht frei sein, denn, ist er nicht deterministisch bestimmt, so ist er vom Zufall oder anderen Ursachen, die nicht der willentlichen Kontrolle der entscheidenden Person unterliegen, bedingt. Die einzige mit Willensfreiheit vereinbare Bestimmtheit des Willens, nämlich die Bestimmtheit durch Gründe,343 ist nur möglich, wenn das Bewusstsein entscheidenden Einfluss auf den Willen hat, denn nur im Bewusstsein finden sich Gründe (vgl. Kapitel 2.2). Außerhalb des Bewusstseins finden sich nur determinierte oder zufällige Ursachen. Argumentation 2: Das zweite Argument lautet, dass es Willensfreiheit – unabhängig davon, ob bewusste oder unbewusste Faktoren die ausschlaggebenden sind – nicht geben könne, weil alles Wollen und Handeln des Menschen durch das Gehirn und naturgesetzlich ablaufende Gehirnprozesse determiniert sei.344 Das Gehirn wiederum sei durch die genetischen Anlagen sowie vor- und nachgeburtliche Erfahrungen determiniert.345 Diese legen zusammen mit aktuellen Reizen und dem durch sie hervorgerufenen aktuellen Erregungszustand des Gehirns den Willen fest. Diese Ansicht wird besonders prägnant von Singer vertreten. Singer schreibt über das Zustandekommen von Entscheidungen:

341 342 343 344 345

Walde: Willensfreiheit, 110. (Hervorhebung im Original) Roth: Fühlen, 534. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 284. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 19. Vgl. Markowitsch: Willen, 163.

Schlussfolgerungen bezüglich der Willensfreiheit

Genetische Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Befehle, Wünsche und Argumente anderer zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen mehr unbewussten oder bewussten Motiven verdanken.346

Er meint: „Bei all dem begleitet uns das Gefühl, dass wir es sind, die diesen Prozess kontrollieren. Dies aber ist mit den deterministischen Gesetzen, die in der dinglichen Welt herrschen, nicht kompatibel.“347 Er spricht von „deterministischen Naturgesetzen“348 , die neuronale Prozesse bestimmen, und von „deterministischen neuronalen Prozessen“349 . Roth schränkt zwar ein, die Frage, ob es in unserer Welt vollständig deterministisch zugehe, sei sowohl in der Philosophie als auch in den Naturwissenschaften eine offene Frage,350 man habe aber nirgendwo im Gehirn etwas entdecken können, was den Naturgesetzen widerspreche.351 Auch mögliche zufällige Schwankungen auf quantenphysikalischer Ebene,352 bei der Exozytose von Transmittervesikeln an Synapsen oder bei Prozessen an der Nervenzellmembran, die zum Entstehen eines Aktionspotentials führen, sind nach Roths Ansicht kein Einwand gegen den Determinismus, da er davon ausgeht, dass sich diese „stochastischen Prozesse“353 auf der molekularen und zellulären Ebene des neuronalen Geschehens ausmitteln.354 Sofern es nicht gelinge nachzuweisen, dass im Gehirn indeterministische Prozesse stattfinden oder der freie Wille lenkend eingreife, könne man, so meint Roth, die Frage, ob das menschliche Gehirn tatsächlich deterministisch arbeitet oder nicht, getrost beiseitelegen.355 Dass ein solcher Nachweis nicht gelingen kann, scheint für ihn eine ausgemachte Sache zu sein. Stattdessen geht er von einem sogenannten

346 347 348 349 350 351 352 353 354 355

Singer: Selbsterfahrung, 158. Singer: Selbsterfahrung, 139. Singer: Selbsterfahrung, 150. Singer: Selbsterfahrung, 156. Vgl. Roth: Fühlen, 504. Vgl. Roth: Fühlen, 505. Vgl. Roth: Sicht (2003), 170. Roth: Fühlen, 510. Vgl. Roth: Fühlen, 510. Vgl. Roth: Fühlen, 511. Auf Grund des nicht völlig ausschließbaren Einflusses zufälliger Ereignisse im Gehirn bezeichnet Roth die Vorgänge im Gehirn als ‚quasideterministisch‘ (vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 110.).

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„Motiv-Determinismus“356 aus. Damit ist gemeint, dass bewusste und unbewusste Motive zusammen Entscheidungen festlegen.357 Für die Annahme, dass im menschlichen Gehirn alles „‚mit rechten Dingen‘“358 zugeht, d. h. nach deterministischen Naturgesetzen abläuft, sprechen in den Augen der drei Hirnforscher alle oben beschriebenen Erkenntnisse der Hirnforschung. Ein schon implizit genanntes Argument soll hier noch einmal besonders hervorgehoben und ein anderes ergänzt werden: (1) Singer betont zum einen, eine Unterscheidung zwischen unbewussten Hirnprozessen, die als unfrei betrachtet werden, und bewussten Hirnprozessen, die dem freien Willen unterworfen sind, sei unplausibel, da beide durch neuronale Prozesse realisiert würden, die deterministischen Naturgesetzen unterlägen.359 (2) Zum anderen beruft sich Singer auf das Argument der evolutionsbiologischen Kontinuität. Die Evolutionsbiologie könne in der Entwicklung von tierischen zu menschlichen Gehirnen keine Anhaltspunkte für Diskontinuitäten oder Entwicklungssprünge feststellen. Die Unterschiede zwischen menschlichen und tierischen Gehirnen seien nicht qualitativer Art sondern bestünden allein in der quantitativen Ausdifferenzierung der Großhirnrinde. Die Feinstruktur und die Verarbeitungsalgorithmen der Großhirnrinde seien aber gleich geblieben. Da wir aber, was tierische Gehirne betrifft, keinen Anlass hätten, „[…] zu bezweifeln, dass alles Verhalten auf Hirnfunktionen beruht und somit den deterministischen Gesetzen physiko-chemischer Prozesse unterworfen ist, […]“360 müsse die Behauptung der materiellen Bedingtheit von Verhalten auch auf den Menschen zutreffen.361 Sollten die Thesen der drei Hirnforscher bezüglich der Determiniertheit des menschlichen Verhaltens durch das Gehirn zutreffen, würde dies dem Prinzip des Andershandelnkönnens bzw. Andersentscheidenkönnens widersprechen und konsequenterweise könnte auch nicht mehr von Urheberschaft die Rede sein. Nicht mehr

356 Roth: Evolution, 149. Roth: Sicht (2015), 198. Roth: Willensfreiheit, Physik, 165. Bemerkenswert ist, dass Roth anders als beispielsweise Singer Bewusstseinszustände nicht mit neuronalen Zuständen identifiziert (vgl. Roth: Gehirn, 331. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 279) und ihnen zudem ebenfalls anders als Singer eine kausale Wirkung zuschreibt, die nicht auf die kausale Wirkung der korrelierten neuronalen Zustände reduziert werden kann (vgl. Roth: Sicht (2003), 136. Roth/Strüber: Gehirn, 279). Ich werde darauf in Kapitel 4.7.4 zurückkommen. Weil er aber sowohl die neuronalen Zustände als auch die Bewusstseinsvorgänge (vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270) für determiniert hält, sieht er libertarische Willensfreiheit dennoch als unmöglich an. Die Frage, wie Bewusstseinsvorgänge noch eine Wirkung im Gehirn haben sollen, wenn das Gehirn deterministisch arbeitet, beantwortet Roth allerdings in diesem Zusammenhang nicht. 357 Vgl. Roth: Evolution, 149. 358 Singer: Menschenbild, 26. 359 Vgl. Singer: Selbsterfahrung, 150. 360 Singer: Selbsterfahrung, 140. 361 Vgl. Singer: Selbsterfahrug, 140–142.

Konsequenzen

das freie Subjekt wäre Urheber seiner Entscheidungen, die Entscheidungen wären vielmehr determiniert durch ein Naturgeschehen, das durch die Abwägungsprozesse des Einzelnen hindurch greift. Die Gründe einer Person wären also nur ein Teil der handlungsbestimmenden Determinanten und von Ursachen nicht mehr zu unterscheiden. Um es in den Worten Singers zu sagen: Sollte der Determinismus zutreffen, müsste man festhalten: „Keiner kann anders als er ist.“362

3.4

Konsequenzen

Welche Konsequenzen ihrer Thesen bedenken die drei Hirnforscher? Roth vertrat über Jahre hinweg die Ansicht, die Ergebnisse der Hirnforschung zwängen dazu, auf den Begriff der persönlichen Schuld zu verzichten, weil der Mensch in seinem Wollen, Entscheiden und Handeln nicht frei sei.363 Niemand sei im moralischen Sinne für das verantwortlich, was sein:ihr Gehirn tue, und niemand habe die Möglichkeit anders zu handeln, als er:sie es faktisch tue.364 Entgegen des Grundsatzes der deutschen und kontinentaleuropäischen Strafrechtstheorie, dass es keine Strafe ohne Schuld geben kann,365 war Roth allerdings der Meinung, die Gesellschaft solle an der Praxis der Bestrafung von Verletzungen gesellschaftlicher Normen festhalten.366 Einzige Legitimation für die Praxis des Strafens ist seiner Ansicht nach die Idee der General- und Spezialprävention.367 Spezialprävention bedeutet, dass Täter:innen gebessert oder von weiteren Taten abgeschreckt werden soll, Generalprävention, dass andere Mitglieder der Gesellschaft von Normverletzungen abgeschreckt werden sollen und dass die Gesellschaft vor gefährlichen und nicht besserungsfähigen Straftäter:innen geschützt werden muss.368 Legitimation des Strafens ist also allein die gesellschaftliche Notwendigkeit, allgemeingültige Normen aufrechtzuerhalten. Auch Singer vertritt diese Auffassung: Er legt nahe, man dürfe Straftäter:innen nicht verurteilen, sondern müsse sie vielmehr wie psychisch Kranke als Opfer betrachten.369 Die Strafpraxis will er aus den gleichen Gründen aufrechterhalten, die sich bei Roth finden.370 Möchte das Strafrecht eine Kompatibilität mit wissenschaft-

362 363 364 365 366 367 368 369 370

Singer: Selbsterfahrung, 159. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 17f. Vgl. Roth: Fühlen, 531–533. Vgl. Roth: Sicht (2003), 180f. Vgl. Roth: Sicht (2003), 180f. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 134. Vgl. Roth: Fühlen, 541. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 18. Vgl. Roth: Willensfreiheit, 18. Vgl. Singer: Menschenbild, 33. Vgl. Singer: Menschenbild, 33f.

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lichen Erkenntnissen erreichen, so bedeutet dies auch in den Augen von Prinz, dass es eines Strafrechts bedarf, das nicht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip beruht.371 Es spricht aber seiner Meinung nach auch nichts dagegen, dass „Gesellschaftsspiel“372 der Verantwortungszuschreibung und somit auch das bestehende Strafrecht beizubehalten, wenn man „[…] die Inkompatibilität der alltagspsychologischen Intuitionen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse aushalten […]“373 könne. Staatliche Eingriffe sind aber immer legitimations- und rechtfertigungsbedürftig, erst recht, wenn es wie bei der Verhängung von Haftstrafen um eine massive Einschränkung der Freiheitsrechte der Betroffenen geht.374 Insofern können empirische Ergebnisse nicht mit dem Einwand für irrelevant erklärt werden, es handele sich schlicht um normative Setzungen, die keiner Begründung bedürfen.375 Deshalb stimmt auch Habermas der Schlussfolgerung von Roth und Singer zu, dass – sollte der Determinismus zutreffen – eine Revision des Strafrechts in der oben beschriebenen Weise unumgänglich wäre.376 Seit einiger Zeit hat Roth als Resultat seiner Zusammenarbeit mit dem Philosophen Pauen seine Interpretation der Erkenntnisse der Hirnforschung leicht abgewandelt und auch seine Ansicht bezüglich der Zurechenbarkeit von persönlicher Schuld geändert.377 Er vertritt seitdem eine kompatibilistische, d. h. mit dem Determinismus vereinbare Auffassung von Willensfreiheit, mit deren Inkohärenzen sich die vorliegende Arbeit in Kapitel 4.3 befasst.378 Die Möglichkeit libertarischer Willensfreiheit bestreitet er weiterhin.

3.5

Kritik

Den beschriebenen Thesen der drei Hirnforscher schlägt von vielen Seiten Kritik entgegen. Bevor diese Arbeit sich jedoch den philosophischen Voraussetzungen und Kritikpunkten an den Ergebnissen der Hirnforschung zuwendet, soll es hier zunächst um die Frage gehen, ob die empirischen Ergebnisse der Hirnforschung 371 372 373 374 375 376 377 378

Vgl. Prinz: Mensch, 26. Prinz: Freiheit, 100. Prinz: Mensch, 26. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 140. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 140. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 293. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 26–28 und 141–143. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 32–36, besonders 36 und 141f. Roth vertritt seit seiner Zusammenarbeit mit Pauen eine kompatibilistische Position, die eine Schuldzuschreibung ermöglicht, wenn die Beweggründe, aus denen heraus eine Person eine Entscheidung trifft, persönliche Präferenzen sind, die die Person aufgeben kann, wenn sie will. Er nimmt an, dass wesentlich seltener Schuld vorliegt, als angenommen und lehnt einen inkompatibilistischen Schuldbegriff ab.

Kritik

tatsächlich eine Grundlage für die weit reichenden Schlussfolgerungen von Roth, Singer und Prinz bieten und ob diese Schlussfolgerungen methodisch gerechtfertigt sind. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Libet-Experiment gelten, da dieses eine Schlüsselrolle in der Debatte um die Willensfreiheit einnimmt,379 es aber andererseits von zahlreichen Autor:innen kritisiert wird. Es wird sich zeigen, dass viele der beschriebenen Hypothesen der drei Hirnforscher auf der Überinterpretation und unzulässigen Extrapolation der empirischen Ergebnisse beruhen. Ob sich die Thesen auf der naturwissenschaftlichen Ebene gänzlich von der Hand weisen lassen, wird zu prüfen sein. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Argumente, obwohl es sich um Kritik im Bereich von Methodik und Schlussfolgerungen auf naturwissenschaftlicher Ebene handelt, überwiegend von Philosoph:innen stammen. 3.5.1

Das Libet-Experiment

(1) Wird überhaupt eine Entscheidung gemessen? Ein erster Kritikpunkt des LibetExperiments, aber auch des Experiments von Haggard und Eimer, knüpft an die Einschränkung Libets an, dass die Schlussfolgerungen seines Experiments möglicherweise nicht für komplexe Handlungen gelten, denen bewusste Überlegungen vorausgehen (vgl. Kapitel 3.2.1). Diese Auffassung wird auch von Walde geteilt.380 Roth selbst meint, dass das Experiment nur im Hinblick auf „kurzfristige[n] Entscheidungsprozesse“381 eine Aussagekraft hat. Tatsächlich ist die Entscheidungssituation der Experimente vermutlich mit einer komplexeren Entscheidung verbunden: Der Entscheidung der Versuchspersonen, überhaupt an den Experimenten teilzunehmen, dürfte eine bewusste Überlegung vorausgegangen sein. Dementsprechend weisen verschiedene Autor:innen darauf hin, die eigentliche Entscheidung in diesem Experiment sei bereits getroffen worden, als die Versuchspersonen sich entschieden hätten, an dem Experiment teilzunehmen.382 Da der Handlungsplan schon zu diesem Zeitpunkt erstellt worden sein könnte,383 käme dem letzten Willensruck dann nur die Rolle eines Exekutivaktes zu, der mit einer Willensentscheidung nichts zu tun hat oder nur eine kleine Teilentscheidung darstellt.384 Das Bereitschaftspotential könnte dann als eine Voraktivierung in Folge der bewussten Entscheidung verstanden werden.385

379 380 381 382

Vgl. Hardegger: Willenssache, 157. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 97f. Roth: Sicht (2015), 194. Vgl. Helmrich: Kritik, 94. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 174. Vgl. Pauen: Illusion, 202. Habermas: Freiheit, 158f. 383 Vgl. Habermas: Freiheit, 158f. 384 Vgl. Helmrich: Kritik, 94. 385 Vgl. Helmrich: Kritik, 94.

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Für diese Auffassung spricht auch, dass sich der Entscheidungsspielraum während des Experiments darauf beschränkte, innerhalb eines Zeitraumes von wenigen Sekunden zu bestimmen, wann die Bewegung ausgeführt wird.386 Bei wirklich freien Entscheidungen würde man jedoch üblicherweise erwarten, dass es sich um Prozesse handelt, die eine gewisse Dauer haben, da sie auf bewussten Abwägungen beruhen.387 Echte Entscheidungen fallen in den meisten Fällen nicht innerhalb von wenigen Sekunden.388 Darüber hinaus wurden die Versuchspersonen aufgefordert, die Bewegung spontan und ohne Vorausplanung (vgl. Kapitel 3.2.1) auszuführen „at any time the desire, urge, decision or will should arise in them“389 und diesen Moment als den Augenblick der Entscheidung anzugeben. Wirkliche Entscheidungen werden aber oft nicht spontan und auch nicht ohne Vorausplanung getroffen. Außerdem besteht ein eklatanter Unterschied zwischen einem Drang (urge) und einer Entscheidung (decision).390 Wenn die Versuchsperson sich einem Drang überlässt, so deutet dies darauf hin, dass sie den Zeitpunkt der Bewegung gerade nicht frei wählt.391 Sie verhält sich passiv gegenüber Einflüssen, die nicht ihrer Kontrolle unterliegen, wohingegen Entscheidungen Aktivität verlangen: „Entscheidungen kommen nicht über uns, sondern wir bestimmen sie.“392 Der Philosoph Geert Keil betont: „Freiheit, an der uns gelegen sein sollte, ist nicht das Auftreten erratischer Willkürbewegungen oder das Zulassen derselben, sondern die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung im Handeln.“393 Die genannten Argumente treffen im Prinzip auch auf die Experimente von Haggard und Eimer zu. Man könnte jedoch immerhin meinen, dass in dem verbesserten Experiment von Haggard und Eimer eher eine wirkliche Entscheidung gemessen wurde, weil die Versuchspersonen dort nicht nur den Zeitpunkt der Bewegung bestimmen können, sondern auch zwischen zwei verschiedenen Bewegungen wählen können.394 Hiergegen wenden jedoch verschiedene Autor:innen ein, dass sowohl bei Libet als auch bei Haggard und Eimer den künstlich erzeugten Entscheidungssituationen genau das fehle, was normalerweise Handlungsentscheidungen ausmacht, nämlich der interne Zusammenhang mit Gründen.395 Ein Versuchsdesign, das eine Entscheidung aus dem Kontext von begründeten Alternativen und praktischen

386 387 388 389 390 391 392 393 394 395

Vgl. Helmrich,: Kritik, 94. Vgl. Pauen: Illusion, 202. Vgl. Pauen: Illusion, 202. Vgl. Libet: Initiative, 530. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 172. Vgl. Pauen: Illusion, 200f. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 172. Pauen: Illusion, 201. Keil: Willensfreiheit, 172. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 172f. Vgl. Pauen: Illusion, 201. Vgl. Habermas: Freiheit, 159. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 172f.

Kritik

Überlegungen in Bezug auf weiterreichende Ziele herauslöst, könne aber, wie Habermas meint, nur „Artefakte“ erfassen.396 Oder um es in den Worten von Keil zu sagen: „Man ist versucht zu sagen, dass Libet nicht das Korrelat einer freien Handlung gemessen hat, sondern das Korrelat einer willentlichen Simulation eines Zufallsgenerators.“397 Was Libet sowie Haggard und Eimer gemessen haben, kann also zwar möglicherweise als die Folge einer bewussten Entscheidung verstanden werden, die vor Versuchsbeginn getroffen wurde, die Messwerte selbst beziehen sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf einen Willensentschluss. (2) Die Rolle der Bereitschaftspotentiale: Weitere methodische Einwände beziehen sich auf die Rolle des symmetrischen und des lateralisierten Bereitschaftspotentials. Die Experimente scheinen nahe zu legen, dass die Bereitschaftspotentiale die Bewegung kausal determinieren. Da beim Libet-Experiment keine Wahl zwischen verschiedenen Bewegungen bestand, kann aber aus diesem Versuch auch nicht geschlussfolgert werden, dass das gemessene symmetrische Bereitschaftspotential die Art der Bewegung determiniert.398 Es mag zwar der Handlungsvorbereitung dienen, aber dass es die Bewegung festlegt, ist durch das Libet-Experiment nicht bewiesen. Vielmehr stellten Haggard und Eimer später fest, dass das symmetrische Bereitschaftspotential entgegen Libets Annahme in keinem konkreten zeitlichen oder kausalen Zusammenhang mit dem Willensentschluss steht (vgl. Kapitel 3.2.1). Auch ein anderes Experiment bestätigt die Schlussfolgerung, dass das symmetrische Bereitschaftspotential eine unspezifische Vorbereitung auf eine erwartete Bewegung darstellt, welche die Bewegung nicht festlegt. Insofern kann nicht die Rede davon sein, dass das Gehirn Entscheidungen trifft, bevor der Person diese Entscheidung überhaupt bewusst wird. Die Ergebnisse von Haggard und Eimer weisen nun aber darauf hin, dass die kausale Determination der Entscheidung und der Bewegung, für die das symmetrische Bereitschaftspotential nicht verantwortlich gemacht werden konnte, stattdessen durch das lateralisierte Bereitschaftspotential bewirkt werden könnte, das ebenfalls vor dem Willensentschluss auftritt. Gemäß Pauens Ausführungen mussten jedoch die Versuchspersonen, auch als sie die Wahl zwischen zwei Bewegungen hatten, lediglich angeben, „zu welchem Zeitpunkt sie ‚zuerst begonnen hatten, die Bewegung vorzubereiten‘“399 . Es sei deshalb nicht eindeutig festgestellt worden, wann die Personen sich für die eine und gegen die andere Option entschieden hätten. Möglicherweise sei die Entscheidung, was getan werden solle, schon weit vor und unabhängig von der Entscheidung, wann die Bewegung vollzogen werden solle, getroffen worden. Es wurde dann also auch in diesem Versuch nicht die Wahl zwischen zwei Optionen untersucht, sondern 396 397 398 399

Vgl. Habermas: Freiheit, 159. Keil: Willensfreiheit, 173. Vgl. zum ganzen Absatz: Pauen: Illusion, 202–206. Pauen: Illusion, 203.

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wie im Libet-Experiment nur die Entscheidung, wann eine Bewegung ausgeführt werden soll. Unter diesen Voraussetzungen kann dann auch nicht darauf geschlossen werden, dass das lateralisierte Bereitschaftspotential die Art der Bewegung festlegt, weil die Wahl möglicherweise vor dem Auftreten dieses Potentials getroffen wurde. Unabhängig von diesem Einwand stellt Pauen fest, dass von dem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem lateralisierten Bereitschaftspotential und dem Willensentschluss, der von Haggard und Eimer festgestellt wurde, nicht auf einen Kausalzusammenhang geschlossen werden könne. Diese Auffassung wird hier nicht geteilt, da der Nachweis einer Kovarianz zwischen Bereitschaftspotential und Willensentschluss (vgl. Kapitel 3.2.1) als ein starker Hinweis auf diesen Kausalzusammenhang angesehen werden kann. Allerdings kann Pauen seine These, wie unter Abschnitt (3) erläutert werden wird, in überzeugender Weise mit einem Hinweis auf Messungenauigkeiten und Messprobleme untermauern. Weiterhin weisen Frank Rösler und Keil auf die durch andere empirische Untersuchungen bestätigte These hin, dass es sich bei dem von Libet, Haggard und Eimer untersuchten ‚Drang‘ zur Ausführung der Bewegung, der dem Bereitschaftspotential offensichtlich ‚auf dem Fuße‘ folgt, nicht um den gesuchten Willensentschluss sondern um einen normalerweise unbewussten Bewegungsimpuls handeln könnte, der die Freigabe einer zuvor bewusst intendierten Handlung bewirkt.400 Die Vermutung ist, dass dieser unbewusste Bewegungsimpuls nur durch die Versuchsinstruktion ins Bewusstsein getreten ist.401 Diese Feststellung bekräftigt die These, dass die eigentliche Entscheidung schon vor Versuchsbeginn gefallen ist. Im Jahr 2015 berichtete ein Forscher:innenteam außerdem von experimentelle Befunden, die Libets Vermutung, der freie Wille könne Vorbereitungen des Gehirns für eine Bewegung bzw. diese Bewegung selbst durch ein Veto unterbrechen, bestätigten.402 Eine Bewegung, deren neurobiologische Vorbereitung die Forscher:innen durch Messung des Bereitschaftspotentials erkennen konnten, konnte entgegen der ursprünglichen Absicht der Versuchsperson von dieser willentlich kurzfristig unterbunden werden, wenn sie dazu mindestens 200ms vor Bewegungsbeginn durch ein optisches Stopp-Signal veranlasst wurde. Erschien das Stopp-Signal weniger als 200ms vor Bewegungsbeginn, konnte der Bewegungsbeginn zwar nicht mehr willentlich verhindert werden, oftmals war es aber dennoch möglich, die Bewegung zu unterbrechen und nicht zu Ende zu führen. (3) Mögliche Messungenauigkeiten und Messprobleme: Gemäß Pauen ist sowohl bei den für einzelne Personen erstellten Messwerten als auch bei den errechneten

400 Vgl. Keil: Willensfreiheit, 174. Vgl. Rösler: Korrelate, 188. 401 Vgl. Keil: Willensfreiheit, 174. 402 Vgl. Schultze-Kraft u. a.: Point.

Kritik

Mittelwerten für alle Personen eines Experiments eine große Streuung feststellbar.403 Es wurde bei einem nicht geringen Teil der Versuchspersonen eine Entscheidung vor Auftreten des lateralisierten Bereitschaftspotentials gemessen. Bei Wiederholungen der Versuche durch andere Hirnforscher:innen kam es auch vor, dass für die Entscheidung ein Zeitpunkt nach der Bewegung angegeben wurde. Diese große Streuung spricht nach Ansicht von Pauen dagegen, einen Kausalzusammenhang zwischen Bereitschaftspotential und Willensentschluss anzunehmen. Sie hängt außerdem seiner Meinung nach mit Messschwierigkeiten zusammen, die auf Problemen bei der Datierung kognitiver Prozesse durch die Versuchspersonen beruhen. Unterschiede in der Aufmerksamkeit der Versuchspersonen könnten demnach zu zeitlichen Ungenauigkeiten bei der Datierung des Willensentschlusses geführt haben. Fazit: Das Libet-Experiment und die Experimente von Haggard und Eimer sind also nicht geeignet, die Beweislast für eine Determination des Willens durch unbewusste Hirnprozesse zu tragen. Von einer Widerlegung der Willensfreiheit durch diese Experimente kann nicht die Rede sein.404 3.5.2

Die Irrelevanz des Ich

Experimente, in denen Personen durch unbewusste Reize oder unbewusste Beeinflussung dazu gebracht werden können, Handlungen zu vollziehen, die sie fälschlicherweise als durch ihren Willen verursacht erleben, zeigen nur, dass Personen sich unter ganz bestimmten Bedingungen – nämlich denen des Experiments – bezüglich der Urheberschaft von Handlungen täuschen können. Dies belegt aber nur die Fehlbarkeit von Selbstzuschreibungen.405 Die Tatsache, dass Personen sich gelegentlich irren können, was die Verursachung ihres Willens oder ihrer Handlungen angeht, ermöglicht aber nicht die Schlussfolgerung, dass alle unsere Handlungen und Willensentscheidungen immer von unbewussten Determinanten bestimmt sind.406 Es ist Keil zuzustimmen, wenn er ausführt, es sei nicht überraschend, dass Menschen nicht über die Fähigkeit verfügen, Einflüsse und Effekte zu erkennen, die Versuchsleitende sorgsam vor ihnen verborgen habe.407 Die Experimente widerlegen also nicht die Möglichkeit, dass in vielen oder auch den meisten Fällen, in denen Personen davon ausgehen, dass die Entscheidungen, die sie treffen, und die Handlungen, die sie vollziehen, von ihren bewussten Überlegungen abhingen, dies auch in Wirklichkeit der Fall war. 403 404 405 406 407

Vgl. zum ganzen Absatz: Pauen: Illusion, 207–209. Vgl. Pauen: Illusion, 209. Vgl. Hardegger: Willenssache, 161. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 156. Vgl. Pauen: Illusion, 215. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 157.

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Zusammen mit den Annahmen über die Uneinheitlichkeit des Bewusstseins stellen diese Experimente in den Augen Roths Belege für die These der nachträglichen Ich-Aneignung des Willens dar. Die Tatsache, dass das Ich-Bewusstsein und die verschiedenen Inhalte des Aktualbewusstseins, wie z. B. auch der Wille, voneinander unterscheidbare Bewusstseinszustände sind, schließt aber nicht aus, dass das Ich-Bewusstsein auf die Inhalte des Aktualbewusstseins, wie z. B. den Willen, Einfluss haben kann. Dies gilt umso mehr, als die verschiedenen Bewusstseinszustände im Erleben einer Person eine Einheit bilden. Aus der Feststellung, dass eine funktionelle Einheit sich in Einzelaspekte zerlegen lässt, folgt nicht, dass die Komponenten nicht aufeinander einwirken und eine Einheit bilden können.408 Die Annahme Roths, das Ich-Bewusstsein habe keinen Einfluss auf die Willensbildung, stellt also eine falsche Schlussfolgerung dar. In Bezug auf die These der nachträglichen Aneignung des Willens durch das bewusste Ich bedeuten die empirischen Ergebnisse lediglich, dass ein solcher Mechanismus existiert. Die Tatsache, dass das bewusste Ich dazu neigt, sich Entscheidungen und Handlungen – gelegentlich auch fälschlicherweise – im Nachhinein selbst zuzuschreiben, beweist aber nicht, dass es niemals Urheber von Entscheidungen und Handlungen ist. Auch die Erkenntnis, dass das Urheberschafts- und Kontroll-Ich erst unter dem Einfluss sozialer Zuschreibungen entsteht, zwingt nicht zu der Annahme seiner Unwirksamkeit.409 Dies sieht auch Prinz so, der davon ausgeht, dass „Wissensmuster, die Träger des [bewussten] Selbst sind“410 , dafür sorgen, dass das Selbst als Urheber von Handlungen fungieren kann.411 Prinz widerspricht damit der Behauptung Roths bezüglich der Irrelevanz des bewussten Ichs. 3.5.3

Determination durch unbewusste Einflüsse

Bleibt also noch die Annahme Roths, dass bewusste Prozesse generell weitgehend kausal irrelevant für den Willen und das Handeln von Personen seien (vgl. Kapitel 3.3). Was lässt sich gegen die Argumente, die diese These stützen, einwenden? Aus den Verhaltensauffälligkeiten von Personen mit Veränderungen oder Schäden im präfrontalen und orbitofrontalen Cortex, der unter anderem für die Integration der Inhalte des unbewussten emotionalen Erfahrungsgedächtnisses verantwortlich ist, wird von Roth geschlussfolgert, dass diese unbewussten Faktoren einen erheblichen Einfluss auf das Entscheiden und Handeln von gesunden Personen haben (vgl. Kapitel 3.2.3).

408 409 410 411

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 145. Vgl. Habermas: Freiheit, 185. Prinz: Selbst, 291. Vgl. Prinz: Selbst, 291.

Kritik

Zum einen sind diese Schlussfolgerungen aber nicht unbedingt ein Argument gegen die Willensfreiheit, denn neuronale Prozesse im präfrontalen und orbitofrontalen Cortex können potentiell bewusst werden. Die emotionalen Einflüsse des unbewussten Erfahrungsgedächtnis, die der Cortex beim gesunden Menschen in die Abwägung zwischen Handlungsalternativen integriert, können also auf der Ebene des Cortex – sofern dieser nicht geschädigt ist – zumindest zum Teil bewusst werden. Dies wird auch von Roth nicht bestritten. Entsprechend dem in dieser Arbeit vertretenen Verständnis von Willensfreiheit können aber nicht nur rationale Argumente, sondern auch Emotionen und Gefühle zu Gründen werden. Allein die Fähigkeit des bewussten Abwägens macht es möglich, Gründe von Ursachen zu unterscheiden. Solange emotionale Bewertungen der betreffenden Person bewusst werden, stellen ihre unbewusste Herkunft und ihr nicht rationaler Charakter kein Argument gegen die Willensfreiheit dar. Bleibt also nur noch die Feststellung, dass ein Teil der entscheidungsrelevanten Emotionen vermutlich nicht das Bewusstsein erreicht. Diese Feststellung ist aber keine Schlussfolgerung aus den hier erwähnten Beobachtungen, da die beobachteten Personen ja gerade auf Grund von krankhaften Veränderungen der Großhirnrinde keinen Zugang zu ihren unbewussten Emotionen haben. Zum anderen sind die Schlussfolgerungen Roths aus diesen Beobachtungen bezüglich der kausalen Irrelevanz bewusster Prozesse nicht zwingend: Wie andere Hirnforscher:innen herausgefunden haben, sind der orbitofrontale und der präfrontale Cortex nicht nur für die Integration unbewusster Einflüsse verantwortlich, sondern auch für deren Kontrolle.412 Der bewusstseinsfähige präfrontale Cortex hat vermutlich auch eine hemmende Wirkung auf die Zentren des unbewussten Erfahrungsgedächtnisses (vgl. Kapitel 3.2.3). Aus dieser Perspektive stellen die Beobachtungen also eher einen Hinweis auf die kausale Relevanz bewusster Prozesse als auf ihre Irrelevanz dar, denn gerade ohne die hemmende Wirkung des Bewusstseins ergeben sich schwerwiegende Verhaltensänderungen. Es ist unter diesen Voraussetzungen auch nicht verwunderlich, dass pathologische Veränderungen, die bewusstseinsfähige Hirnregionen betreffen, die Fähigkeit der freien Willensbildung einschränken. Bei gesunden Menschen hätten bewusste Prozesse demnach aber durchaus eine Wirkung auf Entscheidungen und Handlungen, indem sie unbewusste Emotionen kontrollieren. Wie bereits erwähnt teilt auch Prinz die Auffassung von der Unwirksamkeit des Bewusstseins nicht.413 Bemerkenswert ist weiterhin, dass der von Roth seit seiner Zusammenarbeit mit Pauen (spätestens seit 2007) vertretene kompatibilistische, d. h. mit dem Determinismus vereinbare Begriff von Willensfreiheit mit der weitgehenden Irrelevanz von

412 Vgl. Hubert: Mensch, 54–64. Vgl. Roth: Zusammenwirken, 33. 413 Vgl. Prinz: Selbst, 299.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

Bewusstseinsprozessen für Entscheidungen nicht vereinbar ist. Roth und Pauen gehen entsprechend ihrer Auffassung von kompatibilistischer Willensfreiheit davon aus, dass Willensfreiheit vorliege, wenn die Beweggründe, aus denen heraus eine Person eine Entscheidung trifft, personale Präferenzen (Wünsche, Überzeugungen oder Charaktermerkmale, die den „Kern einer Person“414 ausmachen) seien, die die Person aufgeben könne, wenn sie wolle bzw. sich dazu entscheide.415 Aufgeben kann die Person diese Präferenzen nur dann, wenn es sich nicht um Zwänge oder ähnliches handelt416 und die Präferenz somit „im stärksten denkbaren Sinne unter der Kontrolle der Person steht.“417 Damit Wünsche und Überzeugungen unter der maximalen Kontrolle der Person stehen können, müssen sie aber – so es sie nicht überhaupt nur im Bereich des Bewusstseins geben kann – der Person bewusst sein. An anderer Stelle setzt Roth freies Abwägen geplanter Handlungen mit „bewusstwillentliche[n][m]“418 Abwägen gleich – ohne dies für unmöglich zu erklären.419 Von einer freien Willensbildung und damit auch von der Verantwortlichkeit der Person könne man sprechen, meint er hier, wenn von einer „normativen Ansprechbarkeit“420 der Person während ihrer Willensbildung ausgegangen werden könne. Dafür müssten zwei Voraussetzungen gegeben sein: „die Fähigkeit erstens, die für eine bestehende Situation geltende Verhaltensnorm zu erkennen, und zweitens diese Kenntnis beziehungsweise Einsicht in das eigene Verhalten einfließen zu lassen.“421 Das Erkennen von Verhaltensnormen bedarf aber sicherlich des Bewusstseins. Fließt die Kenntnis in das Verhalten ein, dann liegt offensichtlich eine Wirkung von Bewusstseinsprozessen auf eine Handlungsentscheidung vor. Dass Roth Willensfreiheit im beschriebenen Sinne für möglich hält, widerspricht also seiner früheren These von der weitgehenden Irrelevanz von Bewusstseinsprozessen für die Willensbildung, die er vor allem in der Publikation „Fühlen, Denken, Handeln“ aus dem Jahr 2003 vertreten hat. Entsprechend betont er in jüngeren Publikationen zwar nach wie vor die Dominanz des Unbewussten, hält aber nicht mehr an der früheren These von der Irrelevanz des Bewusstseins für Entscheidungsprozesse fest. Stattdessen verweist auch er nun auf die Fähigkeit zur Hemmung spontaner Impulse, welche durch die „Kontrolle der orbifrontalen, ventromedialen und anterioren cingulären [bewusstseinsfähigen] Großhirnrinde

414 415 416 417 418 419 420 421

Pauen/Roth: Freiheit, 34. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 32–37 und 141f. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 35. Pauen/Roth: Freiheit, 36. Roth: Perspektive, 180. Vgl. Roth: Perspektive. Roth: Perspektive, 183. Roth: Perspektive, 183.

Kritik

über subcorticale emotional-affektive Zentren wie die Amygdala und den Hypothalamus“422 möglich werde. Seine These von der Irrelevanz bewusster Überlegungen für Entscheidungsprozesse revidiert Roth also selbst. Fazit: Die empirischen Erkenntnisse lassen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu, die das Bewusstsein für kausal irrelevant erklären. Werden die empirischen Erkenntnisse dagegen als Beleg für eine allgemeine Determination des Verhaltens durch das Gehirn, unabhängig davon, ob es sich um bewusste oder unbewusste Hirnprozesse handelt, herangezogen – mit einer Argumentation der Art: ‚Wir können zeigen, dass das Verhalten von Kranken durch das Gehirn bestimmt wird, also muss dies auch für das Verhalten von Gesunden der Fall sein.‘ – so muss man auch hier zusammen mit Keil entgegnen, dass pathologische Störungen nichts über den Normalfall lehren.423 Weiterhin wird nach Ansicht Roths die Willensfreiheit dadurch eingeschränkt, dass die letzte Entscheidung über die Ausführung einer Handlung von den Basalganglien getroffen wird (vgl. Kapitel 3.2.2). Es ist jedoch nicht zu sehen, wieso diese Tatsache die Willensfreiheit einschränken sollte: Jede Handlung einer Person bedarf eines physischen Substrates als Ermöglichungsgrund. Ebenso wenig, wie eine Person ihren Arm heben könnte, wenn sie keine Muskeln hätte, kann die Person diese Bewegung vollziehen, wenn sie in den Basalganglien nicht freigeschaltet wird, weil das emotionale Erfahrungsgedächtnis nicht zustimmt. Es handelt sich allenfalls um eine Einschränkung der Handlungs- nicht aber der Willensfreiheit. Auch Roths Feststellung, dass es von unbewussten Hirnzentren abhänge, welche Argumente einer Person beim bewussten Abwägen überhaupt in den Sinn kommen, (vgl. Kapitel 3.2.3) ist für sich alleine nicht freiheitsgefährdend, solange es die bewussten Argumente sind, die das Wollen und Handeln entscheidend beeinflussen. 3.5.4

Neuronaler Determinismus

Alle in diesem Kapitel beschriebenen empirischen Erkenntnisse sprechen, wie bereits erläutert, in den Augen von Roth, Singer und Prinz dafür, dass das neuronale Geschehen im menschlichen Gehirn unabhängig davon, ob es von Bewusstsein begleitet wird oder nicht, durch Naturgesetze determiniert ist. Tatsächlich stellen die empirischen Erkenntnisse der Hirnforschung aber keinen Beleg für einen neuronalen Determinismus dar. Denn wie Brigitte Falkenburg erläutert, gehören die neurowissenschaftlichen Erklärungen zu dem Typus mechanistischer Erklärungen.424 Dabei werden „sehr unterschiedliche, teils deterministische, teils

422 Roth: Perspektive, 180. 423 Vgl. Keil: Willensfreiheit, 167. 424 Vgl. Falkenburg: Mythos, 289.

91

92

Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

probabilistische Gesetzmäßigkeiten“425 kombiniert, „um komplexe Systeme zu beschreiben und ihre zeitliche Entwicklung zu erklären.“426 Die verschiedenen Gesetzmäßigkeiten bringen dabei zusammen mit den Randbedingungen „einen Prozess hervor, der nicht vollständig, sondern höchstens abschnittsweise determiniert ist.“427 Ein nicht-deterministischer neuronaler Prozess sei beispielsweise der biochemische Mechanismus der Signalübertragung an den Synapsen.428 Die Beziehung zwischen einem an der Synapse eintreffenden Aktionspotential und der Freisetzung des Neurotransmitters ist nicht deterministisch, sondern stochastisch: „Nur bei 10–20 Prozent der experimentell untersuchten Einzelprozesse führt das Aktionspotential dazu, dass der Neurotransmitter tatsächlich freigesetzt wird.“429 „Die kausalen Erklärungen der kognitiven Neurowissenschaft liefern“, so erläutert Falkenburg, nur „ein lose gestricktes Muster partieller Erklärungen“ bzw. „ein lose verfugtes Mosaik von kausalen Bedingungen, stochastischen Mechanismen und Analogien [zu den Mechanismen nach denen künstliche neuronale Netze funktionieren] mit begrenzter Tragfähigkeit.“430 Die Determiniertheit menschlicher Entscheidungen und des menschlichen Verhaltens durch das Gehirn kann also nicht als empirisch erwiesen angesehen werden. Dass die drei Hirnforscher dennoch darauf beharren, liegt nicht an den empirischen Erkenntnissen selbst sondern daran, dass sie die empirischen Erkenntnisse unter der Voraussetzung bestimmter metaphysischer Vorannahmen deuten. Genauer wird dieser metaphysisch-philosophische Hintergrund im folgenden Kapitel der Arbeit (Kapitel 4) erörtert. Dass es tatsächlich nicht in erster Linie die empirischen Erkenntnisse sind, die die drei Hirnforscher auf die These des neuronalen Determinismus schlussfolgern lassen, sondern dass es sich um philosophische Annahmen handelt, die der empirischen Forschung vorausgehen, zeigt sich bei Prinz besonders deutlich. Er meint nämlich, die Idee eines freien menschlichen Willens sei mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren.431 Entsprechend stellt der Titel eines seiner Aufsätze die Leser vor die Alternative: „Freiheit oder Wissenschaft?“432 Es stellt in den Augen von Prinz alleine schon eine Zumutung für wissenschaftliches

425 426 427 428 429 430 431 432

Falkenburg: Mythos, 287. Falkenburg: Mythos, 287. Falkenburg: Mythos, 287. Vgl. Falkenburg: Mythos, 301. Falkenburg: Mythos, 301. Alle drei Zitate: Falkenburg: Mythos, 325. Vgl. Prinz: Mensch, 22. Vgl. Prinz: Freiheit, 86–103.

Kritik

Denken dar, „[…] in einem ansonsten deterministisch verfassten Bild von der Welt lokale Löcher des Indeterminismus zu akzeptieren“433 . Willensfreiheit fordere aber noch wesentlich Radikaleres, nämlich die Ersetzung der gewöhnlichen kausalen Determination durch die kausal nicht erklärbare Determination von Ereignissen durch ein autonom gedachtes Subjekt, das selbst frei, also nicht determiniert, sei.434 Mit dieser Diagnose liegt Prinz zweifellos richtig. Was er beschreibt, ist das in Kapitel 2.1 erläuterte Prinzip der Urheberschaft: Die Bedingtheit des Willens durch Gründe zwingt demnach nicht im Sinne eines kausal erklärbaren Naturprozesses, sondern es kommt – trotz zahlreicher Bedingungen, die die Entscheidung beeinflussen – letztlich auf das autonome Subjekt an, von welchen Gründen es sich bestimmen lässt, wobei auch die Gründe selbst durchaus bedingt sein können. Die Annahme eines freien Subjektes bedeute, so Prinz, einen Erklärungsverzicht und das Abschneiden von Kausalketten.435 Ein Erklärungsverzicht sei aber nicht kompatibel mit dem prinzipiell unbegrenzten Anspruch auf Erklärung, der für das Betreiben von Wissenschaft konstitutiv sei.436 Wer Wissenschaft betreiben wolle, müsse Willensfreiheit leugnen.437 Das Gefühl der Willensfreiheit sei eine Konvention, die ihren Platz im Gesellschaftsspiel von Moral und Recht habe und der Regulation der Handlungen sozialer Akteur:innen durch Verantwortungszuschreibung diene.438 Wissenschaft dagegen sei ein anderes Gesellschaftsspiel, das dem Leitwert der Wahrheit verpflichtet sei und der Analyse von Sachverhalten diene.439 Wie das Kapitel 4.7 zeigen wird, ist es durchaus zutreffend, dass Naturwissenschaftler:innen (als Naturwissenschaftler:innen) nicht aufhören dürfen, nach gesetzmäßigen Erklärungen für Phänomene zu suchen. Allerdings impliziert das weder, dass jedes empirische Phänomen tatsächlich durch Naturgesetze determiniert ist, noch dass Naturwissenschaftler:innen eine entsprechende hinreichende Erklärung für jedes empirische Phänomen auch finden können. Auch bei Roth zeigt sich deutlich, dass sich seine Determinismusthese nicht aus der Empirie, sondern aus einem der Empirie vorausliegenden deterministischen Weltbild speist, wenn er Bewusstseinsprozessen eine nicht auf neuronale Prozesse reduzierbare Wirkung zuspricht440 und dennoch an der Determinismusthese

433 434 435 436 437 438 439 440

Vgl. Prinz: Kritik, 201. Vgl. Prinz: Freiheit, 92. Vgl. Prinz: Freiheit, 92f. Vgl. Prinz: Kritik, 201. Vgl. Prinz: Kritik, 201. Vgl. Prinz: Freiheit, 100. Vgl. Prinz: Freiheit, 100f. Vgl. Roth: Gehirn, 331. Vgl. Roth: Sicht (2003), 136.

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Neurowissenschaftliche (und psychologische) Argumente gegen libertarische Willensfreiheit

festhält mit dem Argument, dass auch Bewusstseinsprozesse nach (eigenen) „Gesetzen“441 verlaufen, was für Roth offenbar gleichbedeutend damit ist, dass die Prozesse determiniert sind.442 Die Regularitäten, welche die Psychologie für den Bereich des Psychischen erforscht und bisher gefunden hat, haben jedoch sicherlich keinen deterministischen Charakter. Der „Motivdeterminismus“443 Roths ergibt sich also nicht aus empirischen Erkenntnissen sondern u. a. aus seiner naturalistischen Weltsicht, die in Kapitel 4.7.4 noch genauer zu analysieren ist. 3.5.5

Fazit

Die These des neuronalen Determinismus ist kein Ergebnis empirischer Forschung, sondern Ergebnis philosophischer Vorannahmen, die eigens zu diskutieren sind (vgl. Kapitel 4). Am ehesten als durch empirische Befunde gerechtfertigt kann die bereits im Zusammenhang pathologischer Verhaltensveränderungen erwähnte Annahme Roths angesehen werden, dass die Bewertung verschiedener Handlungsmotive und Handlungsmöglichkeiten zum Teil unbewusst durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis erfolgt (vgl. Kapitel 3.2.3). Demnach ist es möglich, dass nicht bewusste sondern unbewusste Motive ausschlaggebend für eine Entscheidung sind. Dies ist mit Willensfreiheit nicht vereinbar. Die Experimente zur unbewussten Beeinflussbarkeit von Entscheidungen werden von Roth als Indizien für die beschrieben Annahme gewertet. Tatsächlich gibt es aber allem Anschein nach bisher kein Experiment, das Anlass zu der Annahme geben würde, dass auch bei nicht manipulierten, echten Entscheidungen regelmäßig unbewusste Motive ausschlaggebend sind. Prinz geht als Psychologe vielmehr davon aus, dass das Gegenteil der Fall ist, d. h. dass das bewusste Selbst Entscheidungen beeinflusst, und auch Roth scheint seine These von der Irrelevanz des Bewusstseins für Entscheidungen zumindest teilweise revidiert zu haben. Was gegen die Willensfreiheit von neurobiologischer Seite an Empirie vorgebracht wird, reicht für eine Widerlegung libertarischer Willensfreiheit also nicht aus. Da die beschriebenen Experimente, wie gezeigt werden konnte, verschiedene Interpretationen zulassen, können sie allenfalls als Indizien für die im Ganzen nicht besonders gut bestätigte Hypothese von der Wirkungslosigkeit des Bewusstseins für Entscheidungen angesehen werden. Vorausgesetzt, freie, bewusste Entscheidungen sind zumindest manchmal möglich, stellt es außerdem keine Einschränkung der Willensfreiheit dar, wenn aktuelle Entscheidungen von unbewussten Motiven und Determinanten beeinflusst werden, die auf Grund früherer freier Entscheidungen zu Stande gekommen sind.

441 Roth: Sicht (2015), 144. 442 Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270. 443 Roth: Sicht (2015), 198.

4.

Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Wie gezeigt wurde, spricht Singer häufig von naturgesetzlich ablaufenden Hirnprozessen, die das Verhalten determinieren (vgl. Kapitel 3.3), von „deterministischen Naturgesetzen“1 , die in der dinglichen Welt herrschen, oder von „deterministischen neuronalen Prozessen“2 . Roth geht von quasi-deterministischen Zusammenhängen im Gehirn aus3 und davon, dass Bewusstseinsvorgänge deterministisch ablaufen.4 Auch er verknüpft die Determinismusthese eng mit der Annahme, dass alle Geschehnisse in der Welt „universellen Naturgesetzen“5 unterliegen.6 Prinz hält es für eine wissenschaftliche Zumutung, den Determinismus zu leugnen (vgl. Kapitel 3.3). Es wurde bereits erwähnt, dass die empirischen Erkenntnisse der Hirnforschung nicht ausreichen, um die Behauptung eines neuronalen Determinismus zu rechtfertigen. Vielmehr entspringen die genannten Aussagen der drei Hirnforscher epistemischen und metaphysischen Vorannahmen – man könnte auch sagen ‚Weltbildern‘, welche die Forscher mehr oder weniger reflektiert, mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger ausdrücklich vertreten und vor deren Hintergrund sie die empirischen Forschungsergebnisse deuten. Prinzipiell können die genannten Aussagen entweder auf philosophischen Vorannahmen beruhen, die man unter dem Begriff Physikalismus zusammenfassen kann (wobei dieser Physikalismus die These des physikalischen Determinismus einschließen kann, aber nicht muss) oder auf philosophischen Vorannahmen, die einem nicht-physikalistischen Naturalismus zugerechnet werden können. Keines dieser Weltbilder ist mit libertarischer Willensfreiheit vereinbar. Wie das Kapitel 4.7.4 zeigen wird, vertritt Roth einen nicht-physikalistischen Naturalismus. Die Aussagen von Prinz und Singer reichen nicht aus, um ihre Positionen eindeutig einem der beiden Weltbilder zuordnen zu können. Es werden deshalb im folgenden Kapitel beide Weltbilder analysiert und diskutiert. Während das erste Unterkapitel des vorliegenden Kapitels die These des physikalischen Determinismus erläutert, befasst sich das zweite Unterkapitel mit den anderen zentralen Merkmalen des Physikalismus. Mit den Folgeproblemen, die sich

1 2 3 4 5 6

Singer: Selbsterfahrung, 150. Singer: Selbsterfahrung, 156. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 110. Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 164. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270. Roth/Strüber: Gehirn, 275. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 275.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

aus dem Physikalismus ergeben, und mit den unterschiedlichen Ansätzen innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes zur Lösung dieser Probleme beschäftigen sich die Unterkapitel 4.3 und 4.4. Sogenannte Kompatibilist:innen (zu denen spätestens seit 2007 auch Roth gehört) sehen eine Lösung für den Widerspruch zwischen Determinismus und Willensfreiheit in der Auffassung, dass Willensfreiheit auch oder möglicherweise sogar nur unter deterministischen Voraussetzungen denkbar ist. Diese Auffassung wird in Unterkapitel 4.3 als eine Scheinlösung entlarvt, denn der Begriff der Willensfreiheit wird von Kompatibilist:innen auf eine Art und Weise modifiziert, die mit dem libertarischen Verständnis von Willensfreiheit nicht vereinbar ist. Im Unterkapitel 4.4 geht es zunächst um das Problem, dass die Pluralität der Wirklichkeit sich – anders als Physikalist:innen es erwarten müssten – nicht auf das von der Physik beschriebene Physische bzw. Physikalische reduzieren lässt (Kapitel 4.4.1). Eine solche Reduktion gelingt – nicht nur aber insbesondere – bei geistigen Phänomenen nicht, weshalb sich im Hinblick auf das Verhältnis von Geist und Materie (Kapitel 4.4.2) verschiedene Varianten eines nicht-reduktionistischen Physikalismus entwickelt haben. Anschließend werden in Kapitel 4.4.3 die Probleme diskutiert, die sich aus einer physikalistischen Naturauffassung unabhängig von der Determinismusthese für die Annahme libertarischer Willensfreiheit ergeben. Innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes wird dieser Problemzusammenhang unter dem Stichwort ‚mentale Verursachung‘ diskutiert. Unterkapitel 4.5 befasst sich mit den Einwänden, die gegen den physikalischen Determinismus und den Physikalismus insgesamt vorgebracht werden, um zu überprüfen, wie überzeugend die damit verbundenen Annahmen sind. Da ein wichtiger, in Unterkapitel 4.6 ausgeführter Argumentationsweg zur Plausibilisierung libertarischer Willensfreiheit, der von verschiedenen Philosoph:innen beschritten wird, sich auf die Quantenphysik (und die Annahme von Emergenz) stützt, wird in Unterkapitel 4.5.1 ausführlich auf die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Quantenphysik, die ein starkes Argument gegen den Determinismus darstellt, eingegangen. Aber auch von der Quantenphysik unabhängige Argumente gegen den Determinismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen werden benannt (Kapitel 4.5.2), weil diese eine Bedeutung für die Plausibilisierung von Willensfreiheit im Zusammenhang mit dem Enaktivismus (Kapitel 9) haben. In Unterkapitel 4.6 wird schließlich der soeben erwähnte, auf die Quantenphysik (und Emergenz) setzende Argumentationsweg zur Plausibilisierung libertarischer Willensfreiheit vorgestellt. Gegen diesen Argumentationsweg spricht unter anderem, dass man zusammen mit ihm zwei Erklärungslücken (vgl. Kapitel 4.6.1) in Kauf nehmen muss und dass sich gemäß dieses Ansatzes freie, vom Subjekt determinierte Handlungen von zufälligen, indeterminierten Ereignissen empirisch nicht unterscheiden lassen.

Der physikalische Determinismus

Alternativ zum Physikalismus könnten die genannten Aussagen der drei Hirnforscher, wie gesagt, auch einem nicht-physikalistischen Naturalismus entspringen, mit dem ich mich erst am Ende dieses Kapitels (in Unterkapitel 4.7) befasse.

4.1

Der physikalische Determinismus

Die These des neuronalen Determinismus stellt – sofern sie nicht auf einer Variante des nicht-physikalischen Naturalismus (vgl. Kapitel 4.7) beruht – einen Ausschnitt des physikalischen Determinismus dar.7 Das moderne Konzept des physikalischen Determinismus entstand im 17. und 18. Jahrhundert.8 Erstmals formuliert wurde es von dem französischen Mathematiker und Naturforscher Pierre-Simon Laplace (1749–1827).9 Obwohl sein Konzept unter dem Namen Laplacescher Dämon berühmt geworden ist, werde ich es hier nicht näher erläutern, da es den Determinismus mit der Vorhersehbarkeit verknüpft, die aber keine Voraussetzung des Determinismus darstellt.10 Letzterer beinhaltet die Annahme, dass „der gesamte Weltlauf ein für allemal fixiert ist.“11 Der Gesamtzustand des Universums zu einem beliebigen Zeitpunkt legt demnach zusammen mit den Naturgesetzen jeden früheren oder späteren Gesamtzustand des Universums fest.12 Es gibt also zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft.13 Zwei gebräuchliche und treffende Definitionen des physikalischen Determinismus möchte ich hier anführen:14 • Physikalischer Determinismus I: Für jeden Zeitpunkt gibt es eine wahre Proposition, die den Zustand der Welt zu diesem Zeitpunkt ausdrückt; Wenn A und B zwei Propositionen sind, die den Zustand der Welt zu zwei Zeitpunkten t1 und t2 ausdrücken, dann hat die Konjunktion von A (zu t1 ) mit den Naturgesetzen B (zu t2 ) zur Folge.15 • Physikalischer Determinismus II: Unsere Welt W1 ist genau dann deterministisch, wenn eine andere mögliche Welt W2, die zu irgendeinem Zeitpunkt mit unserer Welt übereinstimmt, zu jedem Zeitpunkt mit W1 übereinstimmt.16

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Walde: Willensfreiheit, 31. Vgl. Taylor: Determinism, 10. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 32. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 16f. Keil: Willensfreiheit, 16. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 31. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 16. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 31. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 31. Vgl. Earman: Primer, 13.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Die moderne These des physikalischen Determinismus wurde hauptsächlich inspiriert von der Physik der neuzeitlichen, heute als klassisch bezeichneten Physik, insbesondere von der Newton’schen Mechanik und Gravitationstheorie.17 Diese galten in der gebildeten Öffentlichkeit bis ins 19. Jahrhundert hinein als das unhinterfragte Fundament der Physik18 und wurden für deterministisch gehalten.19 Ihre Erklärungskraft und -reichweite wurden als sehr groß bewertet. Jeremy Butterfield erläutert: „At its simplest, the idea was that Newton had laid down in his mechanics a schema for the mechanical explanation of the physical world. […] [M]any believed that Newtonian mechanics could in principle describe any phenomenon […].“20 Tatsächlich beschreibt die Hamilton‘sche Differentialgleichung der klassischen Mechanik die Entwicklung eines mechanischen Systems als deterministisch: Sind die Ortsgröße und die Impulsgröße aller Massenpunkte des Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt, so ist durch die Gleichung jeder zukünftige und vergangene Zustand des Systems eindeutig festgelegt.21 An empirischen Beobachtungen bzw. Messungen und Experimenten bewährten sich die mathematisch formulierten Theorien bzw. Gesetze der klassischen Mechanik: Mit ihrer Hilfe war es – ausgehend von den durch Messverfahren ermittelbaren Anfangs- und Randbedingungen – möglich, die tatsächliche Entwicklung eines mechanischen Systems zuverlässig vorauszuberechnen.22 Da sich auf diese Art und Weise grundlegende Gesetze der Mechanik in immer komplizierteren empirischen Anwendungsfällen bewährten23 und sich später auch die Gesetze der Elektrodynamik und der Relativitätstheorie als deterministisch erwiesen, etablierte sich die generalisierte metaphysische Annahme, dass Naturgesetze die Zeitentwicklung jedes physikalischen Systems eindeutig festlegen,24 und dass dies auch dann gilt, wenn die Annahme auf Grund der Komplexität des Systems nicht experimentell überprüft werden kann. Zusammen mit der physikalistischen Annahme, dass alle Dinge in der Welt aus physikalischen Entitäten bestehen25 und deshalb letztlich nichts anderes sind als physikalische Systeme und demnach die Welt als Ganze ein physikalisches

17 18 19 20 21 22

Vgl. Taylor: Determinism, 10. Vgl. Butterfield: Determinism, 34. Vgl. Butterfield: Determinism, 33. Butterfield: Determinism, 34. Vgl. Mainzer: Determinismus, 167. Vgl. Mainzer: Determinismus, 167. Die Präzision der Berechnung hängt allerdings von der Genauigkeit der Messverfahren ab, mit denen die Anfangs- und Randbedingungen ermittelt werden. Die klassische Mechanik geht von der idealisierten – nicht zutreffenden – Annahme aus, dass die Genauigkeit der Messung beliebig gesteigert werden kann (vgl. Mainzer: Determinismus, 167). 23 Vgl. Kanitscheider: Welt, 13. 24 Vgl. Mainzer: Determinismus, 167. 25 Vgl. Dupré: Disorder, 92.

Der physikalische Determinismus

System ist,26 ergab bzw. ergibt sich daraus die oben beschriebene Annahme des physikalischen Determinismus. Darüber hinaus verband sich die These des physikalischen Determinismus mit der physikalistischen Annahme, dass alle Dinge bzw. Entitäten letztlich aus kleinsten mikroskopischen Partikeln bzw. Materieteilchen bzw. Elementarteilchen bestehen,27 deren Verhalten – entsprechend der Verknüpfung dieser beiden Thesen – von den Naturgesetzen determiniert wird.28 Die These des physikalischen Determinismus meint demnach genau genommen einen Mikrodeterminismus, d. h. die Annahme, dass der gesamte Weltverlauf von den kleinsten Materieteilchen und deren – den deterministischen Naturgesetzen entsprechendem – Verhalten bestimmt wird.29 Makroskopischen Objekten jeglicher Art kommt demnach keine ‚eigene‘ kausale Wirksamkeit zu. Alle Wirkungen, die scheinbar von makroskopischen Objekten ausgehen, gehen eigentlich von den sie konstituierenden mikroskopischen Materieteilchen aus und werden von diesen determiniert.30 Statt von Mikrodeterminismus wird in der analytischen Philosophie des Geistes in diesem Zusammenhang meistens von ‚Supervenienz‘ gesprochen und davon, dass das Verhalten der makroskopischen Objekte über das Verhalten der mikroskopischen Materieteilchen ‚superveniert‘.31 Dies bedeutet aber auch, dass für die These des physikalischen Determinismus die Gesetzmäßigkeiten höherer Organisationsniveaus, die von Naturwissenschaften wie der Chemie und der Biologie untersucht werden, vollkommen irrelevant sind. Alle ‚Naturgesetze‘, die diese Wissenschaften finden können, sind in den physikalischen Naturgesetzen, die den Mikrobereich und damit den gesamten Weltverlauf determinieren, schon enthalten und können – zumindest theoretisch – aus diesen abgeleitet werden.32 Dementsprechend thematisieren fachwissenschaftliche Lexikonartikel, die den Determinismus diskutieren, ausschließlich physikalische Naturgesetze.33 Wenn Neurowissenschaftler:innen von deterministischen neuronalen Prozessen sprechen, dann nicht deshalb, weil es ihnen gelungen wäre, komplexe neuronale Prozesse zuverlässig vorauszuberechnen, was ein starker empirischer Hinweis auf einen neuronalen Determinismus wäre, der auf einen physikalischen Determinismus zurückgeführt werden könnte. Vielmehr ist der Grund dafür, dass sie

26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Stoljar: Physicalism. Vgl. Dupré: Disorder, 88. Vgl. Dupré: Nature, 159. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 90. Vgl. Dupré: Nature, 159f. Vgl. Dupré: Nature, 160. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 76–92. Vgl. Dupré: Disorder, 88. Vgl. Mainzer: Determinismus. Vgl Butterfield: Determinism. Vgl. Hoefer: Determinism.

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100

Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

sich wegen ihrer zunehmenden (aber keineswegs lückenlosen) Kenntnis des Bedingungsgefüges neuronaler Prozesse im menschlichen Gehirn zusammen mit einem physikalistischen Weltbild dazu berechtigt wähnen, die These des physikalischen Determinismus auch für neuronale Prozesse für gültig zu erklären. Hält man den physikalischen Determinismus jedoch für erwiesen, so braucht es für die Schlussfolgerung auf die Determiniertheit neuronaler Prozesse eigentlich gar keine neurowissenschaftliche Forschung. Die These des physikalischen Determinismus reicht dazu völlig aus. Dementsprechend kann man dann, so wie manche Neurowissenschaftler:innen es offensichtlich tun, ignorieren, dass die Kenntnisse der Neurowissenschaften im Hinblick auf die neuronalen Prozesse im Gehirn nur „ein lose verfugtes Mosaik“34 von kausalen Bedingungen sowie deterministischen und stochastischen Mechanismen,35 aber keinen Determinismus erkennen lassen. Es liegt auf der Hand, dass der physikalische Determinismus mit libertarischer Willensfreiheit nicht zu vereinbaren ist. Das philosophische Konsequenzargument bringt den Konflikt auf den Punkt: Wenn der Determinismus wahr sein sollte, so würde das bedeuten, dass Entscheidungen und Handlungen nichts weiter wären als die notwendige Konsequenz aus vergangenen Gesamtzuständen der Welt und den Naturgesetzen.36 Da Personen aber weder die Naturgesetze ändern können, noch Ereignisse beeinflussen können, die vor ihrer Geburt lagen, hätten sie also keinen Einfluss auf ihre Entscheidungen.37 Diese stünden bereits zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit fest.38 Dies schließt aber aus, dass die entscheidende Person selbst Urheber:in ihrer Entscheidung ist, denn es gibt keine alternativen Entscheidungsmöglichkeiten und es liegt auch nicht an ihr, wie sie sich entscheidet, sondern an den in der Vergangenheit liegenden Determinanten.39

4.2

Der Physikalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

Wie bereits erwähnt beinhaltet eine physikalistische Metaphysik nicht notwendig den physikalischen Determinismus. Auf Grund der Erkenntnisse der Quantenphysik, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer eingegangen wird, neigen Philosoph:innen heute üblicherweise dazu, die Determinismusthese für falsch zu

34 35 36 37 38 39

Falkenburg: Mythos, 325. Vgl. Falkenburg: Mythos, 289, 295 und 325. Vgl. Klein: Willensfreiheit, 162. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 185. Vgl. Klein: Willensfreiheit, 162. Vgl. Klein: Willensfreiheit, 162.

Der Physikalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

halten.40 Der Physikalismus ist dagegen unter Philosoph:innen weit verbreitet und stellt, wie später noch zu erörtern sein wird, für die Annahme libertarischer Willensfreiheit auch dann ein Problem dar, wenn er nicht mit der Determinismusthese einhergeht. Zu den Merkmalen des Physikalismus gehört erstens die schon genannte These, dass alle Dinge in der Welt sich aus physikalischen Entitäten, genauer gesagt aus mikroskopischen Elementarteilchen zusammensetzen (s. o.). John Dupré nennt diese These ‚compositional materialism‘.41 Zweitens gehört dazu die ebenfalls schon genannte These der Supervenienz, also die Annahme, dass jegliches Geschehen in der Welt ausschließlich von den mikroskopischen Elementarteilchen und den für sie geltenden physikalischen Naturgesetzen bestimmt wird (s. o.). Ohne die Determinismusthese bedeutet dies, dass der Weltverlauf nicht determiniert ist, sondern teilweise von echten Zufallsereignissen bestimmt wird. Bestimmte Ereignisse treten nicht notwendig ein, sondern nur mit eine bestimmten Wahrscheinlichkeit.42 Es bedeutet aber auch, dass allen makroskopischen Dingen, die sich aus physikalischen Elementarteilchen zusammensetzen, seien es Planeten, Lawinen oder biologische Organismen einschließlich des Menschen, keine eigene kausale Wirksamkeit zukommt, die nicht auf die kausale Wirksamkeit der Elementarteilchen reduziert werden könnte. Das Verhalten aller Makroobjekte wird ausschließlich von kausalen Kräften der Elementarteilchen und dem mikrophysikalischen Zufall bestimmt und lässt sich (zumindest prinzipiell) auf der Basis der entsprechenden physikalischen Gesetze erklären.43 Es gibt keine kausalen Kräfte außerhalb derer, die den kleinsten Materieteilchen zukommen. D. h., dass der mikrophysikalische Bereich ‚kausal geschlossen‘ ist.44 Dupré erläutert: So it appears that events at the macrolevel, except insofar as they are understood as aggregates of events at the microlevel – that is, as reducible to the microlevel at least in principle – are causally inert. This, of course, is the classical picture of Laplacean determinism, except that it does not depend on determinism, only the causal completeness, or causal closure, of the microlevel. And metaphysically, though perhaps not epistemologically, this picture entails the causal impotence of events at the macrolevel.45

Das eigentliche philosophische Problem für die Annahme von libertarischer Willensfreiheit ist heute, wie noch zu zeigen sein wird, nicht mehr der Determinismus 40 41 42 43 44 45

Vgl. Butterfield: Determinism, 35. Vgl. Dupré: Disorder, 93. Vgl. Dupré: Disorder, 172. Vgl. Dupré: Disorder, 93. Vgl. Dupré: Nature, 161. Vgl. Dupré: Disorder, 99f. Dupré spricht hier von „causal completeness“. Dupré: Disorder, 101.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

sondern (neben einem nicht-physikalistischen Naturalismus) die physikalistische Annahme von der kausalen Geschlossenheit des Physischen (wobei im Kontext des Physikalismus mit ‚dem Physischen‘ bzw. mit ‚physisch‘ der mikrophysikalische Bereich gemeint ist). Deshalb ist es wichtig zu beachten, dass es sich um zwei verschiedene Annahmen handelt, die zwar in engem Zusammenhang miteinander stehen, aber eben nicht identisch sind. Diese Differenzierung wird auch von Fachleuten nicht immer ausreichend beachtet.46 Wer die physische (im Sinne von mikrophysikalische) Welt für determiniert hält, muss sie auch für kausal geschlossen halten. Wenn jeder physische (d. h. mikrophysikalische) Zustand der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt durch einen anderen physischen (d. h. mikrophysikalischen) Zustand der Welt zu einem wiederum beliebigen Zeitpunkt und die Naturgesetze festgelegt ist, gibt es logischerweise keine nicht-mikrophysikalischen Einflüsse auf die mikrophysikalischen Zustände der Welt. Insofern dürfte die These von der kausalen Geschlossenheit im Hinblick auf ihre Genese ein Derivat der Determinismusthese sein.47 Argumente gegen den physikalischen Determinismus schwächen deshalb indirekt auch die These von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt. Aber wer die physische Welt für kausal geschlossen hält, muss nicht zwangsläufig auch den physikalischen Determinismus für zutreffend halten. Auch innerhalb einer kausal geschlossenen mikrophysikalischen Welt kann ein bestimmtes Ereignis potenziell unterschiedliche Folgen haben, wenn die Naturgesetze nicht deterministisch sondern zumindest teilweise probabilistisch sind.

4.3

Das Zufallsproblem und die Schwierigkeiten des Kompatibilismus

Philosoph:innen, die eine libertarische Vorstellung von Willensfreiheit für inkohärent halten, beziehen sich in ihrer Kritik dieser Vorstellung häufig auf das sogenannte „Zufallsproblem“48 : Die These lautet, die libertarische Vorstellung von Willensfreiheit sei inkohärent, da das Prinzip des Andersentscheidenkönnens im Widerspruch stehe mit dem Prinzip der Selbstbestimmung.49 Das Prinzip des An-

46 Der Physiker, Naturphilosoph und Theologe Hans-Dieter Mutschler beispielsweise kritisiert in einem Kapitel seines Buches die These von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Dabei setzt er aber eine Definition von kausaler Geschlossenheit voraus, die eigentlich eine Definition des Determinismus ist (Mutschler, Wirklichkeit, 94f.) und die Argumente, die er gegen die kausale Geschlossenheit anführt, sind teilweile Argumente gegen den Determinismus und damit nur indirekt gegen die kausale Geschlossenheit der physischen Welt (vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 93–130). 47 Vgl. Boost: Emergenz, 135f. 48 Keil: Willensfreiheit, 103. 49 Vgl. Keil: Willensfreiheit, 103.

Das Zufallsproblem und die Schwierigkeiten des Kompatibilismus

dersentscheidenkönnens ist mit dem Determinismus nicht zu vereinbaren, denn ist dieser gegeben, gibt es nur einen möglichen Weltverlauf. Selbstbestimmung wurde in Kapitel 2.1 definiert als die Fähigkeit einer Person, ihre Entscheidungen auf der Basis von Wünschen, Überzeugungen, Werten und Zielen zu treffen. Entscheidungen, die nicht determiniert seien, können aber – so die Gegner:innen des Libertarismus – auch nicht vollständig durch Wünsche, Überzeugungen, etc. bestimmt sein und müssen deshalb als Produkte des Zufalls betrachtet werden.50 Da die Entscheidungen sich in diesem Fall aber als „grundlos, irrational, unerklärlich, kapriziös […] [und] erratisch“51 erweisen würden, könnten sie der entscheidenden Person nicht im Sinne der Urheberschaft zugeschrieben werden. Auch Roth vertritt (spätestens seit 2007) diese Ansicht.52 Sie ist neben seinem naturalistischen Weltbild der Hauptgrund für seine Bestreitung libertarischer Willensfreiheit. Er schreibt: „Ein Begriff von Willensfreiheit, der auf der Annahme einer Kausallücke […] beruht, ist selbstwidersprüchlich. Kausallücken führen zu zufälligen Variationen unsers [!] Verhaltens, aber nicht zu willensfreiem Handeln.“53 Ein libertarisches Freiheitskonzept muss deshalb zeigen können, wie es möglich ist, einen freien Willen von einem zufälligen Willen zu unterscheiden, ohne dass dies wiederum in einen (Motiv-)Determinismus mündet, der libertarische Willensfreiheit ausschließt.54 Die Mehrheit der Philosoph:innen hält dies für unmöglich und vertritt deshalb in Bezug auf die Willensfreiheit eine kompatibilistische Position, d. h. sie hält Determinismus und Willensfreiheit für miteinander vereinbar oder geht sogar davon aus, dass Willensfreiheit nur unter deterministischen Voraussetzungen möglich ist.55 Roth, der wegen seines Festhaltens am Determinismus Willensfreiheit lange Zeit für unmöglich hielt,56 also – wie Singer heute noch – ein Vertreter des Inkompatibilismus war, hat sich durch seine Zusammenarbeit mit dem Philosophen Pauen davon überzeugen lassen, dass man auch in einer determinierten Welt Willensfreiheit in einem kompatibilistischen Sinn für möglich halten könne.57 In kompatibilistischen Konzeptionen muss dazu aber in den meisten Fällen der Sinn des Begriffs der Willensfreiheit so abgeschwächt werden, dass er nicht mehr der tatsächlichen Möglichkeit des Andersentscheidenkönnens/Andershandelnkönnens bedarf.58 Der Begriff der Willensfreiheit wird also umgedeutet. Es kommt in die-

50 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Keil: Willensfreiheit, 103. Keil: Willensfreiheit, 103. Vgl. Roth: Sicht (2015), 199f. Vgl. Roth: Perspektive, 182. Vgl. Roth: Willensfreiheit, Physik, 164. Roth: Persönlichkeit (2007), 320. Vgl. Klein: Willensfreiheit, 180. Vgl. Hardegger: Willenssache, 51 und 60. Vgl. Roth: Fühlen. Vgl. Roth: Gehirn. Vgl. Roth: Sicht (2003). Vgl. Pauen/Roth: Freiheit. Vgl. Roth: Persönlichkeit (2007), 320. Vgl. Hardegger: Willenssache, 51.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

sen Konzeptionen, damit der Wille als frei gelten kann, nicht darauf an, dass er indeterminiert ist, sondern dass er auf eine geeignete Art determiniert ist.59 Wie diese Determination aussehen muss, ist von Konzeption zu Konzeption unterschiedlich. Beispielhaft sollen hier die Ansätze von Pauen (in Zusammenarbeit mit Roth), Bieri und Walde kurz erläutert werden, weil diese Philosoph:innen in der deutschsprachigen Freiheitsdebatte eine prominente Rolle spielen und sie auf die Hirnforschung Bezug nehmen.60 Pauen und Roth fordern, damit der Wille als frei gelten könne, müsse er von den personalen Präferenzen der betreffenden Person bestimmt sein.61 Unter diesen werden spezifische Überzeugungen, Wünsche und Charaktermerkmale einer Person verstanden,62 welche „den Kern einer Person“63 ausmachen und welche die Person „aufgeben kann, wenn sie sich entscheidet, sie aufzugeben“64 . Das letztgenannte Kriterium wird aufgestellt, um personale Präferenzen von Zwängen zu unterscheiden.65 Bieri nimmt an, dass eine freie Entscheidung dann vorliege, wenn der Wille sich dem füge, was die entscheidende Person als richtig beurteile, wenn also Urteil und Wille zusammenfallen.66 Sei eine Person dagegen nicht in der Lage, ihren Willen durch ihr Urteilen ausreichend zu beeinflussen, so dass eine Kluft entstehe zwischen Urteilen und Wollen, könne ihr Wille in der betreffenden Sache nicht als frei betrachtet werden.67 Die Intuition des Andersentscheidenkönnens wird durch die Kompatibilist:innen meist in der Art gelöst, dass man annimmt: „Die Person hätte anders wollen und entscheiden können, wenn sie andere Wünsche, andere Überzeugungen, Werte, personale Präferenzen und andere Ziele gehabt hätte.“68 Da in diesem Fall jedoch bereits die kausale Vorgeschichte eine andere gewesen wäre,69 kann nicht die Rede von einem Andersentscheidenkönnen unter identischen Bedingungen sein. Entsprechend sind kompatibilistische Konzepte von Willensfreiheit mit zweierlei Schwierigkeiten belastet. Zum einen gelingt es ihnen nicht, eine Antwort auf das oben beschriebene Konsequenzargument zu geben.70 Zum anderen sind sie mit einem Regress-Problem konfrontiert,71 das im Prinzip auf einer umgekehrten 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Keil: Willensfreiheit, 71. Vgl. Hardegger: Willenssache, 60. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 33–35. Vgl. Pauen: Illusion, 67. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 34. Pauen/Roth: Freiheit, 34. Pauen/Roth: Freiheit, 36. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 37. Vgl. Roth: Sicht (2015), 199. Vgl. Bieri: Handwerk, 259–261. Vgl. Bieri: Handwerk, 261. Walde: Willensfreiheit, 170. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 170. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 174. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 81. Vgl. Hardegger: Willenssache, 71.

Das Zufallsproblem und die Schwierigkeiten des Kompatibilismus

Sichtweise des Konsequenzargumentes beruht. Dieses stellt sich je nach kompatibilistischem Ansatz in leichten Variationen dar. Im Fall von Pauen und Bieri besteht es darin, dass man – einen deterministischen Weltverlauf vorausgesetzt – sowohl im Fall der kausalen Präferenzen als auch im Falle des Urteilens über den Willen immer weiter hinter diese Kriterien zurückgehen kann, indem man nach ihrer Genese fragt. Warum sollte beispielsweise eine Person eine personale Präferenz aufgeben? Pauen antwortet, der einzige mit Freiheit vereinbare Grund zur Aufgabe einer personalen Präferenz seien andere personale Präferenzen derselben Person.72 Unter deterministischen Vorannahmen unterliegt aber auch das Abwägen zwischen verschiedenen Präferenzen deterministischen Gesetzen.73 Ob eine Person also eine Präferenz zu Gunsten einer anderen aufgeben könnte, hängt völlig von der kausalen Vorgeschichte ab, die determiniert, welche personalen Präferenzen die Person überhaupt hat, wie wichtig die zur Wahl stehenden Präferenzen der betreffenden Person sind und nach welchen Kriterien sie zwischen diesen abwägt. Bei Bieris Ansatz ist entsprechend das Urteilen auf dieselbe Weise determiniert. Unter deterministischen Bedingungen gibt es, wie Bieri selbst erläutert, nur eine Möglichkeit, wie das Urteil ausfallen kann.74 Um diese Problematik zu umgehen, führt Walde in ihrem kompatibilistischen Konzept die „epistemische Offenheit der Zukunft“75 als zusätzliche Bedingung für Willensfreiheit ein: Da eine entscheidende Person faktisch nicht alle Determinanten ihrer Entscheidung kenne, erscheine ihr die Zukunft offen.76 An der Intuition des Andersentscheidenkönnens unter identischen Bedingungen kann deshalb in den Augen von Walde insofern festgehalten werden, dass aus der epistemischen Sicht der entscheidenden Person durchaus unterschiedliche potentielle Entscheidungsmöglichkeiten vorstellbar sind, auch wenn diese Möglichkeiten in Wirklichkeit nicht existieren bzw. – gegeben den bisherigen Weltzustand und die Naturgesetze – nicht möglich sind.77 Das mangelnde Wissen über die Handlungsdeterminanten könne die Person in Entscheidungssituationen dazu veranlassen, alternative Entscheidungsszenarien zu simulieren.78 Indem sie das tue, würde die Entscheidung – entgegen der Behauptung des Konsequenzarguments – insofern unter der Kontrolle der Person stehen, dass diese im Zuge der Simulation bislang bestehende äußere und innere Determinanten durch andere Determinanten ersetzen könne und sich

72 73 74 75 76 77 78

Vgl. Pauen: Illusion, 84. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 77. Vgl. Bieri: Handwerk, 325. Walde: Willensfreiheit, 197. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 178. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 179–181. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 187.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

somit über die ursprünglichen Determinanten hinwegsetzen könne.79 In diesem Sinne führt nach Ansicht von Walde die Überzeugung, einen freien Willen zu haben, dazu, dass Personen tatsächlich freier sind.80 Neben Walde haben bereits einige andere Philosophen versucht, das Argument des epistemischen Indeterminismus für die Willensfreiheit stark zu machen.81 Auch Habermas nimmt, wie sich noch zeigen wird, Bezug darauf. Den Details der Konzeption von Walde kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Allerdings müsste man unter der Annahme des Determinismus davon ausgehen, dass es durch diesen auch determiniert ist, welche der Determinanten im Zuge der Simulation letztlich den Ausschlag gibt und ob eine Determinante durch eine andere Determinante ersetzt wird. Außerdem zeigt ein Zitat Waldes implizit, dass die Konzeption möglicherweise einen Haken hat. Walde endet mit dem Satz: „Sie [die Willensfreiheit] verschwindet, wenn Personen glauben, dass sie keine Willensfreiheit haben, und sie wird möglich, wenn Personen glauben, dass sie manchmal frei entscheiden und handeln können.“82 Unabhängig von der Frage, ob der Determinismus wahr ist oder nicht, muss man hier Folgendes entgegnen: Da die handelnde und die erkennende Person – wie Habermas zu Recht anmerkt – identisch sind und die handelnde Person deshalb nicht ignorieren kann, was die erkennende Person weiß,83 kann ein und dieselbe Person auf der epistemischen Ebene nicht zugleich den Determinismus für wahr halten und verschiedene Entscheidungsszenarien für vorstellbar erachten. Denn prinzipiell sind zwar, wie Walde korrekt ausführt, auch indeterministische Welten vorstellbar, in denen alternative Entscheidungen möglich sind,84 die Simulation von Entscheidungsmöglichkeiten macht aber nur Sinn, wenn sie sich auf die wirkliche Welt der entscheidenden Person bezieht. Offensichtlich sind also kompatibilistische Konzeptionen von Willensfreiheit mit erheblichen Schwierigkeiten belastet und stellen keine Lösung des Problems dar. Das von den Vertreter:innen des Kompatibilismus benannte Zufallsproblem steht jedoch weiterhin im Raum als Anfrage an libertarische Vorstellungen von Willensfreiheit. Wie die Kapitel 4.4.3 und 4.7 zeigen werden, lässt das Problem sich nicht lösen, solange man an der physikalistischen Annahme der kausalen Geschlossenheit der mikrophysikalischen Welt oder an der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt im Sinne bestimmter nicht-physikalistischer Naturalismen festhält.

79 80 81 82 83 84

Vgl. Walde: Willensfreiheit, 187. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 205. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 177. Walde nennt hier: Donald MacKay, Max Planck und Karl Popper. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 206. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 312. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 184.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

4.4

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

Wie bereits erläutert, beinhaltet der Physikalismus die beiden zentralen Thesen, dass alle Dinge in der Welt sich aus physikalischen Mikropartikeln zusammensetzen – diese Position ist deshalb eine Variante eines ontologischen physischen Monismus85  – und dass nur diesen Mikropartikeln eine kausale Wirksamkeit zukommt. Die Mehrheit der Vertreter:innen der analytischen Philosophie des Geistes und der Wissenschaftstheorie teilt ein solches physikalistisches Weltbild.86 Dementsprechend verneint sie die wesensmäßige Verschiedenheit geistiger und physischer (d. h. physikalischer) Phänomene. Geistige Phänomene sind ihrer Ansicht nach ebenso wie alle anderen Dinge in der Welt physische (d. h. physikalische) Zustände bzw. physikalische Prozesse,87 genauer gesagt Aktivitätszustände des Gehirns, bei denen es sich letztlich um physikalische Prozesse handelt. Vertritt man eine physikalistische Weltsicht, dann liegt es jedoch auch nahe anzunehmen, dass jedes Geschehen in der Welt und jedes Phänomen sich auf Grund des Wissens über die Mikropartikel und die für sie geltenden Naturgesetze erklären lassen muss, d. h. dass es möglich sein muss, alle diese Dinge auf physikalische Zusammenhänge zu reduzieren.88 Ob eine solche Reduktion tatsächlich möglich ist, ist allgemein – in Bezug auf Geistiges noch einmal verstärkt – sehr umstritten, ebenso wie die Frage, was aus der Unmöglichkeit der Reduktion für die These des Physikalismus zu schlussfolgern ist bzw. wäre. Im Folgenden werden zunächst die unterschiedlichen Reduktionsmodelle erläutert, die in der Wissenschaftstheorie diskutiert werden. Im Anschluss wird dann – mit einem Schwerpunkt auf geistigen Phänomenen, weil diese für die Willensfreiheit besonders relevant sind – erörtert, welche Schwierigkeiten bei der Reduktion auftreten. Kapitel 4.4.2 befasst sich mit den ontologischen Schlussfolgerungen, die in der analytischen Philosophie des Geistes aus diesen Schwierigkeiten gezogen werden und in unterschiedliche Konzepte bezüglich des Verhältnisses von Geist und Materie bzw. Geist und Gehirn münden. Kapitel 4.4.3 thematisiert das aus dem Physikalismus resultierende Problem der mentalen Verursachung. 4.4.1

Was meint ‚Reduktion‘ und wie erfolgreich sind Reduktionsversuche?

Das Standardmodell einer Reduktion versteht Reduzierbarkeit als das Verhältnis zwischen zwei Theorien, das dann vorliegt, wenn die Gesetze und Regeln der redu85 86 87 88

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 62 und 64f. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326f. Exemplarisch findet sich diese Aussage in Roth: Fühlen, 247 und in Roth: Gehirn, 302. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 181.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

zierten Theorie aus den Gesetzen und Regeln der reduzierenden Theorie deduziert oder mit ihrer Hilfe erklärt werden können.89 In diesem Fall sind die Gesetze der reduzierten Theorie in den Gesetzen der reduzierenden Theorie enthalten, d. h. erstere sind aus letzteren logisch ableitbar.90 Dies bedeutet für den Anwendungsbereich der reduzierenden Theorie, dass die durch die reduzierte Theorie erklärten Phänomene durch die reduzierende Theorie erklärt werden müssen.91 Eine solche Reduktion ist nur möglich, wenn sich auch die Begriffe der beiden Theorien aufeinander reduzieren lassen.92 Dazu müssen die Begriffe entweder eine identische Bedeutung haben, so dass der eine Begriff durch den anderen ohne Schwierigkeiten ersetzt werden kann, oder es muss eine Verknüpfbarkeit der Begriffe der einen Theorie mit den Begriffen der anderen Theorie in Form von so genannten ‚Brückenprinzipien‘ vorliegen, die einen Zusammenhang zwischen den Begriffen herstellen.93 Die Begriffe der reduzierten Theorie müssen mithilfe der Begriffe der reduzierenden Theorie ausgedrückt werden.94 Darüber hinaus ist es für die Reduktion notwendig, dass das System, auf welches man die reduzierende Theorie anwenden möchte, spezifiziert wird – andernfalls ist die Ableitung trivialerweise nicht möglich.95 Im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Geistigem und Physischem bzw. von Geist und Gehirn ist vor allem das explanatorische Modell der Reduktion relevant.96 Demnach liegt Reduzierbarkeit auch dann vor, wenn die Gesetze und Regeln einer Theorie nicht aus der anderen ableitbar und die Begriffe einer Theorie nicht in die Begriffe einer anderen übersetzbar sind.97 Reduzierbarkeit liegt in diesem Fall gleichwohl vor, wenn „[…] die eine Theorie die Funktion der anderen bei der Erklärung und Vorhersage von Tatsachen übernehmen kann. D. h., die reduzierende Theorie muß alle die Tatsachen erklären können, die die reduzierte erklären konnte […]“98 . Dass eine Reduktion möglich ist, lässt sich am besten dadurch belegen, dass diese Reduktion durchgeführt wird.99 Unabhängig von den komplexen Zusammenhängen zwischen Neurobiologie und Geist hat sich das von Paul Oppenheim und

89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 60. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 181f. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 182. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 60. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 60. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 60. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 182. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 182f. Vgl. Carrier: Reduktion, 519. Vgl. Carrier: Reduktion, 519. Carrier: Reduktion, 519. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 187.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

Hilary Putnam (1958) entwickelte wissenschaftliche Programm, alle Theorien für alle Phänomene der Welt durch eine Theorienreduktion gemäß dem beschriebenen Standardmodell auf eine einzige, physikalische Theorie, die einer Weltformel gleichkäme, zu reduzieren (= Mikroreduktion), als nicht erfolgreich erwiesen.100 Allein innerhalb der Physik ist es bisher nicht gelungen, die beiden zentralen Theorien, Quantenphysik und Allgemeine Relativitätstheorie, aufeinander zu reduzieren. Helmut Schwelger schreibt: „Tatsächlich bildet die heutige Physik zusammen mit den angrenzenden Naturwissenschaften einen Komplex von vielfältig miteinander verbundenen Bereichstheorien unterschiedlicher Breite und Allgemeinheit, vergleichbar einem Patchwork oder Flickenteppich.“101 Da dieses Modell der Reduktion schon innerhalb der Physik nicht funktioniert, ist es nur logisch, dass die physikalische Erklärung nicht von der Physik bis ‚hinauf ‘ zu neuronalen Netzwerken und mentalen Zuständen reicht.102 Eine Reduktion gemäß diesem Modell wird dann auch in der Philosophie des Geistes meist nicht angestrebt. Reduktionsversuche entsprechend dem explanatorischen Reduktionsmodell sind dagegen bereits häufiger gelungen. Paul Hoyningen-Huene spricht von unzähligen Fällen von Reduktionen „etwa in Ökonomie, Linguistik, Geologie, Biologie, Pharmazie, Chemie und Physik.“103 Makroökonomische Effekte, sprachliche Sätze, die Erdkruste, Festkörper, Flüssigkeiten, Gase, Moleküle, Atome und Atomkerne […] [sind] als Systeme von kleineren Einheiten analysiert und anschließend Eigenschaften und Funktionen der Systeme aus ihren Teilen und deren Konfigurationen erklärt […] [worden].104

Wobei hier allerdings nicht in allen Fällen eine Reduktion auf physikalische Zusammenhänge gemeint sein kann. Die vielen, sich kontinuierlich einstellenden Erfolge dieses reduktionistischen Programms auf der Basis des explanatorischen Reduktionsmodells lassen in den Augen der meisten Forscher:innen keine Grenze für dieses Programm erkennen, meint Hoyningen-Huene.105 Dementsprechend gehen sie davon aus, dass eine Reduktion auf das Physikalische zwar faktisch und praktisch nicht immer durchführbar, prinzipiell und theoretisch aber bei allen Phänomenen möglich ist.106

100 101 102 103 104 105 106

Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 64–66. Schwelger: Reduktionismen, 70. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 78. Hoyningen-Huene: Reduktion, 187. Hoyningen-Huene: Reduktion, 187. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 188. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 188.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

In der philosophischen Debatte um das Verhältnis von Geist und Gehirn bzw. von Geistigem und Materiellem wird nicht immer ausreichend erläutert, welches Modell der Reduktion angewandt wird. Folgt man jedoch den Ausführungen von Schwelger, so kommt auch im Hinblick auf diese Frage zumeist das weniger anspruchsvolle explanatorische Modell der Reduktion zum Einsatz,107 da es auf der Ebene mentaler Phänomene keine hinreichend elaborierte Theorie gibt, die gemäß dem Standardmodell auf eine neurobiologische Theorie reduziert werden könnte.108 Was die reduktionistischen Konzepte also nach diesem Modell leisten müssen, ist die Reduktion der verschiedenen mentalen Phänomene, durch ihre neurobiologische oder bestenfalls physikalische Erklärung.109 Bestimmte Aspekte des Geistigen widersetzen sich einer solchen Reduktion jedoch hartnäckig, weshalb reduktionistische Annahmen im Hinblick auf das Verhältnis von Geist und Gehirn inzwischen als problematisch gelten.110 Von Vertreter:innen reduktionistischer Theorien wird das explanatorische Modell meist so interpretiert, dass geistige Phänomene bzw. Zustände auf physische Phänomene bzw. Zustände reduziert werden können, wenn die sie beschreibenden Begriffe den Zuständen identische kausale Rollen zuschreiben.111 Dies würde implizieren, dass die physischen Prozesse auf genau dieselbe Art und Weise ablaufen würden, wenn sie nicht von Bewusstsein begleitet würden, weil alle kausalen Wirkungen eben von den physischen Prozessen ausgehen. Dass eine solche explanatorische Reduktion von Bewusstsein möglich ist, kann bezweifelt werden. Es erscheint außerdem zweifelhaft, ob die kausalen Rollen alles sind, was an mentalen Phänomenen zu erklären ist. Dies scheint auch Roth so zu sehen. Er ist der Ansicht, die derzeitigen Theorien der Hirnforschung seien nicht in der Lage, das Phänomen des Bewusstseins (das eben mehr umfasst als nur kausal eine Rolle zu spielen) aus den neuronalen Eigenschaften logisch zwingend abzuleiten und zu erklären.112 Die wichtigsten relevanten Merkmale des Mentalen, die sich der Reduktion widersetzen, sind die Privatheit, der phänomenale Charakter und die Intentionalität geistiger Zustände.113 Über die Privatheit des Bewusstseins meint Roth, Hirnforscher:innen würden allein auf der Grundlage der neuronalen Eigenschaften dieser Prozesse nicht unterscheiden können, ob ein Mensch denkt, erinnert, hofft, sich fürchtet oder Schmerzen hat.114 Hirnforscher:innen sind beim heutigen Erkennt-

107 108 109 110 111 112 113 114

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 66, 68 und 74. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 76. Vgl. Schwelger: Reduktionismen, 76. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 72. Becker: Bewusstseinsfalle, 66. Vgl. Roth: Fühlen, 242. Vgl. Beckermann: Einführung, 11 und 13–15. Vgl. Roth: Fühlen, 242.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

nisstand nicht einmal in der Lage, an einem Hirnprozess zu erkennen, ob dieser Bewusstsein hervorruft oder nicht, denn um dies feststellen zu können, sind sie auf die Auskünfte eines Menschen, der diese Hirnzustände aus seiner eigenen Erlebnisperspektive erfährt, und auf eigene Erfahrungen aus dieser Perspektive angewiesen.115 Nur so können Hirnforscher:innen Korrelationen zwischen Bewusstseinszuständen und Hirnaktivität feststellen.116 Roth meint hierzu: Das gilt auch dann, wenn ich akzeptiere, dass viele dieser psychischen Zustände nicht nur mit innerem Erleben, sondern auch mit bestimmten Verhaltensweisen verbunden sind […]. Dass sich jemand vor Schmerzen krümmt, kann ich nur wissen, wenn ich selbst weiß, was Schmerzen sind bzw. andere, die Schmerzen kennen, mir davon berichtet haben. Ohne diese Vorerfahrung aus dem Selbsterleben oder den Berichten anderer wären mir bestimmte Hirnaktivitäten, von denen man feststellt, dass sie mit Schmerzzuständen zu tun haben völlig rätselhaft.117

Epistemisch direkt zugänglich sind mentale Zustände also nur aus der Perspektive der Person, die diese Zustände hat. Nur die Person selbst kann z. B. unvermittelt wissen, dass sie Schmerzen hat und nur diese Person kann die Schmerzen fühlen.118 Eng verbunden mit der Privatheit geistiger Zustände ist ihr phänomenaler Charakter, von dem bereits in Kapitel 3.1.2.5 die Rede war. Denn mit dem privilegierten Zugang zum Bewusstsein durch die betreffende Person ist stets auch eine bestimmte, subjektive Erlebnisqualität bzw. eine subjektive Empfindung verbunden.119 Man spricht in diesem Zusammenhang von so genannten Qualia.120 Viele Bewusstseinszustände sind mit bestimmten Empfindungen verbunden, wie es ist bzw. wie es sich anfühlt, diese Bewusstseinszustände zu erleben.121 Das gilt insbesondere für Zustände wie Schmerzempfindungen, Sinnesempfindungen bzw. Wahrnehmungs-Erlebnisse, sowie für Gefühle, Emotionen und Stimmungen.122 Gegenwärtig wird zur Erläuterung dieses Phänomens meist auf den Aufsatz „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ von Thomas Nagel verwiesen.123 Aus der objektivierenden Perspektive eines Beobachters lässt sich dieses phänomenale Bewusstsein

115 116 117 118 119 120 121 122 123

Vgl. Roth: Fühlen, 242. Vgl. Roth, Fühlen, 242. Roth: Fühlen, 242. Vgl. Beckermann: Einführung, 11. Vgl. Beckermann: Einführung, 12. Vgl. Teichert: Einführung, 134. Vgl. Teichert: Einführung, 135. Vgl. Teichert: Einführung, 135f. Vgl. Nagel: Fledermaus, 261–275.

111

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

aber nicht erfassen und nicht erklären124  – auch nicht durch die in Kapitel 3.1.2.5 erläuterte These der Metarepräsentationen. Noch so viel objektives Wissen über die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins und über das Ablaufen neuronaler Prozesse im Gehirn kann kein Wissen über die subjektive Perspektive von Erlebnissen vermitteln125 und Bewusstsein konstituiert sich gerade durch diese Perspektive. Ansgar Beckermann meint zu diesem Problem: „Wie soll es möglich sein, daß es sich überhaupt irgendwie anfühlt bzw. daß es überhaupt irgendwie ist, in einem bestimmten Gehirnzustand zu sein? Gehirnzustände hat man, aber man erlebt sie nicht.“126 Es besteht hier also eine Erklärungslücke, die von materialistischen Konzepten des Geistes nicht gefüllt werden kann und die gegen die Möglichkeit einer Reduktion geistiger auf physische Zustände spricht.127 Unter der Intentionalität mentaler Zustände wird die Eigenschaft mentaler Zustände verstanden, sich auf reale oder vorgestellte Objekte oder Sachverhalte zu richten und mittels dieser Eigenschaft als Bestandteil von kognitiven Operationen, wie z. B. von Schlussfolgerungen, aufzutreten.128 Diese Eigenschaft des Bewusstseins wurde zuerst 1874 von Franz Brentano in seinem Werk „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ erkannt und später von Edmund Husserl aufgegriffen,129 der feststellte, Bewusstsein sei immer Bewusstsein von etwas, also Gegenstandsbewusstsein.130 Diese These wird heute meist insofern eingeschränkt, als nicht allen mentalen Zuständen Intentionalität zukommt.131 Stimmungen bzw. Empfindungen oder auch dem Schmerz wird in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes meist kein intentionaler Gehalt zugesprochen.132 Als intentionale Zustände gelten dagegen beispielsweise Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen und Erwartungen.133 In der analytischen Philosophie wird auch über das Verhältnis zwischen der Intentionalität des Mentalen und der Intentionalität von Sprache nachgedacht. Da diese Zusammenhänge für das Kapitel 5 wichtig sind, folgen hier ein paar kurze Erläuterungen zu diesem Thema. Es wird von einer Analogie zwischen der Intentionalität von Sprache, wie sie in Sprechakten zum Ausdruck kommt, und der

124 125 126 127 128 129 130 131 132 133

Vgl. Roth: Fühlen, 249. Vgl. Teichert: Einführung, 137. Beckermann: Einführung, 15. Vgl. Pauen: Grundprobleme, 94. Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 219. Vgl. Junghans: Intentionalität, 646. Vgl. Graeser: Positionen, 71 und 77. Vgl. Sommer: Einführung, 54. Vgl. Graeser: Positionen, 74–76. Vgl. Graeser: Positionen, 74–76. Vgl. Beckermann: Einführung, 13. Vgl. Beckermann: Einführung, 13.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

Intentionalität von mentalen Zuständen ausgegangen.134 Weiterhin nimmt man an, dass Menschen nur über die Analyse der Sprache einen Zugang zum Verständnis mentaler Intentionalität haben.135 Mentale Intentionalität besteht aus einem intentionalen Zustand und seinem intentionalen Gehalt.136 Das Verhältnis zwischen intentionalem Zustand und intentionalem Gehalt lässt sich sprachlich in folgende, der Struktur von mentaler Intentionalität analoge Form bringen: Jemand glaubt, befürchtet, wünscht (= intentionaler Zustand), dass irgendetwas der Fall ist/eintreten wird etc. (= intentionaler Gehalt).137 Nachdem mentale Intentionalität auf diese Weise in sprachlicher Form beschrieben wurde, lassen sich nun auch sprachanalytische Begrifflichkeiten mit den Begrifflichkeiten für mentale Intentionalität analogisieren: Der intentionale Gehalt eines mentalen Zustands ist analog zu der Proposition eines Sprechaktes.138 Eine Proposition ist alles, was man sagt, indem man einen bestimmten Satz äußert.139 Beispielsweise ist der Satz ‚Der Stuhl ist kaputt.‘ eine Proposition. Der intentionale Zustand wird in der Sprachphilosophie als analog zur propositionalen Einstellung140 bzw. zum illokutionären Akt einer Sprachhandlung angesehen.141 Bei sprachlichen Äußerungen der Form ‚Der Stuhl ist kaputt.‘ besteht der illokutionäre Akt in der Absicht bzw. dem Zweck, den die Sprecherin142 mit ihrer Aussage verfolgt.143 Er könnte z. B. lauten: ‚Ich warne dich, dass…‘ oder ‚Ich sehe, dass…‘. Weil illokutionäre Akte Propositionen zum Inhalt haben, sind sie semantisch bzw. rational bewertbar, d. h. je nachdem, ob es sich um Überzeugungen oder um Hoffnungen bzw. Wünsche handelt, haben sie Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingung.144 Sie können wahr oder falsch sein bzw. erfüllt werden oder nicht.145 Aus der Analogie zwischen der Intentionalität von mentalen Zuständen und von Sprache werden in der analytischen Philosophie unterschiedliche Konsequenzen gezogen. John R. Searle geht davon aus, dass die Intentionalität mentaler Zustände

134 135 136 137 138 139 140 141 142

Vgl. Runggaldier: Sprachphilosophie, 50. Vgl. Junghans: Intentionalität, 647. Vgl. Graeser: Positionen, 74. Vgl. Junghans: Intentionalität, 647. Vgl. Beckermann: Einführung, 13. Vgl. Beckermann: Einführung, 13. Vgl. Beckermann: Einführung, 269. Vgl. Beckermann: Einführung, 270. Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 219f. Vgl. Leerhoff: Einführung, 55. Der besseren Verständlichkeit halber verzichte ich hier und im weiteren Verlauf der Arbeit bei den sprachphilosophischen Begriffen „Sprecher“ bzw. „Sprecherin“ und „Hörer“ bzw. „Hörerin“ im Singular auf das Gendern durch den Doppelpunkt. Stattdessen werde ich die weibliche und die männliche Form im Wechsel verwenden. 143 Vgl. Leerhoff: Einführung, 56. 144 Vgl. Beckermann: Einführung, 270. 145 Vgl. Beckermann: Einführung 270f.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Voraussetzung dafür ist, dass Sprache Intentionalität haben kann.146 Roderick M. Chrisholm geht dagegen nur so weit, zu sagen, dass intentionale Sätze ein Indiz für intentionale Zustände sind,147 dass also der Vollzug eines Sprechaktes Ausdruck des entsprechenden intentionalen mentalen Zustands ist oder sein könnte.148 Für Vertreter:innen eines reduktionistischen Physikalismus ergibt sich die Schwierigkeit, Intentionalität als Eigenschaft neuronaler Prozesse erklären zu müssen. Es scheint nur schwer möglich, zu erklären, wie sich physische Zustände auf Objekte in der Welt beziehen können.149 Denn wie sollen „kleine Materiestückchen in einem Schädel“150 sich beispielsweise auf Julius Caesar oder den Weihnachtsmann beziehen?151 Hinzu kommt die Schwierigkeit, neurobiologisch zu erklären, wie die Gehalte intentionaler Zustände beispielsweise beim schlussfolgernden Denken nach rationalen bzw. semantischen Prinzipien zueinander in Beziehung stehen.152 Die Intentionalität mentaler Zustände wird im Kontext physikalistischer Theorien des Geistes häufig als eine Art Repräsentation betrachtet.153 Der Begriff spielte bereits in Kapitel 3.1.2.5 eine wichtige Rolle bei der neurobiologischen Erklärung von Bewusstsein. Ausgehend von dieser Einordnung des Phänomens der Intentionalität wurden bisher von verschiedenen philosophischen Autor:innen Vorschläge zu einer physikalistischen Erklärung des Inhalts mentaler Repräsentationen gemacht.154 Am häufigsten erwähnt werden die Ansätze von Fred Dretske und Jerry Fodor.155 Pauen fasst zusammen, für beide Autoren liefere der Informationscharakter mentaler Zustände den entscheidenden Schlüssel für die Naturalisierung.156 Demgemäß kann eine mentale Repräsentation nur deshalb Informationen über einen Gegenstand enthalten, weil dieser Gegenstand die Repräsentation verursacht hat.157 Die Versuche der Reduktion von Intentionalität durch die Idee der Repräsentationen stoßen jedoch auf Schwierigkeiten, die u. a. mit der Schwierigkeit der Erklärung von Fehlrepräsentationen zusammenhängen.158 Offensichtlich ist

146 147 148 149 150 151 152 153 154 155

Vgl. Teichert: Einführung, 109. Vgl. Junghans: Intentionalität, 647. Vgl. Junghans: Intentionalität, 647. Vgl. Runggaldier: Sprachphilosophie, 51. Vgl. Beckermann: Einführung, 16. Searl: Geist 171. Vgl. Searl: Geist, 171f. Vgl. Beckermann: Einführung, 16. Vgl. Teichert: Einführung, 108. Vgl. Beckermann: Einführung, 333–335. Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 224–226. Vgl. Teichert: Einführung, 119–121. Vgl. Beckermann: Einführung, 334–336. 156 Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 226. 157 Vgl. Pauen, Grundprobleme der Philosophie, 226. 158 Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 266–268.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

es nicht möglich, einen konkreten intentionalen Gehalt eines mentalen Zustands ausschließlich aus neurobiologischen Erkenntnissen über Prozesse des Zentralnervensystems abzuleiten.159 Insofern kann auch nicht die Rede davon sein, die rationale bzw. semantische Beziehung zwischen den intentionalen Gehalten neurobiologisch erklären zu können. Zu Anfang dieser Arbeit wurde als wichtiges Kriterium für Willensfreiheit festgehalten, dass Menschen ihre Entscheidungen auf der Basis von Gründen treffen, die aber nicht mit Ursachen identifiziert werden dürfen, weil sonst die Urheberschaft für eine Entscheidung nicht mehr bei der entscheidenden Person liegen kann. Gründe sind sowohl aus mentalistischer als auch aus sprachpragmatischer Sicht eine Form von Intentionalität, da sie sich auf Objekte oder Sachverhalte beziehen und in der Struktur von illokutionärem Akt und Proposition kommuniziert werden. Es wurden hier nun also erste Belege dafür geliefert, dass eine naturalistisch Identifikation von Gründen und Ursachen problematisch ist. Die Schwierigkeit, das Merkmal der Intentionalität mentaler Zustände naturalistisch zu reduzieren, spielt auch im Zusammenhang des Konzeptes von Habermas eine Rolle. 4.4.2

Zum Verhältnis von Geist und Materie – die meistdiskutierten philosophischen Optionen

Als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen dieser Arbeit soll nun ein Überblick über die verschiedenen in der analytischen Philosophie des Geistes diskutierten philosophischen Optionen zur Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Materie gegeben werden. Da es bereits zahlreiche gründliche Überblicksdarstellungen zu diesen Optionen gibt,160 wird hier auf eine detaillierte Analyse verzichtet. Alle diskutierten philosophischen Optionen haben eine längere Vorgeschichte und sind keine Erfindungen der analytischen Philosophie des Geistes. Diese Vorgeschichte kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht aufgearbeitet werden. Stattdessen beschränke ich mich weitgehend auf die systematische Darstellung der philosophischen Optionen gemäß entsprechender aktueller Einführungs- und Überblickswerke aus dem Bereich der analytischen Philosophie des Geistes. Dies hat insbesondere bei der Darstellung der Emergenztheorien allerdings zur Folge, dass die faktische Pluralität an Theorien, die unter dem Schlagwort Emergenz vertreten wurden und werden, in diesem Kapitel nicht berücksichtigt werden kann. Stattdessen wird dargestellt, wie Emergenz vom Mainstream der aktuellen

159 Vgl. Pauen: Grundprobleme der Philosophie, 235. Pauen meint hier allerdings für eine Naturalisierung sei es ausreichend, erklären zu können, dass ein physisches System überhaupt irgendwelche mentalen Repräsentationen haben kann. 160 Vgl. Teichert: Einführung. Vgl. Brülisauer: Grundprobleme. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle. Vgl. Beckermann: Einführung.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

analytischen Philosophie des Geistes – in der vorliegenden Darstellung in erster Linie vertreten durch den Philosophen Godehard Brüntrup161  – verstanden und diskutiert wird. Diese Vorgehensweise ist u. a. deshalb sinnvoll, weil Habermas, um dessen Ansatz zum Willensfreiheitsproblem es in Kapitel 5 geht, die Debatten in der analytischen Philosophie des Geistes aufgreift, mit seinem Ansatz auch in gewisser Nähe zu Emergenztheorien steht, ihn aber nicht ausdrücklich als Emergenztheorie deklariert. Dies könnte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass er Emergenztheorien eben nur in der Form wahrgenommen hat, wie sie im Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes diskutiert werden. Andere Möglichkeiten, Emergenz zu denken, werden innerhalb dieser Arbeit deshalb erst später eine Rolle spielen, wenn die Frage zu erörtern ist, ob der Habermas’sche Ansatz als eine Emergenztheorie angesehen werden kann (vgl. Kapitel 5.7.3). In der Debatte über das Verhältnis zwischen Geist und Materie, auch LeibSeele-Debatte genannt, hat der Versuch, geistige Phänomene durch physische, d. h. letztlich physikalische Tatsachen reduktiv zu erklären, das Ziel zu zeigen, dass es sich bei geistigen Phänomenen auch ontologisch um physische, d. h. letztlich physikalische Phänomene handelt, dass also keine nicht-physikalischen bzw. nicht von der Physik beschreibbaren Entitäten existieren.162 Indem man aufweist, dass die Reichweite des Erklärungswertes materialistischer Theorien mit ihren materialistischen Begriffen auch mentale Phänomene umfasst,163 und indem man zu erklären versucht, wie mentale Phänomene aus physischen Phänomenen entstehen und dass sie von diesen abhängig sind, soll gezeigt werden, dass die Annahme nicht-physischer bzw. nicht-physikalischer Entitäten überflüssig ist. Man sucht also eine Bestätigung für den Physikalismus. Obwohl die Reduktion, wie das vorherige Kapitel zeigt, insbesondere bei geistigen Phänomenen größte Schwierigkeiten bereitet, hält eine stark überwiegende Mehrheit von Philosoph:innen am Physikalismus fest.164 Diese Mehrheit teilt sich allerdings nach Auffassung von Meinard Kuhlmann in zwei Fraktionen: Die erste Fraktion vertritt einen „ontologischen Reduktionismus ohne methodischen Reduktionismus“165 bzw. einen „reduktiven Physikalismus“166 , d. h. sie geht davon aus, dass eine „Reduktion auf die Ebene der Mikrobestandteile […] bei vielen Phänomenen zwar weder praktisch durchführbar noch explanatorisch gewinnbringend“167 ,

161 162 163 164 165 166 167

Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem. Vgl. Carrier: Reduktion, 516. Vgl. Teichert: Einführung, 134. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326f. Kuhlmann: Theorien, 326. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 65. Kuhlmann: Theorien, 326.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

aber prinzipiell und theoretisch für alle Phänomene möglich ist.168 Philosophische Theorien zum Verhältnis von Geist und Materie, die diese Annahme teilen, sind die Identitätstheorie in ihren verschiedenen Differenzierungen,169 der Funktionalismus170 und der eliminative Materialismus.171 Der Slogan der Identitätstheorie lautet: „‚Der Geist ist das Gehirn‘“172 . Begriffe der mentalen Ebene werden anerkannt, aber ihre Bedeutung mit dem Gehalt physikalischer Begriffe identifiziert.173 Der Funktionalismus geht davon aus, dass alle mentalen Zustände funktionale, physische Zustände sind, d. h. Zustände, die eine bestimmte funktionale Rolle innerhalb physischer Zusammenhänge erfüllen, wobei es sich dabei aber nicht zwangsläufig um neuronale Zustände handeln muss.174 Der eliminative Materialismus besagt, dass es das Mentale nicht gibt. Die Annahme mentaler Zustände oder Eigenschaften sei eine unhaltbare, weil fehlerhafte Theorie, die in absehbarer Zeit durch eine neurobiologische These ersetzt werde.175 Demgegenüber vertritt die andere Fraktion der Physikalist:innen wegen der im vorherigen Kapitel beschriebenen Reduktionsprobleme laut Kuhlmann einen „nicht-reduktiven Physikalismus“176 , d. h. sie geht davon aus, dass komplexe physikalische Systeme (mentale) Zustände bzw. Eigenschaften entwickeln können, die prinzipiell nicht durch das Wissen über die mikrophysikalischen Bestandteile und die für sie geltenden Naturgesetze erklärt werden können, also epistemisch nicht auf diese zurückführbar sind.177 Dennoch bestehen diese komplexen Systeme aus nichts anderem als den von der Physik beschriebenen Mikropartikeln und die mentalen Eigenschaften gehen aus der speziellen Konfiguration der Mikropartikel hervor. Insofern die gesamte Wirklichkeit (einschließlich der mentalen Zustände und Eigenschaften) aus einer Basis hervorgeht, die ausschließlich aus physikalisch beschreibbaren Mikropartikeln besteht, hat man es nach Brüntrup mit einem „physikalistischen Monismus“178 zu tun: „Die basale Ontologie ist physikalistisch.“179 Der physikalistische Monismus wird, so Brüntrup, mit einem Dualismus der Eigenschaften verbunden, insofern eine reduktive, physikalische Erklärung mentalen

168 169 170 171 172 173 174 175 176 177

Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 68. Vgl. Boost: Emergenz, 92f. Vgl. Roth: Gehirn, 289. Teichert: Einführung, 66. Vgl. Teichert: Einführung, 134. Vgl. Brülisauer: Grundprobleme, 303–305. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 74. Kuhlmann: Theorien, 327. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 327. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 218–245. Vgl. Hoyningen-Huene: Emergenz, 43. 178 Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 65. 179 Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 65.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Eigenschaften prinzipiell nicht möglich ist.180 Brüntrup erläutert, in der gegenwärtigen analytischen Philosophie des Geistes würden zwei Modelle des nicht-reduktiven Physikalismus diskutiert: Emergenztheorien und Supervenienztheorien.181 Gemäß der Supervenienztheorien stehen die nicht-reduzierbaren (mentalen) Zustände oder Eigenschaften in einer Supervenienzbeziehung zu ihrer physikalischen Basis, aus der sie hervorgehen. D. h. an den supervenienten mentalen Eigenschaften kann sich nichts ändern, ohne dass sich etwas an der Konfiguration der mikrophysikalischen Bestandteile ändert,182 denn kausale Wirksamkeit kommt nur den

180 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 65f. 181 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 67. Vgl. Beckermann: Einführung, 203–205. Unter den Wissenschaftler:innen aus dem Bereich der analytischen Philosophie des Geistes, die sich gegenwärtig mit Emergenztheorien befassen, besteht keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, ob emergente, epistemisch prinzipiell irreduzible Eigenschaften auch in ontologischer Hinsicht irreduzibel sind. Hoyningen-Huene geht davon aus, dass „Emergenz […] ontologische Reduzierbarkeit zwischen den beiden einschlägigen Niveaus voraus[setzt] […].“ (Hoyningen-Huene: Emergenz, 42) Wenn durch Emergenz in ontologischer Hinsicht nichts Neues entsteht, ist die Bezeichnung physikalistischer Monismus zutreffend. Brüntrup scheint also entsprechend des oben Dargestellten ebenfalls davon auszugehen, dass die emergenten Eigenschaften zwar epistemisch prinzipiell irreduzibel, aber ontologisch reduzibel sind. Philip Clayton, der selbst eine Emergenztheorie des Geistes vertritt, ist dagegen der Ansicht, dass die emergenten Eigenschaften in keiner Hinsicht reduzibel sind, weder kausal, noch explanatorisch, noch metaphysisch noch ontologisch. Die emergenten Eigenschaften stellen für ihn auch in ontologischer Hinsicht etwas Neues dar (vgl. Clayton: Mind, 9 und 61). Dennoch vertritt er ausdrücklich einen ontologischen Monismus, den er dadurch definiert, dass „Reality is ultimately composed of one basic kind of stuff.“ (Clayton: Mind, 4) Aus diesen von der Physik postulierten Entitäten (vgl. Clayton: Mind, 4), die in der Naturgeschichte zeitlich vor den emergenten Eigenschaften auftraten (vgl. Clayton: Mind, 61) emergiert(e) aber etwas in jeder (auch ontologischer) Hinsicht Neues, für dessen Erklärung und Beschreibung die Physik nicht ausreicht (vgl. Clayton: Mind, 4). Clayton geht also von einem ontologischen Monismus aus, der dennoch eine ontologische Pluralität innerhalb dieses globalen Monismus nicht ausschließt (vgl. Clayton: Mind, 62). Da die emergenten Eigenschaften auch in ontologischer Hinsicht etwas Neues sind, kann der ontologische Monismus Claytons logischerweise nicht als ein physikalistischer Monismus bezeichnet werden, obwohl die Emergenzbasis physikalisch ist. Ähnliche Ansichten finden sich bei Timothy O’Connor, der ebenfalls eine Emergenztheorie des Geistes vertritt. O’Connor geht einerseits von einem Substanz-Monismus (vgl. O’Connor: Persons, 121) – also einem ontologischen Monismus – aus und zugleich davon, dass emergente Eigenschaften „ontologically basic“ (O’Connor: Persons, 111), also ontologisch irreduzibel sind. Unabhängig davon, welche der Ansichten bezüglich ontologischer Reduzibilität man für plausibler hält, ist es für den erkenntnistheoretisch informierten Leser bzw. die erkenntnistheoretisch informierte Leserin doch ein wenig irritierend, mit welcher Selbstverständlichkeit Autor:innen aus der analytischen Philosophie des Geistes sich ontologische Aussagen zutrauen. Wie die Erörterung des Ansatzes von Jürgen Habermas zeigen wird, sind doch einige Zweifel daran angebracht, ob dem Menschen ein derart ungefilterter Zugriff auf die Wirklichkeit überhaupt möglich ist. Sind nicht vielmehr alle Aussagen, die der Mensch über die Wirklichkeit treffen kann, sozusagen mit einem epistemischen Index versehen? 182 Vgl. Kuhlman: Theorien, 327. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 74.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

mikrophysikalischen Bestandteilen, nicht aber den daraus emergierten geistigen Eigenschaften zu,183 d. h. die mikrophysikalische Welt ist kausal geschlossen.184 Kausale Wirksamkeit haben superveniente Phänomene nur vermittelt über die sie konstituierende Mikroebene: „Mentale Eigenschaften sind kausal wirksam, weil ihre physische Basis kausal wirksam ist.“185 Kausal betrachtet sind superveniente Phänomene demnach Epiphänomene. Die neuronale Ebene determiniert die geistigen Eigenschaften so, dass zwei Individuen mit identischen neuronalen Zuständen auch identische geistige Zustände haben müssen.186 Die geistigen Zustände können sich nicht ändern, ohne dass auch die neuronalen Zustände sich ändern.187 Gleichen geistigen Zuständen können aber unterschiedliche neuronale Zustände zu Grunde liegen (multiple Realisierung).188 Abgesehen von einem bestimmten – allerdings auch zentralen – Aspekt stimmen Emergenztheorien (sofern es sich um Theorien starker Emergenz handelt (s. u.) und so, wie sie vom aktuellen Mainstream der analytischen Philosophie verstanden werden) mit Supervenienztheorien überein.189 Auch hier wird ein physikalistischer Monismus mit einem Dualismus von Eigenschaften verbunden, d. h. komplexe physikalische Systeme entwickeln emergente mentale Eigenschaften,190 welche epistemisch prinzipiell nicht auf die physikalischen Einzelkomponenten und die für sie geltenden physikalischen Naturgesetze zurückgeführt werden können.191 Mentale Zustände sind also physikalische Zustände mit besonderen Eigenschaften. Brüntrup definiert starke Emergenz in Anlehnung an Beckermann folgendermaßen: Nehmen wir ein beliebiges physisches System, kurz S. Dieses System hat eine Mikrostruktur aus Komponenten, die in einer bestimmten Relation zueinander angeordnet sind, kurz: [K1 , …Kn ; R]. Dann gilt: F ist eine emergente Eigenschaft von S genau dann, wenn es (a) ein Gesetz gibt, nach dem alle Systeme mit dieser Mikrostruktur F haben, (b) die Eigenschaften F aber nicht auf [K1 , …Kn ; R] mikroreduzierbar ist.192

Gemäß der emergenztheoretischen Vorstellung ist der Geist also Teil der Natur und daraus, wie Patrick Becker betont, „im Rahmen von Anfang an geltender

183 184 185 186 187 188 189 190 191 192

Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 74. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 66. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 74. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 68 und 74f. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 68. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 77. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 67–70. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 65f. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 327. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 68.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Naturgesetze hervorgegangen.“193 Allerdings werden diese von Anfang an geltenden Naturgesetze ohne das Vorhandensein des komplexen Systems Gehirn nicht wirksam.194 Sie greifen nicht ohne diese physische Basis195 und können demnach auch nicht durch die Untersuchung physischer Systeme, die nicht das Gehirn sind bzw. die nicht die gleiche Mikrostruktur wie das Gehirn haben, erkannt werden. Brüntrup betont: „Diese Gesetze können jedoch nicht einfach aus dem Wissen um die Grundstrukturen der materiellen Welt deduziert werden.“196 Genau genommen handelt es sich auch nur um ein Naturgesetz, nämlich dass ab einer gewissen Komplexität des Nervensystems Bewusstsein entsteht.197 Brüntrup betont: Die Frage, warum ab einer bestimmten Komplexität des Nervensystems notwendig Bewußtsein entsteht, kann daher nicht durch Rückführung auf fundamentalere Gesetze in einer allgemeinen Theorie erklärt werden. Die Tatsache, daß bestimmte neuronale Strukturen gesetzmäßig mit dem Entstehen von Bewußtsein verknüpft sind, ist ein factum brutum, das wir entdecken und beschreiben, aber nicht wirklich erklären können.198

Das bis hierhin zu Theorien starker Emergenz Ausgeführte trifft auch auf Supervenienztheorien zu. Anders als die Supervenienztheorien qualifizieren die Theorien starker Emergenz die emergenten Eigenschaften als unerwartet, unvorhersagbar und neuartig,199 eben weil diese Eigenschaften sich nicht aus der Kenntnis über die mikrophysikalischen Systembestandteile und die für sie geltenden Naturgesetze ableiten lassen.200 Da allerdings auch die Supervenienztheorien von einer NichtReduzierbarkeit mentaler Eigenschaften auf ihre physische Basis ausgehen, müssten sie konsequenterweise diese mentalen Eigenschaften auch als unvorhersagbar und neuartig qualifizieren. Der entscheidende Aspekt, an welchem sich Theorien starker Emergenz von Supervenienztheorien unterscheiden, besteht vielmehr darin, dass zumeist von einer kausalen Wirksamkeit der stark emergenten mentalen Eigenschaften ausgegangen wird, die nicht – wie bei Supervenienztheorien – auf die kausale Wirksamkeit der Mikrokomponenten reduziert werden kann.201 Die stark

193 Becker: Bewusstseinsfalle, 220. Becker selbst versteht Emergenz allerdings nicht so, wie sie im vorliegenden Kapitel dargestellt wird. Insbesondere stellt er in Frage, ob die Emergenzbasis empirisch tatsächlich erschöpfend erfasst wird. Ich komme darauf in Kapitel 4.6.2 zurück. 194 Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 138. 195 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 231. 196 Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 68. 197 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 68. 198 Brüntup: Leib-Seele-Problem, 68f. 199 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 77. 200 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 70. 201 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 71.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

emergenten Eigenschaften unterliegen einer Eigengesetzlichkeit und beeinflussen ihre physischen Basis, d. h. dass das Bewusstsein auf die neuronale bzw. physikalische Mikroebene einwirkt (Abwärtsverursachung / Verursachung nach unten).202 Der Naturphilosoph und Physiker Hans-Dieter Mutschler weist zu Recht darauf hin, dass es wichtig ist, zwischen schwacher und starker Emergenz zu unterscheiden.203 Unter schwacher Emergenz versteht man das Auftreten systemischer Eigenschaften, also die Tatsache, dass ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes Eigenschaften hat, die die Teile nicht aufweisen. Beispielsweise weist eine Ansammlung von Wassermolekülen bei geeigneten Temperaturen die Eigenschaft auf, flüssig zu sein, während Ansammlungen der atomaren bzw. molekularen Komponenten der Wassermoleküle (Sauerstoff und Wasserstoff) bei denselben Temperaturen nicht flüssig, sondern gasförmig sind. Ebenso haben, erläutert Mutschler, „einzelne Moleküle zwar einen Impuls, aber keinen Druck und keine Temperatur. Diese Eigenschaften treten erst auf, wenn viele Moleküle zusammen kommen.“204 Im Falle der schwachen Emergenz ist das Auftreten neuer Eigenschaften auf der Systemebene zwar möglicherweise subjektiv überraschend, es lässt sich aber – anders als bei Supervenienz und starker Emergenz – aus den Gesetzen, denen die Teile genügen, ableiten.205 Schwache Emergenz sei deshalb, so Mutschler, philosophisch harmlos,206 vertrage sich mit einem ontologischen Reduktionismus und werde von niemandem bestritten.207 Trivial sei sie zudem, weil es kaum einen Fall gebe, „wo sich die Teile zu einem System zusammenfinden, ohne übergreifende Systemeigenschaften zu zeigen.“208 Das Auftreten von Systemeigenschaften, über welche die einzelnen Bestandteile des Systems nicht verfügen, ist also also kein Kriterium zur Abgrenzung schwacher Emergenz von starker Emergenz und Supervenienz. Zur Abgrenzung starker von schwacher Emergenz eignet sich nach Mutschler auch das Merkmal der Abwärtskausalität bzw. Abwärtsverursachung nicht, obwohl viele letztere für ein spezielles Charakteristikum starker Emergenz halten würden.209 Abwärtskausalität, so Mutschler, sei in der Physik etwas ganz Gewöhnliches und im klassischen, auf

202 203 204 205 206 207 208 209

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 221. Vgl. zum ganzen Absatz: Mutschler: Wirklichkeit, 136. Mutschler: Leitartikel. Vgl. Mutschler: Leitartikel. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 138. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 193. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 136. Vgl. Mutschler: Leitartikel. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 138. Mutschler: Wirklichkeit, 137. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 156.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

David Hume und Kant zurückgehenden, Konzept von Kausalität als Sonderfall mit enthalten.210 Mutschler nennt folgendes Beispiel: Nach der idealen Gasgleichung ist in einem Gas das Produkt aus Druck und Volumen der absoluten Temperatur proportional. Ludwig Boltzmann hat dieses Gesetz auf molekulare Bewegungszustände zurückgeführt, die er statistisch berechnete. Nun können wir in einem Experiment die Temperatur konstant halten und das Volumen verkleinern, indem wir den Stempel eines Zylinders eindrücken, der das Gas enthält. Dann müsste sich der Druck erhöhen. Da der Druck nach Ludwig Boltzmann als mittlerer Kraftstoß der Moleküle auf die Gefäßwand definiert ist, würde also eine Kausalwirkung auf das ganze System hinabgreifen bis in seine Teile.211

Obwohl man es im Beispiel mit einem typischen Fall von Abwärtskausalität zu tun habe, werde zur Beschreibung des Prozesses keine neue Form von Kausalität benötigt und das Resultat des Prozesses könne aus den Eigenschaften der Teile und den Gesetzen, die unter ihnen herrschen, bequem hergeleitet werden.212 Es liege deshalb kein Fall von starker Emergenz vor.213 Dasselbe gelte zum Beispiel auch für kybernetische Maschinen, die durch negative Feedbackschleifen über einen Regler auf einem Sollwert gehalten werden.214 Damit starke Emergenz vorliegt, müssen also erstens die Bedingungen der Supervenienz vorliegen, d. h. dass die Eigenschaften des komplexen Systems auch dann nicht vorhergesagt oder erklärt werden können, wenn die Eigenschaften der Teile und die Gesetze, denen sie genügen, vollständig bekannt sind.215 Zweitens muss Abwärtskausalität vorliegen, wodurch sich starke Emergenz von Supervenienz unterscheidet. Die Effekte von Abwärtskausalität können, wenn sie bei einem stark emergenten System auftreten, nicht auf Grund der Teile und der Gesetze, denen sie genügen, vorhergesagt oder erklärt werden. Dies ergibt sich als logische Schlussfolgerung daraus, dass schon die emergenten Eigenschaften nicht auf diese Weise vorhergesagt oder erklärt werden können. Darüber hinaus nennt Mutschler als Kriterium für starke Emergenz die Tatsache, dass die Teile in ihrer Vereinigung zu einem Ganzen Eigenschaften haben, die sie außerhalb nicht hätten.216 Theorien starker Emergenz stellen innerhalb der Wissenschaftstheorie und der

210 211 212 213 214 215 216

Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 158. Mutschler: Wirklichkeit, 158f. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 159. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 159. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 159. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 138. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 137.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

Naturphilosophie eine Minderheitenposition dar. Die Mehrheit der Wissenschaftler:innen vertritt laut Kuhlmann entweder einen reduktiven Physikalismus oder eine Supervenienztheorie.217 Interessanterweise hat sich der reduktive Physikalismus gerade aus der philosophischen Position entwickelt, die er heute am vehementesten ablehnt: dem ontologischen Dualismus, dessen bekannteste Variante auf René Descartes zurückgeht.218 Nach Descartes besteht die Welt jenseits aller Pluralität letztlich aus zwei in ihren Eigenschaften radikal gegensätzlichen Substanzen, nämlich aus Geist bzw. Mentalem (res cogitans) und aus Materie bzw. Physischem (res extensa).219 Willensfreiheit wird nach der klassischen dualistischen Sichtweise, die Descartes vertritt, dadurch möglich, dass der immaterielle, vom Gehirn unabhängige Geist auf den Körper einwirkt.220 Der ontologische Dualismus muss also eine Wechselwirkung zwischen dem mentalen und dem physischen Bereich annehmen.221 Zwar hatte Descartes dem Geist angesichts der „Alleinherrschaft der Physik“ über die materielle Welt (eine Sichtweise, zu der er sich möglicherweise durch die Erfolge der Physik genötigt sah) nun ein eigenes „Refugium“222 geschaffen, jedoch etablierte sich im Laufe der Zeit durch die Erfolge der Naturwissenschaften bei der Erklärung des Physischen die Auffassung, Geistiges für die Erklärung von Ereignissen in der Welt als irrelevant anzusehen. Dementsprechend wurde dann aus dem Dualismus des Descartes das Geistige gestrichen. Übrig blieb der in Kapitel 4 (besonders 4.4.2) beschriebene reduktive Physikalismus, der den Dualismus radikal ablehnt. Insofern der Physikalismus aber ein ‚halbierter Dualismus‘ ist und nur dadurch möglich wurde, dass man zuvor die Welt dualistisch aufgeteilt hatte,223 trägt er das Erbe des Dualismus noch in sich: Er definiert Natur so, dass alles Subjektive oder Qualitative per definitionem ausgeschlossen ist224 und hat dementsprechend, wie das vorherige Kapitel zeigt, Schwierigkeiten, das Geistige zu erklären. Er lehnt den Dualismus ab, hängt ihm aber in Wirklichkeit noch an.225 Descartes kann also nicht nur als

217 Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326f. 218 Vgl. Fuchs: Gehirn, 18f und 27. 219 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 47f und 54. Vgl. Brüntrup: Leib Seele Problem, 25f. Vgl. Bieri: Philosophie, 4. 220 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 54. 221 Vgl. Brüntrup: Leib Seele Problem, 44. Alternativ käme noch die Theorie eines psycho-physischen Parallelismus in Betracht, die aber aktuell kaum noch ernsthaft diskutiert wird (vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 50–53). 222 Beide Zitate vgl. Fuchs: Gehirn, 27. 223 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 146. 224 Vgl. Fuchs: Gehirn, 18. 225 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 85.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Vater des modernen Dualismus sondern auch als Großvater des Physikalismus angesehen werden.226 Dem Konzept des ontologischen Dualismus wird heute sowohl von Naturwissenschaftler:innen (sofern sie sich damit beschäftigen) als auch von Philosoph:innen kaum noch Plausibilität attestiert.227 Dies liegt u. a. daran, dass sich erstens kein eindeutig trennendes Kriterium für den Bereich des Mentalen und den Bereich des Physischen angeben lässt und zweitens bisher kein (auch naturwissenschaftlich) überzeugendes Konzept dazu vorgelegt werden konnte, wo und wie Geistiges und Physisches aufeinander einwirken können.228 4.4.3

Das Problem der mentalen Verursachung oder warum starke Emergenz kein Physikalismus ist

Der Physikalismus stellt auch dann ein Problem für die Annahme libertarischer Willensfreiheit dar, wenn er nicht mit der These des Determinismus einhergeht. Dies lässt sich am berühmt gewordenen Leib-Seele-Trilemma von Bieri und dem Versuch seiner physikalistischen Auflösung zeigen. Nach Bieri ergibt sich das LeibSeele-Problem daraus, dass folgende drei Prämissen für sich genommen plausibel erscheinen, aber logisch nicht gleichzeitig wahr sein können:229 1. Mentale Phänomene (Gründe, Absichten, der Wille) sind nicht-physische Phänomene, denn sie gehören dem Bereich des Geistigen an. 2. Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam, d. h. sie beeinflussen das, was Menschen tun. 3. Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen. Deshalb kann ein physisches Ereignis (z. B. eine Körperbewegung) nicht durch etwas NichtPhysisches bewirkt werden. Um die genaue Bedeutung dieser Prämissen untersuchen zu können, bedarf es zunächst einer Klärung der Begriffe ‚physisch‘ bzw. ‚Physisches‘. Bieri bekennt sich bei der Erläuterung des Trilemmas ausdrücklich zum Physikalismus.230 Das bedeutet, dass er den Begriff ‚physisch‘ synonym mit dem Begriff ‚physikalisch‘ und den Begriff ‚Physisches‘ synonym mit dem Begriff ‚Physikalisches‘ verwendet. In diesem Sinne werden auch in der folgenden Erläuterung diese Begriffe verstanden.

226 227 228 229 230

Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 147. Vgl. Brülisauer: Grundprobleme, 284. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 60f. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 60f. Vgl. Bieri: Philosophie, 5. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 43. Vgl. Bieri: Philosophie, 6.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

In Kapitel 4.7 wird sich zeigen, dass die Prämissen des Trilemmas unter den Vorzeichen eines nicht-physikalistischen Naturalismus eine andere Bedeutung haben, weil gemäß dieser Position das Physische nicht identisch ist mit dem Physikalischen. Auch unter nicht-physikalistisch naturalistischen Vorzeichen können allerdings die drei Prämissen nicht zugleich wahr sein. Das Trilemma wurde innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes extrem stark rezipiert. Meistens leider ohne dass die entsprechenden Autor:innen angeben, ob sie das darin enthaltene Problem unter physikalistischen oder nicht-physikalistisch naturalistischen Prämissen erörtern wollen, was einen erheblichen Unterschied macht. Die entsprechende fehlende Differenzierung zwischen dem Physischen und dem Physikalischen kritisiert auch Mutschler.231 Im Folgenden wird das Trilemma unter physikalistischen Prämissen erörtert. Eine Erörterung unter nicht-physikalistischen, naturalistischen Prämissen erfolgt in Kapitel 4.7.2. Bieri erläutert, der erste Satz entspreche einer Alltagsintuition, gemäß der Menschen selbstverständlich zwischen körperlichen, d. h. nach Bieri physikalischen Phänomenen, und geistigen Phänomenen unterscheiden, ohne dabei allerdings zu leugnen, dass es auch Zusammenhänge zwischen diesen beiden Arten von Phänomenen gibt.232 Dirk Hartmann erläutert, der Satz sei eine Erfahrung der Lebenswelt.233 Eine Analyse dieser Intuition kann zur philosophischen These des ontologischen Dualismus führen. Der erste Satz wird außerdem den Schwierigkeiten gerecht, welche die Reduktion geistiger Phänomene auf physische (und damit aus physikalistischer Sicht auf physikalische) Phänomene bereitet (vgl. Kapitel 4.4.1). Ob Prämisse 1 tatsächlich der Alltagsintuition entspringt, kann bezweifelt werden, was aber an dieser Stelle nicht weiter vertieft wird. Der zweite Satz beruht zweifellos auf Alltagsintuitionen, wie z. B. der Annahme, dass Wünsche, Absichten und Ziele einer Person, d. h. mentale Phänomene, Einfluss auf das Verhalten dieser Person haben.234 Dieser Zusammenhang wird auch als mentale Verursachung bezeichnet.235 Außerdem ist der zweite Satz eine notwendige Voraussetzung für Willensfreiheit, denn wenn Wünsche, Absichten und Ziele einer Person als Gründe keinen Einfluss auf den Willen hätten, könnte von Willensfreiheit keine Rede sein.236 Der dritte Satz ist (sofern die Thesen unter physikalistischen Prämissen formuliert werden) eine Zusammenfassung der Thesen des Physikalismus.237 Da jeweils die Geltung zweier dieser Annahmen die Falschheit der dritten bedingt, können nicht alle drei

231 232 233 234 235 236 237

Vgl. Mutschler: Naturphilosophie, 90–96. Vgl. Bieri: Philosophie, 2. Vgl. Hartmann: Physis, 105. Vgl. Bieri: Philosophie, 5. Vgl. Bieri: Philosophie, 5. Vgl. Walde: Willensfreiheit, 41f. Vgl. Bieri: Philosophie, 6.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Annahmen zugleich wahr sein. Ein Lösungsvorschlag zur Frage der Willensfreiheit scheint also nicht ohne eine Antwort auf das Leib-Seele-Problem auszukommen.238 Wissenschaftler:innen, die vom Physikalismus überzeugt sind, lösen das Trilemma üblicherweise auf, indem sie die wesensmäßige Verschiedenheit geistiger und physischer Phänomene verneinen, also den ersten Satz bestreiten.239 Tatsächlich handelt es sich bei dieser vermeintlichen Lösung jedoch um eine Scheinlösung. Trifft der dritte Satz des Trilemmas zu, dann ist nämlich nicht nur der erste, sondern ebenso der zweite Satz des Trilemmas falsch und zwar aus folgenden Gründen:240 Gemäß dem Physikalismus sind mentale Phänomene physikalische Phänomene. Genauer gesagt sind sie Eigenschaften komplexer physikalischer Systeme, wie z. B. des menschlichen Gehirns, die auf Grund ihrer Komplexität mentale Eigenschaften entwickeln.241 Beim reduktiven Physikalismus können die mentalen Eigenschaften durch die physikalische Basis erklärt werden, beim nicht-reduktiven Physikalismus ist dies nicht möglich. Unabhängig davon, ob man von einem reduktiven oder einem nicht-reduktiven Physikalismus ausgeht, geht gemäß der physikalistischen These, dass der mikrophysikalische Bereich kausal geschlossen ist, jede Zustandsveränderung des Systems ausschließlich auf die kausale Wirkung der mikrophysikalischen Bestandteile des Systems zurück, die durch die Naturgesetze, die für diese Bestandteile gelten, beschrieben wird, sowie auf eventuelle mikrophysikalische Zufallsereignisse. Das bedeutet aber, dass die mentalen Eigenschaften, die ja nicht den mikrophysikalischen Bestandteilen zukommen sondern nur dem komplexen, makroskopischen System als Ganzem, kausal vollkommen irrelevant sind. Die kausale Wirksamkeit kommt nicht den mentalen Phänomenen, sondern nur ihrer physischen Basis zu, die zudem – gemäß der Annahme der kausalen Geschlossenheit – alleine vollständig ausreicht, um Zustandsveränderungen des Systems zu erklären. Genau genommen kommt die kausale Wirksamkeit auch nicht dem physikalischen System als Ganzem zu, sondern nur dessen mikrophysikalischen Bestandteilen. Brüntrup erläutert in Bezug auf Supervenienztheorien: „Die supervenienten Eigenschaften haben aus sich heraus keine kausalen Kräfte, nur durch ihre subveniente Realisierung können sie kausal wirksam sein.“242 Eine Makrodetermination der Mikroebene ist ausgeschlossen.243 Das System würde sich auf die exakt gleiche Weise entwickeln unabhängig davon, ob es Bewusstsein hat oder nicht. „Die gesamte Kausalgeschichte aller Ereignisse im Universum läßt sich

238 239 240 241 242 243

Vgl. Walde: Willensfreiheit, 42. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 66. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 71–73. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 67. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 78. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 77f.

Das Leib-Seele- bzw. Geist-Materie-Problem

angeben ohne jemals auf mentale Phänomene eingehen zu müssen.244 “ Das Geistige ist entgegen der Annahme von Satz 2 ein reines Epiphänomen.245 Libertarische Willensfreiheit ist unter diesen Umständen ausgeschlossen. Wird der Physikalismus vorausgesetzt, ist das Leib-Seele-Trilemma nicht lösbar.246 Becker weist darauf hin, dass im Rahmen von Theorien starker Emergenz mentale Verursachung trotz der kausalen Geschlossenheit des Physischen möglich sei, weil der Geist nach diesem Modell der physischen Welt angehöre.247 „Das Bewusstsein bleibt Teil des Physischen, weil es aus diesem heraus entsteht.“248 Demnach könnte man an der These der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt festhalten und mentale Verursachung wäre dennoch möglich: „Die kausale Geschlossenheit des physischen Bereichs wird daher nicht verletzt, weil das Bewusstsein Teil dieses Bereichs ist.“249 Da die kausale Geschlossenheit des Physischen im Rahmen des Physikalismus aber nicht nur die Exklusion immaterieller Ursachen impliziert, sondern die kausale Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs meint (vgl. Kapitel 4.2), das Mentale aber gemäß dem im vorhergehenden Kapitel erläuterten Verständnis von starker Emergenz ein physikalisches Makrophänomen ist, ist diese Annahme nicht zutreffend. Zutreffen kann sie nur (und auch dann nur unter bestimmten Voraussetzungen), wenn die Theorie starker Emergenz vor dem Hintergrund eines nicht-physikalistischen Naturalismus (vgl. Kapitel 4.7) vertreten wird, gemäß dem das Physische und das Physikalische nicht identisch sind.250 Aus der physikalistischen Annahme, dass kausale Wirkungen nur den mikrophysikalischen Bestandteilen von Systemen zukommen, folgt, dass die im vorherigen Kapitel referierte Zuordnung von Theorien starker Emergenz zum nicht-reduktiven Physikalismus falsch ist. Zwar gehen Theorien starker Emergenz, so wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben werden, von einer „physikalistischen Basisontologie“251 aus. Aber sie gehen auch davon aus, dass emergente mentale Eigenschaften

244 Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 108. 245 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 72. 246 Der analytische Philosoph Robert Kane legt einen Entwurf vor, gemäß dem libertarische Willensfreiheit auch unter physikalistischen Bedingungen möglich sein soll. Seine Theorie wird als „kausaler Indeterminismus“ bezeichnet. Es gelingt ihm aber nicht, das Zufallsproblem zu umgehen, weil er nicht zeigen kann, dass das Ergebnis des Entscheidungsprozesses tatsächlich von dem:der Akteur:in kontrolliert wird (vgl. Tewes, Christian: Libertarismus, 148–165, besonders 163f. Vgl. Walter: Grundkurs, 73). 247 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 237. 248 Becker: Bewusstseinsfalle, 231. 249 Becker: Bewusstseinsfalle, 80. 250 Eine solche Position vertritt Becker (vgl. Kapitel 4.6.2) – allerdings ohne seine Verwendung der Begriffe „physisch“ bzw. „das Physische“ entsprechend zu explizieren. 251 Boost: Emergenz, 112.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

komplexer Systeme kausale Wirkungen (auch) auf ihre mikrophysikalischen Systembestandteile ausüben, die nicht auf diese mikrophysikalischen Bestandteile der komplexen Systeme und die für sie geltenden Naturgesetze reduziert werden können. Dies impliziert außerdem, dass der mikrophysikalische Bereich nicht kausal geschlossen ist. Beiden Annahmen kann ein:e Physikalist:in nicht zustimmen und zugleich Physikalist:in bleiben.252 Entsprechend betont beispielsweise der Emergenztheoretiker Philip Clayton, dass starke Emergenz eine dritte ontologische Option neben Physikalismus und ontologischem Dualismus sei.253 Emergentist:innen seien Monist:innen aber keine Physikalist:innen.254 Wenn emergente Eigenschaften kausal wirksam sein können, ist es darüber hinaus trotz der physikalistischen Basisontologie auch nicht korrekt, wie im vorherigen Kapitel in Anlehnung an Brüntrup geschehen, Theorien starker Emergenz den physikalistischen Monismen zuzuordnen. Man müsste eher von einem physischen Monismus sprechen.

4.5

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

Will man an der Idee libertarischer Willensfreiheit festhalten, ohne einen ontologischen Leib-Seele-Dualismus als plausible Option zu betrachten, kann man zwei unterschiedliche Strategien verfolgen, die beide mit dem Physikalismus nicht vereinbar sind. Die erste der beiden Strategien, auf die beispielsweise John Eccles255 , Paavo Pylkkänen256 , Friedrich Beck257 , Winfried Schmidt258 und Patrick Becker259 setzen und die in Kapitel 4.6 erörtert wird, bestreitet den physikalischen Determinismus und als Konsequenz daraus auch die kausale Geschlossenheit des Mikrophysikalischen unter Berufung auf die Quantenphysik. Mentale Verursachung – also die kausale Wirkung des aus physikalischen Prozessen im starken Sinne emergierten Bewusstseins – wird demnach möglich, weil bestimmte Prozesse im Gehirn wegen quantenphysikalischer Indeterminismen physikalisch unterbestimmt sind. Die zweite Strategie, die u. a. im Enaktivismus verfolgt wird (vgl. Kapitel 9), ist ebenfalls mit einem physikalischen Mikrodeterminismus nicht vereinbar. Ein von der Quantenphysik unabhängiger Indeterminismus ist für diese zweite Strategie aber ggf. eine

252 253 254 255 256 257 258 259

Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 73. Vgl. Clayton: Mind, 2. Vgl. Clayton: Mind, 4. Eccles: Self. Pylkkänen: Order. Pylkkänen: Information. Beck: Quantenprozesse. Schmidt: Quantenphysik. Becker: Bewusstseinsfalle.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

Alternative. Sofern sie in diesem Fall nicht auf quantenphysikalische Indeterminismen im Gehirn setzt, ist diese Strategie auf Argumente gegen den physikalischen Mikrodeterminismus angewiesen, die unabhängig von der Quantenphysik sind. Den Überlegungen der ersten Strategie folgend, wird im vorliegenden Kapitel zunächst erörtert, inwiefern die Quantenphysik ein Argument gegen den Determinismus darstellt. Anschließend wird analysiert, welche Argumente jenseits und unabhängig von der Quantenphysik gegen den Determinismus sprechen. In Kapitel 4.5.3 wird thematisiert, warum zusammen mit der These des Determinismus auch die Annahme von der kausalen Geschlossenheit des Physischen fraglich wird. 4.5.1

Determinismus und Quantenphysik

Erst die Quantenphysik brachte Anfang des 20. Jahrhundert das deterministische Weltbild der klassischen Physik ins Wanken.260 Zusammen mit der Relativitätstheorie hat sich die Quantenphysik seit ihrer Entdeckung als Fundament der modernen Physik etabliert.261 Sie hat sich empirisch derart bewährt, dass bisher kein einziges Experiment bekannt geworden ist, das den Vorhersagen der Quantentheorie widersprechen würde.262 Weiterhin kommt der Quantenphysik ein großer Geltungsbereich zu: Mit ihren theoretischen Mitteln können viele unterschiedliche Phänomene, wie der radioaktive Zerfall, die Entstehung und Streuung des Lichts und vieles mehr erklärt werden.263 Darüber hinaus kommt die Quantenphysik in zahlreichen modernen Technologien, wie z. B. in der Mikroelektronik, in der Lasertechnologie, der Kernenergie und der Supraleitfähigkeit erfolgreich zur Anwendung.264 Angeblich hängt geschätzt mehr als ein Drittel der Weltwirtschaft von Produkten ab, die direkt auf Anwendungen der Quantenmechanik zurückgehen.265 Ob mit der Quantenphysik ein Indeterminismus in der Welt belegt werden kann, ist allerdings nicht unumstritten.266 Die unterschiedlichen Auffassungen dazu ergeben sich aus unterschiedlichen Interpretationen der Quantenphysik. Denn trotz ihrer unbestrittenen Vorhersagekraft ist die Interpretation der Quantenphysik bis heute umstritten und die Auseinandersetzungen darüber nehmen eher zu als ab. Gleichzeitig setzt, wie Jürgen Audretsch betont, jede Darstellung der Quantenmechanik schon die Wahl einer Interpretation voraus.267 Es führt also, wenn man

260 261 262 263 264 265 266 267

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 55. Vgl. Benk: Physik, 171. Vgl. Benk: Physik, 172. Vgl. Koch: Kausalität, 181. Vgl. Benk: Physik, 172. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 2. Vgl. Benk: Physik, 202f. Vgl. Audretsch: Wirklichkeit, 19.

129

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

die Bedeutung der Quantenphysik für die These des Determinismus überprüfen will, kein Weg daran vorbei, sich mit den Interpretationen der Quantenphysik zu befassen. Insofern jede dieser Interpretationen Aussagen darüber macht, wie sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis und die naturwissenschaftliche Theorie zur ontologischen Wirklichkeit verhält, handelt es sich um philosophische Interpretationen. Jede der Interpretationen beinhaltet Metaphysik. Während es im Hinblick auf die klassische Physik möglich ist, strikt zwischen Physik und Metaphysik zu trennen, verschwimmen in der Quantenphysik die Grenzen zwischen Physik und Metaphysik. Allerdings unterscheiden sich die Interpretationen der Quantenphysik im Hinblick auf ihre ontologische Sparsamkeit, d. h. im Hinblick darauf, in welchem Maße und Umfang sie Entitäten annehmen, die empirisch nicht messbar oder beobachtbar sind. Es besteht im Rahmen dieser Arbeit nicht die Möglichkeit, alle diskutierten Interpretationen der Quantenphysik zu analysieren und zu beurteilen. Als Standardinterpretation der Quantenphysik, die sich auch in den meisten Physiklehrbüchern findet, galt jahrzehntelang die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, die von den Physikern Werner Heisenberg und Niels Bohr entwickelt wurde.268 Trotz zunehmender Diskussionen über die richtige Interpretation der Quantenmechanik ist die Kopenhagener Deutung bis heute unter Physiker:innen weitgehend akzeptiert.269 Die vorliegende Arbeit wird deshalb zunächst diese Deutung erörtern, die einen Indeterminismus impliziert. Zusätzlich dazu, dass die Kopenhagener Deutung als Standardinterpretation gilt, spricht für sie, dass es sich um eine Deutung handelt, die sich relativ weitgehend ontologischer Aussagen enthält, also das Prinzip der ontologischen Sparsamkeit beachtet. Sie verwischt die Grenze zwischen Physik und Metaphysik nicht mehr als es die Deutungsbedürftigkeit der Empirie unbedingt nötig macht. Als Alternative zur Kopenhagener Deutung wird die deterministische Bohm’sche Deutung der Quantenmechanik vorgestellt, die ebenso wie z. B. die Hugh Everett zugeschriebene ‚Viele-WeltenInterpretation‘ ontologisch weniger sparsam ist. Es wird sich zeigen, dass sich aus der Bohm’schen Quantenmechanik, obwohl sie deterministisch ist, kaum eine Bestätigung für den zur Debatte stehenden Determinismus der klassischen Physik ableiten lässt. 4.5.1.1

Experimentelle Befunde und mathematischer Formalismus

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte Albert Einstein aufbauend auf Arbeiten von Max Planck, dass Licht entgegen der traditionellen Beschreibung als Welle

268 Vgl. Jäckels: Anthropologie, 108f. Vgl. Baumann/Sexl: Deutungen, 16. 269 Vgl. Koch: Kausalität, 185.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

auch bestimmte Eigenschaften von Teilchen hat. Denn Lichtstrahlung kann Energie nicht in beliebigen Mengen übertragen, sondern nur in diskreten, stets gleichen Paketen, den sogenannten Quanten.270 Empirisch bestätigt wurde diese Annahme auch durch den sogenannten fotoelektrischen Effekt.271 Gleichzeitig war aber auch bekannt, dass Licht – auch einzelne Lichtquanten – unter bestimmten experimentellen Voraussetzungen Interferenzeffekte zeigt, die nur unter der Annahme des Wellencharakters des Lichts erklärt werden können.272 Licht hat also sowohl einen Teilchen- als auch einen Wellencharakter. Sich ein solches Lichtquant anschaulich vorzustellen, ist offensichtlich unmöglich. Im Jahr 1923 stellte der Physiker Louis de Broglie die Hypothese auf, der Dualismus von Welle und Teilchen könnte möglicherweise nicht nur für Licht, sondern auch für alle anderen Materieteilchen gelten.273 Wenig später (1927) wurden entsprechend dieser Hypothese Interferenzeffekte bei Elektronen und damit der Wellencharakter von Elektronen experimentell nachgewiesen.274 Nachdem die Quantenphysik sich zunächst anhand der Frage nach der physikalischen Natur des Lichts entwickelt hatte, ergaben sich weitere Erkenntnisse dann im Zusammenhang mit der Frage nach der Atomstruktur.275 Im Jahr 1925 entwickelte der Physiker Werner Heisenberg die sogenannte Matrizenmechanik. Es handelt sich um mathematische Regeln, die es ermöglichten, die Intensitäten der verschiedenen Spektren des Lichts, die ein Wasserstoffatom bei der Abgabe von Energie abstrahlt, vorauszuberechnen.276 In dieser mathematischen Regel war eine Darstellung des Aufbaus des Wasserstoffatoms enthalten, bei der die klassischen Zustandsgrößen wie Energie, Impuls und Ort eines Teilchens keinen festen Wert annahmen. Stattdessen konnte der Darstellung entnommen werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Zustandsgrößen verschiedener Teilchen bei einer Messung einen bestimmten Wert annehmen werden. Heisenberg versuchte also nicht direkt, etwas über die Bahn der Elektronen im Atom herauszufinden – diese schob er als prinzipiell unbeobachtbar beiseite277  – sondern er näherte sich dem Aufbau des Atoms an, indem er sich mit den beobachtbaren Folgen dieses Aufbaus – der Abstrahlung von Licht bei der Abgabe von Energie – befasste. Indirekt konnte er dann Schlussfolgerungen zum Aufbau des Atoms ziehen.

270 271 272 273 274 275 276 277

Vgl. Jäckels: Anthropologie, 55. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 69–80. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 83 und 96–99. Vgl. Benk: Physik, 186. Vgl. Benk: Physik, 187. Vgl. Benk: Physik, 184. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 101. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 101.

131

132

Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Aufbauend auf dem Materiewellenkonzept de Broglies veröffentlichte Erwin Schrödinger eine ‚Wellengleichung der Materie‘.278 Es handelt sich um eine Differentialgleichung, von der Schrödinger wenig später zeigen konnte, dass sie mathematisch mit der Matrizenmechanik Heisenbergs äquivalent ist.279 Der Zustand eines ‚Teilchens‘ wird in dieser Gleichung durch die mathematische Form einer Welle (ψ-Funktion genannt) beschrieben.280 Ebenso wie mit der Matrizenmechanik Heisenbergs ist es auch mit der Wellengleichung möglich zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Zustandsgrößen verschiedener Teilchen bei einer Messung einen bestimmten Wert annehmen werden. Sämtliche Vorhersagen der Matrizenmechanik Heisenbergs konnte Schrödinger mit seiner Gleichung reproduzieren.281 Die Zustandsentwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung verläuft deterministisch, d. h. die gesamte zeitliche Entwicklung ist eindeutig bestimmt, wenn der Anfangs-Zustand bekannt ist.282 In Form der Matrizenmechanik und der Schrödinger-Gleichung hatte man nun also zwei mathematische Formalismen gefunden, mit denen sich das empirische Verhalten von Quantensystemen zuverlässig voraussagen ließ. Wegen der besseren mathematischen Handhabbarkeit etablierte sich die Schrödinger-Gleichung als das zentrale Recheninstrument der Quantenmechanik. Schrödinger verband mit seiner Wellengleichung die Hoffnung, zu einer einheitlichen Vorstellung vom Wesen der Materie zurückkehren zu können.283 Das eigentliche Wesen der Materie wäre demnach ihr Wellencharakter. Seine anschauliche Interpretation der Wellengleichung hatte aber keinen Bestand.284 Denn zum einen war es mit dieser Vorstellung nicht möglich, das experimentelle Verhalten der Materie als Teilchen (s. o.) zu erklären. Zum anderen sprach die mathematische Form der Welle gegen eine vorschnelle Veranschaulichung, denn sie bediente sich des Systems der komplexen Zahlen.285 Es handelt sich dabei um mathematische Objekte, die auf dem herkömmlichen Zahlenstrahl nicht verortet werden können.286 „Somit bewegte sich die Figur von vorneherein in einem sehr abstrakten Behältnis, dem sogenannten Konfigurationsraum. Nur im Falle sehr einfacher Systeme lässt sich die Darstellung Schrödingers mit den drei Dimensionen des alltäglichen Rau-

278 279 280 281 282 283 284 285 286

Vgl. Benk: Physik, 187. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 106. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 124. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 106. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 2. Vgl. Benk: Physik, 187. Vgl. Benk: Physik, 187. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 124. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 124.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

mes in Zusammenhang bringen.“287 Im Falle komplexerer Quantensysteme „hat man es […] mit rein mathematischen Symbolmanipulationen zu tun, unter denen man sich beim besten Willen nichts mehr vorstellen kann.“288 Aus dem quantenmechanischen Formalismus (der Schrödinger-Gleichung) leitete Heisenberg 1927 die sogenannte Heisenbergsche Unschärferelation her.289 Diese besagt, dass es – sofern die Quantentheorie zutrifft – nicht möglich ist, durch Messvorgänge die Werte für den Ort und den Bewegungsimpuls eines Teilchens zugleich mit Genauigkeit zu bestimmen.290 (Aus dem Impuls lässt sich die Wellenlänge der entsprechenden ‚Materiewelle‘ ableiten.) „Man kann zwar wissen, wo ein Elektron sich befindet, aber nicht, wie es sich verhält; oder man kann wissen, wie es sich verhält, aber nicht, wo es sich befindet.“291 Je genauer der eine Wert bestimmt wird, desto unbestimmbarer bzw. ungenauer wird außerdem der andere Wert.292 Tatsächlich bestätigte sich diese Annahme im Experiment. Wird der genaue Ort eines Lichtquants gemessen, ist es nicht möglich, den Impuls zu bestimmen. Außerdem verschwinden in diesem Fall auch die Interferenzeffekte, die auf einen Wellencharakter des Lichts hindeuten.293 Wird dagegen der Impuls eines Lichtquants (und damit die Wellenlänge) exakt bestimmt, kann der Ort nicht exakt ermittelt werden. Im einen Fall zeigt sich die Materie also eher als Teilchen, im anderen Fall eher als Welle. Entsprechend der Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs gibt es außerdem kein Experiment, in dem zu gleich der Wellencharakter und der Teilchencharakter der Materie direkt in Erscheinung treten.294 Die genannten Ungenauigkeiten sind nicht auf Defizite des Messprozesses oder auf Störungen des Quantensystems durch Messprozesse zurückzuführen, sondern ergeben sich aus dem mathematischen Formalismus der Schrödinger-Gleichung.295 Obwohl die Schrödinger-Gleichung die Zustandsentwicklung eines Quantensystems deterministisch beschreibt, kann mit ihr das Ergebnis einer Messung (z. B. von Ort oder Impuls eines Elektrons) nicht deterministisch vorausberechnet werden. Das Ergebnis der Messung bleibt unterbestimmt, weil weder der Messvorgang noch das Messergebnis durch die Gleichung beschrieben werden.296 Die Zustandsänderung bei einer Messung wird deshalb auch als Kollaps bzw. Reduktion der

287 288 289 290 291 292 293 294 295 296

Jäckels: Anthropologie, 124. Jäckels: Anthropologie, 124. Vgl. Ijjas: Alte, 65. Vgl. Polkinghorne: Quantentheorie, 59–61. Polkinghorne: Quantentheorie, 61. Vgl. Ijjas: Alte, 66. Vgl. Benk: Physik, 197. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 117. Vgl. Benk: Physik, 198. Jäckels: Anthropologie, 127. Vgl. Passon: Mechanik, 22.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Wellenfunktion bezeichnet.297 Aus der Schrödinger-Gleichung können nur Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden, mit denen bestimmte Zustandsgrößen (z. B. Ort oder Impuls) im Fall einer Messung bestimmte Werte annehmen werden. Es handelt sich dabei um statistische Aussagen.298 Führt man jedoch viele solcher Messungen an vielen Quantensystemen unter gleichen Bedingungen durch, so kann das Ergebnis vorausberechnet werden, d. h. man kann z. B. vorausberechnen, wie die Gesamtstruktur der Verteilung der Orte von vielen Elektronen sein wird, wo sich also viele Elektronen, wo sich wenige und wo sich keine Elektronen befinden werden.299 Das Verhalten einzelner Teilchen lässt sich aber nur mit statistischer Wahrscheinlichkeit vorherbestimmen. Ebenso ist es auf Grund der quantenphysikalischen Unterbestimmtheit des Verhaltens einzelner Teilchen unmöglich, z. B. beim radioaktiven Zerfall eines Teilchens den exakten Zerfallszeitpunkt zu berechnen, obwohl man für eine aus vielen dieser Teilchen bestehende Menge die Halbwertszeit, also die charakteristische Zeit, nach deren Ablauf die Hälfte der vorhandenen Nuklide zerfallen ist, kennt. Aus der Halbwertszeit lässt sich für den Zerfallszeitpunkt eines einzelnen Teilchens nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage ableiten.300 4.5.1.2

Die Deutungen der Quantenmechanik im Hinblick auf den Determinismus

Die experimentellen Befunde und der mathematische Formalismus der Quantenphysik bedürfen – sofern man sich nicht auf die reine Anwendung beschränken, sondern die Quantenphysik verstehen möchte – einer philosophischen Interpretation. Interpretationsbedürftig sind u. a. folgende zentrale Aspekte:301 Wovon handelt die Quantenphysik eigentlich, genauer gefragt, welche Realität kommt der Wellenfunktion zu und welche Realität den aus ihr abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten? Was passiert beim Übergang von quantenmechanischen zu konkreten klassischen Zuständen bei einer Messung und wie lässt sich dieser Übergang mathematisch beschreiben? Gibt es verborgene Variablen in der Quantenphysik bzw. ist die Quantenphysik vollständig? Im Folgenden werden zunächst die Antworten der Kopenhagener Deutung auf diese Fragen erläutert.

297 298 299 300 301

Vgl. Passon: Mechanik, 22. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 2. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 2. Vgl. Benk: Physik, 204. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 3.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

4.5.1.2.1 Die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik

Unglücklicherweise sind in die Kopenhagener Deutung Deutungen von Bohr und Heisenberg eingeflossen, die sich teilweise widersprechen.302 Lehrbücher übergehen diese heiklen Punkte meistens.303 Sogar innerhalb der beiden Positionen scheint es Inkonsistenzen zu geben.304 Insofern ist es nicht ganz klar, was die Kopenhagener Deutung genau besagt.305 Jede Darstellung – auch die vorliegende – ist deshalb selbst schon wieder Interpretation.306 Für das Verständnis der Kopenhagener Deutung ist es wichtig, sie im Hinblick auf ihr Realitätsverständnis und ihre Vorstellung von naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung einzuordnen. Im Zentrum der Kopenhagener Deutung steht die Absicht, eine Quantenmechanik zu schaffen, in der nur prinzipiell beobachtbare, d. h. messbare Größen eine Rolle spielen sollen.307 Diese Beschränkung auf messbare Größen rührt von einem Grundsatz her, der sich folgendermaßen formulieren lässt: „Was ich nicht messen kann, dessen Existenz darf ich auch nicht behaupten.“308 Ein Zitat von Bohr fasst zentrale Elemente der Kopenhagener Deutung zusammen: „There is no quantum world. There is only an abstract quantum physical description. It is wrong to think, that the task of physics is to find out how nature is. Physics concerns with what we can say about nature.“309 Die Kopenhagener Deutung unterscheidet also zwischen der Natur, wie sie für uns Menschen erkennbar wird, und der Natur, wie sie ‚an sich‘ ist. Die Kopenhagener Deutung schreibt zwar dem einzelnen quantenmechanischen System (einem Quant) prinzipiell Realität zu (hierbei handelt es sich allerdings nun doch um eine ontologische Annahme, die empirisch nicht gesichert ist),310 nicht aber dem quantenmechanischen Formalismus, also der Schrödinger-Gleichung, die die Zustandsentwicklung eines Quantensystems beschreibt. Für Bohr stellt dieser Formalismus in erste Linie ein nützliches Rechenschema dar, mit dem sich die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Messwerte berechnen ließ.311 Für Heisenberg stellt die Gleichung unsere Kenntnis des Systems dar:312 Der mathematische Formalismus repräsentiert das maximale Wissen, das bezüglich des Quantensys-

302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312

Vgl. Baumann: Deutungen, 16. Vgl. Baumann: Deutungen, 16. Vgl. Ijjas: Alte, 60. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 54. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 54. Vgl. Baumann: Deutungen, 12. Vgl. Benk: Physik, 188. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 112. Koch: Kausalität, 187. Bohr, Niels zitiert nach Petersen: Philosophy, 12. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 55. Vgl. Ijjas: Alte, 70. Vgl. Passon: Mechanik, 24 und 25.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

tems erreicht werden kann und zur Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten dient.313 Die Schrödinger-Gleichung beschreibt demnach keinen realen Vorgang.314 Dementsprechend ordnet Stefan Bauberger die Kopenhagener Deutung folgendermaßen ein: Die Wellenfunktion wird nicht-realistisch gedeutet, die klassische Welt realistisch.315 Auch der Kollaps der Wellenfunktion bei einer Messung ist nach der Kopenhagener Deutung kein realer Prozess.316 Da die Wellenfunktion nichts real Existierendes beschreibt, kann bei einer Messung auch nichts real Existierendes kollabieren. Der Kollaps der Wellenfunktion muss vielmehr epistemisch gedeutet werden: Im Moment der Messung ändert sich unsere Kenntnis des Systems.317 Was für eine Existenz kommt aber nach der Kopenhagener Deutung den gemessenen Größen zu? Was meint Bohr, wenn er davon spricht, dass die Physik nicht beschreibe, wie die Natur ist, sondern was man über die Natur sagen könne? In welchem Sinne ist die Kopenhagener Deutung realistisch in Bezug auf die klassische Welt und die gemessenen Größen in den quantenphysikalischen Experimenten? Nach Heisenberg sind ohne Messung weder der Ort noch der Impuls eines Quantenobjektes Realität: Die ‚Bahn‘ eines ‚Teilchens‘ entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten.318 Vor der Messung kommt dem Quantenobjekt weder die Eigenschaft Ort noch die Eigenschaft Impuls zu.319 Nach Bohrs Ansicht wird der Ort eines Teilchens nicht gemessen, sondern durch das Experiment hervorgebracht.320 In gewisser Weise wird damit die Unabhängigkeit der Realität von der Messung aufgeben.321 Kann man dann aber überhaupt noch von einem Realismus sprechen? Die Klassifizierungen der Kopenhagener Deutung als instrumentalistisch, operationalistisch sowie positivistisch322 scheinen nicht völlig an der Sache vorbeizugehen. Tatsächlich wird der Kopenhagener Deutung oft vorgeworfen, dass sie voreilig den Rea-

313 314 315 316 317

318 319 320 321 322

Vgl. Ijjas: Alte, 65. Vgl. Bauberger: Welt, 174. Vgl. Passon: Mechanik, 26. Vgl. Bauberger: Welt, 161–163. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 58. Vgl. Passon: Mechanik, 25. Heisenberg spricht teilweise auch davon, die Schrödinger-Gleichung stelle eine ‚Möglichkeit für Vorgänge‘ dar und bei der Messung finde ein Übergang vom ‚Möglichen‘ im Sinne der aristotelischen ‚Potentia‘ zum Faktischen statt. Diese ‚Mögliche‘ will er als eine Art von physikalischer Realität verstanden wissen (vgl. Jäckels: Anthropologie, 123 und 143. Vgl. Benk: Physik, 199. Vgl. Passon: Mechanik, 24). Ist es aber sinnvoll hier eine erweiterte Ontologie einzuführen? Sinnvoller erscheint es, das ‚Mögliche‘ epistemisch zu deuten (s. u.). Vgl. Jäckels: Anthropologie, 143. Vgl. Bauberger: Welt, 174. Zu Audretschs Deutung der Kopenhagener Deutung: Benk: Physik, 199. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 150. Vgl. Koch: Kausalität, 188. Vgl. Ijjas: Alte, 60.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

litätsbegriff verwerfe.323 Bauberger stellt, einer Interpretation der Kopenhagener Deutung durch Carl Friedrich von Weizsäcker folgend, aber fest: „Bohrs Intention, die Weizsäcker weiterführt, war es, den Realitätsbegriff zu wahren, soweit er mit der Quantentheorie verträglich ist, aber eben auch die Grenzen dieses Begriffs aufzuzeigen.“324 Dementsprechend ist der Realitätsbegriff der Kopenhagener Deutung der einer ‚empirischen Realität‘ im Sinne Kants, also einer ‚Realität für uns‘ (Einen ähnlichen Realitätsbegriff vertritt Habermas, wie in Kapitel 5 deutlich wird.). Dementsprechend erforschen die Naturwissenschaften nicht, wie die ‚Natur an sich‘ ist, sondern wie die Natur sich uns zeigt, was aus menschlicher Perspektive über die Natur gesagt werden kann. Physikalische Beschreibungen, wie z. B. das Beschreiben von Teilchen oder Teilchenorten, sagen demnach durchaus etwas über die Welt aus. Empirisch können durchaus Informationen über die Welt gesammelt werden. Die daraus resultierenden Beschreibungen können deshalb als realistisch bezeichnet werden und sind intersubjektiv gültig. „Aber die Welt ist dem erkennenden Subjekt nie unmittelbar zugänglich, sondern nur in Form von Informationen über die Welt. In diesem Sinn ist die empirische Beschreibung der Welt nicht-realistisch.“325 Die aus der Empirie abgeleiteten Beschreibungen der Welt bilden diese nicht ab, wie sie ist. Naturwissenschaftliche Erkenntnis verfehlt also nicht die Realität, aber aus dieser Erkenntnis kann das Subjekt dieser Erkenntnis nie ganz herausgenommen werden.326 Zugang zur Welt bietet nach dem Kopenhagener Ansatz nur die Empirie, nur das, was beobachtbar oder messbar ist. Daraus ergeben sich unsere physikalischen Beschreibungen. Deshalb kann ohne Messung weder dem Ort noch dem Impuls eines ‚Teilchens‘ Realität zugesprochen werden. Die Schrödinger-Gleichung beinhaltet nur ein Wissen über mögliche Realitäten, sie repräsentiert selbst keine Realität. In welchem Zustand sich das Quantensystem vor einer oder zwischen zwei Messungen befindet, kann nicht angegeben werden.327 Die Kopenhagener Deutung postuliert zwar die Existenz des Quantenobjektes auch unabhängig von der Beobachtung, geht aber davon aus, dass es sich unserer Beschreibung vollständig entzieht. Deshalb verhält die Kopenhagener Deutung sich gegenüber dem Nicht-Beobachtbaren agnostisch. Die Realität der Kopenhagener Deutung trägt einen epistemischen Index: Realität gibt es nur als Realität ‚für uns‘. ‚Welle‘ und ‚Teilchen‘ sind nach Bohr nur Bilder oder Modelle, mit denen Wissenschaftler:innen die Realität beschreiben, wie sie sich ihnen durch unterschiedliche Messungen erschließt. Keines der beiden Modelle alleine reicht aus, um die Realität 323 324 325 326 327

Vgl. Bauberger: Welt, 176. Bauberger: Welt, 176. Bauberger: Welt, 183. Vgl. Bauberger: Welt, 184. Vgl. Passon: Mechanik, 24.

137

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

adäquat zu erfassen: Es bedarf beider komplementärer Betrachtungsweisen, um die Realität zu beschreiben. Der Dualismus von Welle und Teilchen ist also nicht ontologischer sondern epistemischer Natur. Eine Beschreibung des Quantensystems ohne diese beiden komplementären, einander ausschließenden Konzepte ist dem Menschen nicht möglich, er benötigt die Bilder von Welle und Teilchen.328 Dass die beiden Bilder sich ausschließen, zeigt, dass sich das Quantensystem letztlich jeder möglichen Veranschaulichung entzieht.329 Dass der Mensch auf die Bilder von Welle und Teilchen angewiesen ist, erklärt Bohr sich dadurch, dass seiner Ansicht nach „jede, auch die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt von alltäglichen Begriffen und Anschauungsformen ausgehen muss, um für den forschenden Menschen überhaupt sinnvoll zu sein.“330 Nach Bohrs Auffassung kommt es bei der experimentellen Untersuchung von Quantensystemen zu Wechselwirkungen des Quantensystems mit den Messgeräten.331 Versuchsergebnisse in der Quantenphysik sind seiner Ansicht nach untrennbar mit der Versuchssituation verbunden, zu der auch die eingesetzten Messgeräte gehören.332 Eigenschaften kommen den Quantenobjekten nicht unabhängig von der Versuchssituation zu.333 Es liegt auch hier die Deutung nahe, dass Bohr keine ontologische sondern epistemische Wechselwirkungen meint: Je nach Versuchsanordnung und Messgeräten zeigt sich das Quantenobjekt eher als Welle oder als Teilchen. Die Messgeräte – und damit letztlich der Beobachter durch die Wahl der Messgeräte – definieren die Bedingungen, unter denen die Phänomene erscheinen.334 „Die Entscheidung des Beobachters, eine bestimmte Eigenschaft zu messen, prädeterminiert die [in Erscheinung tretenden] Eigenschaften des Objektes.“335 Die Kopenhagener Deutung geht davon aus, dass die quantenphysikalische Beschreibung der Wirklichkeit durch die Schrödinger-Gleichung objektiv vollständig ist.336 Die sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeiten haben demnach einen objektiven Charakter.337 Da die Kopenhagener Deutung Realität immer als empirische Realität bzw. als ‚Realität für uns‘ begreift (s. o.), ist mit Objektivität intersubjektive Überprüfbarkeit gemeint. Objektivität ist in diesem Sinne ‚nur‘ ‚Objektivität für uns‘. Auch die Objektivität trägt demnach einen epistemischen Index. Die These

328 329 330 331 332 333 334 335 336 337

Vgl. Ijjas: Alte, 71. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 115–121. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 117. Jäckels: Anthropologie, 116. Vgl. Baumann: Deutungen, 16. Vgl. Ijjas: Alte, 68. Vgl. Baumann: Deutungen, 17f. Vgl. Baumann: Deutungen, 17. Vgl. Baumann: Deutungen, 18. Koch: Kausalität, 188. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 54. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 54.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

von der Vollständigkeit der Quantenphysik besagt, dass die Schrödinger-Gleichung und die daraus ermittelbaren Wahrscheinlichkeiten das maximale objektive, physikalische Wissen darstellen, das Menschen über ein Quantensystem erreichen können.338 Sie besagt weiterhin, dass Menschen empirisch – und die Empirie ist für die Kopenhagener Deutung das Entscheidende im Hinblick auf Behauptungen über die Realität bzw. die Existenz von Entitäten – keine weiteren Parameter finden werden, die den statistischen Charakter der Theorie in einen deterministischen verwandeln könnten.339 Albert Einstein spekulierte lange Zeit darauf, dass sich solche ‚verborgenen Parameter‘ doch noch finden lassen würden.340 Die Verletzung der sogenannten Bell’schen Ungleichung im Experiment zeigte aber, dass zumindest lokal-realistische Theorien verborgener Parameter nicht zutreffen.341 Eine nicht-lokale realistische Alternative ist die Bohm’sche Quantenmechanik,342 die im weiteren Verlauf des Kapitels in Grundzügen skizziert wird. Nach der Kopenhagener Deutung ist die Natur, wie sie sich der Physik erschließt, die empirische Natur, d. h. die ‚Natur für uns‘ – und anders ist uns die Natur nicht zugänglich – in den Dimensionen der Quantenphysik demnach indeterministisch in dem Sinne, dass eine bestimmte Ursache keine streng deterministische Wirkung zur Folge hat,343 sondern nur noch die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Wirkungen angegeben werden können. Dieser Indeterminismus ist objektiv in dem Sinne, dass er intersubjektiv empirisch überprüft werden kann. Er konnte bisher empirisch nicht widerlegt werden und die Kopenhagener Deutung geht davon aus, dass er auch in Zukunft nicht empirisch widerlegt werden wird. Der Indeterminismus ist außerdem nicht einem mangelnden physikalischen Wissen geschuldet, denn die Quantenphysik ist vollständig und umfasst demnach alles physikalische Wissen, das Menschen über Quantensysteme erwerben können. Dennoch erscheint es mir nicht sinnvoll für die Kopenhagener Deutung von „ontischen Wahrscheinlichkeiten“344 bzw. von einem ontologischen Indeterminismus zu sprechen, vermeidet die Kopenhagener Deutung doch gerade ontologische Aussagen: Die Naturwissenschaften sagen nicht, wie die Natur (an sich) ist, sondern was man (aus menschlicher Perspektive) über die Natur sagen kann. Adäquater erscheint es, von einem empirischen Indeterminismus zu sprechen: Aus der Perspektive der Physik, nach allem, was Menschen physikalisch über die Natur sagen können, gibt es auf der Ebene der Quantenphysik keinen Determinismus.

338 339 340 341 342 343 344

Vgl. Benk: Physik, 205. Vgl. Benk: Physik, 205. Vgl. Jäckels: Anthropologie, 132–177. Vgl. Audretsch: Welt, 118–126. Vgl. Audretsch: Welt, 124. Vgl. Benk: Physik, 205. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 183.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Ob sich ‚hinter‘ dem empirischen Indeterminismus doch noch ein ontologischer Determinismus verbirgt, darüber kann die Quantenphysik, die nach der Kopenhagener Deutung auf messbaren Größen basiert, keine Aussagen machen. Aus dieser Perspektive gesehen, muss der Indeterminismus der Kopenhagener Deutung als ein epistemischer Indeterminismus bezeichnet werden. Da das physikalische Wissen auf messbaren Größen basiert, kann die Quantenphysik als (physikalisch) vollständig bezeichnet werden. Vollständigkeit bedeutet aber in diesem Fall empirische Vollständigkeit, nicht ontologische Vollständigkeit: Es gibt keine messbaren Größen, die den Zustand des Quantensystems determinieren. 4.5.1.2.2 Die Bohm’sche Quantenmechanik

Der Physiker David Bohm entwickelte eine alternative Interpretation bzw. eine alternative Variante der Quantentheorie. Bohm postulierte, dass auch in der Quantenphysik ein Teilchen unabhängig von der Messung oder Beobachtung immer einen bestimmten Ort und einen bestimmten Impuls habe.345 Die Bewegung der Teilchen werde dabei von einer Welle (die man sich aber nicht anschaulich vorstellen kann) gesteuert.346 Bohm postulierte also, dass ein Teilchen, z. B. ein Elektron, sowohl aus einer Welle als auch aus einem Teilchen besteht.347 „Der Welle-TeilchenDualismus entspricht also nicht zwei Erscheinungsweisen einer Entität (wie in der konventionellen Quantentheorie), sondern er beruht darauf, dass es tatsächlich zwei Entitäten gibt, Welle und Teilchen, die aber miteinander zusammenhängen.“348 Diese Welle wird auch als Quantenfeld,349 Quantenpotential350 oder Führungsfeld351 bezeichnet und sie wird im Prinzip durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben.352 Das Quantenpotential führt die Teilchen so, dass sie in bestimmten Versuchsanordnungen einen Wellencharakter (Interferenzphänomene) zeigen.353 Ist das Quantenpotential gleich null, verhält sich das Elektron entsprechend der klassischen Newton‘schen Bewegungsgesetze – es zeigt also keinen Wellencharakter.354 Das Quantenpotential kann Bohm aus der Schrödinger-Gleichung herleiten.355 Die Schrödinger-Gleichung wurde von Bohm um eine Bewegungsgleichung für

345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355

Vgl. Görnitz: Quanten sind anders, 145. Vgl. Bauberger: Welt, 164. Vgl. Bauberger: Welt, 164. Bauberger: Welt, 164. Vgl. Bauberger: Welt, 164. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 10. Vgl. Audretsch: Welt, 179. Vgl. Passon: Mechanik, 31. Vgl. Wagner: Quantenmechanik, 10. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 251. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 251.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

die Ortskoordinate des Quantensystems ergänzt.356 Das Quantensystem wird also nicht mehr durch die Wellenfunktion alleine, sondern durch das Paar aus Wellenfunktion und den Ortskoordinaten der Teilchen beschrieben.357 Bohm hielt die Schrödinger-Gleichung also für unvollständig und ergänzte sie deshalb. Die Schrödinger-Gleichung ist für ihn nicht wie in der Kopenhagener-Deutung nur ein Rechenschema und sie repräsentiert auch nicht nur unser maximales Wissen über das System, sondern sie repräsentiert eine real existierende Welle. Das Quantenpotential bestimmt den Ort des Teilchens, ohne dass dabei Energie übertragen wird, denn es zählt nicht die Intensität der Quantenwelle, sondern lediglich die Form.358 Die Bohmsche Mechanik ist eine streng deterministische Theorie,359 d. h. theoretisch könnte man bei gegebenen Ausgangsbedingungen die Bewegung eines Teilchens und damit auch seinen zukünftigen Aufenthaltsort präzise vorausberechnen. Diese Ausgangsbedingungen sind aber niemals bekannt, weil – entsprechend der Heisenbergschen Unschärferelation – nicht zugleich Ort und Impuls eines Teilchens bestimmt werden können. Der Mensch kann sozusagen nicht wissen, auf welcher der durch die Welle definierten Bahnen sich das Teilchen befindet. Deshalb setzt man, wenn man das Verhalten eines Quantensystems mit der Bohmschen Mechanik berechnen möchte, für die Teilchenorte die Wahrscheinlichkeitsverteilung als Anfangsbedingung ein, die sich aus der Schrödinger-Gleichung ergibt.360 Unter dieser Voraussetzung trifft die Bohmsche Mechanik identische empirische Voraussagen wie die Standard-Quantentheorie: Es ergeben sich die gleichen Wahrscheinlichkeitsaussagen.361 Die Bohmsche Mechanik kann also alle experimentellen Ergebnisse der Standard-Quantenmechanik reproduzieren.362 Sie trifft aber keine Vorhersagen, die in experimentell überprüfbaren Situationen von denen der Standard-Quantenmechanik abweichen.363 Deshalb kann experimentell nicht festgestellt werden, welche der beiden Theorien zutrifft. Empirisch sind sie äquivalent. In der Bohmschen Mechanik verbindet sich also ein epistemischer Indeterminismus mit einem ontologischen Determinismus: Die Tatsache, dass Forscher:innen für die Aufenthaltsorte von Teilchen nur Wahrscheinlichkeiten angeben können, beruht auf ihrer Unkenntnis von Parametern, die faktisch das Verhalten des Teilchens

356 357 358 359 360 361 362 363

Vgl. Passon: Mechanik, 1. Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 180. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 251. Vgl. Görnitz: Quanten, 146. Vgl. Passon: Mechanik, 1.Vgl. Dürr/Lazarovici: Quantenphysik, 110–134. Vgl. Passon: Mechanik, 36f. Vgl. Audretsch: Welt, 179.Vgl. Dürr/Lazarovici: Quantenphysik, 114. Vgl. Passon: Mechanik, 2. Vgl. Passon: Mechanik, 2.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

determinieren.364 Die Größen, welche das Verhalten der Teilchen determinieren, sind aber nicht messbar und nicht beobachtbar.365 Insofern ist die Bohmsche Mechanik ontologisch weniger sparsam als die Kopenhagener Deutung: Sie postuliert das Quantenpotential als ontologische Entität, für die es keine empirischen Indizien gibt. Außerdem postuliert sie die Existenz von Teilchen, wohingegen die Kopenhagener Deutung ‚Teilchen‘ nur als ein Bild versteht, mit dem Menschen sich eine Entität (Quanten) veranschaulichen, die sich jeder Veranschaulichung entzieht. Ob die Bohmsche Mechanik allerdings wirklich im Sinne eines ontologischen Determinismus zu verstehen ist, ist nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint: Zum einen vermutete Bohm, die von seiner Theorie beschriebene Wirklichkeit könne auf einer darunter liegenden Ebene wiederum von Zufallsschwankungen bestimmt sein und diese auf einer wiederum tieferen Ebene durch deterministische Vorgänge und so weiter. So könne die Frage, ob die Wirklichkeit auf ihrer fundamentalen Ebene deterministisch oder indeterministisch sei, gar nicht erst aufkommen.366 Zum anderen verstand Bohm seine Quantentheorie als eine Theorie, die das Verhältnis von Geist und Materie aufklären könnte. Denn die Bohmsche Mechanik liefert einen Möglichkeit zu verstehen, wie der Geist auf die Materie einwirken kann (mentale Verursachung): Das Quantenpotential könnte das Bindeglied zwischen Mentalem und Physischem sein,367 über welches der Geist auf die Materie einwirkt. Diesen Ansatz hat auch Becker aufgegriffen (vgl. Kapitel 4.6.2).368 Ob diese Überlegung allerdings für einen ontologischen Indeterminismus oder einen ontologischen Determinismus spricht, hängt davon ab, wie das Quantenpotential entsteht. Sind seine Entstehungsbedingungen deterministisch, so mag es zwar eine mentale Verursachung geben, aber auch der Geist wäre dann determiniert bzw. der Geist hätte keine Möglichkeit auf das Quantenpotential einzuwirken. Sind seine Entstehungsbedingungen keiner rein deterministischen Gesetzmäßigkeit unterworfen, wie laut Becker die Vertreter:innen der Bohmschen Mechanik meinen, dann wäre der Geist nicht determiniert bzw. er könnte auf das Quantenpotential einwirken. In diesem Fall wäre zwar das Verhalten einzelner Teilchen durch den Geist determiniert, nicht aber der Geist selbst. Bohm bleibt in dieser Hinsicht vage. Nach Becker ging es ihm aber gerade darum, dem Universum Kreativität und Neuartigkeit zuzuschreiben, was dafür spricht, dass er seine Theorie nicht als Beleg für einen ontologischen Determinismus angesehen hat.

364 365 366 367 368

Vgl. Friebe/Kuhlmann/Lyre u. a.: Philosophie, 183. Vgl. Görnitz: Quanten, 146. Vgl. Pylkkänen: Order, 17. Vgl. Pylkkänen: Order, 35. Vgl. zum ganzen Absatz: Becker: Bewusstseinsfalle, 245–255, besonders 254.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

4.5.1.3

Schlussfolgerungen bezüglich des Determinismus

Auf unterschiedliche Weise vertreten sowohl die Kopenhagener Deutung als auch die Bohmsche Mechanik einen epistemischen Indeterminismus: Das Verhalten von ‚Teilchen‘ kann nicht exakt vorausberechnet werden. Möglich ist es nur, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, mit denen ein ‚Teilchen‘ ein bestimmtes Verhalten zeigen wird. Der epistemische Indeterminismus besteht damit auf der untersten und damit fundamentalsten Ebene der Materie und er ist in jeder der diskutierten Interpretationen der Quantentheorie gegeben. Der ontologische Determinismus hatte seine Plausibilität aber gerade daraus bezogen, dass es möglich ist, bei bekannten Anfangsbedingungen das Verhalten makroskopischer Objekte exakt vorauszuberechnen und die Berechnungen experimentell zu überprüfen und zu reproduzieren (s. o.). Dass diese Möglichkeit auf der fundamentalsten Ebene der Materie nicht gegeben ist und zwar unabhängig davon, welche Deutung der Quantentheorie man heranzieht, entzieht dem ontologischen Determinismus seine Plausibilität. Es gibt nun jedenfalls keine empirischen Gründe mehr, am ontologischen Determinismus festzuhalten, denn die Entscheidung für oder gegen eine der verschiedenen Deutungen der Quantentheorie kann keine empirischen, sondern nur philosophische Gründe haben. Gemäß der Kopenhagener Deutung, wie sie weiter oben dargestellt wurde, kann die Physik keine Aussagen darüber treffen, ob man es jenseits des epistemischen Indeterminismus mit einem ontologischen Determinismus oder Indeterminismus zu tun hat. Beides wird durch die Quantenphysik nicht ausgeschlossen. Diese Feststellung ist wichtig, weil durch einen absoluten bzw. ontologischen Zufall für die Willensfreiheit nichts gewonnen wäre. Denn dann wäre auch die Kontrolle des Willens durch Akteur:innen ausgeschlossen. Wenn es neben dem absoluten Zufall und dem Determinismus keinen weiteren Modus der Verursachung geben kann, wäre in einer solchen Welt kein Platz für freie Subjekte, deren Wille schließlich Wirkungen in der Welt haben muss, wenn Willensfreiheit wirklich sein soll. Andere Deutungen der Quantenphysik wie die ‚Viele-Welten-Interpretation‘ und – je nachdem wie das Quantenpotential zu Stande kommt – auch die Bohmsche Mechanik postulieren einen ontologischen Determinismus. Willensfreiheit im libertarischen Sinne könnte es in diesem Fall nicht geben, selbst wenn es Menschen unmöglich wäre, alle Determinanten zu kennen. Der ontologische Determinismus bleibt auch unter Voraussetzung der Kenntnisse der Quantenphysik eine philosophische Option. Durch die Empirie nahegelegt wird er indessen nicht. Im Gegenteil: Für die empirischen Wissenschaften inklusive der Hirnforschung wäre er vermutlich völlig irrelevant. Sofern quantenphysikalische Effekte im Bereich ihrer Forschungsgegenstände eine Rolle spielen, sind die Naturwissenschaften schließlich darauf angewiesen, das zu Grunde zu legen, was empirisch zugänglich ist – und das sind eben nur Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Messwerte.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Beispielsweise könnte man durchaus die ontologische Annahme vertreten, dass es durch empirisch nicht zugängliche Parameter determiniert ist, wann ein Teilchen radioaktiv zerfällt. Dennoch wird man sich aus naturwissenschaftlicher Perspektive darauf beschränken müssen, den Zustand des Teilchens zu beliebigen Zeitpunkten nur mit Wahrscheinlichkeiten vorhersagen zu können. Insofern ein solcher ontologischer Determinismus empirisch nicht zugänglich wäre, befände er sich also auf einer völlig anderen Ebene der Wirklichkeit als der Determinismus, der Teil des Weltbildes der klassischen Physik war. Das deterministische Weltbild der klassischen Physik kann auf Grund der Erkenntnisse der Quantenphysik als widerlegt angesehen werden. 4.5.1.4

Quantenphysik und die probabilistischen Gesetze der Thermodynamik

Des Öfteren begegnet man der Argumentation, auch unabhängig von der Quantenphysik könne der Determinismus nicht unter Berufung auf Naturgesetze begründet werden, weil es neben den deterministischen Naturgesetzen auch probabilistische Naturgesetze innerhalb der klassischen Physik gebe, nämlich im Bereich der Thermodynamik. Einige dieser Argumentationen werden im Folgenden wiedergegeben: (1) Falkenburg erläutert:369 Tatsächlich gebe es in der Physik deterministische Naturgesetze wie z. B. das Gravitationsgesetz oder Gesetze der Elektrodynamik. Neben diesen deterministischen Gesetzen gebe es aber auch Gesetze, die thermodynamische Zustandsentwicklungen beträfen. Diese Gesetze seien nicht deterministisch sondern probabilistisch, d. h. die Wirkung folgt auf die Ursache nicht notwendig, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. (2) Probabilistische Gesetze spielen laut Falkenburg auch auf der neuronalen Ebene eine Rolle: Sie erläutert, die sogenannten neuronalen Mechanismen, von denen oft behauptet wird, sie seien deterministisch, würden tatsächlich eine Mischung aus teils deterministischen, teils probabilistischen Gesetzmäßigkeiten darstellen.370 Die mechanistischen Erklärungen, die in der Neurobiologie zur Anwendung kämen, seien immer ein patchwork von deterministischen und indeterministischen Gesetzen.371 Während die elektrische Signalübertragung entlang der Nerven annähernd deterministisch verlaufe, sei der Mechanismus der Signalübertragung an den Synapsen nicht deterministisch.372 Vielmehr sei die Beziehung zwischen dem Aktionspotential und der Freisetzung des Neurotransmitters stochastisch: nur bei 10–20 Prozent der experimentell untersuchten Einzelprozesse würde das

369 370 371 372

Vgl. Falkenburg: Mythos, 277–281. Vgl. Falkenburg: Mythos, 287–289. Vgl. Falkenburg: Mythos, 289. Vgl. Falkenburg: Mythos, 301.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

Aktionspotential dazu führen, dass der Neurotransmitter tatsächlich freigesetzt wird.373 Falkenburg meint: Die physikalischen und chemischen Vorgänge, die in ihnen [den neuronalen Mechanismen] am Werk sind, geschehen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht; sie sind nicht-linear und durchlaufen Verzweigungspunkte, an denen überhaupt nicht determiniert ist, welchen weiteren Verlauf sie nehmen.374

(3) Auch der Physiker und Neurowissenschaftler Andreas Herz erläutert, die Dynamik des Gehirns könne nicht als deterministischer Prozess aufgefasst werden.375 Wegen thermischer Schwankungen müssen Lebensvorgänge laut Herz als stochastische Prozesse beschrieben werden. Die thermischen Schwankungen seien so groß, dass sie direkt in physiologischen Experimenten messbar seien, z. B. in Experimenten, die die Erzeugung von Aktionspotentialen und die synaptischen Übertragung dieser Nervensignale untersuchen. Die thermischen Schwankungen spielen nach Herz deshalb eine Rolle, weil es sich bei den genannten Prozessen um „Alles-oder-Nichts“-Prozesse bzw. Schwellenwert-Prozesse handele, bei denen es zu sprunghaften Übergängen zwischen diskreten Zuständen komme. Selbst geringste thermische Schwankungen könnten so zu makroskopischer Variabilität führen. Da viele neuronale Prozesse, u. a. auch die der Großhirnrinde, in unmittelbarer Nähe der betreffenden Schwellenwerte ablaufen würden, sei die Variabilität bei diesen Prozessen besonders ausgeprägt. Selbst identische äußere Stimuli würden von Reizwiederholung zu Reizwiederholung zu deutlich unterschiedlichen Antworten führen. Die thermischen Fluktuationen würden sich laut Herz nicht herausmitteln – wie oftmals auch im Hinblick auf quantenphysikalische Vorgänge im Gehirn behauptet wird – sondern sie hätten Auswirkungen auf allen Ebenen neuronaler Organisation – von subzellulären Prozessen bis zu Erregungsmustern des gesamten Gehirns. Die Thermodynamik arbeitet tatsächlich mit probabilistischen Gesetzmäßigkeiten. Trotzdem können diese ohne Bezug zur Quantenphysik nicht als empirischer Hinweis auf einen Indeterminismus gedeutet werden. Betreibt man die Thermodynamik nämlich im Rahmen der klassischen Physik, bei der die Thermodynamik mittels statistischer Methoden in die klassische Mechanik eingebettet wird, so werden die „‚sogenannten‘ Wahrscheinlichkeiten unter Verzicht auf Informationen eingeführt […], die man zumindest im Prinzip haben könnte, und deren Kenntnis

373 Vgl. Falkenburg: Mythos, 301. 374 Falkenburg: Dilemma, 11. 375 Vgl. zum ganzen Absatz: Herz: Determinismus, 35–38.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

diesen Kunstgriff wieder überflüssig machen würde.“376 D. h., man greift nur deshalb auf Wahrscheinlichkeitsaussagen zurück, weil eine vollständige Beschreibung der Phänomene zu kompliziert wäre,377 geht aber zugleich davon aus, dass der Mikrozustand der am Geschehen beteiligten Teilchen jederzeit wohldefiniert ist und sich nach den deterministischen Gesetzen der Newton‘schen Mechanik verhält.378 Die Wahrscheinlichkeitsaussagen könnten in diesem Rahmen also zumindest theoretisch auf deterministische Zusammenhänge zurückgeführt werden. Tatsächlich wird heute die Quantentheorie aber als eine Grundlagentheorie für die gesamte Physik angesehen.379 Die statistische Thermodynamik berechnet die thermodynamischen Eigenschaften makroskopischer Systeme aus den mikroskopischen Eigenschaften der einzelnen Teilchen,380 die durch die Quantenphysik beschrieben werden. Das bedeutet, dass nicht alle Wahrscheinlichkeitsaussagen der Thermodynamik auf deterministische Zusammenhänge zurückgeführt werden können, sondern zumindest diejenigen thermodynamischen Wahrscheinlichkeitsaussagen, bei denen Quanteneffekte eine Rolle spielen, auf den nicht hintergehbaren quantenphysikalischen Indeterminismus zurückgeführt werden müssen. Die Überlegungen von Falkenburg und Herz müssen also insofern eingeschränkt werden, als sie zum einen nur dann Gültigkeit haben, wenn sie die Quantenphysik voraussetzen, und zum anderen als ein nicht hintergehbarer Indeterminismus nur bei solchen thermodynamischen Vorgängen vorliegt, bei denen Quanteneffekte eine Rolle spielen, die Teilchen sich also nicht klassisch verhalten. 4.5.2

Einwände gegen den Determinismus jenseits der Quantenphysik

Im Folgenden wird geprüft, ob es jenseits der Quantenphysik noch weitere stichhaltige Argumente gegen den Determinismus gibt. Gegen die These des Determinismus spricht zunächst folgende wichtige Feststellung: Die These des physikalischen Determinismus lässt sich empirisch weder beweisen noch widerlegen. Zu diesem Zweck wäre es notwendig, eine korrekte Voraussage über den Gesamtzustand des Universums zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu treffen.381 Es ist aber nicht möglich, alle diese Anfangsbedingungen zu kennen, geschweige denn – angesichts des schon bei weniger komplexen Systemen auftretenden Phänomens des deterministi-

376 377 378 379 380 381

Schmidt: Quantenphysik, 254 (Anmerkung 5). Vgl. Benk: Physik, 205. Vgl. Strunk: Thermodynamik, 439. Für den Hinweis darauf danke ich Professor Reinhold Breil. Vgl. Sturm: Tasse, 4. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 16.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

schen Chaos – daraus eine zukünftigen Zustand des Universums zu berechnen.382 Mutschler sieht ebenfalls dieses Problem: Soll nämlich die Wirkung mit Notwendigkeit aus einer Ursache hervorgehen, die verschiedene Teilursachen in sich einschließt, dann müssten wir eigentlich das ganze Universum berücksichtigen, da ja im Grenzfall alles kausal mit allem wechselwirkt. Wir müssten also die Ursache auf die Totalität des Existierenden beziehen, was sicher kein empirischer Begriff mehr sein könnte.383

Ebenso wenig ist es, wie die philosophischen Erörterungen zum Induktionsproblem zeigen, möglich, empirisch zu beweisen oder zu widerlegen, dass es deterministische Naturgesetze gibt, die ausnahmslos gelten.384 Die entscheidende Frage ist deshalb, ob empirische Erkenntnisse unabhängig von der Frage nach der Beweisoder Widerlegbarkeit vernünftigerweise begründeten Anlass geben, von diesen Erkenntnisse auf einen generellen physikalischen Determinismus zu extrapolieren.385 Dagegen spricht zunächst, wie Dupré erläutert, dass für die kausalen Zusammenhänge, welche durch Wissenschaften wie die Ökologie, die Ökonomie, die Meteorologie, die Evolutionsbiologie oder die Geologie beschrieben werden, von diesen Wissenschaften bisher keine deterministischen Gesetzessysteme sondern nur indeterministische Verursachungszusammenhänge gefunden wurden.386 Dass die Theorien dieser Wissenschaften und die entsprechenden Phänomene sich nicht ohne weiteres auf physikalische Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen, so dass sich der Indeterminismus der entsprechenden Zusammenhänge als Schein entlarven ließe, dem ein physikalischer Mikrodeterminismus zu Grunde liegt, wurde in Kapitel 4.4.1 bereits erläutert. Historisch betrachtet hat vor allem die Newton’sche Mechanik zur Extrapolation auf einen universellen Determinismus Anlass gegeben und könnte zusammen mit anderen deterministischen physikalischen Theorien dazu auch heute noch zum Anlass genommen werden.387 Dagegen spricht, so Dupré, jedoch das sogenannte Dreikörperproblem bzw. Mehrkörperproblem, das ausreiche, um zu zeigen, dass der Determinismus noch nicht einmal universell bei Systemen bewegter Körper – das ursprüngliche Anwendungsgebiet der Newton’schen Mechanik – gelte.388

382 383 384 385 386 387 388

Vgl. Keil: Willensfreiheit, 17. Mutschler: Wirklichkeit, 101. Vgl. Dupré: Disorder, 185. Vgl. Dupré: Disorder, 185f. Vgl. Dupré: Disorder, 186. Vgl. Dupré: Disorder, 186f. Vgl. Dupré: Disorder, 187.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Weiterhin ist zu bedenken, dass der physikalische Determinismus – egal ob er sich auf die Newton’sche Mechanik oder andere deterministische physikalische Theorien beruft – seine modale Kraft, also das, was die Übereinstimmung der möglichen Welten ermöglicht bzw. mit Notwendigkeit festlegt, dass es nur eine mögliche Zukunft geben kann, aus den Naturgesetzen bezieht.389 Wissenschaftstheoretisch konnte der Begriff der naturgesetzlichen Notwendigkeit aber bis heute nicht zufriedenstellend expliziert werden.390 Es ist nach wie vor unklar, woher die Naturgesetze ihren Notwendigkeitscharakter beziehen.391 In der Wissenschaftstheorie werden dazu unterschiedliche Theorien vertreten.392 Eine in den letzten Jahren u. a. von den Wissenschaftstheoretiker:innen Nancy Cartwright,393 Andreas Bartels,394 Andreas Hüttemann,395 Stephen Mumford396 und Alexander Bird397 vertretene Theorie von Naturgesetzen beinhaltet die Idee, Naturgesetzaussagen als Aussagen über Dispositionen von Gegenständen aufzufassen.398 Damit ist gemeint, dass Naturgesetze Aussagen über das Verhalten von Gegenständen machen, die nur unter ganz bestimmten Umständen zutreffen. Keil erläutert dies unter Berufung auf Nancy Cartwright folgendermaßen: Diese vertrete die These, möglicherweise sei „kein uneingeschränkt wahrer Immer wenn, dannSatz über Empirisches je präsentiert worden“399 . Während eines Ereignisverlaufs könne nämlich immer etwas dazwischenkommen. Dupré bringt die Überlegung folgendermaßen auf den Punkt: „Second, as Nancy Cartwright has noted, laws such as those of Newtonian mechanics are not even true except when, as will almost never be the case, other forces, for example electromagnetic, are absent.“400 Auch Andreas Klein erörtert dieses Argument und schlussfolgert: „Jedenfalls gelten die Gesetze offenbar nur in bestimmter Weise und unter bestimmten Bedingungen, obwohl sie doch als Gesetze so formuliert sind, daß sie auf alle Fälle, die von ihnen beschrieben werden, zutreffen sollen.“401 Man könnte nun einwenden, dass ein Ereignisverlauf zwar nicht durch ein einziges Naturgesetz, wohl aber durch ver-

389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401

Vgl. Keil: Willensfreiheit, 18. Vgl. Tetens: Naturgesetz, 918. Vgl. Bräuer: Naturgesetz. Vgl. Hüttemann: Naturgesetze. Cartwright: Laws. Bartels: Idea, 255–268. Hüttemann: Causation, 207–219. Mumford: Laws. Bird: Metaphysics. Vgl. Hüttemann: Naturgesetze, 151. Keil: Willensfreiheit, 31. Dupré: Disorder, 187. Klein: Willensfreiheit, 151.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

schiedene Naturgesetze, die zusammenwirken, determiniert sei.402 Wie Keil aber einleuchtend zeigen kann, stellt es einen Zirkelschluss dar, eine Ausnahme eines Naturgesetzes durch ein anderes angeblich deterministisches Naturgesetz begründen zu wollen.403 Dies sei nur möglich, wenn der Determinismus bereits vorausgesetzt werde, andernfalls würde die Anomalie „wie ein Schwarzer Peter endlos zwischen den verschiedenen Theorien [bzw. Naturgesetzen] herumgereicht“404 . Es scheinen also doch gewisse Zweifel berechtigt zu sein, ob die Naturgesetze tatsächlich geeignet sind, die Zukunft eindeutig und mit Notwendigkeit festzulegen. Das gleiche Argument lässt sich im Hinblick auf die These des Determinismus noch weiter zuspitzen: Während man von dem Vorhandensein deterministischer physikalischer Systeme nicht ohne weiteres auf einen universellen physikalischen Determinismus schließen kann, folgt dagegen aus dem Vorhandensein indeterministischer Systeme notwendig ein universeller Indeterminismus.405 Tritt an irgendeiner Stelle im Kausalzusammenhang ein Indeterminismus auf, so können die Folgen sich theoretisch über Kausalketten derart ausbreiten, dass aus jedem vermeintlich deterministischen Phänomen ein potentiell indeterministisches wird.406 Dupré betont: „Global determinism can obtain only if it is wholly isolated from causal interaction with objects whose behavior is indeterministic.“407 Beim Determinismus, meint Dupré außerdem, handele es sich um eine sehr starke metaphysische Annahme.408 „To claim that everything that happened had to happen, given the totality of prior conditions, is to impose an enormously strong – indeed the strongest possible – restriction on the possible evolution of the universe.“409 Es müssten für diese Annahme deshalb, so Dupré, überzeugende Gründe angeführt werden und die Beweislast liege auf der Seite des Determinismus.410 Abgesehen davon, dass der Begriff der Beweislast angesichts der Tatsache, dass ein Beweis unmöglich ist, besser durch den Begriff der Begründungspflicht ersetzt werden müsste, stimme ich der Ansicht Duprés zu. Die genannten Einwände gegen den Determinismus sprechen unabhängig von der Quantenphysik dagegen, dass empirische Erkenntnisse Anlass zur Extrapolation auf einen generellen Determinismus geben.

402 403 404 405 406 407 408 409 410

Vgl. Keil: Willensfreiheit, 33. Vgl. Keil: Willensfreiheit, 37. Keil: Willensfreiheit, 37. Vgl. Dupré: Disorder, 187. Vgl. Dupré: Nature, 168f. Dupré: Disorder, 187. Vgl. Dupré: Nature, 163. Dupré: Nature, 163. Dupré: Nature, 163.

149

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

4.5.3

Ist die physische (d. h. mikrophysikalische) Welt kausal geschlossen?

Wie Kapitel 4.4.3 ergeben hat, ist die physikalistische Annahme von der kausalen Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs mit der Annahme mentaler Verursachung und damit mit Willensfreiheit im libertarischen Sinne auch dann nicht vereinbar, wenn die Annahme des Determinismus als nicht zutreffend angesehen wird. Dies gilt unabhängig davon, ob ein ontologischer Dualismus oder ein physikalistischer Monismus zu Grunde gelegt wird – also unabhängig davon, ob man der ersten Prämisse des Leib-Seele-Trilemmas zustimmt oder nicht. Wenn alle kausalen Wirkungen in der Welt ausschließlich von den kleinsten Materieteilchen ausgehen bzw. auf sie reduziert werden können, können weder nicht-physische Phänomene (wie das Bewusstsein in einer dualistischen Ontologie) noch physische Makrophänomene (wie Organismen, Akteur:innen oder das Bewusstsein in einer monistischen Ontologie) den Weltverlauf beeinflussen. In der Literatur wird die kausale Geschlossenheit des Physischen dagegen fälschlicherweise (oder weil nicht der Physikalismus sondern nur ein nicht-physikalistischer Naturalismus (vgl. Kapitel 4.7) vorausgesetzt wird) meist nur als ein Problem für den ontologische Dualismus bzw. Interaktionismus und für Theorien starker Emergenz angesehen. Dem ontologischen Dualismus bzw. Interaktionismus wird heute sowohl von Naturwissenschaftler:innen (sofern sie sich damit beschäftigen) als auch von Philosoph:innen kaum noch Plausibilität attestiert.411 Eines der zentralen Argumente lautet, der Interaktionismus verletze das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt.412 Die dritte Prämisse des Leib-Seele-Trilemmas wird also als Tatsache vorausgesetzt. Davon geht auch Brüntrup aus, dessen Ausführungen mir paradigmatisch erscheinen. Er räumt zwar ein, dass es sich bei der Annahme von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt um eine methodologische Hintergrundannahme der naturwissenschaftlichen Forschung handele,413 behandelt diese aber dann doch wie eine Tatsache, ohne die „das ganze Projekt einer strengen Wissenschaft des Physischen“414 in Frage gestellt werde. Er betont, dass strikte Naturgesetze höchste Allgemeinheit beanspruchen und keine Ausnahmen zulassen würden.415 Weiter schreibt er: Wenn aber in die physischen Kausalketten […] auf eine erhebliche und sich gänzlich dem Zugriff der Physik entziehende Weise interveniert werden könnte – wie dies bei

411 412 413 414 415

Vgl. Brülisauer: Grundprobleme, 284. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 60f. Vgl. Brülisauer: Grundprobleme, 284. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 47. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 48. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 48.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

mental verursachten Körperbewegungen der Fall zu sein scheint – dann wäre die Idee von verläßlichen physikalischen Gesetzen außer Kraft gesetzt. Die Vorstellung von Naturgesetzen, die alle physischen Ereignisse miteinander auf strengste Weise verknüpfen, wäre unterhöhlt. Wenn man also annimmt, daß beispielsweise im Gehirn nichtphysische Kräfte einen kausalen Einfluß nehmen könnten, dann wäre es unmöglich, alle Hirnprozesse aus physikalischen Ursachen zu erklären. Die physische Kausalität hätte dann Lücken, was den Begriff und die Formulierung der relevanten Naturgesetze selbst gefährdete.“416 „Es kann nicht sein, daß es eine vollständige physische Kausalerklärung für ein Ereignis (z. B. eine Körperbewegung) gibt und man darüber hinaus eine zweite davon unabhängige und vollständige mentale Erklärung für exakt dasselbe Ereignis angeben kann.417

Wie das Zitat zeigt, vertritt auch Brüntrup die These von der kausalen Geschlossenheit des Physischen vor dem Hintergrund des Physikalismus (und nicht eines nicht-physikalistischen Naturalismus). Als ein wichtiges Argument für die kausale Geschlossenheit des Physischen und gegen die Möglichkeit mentaler Verursachung werden auch immer wieder die Energieerhaltungssätze genannt. Brüntrup schreibt dazu: „Wenn dem Universum als physischem System durch mentale Ereignisse Energie zugeführt werden könnte, bzw. wenn es durch die Einwirkung auf mentale Entitäten Energie abgeben würde, so wäre die Gültigkeit des Energieerhaltungssatzes nicht mehr garantiert.“418 Es hat den Anschein, als würde die These von der kausalen Geschlossenheit des Physischen von vielen Wissenschaftler:innen als eine Art Dogma behandelt. Wer an dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt zweifelt, steht schnell im Verdacht des Fundamentalismus und des Wunderglaubens.419 Dennoch gibt es einige – wie mir scheint beachtenswerte – Argumente, die gegen die kausale Geschlossenheit der physischen Welt sprechen. Zunächst muss hier an die gegen den physikalischen Determinismus vorgebrachten Argumente erinnert werden, denn Brüntrup scheint diesen vorauszusetzen, wenn er von Naturgesetzen spricht, die alle „physischen Ereignisse miteinander auf strengste Weise verknüpfen“. Es wurde jedoch bereits gezeigt, dass der Determinismus sich nicht so einfach unter Rückgriff auf die Physik begründen lässt. Wenn aber der physikalische Determinismus nicht zutrifft, bricht damit das zentrale Argument für die kausale Geschlossenheit der mikrophysikalischen Welt weg. Denn wenn Ereignisse im Einzelfall nicht mehr mit Notwendigkeit, sondern nur noch mit Wahrscheinlichkeit gemäß der Naturgesetze aus bestimmten Vorbedingungen

416 417 418 419

Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 48. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 49. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 49. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 94f.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

hervorgehen (im Fall von probabilistische oder statistischen Naturgesetzen), dann kann ein Einfluss nicht-physischer Entitäten nicht ausgeschlossen werden.420 Im Einzelfall kann also ein Ereignis durchaus den Naturgesetzen entsprechen, ohne durch diese festgelegt zu sein. Es bräuchte also keine „Ausnahmen“ von den Naturgesetzen und diese müssten auch nicht außer Kraft gesetzt werden. Dementsprechend wäre es dennoch möglich, Hirnprozesse (zumindest zum Teil) mit physikalischen Ursachen zu erklären, ohne dass diese unser Verhalten vollständig festlegen. Trifft der physikalische Determinismus nicht zu, so weist die Kausalität tatsächlich „Lücken“ auf und es gibt nicht für jedes Ereignis eine vollständige Kausalerklärung (was nicht bedeutet, dass das Ereignis völlig unabhängig von physischen Bedingungen wäre; es können durchaus notwendige physische Bedingungen gegeben sein; nur sind diese eben nicht hinreichend). Dies stellt aber Naturgesetze nicht in Frage, denn die „Lücken“ sind mit probabilistischen Naturgesetzen vereinbar. Diese Auffassung teilt der Philosoph Julian Nida-Rümelin, der davon ausgeht, dass nicht alle Ereignisse vollständig durch naturwissenschaftliche Theorien erklärbar sind.421 Er hält freie Entscheidungen für naturalistisch unterbestimmt 422 und schreibt: Die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten legen zusammen mit einem in naturwissenschaftlicher Terminologie vollständig beschriebenen Weltzustand den jeweiligen Nachfolgezustand nicht fest. Zu jedem naturwissenschaftlich beschreibbaren Weltzustand zum Zeitpunkt t1 gibt es eine Menge von möglichen Zuständen, die ohne Verletzung der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zum Zeitpunkt t2 bestehen können.423

Darüber hinaus meint er, die probabilistische Physik mache die „epistemische Unauffälligkeit“424 der kausalen Wirkung menschlicher Intentionen plausibel.425 Wie die Diskussion des Determinismus gezeigt hat, liefert die Physik also keine Argumente für die kausale Geschlossenheit der physischen Welt. Nun könnte man aber argumentieren, die These von der kausalen Geschlossenheit könne auf das Verständnis von Kausalität rekurrieren.426 Es ist aber sowohl in der Physik als auch in der Philosophie gar nicht klar, was unter Kausalität überhaupt zu verstehen ist. Peter von Inwagen meint dazu: „Causation is a morass in which I for one refuse to

420 421 422 423 424 425 426

Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 104. Vgl. Nida-Rümelin: Freiheit, 73f. Vgl. Nida-Rümelin: Freiheit, 74. Nida-Rümelin: Freiheit, 93f. Nida-Rümelin: Freiheit, 93. Vgl. Nida-Rümelin: Freiheit, 93. Vgl. Klein: Willensfreiheit, 127.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

set foot.“427 Mutschler meint, es würde in verschiedenen Zusammenhängen mit ganz unterschiedlichen Kausalitätsbegriffen gearbeitet.428 Aus der Physik wurde der Begriff der Kausalität zeitweise vollkommen verbannt: Die klassische Physik hat den Ursachenbegriff weitgehend durch mathematische Gesetze ersetzt,429 erläutert Falkenburg. Mutschler betont, der Kausalitätsbegriff komme in keiner physikalischen Formel vor.430 Er werde nur verwendet, um Physik zu interpretieren.431 Deshalb habe Bertrand A. W. Russel schon vor 100 Jahren vorgeschlagen, den Begriff der „Kausalität“ aus der Physik zu eliminieren.432 Viele Philosoph:innen der Physik würden ganz auf den Kausalitätsbegriff verzichten oder wenn sie einen solchen definieren, dann werde er im Allgemeinen kaum von der Forscher:innengemeinde insgesamt akzeptiert.433 In der Philosophie gibt es ebenfalls verschiedenste Ansichten über Kausalität. Gemäß der Transfertheorie der Kausalität wird Kausalität als ein physikalischer Prozess aufgefasst, bei dem physikalische Erhaltungsgrößen wie zum Beispiel Energie übertragen oder ausgetauscht werden.434 So wird es möglich, dass ein Ereignis ein anderes Ereignis notwendig oder probabilistisch hervorbringt.435 Diese Position ist realistisch in Bezug auf Kausalität: „Kausalität ist ein grundlegender Zug der Welt – das, was die Welt zusammenhält: die physikalischen Eigenschaften sind als solche selbst kausal […].“436 Die Empirist:innen unter den Philosoph:innen vertreten dagegen unterschiedliche Varianten einer Regularitätsauffassung von Kausalität, die auf David Hume zurückgeht.437 Demnach existieren zwischen verschiedenen Ereignissen in Raum und Zeit überhaupt keine Kausalbeziehungen in dem Sinne, dass ein Ereignis ein anderes Ereignis hervorbringen würde.438 Kausalität ist vielmehr schlicht die regelmäßige Aufeinanderfolge raumzeitlich benachbarter Ereignisse,439 die nur den Eindruck erweckt, das eine Ereignis werde durch das andere hervorgebracht.440 Auch bei der etwas stärkeren Variante der Kausalität, welche

427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440

Inwagen: Essay, 65. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 96. Vgl. Falkenburg: Mythos, 277. Vgl. Mutschler: Dogmen, 172. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 108. Vgl. Mutschler: Dogmen, 173. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 108f. Vgl. Esfeld: Kausalität, 95. Vgl. Esfeld: Kausalität, 97. Esfeld: Kausalität, 98. Vgl. Falkenburg: Mythos, 271–273. Vgl. Esfeld: Kausalität, 90f. Vgl. Esfeld: Kausalität, 92. Vgl. Falkenburg: Mythos, 271f.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

die kontrafaktische Theorie der Kausalität von David Lewis postuliert, wird Kausalität auf die Verteilung nicht-kausaler Eigenschaften in der Raumzeit reduziert.441 Die Kausalbeziehungen supervenieren „auf der Verteilung der fundamentalen physikalischen, kategorialen und intrinsischen Eigenschaften an den Punkten der Raumzeit.“442 Schließlich gibt es noch die Vertreter:innen eines interventionistischen Verständnisses von Kausalität,443 demgemäß unser Kausalitätsverständnis sich von unserem Handeln in der Welt ableitet. Ursache und Wirkung verhalten sich demnach wie Handlung und Handlungsfolge.444 Wenn aber sowohl in der Physik als auch in der Philosophie nicht klar ist, was unter Kausalität zu verstehen ist, wie soll man da begründet von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt sprechen können, zumal wenn die Naturgesetze die Annahme des Determinismus nicht stützen? In Bezug auf die Energieerhaltungssätze als Argument für die kausale Geschlossenheit der physischen Welt erscheint mir folgende Überlegung wichtig: Zum einen gelten die Energieerhaltungssätze ausdrücklich für isolierte Systeme. Die kausale Geschlossenheit ist also schon in den Bedingungen vorausgesetzt, unter denen die Energieerhaltungssätze gelten sollen. Geht man davon aus, dass ein System nicht isoliert ist, haben auch die Energieerhaltungssätze für dieses System keine Geltung. Zum anderen erscheint es mir überlegenswert, dass mentale Verursachung möglicherweise anders ‚funktioniert‘ als die üblichen Formen von Verursachung, die wir kennen. Wenn es sich also um eine andere Art von Verursachung handelt, wäre es auch denkbar, dass sie ohne Energieübertragung eine Wirkung hervorrufen kann. Mutschler erläutert beispielsweise, es gebe „in der Quantentheorie kausal wirksame alternative Pfade, die sich energetisch in nichts unterscheiden […].“445 Drittens wäre das Geistige, wenn es im Rahmen von starker Emergenz entsteht, Teil des Physischen. Sein Wirken in der Welt würde also die Energieerhaltungssätze nicht verletzen. Angesichts dieser Argumente gegen die kausale Geschlossenheit der physischen Welt erscheint es mir sinnvoll, im Anschluss an die Überlegungen von Mutschler die Aussage Brüntrups ernst zu nehmen, dass es sich bei der Annahme von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt um eine methodologische Hintergrundannahme der naturwissenschaftlichen Forschung handele.446 Mutschler interpretiert das Prinzip von der kausalen Geschlossenheit so, dass es den Cha-

441 442 443 444 445 446

Vgl. Esfeld: Kausalität, 93. Vgl. Falkenburg: Mythos, 273. Esfeld: Kausalität, 93. Vgl. Falkenburg: Mythos, 273. Vgl. Falkenburg: Mythos, 273. Mutschler: Welt, 154. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 47.

Einwände gegen Determinismus und Physikalismus

rakter einer pragmatischen Forschungsmaxime hat.447 Mutschler erläutert dies folgendermaßen: Wenn ein Naturwissenschaftler ein materielles Phänomen erklärungsbedürftig findet, dann soll er die hinreichenden materiellen Ursachen dafür namhaft machen. Manchmal wird er sie faktisch nicht finden, aber selbst wenn es Phänomene gäbe, die kausal nicht hinreichend bestimmbar wären, würde das seine Forschungsmaxime nicht etwa aufheben.448

Im Rahmen der Naturwissenschaften kann also nichts Forscher:innen dazu veranlassen, eine immaterielle Ursache anzunehmen, weil dies von der Methodik der Naturwissenschaften a priori ausgeschlossen wird. Naturwissenschaftler:innen müssen immer weiter nach materiellen Erklärungen suchen.449 Auch Falkenburg vertritt diese Auffassung und hält die Annahme von der kausalen Geschlossenheit für eine Verfahrensregel der Naturwissenschaften.450 Sie erläutert, seit Galileo Galilei und Newton sei es das vornehmste Ziel der Naturwissenschaften, die Ursachen von gegebenen Naturerscheinungen innerhalb der Natur ausfindig zu machen.451 „Zu fordern, dass die Ursache jeder Naturerscheinung wiederum natürlich sein soll (und nicht Zauberei, Spuk oder ein göttliches Wunder), ist eine sinnvolle methodologische Vorschrift, dank derer die Naturwissenschaften erst ihren Namen verdienen.“452 Ein Fehler ist es dann aber, von dieser Verfahrensregel darauf zu schließen, aller Ursachen in der Welt seinen physisch,453 aus der Verfahrensregel also eine ontologische Tatsache zu machen. Interpretiert man die Annahme von der kausalen Geschlossenheit des Physischen als pragmatische bzw. methodische Forschungsmaxime, dann geht es dabei auch nicht mehr um die kausale Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs. Diese mag zwar als theoretische Annahme mit impliziert sein. Für die naturwissenschaftliche Forschungspraxis beispielsweise der Biologie würde es aber gemäß der Maxime ausreichen, immaterielle bzw. übernatürliche Ursachen auszuschließen, während biologische Makrophänomene durchaus als Ursachen in Betracht

447 448 449 450 451 452 453

Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 102. Mutschler: Wirklichkeit, 102. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 103f. Vgl. Falkenburg: Mythos, 47. Vgl. Falkenburg: Mythos, 47. Falkenburg: Mythos, 47. Vgl. Falkenburg: Mythos, 47.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

kommen.454 Ob die Wirksamkeit dieser biologischen Makrophänomene sich möglicherweise vollständig auf ihre mikrophysikalischen Bestandteile reduzieren lässt, stellt demgegenüber eine rein theoretische Frage dar, die für die Forschungspraxis der Biologie wohl in den meisten Fällen keine Rolle spielen dürfte. Die These von der kausalen Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs hätte dann noch nicht einmal den Charakter einer pragmatischen Forschungsmaxime. Betrachtet man die These der kausalen Geschlossenheit des Physischen – unabhängig davon ob es sich um Mikro- oder um Makrophänomene handelt – nicht als eine Tatsache sondern nur als eine pragmatische Forschungsmaxime, so entfällt ein entscheidender Einwand gegen den ontologischen Dualismus (im Sinne eines Interaktionismus à la Descartes). Ein solcher Dualismus kann also letztlich nicht ausgeschlossen werden. Dennoch halte ich ihn für unplausibel. Gegen einen ontologischen Dualismus spricht der enge Zusammenhang, den die Hirnforschung zwischen Geist und Gehirn festgestellt hat. Unabhängig von der Frage, ob geistige Zustände auf physischen Zustände reduziert werden können, ist es unplausibel – wenn auch nicht ausgeschlossen – anzunehmen, der menschliche Geist könne völlig unabhängig von neuronalen Zuständen existieren und agieren. Auch unabhängig von Erkenntnissen der Hirnforschung zeigt die Erfahrung, dass menschliche Freiheit immer auch bedingte Freiheit ist. Ein von jeglichen physischen Bedingungen unabhängiger Geist entspricht nicht dieser Erfahrung. Gründe, die eine Person für oder gegen eine Entscheidung motivieren, können durchaus auf körperliche Gegebenheit zurückgehen (vgl. Kapitel 2). Zu den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie passt es außerdem wesentlich besser, anzunehmen, dass sich mit zunehmender neuronaler Komplexität auch zunehmende kognitive Fähigkeiten bis hin zum menschlichen Bewusstsein entwickelt haben, als anzunehmen, dass erst zum Zeitpunkt der evolutiven Entstehung des Menschen ‚plötzlich‘ und unabhängig von der neuronalen Entwicklung des Gehirns auch der menschliche Geist als eigene Entität aufgetaucht sei.

4.6

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

Angesicht der Argumente gegen den Determinismus und die kausale Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs sowie der Probleme, welche die Reduzierung mentaler Zustände auf physische Zustände bereitet, und der mangelnden Plausibi-

454 Die Frage, was gemäß dieser methodologischen Hintergrundannahme der naturwissenschaftlichen Forschung als ‚natürliche‘ und damit akzeptable Ursache gelten kann, wird in Kapitel 4.7 noch zu diskutieren sein.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

lität des ontologischen Dualismus erscheint es mir (vorläufig und im Rahmen der bisher vorgestellten philosophischen Optionen) am angemessensten, die Lösung des Leib-Seele-Problems und des Problems der mentalen Verursachung in einer Version starker Emergenz zu suchen. Eine entscheidende Frage, die bei einer emergenztheoretischen Lösung des Problems mentaler Verursachung zu beantworten ist, lautet: Wo und auf welche Art und Weise wirkt das Mentale auf die Materie bzw. das Gehirn ein? Während die Antwort des Enaktivismus auf diese Frage erst in Kapitel 9 erörtert wird, soll es hier um die bereits erwähnte Antwortstrategie gehen, die beispielsweise von John Eccles455 , Paavo Pylkkänen456 , Friedrich Beck457 , Winfried Schmidt458 und Patrick Becker459 verfolgt wird. Diese Antwortstrategie, die sowohl mit einem ontologischen Dualismus als auch mit starker Emergenz kompatibel ist, bestreitet den physikalischen Determinismus und als Konsequenz daraus auch die kausale Geschlossenheit des Physischen unter Berufung auf die Quantenphysik. Mentale Verursachung durch ein im starken Sinne emergentes Bewusstsein wird demnach möglich, weil bestimmte Prozesse im Gehirn wegen quantenphysikalischer Indeterminismen physikalisch unterbestimmt sind. Diese aus physikalischer Sicht indeterminierten Prozesse können, so die These, durch das Mentale beeinflusst bzw. determiniert werden. Die erste Herausforderung, vor der diese Strategie steht, ist es, plausibel zu machen, dass es solche quantenphysikalisch indeterminierten Prozesse im Gehirn überhaupt gibt und dass sie bei Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen könnten. Diese Annahme ist nämlich nicht unumstritten. Der Physiker Friedrich Beck hält genau diese Annahme für plausibel. Er geht davon aus, dass es entscheidende Vorgänge im Gehirn geben könnte, bei denen nicht-klassisches Verhalten von Teilchen handlungsrelevant das makroskopische Verhalten mitbestimmt.460 Ebenso wie Falkenburg und Herz vermutet Beck die indeterministischen Prozesse im Bereich der Signalübertragung an Synapsen. Diese läuft folgendermaßen ab:461 Trifft ein Nervenimpuls an der Präsynapse ein, so erzeugt dies eine Depolarisation (Ladungsumkehrung) der Membran. Dies bewirkt eine Konfirmationsänderung eines Ionenkanals in der Membran, so dass durch diesen Kanal Ca2+ -Moleküle in die Präsynapse eintreten können. Dies führt dazu, dass in der Präsynapse enthaltene Vesikel ihren Inhalt – Transmittermoleküle – in den synaptischen Spalt entleeren. Auf der anderen Seite des synaptischen Spalts – an

455 456 457 458 459 460 461

Eccles: Self. Pylkkänen: Order. Pylkkänen: Information. Beck: Quantenprozesse. Schmidt: Quantenphysik. Becker: Bewusstseinsfalle. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 253 und 255. Vgl. Beck: Quantenprozesse. Vgl. Beck: Quantenprozesse, 163–169.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

einem der Dendriten des benachbarten Neurons – ruft dies eine postsynaptische Depolarisation hervor. Summieren sich hunderte solcher Depolarisationen am Soma des Neurons auf, verursacht dies ein Feuern des Neurons – also einen neuen Nervenimpuls. Die Vesikel entleeren ihren Inhalt in den synaptischen Spalt ganz oder gar nicht und die Wahrscheinlichkeit für eine solche Exozytose ist deutlich kleiner als Eins.462 Becks Überlegung besteht nun darin, dass in diesem Prozess der synaptischen Signalübertragung Quantenprozesse eine Rolle spielen könnten, so dass diese Signalübertragung im quantenphysikalischen Sinne indeterminiert wäre. Berechnungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass die Ausschüttung der Transmittermoleküle in den synaptischen Spalt und die gesamte Ionenkanal-Dynamik an der Präsynapse nicht direkt durch Quanteneffekte beeinflusst werden kann, weil die daran beteiligten Moleküle zu groß sind.463 Die den Prozess tragenden Massen dürfen höchstens in der Größenordnung einiger Elektronenmassen liegen.464 Beck vermutet deshalb, dass die Elektronentransportprozesse, die das Öffnen eines Ca2+ -Kanals auslösen, durch Quanteneffekte gesteuert sein könnten.465 Inwiefern bei Elektronentransportprozessen Quanteneffekte eine Rolle spielen können, erläutert Schmidt folgendermaßen: Elektronentransportprozesse sind dann genuine Quantenereignisse, wenn der räumliche Übergang eines Elektronenorbitals von einem Molekülliganden (Donor) zum nächsten (Akzeptor) durch eine Energiebarriere führt, die nach klassischer Physik nicht überschritten werden kann. In der Quantenmechanik kann ein Elektron die Barriere bildlich gesprochen durchtunneln, ohne dabei die Energieerhaltung zu verletzen. Ob das Tunneln stattfindet oder nicht, ist wie beim Uranzerfall, der auch auf dem Tunneleffekt beruht, auf keine Weise vorhersehbar.466

Wenn also bei der Ausschüttung der Neurotransmitter in den synaptischen Spalt der beschriebene Quanten-Schalter eine Rolle spielt, dann ist dieser Prozess im quantenphysikalischen Sinne indeterminiert, denn die Ausschüttung des Neurotransmitters wird durch einen Quantenprozess getriggert.467 Diese Indeterminiertheit wirkt sich auf mesoskopischer Ebene unmittelbar aus, indem entweder eine postsynaptische Depolarisation erfolgt oder nicht. Diese Depolarisation wirkt sich wiederum auf

462 463 464 465 466 467

Vgl. Beck: Quantenprozesse, 164. Vgl. Beck: Quantenprozesse, 167–169. Vgl. Beck: Quantenprozesse, 167. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 257. Schmidt: Quantenphysik, 257. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 258.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

die Gesamtaktivität des Empfängerneurons aus.468 Die Aktivität des Gehirns würde damit quantenphysikalische Unbestimmtheiten enthalten. Kann aber die Aktivität einer einzelnen Synapse überhaupt einen entscheidenden Einfluss auf das makroskopische System Gehirn bzw. auf den ganzen Organismus haben? Manche Hirnforscher:innen bezweifeln dies mit dem Argument, dass die Aktivität einer Synapse nur im Mittel in die Aktivität des neuronalen Netzes eingehe, dass Quanteneffekte sich also weg „mitteln“.469 Schmidt dagegen betont, in der Bauweise des Gehirns deute nichts darauf hin, „dass das neuronale Netz seine Funktionalität nur auf Mittelwertbildung gründet, sondern eher darauf, dass einzelne synaptische Prozesse eine Rolle spielen“470 . Gerade wenn im Gehirn bei schwierigen Entscheidungen ähnlich starke Erregungsmuster miteinander konkurrieren (vgl. Kapitel 3.2.2), könne schon die Aktivität einer einzelnen Synapse über den Ausgang des ‚Wettbewerbs‘ entscheiden, meint Schmidt.471 Dafür spricht auch der Hinweis Becks, neuere Untersuchungen würden zeigen, „dass das neuronale Netz nahe der Instabilität operiert und durch minimale Impulse zwischen verschiedenen Zuständen (Grenzzyklen) umgeschaltet werden kann.“472 Auch Gerhard Jäckels betont: „Es ist bekannt, dass diese Gebilde [Gehirne] sowohl relativ stabile als auch sehr fragile Zustände erreichen, in denen beliebig kleine Fluktuationen mit der Zeit exponentiell anwachsen. Sehr subtile Einflüsse könnten sehr wohl die makroskopische Ebene erreichen und hier wirksam werden.“473 Darüber hinaus wäre es auch durchaus denkbar, dass bei der mentalen Verursachung Quanteneffekte an mehreren Synapsen den neuronalen Prozess beeinflussen. Ob ein solcher Quanten-Schalter tatsächlich für den Signaltransfer an Synapsen verantwortlich ist, wurde experimentell bisher nicht geklärt. Nachgewiesen wurde die makroskopische Relevanz von Quantenprozessen aber bereits in anderen biologischen Systemen wie z. B. dem Lichtsammelkomplex von bestimmten Photobakterien, dem Lichtsammelkomplex einer bestimmten Gruppe von Meeresalgen (Cryptophyten) und dem Lichtsammelkomplex von Spinat.474 Darüber hinaus sprechen starke experimentelle Indizien dafür, dass auch für die Funktionsweise des Geruchssinns von Tieren und Menschen Quantenprozesse, genauer gesagt die oben bereits erwähnten Quanten-Tunneleffekte, eine Rolle spielen könnten.475 Bei Rotkehlchen weisen viele Indizien darauf hin, dass die Wahrnehmung des

468 469 470 471 472 473 474 475

Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 258. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 264. Schmidt: Quantenphysik, 264. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 259f. Beck: Quantenprozesse, 165. Jäckels: Anthropologie, 210. Vgl. Beck: Quantenprozesse, 169. Vgl. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 152–157. Vgl. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 190–203.

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Erdmagnetfeldes durch Quanteneffekte vermittelt ist.476 Insofern es also deutliche Hinweise darauf gibt, dass Quantenprozesse auch auf der makroskopischen Ebene lebender Organismen eine Rolle spielen könnten, erscheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass sie auch für die Funktionsweise des menschlichen Gehirns eine Bedeutung haben könnten. Gegen die Annahme, dass Quanteneffekte auch in biologischen Systemen eine Rolle spielen könnten, wurde oftmals eingewandt, dass die quantenphysikalischen Eigenschaften von Materie in makroskopischen Objekten durch Wechselwirkungen üblicherweise verschwinden,477 d. h. die Materie verhält sich gemäß der klassischen Physik. Dieser Prozess wird Dekohärenz genannt. Dekohärenz müsste demnach auch in lebendigen Organismen die Quanteneigenschaften der Materie zum Verschwinden bringen. In der experimentellen Physik wird die Dekohärenz von Quantenzuständen u. a. dadurch vermieden, dass mit sehr niedrigen Temperaturen, kurz über dem absoluten Nullpunkt, gearbeitet wird. Bei Temperaturen, wie sie in lebenden Organismen herrschen, wird die Dekohärenz dagegen eigentlich augenblicklich wirksam.478 „Und aus diesem Grund galt der Gedanke, dass warme, lebende Organismen empfindliche Quantenzustände aufrechterhalten können, zumindest anfangs als höchst unplausibel.“479 Wie die erwähnten Beispiele zeigen, gibt es aber offenbar ernstzunehmende Hinweise darauf, dass biologische Organismen unter bestimmten Umständen die Dekohärenz begrenzen, die Quantenkohärenz aufrechterhalten und so Quanteneffekte für sich nutzen können. Das hat damit zu tun, dass in lebenden Organismen „eine relativ kleine Zahl hochgeordneter Teilchen – beispielsweise in einem Gen oder im Kompass der Vögel – einen Organismus entscheidend beeinflussen können.“480 Gegen Quanteneffekte in biologischen Systemen wird darüber hinaus eingewandt, thermisches Rauschen, d. h. im vorliegenden Beispiel durch thermische Anregung ausgelöste Synapsenaktivität, könnte den Einfluss der Quanteneffekte überdecken bzw. stören. Schmidt erläutert aber, bei den Elektronentransferprozessen, die zum Öffnen der Ca2+ -Kanäle führen, sei der ‚Signalrauschabstand‘ ausreichend groß, so dass das thermische Rauschen keinen entscheidenden Einfluss habe.481 Quanteneffekte könnten im Gehirn also durchaus eine Rolle spielen. Man könnte allerdings noch kritisch rückfragen, inwiefern es sich bei dem quantentheoretischen Indeterminismus um einen echten Indeterminismus handelt: Schließlich

476 477 478 479 480 481

Vgl. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 212–240. Vgl. Pollmann: Quantenmitteln. Vgl. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 69f. Vgl. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 70. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 70. Al-Khalili/McFadden: Quantenbeat, 70. Vgl. Schmidt: Quantenphysik, 263.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

sind Quanteneffekte nicht vollkommen zufällig, sondern unterliegen statistischen Gesetzmäßigkeiten. Jäckels erläutert: Ist nicht der quantentheoretische Indeterminismus gewissermaßen selbst determiniert? Auch die in ihrem jeweiligen Ausgang nicht berechenbaren Einzelereignisse (Messergebnisse) sind ja insgesamt wieder an eine statistische Verteilung gebunden, deren zeitliche Evolution durch eine stetige Differentialgleichung genauso vorherbestimmt ist, wie die Bahn eines klassischen Teilchens.482

Legen dann nicht doch wieder die Naturgesetze das Geschehen im Sinne einer statistischen Determiniertheit fest? Zu diesem Einwand findet sich bei Jäckels folgende Überlegung: Statistische Gesetzmäßigkeiten – auch die statistischen Gesetzmäßigkeiten der Quantenmechanik – lassen sich nur an Systemen überprüfen, bei denen immer wieder identische Ausgangsbedingungen vorliegen bzw. herstellbar sind. Im lebenden und Bewusstsein erzeugenden Gehirn herrscht aber eine hochkomplexe Dynamik, bei der vermutlich niemals die gleichen Ausgangsbedingungen mehrfach auftreten. Die postulierten Quantenereignisse an Synapsen und die sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeiten für das ‚Feuern‘ von Neuronen wären also insofern singuläre Ereignisse. Sofern eine gewisse statistische Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass ein solches Ereignis auftritt – und sei sie noch so gering –, kann ein solches einzelnes Ereignis nicht gegen statistische Naturgesetze verstoßen. Ein solcher Verstoß könnte nur vorliegen und festgestellt werden, wenn identischen Ausgangsbedingungen immer wieder auftreten würden. Dies ist aber im lebenden Gehirn aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Fall und insofern sind die entsprechenden Ereignisse im Gehirn einer statistischen Untersuchung vermutlich nicht zugänglich, wie schon Niels Bohr vermutete.483 Bei Becker findet sich eine Skizze davon, wie mentale Verursachung unter der Voraussetzung von starker Emergenz und quantenphysikalischen Indeterminismen im Gehirn ablaufen könnte. Die Skizze ist sehr prägnant, weshalb ich sie hier wörtlich zitieren möchte: Zunächst ist der Rahmen für die Willensentscheidung durch eine Reihe von Umständen festgelegt. Diese umfassen unsere körperlichen Möglichkeiten sowie die konkrete Situation, in der wir uns befinden – also alle Umstände, die physischer Natur sind. Diese physischen Umstände fließen im Gehirn zusammen und werden dort verarbeitet. […] An dieser Stelle findet eine Übersetzung der physischen Vorgänge im Gehirn zum mentalen Bewusstseinsfluss statt. […] Ich belege diesen Übersetzungsvorgang mit dem Begriff

482 Jäckels: Anthropologie, 217. 483 Vgl. Jäckels: Anthropologie, 218f.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Emergenz, weil ich davon ausgehe, dass hier eine neue Qualität erreicht wird. Auf der nun erreichten Ebene des Mentalen, die wir als Bewusstsein erleben, werden die Informationen eigenständig verarbeitet. […] Ich gehe davon aus, dass nun eine Form von Informationsverarbeitung stattfindet, die nur das emergierte Bewusstsein kennt und die ihrerseits die physische Basis verändert. Es gilt damit nach wie vor die Gleichung, dass dem Mentalen das Physische zugeordnet bleibt, aber nun erhält das Mentale die Initiative. Nun wird das Mentale in das Physische rückübersetzt, es liegt also sowohl eine Aufwärtsverursachung vor (der erste Übersetzungsschritt) als auch eine Abwärtsverursachung (die Rückübersetzung). Beide Übersetzungsschritte gehen Hand in Hand, sodass sie in der Praxis der Gehirnprozesse kaum auseinander dividierbar sein dürften.484

Becker illustriert seine Vorstellung mit der folgenden Abbildung:

Abb. 1 Mentale Verursachung nach Becker: Bewusstseinsfalle, 244. © Patrick Becker

Im Rahmen der bisher beschriebenen Optionen und unter der Voraussetzung, dass man den Naturwissenschaften einen realistischen Erkenntnisanspruch zubilligt, erscheint mir dies als die plausibelste Lösung für das Problem der mentalen Verursachung. Becker gibt zu bedenken, bisher habe man empirisch keine kausalen Lücken innerhalb des neuronalen Netzwerkes des Menschen gefunden:485 „Die Neurowissenschaften analysieren das Gehirn ohne auf eine kausale Lücke zu stoßen. Alles scheint nach den festen Regeln auf der neuronalen Ebene zu funktionieren.“486 Mir scheint, Becker ist hier dem Mythos von den deterministischen neuronalen Mechanismen aufgesessen. Wie im Kapitel 3.5.4 unter Berufung auf Ausführungen Falkenburgs erläutert wurde, geben die Erkenntnisse der Hirnforschung keinen Anlass, von einer kausalen Geschlossenheit der neuronalen Vorgänge auszugehen.

484 Becker: Bewusstseinsfalle, 243–244. 485 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 80 und 231. 486 Becker: Bewusstseinsfalle, 231.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

Insofern scheint es durchaus Lücken zu geben, die eine mentale Verursachung ermöglichen könnten. 4.6.1

Probleme des Ansatzes

Allerdings lässt auch der hier beschriebene emergenztheoretische Ansatz Fragen unbeantwortet bzw. wirft neue Fragen auf. Diese Schwächen des Ansatzes, bei denen es sich erstens um eine Schwäche in erkenntnistheoretischer Hinsicht und zweitens um eine Inkonsistenz hinsichtlich der Ontologie handelt, sollen im Folgenden erläutert werden. Ich beginne mit dem erkenntnistheoretischen Problem. Becker meint, gegenüber dem ontologischen Dualismus habe das Konzept der starken Emergenz folgenden Vorteil: Emergenz beinhaltet nichts Mysteriöses, sondern lediglich die Behauptung, dass es besondere Gesetzmäßigkeiten gibt, die in besonderen Fällen greifen. Doch da diese besonderen Fälle nicht zufällig oder willkürlich vorliegen, sondern in (im Prinzip) genau angebbaren Situationen, liegt hier kein geheimnisvolles Geschehen vor, sondern ein geregeltes, naturwissenschaftlich erfassbares Verhalten.487

Tatsächlich thematisiert Becker hier eher eine Schwäche als eine Stärke des Konzeptes der starken Emergenz. Der Ansatz der starken Emergenz möchte einen Dualismus auf der ontologischen Ebene vermeiden und propagiert deshalb einen ontologischen Monismus. Damit handelt er sich einen epistemischen Dualismus bzw. eine Erklärungslücke innerhalb des monistischen Weltbildes ein, denn wie aus dem Physischen die Eigenschaft des Mentalen emergiert, kann er nicht erklären. Er muss es als factum brutum hinnehmen, das er zum Naturgesetz erklärt. Dass es sich beim Mentalen ‚nur‘ um eine Eigenschaft des Physischen handelt, bleibt dementsprechend eine Behauptung, die nicht weiter belegt werden kann, weil nicht erklärt werden kann, warum und wie das Mentale aus dem Physischen emergiert.488 Gegenüber dem Konzept eines ontologischen Dualismus stellt dies kaum eine argumentative Verbesserung dar. Mutschler, der starke Emergenz als factum brutum durchaus für eine philosophisch tragfähige Position hält, argumentiert dennoch in ähnlicher Richtung und mahnt an, das Ockham’sche Rasiermesser verpflichte auf Erklärungen, die nicht zu viele Kontingenzen enthalten.489 Wer zu viel Unerklärliches in seinen Theorien zulasse, produziere schlechte Wissenschaft.490 Unerklärt

487 488 489 490

Becker: Bewusstseinsfalle, 231. Das Gleiche gilt auch für Supervenienztheorien. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 143. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 143.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

bleibt letztlich, wieso es in der angeblich einheitlich physisch bzw. physikalisch verfassten Welt, die sich bisher naturwissenschaftlich bestens erforschen und oftmals auch reduktiv erklären lässt, eine Enklave geben soll, die sich diesem Zugriff weitestgehend entzieht und nur aus der Ersten-Person-Perspektive zugänglich ist. Innerhalb eines ontologischen Monismus ist das zunächst schlicht unplausibel und es bleibt deshalb ein „schlechter Beigeschmack“491 . Es hilft wenig, das Unerklärliche mit dem Label ‚Naturgesetz‘ zu versehen – zumal Kognitionswissenschaftler:innen noch nicht einmal angeben können, welche Kriterien ein komplexes System wie das menschliche Gehirn genau erfüllen muss, damit Bewusstsein gesetzmäßig emergiert. Warum – so lassen sich die Überlegungen zusammenfassen – sollte man eine Erklärungslücke in einer ontologisch einheitlich materiell verfassten Wirklichkeit annehmen, die ansonsten solche Erklärungslücken scheinbar nicht kennt? Die naheliegende Begründung, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit eben begrenzt und der Mensch nicht allwissend ist, wirkt angesichts der Erfolge der Naturwissenschaften wie eine schlechte, auf Dauer nicht tragfähige Ausrede, wenn die Behauptung, dass eine prinzipiell nicht zu beseitigende Erkenntnislücke bzw. -grenze vorliegt, nicht durch zusätzliche erkenntnistheoretische Überlegungen plausibilisiert wird. Verschärft wird das Problem durch eine zweite Frage, die sich im Zusammenhang mit dem vorliegenden Ansatz stellt und die zumindest bisher nicht beantwortet wurde: Wie bzw. auf welche Art und Weise beeinflusst das Mentale die postulierten, in empirischer Hinsicht indeterminierten Prozesse an den Synapsen? Rätselhaft bleibt diese Beeinflussung besonders deshalb, weil das Geistige gemäß der Theorie starker Emergenz eine Eigenschaft eines komplexen physikalischen Makrosystems ist. Wie aber soll ein solches Makrophänomen in der Lage sein, quantenphysikalische Mikroereignisse innerhalb der es konstituierenden Prozesse zu beeinflussen? Noch rätselhafter erscheint diese Beeinflussung, wenn man in den Blick nimmt, dass es letztlich das entscheidende Individuum selbst – ein physikalisches Makrophänomen bzw. Makrosystem – sein müsste, welches die quantenphysikalischen Mikroereignisse in seinem Gehirn beeinflusst. Nur dann könnte das Individuum als Urheber seiner Entscheidungen gelten. Der hier zur Debatte stehende Ansatz muss, auch wenn dies aus den genannten Gründen problematisch ist, davon ausgehen, dass eine solche Beeinflussung möglich ist. Zudem liegt es im Rahmen des Ansatzes nahe anzunehmen, dass sich auch diese Frage nach dem Modus der mentalen Verursachung aus prinzipiellen Gründen naturwissenschaftlich nicht beantworten lässt, weil die mentale Einflussnahme auf Quantenprozesse empirisch nicht zugänglich bzw. feststellbar ist. Angesichts des postulierten ontologischen Monismus müsste dann aber auch diese Erklärungslücke erkenntnistheoretisch

491 Mutschler: Wirklichkeit, 144.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

zusätzlich plausibilisiert werden, wenn sie nicht als Argument gegen den Ansatz gewertet werden soll. In engem Zusammenhang mit der erkenntnistheoretischen Schwäche des Ansatzes steht die Inkonsistenz hinsichtlich der Ontologie, die in dem soeben Dargelegten bereits angeklungen ist. Theorien über Eigenschaftsdualismen wie die Supervenienztheorien und Theorien starker Emergenz (wie sie vom Mainstream der aktuellen analytischen Phyilosophie des Geistes, vertreten u. a. durch Godehard Brüntrup, rezipiert werden) sind, wie Christine Zunke und Brüntrup aufzeigen, mit einer inneren Inkohärenz belastet:492 Gibt es nur eine Substanz, nämlich das Physikalische (was unter Voraussetzung der Annahme einer physikalistischen Basisontologie bzw. eine physikalischen Emergenzbasis nahe liegt), können alle Eigenschaften die daraus entstehen, nur Eigenschaften dieser Substanz sein. Gelingt eine Reduktion der Eigenschaften auf die Substanz nicht, kann man zwar von einem epistemischen Eigenschaftsdualismus sprechen, ein allwissendes Wesen müsste aber eine Theorie angeben können, welche die Reduktion der Eigenschaften auf die Substanz ermöglichen würde.493 Ein allwissendes Wesen müsste also eine Theorie angeben können, die erklärt, wie das Geistige aus seiner materiellen, vom Menschen physikalisch beschreibbaren Basis hervorgeht und wie es bei der mentalen Verursachung seine Basis beeinflusst. Dies wiederum lässt die Vermutung nahe liegen, dass es sich bei vermeintlichen Fällen starker Emergenz faktisch nur um schwache, mit dem Reduktionismus vereinbare Emergenz, also um systemische Eigenschaften handelt, die vom Menschen auf Grund bisher mangelnder Kenntnisse oder einer grundsätzlichen Erkenntnisbegrenzung nicht als solche erkannt werden.494 Mentale Verursachung, die nicht auf ihre mikrophysikalische Basis reduziert werden kann, wäre dann doch eine Illusion. Dementsprechend haben bereits 1965 die Wissenschaftstheoretiker Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim darauf hingewiesen, dass das ganze Konzept der starken Emergenz gehaltlos sein könnte:495 Ihr Argument, meint Mutschler, sei ebenso schlicht wie beherzigenswert: „Was wir nicht verstanden haben, nennen wir [stark] emergent, und wenn wir es verstanden haben, dann verschwindet [starke] Emergenz.“496 Emergenz wäre demnach nur ein Etikett für unsere Unwissenheit und hätte daher keinerlei ontologische Relevanz.497

492 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 80–82. Vgl. Zunke: Kritik, 95. Vgl. auch Kuhlmann: Theorien, 327 und Becker: Bewusstseinsfalle, 72f. 493 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 81f und 88. 494 Ich komme auf dieses Thema in Kapitel 9.4.1 zurück. Dort finden sich auch einige Beispiele von Fällen vermeintlich starker Emergenz, die sich im Laufe der Zeit als schwache Emergenz erwiesen hat. 495 Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 141. 496 Mutschler: Wirklichkeit, 141. 497 Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 141.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Das Problem lasse sich, meint Zunke, nur kohärent lösen, indem man entweder, wie sie selbst es vorschlägt, die Nicht-Reduzierbarkeit als Indiz für einen ontologischen Dualismus wertet498 oder indem man einen reduktionistischen Physikalismus vertritt und annimmt, dass sich mentale Eigenschaften auf die Aktivität neuronaler Netzwerke zurückführen lassen.499 Wie das folgende Kapitel, dass sich mit Überlegungen von Jürgen Habermas zu diesem Thema befasst, zeigt, gibt es jedoch noch eine weitere Möglichkeit, das Problem kohärent zu lösen. Der Haken am Konzept der starken Emergenz, wie es vom Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes diskutiert wird, ist nämlich die darin vorausgesetzte physikalistische Basisontologie, d. h. die Annahme, dass die Beschreibung, welche die Naturwissenschaften (genauer gesagt die Physik) von der materiellen ‚Emergenzbasis‘, aus der die mentalen Eigenschaften hervorgehen, liefern, diese ‚Emergenzbasis‘ vollständig und realistisch beschreibt, wie sie ‚an sich‘ ist. 4.6.2

Der Protopanpsychismus als mögliche Problemlösung (Patrick Becker)

Becker versucht die eine der beiden oben genannten Erklärungslücken, welche die Art und Weise der mentalen Beeinflussung von Quantenereignissen im Gehirn betrifft, dadurch zumindest zu verkleinern, dass er einen Informationstransfer ohne Energieaustausch postuliert.500 Dazu zieht er die von David Bohm vertretene Interpretation der Quantentheorie heran, welche in Kapitel 4.5.1.2.2 erläutert wurde. Gemäß dieser Theorie verhält sich ein Elektron bei einem Quantenpotential gleich null als Teilchen. Weicht das Quantenpotential vom Wert Null ab, verhält sich das entsprechende Elektron als Welle. Das Quantenpotential werde, so Becker, durch die Form – nicht aber die Intensität – der Quantenwelle bestimmt. Wäre die Intensität entscheidend, müsste man von einer Energieübertragung ausgehen. Da aber nur die Form entscheidend sei, werde beim Quantenpotential reine Information übertragen. Becker möchte durch dieses Postulat zeigen, dass das Physische

498 Vgl. Zunke: Kritik, 96. Zunke schreibt hier: „Aber dass die Art der Verbindung einer Eigenschaft eines Gegenstandes mit diesem Gegenstand nicht angegeben werden können soll, die Eigenschaft also ‚nicht reduzierbar‘ sein soll auf dasjenige, dessen Eigenschaft sie ist, das lässt doch berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob es sich denn hierbei tatsächlich um eine Eigenschaft dieses Gegenstandes handeln könne – und wenn ja, woher man dies wissen kann, wenn die Eigenschaft doch nicht an diesem Gegenstand, sondern offenbar ausschließlich anderswo (nämlich in der Ersten-Person-Perspektive) erscheint. Denn eine Eigenschaft, die sich nicht hinreichend durch einen Gegenstand erklären, also nicht auf diesen ‚reduzieren‘ lässt, ist offenbar keine Eigenschaft dieses Gegenstandes, sondern verweist allenfalls auf einen Zusammenhang dieses Gegenstandes mit einem anderen Gegenstand, dessen Eigenschaft sie ist.“ 499 Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 82. 500 Vgl. zum ganzen Absatz: Becker: Bewusstseinsfalle, 245–255.

Willensfreiheit Variante I: starke Emergenz und Quanteneffekte im Gehirn

eine grundsätzliche Offenheit für mentale Verursachung hat. Darüber, wie sich ein solcher Informationstransfer, der ein Elektron sich entweder als Welle oder als Teilchen verhalten lässt, sich auf neuronaler Ebene auswirken könnte, stellt Becker keine Überlegungen an. Denkbar wäre es, dass ein Elektron, welches sich als Welle verhält, im Gegensatz zu einem Elektron, das sich als Teilchen verhält, in der Lage ist, die Energiebarriere, welche seinen Transport in die Präsynapse verhindert, zu ‚durchtunneln‘ und so eine Reizfortleitung an einer Synapse zu bewirken. Beckers Lösungsvorschlag für die Frage, wie das Bewusstsein Quantenereignisse im Gehirn beeinflusst, geht allerdings auch mit einer entscheidenden Veränderung seiner Theorie starker Emergenz im Vergleich zu Emergenz, wie sie vom Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes verstanden wird, einher: Er geht davon aus, dass die Eigenschaft von Elektronen, in ihrem Verhalten durch das Quantenpotential – also reine Information – beeinflussbar zu sein, eine mentalsubjektive Eigenschaft ist.501 Dies bedeute, dass mentale (oder vielleicht besser proto-mentale) Eigenschaften bereits „auf unterster Ebene in der Gesamtheit von allem Existierenden verankert“502 seien. Ohne diesen Begriff selbst zu verwenden, vertritt Becker damit eine Protopanpsychismus503 , teilt also die Annahme der physikalistischen Basisontologie nicht. Ich komme darauf in Kapitel 5.7.3 noch einmal zurück. Kritisch anmerken möchte ich zu Beckers Hypothese Folgendes: Philosoph:innen wie z. B. Robert Kane und John Eccles, die versuchen, mentale Verursachung unter Rückgriff auf die Quantenphysik zu plausibilisieren, wirft Becker vor, mit dem Bezug auf die Quantenphysik in einen Bereich der Natur auszuweichen bzw. zu flüchten, der von der Physik nicht verstanden werde bzw. für uns undurchschaubar sei.504 Er selbst stützt sich bei seinen Überlegungen zur Informationsübertragung ohne Energieaustausch aber ebenfalls auf eine höchst umstrittene Interpretation der Quantentheorie, über die unter Physiker:innen kein Konsens herrscht. Insofern muss man die Überlegungen Beckers als sehr spekulativ bezeichnen. Darüber hinaus stellt sich auch bei Beckers Ansatz die Frage, wie ein Individuum als physikalisches/biologisches Makrophänomen in der Lage sein soll, das Quantenpotential, welches das Verhalten eines Elektrons bestimmt, zu beeinflussen. Anstatt den Ansatz Beckers näher zu untersuchen, werde ich mich deshalb stattdessen mit dem Ansatz von Jürgen Habermas zum Problem der Willensfreiheit näher befassen. Denn anstatt die ‚Lücken‘ im Konzept starker Emergenz durch zusätzliche, metaphysisch-naturphilosophische Spekulationen zu schließen, wird es mit Habermas möglich, die ‚Lücken‘ erkenntnistheoretisch zu plausibilisieren. 501 502 503 504

Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 253. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 253. Vgl. Brüntrup: Leib-Seele-Problem, 163–177. Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 238–240.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

4.7

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

Der ontologische Physikalismus wird zwar von vielen Philosoph:innen vertreten, die sich als Naturalist:innen bezeichnen, und häufig mit dem Naturalismus gleichgesetzt, ist aber mit ihm nicht unbedingt identisch.505 Im Folgenden wird zunächst versucht, die Position des nicht-physikalistischen Naturalismus zu klären, um im Anschluss die aus dieser Position für die Willensfreiheit folgenden Konsequenzen zu bedenken. 4.7.1

Ontologischer, methodologischer und semantischer Naturalismus

Unter dem Begriff ‚Naturalismus‘ firmiert eine große Heterogenität an Positionen.506 Nach Keil können aber viele Explikationen des Naturalismusbegriffs als „verschiedene Ausarbeitungsstufen eines und desselben Grundgedankens“507 verstanden werden. Keil ist der Ansicht, für den Naturalismus sei der Begriff der Naturwissenschaften grundlegender als der Naturbegriff selber.508 Der Naturalismus sei „kein Ismus der Natur mehr, sondern ein Ismus der Naturwissenschaften.“509 Als einfachste Ausarbeitungsstufe des Naturalismus kann demnach der methodologische Naturalismus, bisweilen auch Szientismus genannt, angesehen werden.510 Gemäß dem methodologischen Naturalismus sind die „naturwissenschaftlichen Methoden […] der Königsweg zur Wahrheit, sie können überall angewendet werden und verschaffen Wissen über alles worüber es überhaupt etwas zu wissen gibt.“511 Der methodologische Naturalismus erhebt für die Naturwissenschaften also ein Erklärungsprivileg.512 Er beinhaltet allerdings keine ontologische Aussage darüber, welche Entitäten es gibt oder nicht gibt. Er besagt nur, dass alles, was der Mensch wissen kann, sich ausschließlich den Naturwissenschaften erschließt. Zu der Frage, ob es darüber hinaus noch Entitäten gibt, von denen der Mensch nichts wissen kann, sagt er nichts. Unter Voraussetzung des methodologischen Naturalismus wird dann auch der ontologische bzw. metaphysische Naturalismus, der sich durch die Thesen ‚Alles ist

505 Vgl. Keil/Schnädelbach: Naturalismus, 16. Vgl. Quine: Naturalismus, 121. Vgl. Koppelberg: Naturalismus, 73. 506 Vgl. Keil/Schnädelbach: Naturalismus, 10. 507 Keil: Naturalismus, 18. 508 Vgl. Keil: Naturalismus, 19. 509 Keil: Naturalismus, 20. 510 Vgl. Keil: Naturalismus, 19f. 511 Keil: Naturalismus, 20. 512 Vgl. Keil/Schnädelbach: Naturalismus, 19.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

Natur‘ oder ‚Alles, was es gibt, ist Natur‘ zusammenfassen lässt, eine bestimmbare Position mit kritischer Pointe.513 Der ontologische Naturalismus für sich alleine stellt, wie Keil plausibel erläutert, keinerlei Kriterien zur Verfügung, anhand derer man bestimmen könnte, ob es sich bei einer Entität um eine natürliche und somit existierende oder um eine nicht-natürliche und somit nicht existierende Entität handelt. Verbindet sich der ontologische Naturalismus aber mit dem methodologischen Naturalismus, dann gilt als natürlich und somit als existent alles, was Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Weil es in diesem Fall die Naturwissenschaften sind, die Aufschluss darüber geben, was überhaupt existiert, spricht Keil auch von einem „Scientia mensura-Naturalismus“514 . Dieser Naturalismus, so Keil, folge „dem von Wilfrid Sellars formulierten Prinzip: ‚In the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not.‘“515 Im Hinblick auf den Scientia mensura-Naturalismus stellt sich nach Keil allerdings die Folgefrage, wodurch sich die Naturwissenschaften denn vom Rest der Wissenschaften unterscheiden, d. h. worin das gemeinsame methodische Proprium der Naturwissenschaften im Gegensatz zum Rest der Wissenschaften besteht.516 Könnte ein solches methodisches Proprium nicht benannt werden, hätte man es beim Scientia mensura Naturalismus wiederum nicht mit einer identifizierbaren Position zu tun.517 Eine mögliche Option, das methodische Proprium zu bestimmen, besteht im Bekenntnis zu einer Leitwissenschaft, üblicherweise der Physik, wodurch die Position des Naturalismus mit der des Physikalismus identisch würde.518 Im 20. Jahrhundert hätten sich aber, erläutert Keil, viele Naturalist:innen von einem solchen Bekenntnis zu einer Leitwissenschaft abgekehrt und wollten ihre Position nicht an das Schicksal irgendeines spezifischen Forschungsprogramms binden.519 Was aber könnte stattdessen ein Kriterium dafür sein, ob eine Wissenschaft eine Naturwissenschaft ist? Nach Keil besteht das einzige brauchbare Abgrenzungskriterium darin, dass naturwissenschaftliche Erklärungen und Theorien zur Erklärung von Phänomenen „nicht auf das Idiom der intentionalen Psychologie zurückgreifen“520 , d. h. dass sie auf die Verwendung intentionaler, semantischer oder teleologischer Begriffe

513 514 515 516 517 518 519 520

Vgl. zum ganzen Absatz: Keil: Naturalismus, 18f. Keil: Naturalismus, 19. Keil: Naturalismus, 19f. Vgl. Keil: Naturalismus, 20f. Vgl. Keil/Schnädelbach: Naturalismus, 24. Vgl. Keil: Naturalismus, 22 und 26. Vgl. Schulte: Naturalismus, 18–31. Vgl. Keil: Naturalismus, 27. Keil: Naturalismus, 24.

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verzichten.521 Nur Theorien, die diese Anforderung erfüllen, werden demnach vom analytischen Naturalismus als naturalistisch akzeptiert.522 Ein:e Naturalist:in müsste, um eine identifizierbare und nicht hoffnungslos vage Position zu vertreten, demnach nicht nur den methodologischen und den ontologischen Naturalismus vertreten sondern auch den analytischen bzw. semantischen Naturalismus, d. h. die These, dass intentionale Begriffe sich ohne Bedeutungsverlust durch nicht-intentionale Begriffe ersetzen lassen.523 Diese Auffassung ist in der Wissenschaftstheorie verbreitet. Dirk Hartmann und Rainer Lange erläutern beispielsweise, Begriffe wie ‚Zweck‘, ‚Absicht‘, ‚Grund‘ oder ‚Meinung‘ seien für Naturalist:innen entweder sinnlos oder müssten naturalistisch rekonstruiert werden.524 Robert Spaemann schreibt: „Die neuzeitliche Naturwissenschaft einschließlich der Biologie ist von dem Bestreben geleitet, die teleologischen Deutungen […] als verzichtbar zu erweisen […].“525 Holm Tetens meint, es gehöre „seit der Evolutionstheorie Darwins zu den methodologischen Rahmenannahmen der Wissenschaften, dass nichts in der Natur mit der Wirksamkeit von Zielen und Zwecken erklärt werden muss und darf.“526 Mutschler erläutert, Naturwissenschaft ignoriere Ziele und Zwecke, denn sie sei „vom Prinzip her ateleologisch.“527 Das Teleologie-Verbot sagt allerdings nur etwas darüber, wie Naturwissenschaften methodisch nicht vorgehen, aber nichts darüber, was ihre Methodik positiv auszeichnet. Der Naturalist Willard Van Orman Quine versucht das Proprium der Naturwissenschaften positiv zu bestimmen. Seines Erachtens unterscheiden sich die Naturwissenschaften von anderen Wissenschaften durch die Anwendung der hypothetisch-deduktiven Methode.528 Nach Karl Popper wird diese Methode auch „deduktive Methodik der Nachprüfung“529 oder kritisch-rationale Methode genannt.530 Quine spricht alternativ auch von der experimentellen Methode531 bzw. von der „empirischen Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen.532 “ Quine erläutert diese Methode in dem hier zitierten Aufsatz nicht näher. Ein Blick in die Wissenschaftstheorie gibt aber folgende Auskunft über die Methode:

521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532

Vgl. Keil: Naturalismus, 24. Vgl. Keil: Naturalismus, 25. Vgl. Keil: Naturalismus, 24. Vgl. Hartmann/Lange: Naturalismus, 150. Spaemann: Teleologie, 366. Tetens: Wissenschaftstheorie, 117 (Anmerkung 88). Mutschler: Wirklichkeit, 24. Vgl. Quine: Naturalismus, 114 und 118–121. Popper: Logik, 5. Vgl. Bulitta: Reduktionismus, 17. Vgl. Quine: Naturalismus, 114. Quine: Naturalismus, 118.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

Aus Beobachtungen werden durch einen Induktionsschluss (oder durch Intuition, wie Popper meint)533 Gesetzeshypothesen534 entwickelt, aus diesen durch Deduktion wiederum Prognosen bzw. Vorhersagen535 in Bezug auf Beobachtbares abgeleitet und diese Prognosen anschließend durch systematische Beobachtung überprüft (wobei nach Popper auf diesem Wege keine Verifikation, sondern nur eine Falsifikation von Hypothesen möglich ist, weshalb naturwissenschaftliche Theorien so formuliert sein müssen, dass sie prinzipiell durch Beobachtung falsifizierbar sind).536 Die Hypothesen können entweder deterministische oder statistische Naturgesetze enthalten.537 Hat sich eine Gesetzeshypothese auf diesem Wege bewährt, kann sie im Falle deterministischer Naturgesetze gemäß dem auf Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim zurückgehenden deduktiv-nomologischen Modell zusammen mit empirischen (also beobachtbaren oder messbaren) Randbedingungen dazu genutzt werden, beobachtbare (oder messbare) Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären.538 Im Falle statistischer Naturgesetze ist die entsprechende naturwissenschaftliche Erklärung beobachtbarer Phänomene eine induktiv-statistische Erklärung.539 Der Vorteil der naturwissenschaftlichen Methode gegenüber den Methoden anderer Wissenschaften ist demnach „eine privilegierende Möglichkeit des Prüfens“540 von Hypothesen. Es sind also nur solche Hypothesen naturwissenschaftlich akzeptabel, aus denen sich entscheidbare Beobachtungsaussagen logisch ableiten lassen.541 Nur unter der Voraussetzung, dass die aufgestellten Hypothesen den Charakter von Gesetzmäßigkeiten oder mindestens Regularitäten haben,542 sind außerdem die aus den Hypothesen und den Randbedingungen logisch folgenden Konsequenzen experimentell reproduzierbar, und nur wenn die Konsequenzen experimentell reproduzierbar sind, handelt es sich um Gesetzmäßigkeiten bzw. Regularitäten, d. h. um naturwissenschaftliche Hypothesen.543 Die häufig von Naturalist:innen geäußerte Überzeugung, „überall in der Welt gehe es mit rechten

533 534 535 536 537 538 539 540 541 542 543

Vgl. Popper: Logik, 7. Vgl. Seiffert: Einführung, 179. Vgl. Popper: Logik, 32. Vgl. Seiffert: Einführung, 179. Vgl. Popper: Logik, 32. Vgl. Popper: Logik, 14–17. Vgl. Popper: Falsifizierbarkeit. Vgl. Bulitta: Reduktionismus, 16f und 148–154. Vgl. Detel: Metaphysik, 69f. Vgl. Detel: Metaphysik, 99. Vgl. Bulitta: Reduktionismus, 158. Vgl. Schurz: Erklärung, 71. Vgl. Detel: Metaphysik, 102. Bulitta: Reduktionismus, 28. Vgl. Detel: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, 98. Vgl. Detel: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, 96. Vgl Scherer: Denkvoraussetzungen, 52. Vgl. Falkenburg: Mythos, 76.

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Dingen zu“544 , kann als die ontologisch gewendete Vorannahme der hypothetischdeduktiven Methode, alles Beobachtbare sei aus beobachtbaren Randbedingungen und Naturgesetzen zu erklären, verstanden werden. Ein Teleologie-Verbot, das man mit Siegfried Scherer auch als „noninterventionistische Vereinbarung“545 bezeichnen könnte, könnte in den Vorgaben der hypothetisch-deduktiven Methode folgendermaßen enthalten sein.546 Ursprünglich richtete es sich gegen die Annahme, dass (subjektiv überraschende) beobachtbare Phänomene durch ein (willkürliches, punktuelles) Eingreifen Gottes zu erklären seien.547 Ausgeschlossen wurde das Übernatürliche im Sinne der „invocation of an agent or force which somehow stands outside the familiar natural world and so whose doing cannot be understood as part of it.“548 Allgemeiner formuliert werden damit Erklärungen a priori ausgeschlossen, die „willkürlich agierende[n]“ „Wesenheiten“ anführen, „die aufgrund einer naturwissenschaftlich [d. h. naturgesetzlich] nicht fassbaren Willensentscheidungen auf nicht vorhersagbare Weise agieren und singuläre Phänomene hervorbringen.“549 Anders formuliert geht man davon aus, „that nature as a whole may be understood without appeal to any kind of intelligence or purposive agency; and that all causes are natural causes so that every natural event is itself a product of other natural events.“550 Der Ausschluss willkürlich [d. h. nicht nach Naturgesetzen oder Regularitäten] agierender Wesenheiten ergibt sich logisch aus der Vorgabe, dass als Hypothesen nur Gesetzesannahmen akzeptiert werden und dass die entsprechenden Konsequenzen experimentell reproduzierbar sein müssen. Der Ausschluss von Teleologie wäre demnach also eine methodologische Vor- bzw. Hintergrundannahme der naturwissenschaftlichen Forschung, wenn diese der hypothetisch-deduktiven Methode folgt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich nach Poppers Auffassung aus der hypothetisch-deduktiven Methode nicht nur ein Teleologie-Verbot sondern auch ein Zufalls-Verbot ergibt – eine Auffassung, die die meisten Naturalist:innen vermutlich nicht teilen würden.551 Die Hypothese, dass das Auftreten irgendwelcher Phänomene unter bestimmten Randbedingungen sich nicht aus diesen Randbedingungen plus irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten deduzieren lässt,

544 Vollmer: Naturalismus, 48. Vgl. auch Voland: Natur, 13. Vgl. auch Wetz: Naturalismus, 48. Vgl. auch Singer: Menschenbild, 26. 545 Scherer: Denkvoraussetzungen, 55. 546 Diesen Zusammenhang sehen auch Hartmann/Lange: Naturalismus, 149f. 547 Vgl. Tetens: Wissenschaftstheorie, 117 (Anmerkung 88). 548 Stroud: Charm, 44. 549 Aller drei Zitate: Scherer: Denkvoraussetzungen, 55. 550 Hardwick: Events, 6. 551 Vgl. Mutschler: Welt, 151.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

sondern stattdessen indeterminiert ist, lässt sich, wie Popper erläutert, nicht falsifizieren und ist deshalb keine mögliche naturwissenschaftliche Hypothese.552 Popper erläutert dies folgendermaßen: Die Hypothese des Indeterminismus könnte aber offenbar nur dadurch als unrichtig erwiesen werden, daß es gelingt, Gesetze aufzustellen und Prognosen zu deduzieren, die sich bewähren […], d. h. aber: wir müßten eben nach Gesetzen und Prognosen suchen; und wir könnten einer Aufforderung, diese Suchen einzustellen, nicht nach kommen, ohne den empirischen Charakter jener Hypothese preiszugeben.553

Die Hypothese des Indeterminismus unter der Voraussetzung bestimmter Randbedingungen lässt sich also deshalb nicht falsifizieren, weil auch eine noch so große Anzahl an fehlgeschlagenen Versuchen, die betreffenden Phänomene durch Naturgesetze zur erklären, nicht ausschließt, dass das erklärende Naturgesetz schlicht noch nicht gefunden wurde. Entsprechend spricht Popper von einer „methodologischen Regel“554 der Naturwissenschaften, die laute: „das Suchen nach Gesetzen nicht aufzugeben.“555 Er geht davon aus, dass diese Regel auch nicht durch die Erkenntnisse der Quantenphysik außer Kraft gesetzt wird.556 Der Zufall wäre somit also eine Grenze naturwissenschaftlicher Erkenntnis, nicht als Teil von ihr zu bezeichnen.557 Ähnlich sieht dies Wolfgang Prinz, der meint, das ‚Abschneiden von Kausalketten‘ sei schlicht nicht kompatibel mit dem prinzipiell unbegrenzten Anspruch auf nomologische Erklärungen, der für das Betreiben der Naturwissenschaft konstitutiv sei.558 Offenbar richtet sich die Vorgabe der hypothetisch-deduktiven Methode nicht nur gegen willkürliche, d. h. nicht Naturgesetzen genügende Wirkungen im Modus der aristotelischen causa finalis sondern auch gegen willkürliche, d. h. nicht Naturgesetzen genügende Wirkungen im Modus der aristotelischen causa efficiens. Könnten dann aber umgekehrt gedacht Zweckursachen, die gesetzmäßig wirken, im Rahmen der hypothetisch-deduktiven Methode theoretisch toleriert werden, so dass die methodologische Ausweitung des Teleologie-Verbots auf alle Zweckursachen willkürlich wäre? Da diese Frage von Naturalist:innen nicht beantwortet wird, muss sie auch hier offen bleiben, zusammen mit der Frage, ob die hypothetisch-deduktive Methode das Teleologie-Verbot beinhaltet oder nicht.

552 553 554 555 556 557 558

Vgl. Popper: Logik, 196. Popper: Logik, 196. Popper: Logik, 33. Popper: Logik, 195f. Popper: Logik, 33. Vgl. Mutschler: Welt, 151. Vgl. Prinz: Kritik, 201.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Keil ist allerdings der Auffassung, dass aus naturalistischer Sicht auch gesetzmäßig wirkende Zweckursachen ausgeschlossen sind. Denn er geht davon aus, dass die Naturwissenschaften nach Kausalerklärungen suchen und erläutert zugleich, dass Zwecke keine Kausalkräfte sein können, weil dies eine zeitliche Umkehrung der Kausalbeziehung erfordere.559 Historisch betrachtet dürfte der Erfolg der Naturwissenschaften dazu geführt haben, die methodologische Regel, das Suchen nach Gesetzen nicht aufzugeben, beizubehalten. Der Erfolg der Naturwissenschaften dürfte wegen der verbreiteten Annahme, dass naturwissenschaftliche Erklärungen nicht-teleologisch sind, auch zu der Verbreitung der ontologisch-naturalistische Schlussfolgerung geführt haben, dass es Teleologie nicht gibt. Bei dieser Schlussfolgerung handelt es sich jedoch um einen logischen Fehlschluss, denn die Teleologie wurde ja bereits methodisch, d. h. a priori, d. h. vor aller empirischen Erfahrung, ausgeschlossen.560 Bisher haben sich die (nach Meinung der meisten Wissenschaftstheoretiker:innen) nicht-intentionalen und nicht-teleologischen Erklärungen der Naturwissenschaften an zahllosen Phänomenen bewährt. Daraus könnte man, wie Naturalist:innen es tun, – induktiv – die Hypothese ableiten, dass die Naturwissenschaften auch im Hinblick auf (alle) zukünftig noch zu erklärende Phänomene erfolgreich sein werden. Diese Hypothese könnte sich aber ebenso gut als falsch erweisen, z. B. wenn es Teleologie doch gäbe – auch wenn sich logischerweise dadurch die ontologische Annahme, dass es Teleologie nicht gibt, im Rahmen der hypothetisch-deduktiven Methode nicht falsifizieren lässt, weil Teleologie von vorneherein ausgeschlossen wird. Das Gleiche gilt für die aus dem Erfolg der Naturwissenschaften geschlussfolgerte ontologische These, dass es keine Ereignisse gibt, die nicht unter Naturgesetze fallen. Für die weitere Erörterung der Bedeutung des Naturalismus für libertarische Willensfreiheit gehe ich entsprechend der bisherigen Überlegungen davon aus, dass es zwei Varianten gibt, in denen eine ausgearbeitete naturalistische Position vertreten werden kann. Unter einem vollständig ausgearbeiteten Naturalismus kann entweder die Position verstanden werden, die besagt, dass ausschließlich die Naturwissenschaften – charakterisiert durch die hypothetisch-deduktive Methode – Erkenntnis darüber vermitteln können, was es in der Welt gibt und was nicht, und die die Gesamtheit dessen, was es entsprechend naturwissenschaftlicher Erkenntnis gibt, als ‚Natur‘ bezeichnet. Diese Position wird im Folgenden als ‚Naturalismus Ia‘ bezeichnet. Oder unter einem vollständig ausgearbeiteten Naturalismus kann die Position verstanden werden, die besagt, dass ausschließlich

559 Vgl. Keil: Kritik, 315f. 560 Vgl. Scherer: Denkvoraussetzungen, 54.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

die Naturwissenschaften – charakterisiert durch das Verbot teleologischer Erklärungen – Erkenntnis darüber vermitteln können, was es in der Welt gibt und was nicht, und die die Gesamtheit dessen, was es entsprechend naturwissenschaftlicher Erkenntnis gibt, als ‚Natur‘ bezeichnet. Diese Position wird im Folgenden als ‚Naturalismus Ib‘ bezeichnet. Der in beiden Positionen enthaltene ontologische bzw. metaphysische Naturalismus ist abhängig vom ebenfalls in der Position enthaltenen methodologischen Naturalismus. Nur wenige Varianten des ontologischen Naturalismus sind so weit ausgearbeitet, dass sie auch den semantischen Naturalismus bzw. Reflexionen über das methodische Proprium der Naturwissenschaften mit einschließen. Wie in Kapitel 4.5.3 dargestellt, schlagen Brüntrup, Mutschler und Falkenburg vor, die Annahme von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt nicht als ontologische Tatsache sondern als methodologische Hintergrundannahme der naturwissenschaftlichen Forschung anzusehen, wobei in diesem Fall anders als beim Physikalismus mit dem ‚Physischen‘ nicht das ‚Mikrophysikalische‘ sondern das naturwissenschaftlich Erforschbare gemeint ist. Dies ist sinnvoll. Zudem ist – das soeben Erläuterte dazu in Bezug setzend – festzuhalten, dass die methodologische Annahme von der kausalen Geschlossenheit der physischen, d. h. naturwissenschaftlich erforschbaren Welt gleichbedeutend ist mit der methodologischen Vorannahme, dass alle Phänomene gemäß der hypothetisch-deduktiven Methode, d. h. durch Randbedingungen plus Naturgesetze, zu erklären sind. Allerdings hat es den Anschein, dass die meisten Naturalist:innen, die aus der methodologischen Annahme von der kausalen Geschlossenheit darauf schließen, dass die physische Welt auch in ontologischer Hinsicht kausal geschlossen ist, den Zufall als ontologische Ursache doch zulassen,561 ohne damit die methodologische Vorgabe für Naturwissenschaftler:innen, stets weiter nach gesetzmäßigen Zusammenhängen zu suchen, aufzuheben.562 Wie sich diese methodische Ausnahme allerdings unter Rückgriff auf irgendeine allen Naturwissenschaften gemeinsame Methodik und ohne Rückgriff auf den Physikalismus (Stichwort Quantenphysik) begründen lässt, bleibt eine unbeantwortete Frage. Neben dem Naturalismus I gibt es noch eine weitere Position, die bisweilen naturalistisch genannt wird, obwohl sie dezidiert anti-szientistisch ist, also nicht von einem Erkenntnisprivileg der Naturwissenschaften ausgeht.563 Vertreten wird diese Position, die als eine Variante des methodologischen Naturalismus bezeichnet werden kann, überwiegend von Philosoph:innen, die von der Philosophie des späten Ludwig Wittgenstein und des Pragmatismus beeinflusst sind.564 Im Zentrum der 561 562 563 564

Vgl. Vollmer: Gretchenfragen, 38–40. Vgl. Mutschler: Welt, 151. Vgl. Jacobs: Naturalism. Vgl. Jacobs: Naturalism. Vgl. Mutschler: Wirlichkeit, 57.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

Aufmerksamkeit dieser Philosoph:innen stehen menschliche Praktiken sowie deren weiterer sozialer Kontext.565 Diese Praktiken sowie ihre Ausdifferenzierung zu verschiedenen Wissenschaften werden als Quelle jeglichen Wissens angesehen, das keiner philosophischen a priori Begründung bedarf.566 Aufgabe der Philosophie ist es vielmehr, die menschlichen Praktiken und deren sozialen Kontext verstehend zu erschließen. Sie verfügt damit aber nicht über ein Wissen, das in irgendeiner Weise ‚über‘ den einzelnen Wissenschaften stünde.567 Weil sich die Wissenschaften aus den Praktiken heraus entwickelt haben, hat die Philosophie entsprechend „keinen epistemisch privilegierten Stand gegenüber den Wissenschaften, es gibt vielmehr zwischen ihr und den Wissenschaften eine bestimmte, genauer zu explizierende Form von Kontinuität.“568 Zudem ist die „Verwendung von wissenschaftlichen Untersuchungen und Ergebnissen […] für die Philosophie zulässig und unverzichtbar.“569 Beispielsweise kann Erkenntnistheorie nicht a priori funktionieren, sondern muss „in enger Zusammenarbeit mit der Wahrnehmungspsychologie, der Evolutionsbiologie, der Neurophysiologie etc.“570 betrieben werden. Wegen ihrer Fokussierung auf menschliche Praktiken und ihrer Weigerung, der Philosophie eine fundierende Rolle für die Wissenschaften zuzuschreiben, bezeichnen sich Vertreter:innen dieser Ansicht als naturalistisch, obwohl sie explizit anti-szientistisch sind, d. h. den Naturwissenschaften kein Erklärungsprivileg gegenüber anderen Wissenschaften einschließlich der Philosophie einräumen.571 Eine Infragestellung der Willensfreiheit geht von dieser Variante des Naturalismus, die im Folgenden ‚Naturalismus II‘ genannt wird, nicht aus, weil die Annahme von Willensfreiheit Bestandteil bzw. Voraussetzung menschlicher Praxis ist. 4.7.2

Naturalismus, Willensfreiheit und Emergenz

Welche Einwände gegen libertarische Willensfreiheit ergeben sich also aus dem Naturalismus I? Ich betrachte zunächst die Variante Ia des Naturalismus: Ein:e Naturalist:in der Variante Ia ist nicht darauf angewiesen, den menschlichen Geist auf Neurobiologie zu reduzieren.572 Aber die hypothetisch-deduktive Methode schließt auch für das Verhalten des Menschen Erklärungen, die nicht aus beobachtbaren

565 566 567 568 569 570 571 572

Vgl. Jacobs: Naturalism. Vgl. Jacobs: Naturalism. Vgl. Koppelberg: Naturalismus/Naturalisierung, 906f. Vgl. Löffler: Naturalismus, 150. Koppelberg: Naturalismus/Naturalisierung, 906. Koppelberg: Naturalismus/Naturalisierung, 906. Löffler: Naturalismus, 150. Vgl. Jacobs: Naturalism. Vgl. Pothast: Naturalismus, 176.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

oder messbaren Ausgangsbedingungen und Naturgesetzen bestehen, aus.573 Ein den Naturwissenschaften nicht zugänglicher (weil nicht ausschließlich von Naturgesetzen und ggf. dem Zufall bestimmter) menschlicher Willensbildungsprozess ist als Erklärung für beobachtbare Phänomene demnach nicht erlaubt. Schlussfolgert man aus dem Erfolg der Naturwissenschaften auf den Naturalismus (der Variante Ia), muss man davon ausgehen, dass alle Zustände der Welt einschließlich der Zustände von Menschen das Resultat aus früheren Weltzuständen und Naturgesetzen (und evtl. dem Zufall) sind. Nichts anderes besagt – unter naturalistischen (nicht-physikalistischen) Voraussetzungen – die Aussage von der ‚kausalen Geschlossenheit‘ der physischen Welt im Leib-Seele-Trilemma (vgl. Kapitel 4.4.3). Anders als beim Physikalismus sind für die Abfolge von Weltzuständen nicht nur mikrophysikalische Weltzustände und physikalische Naturgesetze (und der Zufall) verantwortlich, sondern es können z. B. auch biologische Makrophänomene und biologische Naturgesetze (und evtl. der Zufall) eine Rolle spielen. Eine dualistisch-interaktionistische Lösung des Leib-Seele-Problems ist jedoch ausgeschlossen (d. h. die erste Prämisse des Bieri-Trilemmas muss abgelehnt werden), ebenso ein Willensbildungsprozess, der sich der naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht. Der Gesamtzustand des Menschen zu Beginn des Willensbildungsprozesses wäre das Resultat aus früheren Weltzuständen und Naturgesetzen (und evtl. dem Zufall). Aus diesem Gesamtzustand ergäben sich im Laufe des Willensbildungsprozesses durch Naturgesetze (und evtl. Zufall) das Ergebnis des Willensbildungsprozesses und das entsprechende Verhalten. Ginge man davon aus, dass Zufallsereignisse existieren, müsste man davon ausgehen, dass bei gleichen Ausgangsbedingungen unterschiedliche Alternativen existieren, wie der Willensbildungsprozess ausgeht. Es liegt aber nicht in der Macht des entscheidenden Individuums, darüber zu bestimmen, welche Alternative eintritt. Der Naturalismus Ia steht also im Widerspruch zu libertarischer Willensfreiheit.574 Daraus dass die Naturwissenschaften (sofern sie sich tatsächlich an der hypothetisch-deduktiven Methode orientieren) nicht Naturgesetzen folgende Ereignisse wie Willensbildungsprozesse a priori methodisch ausschließen, folgt aber natürlich nicht die These des Naturalismus Ia, dass es solche Ereignisse nicht gibt oder sie keinen Einfluss auf beobachtbare oder messbare Phänomene haben. Als induktives Argument für diese zuletzt genannte These kann von Naturalist:innen (der Variante Ia) allerdings der bisherige Erfolg der Naturwissenschaften gewertet werden, denen bisher bei zahllosen Phänomenen einschließlich bestimmter Vorgänge im menschlichen Gehirn eine zufriedenstellende naturwissenschaftliche Erklärung gelungen ist. Induktiv könnte man, wie bereits erwähnt,

573 Vgl. Pothast: Naturalismus, 176. 574 Vgl. Pothast: Naturalismus, 177f.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

aus dieser Tatsache schlussfolgern, dass naturgesetzliche Erklärungen sich in Zukunft auch in Bereichen bewähren werden, mit denen die Naturwissenschaften sich heute noch schwer tun. Per Induktion gewonnene Schlüsse können sich aber als falsch erweisen. Angesichts dessen, dass sich geistige Phänomene bzw. Bewusstseinsphänomene bisher weitgehend der naturgesetzlichen Beschreibung entziehen, kann am Erfolg dieser induktiven Wette durchaus gezweifelt werden. Bisher sind die verfügbaren neurowissenschaftlichen Erklärungen neuronaler und kognitiver Prozesse jedenfalls nicht so lückenlos, dass nicht unter Naturgesetze fallende Prozesse ontologisch kategorisch ausgeschlossen werden könnten. Dass die hypothetisch-deduktive Methode zudem nicht in der Lage ist, zwischen Zufall und willkürlicher, nicht Naturgesetzen folgender Einwirkung zu unterscheiden, zeigt vielmehr, dass lückenlose naturwissenschaftliche Erklärungen prinzipiell nicht möglich sind. Der Naturalismus Ia ist also weder eine aus dem aktuellen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften noch eine aus der Methodik der Naturwissenschaften zwingend folgende Position. Was könnte aus dem Naturalismus Ib für libertarische Willensfreiheit folgen? Eine erste von zwei möglichen Antworten, die Naturalist:innen geben könnten, wenn sie sich im Detail mit solchen Fragen beschäftigen würden, lautet, dass im Falle des Naturalismus Ib zugleich mit der Teleologie Geistiges bereits a priori als Erklärung für empirische Phänomene ausgeschlossen wird. Vermutlich würden die meisten Naturalist:innen der Variante Ib dem zustimmen. Im Rahmen der Naturwissenschaften könnte demnach nichts eine:n Forscher:in dazu veranlassen, eine teleologische oder intentionale Ursache, d. h. eine geistige Ursache, für Phänomene anzunehmen, weil dies von der Methodik der Naturwissenschaften a priori ausgeschlossen würde. Ein interaktionistischer Substanzdualismus à la Descartes wäre damit für Naturalist:innen ausgeschlossen, weil ja den Naturwissenschaften das Erkenntnismonopol hinsichtlich der Frage zukommt, was es gibt und was es nicht gibt. Desgleichen wären damit Theorien ausgeschlossen, die davon ausgehen, dass geistige Eigenschaften in komplexen biologischen Systemen emergieren und auf dem Wege der Abwärtskausalität irreduzibel auf diese Systeme wirken. Das Problem der mentalen Verursachung wäre a priori so formuliert, dass es nicht lösbar ist, weil Geistiges als Ursache für Physisches, d. h. für Gegenstände der Naturwissenschaften ausgeschlossen ist. Libertarische Willensfreiheit wäre mit dieser naturalistischen Weltsicht wohl nicht kompatibel, zumal weder Gründe noch ein sich an Zielen orientierendes Subjekt in dieser Weltsicht einen Platz haben. Auch im Fall des Naturalismus Ib wäre dann das zentrale Argument dafür, dass Teleologisches/Geistiges im Bereich der beobachtbaren und messbaren Phänomene keine Wirkungen hat, der bisherige Erfolg der Naturwissenschaften. Eine zweite mögliche Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Naturalismus Ib für libertarische Willensfreiheit könnte lauten, dass mit der Teleologie nicht Geistiges per se als Erklärung ausgeschlossen wird, sondern nur insofern es eine

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

teleologische Erklärung beinhaltet. Das würde z. B. auch damit zusammenpassen, dass die Psychologie durchaus den Anspruch erhebt, mentale und kognitive Phänomene nomologisch erklären zu können, ohne dabei in der Lage zu sein, diese Phänomene auf neurobiologische Phänomene zu reduzieren. Die Psychologie bietet also ihrem Anspruch nach Erklärungen, gemäß denen mentale oder kognitive Phänomene im Modus der causa efficiens wirksam sind, nicht aber im Modus der causa finalis. Gründe, die im libertarischen Willensfreiheitskonzept eine zentrale Stellung haben, werden damit allerdings an Ursachen angeglichen bzw. durch diese ersetzt. Wenn Teleologie ausgeschlossen wird, stellt sich allerdings auch in dieser Antwortvariante die Frage, wie das entscheidende Individuum auf den Ausgang der Entscheidung Einfluss nehmen kann. Ist es möglich, dass dies geschieht, indem Mentales im Modus der causa efficiens auf neuronale Prozesse einwirkt? Oder hat man es mit einer Abfolge aus Wirkursachen und Zufällen zu tun, die vom Entscheidungsmoment bis vor die Geburt des betreffenden Individuums zurückreicht und dem Individuum selbst keine Wirksamkeit zugesteht? An dieser Stelle bleiben leider Fragen offen, die von Naturalist:innen nicht beantwortet werden und bei denen man sich, im Versuch sie zu beantworten, in Spekulationen verliert, die ich deshalb an dieser Stelle abbreche. Anders als der Physikalismus, der sich auf ein physikalistische Basisontologie verpflichtet, gemäß der nur physikalische Entitäten ontologisch fundamental, d. h. irreduzibel, sind, kann der Naturalismus entsprechend der Pluralität naturwissenschaftlicher Erklärungen auch von einer Pluralität ontologisch fundamentaler Entitäten mit irreduzibler kausaler Wirksamkeit ausgehen. Zu diesen Entitäten gehören beispielsweise sowohl Elektronen als auch DNA-Moleküle und Schnabeltiere, d. h. biologische Organismen.575 Denn ohne physikalistische Basisontologie gibt es auch keinen Grund dazu, von der kausalen Geschlossenheit des mikrophysikalischen Bereichs auszugehen. Der Naturalismus kann darauf verzichten, die von den verschiedenen Naturwissenschaften postulierten Entitäten auf die Entitäten der Physik zu reduzieren. Theoretisch ist es dann aber auch denkbar, dass im Rahmen des Naturalismus Makroobjekte eine irreduzible Wirkung auf ihre Bestandteile haben. Jedenfalls gibt es in der Biologie zahlreiche Erklärungen, die eine solche Wirkung suggerieren. Z.B. wird davon gesprochen, dass ein Organismus die Aktivität seiner Organe, z. B. die Aktivität des Herzens, reguliert. Oder es wird davon gesprochen, dass eine Zelle ihren Wasserhaushalt durch aktiven Transport von Ionen reguliert. Ein:e Physikalist:in muss davon ausgehen, dass alle diese vermeintlichen Wirkungen von Makroobjekten theoretisch auf die Wirkungen der mikrophysikalischen Bestandteile der Makroobjekte reduziert werden können. Ein:e Naturalist:in dürfte – sofern er:sie nicht zugleich Physikalist:in ist – auf diese

575 Vgl. Schulte: Naturalismus.

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Annahme nicht festgelegt sein. Er:Sie könnte bei den genannten Beispielen also durchaus von einer irreduziblen Wirkung des Ganzen auf seine Teile ausgehen. Im Falle des Naturalismus Ia hilft dies im Hinblick auf libertarische Willensfreiheit allerdings nicht weiter, weil die Wirkung des Ganzen auf seine Teile von Naturgesetzen (und evtl. dem Zufall) bestimmt wird, das entscheidende Individuum also keinen Einfluss darauf hat, wie es auf seine Bestandteile wirkt. Im Falle des Naturalismus Ib könnte dies anders sein. Entsprechende Überlegungen finden sich jedoch bei Naturalist:innen nicht. Die meisten Naturalist:innen der Variante Ib würden wohl die Annahme, dass es eine solche irreduzible Abwärtskausalität gibt, bestreiten, weil sie Geistiges als Erklärung bzw. als Ursache generell ablehnen.576 Entsprechende Spekulationen sind deshalb ebenfalls müßig. Im Rahmen der bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ist es denkbar, im Hinblick auf das Geistige eine Theorie starker Emergenz mit Abwärtskausalität zu vertreten, die sich statt auf eine physikalistische Basisontologie auf eine (nur) naturalistische Basisontologie bezieht. Aus einer Natur, die sich vollständig naturgesetzlich erklären lässt bzw. ohne Teleologie auskommt, würden demnach ein Geist bzw. geistige Eigenschaften emergieren, deren Prozesse und Wirkungen sich nicht naturgesetzlich erklären lassen bzw. teleologisch wirken können. Dies wäre mit der Existenz libertarischer Willensfreiheit kompatibel. Für eine solche Position könnte sprechen, dass ein:e Naturalist:in eigentlich auch im Hinblick auf das Verhältnis der von den verschiedenen Naturwissenschaften beschriebenen Entitäten zueinander von einem Emergenzverhältnis (im Sinne starker Emergenz) ausgehen muss. Sofern er:sie nicht Physikalist:in ist, muss er:sie beispielsweise davon ausgehen, dass die Biologie irreduzibel auf die Chemie ist, die wiederum irreduzibel auf die Physik ist. Warum sollte dann im Hinblick auf den Geist nicht eine weitere irreduzible Emergenzstufe vorliegen? Eine solche Position könnte aber nicht mehr dem Naturalismus zugerechnet werden, denn dieser geht ja gerade davon aus, dass alles, was es gibt, sich naturgesetzlich bzw. ohne Teleologie erklären lässt. Zwei weitere Probleme dieser Position sind identisch mit den in Kapitel 4.6.1 im Hinblick auf starke Emergenz erläuterten: Erstens gibt keine Erklärung dafür, wie das Geistige eventuelle indeterminierte neuronale Prozesse beeinflussen könnte. Zweitens müsste ein allwissendes Wesen eine Theorie angeben können, die es ermöglicht, das nicht naturgesetzlich erklärbare Geistige doch noch auf die zu Grunde liegende naturgesetzlich erfassbare Natur zu reduzieren.

576 Vgl. Widenmeyer: Welt, 43–46.

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

4.7.3

Kritik des Naturalismus

Für den Naturalismus I spricht der Erfolg der Naturwissenschaften. Im Vergleich zum Physikalismus spricht für den nicht-physikalistischen Naturalismus I zudem, dass er der faktischen Pluralität der Naturwissenschaften besser gerecht wird. Gegen den Naturalismus I spricht erstens (1), dass überhaupt nur wenige naturalistische Positionen argumentativ so weit ausgearbeitet sind wie der soeben ausgeführte Versuch zu erörtern, wie eine möglichst starke naturalistische Argumentation aussehen könnte. Zweitens (2) fügt sich schon die Existenz des Zufalls, von der nach den wichtigsten Interpretationen der Quantenphysik auszugehen ist, eigentlich nicht in das naturalistische Weltbild (der Variante Ia), gemäß dem es nichts gibt, das nicht durch Naturgesetze erklärt werden könnte. Drittens (3) spricht der begrenzte bisherige Erfolg der Naturwissenschaften im Bereich des Geistigen gegen den Naturalismus I. Viertens (4) – und dies ist wohl das wichtigste Argument gegen den Naturalismus I – erwecken manche Naturalist:innen fälschlicherweise den Eindruck, der Naturalismus I sei das Ergebnis empirischer Forschung. Faktisch schließt die hypothetisch-deduktive Methode nicht gesetzmäßig wirkende Ursachen aber a priori aus. Sofern die Naturwissenschaften also nicht für alle mess- oder beobachtbaren Ereignisse einen deterministischen Kausalzusammenhang empirisch nachweisen können – was aktuell nicht und insbesondere nicht für menschliche Handlungen und Entscheidungsprozesse der Fall und auf Grund des quantenphysikalischen Indeterminismus vermutlich prinzipiell nicht möglich ist – folgt aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften nicht, dass es nicht gesetzmäßig wirkende Ursachen nicht gibt. Vergleichbares gilt für Teleologie, d. h. für Zweckursachen. Vielmehr steht schon vor jedem empirischen Forschungsprozess methodisch fest, dass die Naturwissenschaften solche Ursachen nicht finden können. Daraus ergibt sich fünftens (5), dass der Naturalismus I nicht das Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung ist, sondern philosophischer Überlegungen. Damit verstrickt sich der:die Naturalist:in I aber in einen Widerspruch, weil er:sie entsprechend dem vorausgesetzten methodologischen Naturalismus nur Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung als ernstzunehmende Erkenntnis akzeptiert. Der Naturalismus I verunmöglicht also seine eigene Begründung.577 Weiterhin spricht gegen den Naturalismus Ib, dass nach Auffassung von Keil weder die Kybernetik noch die Evolutionstheorie, die sich beide als naturwissenschaftliche Theorien verstehen, faktisch ohne Teleologie auskommen (obwohl sie dies behaupten).578 Auch nach Falkenburg kann die Biologie auf teleologische Er-

577 Vgl. Goebel: Probleme, 28f. 578 Vgl. Keil: Kritik, 300.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

klärungen nicht vollständig verzichten.579 Falkenburg erörtert zudem eingängig, dass im Bereich der Neurowissenschaften nicht nur deduktiv-nomologische und induktiv-statistische Erklärungen eine Rolle spielen. Daneben sind beispielsweise auch sogenannte „mechanistische Erklärungen“580 wichtig, bei denen wegen enthaltener Indeterminismen eine Vorhersage und entsprechend auch eine experimentelle Reproduktion des Ereignisverlaufs nicht möglich sind. Stattdessen sind nur retrospektive Erklärungen möglich.581 Aber auch die Analogie spielt laut Falkenburg in den Neurowissenschaften eine Rolle:582 Die Neurowissenschaften geben vor, kognitive Leistungen durch Analogien zwischen der Arbeitsweise des Gehirns und der Arbeitsweise von Computern und künstlichen neuronalen Netzen erklären zu können.583 Wenn die Naturwissenschaften aber, wie Falkenburg feststellt, faktisch nicht immer gemäß der hypothetisch-deduktiven Methode verfahren, spricht dies gegen den Naturalismus Ia (und damit auch gegen die kausale Geschlossenheit des Physischen, wie sie Naturalist:innen der Variante Ia verstehen). Offensichtlich sind also sechstens (6) Zweifel daran angebracht, dass es ein Kriterium gibt, durch welches sich die Naturwissenschaften methodologisch von den Nicht-Naturwissenschaften abgrenzen lassen. Gibt es ein solches Kriterium nicht, wird der Naturalismus jedoch, wie bereits erläutert, zu einer unbestimmten Position, weil ungeklärt bleibt, welche Erklärungen naturwissenschaftlich akzeptabel sind und welche Wissenschaften mit welcher Begründung zu den Naturwissenschaften gezählt werden sollen. In der Philosophie des Geistes wird die Debatte um die Willensfreiheit weitgehend unter den Vorzeichen des Physikalismus und nicht des nicht-physikalistischen Naturalismus I geführt. Deshalb und wegen der inhaltlichen Vagheit, mit der nicht-physikalistische naturalistische Positionen oft einhergehen, wird der nichtphysikalistische Naturalismus I im weiteren Verlauf der Arbeit im Gegensatz zum Physikalismus nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Auseinandersetzung wird schwerpunktmäßig den Physikalismus betreffen. 4.7.4

Gerhard Roths Naturalismus

Gerhard Roth ist der Einzige unter den drei in Kapitel 3 rezipierten Hirnforschern, der eine eigene philosophische Position bezüglich des Leib-Seele-Problems aus-

579 580 581 582 583

Vgl. Falkenburg: Mythos, 293. Falkenburg: Mythos, 287. Vgl. Falkenburg: Mythos, 287. Vgl. Falkenburg: Mythos, 306–315. Falkenburg erläutert allerdings, dass die Analogie nur ein Ersatz für eine Erklärung ist, der auf eine begriffliche Brücke – im Falle der Computeranalogie auf die begriffliche Brücke des Informationsbegriffs – angewiesen ist (vgl. Falkenburg: Mythos, 306–315).

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

gearbeitet hat, und er bezeichnet diese Position als nicht-reduktionistischen Physikalismus.584 Leider ist diese Selbstbezeichnung aber irreführend. Entsprechend der bisher entwickelten Begrifflichkeiten muss Roth vielmehr als ein Naturalist der Variante Ia bezeichnet werden, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Roth ist der Ansicht, geistige Zustände seien als physikalische Zustände anzusehen.585 Deshalb bezeichnet er seine Position als Physikalismus. Als nichtreduktionistisch bezeichnet Roth sein Konzept, weil es nicht den Anspruch erhebe, im Sinne des Standardmodells der Reduktion müssten „[…] die Phänomene aller nichtphysikalischen Disziplinen und ihre Gesetzmäßigkeiten […] auf die Phänomene und Gesetzmäßigkeiten der heutigen Physik zurückführbar sein […]“586 , und weil er davon ausgeht, dass der Geist weder auf seine Systemkomponenten (die Nervenzellen) reduzierbar587 noch aus neuronalen Eigenschaften vollständig ableitbar ist.588 Geist und Bewusstsein seien vielmehr „globale Aktivitätszustände“589 des Gehirns. Roth sieht den Geist bzw. das Bewusstsein nicht als identisch mit neuronalen Zuständen an.590 In einer jüngeren Publikation erläutert er, Geist und Bewusstsein könne man „als ein physikalisches System ohne Ruhemasse (ähnlich den elektromagnetischen Wellen) verstehen, das aus ‚mentalen Feldern‘ aufgebaut sei, die sich raumzeitlich organisieren […].“591 Dabei unterscheidet er das Bewusstsein als physikalisches System von seiner „physikalische[n] Grundlage“, den „selbstorganisierende[n] elektromagnetische[n] Felder[n], wie sie sich im EEG zeigen.“592 Außerdem hält Roth es im Rahmen seines Konzeptes für möglich, dass geistige Phänomene innerhalb der geltenden Naturgesetze eine Eigengesetzlichkeit und Erlebnisqualität besitzen.593 An anderer Stelle gesteht er ihnen eine „partielle[n] Autonomie“594 zu. Gerade weil geistige Phänomene nach Ansicht Roths physische Zustände bzw. physikalische Prozesse sind,595 haben sie – wie er meint – auch eine Wirkung im Bereich des Physischen.596 Er möchte seine Position ausdrücklich nicht

584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596

Vgl. Roth: Gehirn, 300. Vgl. Roth: Gehirn, 301. Roth: Gehirn, 300. Vgl. Roth: Gehirn, 302. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 270. Roth: Gehirn, 289. Vgl. Roth: Gehirn, 331. Roth/Strüber: Gehirn, 279. Beide Zitate: Roth/Strüber: Gehirn, 279. Vgl. Roth: Gehirn, 302. Roth/Strüber: Gehirn, 280. Vgl. Roth: Fühlen, 247. Vgl. Roth: Gehirn, 302. Vgl. Roth: Sicht (2003), 179.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

als Epiphänomenalismus verstanden wissen.597 D. h. er schreibt dem Bewusstsein eine eigenständige, nicht auf neuronale Zustände bzw. die Wirksamkeit neuronaler Zustände reduzierbare kausale Wirksamkeit zu.598 Seine Position kann somit nicht als Supervenienztheorie klassifiziert werden. In eine Publikation aus dem Jahr 1999 äußert er sich allerdings auch skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass es sich bei dem menschlichen Bewusstsein um ein stark emergentes Phänomen handeln könnte.599 Starke Emergenz mache das Auftreten des Geistes zu etwas Mystischem,600 „zu etwas rätselhaft Nichtphysikalischem“601 . Schwache Emergenz im Sinne von Systemeigenschaften hält er dagegen (zu Recht) für ein in der Natur weit verbreitetes Phänomen und hält es zudem für selbstverständlich, dass auch der menschliche Geist schwach emergent sei.602 Das Problem dieser Positionierung Roths ist allerdings, dass die von Roth behauptete nicht-reduzible kausale Wirksamkeit von Bewusstsein, wie in Kapitel 4.4.2 erläutert, mit schwacher Emergenz nicht vereinbar sondern eigentlich ein Kennzeichen starker Emergenz ist. In eine Publikation aus dem Jahr 2019 äußert er sich wiederum zunächst skeptisch hinsichtlich starker Emergenz: Es sei unklar, ob es stark emergente Eigenschaften überhaupt gebe,603 und bei „nüchterner Betrachtung“ könnten „zahlreiche Eigenschaften des Geistes zumindest als ein schwach emergentes Phänomen innerhalb des physikalischen Systems Gehirn angesehen werden.“604 Einige Seiten weiter bezeichnet er den bewussten Geist dann als eine „emergente Eigenschaft selbstorganisierter Netzwerke“605 , ohne genauer zu spezifizieren, ob er von starker oder von schwacher Emergenz spricht. Allerdings geht er auch hier davon aus, dass das Bewusstsein eine kausale Wirkung auf das Gehirn hat. Konkret spricht er davon, dass das Bewusstsein „ordnungs- und strukturbildend“606 auf die Aktivität der Großhirnrinde wirke,607 wobei er das Bewusstsein ausdrücklich „nicht

597 Vgl. Roth: Willensfreiheit, 24. Vgl. Roth: Gehirn, 293–295. Vgl. Roth: Sicht (2003), 179. Vgl. Roth: Sicht (2015), 141. 598 Vgl. Roth: Sicht (2015), 141. Vgl. Roth: Sicht (2003), 136. Vgl. Roth: Gehirn, 293–195. 599 Vgl. Roth: Gehirn, 292–293. 600 Vgl. Roth: Gehirn, 292. 601 Roth: Gehirn, 293. 602 Vgl. Roth: Gehirn, 292. 603 Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 273. 604 Beide Zitate: Roth/Strüber: Gehirn, 274. 605 Roth/Strüber: Gehirn, 279. 606 Roth/Strüber: Gehirn, 279. 607 Bemerkenswerterweise thematisiert Roth in diesem Zusammenhang hier auch erstmals die sogenannte Synergetik Hermann Hakens (vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 279), die ich zusammen mit anderen Ideen des Enaktivismus in Kapitel 9 zur Plausibilisierung libertarischer Willensfreiheit heranziehen werde. Haken geht davon aus, dass in komplexen dynamischen Systemen stark emer-

Der (nicht-physikalistische) Naturalismus und die kausale Geschlossenheit des Physischen

als identisch mit neuronalen Zuständes des Gehirns oder mit elektromagnetischen Wellenmustern“608 ansieht. Obwohl Roth die Annahme starker Emergenz offensichtlich unsympathisch ist, spricht die irreduzible Wirksamkeit, die er dem Bewusstsein zugesteht, dafür, dass er eine Theorie starker Emergenz vertritt. Die Analyse in Kapitel 4.4.3 hat allerdings ergeben, dass starke Emergenz wegen der irreduziblen Wirkung der emergenten Phänomene den Rahmen des Physikalismus sprengt und deshalb nicht als Physikalismus – auch nicht als nicht-reduktiver bzw. nicht-reduktionistischer Physikalismus – bezeichnet werden kann. Dass Roth, obwohl er von der kausalen Wirksamkeit des Bewusstseins ausgeht, libertarische Willensfreiheit dennoch für unmöglich hält, liegt außer am Zufallsproblem (vgl. Kapitel 4.3), das er nur durch einen Motivdeterminismus für lösbar hält, an seinem Naturalismus der Variante Ia: Er lässt nämlich, wie es sich in Kapitel 4.7.1 für Naturalist:innen der Variante Ia als typisch herausgestellt hat, entsprechend der hypothetisch-deduktiven Methode nur naturgesetzliche Notwendigkeit (und zähneknirschend noch den quantenphysikalischen Zufall) als Erklärung für Phänomene jeglicher Art zu und geht zudem davon aus, dass eine andere Art von Verursachung (wie z. B. Akteursversachung) auch in ontologischer Hinsicht ausgeschlossen ist. Dafür spricht z. B. folgendes Zitat: Bei den Bewusstseinsvorgängen handelt es sich um makrophysikalische Vorgänge, die, soweit wir bislang wissen, deterministisch ablaufen, wenngleich auf höchst komplexe Weise im Sinne eines deterministischen Chaos. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass dabei quantenphysikalische und teilweise indeterministische Prozesse eine Rolle spielen (was bisher nicht überzeugend gezeigt wurde), so würde auch dies das hier entworfene Konzept nicht umstoßen, denn auch quantenphysikalische Prozesse laufen im Rahmen universeller Naturgesetze, etwa der Erhaltungssätze, ab.609

Immer wieder betont Roth, dass Geist als ein physikalischer Prozess „die fundamentalen Naturgesetze“610 bzw. „die universellen Naturgesetze“611 nicht verletze. Er spricht auch von (eigenen, nicht-physikalisch-physiologischen) „Gesetzen“612 , die die Wahrnehmung und das Denken beherrschen,613 und an anderer Stelle so-

608 609 610 611 612 613

gente Prozesse als Kontroll- und Ordnungsparameter das Verhalten des Systems beeinflussen. Roth erwähnt dies – allerdings ohne auf die Frage, ob es sich um starke oder schwache Emergenz handelt, einzugehen. Roth/Strüber: Gehirn, 280. Roth/Strüber: Gehirn, 270. Roth/Strüber: Gehirn, 274. Roth/Strüber: Gehirn, 275. Roth: Sicht (2015), 144. Vgl. Roth: Sicht (2015), 144.

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Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

gar explizit von „‚Naturgesetzen‘“614 , die das menschliche „Fühlen, Denken und Verhalten“615 bestimmen. Den Physikalismus, den er für sich in Anspruch nimmt, setzt Roth ausdrücklich mit der „Methode der Naturwissenschaften“616 gleich, ohne diese Methode an derselben Stelle genauer zu definieren.617 Damit etwas als physikalisch angesehen werden kann, muss es nach Roth den „heute bekannten Naturgesetzen“618 unterliegen,619 wobei er darunter offensichtlich nicht nur die Gesetze der Physik versteht. Roth geht es bei der Bezeichnung seiner Position als Physikalismus auch gar nicht darum, die Physik in irgendeiner Weise zur Leitwissenschaft zu erklären, sondern darum, am „Gedanken der Einheitlichkeit der Natur“620 , in die sich seines Erachtens auch der Geist einfügt, festhalten zu können.621 Die Einheit der Natur besteht nach Roth offensichtlich darin, dass alle Geschehnisse in der Natur ausschließlich durch Naturgesetze (und evtl. den Zufall) bestimmt sind. Die Belegstellen weisen eindeutig daraufhin, dass Roth einen Naturalismus der Variante Ia vertritt, d. h. dass er die hypothetisch-deduktive Methode für die übergreifende Methode der Naturwissenschaften hält, die Naturwissenschaften für den einzigen Weg zur Erkenntnis über die Welt hält und entsprechend in ontologischer Hinsicht davon ausgeht, dass alle Geschehnisse in der Welt ausschließlich von Naturgesetzen und dem Zufall bestimmt sind. Libertarische Willensfreiheit ist unter dieser Voraussetzung in der Tat unmöglich, weil alle Weltzustände einschließlich des menschlichen Willens das Resultat aus früheren Weltzuständen und Naturgesetzen (und Zufallsereignissen) sind. Der Eindruck, dass Roth einen Naturalismus der Variante Ia vertritt, wird auch nicht dadurch zerstreut, dass er vorgibt, eine Art von ‚Neuro-Konstruktivismus‘ zu vertreten, gemäß dem unsere Erlebniswelt einschließlich der Gehirne, die Hirnforscher:innen untersuchen, ein Konstrukt des Gehirns ist.622 Man muss demnach ein wirkliches, d. h. erfahrenes Gehirn unserer Erlebniswelt, von einem realen, unerkennbaren Gehirn, das diese Erfahrung konstruiert, unterscheiden.623 Dieser Gedanke Roths erscheint zunächst vielversprechend. Es gelingt Roth durch diesen Konstruktivismus sogar, die epistemische Erklärungslücke (vgl. Kapitel 4.6.1) bei

614 615 616 617 618 619 620 621 622 623

Roth: Sicht (2015), 184. Roth: Sicht (2015), 184. Roth: Gehirn, 300. Vgl. Roth: Gehirn, 300. Roth: Gehirn, 301. Vgl. Roth: Gehirn, 301. Roth: Sicht (2015), 144. Vgl. Roth: Sicht (2015), 144. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 285. Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 276.

Das Zufallsproblem im Kontext der Metaphysik

stark emergenten Phänomenen zu plausibilisieren:624 Das reale Gehirn konstruiere die Aufteilung der Erlebniswelt in die sich ausschließenden Bereiche Umwelt, Körper und Geist. Der Eindruck, dass es unmöglich ist, dass aus Körperlichem Geistiges hervorgeht, entspreche nicht der Realität sondern sei ebenfalls nur ein Konstrukt, „eine Falle“625 des realen Gehirns. Roths Konstruktivismus ist aber an einem entscheidenden Punkt inkonsistent:626 Einerseits hält er die Realität einschließlich des realen Gehirns für prinzipiell unerkennbar. Andererseits traut er sich dann angesichts der angeblichen Unerkennbarkeit der Realität paradoxerweise recht konkrete Aussagen über diese Realität zu, wie z. B. die Aussage, dass das reale Gehirn die Unterscheidung zwischen Körperlichem und Geistigem konstruiere und dass es (vermutlich) „unsere geistigen Akte und alle anderen Eigenschaften der sinnlich erfahrbaren Welt“627 hervorbringe. Woher genau will er das wissen, wenn das reale Gehirn unerkennbar ist? Roths angeblicher Konstruktivismus mutiert hier doch ziemlich schnell wieder in einen Realismus hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Und es hat nicht den Anschein, als würde er anderen (nicht naturwissenschaftlichen) Weisen des Zugangs zur Realität gleichermaßen zugestehen, realistisch etwas darüber sagen zu können, was es in der Welt gibt und was nicht. Es bleibt somit bei der Diagnose, dass Roth einen Naturalismus der Variante Ia sowohl in methodologischer als auch in ontologischer Hinsicht vertritt.

4.8

Das Zufallsproblem im Kontext der Metaphysik

Wie bereits erwähnt, stellt sich das Zufallsproblem jeweils unterschiedlich dar, je nachdem vor welchem metaphysischen Hintergrund es betrachtet wird. Vor dem Hintergrund eines reduktionistischen Physikalismus (und ebenso vor dem Hintergrund von Supervenienzvorstellungen) oder eines nicht-physikalischen Naturalismus der Variante Ia stellt eine kompatibilistische Freiheitskonzeption die einzige mögliche Lösung für das Zufallsproblem dar. Denn aus physikalistischer Sichtweise und ebenso aus der Sichtweise des Naturalismus Ia gibt es nur determinierte Ereignisse (deterministische Naturgesetze) oder zufällige Ereignisse (probabilistische Naturgesetze). Dies gilt auch dann, wenn wie beim Naturalismus Ia mentale Verursachung nicht ausgeschlossen ist. Zufällige Ereignisse können aber wie bereits erläutert der entscheidenden Person nicht im Sinne der Urheberschaft zugeschrieben werden. Ein Indeterminismus ist für Willensfreiheit nicht genug. Andererseits

624 625 626 627

Vgl. Roth/Strüber: Gehirn, 276–278. Roth/Strüber: Gehirn, 277. Vgl. Roth/Stüber: Gehirn, 276–278. Roth/Strüber: Gehirn, 278.

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188

Willensfreiheit im Kontext der analytischen Philosophie des Geistes

wurde bereits gezeigt, dass der Kompatibilismus ebenfalls keine akzeptable Lösung für das Problem der Willensfreiheit darstellt. Einige Philosoph:innen aus dem Bereich der analytischen Philosophie des Geistes haben sogenannte „ereigniskausale“628 Konzepte vorgelegt, gemäß denen libertarische Willensfreiheit auch ohne mentale Verursachung möglich sein soll. Zu diesen Konzepten gehört der sogenannte „einfache Indeterminismus“629 Carl Ginets und der sogenannte „kausale Indeterminismus“630 Robert Kanes. Ausdrücklich grenzen beide ihr Konzept von anderen sogenannten „akteurskausalen“631 libertarischen Ansätzen ab, die – wie die vorliegende Arbeit – davon ausgehen, dass ein Subjekt bzw. ein:e Akteur:in durch mentale Verursachung seine:ihre physikalisch indeterminierten Entscheidungen determiniert. Wie Christian Tewes aber überzeugend zeigen kann, können die ereigniskausalen Konzeptionen das Zufallsproblem nicht befriedigend lösen.632 Vor dem Hintergrund einer Theorie starker Emergenz kann Akteurskausalität als eine dritte Weise der Verursachung neben der deterministischen und der indeterministischen Ereigniskausalität postuliert werden. Ereignisse, die sich aus naturwissenschaftlicher Sicht als zufällig zeigen, können gemäß dieser Konzeption entweder tatsächlich zufällig oder von Subjekten/Akteur:innen mental verursacht sein. Eine entsprechende Konzeption vertritt beispielsweise Timothy O’Connor.633 Gründe können bei einer akteurskausalen Konzeption durchaus eine Rolle bei Entscheidungen spielen und Entscheidungen plausibilisieren. Ebenso können natürlich zahllose weitere körperliche Ursachen eine Entscheidung beeinflussen. Weder die Gründe noch die Ursachen determinieren aber die Entscheidung. Stattdessen kommt es letztlich auf die Personen/die Subjekte/die Akteur:innen selbst an, welche Gründe sie handlungswirksam werden lassen, d. h. wie sie sich entscheiden. Weil die Akteur:innen die Entscheidung determinieren, sind diese nicht zufällig. Theoretisch könnte man auch gegen diese Konzeption den Zufallseinwand erheben. Denn man könnte einfach weiter fragen, was denn die Akteur:innen angesichts verschiedener Gründe dazu motiviert bzw. bewegt hat, einen bestimmten Grund – und nicht einen anderen – handlungswirksam werden zu lassen.634 Da diese Frage aber nicht beantwortet werden kann, könnte man weiterhin daran

628 629 630 631 632

Tewes: Libertarismus, 133. Tewes: Libertarismus, 133. Tewes: Libertarismus, 148. Tewes: Libertarismus, 188. Vgl. Tewes: Libertarismus, 133–188, besonders 186. Vgl. auch Walter: Ereigniskausaler Libertarismus, 51f. 633 Vgl. Tewes: Libertarismus, 249–288. 634 Vgl. Walter: Akteurskausaler Libertarismus, 77.

Das Zufallsproblem im Kontext der Metaphysik

festhalten, dass es für die Entscheidung keine zureichende Erklärung gibt,635 sie also, wenn nicht zufällig, so doch vollkommen willkürlich erfolgt ist. Es scheint mir aber, dass das Insistieren auf dem Zufallseinwand an dieser Stelle schlicht darauf beruht, dass man nicht bereit ist, eine genuine Akteurskausalität neben der Ereigniskausalität als Erklärung zu akzeptieren. Demgegenüber halte ich es zusammen mit Tewes jedoch nicht für irrational davon auszugehen, dass die Ursache für die Entscheidung „das personale Subjekt selber“636 ist. Wer verlangt, dass die Entscheidung vollständig durch Gründe oder Ursachen, deren kausale Genese sich letztlich dem Einfluss des Subjekts vollständig entzieht, erklärt werden muss, „setzt voraus, dass nur ein Laplace’scher Determinismus letztendlich eine zureichende Ursache für Veränderungen angeben kann.“637 Über das Zufallsproblem hinaus stellt sich an das hier skizzierte Konzept die Frage nach dem ontologischen Status von Gründen, die besonders in der Auseinandersetzung mit der Hirnforschung wichtig ist. Will man an der Realität der Willensfreiheit festhalten, kommt es nach Martin Seel darauf an, die Natur der menschlichen Überlegungsfähigkeit zu verstehen,638 und zum Überlegen gehören Gründe. Manche Philosoph:innen schlagen vor, Gründe als eine besondere Art von Ursachen zu betrachten.639 Das ist aber nicht plausibel, weil die Reduktion von Intentionalität bisher nicht gelingt. Gründe gehören demnach dem Bereich des Mentalen an und können nicht auf Ursachen reduziert werden. Dies wird auch anhand der Ausführungen zu den Überlegungen von Habermas (vgl. Kapitel 5.2) noch deutlicher werden. Im Rahmen von starker Emergenz sind Gründe als geistige Zustände emergente Eigenschaften des Gehirns. Sie unterliegen wie alles Mentale einer Eigengesetzlichkeit, die sich nicht aus neuronalen Gegebenheiten heraus erklären lässt. Im Zuge einer Willensentscheidung einer Person werden aus Gründen, die von Haus aus keine kausale Wirksamkeit besitzen, Handlungsursachen mit kausaler Wirksamkeit (= mentale Verursachung). Bei der Frage, wie dies geschehen kann, besteht aber wiederum eine Erklärungslücke.

635 636 637 638 639

Vgl. Tewes: Libertarismus, 368. Vgl. Walter: Akteurskausaler Libertarismus, 77. Tewes: Libertarismus, 368f. Tewes: Libertarismus, 374. Seel: Freiheit, 5. Vgl. Pauen/Roth: Freiheit, 114.

189

5.

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

In zwei Aufsätzen hat sich der deutsche Philosoph Jürgen Habermas in der von der Hirnforschung gegen Ende des 20. Jahrhunderts angestoßenen Debatte um die Naturalisierung des Geistes und die damit verbundene deterministische Bestreitung von Willensfreiheit zu Wort gemeldet.1 Unter Rückgriff auf den umfassenden erkenntnis- und rationalitätstheoretischen Hintergrund seiner bisherigen Philosophie versucht Habermas zu erläutern, wie es aus seiner Sicht möglich ist, zugleich an einem realistischen Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaften festzuhalten und dem menschlichen Geist sowie der menschlichen Willensfreiheit einen Platz in der Natur einzuräumen. Eine ontologisch-dualistische Aufspaltung der Welt in Natur und Geist lehnt er ab.2 Weil er den menschlichen Geist als eine „Entität in der Welt“3 verstehen will, sieht er die Lösung des Problems in einer „Auseinandersetzung über die richtige Weise der Naturalisierung des Geistes“4 . Willensfreiheit versteht Habermas dabei – anders als manche Autor:innen meinen – in einem starken, libertarischen und nicht in einem kompatibilistischen Sinne. Der am Anfang dieser Arbeit erarbeitete libertarische Begriff von Willensfreiheit wurde in Anlehnung an die Ausführungen von Habermas entwickelt und entspricht weitgehend dem von ihm vertretenen Begriff. Habermas‘ Diagnose des Konflikts zwischen dem Naturalismus und der Annahme von Willensfreiheit lautet, dass es, sobald die Methode der naturwissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen auf alles menschliche Verhalten ausgedehnt werde, um die „Liquidierung“5 der Willensfreiheit gehe.6 Für ihn bedeutet eine naturwissenschaftliche Erklärung von menschlichem Verhalten eine Erklärung auf Grund eines naturgesetzlich determinierten Kausalgeschehens.7 Aus dieser Perspektive zerfällt aber seiner Ansicht nach das Sprachspiel der Willensfreiheit „schon aus grammatischen Gründen“8 , weil es aus ihr keine Subjekte gibt, die frei sein könnten.9 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Habermas: Freiheit. Vgl. Habermas: Sprachspiel. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 272. Habermas: Freiheit, 171. Habermas: Freiheit, 156. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 287. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 287. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 284. Habermas: Sprachspiel, 284. Vgl. Habermas: Freiheit, 162.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Habermas lässt sich, bis auf eine Randbemerkung über Erklärungslücken in der Physik und Unklarheiten im Kausalitätsverständnis,10 nicht näher auf die kritische Hinterfragung der These des physikalischen Determinismus mit Argumenten, wie sie in Kapitel 4.5 dieser Arbeit erörtert werden, ein und erörtert diese These auch leider nicht im Detail. Er ist sich zwar offenbar bewusst, dass die Determinismusthese nicht mehr dem aktuellen Kenntnisstand der Physik entspricht, hält die Unterscheidung zwischen der Determinismusthese und der Annahme von der kausalen Geschlossenheit der mikrophysikalischen Welt aber anscheinend für irrelevant und führt auch faktisch keine Differenzierung durch.11 Auch zwischen dem Physikalismus und anderen Varianten des Naturalismus (abgesehen von seinem eigenen) differenziert Habermas nicht ebensowenig wie zwischen der physikalistischen Annahme von der kausalen Geschlossenheit der mikrophysikalischen und der naturalistischen Annahme von der kausalen Geschlossenheit der physischen (nicht-physikalistisch verstandenen) Welt. Determinismus, Physikalismus und die These(n) von der kausalen Geschlossenheit fasst er schlicht als die These des Determinismus zusammen bzw. als „naturalistische[n] Prämisse eines durchgängig naturgesetzlich determinierten Weltgeschehens“12 . Dass Habermas in dieser Hinsicht so undifferenziert vorgeht, liegt daran, dass er metaphysische Positionen wie den Determinismus, den Physikalismus oder andere Varianten des Naturalismus nicht primär dadurch zu entkräften versucht, dass er sie durch genaue Analyse dieser Positionen als Ontologisierungen eigentlich rein methodologischer Prämissen entlarvt. Das (psychologische) Problem solcher Ansätze besteht nämlich darin, dass sie keine Alternativen zum Weltbild der genannten metaphysischen Positionen bieten. Der Erfolg dieser mit Willensfreiheit kollidierenden Positionen beruht meines Erachtens zum Teil darauf, dass die meisten Menschen ein starkes Bedürfnis danach haben, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in ein metaphysisches Weltbild zu integrieren, das diesen Erkenntnissen auch eine lebensweltliche Bedeutung gibt und dem Menschen eine Verortung seiner selbst im Kosmos erlaubt.13 Wenn zu den genannten metaphysischen Weltbildern aber keine plausiblen Alternativen entworfen werden, die die Erkenntnisse der Naturwissenschaften integrieren, behalten Determinismus, Physikalismus und andere Varianten des Naturalismus ihre Attraktivität, auch wenn sie argumentativ als inkonsistent entlarvt werden können. Habermas‘ Ansatz ist deshalb vielversprechend. Er entkräftet nämlich die genannten metaphysischen Positionen dadurch, dass er ihnen eine umfassende nicht-naturalistische Erkenntnistheorie und ein durch diese Erkenntnistheorie fundiertes Weltbild entgegensetzt, die in der Lage sind, die 10 11 12 13

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 328. Vgl. Habermas: Freiheit, 115 (Anmerkung 5). Habermas: Sprachspiel, 302. Vgl. Mutschler: Naturphilosophie, 17.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

bisherigen Erfolge der Naturwissenschaften wertzuschätzen und zu integrieren, ohne sie in einen ontologischen Determinismus, Physikalismus oder reduktiven Naturalismus umzumünzen. Im Rahmen des Argumentationsgangs der vorliegenden Arbeit spielt der Habermas’sche Ansatz darüber hinaus folgende Rolle: Durch den Habermas’schen Ansatz lassen sich erstens durch ein verändertes erkenntnistheoretisches Setting die Erklärungslücken plausibilisieren, die sich bei der Erklärung von Geist und Willensfreiheit durch Emergenztheorien ergeben (vgl. Kapitel 4.6.1). Zweitens ergibt sich aus dem Habermas’schen Ansatz durch eine veränderte Ontologie eine Möglichkeit jenseits von ontologischem Dualismus und physikalistischem Reduktionismus, die ontologischen Inkonsistenzen von Emergenztheorien (vgl. Kapitel 4.6.1) zu vermeiden. Dies liegt letztlich daran, dass der Habermas’sche Ansatz die physikalistische Basisontologie, die Emergenztheorien (wie sie vom Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes rezipiert werden) üblicherweise zu Grunde liegt, nicht teilt. Die folgende Darstellung des Habermas’schen Ansatzes folgt weitgehend dem Argumentationsaufbau der beiden Aufsätze zum Thema Willensfreiheit. Da Habermas dort jedoch seine kommunikations- und rationalitätstheoretischen Voraussetzungen nur fragmentarisch erläutert, soll über diese zuvor separat ein Überblick gegeben werden. Dies erleichtert es, die Habermas’sche Position zur Willensfreiheit in sein philosophisches Gesamtwerk einzuordnen. Ich beziehe mich dazu überwiegend auf Veröffentlichungen von Habermas, die vor den beiden Aufsätzen zum Thema Willensfreiheit erschienen sind.

5.1

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

Ausgehend von handlungstheoretischen Überlegungen sowie sprachpragmatischen Analysen, d. h. von Untersuchungen der Verwendung von Sätzen in Äußerungen, hat Habermas in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine eigene Rationalitätstheorie entwickelt, die im Folgenden erläutert werden soll.14 Habermas unterscheidet zunächst zweckrationales von kommunikativem Handeln.15 Beim zweckrationalen Handeln greifen Akteur:innen (Habermas spricht nicht stets vom „Aktor“ und von „Aktoren“) kausal in die Welt ein, „um durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu realisieren.“16 Die entsprechende Zweckrationalität beinhaltet ein praktisches Wissen davon, welche Mittel wie eingesetzt werden müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen.17 Alternativ bezeichnet 14 15 16 17

Vgl. Lafont: Vernunft, 176–178. Vgl. Simon: Lebenswelt, 32. Habermas: Handlungen, 63. Vgl. Habermas: Handlungen, 67.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Habermas das zweckrationale Handeln auch als teleologisches Handeln18 oder als erfolgsorientiertes Handeln.19 Zweckrationales Handeln, das auf Dinge einwirkt, bezeichnet Habermas als instrumentelles Handeln, zweckrationales Handeln in sozialen Kontexten als strategisches Handeln.20 Ein grundlegend anderer Handlungstyp, der nicht auf zweckrationales Handeln reduziert werden kann, sei dagegen das kommunikative Handeln.21 Kommunikatives Handeln genüge anderen Rationalitätsbedingungen als zweckrationales Handeln, so Habermas.22 Welches diese Rationalitätsbedingungen sind, leitet Habermas aus der sprachpragmatischen Analyse von Sprechakten ab,23 in denen er kommunikatives Handeln paradigmatisch verwirklicht sieht. Dabei kann er auf Vorarbeiten von John L. Austin und John R. Searle zurückgreifen,24 wobei im Folgenden nur die Habermas’sche Aneignung dieser Vorarbeiten dargestellt wird. Habermas selbst bezeichnet seinen sprachpragmatischen Ansatz als Universal- oder Formalpragmatik.25 Manche Aspekte der Theorie hat er im Laufe der Jahre revidiert.26 Die folgende Darstellung berücksichtigt diese Revisionen. Ein Sprechakt besteht aus einem lokutionären, einem illokutionären und einem perlokutionären Akt.27 Dass ein Sprecher einen lokutionären Akt vollzieht, meint, dass er gewisse Sprachlaute äußert, einen den Regeln einer Sprache entsprechenden Satz formuliert und dass er etwas sagt, dass eine semantische Bedeutung bzw. einen Gehalt hat, d. h. dass er sich mit den in dem Satz gebrauchten Ausdrücken auf ein bestimmtes Objekt bezieht und darüber etwas aussagt.28 Der Inhalt der Äußerung wird auch Proposition genannt29 und der lokutionäre Akt entsprechend auch propositionaler Akt.30 Ein lokutionärer Akt liegt beispielsweise vor, wenn eine Sprecherin den Aussagesatz ‚Der Stuhl ist kaputt.‘ oder den Imperativ ‚Geh nach Hause.‘ äußert.31 Indem eine Sprecherin einen lokutionären Akt vollzieht, vollzieht sie zugleich – entweder explizit oder implizit – einen illokutionären Akt, der festlegt, welche Bedeutung der Äußerung im intersubjektiven Kontext zukommt bzw.

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Habermas: Handlungen, 67. Vgl. Habermas: Theorie 1, 385. Vgl. Habermas: Theorie 1, 385. Vgl. Habermas: Handlungen, 68. Vgl. Habermas: Handlungen, 67. Vgl. Lafont: Vernunft, 178. Vgl. Simon: Lebenswelt, 33. Vgl. Lafont: Vernunft, 178. Vgl. Simon: Lebenswelt, 33. Vgl. Greve: Jürgen Habermas. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 128f. Vgl. Simon: Lebenswelt, 34. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 70f und 130f. Vgl. Simon: Lebenswelt, 34. Vgl. Habermas: Theorie 1, 389. Vgl. Strube: Sprechakt, 1538. Vgl. Beckermann: Einführung, 269f. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 70. Vgl. Niesen: Sprechakttheorie, 35. Vgl. Habermas: Theorie 1, 389.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

welche Rolle die Äußerung im intersubjektiven Kontext spielt.32 „Der illokutionäre Bestandteil legt in der Art eines pragmatischen Kommentars den Verwendungssinn des Gesagten fest.”33 Bei der Äußerung ‚Der Stuhl ist kaputt.‘ kann es sich beispielsweise um eine Beobachtung, um eine Warnung, um eine Vermutung oder auch um einen Ausdruck von Verärgerung handeln. Entsprechend kann die Äußerung, wenn der illokutionäre Akt explizit gemacht wird, lauten: ‚Ich sehe, dass der Stuhl kaputt ist.‘ ‚Ich warne dich, dass der Stuhl kaputt ist.‘ ‚Ich vermute, dass der Stuhl kaputt ist.‘ ‚Ich ärgere mich, dass der Stuhl kaputt ist.‘ Der oben genannten Imperativ lässt sich entsprechend ergänzen: ‚Ich befehle dir, geh nach Hause.‘ Alternativ wird der illokutionäre Akt auch als illokutiver oder performativer Akt bezeichnet.34 Der perlokutionäre Akt meint die Wirkung, die ein Sprecher durch eine Äußerung bei seinem Gesprächspartner erreichen will.35 In Bezug auf die erläuterten Beispiele kann die Wirkung z. B. darin bestehen, dass der:die Angesprochene sich vorsichtshalber nicht auf den kaputten Stuhl setzt oder dass der:die Angesprochene nach Hause geht. Nach Habermas werden durch jeden Sprechakt von einer Sprecherin im illokutionären Akt gegenüber einer Hörerin drei unterschiedliche Geltungsansprüche erhoben. Diese sind erstens der Geltungsanspruch hinsichtlich der (propositionalen) Wahrheit der in der Äußerung erwähnten oder vorausgesetzten Sachverhalte in der „objektiven Welt“36 , zweitens der Geltungsanspruch hinsichtlich der (expressiven bzw. subjektiven) Wahrhaftigkeit des zum Ausdruck gebrachten Selbstverhältnisses (z. B. der zum Ausdruck gebrachten Intention), d. h. ein Geltungsanspruch hinsichtlich der subjektiven „‚Innenwelt‘“37 , und drittens der Geltungsanspruch hinsichtlich der (normativen) Richtigkeit der durch die Äußerung ausgeführten Handlung, d. h. ein Geltungsanspruch, der sich auf „‚etwas in der sozialen Welt‘“38 bezieht.39 Das Vollziehen von Sprechakten im Sinne des kommunikativen Handelns beinhaltet also immer die „drei Aspekte des / sich / über etwas / mit jemandem Verständigens.“40 Unter Standardbedingungen kann ein Hörer allerdings an der Äußerung erkennen, „unter welchem Geltungsaspekt der Sprecher seine Äußerung

32 33 34 35 36 37 38 39

Vgl. Habermas: Theorie 1, 389. Vgl. Simon: Lebenswelt, 34. Habermas: Handlungen, 65. Vgl Greve: Jürgen Habermas, 70. Vgl. Simon: Lebenswelt, 34. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 109f. Habermas: Handeln, 172. Habermas: Handeln, 173. Habermas: Handeln, 172. Vgl. Strecker: Theorie, 222. Vgl. Habermas: Theorie 1, 411. Vgl. Habermas: Handlungen, 78f. Vgl. Habermas: Rationalität, 110–112. 40 Habermas: Rationalität, 111.

195

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

vor allem verstanden haben möchte“41 , welcher Art also der illokutionäre Akt ist, den der Sprecher vollzieht. Je nachdem unter welchem Geltungsaspekt der Sprecher die Äußerung vor allem verstanden haben möchte, handelt es sich entweder um eine konstative, um eine regulative oder um eine expressive Sprechhandlung.42 Kritisieren bzw. zurückweisen kann der Hörer den Sprechakt jedoch stets im Hinblick auf alle drei Geltungsansprüche, unabhängig davon, welchen Geltungsanspruch der Sprecher in den Vordergrund rücken wollte.43 Das Vollziehen des illokutionären Aktes – nicht des lokutionären Aktes – ist das kommunikative Handeln im engeren Sinne,44 auch wenn beide notwendig zusammengehören. Ziel des kommunikativen Handelns ist die Verständigung.45 Das bedeutet, das kommunikative Handeln zielt nicht wie das zweckrationale Handeln darauf ab, durch kausal wirksame Eingriffe einen bestimmten Zustand in der objektiven Welt herbeizuführen.46 Vielmehr zielt beim kommunikativen Handeln die Sprecherin auf die freie, rational motivierte Zustimmung der Hörerin zu dem von ihr erhobenen Geltungsanspruch ab.47 Mit dieser freien Zustimmung zum erhobenen Geltungsanspruch ist beim kommunikativen Handeln auch die freie Zustimmung der Hörerin zu der mit der Äußerung intendierten Wirkung (perlokutionärer Akt) der Sprecherin auf die Hörerin verbunden.48 Die intendierten perlokutionären Effekte sind beim kommunikativen Handeln vom Erfolg der Verständigung, d. h. vom Erfolg des illokutionären Aktes abhängig.49 Weil Sprecherin und Hörerin voraussetzen, dass die Sprecherin auf die freie rationale Zustimmung der Hörerin abzielt, spricht Habermas auch von einer Präsupposition des kommunikativen Handelns. Sprecherin und Hörerin setzen aber nicht nur voraus, dass die Sprecherin auf die freie rational motivierte Zustimmung der Hörerin abzielt, sondern auch, dass die Hörerin in der Lage ist, diese Zustimmung frei und rational motiviert zu gewähren. Kommunikativ Handelnde unterstellen also, „dass die Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motiviert sind und nicht durch äußere oder innere Zwänge […].“50

41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Habermas: Theorie 1, 414. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 72. Vgl. Habermas: Handlungen, 79. Vgl. Habermas: Theorie 1, 128. Vgl. Habermas: Handlungen, 65–69. Vgl. Habermas: Rationalität, 111. Vgl. Lafont: Handeln, 333. Vgl. Habermas: Handlungen, 66. Vgl. Habermas: Handlungen, 66. Vgl. Habermas: Handlungen, 71. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 130f. Vgl. Habermas: Handlungen, 71. Koller: Voraussetzungen, 339.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

Kommunikatives Handeln dient der Handlungskoordinierung,51 die nötig wird, „sobald ein Aktor seinen Handlungsplan nur interaktiv, d. h. mit Hilfe der Handlung (oder Unterlassung) mindestens eines weiteren Aktors ausführen kann.“52 Durch das kommunikative Handeln versuchen Akteur:innen „ihre Pläne […] auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdeutungen kooperativ aufeinander abzustimmen.“53 Versteht ein:e Kommunikationsteilnehmer:in eine Sprechhandlung und akzeptiert die damit verbundenen Geltungsansprüche, ist die Verständigung erfolgreich.54 Die in einem Sprechakt erhobenen Geltungsansprüche können im Rahmen des kommunikativen Handelns nicht willkürlich zurückgewiesen werden: „Bindende Kraft gewinnt ein Sprechaktangebot dadurch, daß der Sprecher mit seinem Geltungsanpruch eine glaubhafte Gewähr dafür übernimmt, diesen erforderlichenfalls mit der richtigen Sorte von Gründen einlösen zu können.“55 War die Verständigung erfolgreich, wird eine gemeinsame Handlung möglich, „weil sich die bindende Kraft einer für den Hörer sowohl verständlichen wie von ihm akzeptierten Sprechhandlung auch auf die handlungsrelevanten Folgen überträgt, die sich aus dem semantischen Gehalt der Äußerung ergeben.“56 Im kommunikativen Handeln wird von den Beteiligten vorausgesetzt, dass der Hörer, wenn er die Geltungsansprüche eines Sprechers akzeptiert, „seinerseits den Anteil der interaktionsfolgenrelevanten Verbindlichkeiten übernimmt, die sich für ihn aus dem semantischen Gehalt der Äußerung für alle Beteiligten ergeben.“57 Akzeptiert ein Sprecher den durch die Äußerung erhobenen Geltungsanspruch, akzeptiert er also auch die mit der Äußerung intendierte Wirkung (perlokutionärer Akt) und handelt entsprechend. Für die Handlungskoordinierung bedeutet das Beschriebene: Wer kommunikativ handelt, verfolgt die eigenen Ziele auf der Grundlage einer Situationsdefinition, die zwischen den Interaktionspartnern weder in Bezug auf die Wahrheit der dabei unterstellten Sachverhalte noch die normative Richtigkeit der berührten sozialen Beziehungen noch die Aufrichtigkeit der Akteure strittig ist.58

Um beurteilen zu können, ob ein in einer Sprachhandlung erhobener Geltungsanspruch berechtigt und somit akzeptabel ist, müssen die Kommunikationsteilnehmer:innen über ein Wissen besonderer Art verfügen, das sie sich mit dem Erlernen

51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Lafont: Handeln, 333. Habermas: Handlungen, 69. Habermas: Handlungen, 70. Vgl. Habermas: Handlungen, 71. Habermas: Handlungen, 70. Habermas: Handlungen, 71. Lafont: Handeln, 334. Strecker: Theorie, 224.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

des Sprachgebrauchs aneignen.59 Die Besonderheit dieses Wissens liegt darin, dass es in Sprechakten nicht thematisiert, sondern unreflektiert, unthematisiert und implizit vorausgesetzt wird.60 Diesen Horizont „gemeinsamer unproblematischer Überzeugungen“61 , die alle Kommunikationsteilnehmer:innen teilen, nennt Habermas ‚Lebenswelt‘.62 Das Wissen der Lebenswelt ist ein Wissen davon, welche Geltungsansprüche legitimer Weise erhoben werden können, das darin besteht, zu wissen, wie sich eine Behauptung begründen lässt und mit welcher Art von Gründen sie kritisiert werden kann.63 „Die Lebenswelt bildet das intuitiv gegenwärtige, insofern vertraute und transparente, zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen, die erfüllt sein müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist, d. h. gültig oder ungültig sein kann.“64 Das lebensweltliche Wissen bezieht sich auf alle drei Aspekte, hinsichtlich derer Geltungsansprüche erhoben werden können, also auf alle drei Rationalitätsbereiche:65 Es beinhaltet ein Wissen davon, was über die objektive Welt als gemeinsam gewusst vorausgesetzt wird, ein gemeinsames Wissen, was die legitime zwischenmenschliche Ordnung betrifft, und es beinhaltet Kompetenzen, die das Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte betreffen. Wenn beispielsweise in einem konstativen Sprechakt der Geltungsanspruch der Wahrheit für eine Proposition über die Welt erhoben wird, so ist das gemeinsame Wissen über die Welt Voraussetzung dafür, dass ein:e Kommunikationsteilnehmer:in diesen Geltungsanspruch entweder akzeptiert oder ablehnt. Den drei Rationalitätsbereichen entsprechen drei Komponenten der Lebenswelt: kulturelles Wissen bzw. Kultur, Gesellschaft und Wesen mit personaler Identität, d. h. Personen.66 Eben weil es im kommunikativen Handeln vorausgesetzt wird, bezeichnet Habermas das lebensweltliche Wissen als Präsupposition kommunikativen Handelns.67 Das implizit vorausgesetzte Wissen bezüglich der drei Rationalitätsbereiche bezeichnet Habermas auch als „relativ vordergründiges Wissen“, zu dem „ein situationsbezügliches Horizontwissen“ und „ein themenabhängiges Kontextwissen“68 gehören. Darüber hinaus zählt er zum lebensweltlichen Wissen ein hintergründiges Wissen, das in jeder kommunikativen Handlung unabhängig von Thema, Kontext oder

59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Vgl. Lafont: Vernunft, 178. Vgl. Heider: Jürgen Habermas, 50. Vgl. Habermas: Handlungen, 86. Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 188. Habermas: Handlungen, 85. Vgl. Habermas: Handlungen, 85. Vgl. Strecker: Theorie, 222. Habermas: Theorie 2, 199. Vgl. Neves: System, 375. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 115. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 115. Vgl. Simon: Lebenswelt, 44. Alle drei Zitate: Habermas: Handlungen, 89.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

Rationalitätsbereich implizit vorausgesetzt werden muss, bei dem es sich also um faktisch notwendige Präsuppositionen handelt, weil ohne sie Kommunikation nicht möglich wäre.69 Zu diesen notwendigen Präsuppositionen gehört beispielsweise „die gemeinsame Unterstellung einer Welt unabhängig existierender Gegenstände; die reziproke Unterstellung von Rationalität oder ‚Zurechnungsfähigkeit‘“70 , die wiederum voraussetzt, dass Teilnehmer:innen an Kommunikation zu Geltungsansprüchen frei Stellung nehmen können,71 sowie „das Wissen, wie man sich an Geltungsansprüchen orientiert“72 . Während das implizite, relativ vordergründige Wissen bezüglich der drei oben genannten Rationalitätsbereiche relativ leicht explizit gemacht und sodann auch problematisiert sowie durch Erfahrung korrigiert werden kann, ist dies bei dem im kommunikativen Handeln notwendig vorausgesetzten lebensweltlichen Hintergrundwissen, das auch als kommunikative Vernunft oder Diskursrationalität im Sinne eines vierten Rationalitätsbereichs bezeichnet werden kann,73 nicht der Fall.74 Es handelt sich nämlich nicht um ein Wissen im Sinne eines know that sondern um ein Regelbewusstsein im Sinne eines know how.75 Es handelt sich um ein Wissen mit „operativer Wirksamkeit“76 . Explizit kann es nach Habermas nur gemacht werden durch eine reflexive, verstehende Rekonstruktion dessen, was kommunikativ Handelnde voraussetzen, aus der Perspektive von Teilnehmer:innen an Kommunikation.77 Eine Problematisierung dieses Wissens ist aber auch dann nur eingeschränkt möglich. Habermas erläutert dazu: Das Hintergrundwissen hat eine größere Stabilität, da es gegen den Problematisierungsdruck kontingenzerzeugender Erfahrungen weitgehend immun ist. Das zeigt sich daran,

69 Vgl. Habermas: Handlungen, 87 und 90. Vgl. Koller: Voraussetzungen, 339. 70 Habermas: Handeln, 150. 71 Vgl. Koller: Voraussetzungen, 339. Vgl. Habermas: Handeln, 163. Die Verwendung des Lebenswelt Begriffs bei Habermas ist tatsächlich nicht ganz so eindeutig wie oben beschrieben: Mal unterscheidet er die Lebenswelt (im Sinne von notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns) von der Alltagswelt (unter der man vermutlich das implizit vorausgesetzte Wissen bezüglich der drei Rationalitätsbereiche verstehen kann). An anderer Stelle setzt er die Lebenswelt mit der Alltagswelt gleich (vgl. Simon: Lebenswelt, 95f und 108). An wiederum anderer Stelle ist es nicht ganz eindeutig, ob Habermas nur die notwendigen Präsuppositionen zur Lebenswelt zählt oder auch das implizit vorausgesetzte Wissen bezüglich der drei Rationalitätsbereiche, also das oben genannte ‚relativ vordergründige Wissen‘. Tendenziell scheint an dieser letzten Stelle aber die Interpretation angemessen, dass zur Lebenswelt beide Wissensformen gehören (vgl. Habermas: Handlungen, 88–91). 72 Habermas: Handlungen, 87. 73 Lafont: Vernunft, 177. 74 Vgl. Habermas: Handlungen, 90. 75 Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 188. Vgl. Habermas: Handlungen, 87. 76 Habermas: Handeln, 149. 77 Vgl. Habermas: Handlungen, 87. Vgl. Heider: Jürgen Habermas, 49.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

daß diese Schicht elliptischen und immer schon präsupponierten Wissens nur durch eine methodische Anstrengung, und auch dann nur Stück für Stück, aus dem unzugänglichen Modus fragloser Hintergrunderfüllung herausgelöst und zum Thema gemacht werden kann.78

Solange die in Sprachhandlungen erhobenen Geltungsansprüche wechselseitig akzeptiert werden, können die Kommunikationsteilnehmer:innen mit ihren Sprachhandlungen situationsrelevante Informationen austauschen, die der gemeinsamen Handlungskoordinierung dienen.79 Werden die erhobenen Geltungsansprüche in Frage gestellt bzw. zurückgewiesen, kann keine Information mehr ausgetauscht werden, weil es fraglich geworden ist, ob die mit der Information verbundenen Geltungsansprüche gerechtfertigt sind.80 Wenn die kommunikative Verständigung nicht abgebrochen werden soll, muss sie nun auf der Ebene des Diskurses fortgesetzt werden.81 Diese stellt eine „Reflexionsform kommunikativen Handelns“82 dar, bei der Handlungskontexte und der damit verbundene Handlungsdruck suspendiert werden.83 Die in Frage stehenden Geltungsansprüche werden nun von allen Beteiligten aus einer hypothetischen Perspektive heraus betrachtet und dahingehend untersucht, ob sich gute Gründe für die Anerkennung dieser Geltungsansprüche finden lassen.84 Sie verlieren damit ihren Status innerhalb des impliziten lebensweltlichen Wissens und werden zu explizitem Wissen. Das Wissen allerdings, welche Gründe gute Gründe zur Rechtfertigung der in Frage stehenden Geltungsansprüche sind, ist wiederum ein Bestandteil des impliziten lebensweltlichen Wissens.85 Der Diskurs zielt darauf, Geltungsansprüche zu sichern, damit eine informationsaustauschende Kommunikation wieder möglich wird.86 Zur Klärung einzelner expliziter Geltungsansprüche ist er auf das implizite Einverständnis hinsichtlich zahlreicher anderer impliziter Geltungsansprüche der Lebenswelt einschließlich des notwendig vorausgesetzte Hintergrundwissens kommunikativen Handelns angewiesen. Deshalb kann das lebensweltliche Wissen niemals als Ganzes problematisiert werden.87 Habermas versteht die Lebenswelt als einen Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln, denn einerseits reproduziert sich die Lebenswelt durch das

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Habermas: Handlungen, 90f. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Günther: Diskurs, 304. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 77. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 101f. Vgl. Lafont: Vernunft, 180. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 114. Vgl. Habermas: Rationalität, 131.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

kommunikative Handeln,88 dadurch dass diskursiv geklärte Geltungsansprüche wieder Teil der Lebenswelt werden können.89 Andererseits „fällt die Lebenswelt mit dem kommunikativen Handeln nicht zusammen, weil sie den Hintergrund des Handelns ausmacht, selbst also kein Handeln darstellt.“90 Zwischen dem sprachlichen Handeln und der Lebenswelt spielt sich ein Kreisprozess ab: das lebensweltliche Wissen ermöglicht die kommunikative Verständigung über die Welt, mittels der sich eine Sprachgemeinschaft die Welt erschließt. Kommunikative Verständigung ermöglicht Lernprozesse, die das Weltwissen erweitern oder korrigieren, was wiederum auch das lebensweltliche Wissen verändern kann.91 Erst indem ein Mensch als Kind die Fähigkeit des Sprechens erlernt, erschließt sich ihm:ihr das Hintergrundwissen einer gemeinsam geteilten Lebenswelt, das sich auf alle vier Rationalitätsbereiche erstreckt. Aus der Sprachfähigkeit und dem Zugang zum lebensweltlichen Hintergrundwissen resultiert die Fähigkeit des Menschen, die Welt hinsichtlich der drei Rationalitätsbereiche zu begreifen. Dies beinhaltet (1) einen bewussten Zugang zu einer intentional vergegenständlichten objektiven Welt, mit dem sich Wahrheitsansprüche verbinden können.92 Denn das „ausdrückliche ‚Wissen was‘ ist […] implizit mit einem ‚Wissen warum‘ verknüpft und verweist insofern auf potentielle Rechtfertigung. […] Anders gesagt: Es gehört zur Grammatik des Ausdrucks ‚wissen‘, daß alles, was wir wissen, kritisiert und begründet werden kann.“93 Jenseits dessen gibt es also kein Wissen im engeren Sinne. Weiterhin beinhaltet es (2) Regeln für interpersonale Beziehungen aufstellen und faktisches Verhalten nach diesen Regeln auf seine Richtigkeit beurteilen zu können, sowie (3) ein Bewusstsein von den eigenen subjektiven Absichten, Empfindungen, Gefühlen, Wünschen, Gedanken, Einstellungen etc., also die Fähigkeit, ein Selbstverhältnis einzunehmen, mit dem sich der Anspruch auf Wahrhaftigkeit verbinden kann.94 Anders formuliert erschließen sich die Kommunikationsteilnehmer:innen eine objektive, eine soziale und eine subjektive Welt,95 wobei Habermas als ‚Welt‘ alles dasjenige bezeichnet, was Gegenstand von Äußerungen werden kann.96 Die objektive Welt ist die Welt der existierenden Sachverhalte, die soziale Welt ist die Welt der Normen und die subjektive Welt ist die Welt der subjektiven Erlebnisse.97

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 114. Vgl. Habermas: Rationalität, 132. Greve: Jürgen Habermas, 115. Vgl. Habermas: Rationalität, 132. Vgl. Habermas: Theorie 1, 125f. Habermas: Rationalität, 107. Vgl. Habermas: Theorie 1, 126 und 128.. Vgl. Strecker: Theorie, 222. Vgl. Habermas: Theorie 1, 126. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 72. Vgl. Habermas: Theorie 1, 132 und 137.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Geltungsansprüche bezüglich aller drei Bereiche der Rationalität konvergieren in einem einzigen Geltungsanspruch: dem Anspruch, kommunikativ als vernünftig ausgewiesen werden zu können.98 Dieser Geltungsanspruch ist der Kern der Diskursrationalität. Deshalb integriert und ermöglicht die Diskursrationalität die drei anderen Rationalitätsmomente.99 Die drei Rationalitätsmomente sind „über die – aus der kommunikativen Rationalität hervorgehende – Diskursrationalität miteinander verflochten.“100 Auch wissenschaftliche Erkenntnis, die auf dem intersubjektiv fundierten Zugang zur objektiven Welt aufbaut, ist auf die normative Basis der Diskursrationalität und die mit ihr verbundenen Präsuppositionen angewiesen.101 Habermas geht davon aus, dass die notwendigen Präsuppositionen des kommunikativen Handelns, zu denen auch Rationalität und Freiheit gehören, universell in allen Gesellschaftsformen und Kulturen in synchroner und diachroner Perspektive unabhängig davon, welche Sprache in ihnen gesprochen wird, in kommunikativen Handlungen erhoben bzw. in diesen vorausgesetzt werden.102 Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Vorstellungen davon, was vernünftig ist, sich aber von Kultur zu Kultur unterscheiden können, nimmt Habermas außerdem an, dass die Geltungsansprüche bzw. das Hintergrundwissen bezüglich der drei Rationalitätsbereiche ‚objektive Welt‘, intersubjektive Beziehung und Selbstverhältnis veränderlich sind und sich weiterentwickeln können.103 Darüber hinaus geht er davon aus, dass die Ausdifferenzierung der drei Rationalitätsbereiche sich erst im Laufe der Zeit vollzogen hat. Im mythischen Denken sind die Rationalitätsmomente noch miteinander zu einem „einzigen geschlossenen Bild von der Alltagswelt“104 verschmolzen, was u. a. daran deutlich wird, dass noch nicht zwischen Dingen und Personen unterschieden wird.105 Natur und Kultur gehören hier zur Welt der Tatsachen, d. h. zur ‚objektiven Welt106 ‘. Gleichzeitig wird auch die Natur, d. h. das Geschehen in der ‚objektiven Welt‘ in die sozialen Beziehungen der Lebenswelt einbezogen, indem unheimliche Naturkräfte personalisiert werden.107 Erst im Laufe der historischen Entwicklung ist es zu einer Differenzierung und zu-

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 37. Lafont: Vernunft, 177. Vgl. Habermas: Rationalität, 104. Habermas: Rationalität, 104. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 37. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 47. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 47. Simon: Lebenswelt, 97. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 47. Vgl. Simon: Lebenswelt, 97. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 323.

Voraussetzung: Kommunikative Vernunft

nehmenden Distanz zwischen den Vernunftmomenten gekommen.108 „Habermas beschreibt die evolutionäre Entwicklung als eine Geschichte der Ausdifferenzierung. Entsprechend dem Grad der Ausdifferenzierung können wir verschiedene Kulturen mit unterschiedlichen Weltbildern erkennen.“109 Die Differenzierung stellt für Habermas eine Verbesserung im Sinne eines Lernprozesses dar, der es dem Menschen ermöglicht, mehr über die Welt zu wissen.110 Durch die Differenzierung „konnte sich erst das kognitive Potential entfalten, das in den von Anbeginn verschränkten Weltperspektiven von Teilnehmern und Beobachtern jeweils angelegt ist.“111 Eine Gefahr für das moderne Denken stellt allerdings seiner Ansicht nach die Tendenz dar, dem technisch-instrumentellen Vernunftmoment den absoluten Vorrang gegenüber den anderen Vernunftmomenten einzuräumen.112 Dies geschieht beispielsweise, wenn die notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns auf Grund von Erkenntnissen der Beobachter:innenperspektive bestritten werden. An dieser Stelle können nach Ansicht von Habermas moderne Kulturen von vormodernen Gesellschaften lernen, in denen „eine Abtrennung des moralisch-praktischen und des ästhetisch-expressiven vom technisch-instrumentellen Vernunftmoment noch gar nicht möglich“113 war. Innerhalb der perlokutionären Akte unterscheidet Habermas drei verschiedene Arten von Effekten, die angestrebt werden können:114 Perlokutionäre Effekte1 lassen sich der Bedeutung des Sprechaktes selbst entnehmen. Wenn beispielsweise X aufgefordert wird Y Geld zu geben, dann ist der beabsichtigte Effekt1 , dass X dem Y Geld gibt. Perlokutionäre Effekte2 lassen sich der Bedeutung des Sprechaktes selbst nicht entnehmen, können aber meist von allen Beteiligten dem Kontext entnommen werden. Ist dies nicht der Fall, dann sind perlokutionäre Effekte2 doch wenigstens von der Art, dass sie deklariert werden könnten, ohne das die Sprechhandlung zurückgewiesen und somit die Handlungskoordinierung beeinträchtigt wird. Habermas nennt hierfür das Beispiel, dass X, indem er Y Geld gibt, damit dessen Frau erfreut. Perlokutionäre Effekte3 sind Effekte, die ein Sprecher intendiert, ohne dass dies dem Sprechakt oder dem Kontext entnommen werden kann und die, wenn der Sprecher sie als intendierte Effekte deklarieren würde, dazu führen würden, dass der intendierte Effekt nicht zu Stande käme, weil der Hörer den Sprechakt nicht akzeptieren würde. Dies wäre der Fall, wenn X beispielsweise wüsste, dass er dem Y Geld geben soll, damit dieser damit eine Straftat

108 109 110 111 112 113 114

Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 47. Horster: Jürgen Habermas, 47. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 47. Habermas: Sprachspiel, 323. Vgl. Horster: Jürgen Habermas, 48. Horster: Jürgen Habermas, 48. Vgl. zum Folgenden: Habermas: Handlungen, 71–75.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

verüben kann. Perlokutionäre Effekte1 und perlokutionäre Effekte2 rechnet Habermas dem kommunikativen Handeln zu, perlokutionäre Effekte3 bezeichnet er als latent strategisches Handeln. Strategisches Handeln – wie oben bereits erwähnt eine Unterform des zweckrationalen Handelns – ist neben dem kommunikativen Handeln eine zweite Möglichkeit der Handlungskoordinierung.115 Latent strategisches Handeln „lebt parasitär vom normalen [kommunikativen] Sprachgebrauch, weil er nur funktioniert, wenn mindestens eine Seite davon ausgeht, daß die Sprache verständigungsorientiert gebraucht wird“116 , also nur solche Effekte angestrebt werden, die allen Beteiligten bekannt sind. Manifest-strategisches sprachliches Handeln zielt für alle Beteiligten offen ersichtlich nicht auf Verständigung ab. Stattdessen wird die Handlungskoordinierung durch sprachexterne Machtmittel erzwungen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Bankräuberin einen Schalterbeamtenin mit vorgehaltener Pistole verbal auffordert, die Hände hoch zu nehmen. In einem solchen Fall wird durch den Sprechakt ausschließlich ein perlokutionärer, jedoch kein illokutionärer Akt vollzogen. Im kommunikativen Handeln werden Handlungsziele und die dafür ggf. nötige Handlungskoordinierung über den Zwischenschritt der interpersonalen Verständigung verfolgt. Weil illokutionäre Erfolge sich auf einer interpersonalen Ebene einstellen, sind sie nichts Innerweltliches, denn sie gehören nicht zur objektiven Welt, die sich erst durch Verständigung konstituiert.117 „Illokutionäre Ziele lassen sich nicht als Zustände beschreiben, die durch Eingriffe in die objektive Welt bewirkt werden können.“118 Verständigung – das Ziel des kommunikativen Handelns – kann nicht kausal bewirkt werden und nicht als etwas kausal zu Bewirkendes intendiert werden.119 „Kommunikationsteilnehmer genießen die Freiheit des Neinsagen-Könnens.“120 Strategisches Handeln strebt dagegen keine interpersonale Verständigung an. Stattdessen wird auf das eigentlich personale Gegenüber wie auf ein Objekt, wie auf einen Zustand in der objektiven Welt eingewirkt.121 1996 nimmt Habermas in seinem Aufsatz Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität auf Kritik an seiner Theorie reagierend einige zusätzliche Differenzierungen vor.122 Zunächst unterscheidet er vom kommunikativen und vom strategischen Handeln nun noch den monologischen Sprachgebrauch bei der Darstellung von Wissen

115 116 117 118 119 120 121 122

Vgl. Habermas: Handlungen, 69. Habermas: Handlungen, 72. Vgl. Habermas: Rationalität, 112. Habermas: Rationalität, 111. Vgl. Habermas: Rationalität, 112. Habermas: Rationalität, 112. Vgl. Simon: Lebenswelt, 39. Vgl. Habermas: Rationalität, 112. Vgl. Greve: Jürgen Habermas, 132.

Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung

oder dem Sprechen über subjektive Handlungsabsichten. Beim monologischen Sprachgebrauch ist keine Stellungnahme des Gegenübers zu den erhobenen Geltungsansprüchen intendiert.123 Der monologische Sprachgebrauch setzt aber die Fähigkeit zu kommunikativem Handeln voraus. Der Bezug auf ein kommunikatives Gegenüber ist virtuell gegeben und wird lediglich situationsgebunden vorübergehend suspendiert.124 Innerhalb des kommunikativen Sprachgebrauchs differenziert Habermas darüber hinaus erstens den einverständnisorientierten vom verständnisorientierten Sprachgebrauch und zweitens schwach-kommunikatives von starkkommunikativem Handeln.125 Diese beiden Differenzierungen spielen für das Verständnis seiner Position zum Willensfreiheitsproblem jedoch keine Rolle und werden deshalb hier nicht näher erörtert. Für das Verständnis der Habermas’schen Position zum Willensfreiheitsproblem ist nicht nur seine Rationalitätstheorie relevant. Ebenso wichtig sind dafür u. a. auch sein mit der Rationalitätstheorie eng zusammenhängendes Wahrheitsverständnis und seine Vorstellung davon, inwiefern die Erkenntnisse der Naturwissenschaften als realistisch verstanden werden können. Sowohl sein Wahrheitsverständnis als auch seinen erkenntnistheoretischen Realismus erläutert Habermas in den beiden Aufsätzen zur Willensfreiheitsproblematik jedoch weitgehend unverkürzt, so dass es nicht nötig ist, vorab auf diese Voraussetzungen seines Denkens einzugehen. Es wird genügen, sie im Rahmen der nun folgenden Auseinandersetzung mit den beiden Aufsätzen zu erörtern.

5.2

Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung

In einem ersten Argumentationsschritt lässt Habermas ontologische Aspekte und methodische Fragen hinsichtlich dessen, wie der Mensch etwas über die Welt wissen kann, vorübergehend außer Acht und wendet sich (nur) gegen die Position des semantischen Naturalismus. Die These des semantischen Naturalismus lautet, „dass unsere Rede über nicht-natürliche Eigenschaften und Entitäten, beispielsweise mentale Phänomene, sich in eine Rede über natürliche überführen lässt.“126 Der semantische Naturalismus geht also davon aus, dass sich das übliche Vokabular zu Beschreibung mentaler Phänomene ohne Bedeutungsverlust oder –veränderung in ein empirisch-naturwissenschaftliches Vokabular übersetzen lässt. Dies

123 124 125 126

Vgl. Habermas: Rationalität, 116. Vgl. Habermas: Rationalität, 115. Vgl. Habermas: Rationalität, 116–125. Simon: Lebenswelt, 23.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

bestreitet Habermas unter Verweis auf performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung.127 Er konzentriert sich dabei auf die Rede über das mentale Phänomen der Intentionalität. Intentionalität thematisiert er dabei stets als das Haben von Gründen.128 Einen intentionalen Bezug zu einem Gegenstand zu haben ist für ihn identisch mit dem Haben von Gründen, das Kommunikationsteilnehmer:innen dazu befähigt, intersubjektiv Geltungsansprüche hinsichtlich dieses Gegenstandes zu erheben. Gemäß dem semantischen Naturalismus sollte es möglich sein, die Rede über das Haben von Gründen auf die Rede über das Vorliegen von Ursachen zu reduzieren. Dass dies nicht möglich ist, liegt nach Habermas an (1) performativen und (2) begrifflichen Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung: (1) Habermas‘ Annahme von performativen Grenzen der Selbstobjektivierung ergibt sich aus seiner Theorie des kommunikativen Handelns. Wenn Menschen Intentionalität – also Wahrnehmungen, Erlebnisse oder Gedanken, die als Gründe fungieren können – zum Ausdruck bringen, so tun sie dies meistens in einer sprachlichen Form und zwar in der sprachlichen Form der Proposition.129 Wie bereits erläutert, stellt gemäß der Sprechakttheorie jeder Sprechakt auch eine Handlung – genauer gesagt einen illokutionären Akt – dar.130 Im illokutionären Akt wird ein intersubjektiver Geltungsanspruch bezüglich des in der Proposition Geäußerten erhoben. Dies geschieht vor einem breiten Horizont an implizitem, von den Kommunikationsteilnehmer:innen geteiltem, lebensweltlichen Wissen, zu dem auch die notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns gehören. Unter diese notwendigen impliziten Präsuppositionen fällt sowohl ein bestimmtes Selbstverständnis der Sprecherin als auch ein bestimmtes Verständnis der Sprecherin von ihrem Gegenüber:131 Indem ein Sprecher einen Geltungsanspruch erhebt, nimmt er implizit zugleich an, dass „seine These nach einer freien Einsicht der relevanten Argumente und Gegenargumente angenommen werden könnte, d. h.: eine Einsicht, die von keinem extra-argumentativen Einfluss völlig determiniert ist“132 . Natürlich geht der Sprecher – ebenso wie der Hörer – ebenso implizit davon aus, dass er selbst als Sprecher seinen Geltungsanspruch aus freier Einsicht erhebt und Gründe, die er ggf. zur Verteidigung des Geltungsanspruchs anführt, aus freier Einsicht wählt. Indem ein Mensch mit einem anderen über einen Geltungsanspruch kommuniziert, nimmt

127 128 129 130 131

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 294–302. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 299. Vgl. Damiani: Handlungswissen, 26. Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 215. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295f. Vgl. Damiani: Handlungswissen, 35–39 und 179–183. Vgl. Rödl: Sprechakt, 1507–1508. 132 Damiani: Handlungswissen, 180.

Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung

er sowohl sich selbst als auch dem anderen Menschen gegenüber eine bestimmte Haltung ein: „Man betrachtet ihn [und sich selbst] als Person, als jemanden, dessen Handeln seine Auffassung davon, was zu tun richtig ist, zum Ausdruck bringt […]“133 , dessen Handeln „nicht kausalen Gesetzen, sondern dem ‚Gesetz der Vernunft‘“134 untersteht. Indem man Geltungsansprüche erhebt, „sich kritisiert und rechtfertigt, anerkennt man sich [implizit und performativ] wechselseitig als ‚vernunftbestimmte‘ Person.“135 Intentionalität ist also aus Sicht der Habermas’schen Universalpragmatik untrennbar mit der Vorstellung rationaler, frei zu Gründen Stellung nehmender Personen verbunden.136 Die impliziten notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns bezeichnet Habermas auch als „Handlungswissen“137  – eben weil es im Handeln, also performativ, vorausgesetzt wird. Auf den Anspruch mancher Hirnforscher:innen und Philosoph:innen, Intentionalität physikalisch bzw. neurobiologisch erklären und damit Freiheit als Illusion entlarven zu können, angewendet, würde dieses Argument Folgendes bedeuten: Forscher:innen verwickeln sich in performative Widersprüche, wenn sie anhand von sprachlich geäußerten Gründen die Auffassung vertreten, Gründe seien Ursachen und Willensfreiheit sei eine Illusion, denn diese ‚Illusion‘ nehmen sie ja gerade in ihrem sprachlichen Handeln implizit in Anspruch und Gründe verwenden sie unter der impliziten Voraussetzung, dass sie das Handeln auf andere Weise beeinflussen als Ursachen es tun.138 Determinist:innen können ihre These nicht ohne performativen Selbstwiderspruch vertreten und umgekehrt kann die Freiheit nicht argumentativ abgeleitet werden, ohne dass sie dabei bereits vorausgesetzt wird.139 Dieser performative Selbstwiderspruch ist, wie Habermas betont, deshalb ein Problem, weil das erkennende und das handelnde Subjekt eine Einheit bilden. Aus diesem Grund, so Habermas, müssen wir im Alltag davon ausgehen, dass unser implizites, im kommunikativen Handeln vorausgesetztes Handlungswissen mit unserem Wissen von der Welt in Einklang steht.140 Was das erkennende Subjekt über die Welt, zu der es selbst gehört, hinzulerne, könne das handelnde Subjekt nicht ignorieren.141 In dieser Tatsache sieht Habermas einen Zusammenhang zwischen

133 134 135 136 137 138 139 140 141

Rödl: Sprechakt, 1508. Rödl: Sprechakt, 1508. Rödl: Sprechakt, 1508. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 300. Habermas: Sprachspiel, 295. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 301. Vgl. Damiani: Handlungswissen, 179–181. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Wissenschaft und Aufklärung begründet.142 Damit meint er, dass die Wissenschaft so lange der Aufklärung dient, wie sie dazu beiträgt, dass handelnde Personen sich auf der Basis des gewonnenen Wissens von fremdbestimmten Handlungsbeschränkungen emanzipieren können. Die These der Hirnforschung von der Illusion der Willensfreiheit führt nun aber nach Habermas‘ Auffassung zu einer „Dissonanz“143 zwischen Handlungs- und Weltwissen, weil es in diesem Weltwissen keine freien Subjekte gibt, die aber in Sprachhandlungen, in denen sich Menschen in intentionaler Weise auf etwas in der Welt beziehen, immer schon vorausgesetzt werden. Da es sich bei der Annahme freier Subjekte um eine notwendige Präsupposition kommunikativen Handelns handelt, kann die kognitive Dissonanz nicht dadurch aufgehoben werden, dass diese Präsupposition revidiert wird. (2) Aus den performativ vorausgesetzten notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns, d. h. aus den performativen Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung, ergeben sich die begrifflichen Grenzen der Selbstobjektivierung. Mit dieser Umschreibung ist die Habermas’sche These gemeint, dass eine naturwissenschaftliche Beschreibung von Intentionalität, d. h. ein Ersatz von mentalistischem Vokabular durch neurologisches Vokabular, mit einem Bedeutungsverlust einhergeht, sodass die neue Beschreibung dem Selbstverständnis kommunikativ Handelnder nicht gerecht wird.144 Habermas formuliert dies folgendermaßen: „Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen.“145 Eine andere Formulierung der gleichen These bei Habermas lautet, dass die „Sprachspiele […] nicht aufeinander reduziert werden können.“146 Er ist davon überzeugt, dass entsprechende Übersetzungsversuche entweder selbst unausdrücklich vom Sinn der mentalistischen Ausdrücke, die sie ersetzen sollen, zehren oder aber wesentliche Aspekte des Ausgangsphänomens verfehlen und so zu unbrauchbaren Umdefinitionen gelangen.147 Wie er zu dieser These kommt und wie diese wiederum mit den performativen Grenzen der Selbstobjektivierung zusammenhängt, wird verständlich, wenn man einige Aspekte der Habermas’schen Bedeutungstheorie mit einbezieht: Habermas ist der Ansicht, dass die linguistische Bedeutung eines Wortes oder Satzes nicht völlig unabhängig von seiner pragmatischen Bedeutung in Äußerungen ist, sondern dass die linguistische Bedeutung eines Wortes oder Satzes bestimmt

142 143 144 145 146 147

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295. Habermas: Sprachspiel, 295. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 298f. Vgl. Habermas: Freiheit, 164 und 172. Habermas: Freiheit, 172. Habermas: Freiheit, 172. Vgl. Habermas: Freiheit, 172.

Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung

wird von bestimmten Standardbedingungen, „unter denen die pragmatische Bedeutung einer expliziten Sprachhandlung mit der linguistischen Bedeutung der in ihr verwendeten Sätze zusammenfällt“148 . Zwar werde die linguistische Analyse einer Satzbedeutung von bestimmten Realitätsbezügen, in denen der Satz, sobald er geäußert werde, stehe, und von den Geltungsansprüchen, unter die er damit gestellt werde, abstrahieren, aber andererseits sei eine konsequente Bedeutungsanalyse ohne Bezug auf irgendwelche Situationen möglicher Verwendung auch nicht möglich.149 Als Standardbedingung für die linguistische Bedeutungsanalyse definiert Habermas die universalen Verwendungsmöglichkeiten (und die damit korrespondierenden Geltungsansprüche), in (bzw. unter) denen ein Ausdruck ursprünglich auftritt. Ursprünglich ist für Habermas jene Verwendungsmöglichkeit, unter der die Bedeutung eines Wortes von jemandem erlernt werden kann, der der entsprechenden Sprache noch nicht mächtig ist. Will man nun linguistisch die Bedeutung von Worten analysieren, mit denen Intentionalität, d. h. das Erheben von Geltungsansprüchen, beschrieben wird, so muss man fragen, welches die Verwendungsmöglichkeiten sind, in denen die Bedeutung dieser Worte erlernt werden kann. Bezüglich der Verwendungsmöglichkeit sprachlicher Äußerungen unterscheidet Habermas die Verwendungsmöglichkeit in Propositionen von der Verwendungsmöglichkeit in illokutiven Akten. Bei Worten, die ausschließlich in Propositionen vorkommen können, stellt nach Habermas die Verwendung in Propositionen die Standardbedingung zur Ermittlung der linguistischen Bedeutung dieser Worte dar. Performative und intentionale Ausdrücke können dagegen sowohl in Propositionen als auch in illokutiven Akten verwendet werden: Wird Intentionalität in einem illokutionären Akt zum Ausdruck gebracht, geschieht dies aus der Perspektive der Ersten Person heraus (z. B. durch die Äußerung: „Ich denke, dass…“). Wird Intentionalität in einer Proposition thematisiert, geht es darin meist um die Intentionalität dritter Personen (z. B. in der Äußerung „Er denkt, dass…“ oder „Mir scheint, dass er denkt, dass…“). Habermas geht nun davon aus, dass die Bedeutung performativer und intentionaler Ausdrücke nur in der Verwendung dieser Ausdrücke in illokutiven Akten erlernt werden kann, nicht aber in der Verwendung dieser Ausdrücke in Propositionen. Die Standardbedingung für die linguistische Ermittlung der Bedeutung dieser Worte ist also seiner Ansicht nach ihre Verwendung in illokutiven Akten.150 Ihre Bedeutung kann demnach nur verstehen, wer als handelnde Sprecherin und als kooperierende Hörerin an gelungenen Sprechhandlungen mit illokutionären Akten, die Intentionalität ausdrücken, teilgenommen hat.151 Das Selbstverständnis 148 149 150 151

Habermas: Universalpragmatik, 230. Vgl. zum ganzen Absatz: Habermas: Universalpragmatik, 230–232. Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 233. Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 233. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

und das Verständnis vom Gegenüber, das Sprecherin und Hörerin beim kommunikativen Handeln implizit voraussetzen, gehört dann aber untrennbar zu Bedeutung performativer und intentionaler Ausdrücke. Werden intentionale oder performative Ausdrücke in Propositionen verwendet, dann, meint Habermas, übertragen Sprecherin und Hörerin zusammen mit den Ausdrücken das in performativen kommunikativen Zusammenhängen erworbene Selbstverständnis sekundär auf die dritte Person, indem der ursprünglich illokutive Redebestandteil propositional vergegenständlicht wird.152 Das implizite lebensweltliche Wissen von Sprecher und Hörer ist somit auch in der Bedeutung intentionaler Worte enthalten, wenn die Intentionalität dritter Personen beschrieben wird. Dementsprechend wissen Teilnehmer:innen an sprachlicher Kommunikation aus ihrer Teilnehmer:innenperspektive und dem damit implizit verbundenen lebensweltlichen Wissen heraus, dass mit einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Intentionalität anderer Sprecher:innen, die das mentalistische Vokabular durch ein empirisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular ersetzt, ein Bedeutungsverlust einhergeht.153 Denn: „Die[se] aus performativen Zusammenhängen bekannten Eigenschaften werden Personen auch dann zugeschrieben, wenn sie selber […] als ‚etwas in der Welt Vorkommendes‘ beobachtet und beschrieben werden.“154 Beispielsweise ist Habermas der Ansicht, dass zur Bedeutung von Begriffen wie ‚meinen‘, ‚überzeugen‘, ‚bejahen‘ und ‚verneinen‘ – also von Begriffen, die dazu dienen, Intentionen zum Ausdruck zu bringen – von der ursprünglichen Verwendung dieser Begriffe in illokutionären Akten her immer auch ein Subjekt gehört, das frei zu Gründen Stellung nimmt.155 Deshalb können die genannten Begriffe nicht ohne Bedeutungsverlust durch ein naturwissenschaftliches Vokabular ersetzt werden, weil in der Bedeutung des naturwissenschaftlichen Vokabulars Subjekte ausgeschlossen sind. Weiter rekonstruiert Habermas (aus der Teilnehmer:innenperspektive heraus) zu den unüberwindlichen Unterschieden zwischen der mentalistischen und der empirischen Rede von Intentionalität gehöre die Bedeutungsdifferenz zwischen einem semantisch beschreibbaren Konflikt zwischen Urteilen, d. h. intentionalen Gehalten, die wahr oder falsch sein können, und einem naturgesetzlich ablaufenden Wettbewerb neuronaler Aktivitäten.156

152 153 154 155 156

Vgl. Habermas: Universalpragmatik, 230. Vgl. Habermas: Freiheit, 172. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 298. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Freiheit, 162 und 164. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 299.

Performative und begriffliche Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung

Vergleichbare Überlegungen finden sich schon bei Husserl, auf den Habermas in diesem Zusammenhang verweist.157 Husserl stellt bezüglich der rationalen bzw. semantischen Beziehung zwischen verschiedenen intentionalen Gehalten fest, dass die Gesetze des Denkens, also die logischen Gesetze, a priori gelten, d. h. dass sie vor jedem empirischen Wissen gelten und durch die Empirie nicht falsifiziert werden können. Alles Wissen der Naturwissenschaften über das Gehirn und die in ihm wirksamen Naturgesetze ist aber empirisch, d. h. a posteriori. Die sachliche Notwendigkeit, die in den Gesetzen der Logik enthalten ist, kann nach Husserl deshalb nicht mit einer naturgesetzlichen Notwendigkeit identifiziert werden. Daraus folgert Husserl, dass sich die empirischen Wissenschaften in einen argumentativen Zirkel begeben, wenn sie die Logik des Denkens auf Naturgesetze zurückführen wollen. Um ihre Aussagen über die Naturgesetze zu gewinnen und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, müssen die Wissenschaften nämlich nach Husserl bereits die Gesetze der Logik in Anspruch nehmen. So setzen sie voraus, was sie begründen wollen. Habermas kommt – auf methodisch anderem Wege als Husserl nämlich durch die Rekonstruktion des impliziten Wissens von Teilnehmer:innen kommunikativer Handlungen – zu einem ähnlichen Ergebnis, (wobei er die Husserl’sche Unterscheidung in ‚a priorisches‘ und ‚a posteriorisches‘ Wissen nicht oder zumindest nicht in dieser Radikalität vornimmt158 ). Er betont: „Gründe sind keine beobachtbaren physischen Zustände, die nach Naturgesetzen variieren; sie können deshalb nicht mit gewöhnlichen Ursachen identifiziert werden.“159 Dies ist seiner Ansicht nach deshalb nicht möglich, weil der „nach logisch-semantischen Regeln beurteilte Wettbewerb um das bessere Argument […] eine andere Beschreibung als die kausale Folge von Zuständen im limbischen System“160 verlange. Eine andere Beschreibung, meint Habermas Lutz Wingert zitierend, sei notwendig, weil „es im Fall des Hin und Her von Gründen einen semantisch beschreibbaren Konflikt gibt – nämlich einen Widerstreit […] zwischen Urteilen in Hinsicht auf das, was wahr oder falsch bzw. richtig oder falsch ist.“161 Ein solcher Widerstreit sei etwas anderes als ein

157 Vgl. Habermas: Freiheit, 172f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 298. Vgl. zum ganzen Absatz: Sommer: Einführung, 32–35. 158 Vgl. Habermas: Handeln, 164. Hier schreibt Habermas: „Die Rationalitätsunterstellung ist allerdings eine widerlegliche Annahme, kein Wissen apriori. Sie ‚funktioniert‘ zwar als eine vielfach bewährte pragmatische Voraussetzung, die für kommunikatives Handelns überhaupt konstitutiv ist. Aber im Einzelfall kann sie enttäuscht werden.“ Habermas hält das Handlungswissen also nicht für empirisch prinzipiell unwiderleglich. Faktisch funktioniert kommunikatives Handeln aber nicht anders, als dass das Handlungswissen mindestens während des Handlungsvollzugs, also operativ, vorausgesetzt wird. 159 Habermas: Freiheit, 168. 160 Habermas: Sprachspiel, 299. 161 Vgl. Wingert: Grenzen, 250.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Wechsel körperlicher Zustände, denn diese könnten sich nicht logisch widersprechen.162 Wingert erläutert, man begehe einen Kategorienfehler, wenn man von logischer Konsistenz und Widersprüchlichkeit zwischen Prozessen und Zuständen im limbischen System spreche.163 Wenn man Gründe mit Ursachen gleichsetzt, kann es, so betont Habermas, keine logische oder rationale sondern nur eine kausale bzw. naturgesetzliche Verarbeitung von Gründen geben.164 Zusammenfassend besteht die Habermas’sche These von den begrifflichen Grenzen der Selbstobjektivierung darin, dass der Anspruch der Hirnforschung auf begriffliche Reduktion des mentalistischen Sprachspiels auf ein empirisches an der „intersubjektiven Verfassung eines […] über propositionale Gehalte kommunizierenden, an Geltungsstandards und Regeln orientierten Geistes“165 scheitern muss.166 Der Anspruch auf begriffliche Reduktion scheitert an dem im kommunikativen Handeln operativ wirksamen Handlungswissen, das sich auch in der Semantik des intentionalen Vokabulars niederschlägt.

5.3

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

Aus der Feststellung, dass sich die beiden auf das Geistige und das Physische zugeschnittenen Sprachspiele nicht aufeinander reduzieren lassen, möchte Habermas zunächst keine ontologischen Konsequenzen ziehen. Er lehnt es ab, aus dem Dualismus der Sprachspiele auf einen ontologischen Leib-Seele- oder Geist-GehirnDualismus zu schlussfolgern. Stattdessen zieht er in seinen beiden Aufsätzen zur Willensfreiheit unter Voraussetzung seiner Theorie kommunikativen Handelns aus dem Sprachspieldualismus zunächst grundlegende erkenntnistheoretische Schlussfolgerungen, die er anschließend in eine universal-pragmatische Deutung der Wissenschaftspraxis überführt. Bei beidem kann er auf entsprechende Vorarbeiten zurückgreifen.167 5.3.1

Die Sprachpragmatik stiftet einen doppelten Weltbezug

Habermas greift auf seine Theorie kommunikativen Handelns zurück, um zu erklären, wie es dem Menschen überhaupt möglich ist, irgendetwas über die ‚objektive

162 163 164 165 166 167

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 299. Vgl. Wingert: Grenzen, 250. Vgl. Wingert: Grenzen, 250. Vgl. Habermas: Freiheit, 168. Habermas: Sprachspiel, 298. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 298. Vgl. Habermas: Realismus. Vgl. Habermas: Wahrheit, 230–270, besonders 251–266.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

Welt‘ zu wissen. Unter den drei verschiedenen Arten von Geltungsansprüchen, die kommunikativ Handelnde seiner Theorie nach erheben können, greift er also den Geltungsanspruch der Wahrheit und den Bezug zur ‚objektiven Welt‘, der damit verbunden ist, besonders heraus. Den kognitiven Modus, aus dem heraus einem Menschen Sachverhalte in der ‚objektiven Welt‘ erkennbar werden, nennt Habermas „Beobachterperspektive“168 . Darüber hinaus spricht er von einer „Teilnehmerperspektive“169 . Zweifellos meint er mit den Teilnehmer:innen die Teilnehmer:innen an kommunikativem Handeln, also Menschen, die in der Lage sind im kommunikativen Handeln die Rollen von Sprecherin und Hörerin einzunehmen.170 Eine präzise Definition der Teilnehmer:innenperspektive bleibt Habermas in seinen beiden Aufsätzen den Leser:innen schuldig. Aus seiner Theorie des kommunikativen Handelns kann man aber Folgendes schlussfolgern: Wenn Menschen im kommunikativen Handeln die Rollen von Sprecher:innen und Hörer:innen einnehmen, dann eröffnet sich ihnen im Handeln die Teilnehmer:innenperspektive. Aus dieser Perspektive heraus erschließt sich ihnen – implizit – das lebensweltliche Wissen, das bei der Verständigung über Geltungsansprüche performativ vorausgesetzt wird – sowohl das implizite Wissen hinsichtlich der subjektiven, der sozialen und der objektiven Welt als auch die notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handelns, die unabhängig von der Art der erhobenen Geltungsansprüche vorausgesetzt werden. Das Wissen der Teilnehmer:innenperspektive ist also das implizite Wissen der Lebenswelt. Wo aber finden sich in diesem Dualismus von Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive die beiden ‚Welten‘ der Theorie des kommunikativen Handelns wieder, auf die sich Menschen mit den Geltungsansprüchen von Wahrhaftigkeit und normativer Richtigkeit beziehen, also die subjektive Innenwelt und die soziale Welt? Walter Emanuel Simon meint zu dieser Frage: Das Weltkonzept, das Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelte, ist hier nur noch auf den Gegensatz zwischen objektiver Welt und Lebenswelt zusammengefasst. Es scheint sogar so, dass die drei Welten, von denen Habermas damals noch sprach (die objektive, die subjektive und die soziale) allesamt im Konzept der Lebenswelt aufgegangen sind bzw. dass die Lebenswelt eine Art Überkategorie ist, innerhalb derer die drei Welten sich ausformulieren.171

168 169 170 171

Habermas: Freiheit, 173. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 321. Habermas: Freiheit, 175. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Freiheit, 173f. Simon: Lebenswelt, 196.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Demgegenüber erscheint mir die Deutung angemessener, dass die Lebenswelt nur solches Wissen bezüglich der drei Welten enthält, das zu einem implizit gewussten und performativ vorausgesetzten Wissen geworden ist. Explizites Wissen bezüglich der subjektiven Innenwelt und der sozialen Welt gehört dagegen qua definitionem nicht zur Lebenswelt, auch wenn manche Aspekte des lebensweltlichen Wissens durch rationale Rekonstruktion explizit gemacht werden können. Beide Wissensformen – das explizite Wissen bezüglich der subjektiven Innenwelt und der sozialen Welt – spielen im Zusammenhang mit der Frage nach der Willensfreiheit keine Rolle, so dass Habermas seine eigene Theorie in den beiden Aufsätzen zum Thema Willensfreiheit nur fragmentarisch rezipiert. Habermas geht im nächsten Gedankenschritt davon aus, dass das Einnehmen der Beobachter:innenperspektive nur Menschen möglich ist, die über die Fähigkeit zum kommunikativen Handeln verfügen, die also auch in der Lage sind, die Teilnehmer:innenperspektive einzunehmen. Die umgekehrte Abhängigkeit hält er ebenfalls für zutreffend. Die beiden Perspektiven nehmen Teilnehmer:innen an kommunikativen Handlungen nach Habermas automatisch und gleichzeitig ein, wenn sie sprachlich kommunizieren, denn in der sprachlichen Kommunikation sind die beiden Perspektiven gleichursprünglich verankert172 bzw. miteinander verschränkt173  – die Beobachter:innenperspektive in der Proposition und die Teilnehmer:innenperspektive im illokutionären Akt. Kinder erlernen die Fähigkeit zum Einnehmen von Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive zugleich mit dem Erlernen des Sprechens. Sie erwerben „mit dem System der Personalpronomina die Beobachter:innenrolle der ‚dritten‘ Person nur in Verbindung mit den Sprecher:innen- und Hörer:innenrollen einer ‚ersten‘ und ‚zweiten‘ Person“174 , mit denen die Teilnehmer:innenperspektive verbunden ist. Die „pragmatischen Universalien der Umgangssprache“175 stiften, so Habermas, diese beiden Perspektiven und sorgen zugleich für ihre Verschränkung,176 weil im Gebrauch der Sprache die Tatsachendarstellung die kommunikative Verständigungsabsicht der Teilnehmer:innen voraussetzt und umgekehrt. Die beiden Grundfunktionen der Sprache – Tatsachendarstellung und Kommunikation – greifen nach Habermas gleichursprünglich ineinander.177 Wer das Sprechen erlernt hat, der:die ist in der Lage, die Welt gleichzeitig aus den beiden miteinander verschränkten Perspektiven zu betrachten. Und

172 173 174 175 176 177

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322 und 326. Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Habermas: Freiheit, 173. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Vgl. Habermas: Realismus, 9.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

nur wer dazu in der Lage ist, kann nach Habermas überhaupt einen „kognitiven Zugang“178 zu einer intentional auf Abstand gebrachten Welt haben.179 Diese Habermas’sche Aussage ist eine Aussage darüber, wie die Intentionalität von Sprache mit der Intentionalität mentaler Zustände zusammenhängt: Habermas geht davon aus, dass erst die „sprachliche Sozialisierung des Bewußtseins“180 und die damit verbundene Teilhabe an der intersubjektiven Lebenswelt mentale Intentionalität, wie sie beim Menschen auftritt, möglich machen. Er schreibt dementsprechend: „Die sprachliche Sozialisierung des Bewußtseins und das intentionale Verhältnis zur Welt konstituieren sich gegenseitig in dem zirkulären Sinne, daß eines das andere begrifflich voraussetzt.“181 Erst wenn ein Kind durch das Erlernen der Sprache die Möglichkeit erworben hat, seine Erfahrung mit der Welt zumindest potentiell vor anderen kommunikativ zu rechtfertigen, hat es nach Habermas auch die Möglichkeit, die Welt mental so zu vergegenständlichen, dass es potentiell etwas von ihr aussagen kann.182 Um es mit Martin Seel, auf den auch Habermas verweist, zu sagen: „Teilnehmer sind potentielle Beobachter, Beobachter sind virtuelle Teilnehmer.“183 Die durch die Sprachpragmatik konstituierte gemeinsame Perspektive (die Beobachter:innenperspektive) ist in Bezug auf mentale Zustände„ konstitutiv für den Abstand nehmenden objektivierenden Blick auf die Welt und sich selbst“184 . Dieser Feststellung wird von Habermas der Rang einer „erkenntnistheoretische[n] Wende“185 zugesprochen, die in der Tradition Immanuel Kants auf die Bedingungen unseres kognitiven Zugangs zur Welt reflektiert.186 Weil jeder beobachtende, kognitive Weltzugang auf die Teilnehmer:innenperspektive angewiesen ist, zu der auch die Präsupposition von Willensfreiheit gehört, ergibt sich die Konsequenz, dass es keine Position gibt, „von der aus sich das Faktum der Freiheit theoretisch in Distanz setzen ließe“187 . „Indem sich die Teilnehmer im Horizont einer gemeinsamen Lebenswelt als Erste und Zweite Person aufeinander beziehen, nehmen sie zugleich in der objektivierenden Einstellung einer Dritten Person auf Gegenstände in der Welt Bezug […].“188 Die durch sprachliche Kommunikation

178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188

Habermas: Freiheit, 173. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322 und 326. Habermas: Sprachspiel, 322. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Seel: Teilnahme, 145. Habermas: Freiheit, 176. Habermas: Sprachspiel, 321. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 326. Seel: Teilnahme, 146. Habermas: Sprachspiel, 322.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

hergestellte Intersubjektivität stiftet eine gemeinsame Lebenswelt, vor deren Hintergrund eine Verständigung über etwas in der objektiven Welt erst möglich wird.189 Dieser Hintergrund wird auch vorausgesetzt, wenn ein Mensch sich, ohne aktuell kommunikativ zu handeln, mental auf die Welt bezieht. Habermas führt also die Irreduzibilität der Sprachspiele nicht auf einen ontologischen Dualismus sondern auf einen epistemischen Dualismus zwischen Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive zurück.190 Die Irreduzibilität der Sprachspiele ist seiner Ansicht nach Ausdruck dieser beiden Wissensperspektiven.191 Die Sprachpragmatik stiftet einen doppelten Weltbezug: den Bezug zur ‚objektiven Welt‘ und den Bezug zur Lebenswelt. Eine wichtige Frage, auf die ich auch später nochmals zurückkommen werde, ist allerdings, wie sich die mentale Intentionalität anderer Lebewesen zur mentalen Intentionalität des Menschen verhält. Insofern auch anderen Lebewesen, wie z. B. Schimpansen, Bewusstsein zugeschrieben wird, muss auch angenommen werden, dass sich dieses Bewusstsein auf Objekte in der Welt bezieht, dass es also Intentionalität besitzt. Offensichtlich sieht Habermas jedoch einen erheblichen Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Bewusstsein.192 Er schreibt: Die sinnliche Erfahrung, die ein nicht menschliches Lebewesen mit der Welt mache, verlasse nie die „Subjektivität eines Bewusstseinslebens“193 . Beides – Erfahrungen und die Subjektivität des Bewusstseinslebens – sieht Habermas also nicht als Alleinstellungsmerkmal des Menschen an, sondern spricht es auch anderen Lebewesen zu.194 Es hat hier fast den Anschein, als wolle Habermas dem tierischen Bewusstsein zwar die Merkmale der Privatheit und den phänomenalen Charakter (Qualia) (vgl. Kapitel 4.4.1), nicht aber Intentionalität zugestehen, oder aber als unterscheide er qualitativ deutlich zwischen menschlicher und tierischer Intentionalität. In jedem Fall ist es seiner Ansicht nach nur dem Menschen als sprachfähigem Wesen möglich, einen kognitiven objektiven Zugang „zu etwas in einer intentional auf Abstand gebrachten Welt“195 zu erlangen, mit dem sich Wahrheitsansprüche verbinden können.196 Denn Wahrheitsansprüche existieren nur im Rahmen des kommunikativen Handelns. Gerade dies macht die Besonderheit menschlicher mentaler Intentionalität nach Habermas aus: dass sie eine Struktur hat, die potentiell in einer

189 190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Habermas: Freiheit, 174. Vgl. Simon: Lebenswelt, 193. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 321. Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Vgl. Habermas: Freiheit, 176–177. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Habermas: Sprachspiel, 322. Vgl. Habermas: Freiheit, 174.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

sprachförmigen Aussage kommuniziert werden kann. Auch Seel meint, die Innenperspektive des bewussten Erlebens sei zwar keine Teilnehmer:innenperspektive im Sinne eines notwendigen Bezugs auf ein reales Gegenüber, wohl aber im Sinn einer Artikuliertheit und Artikulierbarkeit gegenüber potentiellen Adressat:innen.197 Er stellt fest: „Gefühle und Gedanken, Wahrnehmungen und Imaginationen in einer qualifizierten, zur Seite der Erkenntnis hin offenen Weise hat nur, wer ihnen im sprachlichen und sonstigen Verhalten auch Ausdruck geben kann.“198 Für den Menschen gilt nach Habermas zudem, dass schon seine Erfahrung – im Gegensatz zu der Erfahrung anderer Lebewesen – durch die Struktur der Sprache überformt und geprägt wird, so dass ein sprachlich ungefilterter Zugriff auf die Realität unmöglich ist:199 „Begriff und Anschauung, Konstruktion und Entdeckung, Interpretation und Erfahrung sind Momente, die sich […] nicht voneinander isolieren lassen.“200 Die besondere Bedeutung, die Habermas dem Erfahrungsbegriff gibt, wird im folgenden Kapitel noch deutlicher. 5.3.2

Realismus nach der (sprach-)pragmatischen Wende – zur Deutung der Wissenschaftspraxis

Die Verschränkung von Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive als Erkenntnisbedingung gilt nach Habermas für den Alltag ebenso wie für den Wissenschaftsbetrieb.201 Auch für letzteren gilt: Es „gibt keine Beobachtung ohne wenigstens virtuelle Teilnahme“202 . Die Teilnehmer:innenperspektive mit ihrer lebensweltlichen Annahme von Willensfreiheit kann auch dann, wenn die Beobachter:innenperspektive sich in die Methoden naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung hinein entfaltet, aus dieser Perspektive nicht vollständig erfasst, nicht vollständig auf die Objektseite der Erkenntnis gebracht werden, weil sie Voraussetzung für den Zugang zur ‚objektiven Welt‘ ist.203 Auch der immense theoretische Wissenszuwachs über die ‚objektive Welt‘, der eine Leistung der Naturwissenschaften ist, bleibt angewiesen auf die Verschränkung der Beobachter:innen- mit der Teilnehmer:innenperspektive.204 Die im bisher Dargelegten anklingenden Ansätze zur Deutung der Wissenschaftspraxis hat Habermas u. a. in seinen Aufsätzen „Realismus nach der sprachpragmati-

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Vgl. Seel: Teilnahme, 143. Seel: Teilnahme, 143. Vgl. Habermas: Realismus, 41. Habermas: Freiheit, 174. Vgl. Habermas: Freiheit, 174f. Seel: Teilnahme, 145. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 330. Vgl. Habermas: Freiheit, 175.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

schen Wende“205 sowie „Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende“206 weiter ausgearbeitet. Seine eher fragmentarischen Ausführungen zu diesem Thema innerhalb der beiden Aufsätze zum Willensfreiheitsproblem207 werden vor diesem Hintergrund verständlicher, weshalb die folgende Darstellung auf der Analyse aller vier Quellen beruht. Habermas schlägt eine Deutung der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis vor, welche „die pragmatischen Bedingungen unseres kognitiven Zugangs zur Welt“208 reflektiert und „auf den Zusammenhang der Theoriebildung mit den konstruktiven Leistungen der Forschungspraxis“209 achtet. Gemäß dieser Deutung gibt es weder im Alltag noch im Wissenschaftsbetrieb einen „direkten Zugriff auf die ontologische Verfassung der Welt“210 . Vielmehr ist dieser Zugriff auf die Wirklichkeit nach Habermas auf zweifache Weise vermittelt: erstens durch die Erfahrungen, die wir im Zuge unseres Handelns in der Welt machen, und zweitens durch die diskursive Rechtfertigung von Geltungsansprüchen mit Bezug zur ‚objektiven Welt‘.211 Erst das Zusammenspiel von beidem, d. h. die intersubjektive Interpretation von Erfahrungen anhand von Geltungsansprüchen, die vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt erhoben werden, ermöglicht nach Habermas Erkenntnis.212 Was es mit der diskursiven Rechtfertigung auf sich hat, ist bereits in den vorhergehenden Kapiteln deutlich geworden: Gemäß der kommunikativen Konstitution der menschlichen Rationalität ist der naturwissenschaftliche Zugriff auf die Welt (= Beobachter:innenperspektive) in vorwissenschaftlichen Praktiken der Verständigung (= die Teilnehmer:innenperspektive) und damit in der intersubjektiv geteilten Lebenswelt verwurzelt. 213 Die Gegenstandsbereiche der Naturwissenschaften sind auf der Basis der Lebenswelt konstruiert.214 Erfahrungen sind für Habermas das Element innerhalb des Erkenntnisprozesses, durch das sich die beobachter:innenunabhängige Wirklichkeit bemerkbar macht. Erfahrungen macht der Mensch durch Handlungen. Genauer gesagt resultieren Erfahrungen aus der „Verarbeitung von Enttäuschungen im intelligenten Umgang mit

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Habermas: Realismus. Habermas: Wahrheit. Vgl. Habermas: Freiheit, 174. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 326–333. Habermas: Sprachspiel, 326. Habermas: Sprachspiel, 328. Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Habermas: Realismus, 24f und 36f. Vgl. Habermas: Realismus, 43f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 327.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

einer riskanten Umwelt“215 und sie bewähren sich am Erfolg der auf die Erfahrung gestützten Handlungen.216 Erfahrungen macht der Mensch (vermittelt über seine Sinne) mit der Wirklichkeit bzw. mit der Gesamtheit der Gegenstände der Welt217 (mit den kantischen ‚Dingen an sich‘), weil er in Handlungen performativ einen Bezug zu diesen Gegenständen herstellt.218 Die „sprachunabhängige[n] Realität“ meldet sich in Lern- bzw. Erkenntnisprozessen dadurch zu Wort, „daß sie unseren Praktiken Beschränkungen auferlegt“219 , d. h. in der Erfahrung des Scheiterns oder Gelingens unseres Umgangs mit der Welt.220 Erfahrungen sind allerdings nach Habermas noch keine Erkenntnis, sondern eher eine Vorstufe davon. Das liegt daran, dass Erfahrungen handlungsbezogen und auf Problemlösung ausgerichtet sind221 und nicht auf theoretische Erkenntnis abzielen. Erfahrung hat – insofern Habermas sie auch nicht menschlichen Lebewesen zuschreibt – primär keine sprachliche Fassung und ist deshalb im eigentlichen Sinne kein kognitiver Weltzugang. Erfahrung, die ein Individuum macht, das zu kommunikativem Handeln nicht fähig ist, ist keine Erkenntnis, weil das Individuum nicht in der Lage ist, die Erfahrung in Form einer Aussage über die Welt explizit zu machen bzw. zu vergegenständlichen, mit der sich ein Geltungsanspruch verbinden kann. Das Zusammenwirken von Erfahrung und diskursiver Rechtfertigung, durch das Erkenntnis möglich wird, stellt Habermas sich folgendermaßen vor: Auf der Basis von handlungsgeleiteten Erfahrungen mit den Gegenständen der Wirklichkeit und vor dem Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt erheben Personen durch Propositionen Geltungsansprüche im Hinblick auf die Wahrheit der in der Proposition enthaltenen Aussage über die ‚objektive Welt‘.222 Dieser Anspruch auf Wahrheit wird im kommunikativen Handeln entweder akzeptiert oder aber in Frage gestellt, so dass im intersubjektiven Diskurs mit anderen Diskursteilnehmer:innen, die selbst Erfahrungen mit der Welt machen können, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Lebenswelt, die ein Reservoir an Gründen bereit hält, geklärt werden muss, ob er berechtigt oder unberechtigt ist.223 Als ein gutes Argument zählt dabei ein Argument, das allgemeine Zustimmung finden kann, das also aus einer intersubjektiven Rationalität heraus als gut bewertet wird.224 An diese Rationalität

215 216 217 218 219 220 221 222 223 224

Habermas: Realismus, 36. Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 102. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Habermas: Realismus, 24. Beide Zitate: Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Habermas: Realismus, 36f. Vgl. Habermas: Realismus, 36. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 98. Vgl. Habermas: Realismus, 36. Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 101.

219

220

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

erhalten alle kommunikationsfähigen Menschen über die pragmatische Struktur der Sprache Anschluss,225 die ihnen das geteilte lebensweltliche Wissen vermittelt. Das folgende Schema fasst zusammen, wie aus dem Zusammenspiel von Erfahrung und intersubjektiver Konstruktion226 Erkenntnis entsteht:

Abb. 2 Der Erkenntnisprozess nach Habermas (1). © Hildegard Peters

Ist im Diskurs ein intersubjektiver Konsens darüber erzielt worden, dass ein Geltungsanspruch berechtigt ist, dass also für die in der Proposition enthaltenen Aussage über die ‚objektive Welt‘ eine „gerechtfertigte Behauptbarkeit“227 vorliegt, können die Teilnehmer:innen den Diskurs beenden. Sie gehen anschließend aus pragmatischen Gründen dazu über, die Aussage für wahr zu halten, sobald sie die gewonnene Erkenntnis außerhalb des Diskurses für Handlungen und Handlungskoordinierung verwenden.228 Habermas erläutert: Wenn die Beteiligten im Verlaufe eines Argumentationsprozesses zu der Überzeugung gelangen, daß sie in Kenntnis aller einschlägiger Informationen und nach Abwägung aller relevanter Gründe das Potential möglicher Einwände gegen ‚p‘ [die Proposition] erschöpft haben, sind die Motive für eine Fortsetzung der Argumentation verbraucht.229

Sofern ein Konsens erzielt wurde, findet die als gerechtfertigt angesehene Behauptung (wieder) „ihren Platz in einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt“230 , in der sie als ‚wahr‘ beim Handeln vorausgesetzt wird. Wahrheit ist also ein lebensweltliches Konzept.231 Aus der Perspektive von Teilnehmer:innen an Diskursen wissen die

225 226 227 228

Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 102. Vgl. Habermas: Realismus, 43. Vgl. Habermas: Wahrheit, 255. Vgl. Habermas: Wahrheit, 261–266. Habermas hat seine Wahrheitstheorie im Laufe der Zeit einer Revision unterzogen. Das Folgende beinhaltet eine Darstellung der habermas’schen Wahrheitstheorie in ihrer revidierten Fassung, von der Jens Greve behauptet, Habermas habe sich damit von seiner Konsenstheorie der Wahrheit verabschiedet (vgl. Greve: Jürgen Habermas, 86.) 229 Habermas: Wahrheit, 261. 230 Habermas: Wahrheit, 261. 231 Vgl. Habermas: Wahrheit, 262.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

Handelnden, dass es nur fallibles Wissen gibt.232 Nutzen sie dieses Wissen aber für zielorientiertes Handeln in der Welt, dann setzen sie es performativ als kontextunabhängige233 und zeitüberdauernde234 (Handlungs-)Gewissheit voraus. „Die lebensweltlichen Praktiken werden von einem certistischen Bewußtsein getragen, das in actu für Wahrheitsvorbehalte keinen Raum läßt.“235 Habermas pointiert: Wir würden keine Brücke betreten, kein Auto benützen, uns keiner Operation unterziehen, nicht einmal eine delikat zubereitete Mahlzeit zu uns nehmen, wenn wir die verwendeten Kenntnisse nicht für gesichert, die in Herstellung oder Durchführung konsumierten Annahmen nicht für wahr hielten.236

Legt man die beschriebene Vorstellung vom Erkenntnisprozess, wonach Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von Erfahrung und diskursiver Rechtfertigung hervorgeht, zu Grunde, könne man, so Habermas, wegen des Kontakts zu den Gegenständen der Wirklichkeit, der durch das Erfahrungselement gegeben ist, an einer realistischen Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnis (bzw. des aus der Beobachter:innenperspektive gewonnenen Wissens) festhalten.237 Realistisch dürfe sich eine solche Erkenntnis nennen, weil sie aus der problemlösenden Erfahrung mit der Wirklichkeit entspringt und weil vermittelt durch die Erfahrung bei der Feststellung von Tatsachen auf die Gegenstände der beobachter:innenunabhängigen Wirklichkeit Bezug genommen wird.238 Wohl aber müsse man sich unter dieser Voraussetzung von einem repräsentationalistischen Modell der Erkenntnis verabschieden,239 gemäß dem unsere Erkenntnis ein Abbild der Wirklichkeit ist bzw. die Wirklichkeit abbildet. Richard Rorty zitierend schreibt Habermas dementsprechend: „Der ‚Spiegel der Natur‘ – die Repräsentation der Wirklichkeit – ist das falsche Modell des Erkennens […].“240 Tatsachen werden üblicherweise in der sprachlichen Form von Aussagen formuliert. Weil bei der Formulierung von Tatsachen nach Habermas jedoch immer das Element intersubjektiver Konstruktion eine Rolle spielt, weil der Diskurs entscheidet, wann eine Aussage eine Tatsache ist, sind Tatsachen nichts, was sich in der

232 233 234 235 236 237 238 239 240

Vgl. Habermas: Wahrheit, 255. Vgl. Habermas: Wahrheit, 263. Vgl. Habermas: Realismus, 50. Habermas: Realismus, 52. Habermas: Wahrheit, 255. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 329 und 332. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Habermas: Realismus, 36. Habermas: Realismus, 36.

221

222

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Wirklichkeit, d. h. in der beobachter:innenunabhängigen Welt der Erfahrungsgegenstände findet.241 Tatsachen haben „keinen Bestand unabhängig von der Sprache der entsprechenden Aussagen.“242 Die beobachter:innenunabhängige Wirklichkeit gilt Habermas „als System für mögliche Referenzen – als das Ganze von Gegenständen, nicht von Tatsachen.“243 Die Welt muss nominalistisch „als das Ganze der raumzeitlich individuierten ‚Gegenstände‘, von denen wir Tatsachen aussagen können“244 verstanden werden. Habermas fasst seinen pragmatischen Realismus folgendermaßen zusammen: „Nach der sprachpragmatischen Wende bleibt ein Realismus ohne Repräsentation übrig. Natürlich sagen Tatsachen etwas über die Welt aus – aber ‚wir‘ sind es, denen sie etwas sagen.“245 Dies „schmälert aber nicht die Wahrheit und den Realitätsgehalt der Tatsachenaussagen“246 . Wir erkennen in den Tatsachen, die wir für zutreffend halten, die Wirklichkeit also nicht wie sie ‚an sich‘ ist, sondern wie sie sich uns basierend auf Erfahrungen und unserer sprachlich geprägten Rationalität erschließt. Ein „sprachlich ungefilterter Zugriff auf die Realität ist unmöglich“247 . Vielmehr liefern „die sinnlichen Kontakte mit Gegenständen in der Welt stimulierende Anhaltspunkte für die Interpolation von Tatsachen“248 . Durch die Ablehnung des repräsentationalistischen Modells der Erkenntnis grenzt Habermas sich deutlich gegenüber physikalistischen und (nichtphysikalistischen) naturalistischen Positionen ab, die er selbst wohl als ‚stark naturalistisch‘ bezeichnen würde. Auch lehnt er eine Korrespondenztheorie der Wahrheit ab, gemäß der sich Theorien an Tatsachen prüfen lassen, die unabhängig von jeglicher Theorie sind und sich empirisch feststellen lassen.249 Durch sein gleichzeitiges Festhalten an einem im pragmatischen Sinne realistischen Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaften will er sich allerdings ebenso von antirealistischen und kontextualistischen Positionen, wie beispielsweise der Richard Rortys, abgrenzen, für den Rechtfertigung und damit auch Erkenntnis immer kontextgebunden ist, so dass es keine kontextübergreifend zutreffende Erkenntnis geben kann.250 Nicht zuletzt versteht Habermas seinen Entwurf als

241 242 243 244 245 246 247 248 249 250

Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 99. Habermas: Realismus, 43. Habermas: Realismus, 37. Habermas: Realismus, 42. Habermas: Sprachspiel, 333. Habermas: Sprachspiel, 333. Habermas: Realismus, 41. Habermas: Realismus, 44. Vgl. Pinzani: Jürgen Habermas, 55. Vgl. Habermas: Realismus, 32f. Vgl. Habermas: Wahrheit, 238–240. Vgl. Habermas: Realismus, 29.

Die Verschränkung der Wissensperspektiven als Erkenntnisbedingung

Alternative sowohl zum Skeptizismus als auch zu transzendental-idealistischen Erkenntnistheorien.251 Aus seinem pragmatischen Realismus zieht Habermas ontologische Konsequenzen, die er benötigt, um eine Antwort auf das Problem der Willensfreiheit geben zu können. Dabei spielt allerdings noch eine über das bisher Beschriebene hinausgehende erkenntnistheoretische Annahme eine Rolle, die zuvor dargestellt werden muss: Habermas vertritt einen interventionistischen Kausalitätsbegriff, den er auf Kant, Charles Sanders Peirce und Georg Henrik von Wright zurückführt.252 Gemäß der damit verbundenen Auffassung von Kausalität sind naturwissenschaftliche gesetzesartige Annahmen über Kausalverhältnisse, die in Form von irrealen Konditionalsätzen (Wenn…, dann…) ausgedrückt werden, nur deshalb möglich, weil sie auf einem lebensweltlichen Konzept „von instrumentellen Handlungen (im Sinne der intentionalen Erzeugung von Effekten in der Welt)“253 beruhen. Das bedeutet, dass Menschen, wenn sie die Aufeinanderfolge von zwei beobachtbaren Weltzuständen A und B als eine kausale Beziehung interpretieren, implizit davon ausgehen, dass sie den Zustand B hervorrufen können, indem sie den Zustand A instrumentell herbeiführen.254 Auch die menschliche Vorstellung von Kausalität resultiert also aus Erfahrungen, die Menschen handelnd mit der Welt machen (und in einem zweiten Schritt intersubjektiv vergegenständlichen). 5.3.3

Schlussfolgerungen in ontologischer Hinsicht

Aus seiner pragmatischen Deutung der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis sowie dem interventionistischen Kausalitätsbegriff zieht Habermas folgende zwei Konsequenzen in ontologischer Hinsicht, die ihm helfen, eine Antwort auf das Willensfreiheitsproblem zu geben: Er ist zum einen (1) der Ansicht, die ‚Natur‘ der Naturwissenschaften decke sich mit dem und zwar nur mit dem, „was sich an der Realität unter Gesichtspunkten möglicher kausaler Erklärungen, bedingter Voraussagen und erfolgskontrollierter Eingriffe“255 erschließe. Er meint, die Naturwissenschaften könnten nur das von der Natur erfassen und kausal erklären, „was sich von der Wirklichkeit unter dem Aspekt der technischen Verfügbarmachung objektivieren läßt“256 . Alles, was sich diesen Eingriffen entzieht, und dazu gehören auch die Lebenswelt, mentale Zustände und semantische Gehalte, entzieht sich deshalb auch dem objektivierenden Blick

251 252 253 254 255 256

Vgl. Habermas: Realismus, 27f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 326f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Habermas: Sprachspiel, 329f. Habermas: Sprachspiel, 329.

223

224

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

der Naturwissenschaften und ihrer kausalen Erklärung.257 Hier schlägt sich die Habermas’sche Vorstellung davon nieder, was Erfahrung ist und welche Rolle sie im Erkenntnisprozess spielt: Gemäß dem Habermas’schen pragmatischen Realismus können kommunikativ Handelnde Geltungsansprüche mit Bezug zur ‚objektiven Welt‘ nur in Bezug auf solche ‚natürlichen‘ Gegenstände erheben, die sich ihnen in der Erfahrung dadurch bemerkbar machen, dass sie Handlungen ermöglichen oder scheitern lassen. Die Anteile der Natur, die sich auf diesem Wege nicht bemerkbar machen, entgehen der Beobachter:innenperspektive. Die Beobachter:innenperspektive ist blind für sie. Dementsprechend geht Habermas davon aus, „daß sich die ‚Natur‘ der nomologisch verfahrenden Naturwissenschaften [nicht] mit der ‚Natur im Ganzen‘ deckt.“258 Eine deterministische Sicht auf die Welt könne deshalb nur eine auf die ‚Natur‘ der Naturwissenschaften begrenzte Geltung beanspruchen.259 Die Einflüsse der Natur, die für die Konstitution der Lebenswelt bzw. der Teilnehmer:innenperspektive, d. h. der menschlichen Rationalität, verantwortlich sind, fallen nicht in diesen Geltungsbereich, denn sie können nicht objektiviert werden. Zum anderen (2) hält Habermas vor dem Hintergrund seiner Theorie der kommunikativen Vernunft und angesichts des begrenzten Erkenntnisanspruchs der Naturwissenschaften die Annahme für berechtigt, dass der menschliche Geist nicht auf mentale Ereignisse reduziert werden kann.260 Das ist einleuchtend vor dem Hintergrund, dass Intentionalität als besondere Eigenschaft des menschlichen Geistes nach Habermas wie erläutert gerade erst unter Voraussetzung der Lebenswelt zu Stande kommt, die nicht zu einem mentalen Zustand vergegenständlicht werden kann, weil es sich um ein intersubjektives Phänomen handelt. Die Teilnehmer:innenperspektive und die mit ihr verbundene Lebenswelt eröffnen sich schließlich erst im Erlernen des kommunikativen Handelns, d. h. außerhalb des Mentalen, im Erlernen der grammatischen Regeln und semantischen Gehalte der kommunikativen Alltagspraxis.261 „Erst das Ganze aus intentionalem Weltverhältnis, Sprachkompetenz, gegenseitiger Perspektivübernahme und Intersubjektivität der Verständigung macht geistige Phänomene wie Erlebnisse, Meinungen und Absichten möglich.“262 Der ‚subjektive Geist‘ entsteht also erst unter dem sprachlich vermittelten Einfluss der Wirklichkeit eines intersubjektiv geteilten Hintergrundwissens der Lebenswelt, das Habermas als ‚objektiven Geist‘ bezeichnet.263 Unter ‚objektivem Geist‘ versteht

257 258 259 260 261 262 263

Vgl. Habermas: Freiheit, 173. Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Habermas: Freiheit, 175. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 330. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 330. Habermas: Sprachspiel, 330. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 330. Der Begriff des ‚objektiven Geistes‘ geht auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück.

Die Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen – Geist als Produkt der Evolution

Habermas das „symbolisch gespeicherte[s] kollektive[s] Wissen“264 der Lebenswelt bzw. das „intersubjektiv geteilte[s] kulturelle Hintergrundwissen“265 . Der ‚objektive Geist‘ existiert (relativ) unabhängig vom ‚subjektiven Geist‘, weil er die Gestalt grammatisch fixierter sprachpragmatischer Regeln angenommen hat.266 Er existiert nur „dank seiner Verkörperung in akustischen oder optisch wahrnehmbaren materiellen Zeichensubstraten, also in beobachtbaren Handlungen und kommunikativen Äußerungen, in symbolischen Gegenständen und Artefakten“267 . Es ist der „symbolisch strukturierte ‚Raum der Gründe‘“268 , zu dem das Individuum durch das Erlernen des Sprachgebrauchs Zugang erhält. Dieser ‚objektive Geist‘ ist für Habermas wie der ‚subjektive Geist‘ ein Teil der Natur, obwohl beide von den Naturwissenschaften nicht erfasst werden können.

5.4

Die Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen – Geist als Produkt der Evolution

Habermas will den menschlichen Geist, die kommunikative Rationalität des Menschen, als eine Entität in der Welt, als einen Teil der Natur,269 als ein Naturphänomen verstehen, um so die Schwierigkeiten eines ontologischen Dualismus zu vermeiden.270 Angesichts des Dualismus von Wissensperspektiven kann er einen ontologischen Monismus vernünftigerweise aber nur unter der Voraussetzung vertreten, dass er plausibilisieren kann, wie die kommunikative Rationalität einschließlich des epistemischen Dualismus und dem impliziten Wissen der Lebenswelt aus der Natur hervorgegangen ist.271 Wenn der menschliche Geist als eine Entität in der Welt verstanden werden soll, darf der epistemische Dualismus nicht „vom transzendentalen Himmel gefallen sein.“272 Den Versuch, zu erklären, wie der menschliche Geist aus der Natur hervorgegangen ist, bezeichnet Habermas als „Naturgeschichtliche Detranszendentalisierung des erkennenden Geistes“273 . Dabei soll der Ursprung der Erkenntnisbedingungen in der Zeit und in der Natur gefunden werden.274

264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274

Habermas: Freiheit, 177. Habermas: Freiheit, 177. Vgl. Habermas: Freiheit, 180. Habermas: Freiheit, 179f. Habermas: Freiheit, 178. Vgl. Habermas: Freiheit, 171. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 272. Vgl. Simon: Lebenswelt, 247. Habermas: Freiheit, 171. Habermas: Sprachspiel, 331. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 331.

225

226

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Dazu muss Habermas die Frage beantworten, „wie denn nun die Natur der Naturgeschichte beschaffen ist, die sich in der Natur der Naturwissenschaften nicht erschöpft“275 . Es ergibt sich dabei aber das erkenntnistheoretische Problem, dass der Versuch, etwas über die Naturgeschichte des Geistes in der Welt zu erfahren, dem Versuch eines direkten Zugriffs auf den ontologischen Zustand der Welt – also der Metaphysik, die Habermas eigentlich verabschiedet hat276  – gleichkommt.277 Ein solcher direkter Zugriff ist uns, wie bereits erläutert, nach Habermas aber nicht möglich, weil wir die Welt nur aus der Verschränkung der beiden Wissensperspektiven heraus erkennen können. Auch wenn den Naturwissenschaften ein realistischer Erkenntnisanspruch zukommt, so bleibt doch ‚das Ding an sich‘ und die ‚Natur an sich‘ für uns unzugänglich,278 weil sie sich jenseits der Natur befindet, die uns aus dem Perspektivendualismus heraus zugänglich ist. Wir können uns mit unseren Aussagen über die Wirklichkeit zwar auf Gegenstände in dieser Wirklichkeit beziehen, aber die in den Aussagen beschriebenen Tatsachen finden sich nicht in der Wirklichkeit. Habermas erklärt die Schwierigkeit des Unterfangens, etwas über die Naturgeschichte zu erfahren, folgendermaßen: Es sei paradox, die intersubjektiven Ermöglichungsbedingungen von Erfahrung ihrerseits empirisch, d. h. auf der Basis von Erfahrung, erklären zu wollen.279 „Ein Explanans [die Naturgeschichte], das die Entstehung der transzendentalen Bedingungen erklärt, müßte selber den im Explanandum genannten Bedingungen schon gehorchen.“280 Wir wollen etwas wissen über den Ursprung unserer Erkenntnisbedingungen und können dieses Wissen aber stets nur eingeschränkt durch eben diese Bedingungen erlangen. Habermas selbst formuliert deshalb die Frage, ob wir „nicht, sobald wir hinter die auf den Aspekt der Verfügbarmachung eingeschränkte nomologische Konzeption der Natur zurückfragen, jeden kognitiven Halt“281 verlieren. Wie die Tatsache, dass er sich dennoch am Entwurf einer Naturgeschichte versucht, zeigt, beantwortet er diese Frage negativ. Bei diesem Versuch kann aber auch er den Dualismus von Wissensperspektiven nicht hintergehen. Stattdessen geht er davon aus, dass beide Wissensperspektiven einen Teil der Wirklichkeit korrekt, wenn auch jeweils nur fragmentarisch bzw. perspektivisch, erfassen. Weil es aber jenseits dieser Perspektiven für den Menschen keine Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit zu erfassen, muss sich nach Habermas eine Beschreibung ‚von unten‘, d. h. aus

275 276 277 278 279 280 281

Habermas: Sprachspiel, 332. Vgl. Habermas: Motive, 174–176. Vgl. Habermas: Realismus, 32. Vgl. Habermas: Realismus, 31. Vgl. Habermas: Realismus, 31. Habermas: Realismus, 31. Habermas: Sprachspiel, 331.

Die Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen – Geist als Produkt der Evolution

der Beobachter:innenperspektive, mit einer Beschreibung ‚von oben‘, d. h. aus einer Analyse des Wissens der Teilnehmer:innenperspektive, ergänzen.282 Sein Vorhaben hat (nur) deshalb einen kognitiven Halt, weil er sich zumindest in begrenzter Weise auf die realistische Erkenntnis der Naturwissenschaften stützen kann. Stünde ihm nur die Beschreibung ‚von oben‘ zur Verfügung, so gäbe es keinen Grund und keinen kognitiven Halt für eine Detranszendentalisierung der bei Kant und Husserl transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis in Form einer Naturgeschichte. Nicht einmal die Zeit könnte dann als Etwas in der Welt betrachtet werden, sondern müsste im transzendentalen Bereich der Anschauungsformen angesiedelt werden. Zugleich nimmt Habermas aber auch an, dass dem performativen Wissen der sich aus der Teilnehmer:innenperspektive erschließenden Lebenswelt ebenfalls eine Realität entspricht. Indem er sich auf die Naturwissenschaften stützt, entwickelt Habermas ‚von unten‘ die metatheoretische Annahme, dass die Genealogie des menschlichen Geistes und seiner Erkenntnisbedingungen in der Naturgeschichte in Analogie zu der von Darwin beschriebenen Evolution verstanden werden müsse.283 Die Genealogie des Geistes kann er nur als analog zur Evolution beschreiben, weil der Realismus, mit dem die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie die Wirklichkeit beschreibt, ein Realismus ‚für uns‘ ist. Die Tatsachen, die er beschreibt, finden sich nicht in der Wirklichkeit. Die Genealogie des Geistes erschließt sich dieser Perspektive nur fragmentarisch, entzieht sich ihr zum Teil, weshalb das Evolutionsparadigma nur in analoger Weise gelten kann. Eine vollständige Theorie der Genealogie des Geistes lässt sich aus naturwissenschaftlicher Perspektive nicht aufstellen. Durch seine sprachanalytische Rekonstruktion kann Habermas andererseits die in der Lebenswelt als Hintergrundbewusstsein verkörperten Strukturen des Geistes aus der Teilnehmer:innenperspektive, d. h. ‚von oben‘, zugänglich machen und so definieren, wie genau der Geist beschaffen ist, der in der Naturgeschichte entstanden sein soll.284 So kann er ‚von oben‘ die metatheoretische Annahme entwickeln, dass die Naturgeschichte in Analogie zu den auf der soziokulturellen Entwicklungsstufe des Menschen möglich gewordenen Lernprozessen verstanden werden muss.285 Auch diese Beschreibung kann nur eine Analogie sein, denn, was Lernen bedeutet, erschließt sich nur aus der Teilnehmer:innenperspektive, die ebenfalls keinen direkten Zugriff auf den ontologischen Zustand der Welt hat. Die Beschreibung der Naturgeschichte in Analogie zu einem „evolutionären Lernprozeß“286  – so die Synthese aus Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive – bedeutet dann, 282 283 284 285 286

Vgl. Habermas: Realismus, 30. Vgl. Habermas: Einleitung, 26. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 339. Vgl. Habermas: Realismus, 30. Vgl. Habermas: Realismus, 39. Habermas: Sprachspiel, 338.

227

228

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

dass, so wie sich die Erkenntnis heutiger Menschen diskursiv unter dem Einfluss der Erfahrung mit der Widerständigkeit der Wirklichkeit bildet, sich auch der Dualismus der Wissensperspektiven als unsere Erkenntnisbedingung evolutionär als eine Problemlösung unter dem Einfluss von Erfahrungen mit der Wirklichkeit gebildet hat.287 Diese Annahme sichert nun – allerdings auf zirkuläre Weise, denn sie ist bereits auf den realistischen Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaften angewiesen – die Möglichkeit objektiver Naturerkenntnis weiter ab. Denn nur wenn sich die „aus der Perspektive von Teilnehmern philosophisch analysierten Ermöglichungsbedingungen“288 von Erkenntnis, nämlich die in der Sprache intersubjektiv geteilte Lebenswelt, die einen Dualismus von Erklärungen enthält, „aus der Beobachterperspektive als das Ergebnis von […] Auslese- und Anpassungsprozessen“289 begreifen lassen, in dem Sinne, dass sie entstanden sind in der „kognitiven Auseinandersetzung von Homo sapiens mit den Herausforderungen einer riskanten Umwelt“290 und sich in dieser Auseinandersetzung bewährt haben, kann es die Möglichkeit objektiver Naturerkenntnis geben.291 Wenn nämlich die Erkenntnisbedingungen eine Anpassung an die Wirklichkeit darstellen, dann hat diese Wirklichkeit nicht nur über die Erfahrung Einfluss auf unsere Erkenntnis, sondern sie lenkt auch die Prozesse, in denen wir auf der Basis der Lebenswelt und der Erfahrung Erkenntnis konstruieren. Die Art und Weise der Konstruktion ist somit nicht kontingent bzw. willkürlich, weil auch sie eine Anpassung (analog zu evolutionären Anpassungen) an die Natur der Naturgeschichte ist.

Abb. 3 Der Erkenntnisprozess nach Habermas (2). © Hildegard Peters

287 288 289 290 291

Vgl. Habermas: Realismus, 39. Habermas: Sprachspiel, 338. Habermas: Sprachspiel, 338. Habermas: Freiheit, 171. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 338.

Die Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen – Geist als Produkt der Evolution

Der Habermas’sche Versuch einer Beschreibung der Naturgeschichte mit Hilfe des Wissens aus beiden Weltperspektiven hat allerdings, wie Habermas selbst bemerkt, mit einer Aporie zu kämpfen: Die „beiden komplementären Betrachtungsweisen münden in konkurrierende Beschreibungen, die sich nicht nahtlos ineinander übersetzen lassen.“292 Bestimmte Merkmale des menschlichen Geistes, wie die Intentionalität oder Qualia, lassen sich – zumindest bisher – nicht naturwissenschaftlich erklären, auch nicht im Rahmen der Evolutionstheorie. Freie Subjekte lassen sich nach Habermas‘ Auffassung prinzipiell in der naturwissenschaftlichen Perspektive nicht unterbringen. Die Teilnehmer:innenperspektive lässt sich der Beobachter:innenperspektive nicht unterordnen. Aber auch der umgekehrte Versuch, die Beobachter:innenperspektive der Teilnehmer:innenperspektive unterzuordnen, den nach Ansicht von Habermas die idealistische Naturphilosophie unternimmt, indem sie die Perspektive eines höherstufigen Subjektes einführt, „aus der sie das Wissen, das der subjektive Geist reflexiv von sich selbst gewonnen hat, noch einmal objektiviert und in die Darstellung des Bildungsprozesses dieses Geistes einbringt“293 , gelingt nicht. Die Teilnehmer:innenperspektive mit dem implizit enthaltenen Selbstbewusstsein des Menschen lässt sich, dies ist Habermas wichtig, nicht idealistisch derart verabsolutieren, als ob sie dem Menschen wie ein Objekt unter anderen gegeben wäre, denn sie eröffnet sich nur performativ.294 Wir können weder, wie es der starke Naturalismus unterstellt, einen ‚Blick von Nirgendwo‘ auf die Welt einnehmen, der die Teilnehmer:innenperspektive ignoriert,295 noch können wir, wie es nach Habermas die idealistische Naturphilosophie versucht, die Teilnehmer:innenperspektive zur Beobachter:innenperspektive transformieren, indem wir „unseren endlich dimensionierten Geist ins Unendliche expandieren, um vom Standpunkt eines absoluten Beobachters aus die natürliche Evolution als Vorgeschichte des Geistes zu rekonstruieren.“296 Will man die Naturgeschichte beschreiben, so muss man die „nach wie vor getrennt gehaltenen theoretischen Perspektiven vielmehr auf der metatheoretischen Ebene durch die Annahme einer Kontinuität zwischen Natur und Kultur“297 verknüpfen. Das bedeutet: Trivialerweise müssen wir mit den im Laufe von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte entwickelten Bordmitteln der organisierten Forschung [ – den Mitteln der Geisteswissenschaften und der Philosophie, die sich mit dem rationalisierten Verstehen des Wissens

292 293 294 295 296 297

Habermas: Realismus, 30. Habermas: Sprachspiel, 337. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 336. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 338. Habermas: Sprachspiel, 338. Habermas: Realismus, 39.

229

230

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

der Lebenswelt aus der Perspektive von Teilnehmern beschäftigen, und den Mitteln der Naturwissenschaften, die für das rationalisierte Erklärung bzw. Beobachten aus der Beobachterperspektive zuständig sind298  – ] zurechtkommen, wenn wir erklären wollen, wie die genetisch gesteuerten Evolutionsprozesse […] auf die Bedingungen kulturellen Lernens umgestellt werden konnten.299

Die metatheoretische Annahme vom Verlauf der Naturgeschichte kann aber wegen der zumindest nach derzeitigem Erkenntnisstand unvereinbaren Perspektiven keine vollständige Theorie sein. Vielleicht muss man auch sagen, dass sie gar keine Theorie, sondern eher eine Art von Metanarration ist – eine Erzählung. Wir können uns auf der Basis beider Wissensperspektiven zwar eine Vorstellung von der Naturgeschichte machen, indem wir sie als Analogie zur natürlichen Evolution und als Analogie zu einem Lernprozess verstehen.300 Einen befriedigenden, weil durchgehend kohärenten, Begriff von der Naturgeschichte können wir indessen nach Ansicht von Habermas nicht gewinnen.301 Dazu passt, dass Habermas für seine Metanarration den Begriff der ‚Naturgeschichte‘ verwendet: Diese unterscheidet sich laut Jürgen Mittelstraß dadurch von naturwissenschaftlicher Theoriebildung, dass ‚Naturgeschichte‘ als Naturforschung in ihren „sammelnden und ordnenden […] Aspekten“302 verstanden wird. Auch Habermas kann zur Beschreibung der Naturgeschichte nur auf die „verstreuten Evidenzen“303 der Naturwissenschaften zurückgreifen, um diese Aspekte so zu sammeln und zu ordnen, dass die Entstehung der ‚von oben‘ rekonstruierten Erkenntnisbedingungen ‚von unten‘ her verständlich wird. Dabei muss er die Gefahr vermeiden, die Erklärungsmechanismen der Beobachter:innenperspektive, „die sich an einem Objektbereich bewährt haben, aufs Ganze zu verallgemeinern.“304 Denn eine lückenlose Theorie wird sich – zumindest vorerst und gemäß der Habermas’schen Konzeption kommunikativer Vernunft eigentlich prinzipiell – nicht aufstellen lassen, auch wenn Habermas es nicht für ausgeschlossen hält, dass es eine solche Theorie einmal geben wird.305 Die Annahme einer beide Wissensperspektiven umfassenden Naturgeschichte verhindert aber – meint Habermas – die dualistische Aufspaltung der Welt in materielle und immaterielle Entitäten und sichert so die ‚Einheit des Universums‘,306

298 299 300 301 302 303 304 305 306

Vgl. Habermas: Realismus, 30. Habermas: Sprachspiel, 338. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 339. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 339. Mittelstraß: Naturgeschichte, 967. Habermas: Sprachspiel, 339. Habermas: Sprachspiel, 339. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 340. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 339.

Genaueres zur Naturgeschichte des Geistes aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie

denn nach dieser Annahme ist der menschliche Geist im Verlauf der Naturgeschichte aus der einen Wirklichkeit hervorgegangen, auf die er selbst keinen ungefilterten unmittelbaren Zugriff hat.

5.5

Genaueres zur Naturgeschichte des Geistes aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie

Darüber wie genau Habermas sich den Verlauf der Naturgeschichte vorstellt, innerhalb dessen die menschliche kommunikative Rationalität aus der Natur hervorgegangen sein soll, hat das vorherige Kapitel nur sehr rudimentär Aufschluss gegeben. Stattdessen wurde ausführlich analysiert wie, d. h. mittels welcher Methoden, überhaupt etwas über den Verlauf der Naturgeschichte in Erfahrung gebracht werden kann und welche erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten damit verbunden sind. Detailliertere Hinweise darauf, wie genau der ‚evolutionäre Lernprozess‘, der zum Hervorgehen des menschlichen Geistes aus der Natur geführt haben soll, abgelaufen sein könnte, meint Habermas in den naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Theorien von Georg Herbert Mead und Michael Tomasello gefunden zu haben.307 Mead (1863–1931) war Professor für Philosophie und ein bis heute bekannter Sozialpsychologe an der Universität Chicago.308 Tomasello ist Psychologe und befasst sich u. a. am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie auf der Basis von Verhaltensforschung an Kleinkindern und Primaten mit der Frage, was den menschlichen Geist von dem seiner nächsten Verwandten, den Schimpansen, unterscheidet und wie diese Unterschiede in der Evolution entstanden sein könnten.309 Die Forscher:innen des Instituts arbeiten an einem Menschenbild, „das den Homo sapiens in das Kontinuum der Naturgeschichte stellt und aus ihr heraus seine Einzigartigkeit erklärt“310 . Auf diese Weise wollen sie – wie Habermas – eine naturalistische, aber nicht reduktionistische Theorie vom Menschen entwickeln.311 Die folgende Darstellung und Analyse beschränkt sich auf die Forschungsergebnisse und Hypothesen Tomasellos sowie deren Rezeption durch Habermas. Meads Theorien zur Genese des menschlichen Geistes und deren Rezeption durch Habermas werden getrennt davon in Kapitel 6.4 erörtert. Hinsichtlich der Rezeption Tomasellos durch Habermas ist zu beachten, dass Tomasello frühere Annahmen über die Evolution der menschlichen Kognition, auf die Habermas sich in den 307 308 309 310 311

Vgl. Habermas: Freiheit, 176. Vgl. Mead: Geist, 2. Vgl. Müller: Biografie. Vgl. Greffrath: Tier. Vgl. Tomasello: Entwicklung. Greffrath: Tier. Vgl. Greffrath: Tier.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

beiden hier zu Grunde liegenden Aufsätzen stützt312 und die sich beispielsweise in „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ aus dem Jahr 2006313 finden, in jüngeren Publikationen revidiert hat. Das ändert jedoch, wie ein Beitrag von Habermas in der „Zeit“ vom 10. Dezember 2009 zeigt,314 nichts an der Relevanz, die Habermas den Forschungsergebnissen Tomasellos für die Rekonstruktion der Naturgeschichte zuschreibt. 5.5.1

Die Naturgeschichte des menschlichen Geistes nach Michael Tomasello

In älteren Publikationen geht Tomasello von der Annahme aus, der entscheidende evolutionäre Fortschritt der Menschen gegenüber den Primaten bestehe darin, dass Menschen im Gegensatz zu Primaten in der Lage seien, Artgenoss:innen als intentional handelnde Wesen wie sich selbst zu verstehen.315 Experimente haben aber, wie Tomasello erläutert, seitdem gezeigt, dass unter den Primaten die Menschenaffen nicht nur ebenso wie Menschen intentional handeln können, sondern auch in der Lage sind, ebenso wie diese die individuelle Intentionalität ihrer Artgenoss:innen zu begreifen.316 Infolgedessen hat Tomasello seine Theorie dahingehend modifiziert, dass die entscheidende evolutionäre Errungenschaft des Menschen in der kognitiven Fähigkeit bestehe, ein ‚Wir‘ zu erzeugen, indem er Ziele bewusst gemeinsam mit Artgenoss:innen hat und verfolgt, zum Erreichen der gemeinsamen Ziele bewusst gemeinsam mit Artgenoss:innen die Aufmerksamkeit auf Dinge in der Welt richtet und so bewusst gemeinsam mit Artgenoss:innen über Dinge in der Welt Bescheid weiß (gemeinsames Wissen).317 Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von der Fähigkeit zu geteilter bzw. gemeinsamer Intentionalität.318 Tomasello geht davon aus, dass die Kognition des letzten gemeinsamen Vorfahrens von Menschen und Menschenaffen der Kognition heutiger Chimpansen und Bonobos ähnelte.319 Diese heutigen Menschenaffen verfügen über zahlreiche kognitive und soziale Kompetenzen. Beispielsweise verfügen Sie über räumliches Denken, über Objektkategorien und können Mengenverhältnisse einschätzen, wobei

312 313 314 315 316 317

Vgl. Habermas: Freiheit, 176. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 338. Tomasello: Entwicklung. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 15. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 350. Vgl. Tomasello, Michael: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 65 und 71f. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 15. Vgl. Tomasello: Becoming, 7 und 59. 318 Vgl. Tomasello: Ursprünge, 84, 233 und 350. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 15. Vgl. Tomasello: Becoming, 7f, 15 und 43, 319 Vgl. Tomasello: Becoming, 11.

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alle drei Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Nahrungsbeschaffung eine Rolle spielen.320 In diesem Zusammenhang zeigen Menschenaffen darüber hinaus ein Verständnis für Kausalzusammenhänge und dafür wie Probleme unter Voraussetzung dieser Kausalzusammenhänge gelöst werden können.321 In sozialer Hinsicht verfügen Menschenaffen über ein Verständnis der individuellen Intentionalität ihrer Artgenoss:innen,322 d. h. sie verstehen, dass ihre Artgenoss:innen individuelle Ziele verfolgen und Wahrnehmungen haben323 , können vom Verhalten ihrer Artgenoss:innen auf die entsprechenden intentionalen Zustände schlussfolgern und umgekehrt daraus wiederum das zukünftige Verhalten der Artgenoss:innen vorhersagen.324 Menschen, nicht aber Menschenaffen, sind nach Tomasello darüber hinaus zu einem „rekursiven Erkennen geistiger Zustände“325 in der Lage. Rekursives Erkennen bedeutet, dass zwei Individuen, die miteinander interagieren, beide voneinander wissen, dass das jeweilige Gegenüber die eigenen geistigen Zustände erkennt. Würde das eine Individuum dem anderen gegenüber sein rekursives Wissen in Form einer Proposition artikulieren (was für gemeinsame Intentionalität aber nicht notwendig ist), könnte diese beispielsweise lauten: ‚Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß…‘ bzw. – was gleichbedeutend ist – „wir beide wissen […], daß wir etwas gemeinsam […] wissen“326 . Rekursives Erkennen ermöglicht die Entstehung gemeinsamer Ziele, gemeinsamer Aufmerksamkeit und gemeinsamen Wissens – kurz: gemeinsamer Intentionalität.327 Die gemeinsame Aufmerksamkeit zweier Individuen beispielsweise für einen Gegenstand beinhaltet eine triadische Beziehung zwischen den beiden beteiligten Personen und dem Gegenstand der gemeinsamen Aufmerksamkeit.328 Weil die Beziehung triadisch ist, kann auch von einem referentiellen Dreieck gesprochen werden.329 Menschenaffen haben dagegen nach Tomasellos Erkenntnis keine gemeinsamen Ziele. Dies ist nach Tomasello sogar dann so, wenn Schimpansen miteinander kooperieren, indem sie in Gruppen jagen:330 Zwar haben sie in dieser Situation alle das identische Ziel das Beutetier zu fangen und sie wissen auch von ihren

320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330

Vgl. Tomasello: Becoming, 12. Vgl. Tomasello: Becoming, 12. Vgl. Tomasello: Becoming, 12. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 340. Vgl. Tomasello: Becoming, 12. Tomasello: Ursprünge, 341. Tomasello: Ursprünge, 107. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 341. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 78. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 78. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 47. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 187f.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Gruppenmitgliedern, dass jedes von ihnen dasselbe Beutetier fangen will wie sie selbst. Weil sie aber nicht über die Fähigkeit zu rekursivem Erkennen verfügen, wissen sie nicht wechselseitig voneinander, dass das jeweilige Gegenüber weiß, was das individuelle Ziel jedes einzelnen der Gruppenmitglieder ist. Deshalb kann sich kein gemeinsames Ziel bilden. Im Grunde versucht jeder Jäger individuell sein Ziel zu verfolgen und zieht die Handlungen der anderen dazu lediglich instrumentell in Betracht.331 Die Beteiligten arbeiten nicht als ein ‚wir‘ im Sinne eines gemeinsamen Ziels und individuellen Rollen zusammen, um dieses Ziel zu erreichen; vielmehr operieren sie […] ‚im Ich-Modus‘.332 The participants are not working together so much as they are using one another as ‘social tools’ to maximize their own gain.333

Auch bei anderen Formen der Kooperation, die Menschenaffen meist nutzen, um sich in konkurrenzbetonten Situationen durch Kooperation mit Artgenossen einen Vorteil zu verschaffen,334 verfolgen Menschenaffen stets nur ihre individuellen Ziele. Die Kooperation von Menschenaffen ist häufig durch Konkurrenz motiviert.335 Wenn Menschenaffen untereinander durch erlernte Gesten intentional kommunizieren, dann stets nur, um das Gegenüber dazu zu bringen, etwas zu tun, das den eigenen individuellen Zielen entspricht.336 Menschenaffen kommunizieren anders als Menschen nicht, um andere hilfreich über etwas zu informieren, verwenden dementsprechend auch keine Zeigegesten und verstehen die Intention hinter der informativen Zeigegeste eines Menschen nicht.337 Menschenaffen „kommunizieren selbst also nur absichtlich, um etwas imperativ zu verlangen, und verstehen daher die Gesten der anderen nur dann, wenn es sich bei diesen ebenfalls um imperative Aufforderungen handelt […].“338 Menschenaffen sind offensichtlich nicht in der Lage, „aus den Schranken ihrer selbstbezogenen, von jeweils eigenen Interessen gesteuerten Sicht aus[zu]brechen“339 . Ihre Kognition ist stets nur dyadisch, d. h. entweder auf Gegenstände oder auf ein soziales Gegenüber, nie aber auf beides zugleich ausgerichtet.

331 332 333 334 335 336

Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 47. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 47f. Tomasello: Becoming, 13f. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 46. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 42. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 50. Vgl. Tomasello: Becoming, 96. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 81. 337 Vgl. Tomasello: Ursprünge, 16 und 50f. 338 Tomasello: Ursprünge, 53. 339 Habermas: Zeigefinger.

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Menschenkinder dagegen entwickeln nach Tomasello bereits im vorsprachlichen Alter zwischen neun und zwölf Monaten die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität und setzen sie in Episoden gemeinsamer Aufmerksamkeit ein.340 Die der geteilten Intentionalität zu Grunde liegende Fähigkeit zum rekursiven Erkennen, welche Menschenkinder in dem genannten Alter entwickeln, impliziert auch die Fähigkeit zum einem virtuellen Perspektivwechsel. Damit ist gemeint, dass die Kinder sich während sie ein Ding oder eine Situation wahrnehmen zugleich bewusst sind, dass andere anwesende menschliche Individuen dasselbe Ding oder dieselbe Situation aus einer anderen Perspektive wahrnehmen.341 Sie können sich in ihrer Vorstellung in die Perspektive ihres sozialen Gegenübers versetzen und Dinge oder Situationen so zugleich aus ihrer eigenen Perspektive und der Perspektive des Gegenübers konzeptualisieren.342 Menschenaffen sind zu einer solchen zeitgleichen Koordinierung der Perspektiven nicht in der Lage.343 Weil sie keine gemeinsame Aufmerksamkeit für ein Ding oder eine Situation haben, können Sie keine Vorstellung von simultanen unterschiedlichen Perspektiven auf Dinge oder Situationen entwickeln.344 Mit dem Begriff der individuell verschiedenen Perspektiven können wir […] nur dann operieren, wenn wir (1) beide ‚dasselbe Ding‘ betrachten [und wir das auch beide gemeinsam wissen] und wir (2) beide [gemeinsam] wissen, daß der andere auf unterschiedliche Weise darauf achtet.345 Without an awareness of multiple potential ways of seeing the situation, an individual cannot be said to be taking perspectives at all.346

Aus der gemeinsamen Aufmerksamkeit zweier menschlicher Individuen für Dinge in der Welt, d. h. aus gemeinsamen Erfahrungen, resultiert ein gemeinsames Hintergrundwissen dieser beiden Individuen,347 ein geteilter intersubjektiver Kontext,348 der seinerseits die je individuellen Perspektiven enthält.349

340 Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 84f. Vgl. Tomasello: Becoming, 8, 44 und 54. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 152–154. 341 Vgl. Tomasello: Becoming, 16 und 44. 342 Vgl. Tomasello: Becoming, 44. 343 Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 74. 344 Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 75. 345 Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 73. 346 Tomasello: Becoming, 64. 347 Vgl. Tomasello: Naturgeschichte der menschlichen Moral, 85. Vgl. Tomasello: Becoming, 59. 348 Vgl. Tomasello: Ursprünge, 86. 349 Vgl. Tomasello: Becoming, 16.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Gemeinsame Aufmerksamkeit und gemeinsames Hintergrundwissen sind nach Tomasello Voraussetzung für jegliche Form kooperativer Kommunikation.350 Ohne gemeinsame Aufmerksamkeit und gemeinsames Hintergrundwissen werden nach Tomasello nicht einmal Zeigegesten – die seiner Ansicht nach basalste Form menschlicher Kommunikation – hervorgebracht und auch nicht verstanden.351 Die Fähigkeit, zu kommunikativen Zwecken auf Dinge zu zeigen oder den kommunikativen Sinn einer Zeigegeste zu verstehen, setzt nach seiner Auffassung die Fähigkeit zu gemeinsamer Aufmerksamkeit und gemeinsames Hintergrundwissen voraus.352 Worauf eine Zeigegeste jeweils referiert, hängt nach Tomasello vom Kontext ab.353 Deshalb sei ein gemeinsames Hintergrundwissen der Kommunizierenden nötig, damit der:die Adressat:in der Zeigegeste auf die referentielle Intention des Gegenübers schließen kann.354 Ist gemeinsames Hintergrundwissen vorhanden, kann eine Zeigegeste aber natürlich das geteilte Wissen erweitern. Bevor die Sprache sich ontogenetisch entwickelt, werden die Zeigegesten zunächst durch nachahmende Gebärden für die Repräsentation von Gegenständen oder Verhaltensweisen ergänzt.355 Erst danach entwickeln sich nach Tomasello einfache semantische Konventionen, die in einem weiteren Entwicklungsschritt grammatisch verknüpft werden.356 Die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität entwickeln Menschenkinder nach Tomasellos Auffassung kulturübergreifend und unabhängig davon, ob und wie mit ihnen kommuniziert wird.357 D. h. die Entwicklung geteilter Intentionalität folgt einem angeborenen Entwicklungsmechanismus. Die einzige soziale Voraussetzung ist, dass Menschenkinder an sozialen Interaktionen mit Bezug zu Gegenständen teilnehmen.358 Kommunikation ist nach Tomasello für die Entstehung geteilter Intentionalität also keine Voraussetzung.359 Vielmehr ermöglicht die geteilte Intentionalität erst das Verstehen von Zeigegesten, ikonischen Gesten und später den Erwerb einer Lautsprache.360 Die Entstehung geteilter Intentionalität setzt allerdings nach Tomasello die Entstehung mehrere andere Fähigkeiten voraus, deren Entwicklung ebenfalls auf an-

350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360

Vgl. Tomasello: Becoming, 16 und 91. Vgl. Tomasello: Becoming, 91. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 155. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 86f. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 142. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 343. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Tomasello: Becoming, 86. Vgl. Tomasello: Becoming, 86. Vgl. Tomasello: Becoming, 84. Vgl. Tomasello: Becoming, 91f und 114.

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geborenen, d. h. nicht kulturellen sondern natürlichen, Mechanismen beruht:361 erstens auf schon bei Menschenaffen vorhandene Fähigkeiten zum Verstehen individuelle mentaler bzw. intentionaler Zustände sowie zum Verfolgen der Blicke anderer, zweitens die nur bei Menschenkindern auftretende Fähigkeit zum Teilen von Emotionen. Die Fähigkeit zum Teilen von Emotionen zeigen Menschenkinder bereits ab dem Alter von zwei Monaten.362 Das Baby und seine Bezugsperson vollziehen dabei eine Art dyadische (d. h. nicht auf Gegenstände gerichtete) Protokonversation, bei der wechselseitig Emotionen ausgedrückt und übernommen werden, um die soziale Beziehung zu stärken.363 In jüngeren Veröffentlichungen, die von Habermas nicht mehr rezipiert wurden, unterscheidet Tomasello zwischen geteilter Intentionalität, zu der Menschenkinder ab dem Alter von neun bis zwölf Monaten fähig sind, und kollektiver Intentionalität, die Menschenkinder seines Erachtens im Alter von drei bis sechs Jahren erwerben.364 Die Entstehung kollektiver Intentionalität setzt das Vorhandensein geteilter Intentionalität voraus und ist zudem von kommunikativen Erfahrungen abhängig, insbesondere von der kommunikativen Interaktion mittels einer propositional ausdifferenzierten Sprache.365 Mit der Fähigkeit zu geteilter Intentionalität sind Menschenkinder in der Lage, zugleich mit ihrer eigenen Perspektive auch die Perspektive einer zweiten Person einzunehmen. Mit der Fähigkeit zu kollektiver Intentionalität kennen Menschenkinder neben ihrer eigenen Perspektive und den Perspektiven zweiter Personen außerdem die jeweils „kollektiv anerkannte Perspektive auf Dinge“366 . Zusätzlich zu verschiedenen subjektiven Perspektiven, gibt es damit auch eine kulturell verankerte und vermittelte Perspektive, die Tomasello als ‚objektiv‘ bezeichnet, wobei er das Wort in Anführungszeichen setzt.367 Zu dieser Perspektive gehört das umfassende kulturelle, überwiegend sprachlich vermittelte Hintergrundwissen, über das alle Mitglieder der Kultur, die zu kollektiver Intentionalität in der Lage sind, verfügen.368 Die ‚objektive‘ Perspektive hilft dabei, Widersprüche zwischen verschiedenen subjektiven Perspektiven aufzulösen und entsteht deshalb außer durch das Erlernen des Sprachgebrauchs u. a. auch durch die Bearbeitung solcher Widersprüche.369 Je nachdem kann der Widerspruch ent-

361 362 363 364 365 366 367 368 369

Vgl. Tomasello: Becoming, 86f. Vgl. Tomasello: Becoming, 86. Vgl. Tomasello: Becoming, 54. Vgl. Tomasello: Becoming, 18f, 46 und 77. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 123–183. Vgl. Tomasello: Becoming, 78, 84 und 87. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 140. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 140. Vgl. Tomasello: Becoming, 61. Vgl. Tomasello: Becoming, 61. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 20. Vgl. Tomasello: Becoming, 76.

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weder dadurch aufgelöst werden, dass eine subjektive Perspektive falsch und die andere richtig ist, oder dadurch, dass ein objektiver Zustand aus zwei verschiedenen Perspektiven unterschiedlich erscheint.370 Menschenkinder, die über die Vorstellung einer ‚objektiven‘ Perspektive verfügen, sind darüber hinaus auch in der Lage zu verstehen, dass ein und dasselbe Objekt je nach Kontext und Perspektive mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden kann.371 Die Fähigkeit geteilter Intentionalität, die beinhaltet zugleich mindestens zwei unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, führt – wie Tomasello es ausdrückt – zu einem „perspektivischen Sprung im Ei der [subjektiven] Erfahrung“, der auf den „Weg zu einem Denken, das in einem gewissen Sinne ‚objektiv‘ ist“372 , führt. Mit der Entstehung kollektiver Intentionalität wird der Sprung im Ei der menschlichen Erfahrung […] zu einem echten Spalt: Das Individuum kontrastiert seine eigene Perspektive nicht mehr mit der eines spezifischen anderen – der Blick von hier und dort; vielmehr kontrastiert es seine eigene Perspektive mit einer Art generischer Perspektive von jedermann auf Dinge, die objektiv wirklich, wahr und richtig aus jeder beliebigen Perspektive sind – ein nichtperspektivischer Blick von nirgendwo.373

Die Phylogenese und die historische Entwicklung der menschlichen Kognition sind nach Tomasello folgendermaßen verlaufen: Die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität ist seines Erachtens eine Anpassung an die Notwendigkeit von Kooperation.374 Auf Grund sich ändernder Umweltbedingungen erhöhte vor vermutlichen 2 Millionen Jahren die Kooperation bei der Nahrungsbeschaffung, z. B. durch gemeinschaftliche Jagd, im Gegensatz zur individuellen Nahrungsbeschaffung für Vertreter:innen der Gattung Homo die Chance zu überleben und sich fortzupflanzen.375 Kooperationsfähigkeit wurde so zu einem Anpassungsvorteil.376 Spätestens beim Homo heidelbergensis vor 400 000 Jahren war, so Tomasello, die gemeinschaftliche Nahrungssuche obligatorisch.377 Wechselseitige Abhängigkeit der Individuen voneinander und soziale Selektion stabilisierten die evolutionäre Tendenz zur gemeinschaftlichen Nahrungssuche: Wer sich nicht kooperativ verhielt oder wenigstens kooperativ erschien wurde sozial isoliert und dadurch auch in seiner:ihrer Überlebens- und

370 371 372 373 374 375 376 377

Vgl. Tomasello: Becoming, 76. Vgl. Tomasello: Becoming, 76f. Beide Zitate: Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 111. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 181. Vgl. Tomasello: Urspünge, 233f. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 61. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 19. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 61f.

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Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigt.378 So entwickelten sich die Vorfahren des heutigen Menschen evolutiv zu ultra-kooperativen379 Wesen. Die Fähigkeit gemeinsame Ziele, gemeinsame Aufmerksamkeit und einen gemeinsamen Wissenshintergrund zu entwickeln, verbesserte die Kooperationsfähigkeit der Individuen, die über diese Fähigkeit verfügten, gewaltig, weil sie die Koordinierung der Zusammenarbeit erleichterte.380 Evolutiv wurde die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität deshalb positiv selektiert,381 und wurde so zu einem Merkmal, über das heute alle Menschen verfügen. Individuen, die aufbauend auf der geteilten Intentionalität auch noch Formen kooperativer Kommunikation (zunächst Zeigegesten und ikonische Gesten, später eine propositionale Sprache) entwickelten, wodurch sie ihre Zusammenarbeit noch besser koordinieren und den gemeinsamen Wissenshintergrund vergrößern konnten, hatten entsprechend einen noch größeren Vorteil im Hinblick auf Überleben und Fortpflanzung.382 Die weiteren Schritte der phylogenetischen bzw. historischen Entwicklung der menschlichen Kognition bis hin zur kollektiven Intentionalität sind, so wie sie Tomasello beschreibt,383 in ihrer Abfolge mit den bereits beschriebenen ontogenetischen Entwicklungsschritten weitgehend identisch. Auch die Art und Weise, wie die entsprechenden Entwicklungsschritte das Denken prägen, beschreibt Tomasello für Ontogenese und Phylogenese weitgehend identisch. Nicht die Kommunikationsfähigkeit, sondern die Entstehung der Fähigkeit zu geteilter Intentionalität sieht Tomasello als das entscheidende und einzige phylogenetische Ereignis in der biologischen Evolution des Menschen an.384 Die Entstehung geteilter Intentionalität ist demnach an eine veränderte genetische Ausstattung des Menschen im Vergleich zu seinen evolutionären Vorgängern gebunden. Das genannte Ereignis in der biologischen Evolution des Menschen ist nach Tomasello aber das einzige biologisch-evolutive Ereignis, das nötig ist, um die Kognition des heutigen Menschen zu erklären.385 Die geteilte Intentionalität ermöglichte den Menschen – angefangen bei der Sprache – besondere neue Formen des kulturellen Lernens,386 welche die Entwicklung der Kultur und der Kognition von ihrer genetischen Grundlage entkoppelten.387 Mit der Fähigkeit zur geteilten Intentionalität

378 379 380 381 382 383 384 385 386 387

Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 62. Vgl. Tomasello: Becoming, 11. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 62–64. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 209. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 64. Vgl. Tomasello: Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 123–183. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 18–20. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 18–20. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 17. Vgl. Habermas: Zeigefinger.

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hat sich die kulturelle Evolution des menschlichen Geistes von der biologischen Evolution abgekoppelt. Anders, so Tomasello, lassen sich die enormen kognitiven und kulturellen Leistungen des Menschen nicht erklären, denn die Zeit, die seit der evolutionären Abspaltung des Menschen von den gemeinsamen Vorfahren mit den heutigen Menschenaffen vergangen ist, ist zu kurz, um diese Veränderungen allein auf der Basis von Mechanismen der natürlichen Evolution zu erklären.388 Auf der Basis von Sprache und neuen Formen kulturellen Lernens wird die besondere kulturelle Evolution des Menschen möglich, weil er im Gegensatz zu den Menschenaffen seine Erfahrungen und sein Wissen von Generation zu Generation weitergeben kann.389 Durch Imitation und Innovation akkumulieren so kulturelle Veränderungen über die Zeit hinweg390 und auch das kulturelle Hintergrundwissen verändert und erweitert sich. „Dieser ‚Wagenhebereffekt‘ ermöglicht die Entstehung des historischen Menschen in einer evolutionären Zeitspanne, in der bloße Mutationen sie nie hätten bewirken können.“391 Entsprechend seiner These von nur einem einzigen biologisch-evolutionären Ereignis geht Tomasello nicht davon aus, dass die Mechanismen des Spracherwerbs angeboren, also auf dem Wege biologischer Evolution erworben sind, sondern dass Kinder sich den Sprachgebrauch während ihrer Ontogenese allein auf der Basis der ‚Wir-Intentionalität‘ durch kulturelles Lernen erarbeiten.392 5.5.2

Rezeption Tomasellos durch Habermas

Zu Recht sieht Habermas Tomasellos Vorstellung davon, wie die menschliche Kognition funktioniert, als Bestätigung seiner eigenen Überlegungen zur kommunikativen Vernunft an.393 Tatsächlich kann man unschwer die triadische Beziehung gemeinsamer Aufmerksamkeit im Entwurf Tomasellos mit der von Habermas postulierten Verschränktheit von Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive (d. h. mit Intersubjektivität) als Erkenntnisbedingung identifizieren.394 Die Verschränkung dieser Wissensperspektiven ist – wenn man Tomasello durch die Brille der Habermas’schen Philosophie liest – zusammen mit den evolutionären Anfängen der menschlichen Lebensform entstanden und das Erlernen des Gebrauchs einer Sprache führt Kleinkinder zum Einnehmen dieser Perspektiven, was ihnen erst die Objektivierung der Welt möglich macht: „Auf der horizontalen Ebene übernehmen

388 389 390 391 392 393 394

Vgl. Tomasello: Entwicklung, 14. Vgl. Greffrath: Tier. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 53. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 53. Greffrath: Tier. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Greffrath: Tier. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Habermas: Freiheit, 177.

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die Beteiligten mit der Blickrichtung auch die Intention des jeweils anderen, sodass eine soziale Perspektive entsteht […].“395 Die so entstandene gemeinsame Perspektive „ist konstitutiv für den Abstand nehmenden objektivierenden Blick auf die Welt“396 , denn erst durch ihn können die Kinder etwas über die Welt vom Standpunkt der anderen aus lernen.397 Wegen der offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Tomasellos und Habermas‘ Vorstellung von der menschlichen Kognition kann Habermas die Forschungsergebnisse Tomasellos nutzen, um genauer angeben zu können, wie die menschlichen Erkenntnisbedingungen, d. h. der ‚objektive Geist‘, im Verlauf der Evolution aus der Natur hervorgegangen sein könnten und wie es geschehen kann, dass in der Ontogenese der ‚subjektive Geist‘ durch den Anschluss an den ‚objektiven Geist‘ entsteht.398 Habermas entwickelt allerdings an einer entscheidenden Stelle eine eigene Lesart der Hypothese Tomasellos:399 Da Tomasello nach Ansicht von Habermas nicht überzeugend erklären kann, wie rekursives Erkennen bzw. geteilte Intentionalität in der Evolution entsteht, schlägt er vor, davon auszugehen, dass diese nicht, wie Tomasello annimmt, eine Voraussetzung für das Verstehen der Zeigegeste ist, sondern, dass der Einsatz der Zeigegeste selber erst zum Auftreten gemeinsamer Aufmerksamkeit und infolgedessen zu gemeinsamem Wissen führt bzw. evolutionär geführt hat.400 Die individuelle Aufmerksamkeit zweier Individuen wird demnach sowohl phylo- als auch ontogenetisch erst durch die Zeigegeste zu einer gemeinsamen. Dies sei möglich, so Habermas, da man dem Symbol der Zeigegeste seine Kommunikationsfunktion gewissermaßen ansehe.401 Der evolutionär entscheidende Schritt wäre demnach „unmittelbar die Integration der bis dahin selbstbezogenen Intentionalität mit einer von ihrer genetischen Fixierung sich ablösenden Gestenkommunikation“402 . Durch diese Lesart betont Habermas in besondere Weise die Bedeutung der Kommunikation für die menschliche Kognition, für die Entstehung des gemeinsamen Hintergrundwissens und für die kulturelle Evolution des Menschen. Warum ist Habermas diese Variation der These Tomasellos so wichtig? Durch seine Analyse der Sprachpragmatik konnte Habermas zeigen, dass für einen Sprecher im Vollzug einer Sprachhandlung, mit der er intentional auf die Welt Bezug

395 396 397 398 399 400 401 402

Habermas: Zeigefinger. Habermas: Freiheit, 176. Vgl. Habermas: Freiheit, 176. Vgl. Simon: Lebenswelt, 247. Vgl. dazu auch Simon: Lebenswelt, 249–252. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Vgl. Habermas: Zeigefinger. Habermas: Zeigefinger.

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nimmt, performativ, implizit und nicht hintergehbar ein Handlungswissen verbunden, zu dem auch die Fähigkeit freier Stellungnahme zu Geltungsansprüchen gehört. Dies dürfte entsprechend auch für Kommunikationshandlungen, die nicht auf propositional ausdifferenzierter Lautsprache beruhen, wie die Zeigegeste, gelten. Denn auch von ihr kann man behaupten, dass die beiden Funktionen der Tatsachendarstellung der Kommunikation gleichursprünglich ineinander greifen.403 Entsteht, wie Habermas meint, die gemeinsame Aufmerksamkeit erst durch die Verwendung der kommunikativen Zeigegeste, so ist die Verständigung über die Welt und somit die Möglichkeit zur Erkenntnis der Welt konstitutiv verwiesen auf die Teilnehmer:innenperspektive handelnder Personen und das mit ihr verbundene implizite Handlungswissen. Gemäß der Theorie-Variante Tomasellos könnte dagegen gemeinsame Aufmerksamkeit als Voraussetzung für die kulturelle Evolution des Menschen allein auf eine neue kognitive Leistung des Menschen zu rekursivem Erkennen, nicht aber auf kommunikatives Handeln zurückgeführt werden. Darin scheint Habermas die Gefahr zu sehen, dass die Teilnehmer:innenperspektive bzw. die Lebenswelt auf individuelle, subjektive mentale Zustände und diese wiederum auf Hirnzustände, also etwas, das aus der Beobachter:innenperspektive zugänglich ist, reduziert werden könnte, weil das gemeinsame Hintergrundwissen sich ursprünglich ohne eine kommunikative Handlung bildet. Unabhängig von der Frage, ob diese Befürchtung in Bezug auf Tomasellos Theorie-Variante berechtigt ist, sprechen einige Argumente gegen die Habermas’sche Theorie-Variante. Erstens verwenden Menschenaffen, wie bereits erläutert, durchaus individuell erlernte Gesten auf intentional kommunikative Weise, um Artgenoss:innen zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen.404 Aus dieser kommunikativen Verwendung von Gesten resultiert bei Menschenaffen aber, anders als es nach der Habermas’schen Theorie-Variante der Fall sein müsste, keine gemeinsame Aufmerksamkeit, keine gemeinsamen Ziele und keine gemeinsame Intentionalität. Zweitens müsste gemäß der Habermas’schen Theorievariante ein Menschenaffe, der in einem geeigneten Kontext mit einer Zeigegeste, durch die ein menschliches Gegenüber ihn über etwas informieren möchte, konfrontiert wird, diese Geste verstehen und folglich eine mit dem menschlichen Gegenüber geteilte Aufmerksamkeit entwickeln. Dies ist aber nicht der Fall. Nach Tomasello sind Menschenaffen weder in der Lage eine informative Zeigegeste zu verstehen noch eine solche Zeigegeste hervorzubringen, um ein Gegenüber über etwas zu informieren.405 Dementsprechend entstehen aus der Konfrontation mit der Zeigegeste bei Menschenaffen auch kein rekursives Erkennen und keine geteilte

403 Vgl. Habermas: Freiheit, 173. 404 Vgl. Tomasello: Ursprünge, 31–67. 405 Vgl. Tomasello: Ursprünge, 46–53. Vgl. Tomasello: Becoming, 103.

Genaueres zur Naturgeschichte des Geistes aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie

Aufmerksamkeit. Das Verstehen der Zeigegeste setzt offenbar bestimmte kognitive Voraussetzungen (nach Tomasello geteilte Intentionalität) voraus, die bei Menschenaffen nicht gegeben sind. Drittens hat sich in experimentellen Settings gezeigt, dass die Fähigkeit zum bewussten Hervorbringen (und Verstehen) einer Zeigegeste zu informativen Zwecken bei Menschenkindern nicht trainiert werden kann.406 Die Fähigkeit entsteht also entgegen der Habermas’schen Annahme nicht durch Teilnahme an kommunikativen Handlungen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass sich bei Menschenkindern im Alter von ungefähr elf bis zwölf Monaten durch Teilnahme an sozialen Interaktionen auf natürliche Weise und kulturunabhängig eine kognitive Fähigkeit (nach Tomasello die Fähigkeit zu geteilter Intentionalität) entwickelt, die das Hervorbringen und Verstehen einer informativen Zeigegeste ermöglicht.407 Dafür, dass die Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit auf einer natürlichen, genetisch verankerten, menschlichen Anlage beruht, die sich in der Ontogenese unabhängig von der Teilnahme an kommunikativen Handlungen allein unter der Voraussetzung der Teilnahme an sozialen Interaktionen automatisch entwickelt, spricht viertens auch, dass autistische Kinder Zeigegesten weder zu informativen noch zu expressiven Zwecken nutzen.408 Offenbar ist die natürliche Entwicklung geteilter Intentionalität bei diesen Kindern gestört, so dass die Zeigegeste für sie keinen Sinn ergibt. Fünftens spricht für Tomasellos Theorie-Variante, dass Babys schon lange bevor sich die Fähigkeit zu gemeinsamer Aufmerksamkeit entwickelt motorisch dazu in der Lage sind, Zeigegesten hervorzubringen.409 Auch besteht wohl schon in diesem frühen Alter eine Motivation für die Verwendung der Zeigegeste, denn die Babys könnten dadurch andere auffordern, etwas für Sie zu tun.410 Trotzdem verwenden Babys in diesem frühen Alter bis zum Alter von ca. einem Jahr die Zeigegeste nicht.411 Dies spricht dafür, dass sich zuerst die natürliche Fähigkeit zu geteilter Intentionalität entwickeln muss, bevor ein Verständnis für die Zeigegeste entstehen kann. Dies muss nicht unbedingt, wie Habermas zu befürchten scheint, bedeuten, dass die Lebenswelt bzw. die Teilnehmer:innenperspektive mit ihren lebensweltlichen Hintergrundannahmen auf die Natur der Naturwissenschaften reduziert werden kann. Zum einen setzt das Entstehen geteilter Intentionalität nach Tomasello zwar keine intentionale Kommunikation voraus, wohl aber Intersubjektivität in dem Sinne, dass es mindestens zwei Subjekte mit unterschiedlichen Perspektiven auf die

406 407 408 409 410 411

Vgl. Tomasello: Becoming, 111. Vgl. Tomasello: Becoming, 110f. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 156. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 353. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 353. Vgl. Tomasello: Ursprünge, 353.

243

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Welt geben muss, die wechselseitig von ihren Perspektiven wissen und zudem in der Lage sein müssen, zugleich ihre eigene Perspektive sowie (virtuell) die Perspektive ihres Gegenübers einzunehmen, so dass sie gemeinsam etwas über die Welt wissen können. Dass diese Fähigkeit auf individuelle Gehirnzustände reduziert werden könnte, ist alleine schon deshalb unwahrscheinlich, weil dazu mindestens zwei Individuen notwendig sind. Auch ohne kommunikatives Handeln ist der besondere Modus, in dem Menschen, die zu geteilter Intentionalität fähig sind, auf die Welt schauen, insbesondere in seinem Entstehen auf die Interaktion mit und die Beziehung zu einem sozialen Gegenüber angewiesen, dessen Perspektive übernommen werden kann. Insofern kann man auch bei Tomasello davon sprechen, dass Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive gleichursprünglich sind – nur dass es sich bei den Teilnehmer:innen nicht um Teilnehmer:innen am kommunikativen Handeln sondern an sozialen Interaktionen mit einem gemeinsamen Ziel handelt. Auch ohne kommunikatives Handeln ist die Beziehung ‚triadisch‘ strukturiert, d. h. eine Beziehung zweier Subjekte zugleich zueinander und zu einem Gegenstand in der Welt. Zum anderen spricht gegen die Reduzierbarkeit des menschlichen Denkens auf neuronale Zustände, dass die kulturelle Evolution nach Tomasello mit der Entstehung geteilter Intentionalität nicht beendet ist, sondern damit gerade erst beginnt. Unmittelbar nach der Entstehung geteilter Intentionalität setzt nach Tomasello sowohl phylo- als auch ontogenetisch die kommunikative Sozialisierung des Menschen ein – angefangen mit der gestischen Kommunikation und fortgesetzt durch das Erlernen einer propositional ausdifferenzierten Sprache. Die Auswirkungen dieser kommunikativen Sozialisierung auf das menschliche Denken sind nach Tomasello enorm. Insbesondere das Erlernen der propositional ausdifferenzierten Sprache trägt, wie bereits erläutert, entscheidend dazu bei, dass sich u. a. die Fähigkeit zu kollektiver Intentionalität und damit verbunden die Idee von Objektivität entwickelt. Dementsprechend ist es durchaus plausibel, davon auszugehen, dass die Einflüsse des kommunikativen Handelns sowie des damit notwendig verbundenen performativen Handlungswissens die menschliche Kognition derart prägen, dass die besonderen Merkmale der menschlichen Kognition auf der Entwicklungsstufe kollektiver Intentionalität nicht auf Kognition auf der Stufe geteilter Intentionalität und erst recht nicht auf neuronale Zustände reduziert werden können. Auch wenn die Lebenswelt auf der Stufe kollektiver Intentionalität aus dem gemeinsamen Hintergrundwissen der geteilten Intentionalität durch sprachlich vermittelte Erweiterung hervorgegangen ist, lässt sich demnach erstere nicht auf letztere reduzieren, weil die impliziten, notwendigen Präsuppositionen des kommunikativen Handelns (die Teilnehmer:innenperspektive) dem im Wege stehen. Eine Infragestellung der Habermas’schen Erkenntnistheorie könnte man allerdings darin sehen, dass Tomasello, nicht aber Habermas, Menschenaffen, die nicht über geteilte Intentionalität, d. h. nicht über eine Verschränkung der Perspektiven

Genaueres zur Naturgeschichte des Geistes aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie

verfügen, durchaus Erkenntnisfähigkeit zuschreibt. Tomasello geht durchaus davon aus, dass Menschenaffen über Intentionalität und insofern auch über einen kognitiven Zugang zur Welt verfügen:412 Sie besitzen seinen Forschungsergebnissen nach kognitive Repräsentationen senso-motorisch wahrgenommener Gegenstände und sind in der Lage kategoriale und quantitative Beziehungen zwischen diesen Gegenständen herzustellen.413 Sie besitzen zudem ein Verständnis dieser Gegenstände, das ihnen produktives Schlussfolgern und einsichtsvolles Problemlösen ermöglicht.414 Demnach wäre ein grundlegendes Erkennen der Welt, anders als Habermas annimmt, auch ohne die Fähigkeit zum Einnehmen der Teilnehmer:innenperspektive möglich. Das Problem wurde bereits angesprochen. Bei genauerem Hinsehen wird aber klar, dass die Habermas’schen Überlegungen mit denen von Tomasello nicht grundsätzlich im Konflikt stehen. Auch Habermas geht davon aus, dass auch nicht menschliche Lebewesen Erfahrungen machen und über ein Bewusstseinsleben verfügen.415 Die sinnliche Erfahrung verlasse dabei aber nie die „Subjektivität eines Bewusstseinslebens“416 . Auch Tomasello gesteht ebenso wie Habermas die Fähigkeit zur Objektivität dagegen nur dem Menschen zu. Beide gehen also davon aus, dass das menschliche Erkennen der Welt von grundlegend anderer Art ist, als das anderer Säugetiere. Insofern unterscheiden sich beider Vorbehalte gegenüber der reduktiven Naturalisierung des menschlichen Geistes von den Vorbehalten anderer Vertreter:innen der Philosophie des Geistes, die nicht zwischen menschlicher und tierischer Intentionalität differenzieren: Während letztere nur die Schwierigkeit sehen, zu erklären, wie sich die Materie des Gehirns auf etwas in der Welt beziehen kann (vgl. Kapitel 4.4.1), steht bei Habermas das performativ notwendig vorausgesetzte Hintergrundbewusstsein der Lebenswelt der Naturalisierung der menschlichen Intentionalität entgegen, weil eben die besondere Form menschlicher Intentionalität nur unter Einbezug der Teilnehmer:innenperspektive möglich wird. Insofern die intersubjektive Teilnehmer:innenperspektive (nicht von kommunikativ Handelnden aber von Teilnehmer:innen an Interaktionen mit einem gemeinsamen Ziel) auch nach Tomasello für den spezifischen kognitiven Zugang des Menschen zur Welt entscheidend ist, steht diese Teilnehmer:innenperspektive auch gemäß der Theorie Tomasellos der Reduktion menschlicher Intentionalität auf Hirnzustände entgegen. Insofern für die kollektive Intentionalität auch die kommunikative Sozialisierung der menschlichen Kognition entscheidend ist, steht der Reduktion dieser Form von Intentionalität auch nach Tomasello die Teilnehmer:innenperspektive kommunikativ Handelnder entgegen. 412 413 414 415 416

Vgl. Tomasello: Entwicklung, 26–28. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 26. Vgl. Tomasello: Entwicklung, 26. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 322. Habermas: Sprachspiel, 322.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

5.6

Willensfreiheit bzw. mentale Verursachung nach Habermas

Wie der ‚objektive‘ und der ‚subjektive‘ Geist des Menschen nach Habermas‘ Vorstellung im Lauf der Evolution entstanden sind und wie der ‚subjektive‘ Geist ontogenetisch seiner Auffassung nach entsteht, wurde in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich erläutert. Auf der Grundlage seines gesamten bisher erläuterten Theoriegebäudes lässt sich Habermas‘ Antwort auf die deterministische bzw. physikalistische bzw. naturalistische Bestreitung von Willensfreiheit und seine Lösung für das Problem der mentalen Verursachung wie folgt zusammenfassen: Willensfreiheit, so konnte gezeigt werden, ist eine Präsupposition, die Teilnehmer:innen kommunikativen Handelns notwendig performativ für sich in Anspruch nehmen. Kommunikationsteilnehmer:innen können nicht anders, als sich performativ als frei zu Gründen Stellung nehmende Urheber:innen ihres Urteilens, Wollens und Handelns zu begreifen. Wenn man zudem wie Habermas davon ausgeht, dass die kommunikative Verschränkung der Wissensperspektive von Teilnehmer:innen und Beobachter:innen Bedingung dafür ist, dass Menschen überhaupt etwas von der Welt erkennen können, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass das Wissen der Beobachter:innenperspektive in irgendeiner Weise Vorrang vor dem Wissen der Teilnehmer:innenperspektive haben könnte. Nur weil sich aus der Beobachter:innenperspektive keine Hinweise auf die Willensfreiheit finden lassen, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Nun gehört es zum alltäglichen Verständnis von Willensfreiheit, dass sie im Bereich dessen, was aus der Beobachter:innenperspektive zugänglich ist, Auswirkungen hat, wenn Menschen ihr Handeln von ihrem Willen bestimmen lassen. Wie ist dies möglich? Habermas rekonstruiert diesen Vorgang unter Einbezug des Wissens aus Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive folgendermaßen: Der ‚objektive Geist’, d. h. die kommunikative, überindividuelle Vernunft, ist die Dimension der Handlungs- und Willensfreiheit.417 Durch die kommunikative Sozialisierung der individuellen Kognition, die damit zum ‚subjektiven Geist‘ wird, erhält der:die Einzelne Zugang zu dieser Dimension, in der sich „die rationale Motivation von Überzeugungen und Handlungen nach logischen, sprachlichen und pragmatischen Regeln, die sich nicht auf Naturgesetze reduzieren lassen“418 , vollzieht. Ebenso wie Wolfgang Prinz führt Habermas die Entstehung des Selbstbewusstseins von Akteur:innen, Urheber:innen der eigenen Entscheidungen zu sein, auf Sozialisationsprozesse zurück.419 Er würde Prinz sicher auch dahingehend zu-

417 Vgl. Habermas: Freiheit, 178. 418 Habermas: Freiheit, 178. 419 Vgl. Prinz: Kritik, 203f. Vgl. Habermas: Freiheit, 183–185.

Willensfreiheit bzw. mentale Verursachung nach Habermas

stimmen, dass das Ichbewusstsein entsteht, weil Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen für Teilnehmer:innen jeweils eine „selbstförmige Rolle“420 bereit halten (vgl. Kapitel 3.2.5.1). Diese selbstförmige Rolle hält die Sprachpragmatik für jeden Menschen bereit. Tatsächlich finden mit jeder kommunikativen Handlung die von Prinz erwähnten „Attributionsdiskurse“421 statt, bei denen die Kommunikationsteilnehmer:innen sich gegenseitig Personalität und Willensfreiheit unterstellen und auch für sich selbst in Anspruch nehmen (vgl. Kapitel 3.2.5.1). Der Psychologe Prinz erfasst in diesen Überlegungen nach Ansicht von Habermas sehr gut, inwiefern der ‚objektive Geist‘ gegenüber dem individuellen Bewusstsein eine Eigenständigkeit hat und dass der ‚subjektive Geist‘ durch den Anschluss an den ‚objektiven Geist‘ entsteht.422 Im Gegensatz zu Prinz, der nach Habermas auf Grund seines szientistischen Naturverständnisses „von der kausalen Geschlossenheit eines naturgesetzlich determinierten Weltgeschehens a priori ausgeht“423 und das Ichbewusstsein deshalb zur Illusion erklären muss, verzichtet Habermas aber darauf, die Teilnehmer:innenperspektive der Beobachter:innenperspektive unterzuordnen.424 Er geht davon aus, dass es sich bei der Präsupposition des freien Willens und des Personseins zwar um ‚Artefakte‘ im Sinne einer „künstlich erzeugte[n] Realität [handelt], die sich allein im Medium menschlicher Kommunikation erhält“425  – deshalb lässt sich diesem ‚Ich‘ auch kein neuronales Korrelat, keine Entität in der objektivierten Welt zuweisen426  – leitet daraus aber nicht ab, dass es sich bei dieser sozialen Konstruktion um eine Illusion ohne Wirkung handelt.427 Vielmehr vertritt Habermas die Ansicht, dass der Anschluss des individuellen Bewusstseins an den ‚objektiven Geist‘ das Gehirn in einer Weise beeinflusst, die es dem betreffenden Menschen ermöglicht, eine Person zu sein, die im „Raum der Gründe“428 frei zu diesen Stellung nehmen kann.429 Die sprachliche Sozialisierung des Bewusstseins disponiert das individuelle Gehirn für den Anschluss an „die Programme von Gesellschaft und Kultur“430 . Durch sie erwerben Kommunikationsteilnehmer:innen die Fähigkeit, sich als Urheber:innen frei im ‚Raum der Gründe‘

420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430

Prinz: Kritik, 203. Prinz: Kritik, 203. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 319f. Vgl. Habermas: Freiheit, 186. Habermas: Sprachspiel, 319. Vgl. Habermas: Freiheit, 183–185. Habermas: Sprachspiel, 319. Vgl. Habermas: Freiheit, 184f. Vgl. Habermas: Freiheit, 185. Habermas: Freiheit, 178. Vgl. Habermas: Freiheit, 178. Habermas: Freiheit, 181.

247

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

bewegen zu können:431 „Als Aktoren entwickeln sie das Bewusstsein, so oder anders handeln zu können, weil sie im öffentlichen Raum der Gründe mit Geltungsansprüchen konfrontiert sind, die zu Stellungnahmen auffordern.“432 Die Fähigkeit, tatsächlich so oder anders handeln zu können, wird dadurch möglich, dass der ‚objektive Geist‘ gegenüber den Gehirnen der Kommunikationsteilnehmer:innen eine strukturbildende Kraft erlangt,433 die es ihnen ermöglicht, frei gewählte Gründe zu handlungswirksamen neuronalen Ursachen werden zu lassen – eine Anforderung, die bereits im einleitenden Kapitel dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Gründen und Ursachen erwähnt wird. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von „mentaler Verursachung“ und einer „kausalen Einwirkung eines der Beobachtung entzogenen Geistes auf beobachtbare Prozesse im Gehirn“.434 Das Weltgeschehen ist also nur a posteriori, d. h. so wie es uns durch unsere Erkenntnisbedingungen aus der Beobachter:innenperspektive erscheint, naturgesetzlich determiniert. Habermas stellt die durchgängige kausale Verknüpfung neurologisch beobachtbarer Zustände nicht in Frage und schließt doch eine – dementsprechend naturwissenschaftlich nicht erkennbare – Einwirkung des ‚objektiven Geistes‘ auf die Gehirnprozesse nicht aus, die Willensfreiheit ermöglicht.435 Genauer zu begreifen, wie dies vonstattengehen soll, übersteigt aber seines Erachtens die Fähigkeiten unseres kognitiven Apparates, der nicht darauf eingerichtet ist, zu begreifen, „wie die deterministischen Wirkzusammenhänge der neuronalen Erregungszustände mit einer kulturellen Programmierung (die als eine Motivation durch Gründe erlebt wird) interagieren können“436 . Unsere Kognition ist letztlich demnach nicht in der Lage, die beiden Perspektiven ineinander zu überführen. Weil Menschen die Natur immer nur perspektivisch erfassen können, bleibt es, wie Habermas feststellt, letztendlich bei der schon von Kant erkannten Antinomie: „Es ist unbegreiflich, wie die Kausalität der Natur und die Kausalität aus Freiheit in Wechselwirkung treten können.“437 Dass es eine konsistente Theorie und/oder einen empirischen Nachweis mentaler Verursachung geben könnte, hält Habermas entsprechend für höchst unwahrscheinlich. Er hält es andererseits nicht für vollkommen unmöglich, etwas über die Natur des menschlichen Geistes und über die Wirkweise des Geistes in Erfahrung zu bringen. Dazu bleibt uns seines Erachtens nichts anderes übrig, als uns auf das Wissen

431 432 433 434 435 436 437

Vgl. Habermas: Freiheit, 178. Habermas: Freiheit, 180. Vgl. Habermas: Freiheit, 181. Habermas: Freiheit, 178f. Vgl. Habermas: Freiheit, 181f. Habermas: Freiheit, 179. Habermas: Freiheit, 179.

Willensfreiheit bzw. mentale Verursachung nach Habermas

zu stützen, das uns aus den beiden Perspektiven heraus zugänglich ist.438 Deshalb müsse man sich bei der Erforschung des menschlichen Geistes „kompromißlos an den Ergebnissen der empirischen Wissenschaften orientieren“439 . Zugleich darf man nicht vergessen, dass die Teilnehmer:innenperspektive nach Habermas grundlegend dafür ist, dass die empirischen Wissenschaften überhaupt etwas über die Welt wissen können. Es gilt deshalb, das Wissen der Teilnehmer:innenperspektive in die naturwissenschaftliche Erforschung des menschlichen Geistes mit einzubeziehen. Ob es jemals eine vollständige Theorie des menschlichen Geistes geben wird, die beide Perspektiven integrieren kann, hält Habermas für eine offene Frage.440 Bezieht man beide Perspektiven mit ein, kann man nach Habermas einstweilen davon ausgehen, dass der menschliche Geist Teil der Natur ist, der die Menschen als Naturwesen angehören, die aber aus der Beobachter:innenperspektive nicht vollständig erfasst werden kann, und dass er in einer evolutionsanalogen Weise aus dieser Natur hervorgegangen ist.441 Auf diese Weise will Habermas das klassisch metaphysische, dualistische Denken vermeiden, wonach sich das Universum in zwei umfassende und exklusive Phänomenbereiche aufspaltet, die physische und die nicht-physische Welt, zwischen denen eine Wechselwirkung nicht möglich ist, wie auch die daraus erwachsenden Schwierigkeiten, den Menschen als einen ‚Bewohner beider Welten‘ zu betrachten.442 Es handelt sich nach Habermas beim Geistigen und Physischen nicht um zwei verschiedene Seinsbereiche, sondern lediglich um zwei verschiedene Wissensperspektiven auf ein und dieselbe Wirklichkeit, die allerdings für den Menschen nicht hintergehbar sind. Zusammen mit dem ontologischen Dualismus und dem starken Naturalismus (Naturalismus I aus Kapitel 4.7) bzw. dem reduktiven Physikalismus löst sich dann auch das aus diesem Denken erwachsene Leib-Seele-Problem, dessen Widersprüche sich erst unter dualistischen oder physikalistischen Vorannahmen ergeben, weitgehend auf. Aus den einzelnen Wissensperspektiven heraus bleibt es unbegreiflich, wie die Freiheit der Teilnehmer:innenperspektive in den Bereichen der Beobachter:innenperspektive wirksam werden kann, aber wenn man mit Habermas davon ausgeht, dass beide Perspektiven Bezug auf eine einzige Wirklichkeit nehmen, ist die Annahme einer Einwirkung des Geistes auf das Gehirn nicht mehr von vorneherein ausgeschlossen.

438 439 440 441 442

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 340f. Habermas: Sprachspiel, 340f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 340. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 339. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 156.

249

250

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

5.7

Diskussion, Kritik und Ertrag

5.7.1

In welchem Sinn ist Habermas ein Naturalist?

Habermas bezeichnet seine eigene Position als „einen nicht-szientistischen oder ‚weichen‘ Naturalismus“443 . Um diese Habermas’sche Position genauer verstehen und im Anschluss kritisieren zu können, soll im Folgenden untersucht werden, ob und wenn ja in welchem Sinne diese Position als naturalistisch bezeichnet werden kann. Dass Habermas den semantischen Naturalismus ablehnt, ist in Kapitel 5.2 bereits deutlich geworden und bedarf deshalb hier keiner vertieften Erörterung. Dass er kein ontologischer bzw. metaphysischer Naturalist im Sinne des Naturalismus I aus Kapitel 4.7 und auch kein Physikalist ist, lässt sich daran erkennen, dass er nicht nur solche Entitäten oder Sachverhalte als wirklich bzw. real ansieht, die Gegenstand der Naturwissenschaften sind. Stattdessen unterscheidet er die „Natur der Naturwissenschaften“ von „dem Universum der den Menschen einschließenden Natur“444 bzw. die „‚Natur‘ der nomologisch verfahrenden Naturwissenschaften“ von der „‚Natur im Ganzen‘“445 . Bevor man angesichts dieser Diagnose Habermas einen ontologischen bzw. metaphysischen Dualismus vorwirft, wie es Hans Albert446 und Beckermann447 tun, sollte man für das Verständnis der Unterscheidung zwischen ‚Natur der Naturwissenschaften‘ und ‚Natur im Ganzen‘ einen Blick auf die Habermas’sche Erkenntnistheorie werfen. Dann zeigt sich, dass die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ im Gegensatz zur ‚Natur im Ganzen‘ sozusagen mit einem epistemischen Index versehen ist. Es handelt sich bei der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ um die ‚Natur im Ganzen‘, wie sie aus der Beobachter:innenperspektive der Naturwissenschaften erscheint bzw. wie sie sich aus dieser Perspektive zeigt. Demgegenüber bezeichnet ‚Natur im Ganzen‘ das Gesamt der Wirklichkeit, wie es ‚an sich‘ ist.448 Die Tatsache, dass Habermas diese Gesamtheit der Wirklichkeit als ‚Natur‘ bezeichnet, macht ihn nicht zu einem ontologischen Naturalisten im Sinne des Naturalismus I, der die Gesamtheit der Wirklichkeit mit der Natur der Naturwissenschaften identifiziert, und auch nicht zu einem Physikalisten. Ob Habermas ein methodologischer Naturalist im Sinne des Naturalismus I ist, ist allerdings etwas schwieriger auszumachen. Mit Joel Whitebook kann man in einer ersten Annäherung an das Problem konstatieren, dass Habermas in Bezug

443 444 445 446 447 448

Habermas: Freiheit, 157. Beide Zitate: Habermas: Sprachspiel, 326. Beide Zitate: Habermas: Sprachspiel, 329. Vgl. Albert: Metaphysik. Vgl. Beckermann: Naturwissenschaften, 23. Vgl. Simon: Lebenswelt, 282.

Diskussion, Kritik und Ertrag

auf die subhumane Natur methodologischer Naturalist ist, insofern er für diesen Bereich der Beobachter:innenperspektive bzw. den Naturwissenschaften, d. h. der instrumentellen Rationalität, ein Erkenntnisprivileg zugesteht.449 Alles, was der Mensch über die subhumane Natur wissen kann (was nicht unbedingt identisch ist mit allem, was es gibt), erschließt sich ausschließlich den Naturwissenschaften. Für die menschliche Natur dagegen räumt Habermas den Naturwissenschaften kein Erkenntnisprivileg ein und kann in Bezug auf die menschliche Natur deshalb nicht als methodologischer Naturalist, sondern muss in dieser Hinsicht als methodologischer Anti-Naturalist bezeichnet werden.450 Denn für den Bereich der menschlichen Natur geht er von einem „Dualismus von Wissensperspektiven“451  – der Teilnehmer:innen- und der Beobachter:innenperspektive bzw. von einem „methodischen Dualismus zwischen Verstehen und Beobachten“452 aus. Neben dem Wissen der Naturwissenschaften möchte Habermas auch das Wissen, das in den notwendigen Präsuppositionen kommunikativen Handeln enthalten und insofern Teil der intersubjektiv geteilten Lebenswelt ist, als „Weltwissen“453 gelten lassen.454 „Der Umfang der Welt […] [lasse] sich nicht durch fiat auf die Natur der Naturwissenschaften beschränken.“455 Insofern Habermas damit aber das Erklärungsprivileg der Naturwissenschaften auf den Bereich der subhumanen Natur beschränkt, kann er aufs Ganze gesehen nicht als methodologischer Naturalist angesehen werden. Besonders deutlich wird dies bei seinem Versuch der Detranszendentalisierung der menschlichen Erkenntnisbedingungen, d. h. bei dem Versuch zu erklären, wie die menschliche Lebenswelt mit ihren verschiedenen Weltperspektiven auf evolutionärem Wege aus der Natur hervorgegangen und deshalb Teil der Natur, Teil des einheitlichen natürlichen Universums ist.456 Habermas stützt sich dabei zwar überwiegend auf verhaltensbiologische und entwicklungspsychologische, d. h. naturwissenschaftliche Erkenntnisse, weiß aber, dass der menschliche Geist, den er

449 Vgl. Whitebook: Problem, 59f. Whitebook meint hier in methodologischer Hinsicht „Habermas would have to subscribe to the reductionist program for biology […].“ Vgl. auch Simon: Lebenswelt, 292f. 450 Vgl. Whitebook: Problem of Nature, 59f. Whitebook schreibt hier: „While everything on the subhuman level, including life, is assigned to the realm of instrumental reason, the domain of human communicability remains the last preserve in an otherwise mechanized universe. Habermas is, in short, an antireductionist for the human sciences and a reductionist for the life sciences.“ Vgl. auch Simon: Lebenswelt, 292f. 451 Habermas: Sprachspiel, 273. 452 Habermas: Realismus, 25. 453 Habermas: Weltbildern, 265. 454 Vgl. Habermas: Weltbildern, 265. 455 Habermas: Weltbildern, 266. 456 Vgl. Simon: Lebenswelt, 16.

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252

Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

erklären will, sich dieser Perspektive letztlich entzieht. Deshalb will er die naturwissenschaftliche Erklärung ‚von unten‘ durch die Rekonstruktion der lebensweltlichen Präsuppositionen ‚von oben‘ ergänzen.457 Er will „den hermeneutischen Zugang zu den in der Lebenswelt verkörperten Strukturen des Geistes mit der biologischen Erklärung ihrer Genese“458 verbinden. Die damit von Habermas angestrebte Metatheorie ist eine nicht mehr nur naturwissenschaftliche Variante der Evolutionstheorie, die die Phylogenese der menschlichen Lebenswelt erklärt.459 In diese Theorie müssen, wie Habermas vermutet, „auch Begriffe ‚von oben‘“460 , d. h. aus der Teilnehmer:innenperspektive eingehen. Man kann dies so deuten, dass Habermas hier eine neue Art und Weise vorschlägt, Naturwissenschaft zu betreiben, ohne damit die herkömmliche Art und Weise für überflüssig zu erachten, wie weiter unten noch erläutert wird.461 Ganz offensichtlich kann Habermas also in keiner Weise als Naturalist im Sinne des Naturalismus I aus Kapitel 4.7 und erst recht nicht als Physikalist bezeichnet werden. Vielmehr entspricht seine Ansicht der Position, die als Naturalismus II betitelt wurde, d. h. er weigert sich in der Tradition Wittgensteins, der Philosophie eine fundierende Rolle hinsichtlich der menschlichen Erkenntnis zuzusprechen. Erkenntnis entspringt für ihn der menschlichen Praxis und deshalb ist Erkenntnis a priori nicht möglich. Da im Kontext der Debatte um die Willensfreiheit mit Naturalismus in den allermeisten Fällen jedoch eine Variante des Naturalismus I gemeint ist, trägt die Habermas’sche Selbstbezeichnung als ‚weicher‘ Naturalist in diesem Zusammenhang mehr zur Verwirrung als zum Verstehen seiner Position bei. Eine wichtige Denkvoraussetzung teilt Habermas allerdings mit Naturalist:innen der Variante I: Die Annahme, dass es ein gemeinsames methodisches Proprium aller Naturwissenschaften gibt, durch das sie sich von den Nicht-Naturwissenschaften abgrenzen lassen. Denn dies ist Voraussetzung dafür, dass Habermas von einem

457 458 459 460 461

Vgl. Habermas: Realismus, 30. Vgl. Habermas: Einleitung, 26. Habermas: Realismus, 30. Vgl. Whitebook: Problem, 60. Habermas: Sprachspiel, 340. Simon analysiert eindrucksvoll, dass Habermas mit der Erweiterung des Naturbegriffs über die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ hinaus und mit seinem Vorschlag einer Metatheorie, die naturwissenschaftliche und lebensweltliche Perspektiven miteinander vereint, einen Bruch mit früheren Ansichten vollzieht (vgl. Simon: Lebenswelt, 311). Habermas habe sich früher „gegen jegliche Naturbetrachtung, die […] Natur nach dem Schema kommunikativer Vernunft konstruiert“ (Simon: Lebenswelt, 292) gewehrt und entsprechende Ansätze von Theodor W. Adorno (vgl. Simon: Lebenswelt, 299–209), Max Horkheimer und Herbert Marcuse (vgl. Simon: Lebenswelt, 275–278), die einen erweiterten Naturbegriff forderten, abgelehnt. Zum „Naturbegriff der Naturwissenschaften und deren Erkenntnismethoden“ habe Habermas keine Alternative gesehen (vgl. Simon: Lebenswelt, 281).

Diskussion, Kritik und Ertrag

Dualismus der Wissensperspektiven sprechen kann. Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive lassen sich nur dann sinnvoll differenzieren, wenn eine eindeutige, von Kriterien geleitete Zuordnung der verschiedenen Wissenschaften zu diesen Perspektiven möglich ist. Dazu worin genau das Abgrenzungskriterium bestehen soll, äußert sich Habermas nicht ausdrücklich. Mindestens scheint für ihn zum Proprium der Naturwissenschaften der Ausschluss von Teleologie zu gehören.462 Darauf deutet jedenfalls hin, dass er den „Entwurf der Natur als des Gegenspielers statt des Gegenstandes“463 ablehnt und dass er in den Naturwissenschaften ausschließlich die instrumentelle Vernunft am Werk sieht und sehen will.464 Aber auch die Idee, dass naturwissenschaftliche Erklärungen stets Erklärungen durch Naturgesetze sind, findet sich bei ihm.465 So spricht er beispielsweise von der „epistemischen Autorität der Naturwissenschaften“, „die allen, aber auch nur den in der Welt gesetzmäßig variirenden Zuständen und Ereignissen kausale Wirksamkeit zuschreiben.“466 Es scheint sogar so, als ob er diese Naturgesetze für deterministisch hält, denn er spricht von „deterministischen Wirkungszusammenhängen der neuronalen Erregungszustände.“467 Er meint weiterhin, naturwissenschaftlichen Erklärungen liege „der deterministische Begriff der Ereigniskausalität“468 zu Grunde. Insbesondere die zuletzt genannten Zitate erwecken den Eindruck, dass er die Einheit der Naturwissenschaften von der Physik her denkt bzw. die Merkmale die seines Erachtens die Physik als Wissenschaft kennzeichnen, auf alle Naturwissenschaften überträgt. 5.7.2

Natur als lebensweltliches Konzept – Warum Habermas einen ontologischen Monismus vertritt

Habermas hält den Dualismus der Wissensperspektiven, von Erklären und Verstehen auch im Wissenschaftsbetrieb erstens für faktisch nicht hintergehbar.469

462 Vgl. Habermas: Technik, 55–57. Simon erläutert: „Die Rede von Zwecken oder Zielen in der Natur könnte Habermas also offensichtlich für eine Naturgeschichte des Geistes Habermas [!] gute Dienste leisten, aber zugleich ist er als Naturalist darauf festgelegt, diese zu vermeiden, ist doch der Verzicht auf eine teleologische Naturbetrachtung geradezu das Charakteristikum des Naturalismus.“ (Simon: Lebenswelt, 294). 463 Habermas: Technik, 57. 464 Vgl. Simon: Lebenswelt, 292. 465 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 308. Entsprechend meint Habermas hier, lasse ein naturalistisches Weltbild (Er meint hier einen Naturalismus der Variante I) „nur noch nomologische Verhaltenserklärungen gelten“. 466 Beide Zitate: Habermas: Sprachspiel, 272. 467 Habermas: Freiheit, 179. 468 Habermas: Sprachspiel, 291. 469 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 338.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

Zweitens bewertet er diesen epistemischen bzw. methodologischen Dualismus auch positiv. Der Erfolgsgeschichte von Technik und Naturwissenschaften, wie sie methodisch seit Beginn der Neuzeit betrieben wurden, der damit verbundenen Vorstellung von der Natur und dem daraus resultierenden Weltwissen verdankt die Menschheit seiner Ansicht nach einen erheblichen Zugewinn an Autonomie und Emanzipation.470 Dementsprechend lehnt er den von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse ausgehenden „Ruf nach einer neuen [Natur]Wissenschaft“471 bzw. Technik, die Elemente ‚von oben‘, wie Intentionalität oder Teleologie integriert und Natur als ein Subjekt wahrnimmt, ab.472 Simon erläutert: Der Ruf nach einer neuen Wissenschaft und folglich auch nach einer neuen Technik ist für Habermas nicht nur utopisch in dem Sinne, dass dieser zwar prinzipiell möglich wäre, wenn auch nicht umsetzbar, sondern beruht auf einem Denkfehler, der die innere Verbindung von Technik und Zweckrationalität übersieht, die eine neue, nicht auf Zweckrationalität basierende Technik ebenso unmöglich macht, wie eine alternative Wissenschaft, die ebenfalls nicht auf Zweckrationalität allein beruht.473

Habermas selbst betont: Wie immer dem sei, die Leistungen der Technik, die als solche unverzichtbar sind, könnten durch eine Natur, die die Augen aufschlägt, gewiß nicht substituiert werden. […] So wenig die Idee einer Neuen Technik trägt, so wenig läßt sich die einer Neuen Wissenschaft konsequent denken, wenn anders Wissenschaft in unserem Zusammenhang die moderne, auf die Einstellung möglicher technischer Verfügbarkeit verpflichtete Wissenschaft heißen soll […].474

Die beiden Perspektiven werden im Wissenschaftsbetrieb nach Habermas zu Recht und aus gutem Grund „nach wie vor getrennt gehalten[…].“475 Verbunden werden sollen sie nur auf einer „metatheoretischen Ebene“476  – die man dann gemäß der Habermas’schen Identifizierung des Gesamts der Wirklichkeit als ‚Natur‘ allerdings wohl auch als eine (andere) Art Naturwissenschaft bezeichnen müsste. Das Problem das Habermas’schen Ansatzes besteht allerdings darin, dass er die Einheit der Wirklichkeit bzw. der Natur angesichts des Dualismus von Wissens470 471 472 473 474 475 476

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 295f. Vgl. Simon: Lebenswelt, 269. Simon: Lebenswelt, 278. Vgl. Habermas: Technik, 55–57. Simon: Lebenswelt, 278f. Habermas: Technik, 57f. Habermas: Realismus, 39. Habermas: Realismus, 39.

Diskussion, Kritik und Ertrag

perspektiven nicht erweisen kann. Die beiden Perspektiven sind komplementär, beschreiben die Wirklichkeit aber auf „konkurrierende“477 , nicht ineinander übersetzbare Weisen.478 Deshalb resultiert aus der Synthese der beiden Perspektiven auf einer metatheoretischen Ebene keine vollständige oder auch nur kohärente Theorie, sondern nur eine Metanarration. Aus der vormenschlichen, nach Maßgabe der naturwissenschaftlichen Methodik nicht-teleologischen, zweckrational erforschten, technisch betrachteten und erkennbar gemachten ‚Natur der Naturwissenschaften‘ kann die kommunikative Vernunft des Menschen nicht erklärt werden, „ohne die kommunikative Vernunft auf instrumentelle zu reduzieren.“479 Die Tatsache, dass es Habermas nicht überzeugend gelingt, den durch den epistemischen Dualismus entstandenen Hiatus ontologisch zu überwinden,480 ist es, die ihm – zu Unrecht – den Vorwurf einbringt, einen ontologischen Dualismus zu vertreten. Ontologische Naturalist:innen vom Typ I (vgl. Kapitel 4.7) schlussfolgern vom faktischen Erfolg der Naturwissenschaften auf den methodologischen Naturalismus (der Variante I) und von dort auf die monistische Position, dass sich die metaphysische Wirklichkeit auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ beschränkt. Aus dem faktischen Erfolg der Naturwissenschaften ergibt sich auf diesem Argumentationsweg also auch die Ablehnung eines ontologischen Dualismus – eine Position hinsichtlich derer Habermas und Naturalist:innen vom Typ I übereinstimmen. Während bei diesen aber eine schlüssige – wenn auch nicht zwingende – Argumentation zum ontologischen Monismus führt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass dies bei Habermas nicht der Fall ist. Vielmehr scheint eine Inkongruenz zu bestehen zwischen dem von ihm postulierten epistemischen Dualismus und dem ebenfalls postulierten ontologischen Monismus. Naheliegender könnte es hier doch erscheinen, aus dem epistemischen Dualismus auch auf einen ontologischen Dualismus zu schlussfolgern. Muss man in der Habermas’schen Ablehnung eines ontologischen Dualismus und in der Affirmation des ontologischen Monismus am Ende doch eine insgeheime Sympathie für den Naturalismus der Variante I am Werk sehen, wegen der er in ontologischen Fragen der Beobachter:innenperspektive dann doch den Vorrang gegenüber der Teilnehmer:innenperspektive gibt? Das ist nicht der Fall. Denn erstens will er die ontologische Metanarration ja gerade unter Einbezug beider Perspektiven erzählen. Zweitens beruht seine Affirmation eines ontologischen Monismus nicht auf einer Sympathie für den Naturalismus I sondern im Gegenteil darauf, dass er der Lebenswelt einschließlich der mit ihr verbundenen notwendigen Präsuppositionen einen erkenntnistheoretischen und ontologischen Vorrang gegenüber 477 478 479 480

Habermas: Realismus, 30. Vgl. Habermas: Realismus, 30. Simon: Lebenswelt, 290. Vgl. Simon: Lebenswelt, 293. Vgl. Whitebook: Problem, 60f.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

allen Erkenntnissen gibt, die sich den in ihr enthaltenen Perspektiven erschließen.481 Es gehöre nämlich zum impliziten lebensweltlichen Hintergrundwissen von Kommunikationsteilnehmer:innen, „daß sich der Kommunikationsvorgang, in den sie aktuell verwickelt sind, in derselben Welt ereignet, der auch die Referenten ihrer im selben Augenblick gemachten Aussagen angehören.“482 Die Einheit der Wirklichkeit werde, meint Habermas, formalpragmatisch unterstellt.483 Aus diesem impliziten lebensweltlichen Hintergrundwissen ergibt sich ein expliziteres Alltagswissen (bzw. wie Habermas schreibt eine „inklusive Alltagswelt“484 ), gemäß dem wir wissen, „daß dieselbe objektive Welt – aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters – wiederum uns, unsere Interaktionsnetze und deren Hintergrund Seite an Seite mit anderen Entitäten einschließt.“485 Die Habermas’sche ‚Natur im Ganzen‘ muss also als ein lebensweltliches Konzept bezeichnet werden.486 Wegen der lebensweltlich implizit unterstellten Einheit der Welt sei die „Vernunft […] ‚unzufrieden‘ mit einem ontologischen Dualismus, der in der Welt selbst aufbricht und nicht nur epistemischer Natur ist.“487 Es gehöre „zum Realismus des gesunden Menschenverstandes, sich dessen bewußt zu sein, daß die Lebenswelt, die ihm performativ als ‚je unsere Lebenswelt‘ im Rücken bleibt, als etwas in der objektiven Welt existiert […].“488 Indem Habermas wegen des Hintergrundwissens der Lebenswelt einen Realismus (ohne Repräsentation) bezüglich der Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit einem Realismus (ohne Repräsentation) in Bezug auf die notwendigen, impliziten Präsuppositionen der Lebenswelt verbindet, sucht er seinen Weg auf dem schmalen Grat zwischen Naturalismus (der Variante I) und Antinaturalismus (im Sinne eines Idealismus der Lebenswelt).489 Tendenziell kann man ihm, da er der Lebenswelt den Primat zuschreibt, bei diesem Spagat eher einen ‚Idealismus der Lebenswelt‘ als einen Naturalismus der Variante I vorwerfen. Während der Naturalismus I eine Minimalmetaphysik, die sich ausschließlich auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützt, und einen Maximalrealismus anstrebt,490 muss Habermas, obwohl er beides gleichermaßen anstrebt,491 in bei-

481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491

Vgl. Habermas: Weltbildern, 213. Habermas: Weltbildern, 212f. Habermas: Weltbildern, 261. Habermas:Weltbildern, 213. Habermas: Weltbildern, 213. Vgl. Simon: Lebenswelt, 270. Habermas: Weltbildern, 261. Habermas: Weltbildern, 236. Vgl. Simon: Lebenswelt, 13. Vgl. Vollmer: Naturalismus, 50–53. Vgl. Simon: Lebenswelt, 26.

Diskussion, Kritik und Ertrag

derlei Hinsicht Abstriche machen. Den Realismus muss er zu einem ‚Realismus ohne Repräsentation‘ abschwächen. Hinsichtlich der Metaphysik muss er mit seiner These von der ‚Natur im Ganzen‘ auf eine im Vergleich zum Naturalismus I deutlich anspruchsvollere und voraussetzungsreichere Metaphysik ausweichen, die seine Position manchem als anti-naturalistisch erscheinen lässt.492 Ob er seinem Anspruch, ein nachmetaphysisches Denken zu betreiben, damit noch gerecht wird, kann hier dahingestellt bleiben. 5.7.3

Ertrag: Habermas und die Theorie starker Emergenz

Habermas selbst gibt Anlass zu der Frage, inwieweit seine ontologischen Überlegungen zur Evolution der kommunikativen Vernunft und zur Frage der mentalen Verursachung mit der in Kapitel 4.4.2 und 4.4.3 erläuterten Theorie starker Emergenz (d. h. Entstehung irreduzibler Eigenschaften mit irreduzibler Abwärtskausalität) übereinstimmen. Er spricht beispielsweise von Symbolsystemen, in denen sich der intersubjektive bzw. ‚objektive‘ Geist verkörpere und reproduziere, und will diese als „emergente Eigenschaften“493 verstehen, die im Laufe der Evolution entstanden seien.494 An anderer Stelle erläutert er, der ‚Geist‘ setze sich aus „emergenten Eigenschaften, welche für die Verfassung soziokultureller Lebensform konstitutiv“495 seien, zusammen. Auch spricht er von einer „Emergenzstufe“496 und meint damit den intersubjektiv verfassten menschlichen Geist als Erkenntnisbedingung zusammen mit Bewusstsein und Kultur.497 Andererseits kritisiert Habermas ausdrücklich bestimmte Varianten des nichtreduktiven Physikalismus, die er u. a. als Emergenztheorien identifiziert.498 Tatsächlich betrifft seine Kritik aber nur solche Varianten des nicht-reduktiven Physikalismus, die der emergenten geistigen Ebene keine irreduzible kausale Wirksamkeit zugestehen499  – also Supervenienz und schwache Emergenz. In Bezug auf solche Theorien meint er, es sei „überflüssig, die Existenz einer besonderen Art von Eigenschaften zu postulieren, wenn diese in einem materialistisch begriffenen Universum […] keine ‚kausale Arbeit‘ leisten.“500 Die Theorie starker Emergenz kritisiert er nicht. Vielmehr scheint er eine inhaltliche Nähe wahrzunehmen zwischen

492 493 494 495 496 497 498 499 500

Vgl. Simon: Lebenswelt, 274. Habermas: Freiheit, 180. Vgl. Habermas: Freiheit, 180. Habermas: Sprachspiel, 330. Habermas: Sprachspiel, 327. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 327. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 313–316. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 315. Vgl. Habermas: Probleme, 137f. Habermas: Probleme, 138.

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Jürgen Habermas: Kommunikative Vernunft und eine andere Weise der Naturalisierung des Geistes

seinen Überlegungen und Ansätzen starker Emergenz. In Bezug auf entsprechende Überlegungen von Philip Clayton schreibt er nämlich: Von hier [zwei andere Theorien, die Habermas erwähnt, die wie er versuchen, das Geistige vor der Reduktion zu bewahren] ist es nur noch ein Schritt zu [Claytons] Spekulationen über Linien kausaler Einflussnahmen, die im Rahmen desselben Energiehaushaltes von unten nach oben, also von den physischen und organischen zu den mentalen und soziokulturellen Stufen, aber eben auch abwärts, von den höheren zu den niederen Komplexitätsstufen, verlaufen. Dieser Monismus lässt Raum für eine Art Schichtenontologie für (im ‚starken‘ Sinne) emergierende Entwicklungsstufen.501

Zugleich distanziert sich Habermas allerdings wieder von solchen Überlegungen, weil es sich dabei seines Erachtens um „ungesichertes naturphilosophisches Gelände“502 handelt. Seine erkenntnistheoretischen Vorbehalte (konkreter sein epistemischer Dualismus) lassen ihn hier vor zu viel spekulativer Metaphysik zurückschrecken. Faktisch muss er aber, auch wenn er dies vermeiden möchte, im Rahmen seiner Metanarration bzw. Metatheorie, welche Erkenntnisse aus Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive integrieren und so letztendlich auch libertarische Willensfreiheit plausibilisieren soll, eine solche Abwärtskausalität postulieren, obwohl diese seines Erachtens aus der Beobachter:innenperspektive heraus nicht erkennbar ist. Wie sollte sonst seine Rede von „mentaler Verursachung“ und einer „kausalen Einwirkung eines der Beobachtung entzogenen Geistes auf beobachtbare Prozesse im Gehirn“503 zu verstehen sein oder seine Aussage, dass der „objektive Geist gegenüber dem subjektiven Geist der individuellen Gehirne eine strukturbildende Kraft“504 erlange?505 Dies spricht dafür, den Habermas’schen Ansatz zur Willensfreiheit den starken Emergenztheorien (mit Abwärtskausalität) zuzurechnen. Dagegen spricht allerdings der Eindruck, dass Theorien starker Emergenz (so wie sie vom Mainstream der analytischen Philosophie verstanden und in Kapitel 4.4.2 dargestellt werden) gerade dazu entwickelt wurden, um dem menschlichen Geist angesichts einer physikalistischen oder stark naturalistischen Basisontologie

501 502 503 504 505

Habermas: Probleme, 138. Habermas: Probleme, 138. Beide Zitate: Habermas: Freiheit, 178f. Habermas: Freiheit, 181. Simon teilt diese Einschätzung. Er schreibt: „Habermas selber versucht diese Frage geschickt zu umgehen, aber man könnte für die Forderung nach der Möglichkeit einer solchen Abwärtsverursachung zumindest Anhaltspunkte in Habermas‘ Beschreibung des Verhältnisses der mentalen Ereignisse der einzelnen Akteure zum objektiven Geist ausmachen.“ (Simon: Lebenswelt, 223)

Diskussion, Kritik und Ertrag

eine auf diese physikalische bzw. natürliche Basis irreduzible kausale Wirksamkeit einräumen zu können (ohne dazu einen ontologischen Dualismus postulieren zu müssen). Habermas geht aber nicht von einer physikalistischen oder naturalistischen Basisontologie aus. Vielmehr lehnt er mit seiner Aussage, dass die Natur mehr umfasse als die ‚Natur der Naturwissenschaften‘, die „naturalistische Annahme“ ab, „daß sich die Struktur der Welt aus ihrer naturwissenschaftlichen, letztlich physikalistischen Beschreibung erschließen läßt.“506 Zwar spricht er den Naturwissenschaften für die subhumane Natur ein Erkenntnisprivileg zu, verbindet damit aber nicht die Vorstellung, dass sich Entsprechungen zu naturwissenschaftlichen Aussagen in der ‚Natur an sich‘ finden oder dass die Naturwissenschaften die Natur beschreiben wie sie ‚an sich‘ ist. Für die subhumane Natur vertritt Habermas also einen methodologischen Naturalismus im Sinne des Naturalismus I, aber keinen ontologischen Naturalismus in dem Sinne, dass die Natur im Ganzen identisch wäre mit der ‚Natur der Naturwissenschaften‘. Die Art und Weise wie Emergenz vom Mainstream der aktuellen Philosophie des Geistes verstanden wird, ist aber nicht alternativlos. Vielmehr gibt es auch zeitgenössische Vertreter:innen von Emergenztheorien, die auf die Annahme einer physikalistischen Basisontologie verzichten.507 Becker, dessen Ansatz bereits in Kapitel 4.6.2 erwähnt wurde, verbindet beispielsweise den Emergenzgedanken mit der Hypothese, dass schon den von der Physik beschriebenen Elektronen (also der Emergenzbasis) empirisch nicht erfassbare, protomentale Eigenschaften zukommen.508 Auch Maximilian Boost ist der Ansicht, es sei durch nichts erwiesen, dass Emergenz mit einer physikalistischen Position (im Sinne einer physikalistischen Basisontologie) verbunden sein muss.509 Stattdessen plädiert er – wie Habermas durch erkenntnistheoretische Überlegungen motiviert – dafür, in der Debatte um das Verhältnis von Geist und Gehirn bzw. Körper auf ontologische Verpflichtungen und Festlegungen – also Festlegungen dahingehend, wie die Welt unabhängig davon, wie wir sie erkennen, beschaffen ist – so weit wie möglich zu verzichten.510 Er schreibt: „Ob die basale Ebene der Wirklichkeit [d. h. die Emergenzbasis] monistisch oder dualistisch im Allgemeinen, oder physisch, mental etc. im Besonderen 506 Beide Zitate: Habermas: Sprachspiel, 313. 507 Es stellt sich die Frage, wie ältere Emergenztheorien britischer und kontinentaler Provenienz (vgl. Stephan: Emergenz) in dieser Hinsicht einzuordnen sind. Diese Frage überschreitet aber den Umfang dessen, was im Rahmen dieser Arbeit beantwortet werden kann. Der Überblick bei Achim Stephan lässt vermuten, dass die Theorien in dieser Hinsicht sehr heterogen sind. Gerade die britischen Emergentist:innen scheinen ontologische bzw. metaphysische Aussagen insgesamt eher zu vermeiden (vgl. Stephan: Emergenz, 92), so dass ihre Position im Hinblick auf die Basisontologie vermutlich nicht eindeutig sein dürfte. 508 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 253–255. 509 Vgl. Boost: Emergenz, 167 und 216. 510 Vgl. Boost: Emergenz, 283f.

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beschaffen ist, wird hier entsprechend nicht diskutiert.“511 Boost schlägt damit also auch vor, die Frage, ob durch starke Emergenz auch ontologisch etwas Neues aus der jeweiligen Emergenzbasis hervorgeht, offen zu lassen,512 weil eine Antwort auf diese Frage jenseits dessen liegt, was Menschen wissen können. Die einzige ontologische Festlegung, auf die sich Boost einlässt, lautet, dass aus einer subhumanen Natur (über deren ontologische Beschaffenheit wir nichts sagen können) die humane Natur (über deren ontologische Beschaffenheit wir wiederum nichts sagen können) einschließlich dessen, was wir als mentale Eigenschaften erkennen, hervorgegangen ist. Folglich geht er davon aus, dass alle Phänomene der subhumanen und humanen Natur einem einheitlichen Wirkzusammenhang angehören, den man als „natürliche[n] Welt“513 bezeichnen kann. Diese Festlegung ist notwendig, damit seine Theorie überhaupt als eine Emergenztheorie zählen kann. Seine Position ist also – wie die Habermas’sche – ein ontologischer Monismus in einem sehr globalen Sinn, d. h. ein Monismus, der davon ausgeht, dass die Natur (möglicherweise auch an ihrer ‚Basis‘) mehr umfasst als die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ oder die ‚Natur der Physik‘. Anstatt mit starker Emergenz irgendwelche darüber hinausgehenden ontologischen Festlegungen zu verbinden, möchte Boost sie so verstanden wissen, dass die emergente Ebene „grundsätzlich explanatorisch irreduzibel“514 ist. Starke Emergenz nach Boost ist also (jenseits dessen, dass ein sehr globaler Monismus postuliert wird) ein rein epistemisches und kein ontologisches Konzept. Angesichts der Möglichkeit, eine kohärente Theorie starker Emergenz auch unter Verzicht auf eine physikalistische Basisontologie zu entwickeln, kann der Habermas’sche Ansatz problemlos als ein solcher Ansatz starker Emergenz klassifiziert werden. Von starker Emergenz zu sprechen, ist (wie bei Boost) auch vor dem Hintergrund der Habermas’schen Erkenntnistheorie nur in einem epistemischen Sinne sinnvoll: Aus der Beobachter:innenperspektive bzw. der Perspektive der Naturwissenschaften heraus gibt es keine Erklärung dafür, wie die Merkmale des Geistigen aus der subhumanen Natur, wie sie sich den Naturwissenschaften erschließt, hervorgehen. Die Merkmale des Geistigen können auf diese Perspektive von Natur nicht reduziert werden. Auch ein allwissendes Wesen könnte im Übrigen diese Reduktion des Geistigen auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ nicht leisten. D. h. dass das Geistige sich aus dem naturwissenschaftlichen Wissen über die Emergenzbasis nicht ableiten lässt, liegt nicht an einem (vorläufig noch) unvollständigen naturwissenschaftlichen Wissen, denn in diesem Fall hätte man es nur mit schwacher

511 512 513 514

Boost: Emergenz, 283. Vgl. Boost: Emergenz, 297. Boost: Emergenz, 283. Boost: Emergenz, 298.

Diskussion, Kritik und Ertrag

Emergenz zu tun (vgl. Kapitel 4.4.2). Die epistemische Irreduzibilität besteht prinzipiell. Da bei der Verwendung des Begriffs der epistemischen Irreduzibilität bzw. der epistemischen Emergenz das Missverständnis nahe liegt, dass damit schwache Emergenz, also nur eine vorläufige Irreduzibilität auf Grund vorläufig mangenden naturwissenschaftlichen Wissens, vorliegt, schlägt Boost stattdessen den Begriff der naturphilosophischen Emergenz vor.515 Der Begriff ist jedoch inhaltlich so wenig aussagekräftig, dass es sinnvoller erscheint, weiterhin von prinzipieller epistemischer Emergenz zu sprechen und dabei zu betonen, dass mit dem Begriff keine ontologischen Festlegungen verbunden sind, dass also ontologische Emergenz weder ausgeschlossen noch postuliert wird. Für die Behauptung, dass starke Emergenz im ontologischen Sinne vorliegt, lässt sich kohärent nur argumentieren, wenn man – anders als Habermas und entsprechend dem ontologischen Naturalismus bzw. Physikalismus – davon ausgeht, dass die Naturwissenschaften die Natur beschreiben, wie sie ‚an sich‘ ist. Für die Behauptung, dass starke Emergenz im ontologischen Sinne vorliegt, gilt, was Thomas Fuchs, dessen Ansatz eine große Nähe zum Habermas’schen Perspektivendualismus hat, erläutert: Von [starker] Emergenz lässt sich sinnvollerweise überhaupt nur im Rahmen eines Aspekts bzw. einer methodischen Perspektive sprechen – und als diese gilt von vorneherein die naturalistische. Nur im Rahmen einer Erkenntnisperspektive kann man postulieren, dass es Phänomene gibt, die auf der Basis bestimmter Ereignisse emergieren, etwa Bewusstsein aus neuronalen Prozessen. Demgegenüber beruht die Konzeption des Doppelaspekts [ähnlich wie die Konzeption des Perspektivendualismus bei Habermas] auf zwei verschiedenen Einstellungen oder Perspektiven, die als komplementäre grundsätzlich nicht aufeinander zurückführbar sind.516

Wie die Wirklichkeit jenseits der Perspektiven bzw. Einstellungen beschaffen ist, können wir Menschen schlicht nicht wissen – es sei denn man vertritt wie der Physikalismus den epistemischen Standpunkt, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis ein vollständiges Abbild dieser Wirklichkeit ist. Von starker Emergenz im ontologischen Sinn zu sprechen, ist also nur plausibel, wenn man wie der ontologische Naturalismus von einer physikalistischen bzw. naturalistischen Basisontologie ausgeht und den menschlichen Geist trotzdem auf irgendeine Weise in der so verstandenen Natur unterbringen will. Dass dies aus epistemischen Gründen nicht plausibel ist, hat die Erörterung der Habermas’schen Erkenntnistheorie gezeigt.

515 Vgl. Boost: Emergenz, 263. 516 Fuchs: Gehirn, 247f.

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Entsprechend dem soeben Erörterten kann der Habermas’sche Ansatz (verstanden als eine Variante starker Emergenz) Entscheidendes leisten, die Schwächen der emergenztheoretischen Plausibilisierung von Willensfreiheit aus Kapitel 4.6.1 zu korrigieren. Erstens gibt die Habermas’sche Erkenntnistheorie eine Antwort auf die epistemische Frage, warum in einer ontologisch angeblich einheitlich verfassten und den Naturwissenschaften ansonsten bestens zugänglichen Welt eine Enklave existieren soll, die nur aus der Teilnehmer:innen- oder Erste-Person-Perspektive zugänglich sein soll, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, für deren Emergieren aus der Natur es keine naturwissenschaftlich befriedigende Erklärung gibt und deren kausales Einwirken auf die Natur (mentale Verursachung) den Naturwissenschaften (bisher) nicht zugänglich ist. Habermas plausibilisiert mit seinem Konzept der kommunikativen Vernunft nämlich, wie ein (wie bei Boost sehr globaler) ontologischer Monismus (der zugleich mit der Idee von Emergenz vorausgesetzt werden muss) mit einem epistemischen Dualismus zusammenpassen kann, der den Naturwissenschaften trotzdem einen realistischen Erkenntnisanspruch zugesteht. Seine Antwort auf das Problem, die er auf seine umfassenden Analysen der Sprachpragmatik und deren Präsuppositionen gründet, lautet erstens, dass die Naturwissenschaften die Natur zwar realistisch, aber nicht ‚an sich‘ sondern perspektivisch erfassen. Zweitens lautet die Antwort, dass die naturwissenschaftliche Beobachter:innenperspektive mit der Teilnehmer:innenperspektive inkompatibel ist, dass beide Perspektiven gleichursprünglich in der menschlichen kommunikativen Praxis verankert sind und dass die Verschränkung beider Perspektiven notwendige Bedingung für menschliches Erkennen (d. h. auch für Bedingung für das Bestehen der Beobachter:innenperspektive) überhaupt ist. Er plausibilisiert also erkenntnistheoretisch die Behauptung der starken Emergenz, dass das menschliche Erkenntnisvermögen im Hinblick auf das Hervorgehen des Geistes bzw. des Bewusstseins aus der Natur und im Hinblick auf dessen Einwirkung auf die Natur begrenzt ist. Weil der menschliche Geist nur durch die Verschränkung von Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive entsteht, können er und sein Einwirken auf die Natur (im Zuge der mentalen Verursachung) nicht gänzlich auf die der Beobachter:innenperspektive zugängliche Objektseite gebracht werden. Zweitens erübrigt sich unter Einbezug der Habermas’schen Überlegungen die Inkonsistenz der Theorie starker Emergenz hinsichtlich der Ontologie. Diese Inkonsistenz ergab sich daraus, dass Theorien starker Emergenz (wie sie vom Mainstream der aktuellen analytischen Philosophie des Geistes rezipiert werden) meist eine physikalistische bzw. naturalistische Basisontologie voraussetzen. Setzt man diese voraus, dann ergibt sich, dass zwar vielleicht nicht der Mensch mit seinen begrenzten Erkenntnismöglichkeiten wohl aber ein allwissendes Wesen über eine Theorie verfügen müsste, welche die Reduktion mentaler Eigenschaften auf ihre physikalische bzw. naturale Basis ermöglicht (vgl. Kapitel 4.6.1). Damit wäre starke Emergenz aber faktisch schwache, mit dem Reduktionismus vereinbare Emer-

Diskussion, Kritik und Ertrag

genz, die der Mensch nur (noch) nicht erklären kann und Willensfreiheit damit doch wieder als Illusion entlarvt. Anstatt dieses Problem nun wie Zunke durch die Annahme eines ontologischen Dualismus zu lösen (vgl. Kapitel 4.6.1), legen die Habermas’schen Überlegungen es nahe, starke Emergenz nur als ein epistemisches Konzept zu begreifen, gemäß dem die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ die ‚Natur an sich‘ nur perspektivisch erschließt, diese Perspektive aber inkompatibel ist mit der Teilnehmer:innenperspektive, aus der heraus sich das Geistige erschließt, weshalb niemand – auch nicht ein allwissendes Wesen – angeben könnte, wie das Geistige aus der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ hervorgeht. Dies impliziert dann auch, auf eine physikalistische bzw. naturalistische Basisontologie zu verzichten: Wie die Emergenzbasis jenseits dessen, was wir naturwissenschaftlich über sie in Erfahrung bringen können – und die naturwissenschaftliche Perspektive ist hinsichtlich der subhumanen Natur nach Habermas die einzige, die uns zur Verfügung steht – ontologisch beschaffen ist, können wir nicht wissen. Dass sie mehr umfasst als die ‚Natur der Naturwissenschaften‘, ist aber anzunehmen. Dass es auf die Frage, wie der menschliche Geist aus der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ hervorgegangen ist, prinzipiell keine vollständige Antwort geben kann, liegt eben genau daran, dass die Emergenzbasis mehr umfasst als die ‚Natur der Naturwissenschaften‘. Natürlich wirft der Habermas’sche epistemische Dualismus bzw. der Ansatz prinzipieller epistemischer Emergenz (als welcher der Habermas’sche Ansatz hier klassifiziert wurde) die Fragen auf, in welchem Verhältnis die (nicht-physikalistisch verstandene) Emergenzbasis in ontologischer Hinsicht zu den emergenten Eigenschaften steht (ob letztere ontologisch auf die Emergenzbasis reduzibel sind oder nicht) und wie die Emergenzbasis, wenn sie denn nicht rein physikalisch ist, ontologisch genau beschaffen ist. Es gibt in der analytischen Philosophie des Geistes eine Reihe von Ansätzen, die versuchen, wenigstens die zuletzt genannte Frage zu beantworten.517 Der bereits erwähnte Protopanpsychismus, der außer von Becker u. a. auch von Brüntrup, David Chalmers und Nagel vertreten wird,518 ist einer dieser Ansätze, ein sogenannter neutraler Monismus, wie er beispielsweise von Ernst Mach und Bertrand A. W. Russel vertreten wurde,519 ein anderer, ähnlicher Ansatz. Während beim Protopanpsychismus das menschliche Bewusstsein aus einer Basis hervorgeht, die sowohl physische als auch mentale Eigenschaften hat,520 lautet die Kernthese des neutralen Monismus, „daß mentale und physische Eigenschaften

517 Die Antwort auf die zu erste genannte Frage nach dem ontologischen Verhältnis von Emergenzbasis und emergenten Eigenschaften, fällt dabei je nach Ansatz und Vertreter:in des Ansatzes unterschiedlich aus. 518 Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 144. Vgl. Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 152–177. Vgl. Nagel: Geist, besonders 18, 28–30, 39, 52–54, 70–72, 83, 86f und 95. 519 Vgl. Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 162. 520 Vgl. Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 174.

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aus einem einheitlichen Ursprung hervorgehen, der weder mental noch physisch ist.“521 Obwohl der Habermas’sche Ansatz eine größere Nähe zu neutralem Monismus oder Protopanpsychismus aufweist als zu der Idee einer physikalistischen Basisontologie, lässt sich der Habermas’sche Ansatz (ebenso wie der Ansatz von Boost) jedoch letztlich aus folgenden Gründen keinem dieser Ansätze zuordnen. Habermas verzichtet – wie Boost – so weit wie möglich auf eine Ontologie. Ebenso wie Boost legt er sich hinsichtlich der genannten ontologischen Fragen nur auf einen sehr globalen ontologischen Monismus fest, indem er unter Berücksichtigung von Einsichten sowohl aus der Beobachter:innen- als auch aus der Teilnehmer:innenperspektive postuliert, dass der menschliche Geist aus der subhumanen ‚Natur an sich‘ hervorgegangen sein muss und dass er bei der Ausübung von Willensfreiheit auch in der ‚Natur an sich‘ wirksam ist. Auf die Frage, ob innerhalb des globalen ontologischen Monismus aus einer nicht-physikalistisch verstandenen (und für den Menschen prinzipiell nicht vollständig erkennbaren) Emergenzbasis etwas ontologisch irreduzibel Neues emergiert oder ob ein hypothetisches allwissendes Wesen in der Lage wäre, die emergenten Eigenschaften explanatorisch auf die Emergenzbasis zu reduzieren, geben weder Boost noch Habermas eine Antwort – ebenso wenig wie auf die Frage, wie die nicht ausschließlich physikalische Emergenzbasis ontologisch beschaffen ist. Sie geben keine Antwort auf diese Fragen, weil eine Antwort gemäß ihren erkenntnistheoretischen Annahmen jenseits der epistemischen Grenzen des menschlichen Wissens liegt. Eine solcher ‚Blick von nirgendwo‘ bzw. eine solche ‚Gottesperspektive‘ ist dem Menschen nicht möglich. Die Frage, wie der menschliche Geist aus der ‚Natur an sich‘ hervorgegangen ist, lässt sich wegen des epistemischen Dualismus auch unter Einbezug der Teilnehmer:innenperspektive nicht lückenlos beantworten. Die gleichberechtigte Berücksichtigung von Einsichten aus Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive trägt, was ontologische Aussagen betrifft, nach der Habermas’schen Auffassung nur so weit, dass ein globaler ontologischer Dualismus ausgeschlossen und ein globaler ontologischer Monismus postuliert werden kann. Eine Schwäche teilt der Ansatz starker Emergenz (ob nur epistemisch oder auch ontologisch verstanden) mit dem Habermas’schen Ansatz: Beide können die behauptete ontologische Einheit der Wirklichkeit bzw. der Natur nicht erweisen. Wie oben bereits in einem Zitat von Habermas selbst erwähnt ist mit dem Habermas’schen Konzept deshalb nicht nur ein ontologischer Monismus sondern alternativ auch eine Schichtenontologie der Wirklichkeit vereinbar, gemäß der im Laufe eines in Analogie zur Evolution zu verstehenden Prozesses aus der Natur (hier im Sinne der ‚Natur an sich‘) neue Seinsschichten mit irreduziblen kausalen Wirkungen hervorgegangen sind. Insofern diesen Schichten irreduzible Wirkungen

521 Brüntrup: Das Leib-Seele-Problem, 162. Vgl. Stubenberg: Monism.

Diskussion, Kritik und Ertrag

zukommen, könnte man sie, obwohl sie aus einer basaleren Seinsschicht hervorgegangen sind, möglicherweise dennoch als ontologisch basal bezeichnen. Das hängt allerdings wohl auch von der philosophischen Frage bzw. Entscheidung ab, durch welche Merkmale sich ontologische Basiskategorien auszeichnen (sollen) – eine Frage, die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden kann und die Habermas selbst wohl als metaphysische Spekulation ablehnen würde.522 Wie die Kapitel 3.5.4 und 4.5 zeigen, kann die deterministische Verknüpfung neurowissenschaftlich beobachtbarer Zustände im menschlichen Gehirn, von der Habermas trotz (oder vielleicht auch wegen) seines Perspektivendualismus auszugehen scheint, mit guten Gründen bezweifelt werden. Ein empirisches Forschungsergebnis ist sie jedenfalls nicht. Wer sie trotzdem unterstellt, schließt auf Grund des bisherigen Erfolgs der Naturwissenschaften darauf, dass Vorkommnisse, die durch die hypothetisch-deduktive Methode a priori ausgeschlossen werden, auch ontologisch nicht existieren. Dass dieser Schluss nicht zwingend ist, wurde bereits mehrfach betont. Unter der Voraussetzung, dass weder der Determinismus noch die kausale Geschlossenheit der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ empirische Forschungsergebnisse sind, gestaltet sich das Habermas’sche Vorhaben, die beiden Weltperspektiven zu einer Metanarration zu verbinden, deutlich einfacher. Denn dann ist bei dieser Synthese nicht ein deterministisches Naturgeschehen mit mentaler Verursachung zusammen zu denken, sondern es sind dafür nur solche naturgesetzlichen Kausalzusammenhänge zu berücksichtigen, deren Annahme sich empirisch bewährt hat. Was die Neurobiologie betrifft, sind die bisher bekannten Kausalzusammenhänge durchaus nicht lückenlos. Berücksichtigt man die Erkenntnisse der Quantenphysik, können diese Erkenntnisse auch in Zukunft nicht lückenlos sein. Insofern ist die Inkommensurabilität von Beobachter:innen- und Teilnehmer:innenperspektive weniger stark ausgeprägt, als es Habermas zum Teil unterstellt. Bei der Synthese des Wissens der beiden Perspektiven muss dann (nur) ein aus naturwissenschaftlicher Perspektive indeterminiertes Naturgeschehen mit mentaler Verursachung zusammengedacht werden. Rein theoretisch wäre es auch möglich an der Habermas’schen Theorie des Perspektivendualismus und der Idee libertarischer Willensfreiheit festzuhalten, wenn man davon ausgeht, dass aus der naturwissenschaftlichen Perspektive alle Naturprozesse ausnahmslos determiniert sind. Obwohl Habermas vereinzelt Zweifel an der Determiniertheit aller Naturprozesse aus der naturwissenschaftlichen Perspektive

522 Tewes verfolgt diese Frage weiter und denkt darüber nach, ob es legitim sein könnte, menschliche Akteur:innen als ontologische Substanzen anzusehen (vgl. Tewes: Libertarismus, 307– 310 und 338). Er beantwortet diese Frage positiv. Ob es im Rahmen eines nach-kantischen metaphysikkritischen Denkens, das die Einsichten der habermas’schen Erkenntnistheorie berücksichtigt, allerdings sinnvoll ist, die ontologische Kategorie der Substanz zu reaktivieren, darf bezweifelt werden.

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äußert,523 setzt er sie an vielen anderen Stellen voraus.524 Wird sie vorausgesetzt, muss Habermas aber (im Vergleich dazu, wie er in dieser Arbeit rezipiert wird) deutliche Abstriche machen hinsichtlich des Realismus‘, den man den Perspektiven zugesteht. Letztlich müsste man das Bild, das sich von der Natur aus Sicht der Naturwissenschaften ergibt, eher antirealistisch oder konstruktivistisch als realistisch deuten, um es mit der Teilnehmer:innenperspektive (und der Annahme von Willenfreiheit) noch in Übereinstimmung bringen zu können. Die Auffassung von der Determiniertheit aller Naturprozesse aus der naturwissenschaftlichen Perspektive wird in der vorliegenden Arbeit aber nicht geteilt.

523 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 328. 524 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 291. Vgl. Habermas: Freiheit, 179.

6.

Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein? Subjekt- bzw. bewusstseinsphilosophische und phänomenologische Anfragen

Gemäß der Habermas’schen Konzeption kommunikativer Vernunft resultiert der menschliche Geist mit seinen drei Dimensionen des theoretischen Wissens einschließlich der bewussten Wahrnehmung von externen Gegenständen, des moralisch-praktischen Wissens und des Selbstverhältnisses im Sinne einer Kenntnis von den eigenen inneren Zuständen aus der kommunikativen Vergesellschaftung des Menschen (vgl. Kapitel 6.5.1).1 Ausdrücklich grenzt sich Habermas damit von jeglichen philosophischen Ansätzen ab, die ein wie auch immer geartetes, kommunikativen Vollzügen vorausliegendes (Selbst-)Bewusstsein des Menschen als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis annehmen. Im Auge hat Habermas dabei in erster Linie transzendentalphilosophische Überlegungen klassischer deutscher Philosophie (z. B. Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte)2 sowie aktuelle Ansätze von Philosoph:innen, die an dieses Paradigma anknüpfen. Zu den letztgenannten zählt Dieter Henrich, auf den sich Habermas in seiner Auseinandersetzung mit der von ihm selbst so genannten Bewusstseins-3 bzw. Subjektphilosophie4 hauptsächlich bezieht.5 Die Bewusstseins- bzw. Subjektphilosophie stellt für ihn ein überholtes Paradigma einer vergangenen Epoche dar, dem er das gegenwärtige Paradigma der Sprachphilosophie entgegensetzt.6 Für überholt hält er die Bewusstseinsphilosophie deshalb, weil sie sich bei dem Versuch der Erklärung von Selbstbewusstsein in Zirkel und Paradoxien verstricke, aus denen es unter Beibehaltung des Paradigmas keinen Ausweg gebe.7 Henrich lässt seinerseits die Habermas’sche Kritik nicht unwidersprochen.8 Zwar erkennt auch er die Zirkel innerhalb der auf Kant und Fichte zurückgehenden Selbstbewusstseinstheorien.9 Jedoch halten er ebenso wie sein Schüler Manfred Frank an

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Habermas: Theorie 2, 47–68. Vgl. Strecker: Theorie, 222. Vgl. Habermas: Individuierung, 196–201. Vgl. Habermas: Metaphysik, 20–21. Vgl. Habermas: Diskurs, 344. Vgl. Habermas: Theorie 1, 527–530. Vgl. Habermas: Metaphysik. Vgl. Habermas: Metaphysik. Vgl. Habermas: Theorie 1. Vgl. Habermas: Theorie 1, 527–531. Vgl. Henrich: Metaphysik, 11–43. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘. Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 188–232.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

ihrer – noch zu erörternden und ihrer Ansicht nach widerspruchsfreien – Variante der Bewusstseinsphilosophie fest und meinen ihrerseits einen logischen Zirkel in der Habermas’schen Erklärung von Selbstbewusstsein ausgemacht zu haben. Selbstbewusstsein könne nicht vollständig aus kommunikativem Handeln abgeleitet werden, vielmehr setze kommunikatives Handeln eine ursprüngliche Form von Selbstbewusstsein voraus.10 Die folgende Analyse soll zeigen, dass die Kritik Henrichs und Franks an der Habermas’schen Erklärung von Selbstbewusstsein berechtigt ist und Habermas die kommunikationstheoretische Erklärung der Genese von Selbstbewusstsein misslingt. Seine Erklärung des menschlichen Geistes und damit letztlich auch der sich darin manifestierenden Willensfreiheit weist eine Lücke auf, weil reflexives Selbstbewusstsein, das durch die kommunikative Vergesellschaftung eines Menschen entsteht, ein ursprünglicheres, präreflexives (Selbst-)Bewusstsein voraussetzt. Diese These erfährt, wie Kapitel 6.5 zeigen wird, zusätzliche Unterstützung von Seiten der philosophischen Phänomenologie. Indessen kann auch Henrichs und Franks eigene Theorie des Selbstbewusstseins nicht vollständig überzeugen. Denn präreflexives (Selbst-)Bewusstsein muss ihrer Ansicht nach, die sie mit einigen Phänomenolog:innen teilen, als nicht-egologisch verstanden werden in dem Sinne, dass es kein Bewusstsein von einem Subjekt des Bewusstseins enthalte. Eine genaue phänomenologische Analyse des präreflexiven Selbstbewusstseins zeigt jedoch, dass dies nicht zutrifft. Wie die Kapitel 6.5.2 und 8.4.2 zeigen werden, sprechen sowohl phänomenologische als auch freiheitstheoretische Argumente dafür, präreflexives (Selbst-)Bewusstsein als egologisch zu qualifizieren und dementsprechend von präreflexivem Selbstbewusstsein zu sprechen.

6.1

Das Zirkelproblem in der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins

Da das Zirkelproblem, auf das Henrich und Frank hinsichtlich der Habermas’schen Selbstbewusstseinstheorie verweisen, strukturell identisch ist mit dem Zirkel in der von Descartes bis Kant vertretenen11 sogenannten Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins, hinsichtlich dessen Habermas, Henrich und Frank sich einig sind, soll diese Reflexionstheorie hier zunächst erläutert werden. Die Reflexionstheorie bzw. das Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins fasst Selbstbewusstsein als eine besondere Form von Wissen auf.12 Wissen besteht demnach darin, dass ein Ich-Subjekt

10 Vgl. Frank: Selbstbewusstsein, 447–477. 11 Vgl. Lerch: All-Einheit, 29. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 60f. 12 Vgl. Lerch: All-Einheit, 29.

Das Zirkelproblem in der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins

sich auf Objekte jeglicher Art bezieht, sie sich ‚vorstellt‘. Selbstbewusstsein entsteht entsprechend so, dass ein Ich-Subjekt sich auf ein Ich-Objekt bezieht und dabei das Ich-Objekt als mit dem Ich-Subjekt identisch erkennt. Magnus Lerch erläutert: Damit gilt das Ichbewusstsein als ‚zweistellige Relation mit numerisch zwei und qualitativ verschiedenen, zumindest stellenverschiedenen Relata‘, nämlich einem Ich-Subjekt [!] das Bewusstsein hat [!] und einem Ich-Objekt [!] das bewusst ist. Wie innerhalb jedweder Wissensrelation tritt also auch im Ich eine Subjekt-Objekt-Spaltung auf, denn ‚wo immer Ich ist, da ist auch schon diese Dualität: das Subjekt, und das Subjekt als Objekt für sich selbst.‘13

Selbstbewusstsein ist demnach das Resultat einer Reflexionsleistung und deshalb reflexives Wissen bzw. intentionale Selbsterkenntnis.14 Das Reflexionsmodell als Erklärung für Selbstbewusstsein scheitert aber wegen seiner Zirkularität. Kant, so erläutert Frank, habe dieses Problem zwar erkannt, habe es aber nicht lösen können.15 Fichte dagegen war laut Frank der erste, der sich des Problems in seiner ganzen Tragweite bewusst wurde16 und seine gesamte Philosophie kreist darum, dieses Problem zu lösen.17 Zirkularität liegt im Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins vor, weil es voraussetzt, was es erklären will:18 Das Ich-Subjekt kann in der Rückwendung auf sich selbst die Identität von IchSubjekt und Ich-Objekt nur erkennen, wenn es schon vor dieser Rückwendung mit sich selbst vertraut gewesen ist, wenn es also schon vor der Rückwendung ein Wissen von sich hatte. „Demnach muss Selbstbewusstsein der reflexiven Selbsterkenntnis vorausgehen, weil ein Subjekt sich erst dann mit sich zu identifizieren vermag, wenn es über die eigene Identität bereits verständigt ist.“19 Selbstbewusstsein ist dann nicht, wie das Reflexionsmodell vorschlägt, Ergebnis einer aktiven Reflexionsleistung, sondern deren Voraussetzung.20 Wegen dieser Zirkularität taugt das Reflexionsmodell nicht zur Erklärung von Selbstbewusstsein. Habermas teilt diese Auffassung21 und beschreibt das Problem folgendermaßen: „Das Subjekt, das sich erkennend auf sich bezieht, trifft das Selbst, das es als Objekt erfaßt, unter dieser

13 14 15 16 17 18

Lerch: All-Einheit, 29. Vgl. Lerch: All-Einheit, 30f. Vgl. Frank: Fragmente, 446. Vgl. Frank: Fragmente, 447. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘. Vgl. Lerch: All-Einheit, 31–35. Vgl. Henrich, Dieter: Fichtes ‚Ich‘, 62–64. Die Zirkularität wird von Henrich über verschiedene Denkwege aufgewiesen, von denen hier nur einer dargestellt wird. 19 Lerch: All-Einheit, 34. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 64. 20 Vgl. Lerch: All-Einheit, 34. 21 Vgl. Habermas: Theorie 1, 527f.

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Kategorie als ein bereits Abgeleitetes an und nicht als Es-Selbst in der Originalität des Urhebers der spontanen Selbstbeziehung.“22

6.2

Das Zirkelproblem bei Fichte

Henrich, Frank und Habermas sind sich ebenfalls darüber einig, dass es auch Fichte nicht gelungen sei, das Zirkelproblem hinsichtlich des Selbstbewusstseins zu überwinden. Weil Fichtes Lösungsversuch in Kapitel 8 noch eine Rolle spielen wird, sollen dieser Lösungsversuch und Henrichs Kritik daran im Folgenden kurz skizziert werden.23 Dem mittelbaren Selbstbewusstsein als Resultat einer Reflexionsleistung (Reflexionstheorie) liegt nach Fichte ein unmittelbares bzw. präreflexives Selbstbewusstsein oder auch ein präreflexives Ich zu Grunde.24 Dieses ist Subjekt und Objekt zugleich und weist doch keine innere Differenz auf: Subjekt und Objekt sind identisch.25 Sein Ursprung liegt in einer transzendentalen Handlung:26 Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist reine Thätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung, das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird […].“27 „Sich selbst setzen und Seyn sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich.28

In einer Weiterentwicklung des Gedankens29 heißt es, das sich Setzen (des Ich) sei ein „sich Setzen als setzend, keineswegs aber etwa ein blosses Setzen […].“30 Durch den beschriebene Gedanken der transzendentalen Selbstsetzung meint der frühe Fichte, der Zirkularität des Reflexionsmodells zu entgehen. Die Rede vom Ich, das sich selbst setzt, sei, meint Henrich, das negative Bild des Reflexionsmodells, dessen

22 Habermas: Metaphysik, 33. 23 Eine solche Skizze von Fichtes Lösungsversuch, auf die ich hier zurückgreifen werde, findet sich bei Lerch: All-Einheit, 38–43. 24 Vgl. Lerch: All-Einheit, 42. 25 Vgl. Lerch: All-Einheit, 39. 26 Vgl. Lerch: All-Einheit, 40. 27 Fichte: Grundlage, 96. 28 Fichte: Grundlage, 98 (Hervorhebungen im Original). 29 Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 199. 30 Fichte: Versuch, 528.

Das Zirkelproblem bei Fichte

Mängel Fichte erkannt habe.31 Das präreflexive Ich ist nach Fichte „der unbedingte Grund des sich selbst reflektierenden Ich, das kraft dieses Grundes explizit von sich wissen bzw. sich erkennen kann. […] [Es muss] die vom Ich ursprünglich gesetzte Identität als Bedingung der Möglichkeit der Reflexion und des Von-sich-Wissens gedacht werden.“32 Fichte interpretiert die nicht mehr hinterfragbare Einheit des präreflexiv mit sich selbst vertrauten Ichs also durch ein Handlungsmodell.33 Während eine empirische Setzung den:die Setzende:n bereits voraussetzt, konstituiert in dieser transzendentalen Setzung der:die Setzende sich selber als Setzende:n.34 Henrich diagnostiziert nun aber, dass der beschriebene Gedanke Fichtes je nach Lesart entweder ebenfalls zirkulär sei oder aber keinerlei Erklärungswert habe: Gemäß der letztgenannten Lesart habe Fichte erkannt, dass sich das Selbstbewusstsein nicht im Ausgang von seinen Elementen aufbauen lässt.35 Es funktioniert nicht, so wie die Reflexionstheorie es versucht, sich zuerst eine Aktivität zu denken, aus der dann, in einem zweiten Schritt, indem die Aktivität sich auf sich selbst zurückwendet, ein Bewusstsein dieser Aktivität von sich selbst entsteht. Henrich erläutert die Einsicht Fichtes folgendermaßen: Man kann auch nicht eines der Momente zur Grundlage des ganzen Phänomens machen wollen. Denn kein Moment geht den anderen voraus. Sie müssen gleichzeitig und mit einem Schlage eintreten […]. Hinsichtlich des Ich gilt, daß von ihm gar nichts statthat, wenn es nicht im Ganzen statthat.36

Mit der transzendentalen Handlung, mit der Aktivität ist also zugleich – nicht erst in einem zweiten Schritt – auch schon ein Wissen dieser Aktivität um sich selbst gegeben. Es handelt sich laut Henrich um ein Paradoxon: Das Gesamtphänomen Ich mit seinen Momenten der Aktivität und des Wissens um diese Aktivität setzt sich selbst, ist Ursache seiner selbst.37 Damit werde aber das Gesamtphänomen Ich bereits als nicht weiter erklärbares Faktum vorausgesetzt. Indem Fichtes Theorie „behauptet, daß das Ich sich selbst schlichtweg setze, gibt sie es ganz auf, das Problem seiner Einheit aufzulösen.“38 Die Theorie hat demnach keinen Erklärungswert.

31 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 199. Lerch: All-Einheit, 42. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 113. Vgl. Lerch: All-Einheit, 143. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 114. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 71. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 71. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 72. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 72.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Gemäß der anderen Lesart geht eine Aktivität, geht ein Setzungsakt dem Gesamtphänomen Ich voraus.39 Ist dieser Akt des Sich-Setzens aber mit einem Element des Ich identisch, dann können die anderen Momente nicht aus ihm hervorgehen (weder zugleich mit dem Sich-Setzen noch in einem zweiten Schritt),40 denn wie sollte eine Aktivität ohne Wissen von sich selbst, sich in der Rückwendung auf sich selbst oder sonst irgendwie als mit sich identisch erkennen?41 Man gerät auf diesem Wege nur wieder in die Zirkularität der Reflexionstheorie. Ist die Aktivität, die dem Gesamtphänomen Ich vorausgeht, aber kein Element des Gesamtphänomen Ich, so wäre der Grund des Selbstbewusstseins ein ihm äußerlicher, „womit man aber den Sachverhalt des Selbstbewußtseins preisgibt.“42 Wird die Identität von Ich-Subjekt und Ich-Objekt nicht vom Subjekt selbst erkannt bzw. produziert, sondern von einem Dritten, das zwischen beiden vermittelt, so kann man nicht von Selbstbewusstsein sprechen. Habermas teilt die letztgenannte Lesart. Wie Henrich hält er das Modell für paradox43 und attestiert ihm Zirkularität. Er schreibt: Fichte geht in allen seinen Konstruktionen […] von dem Zirkel jeder Bewußtseinsphilosophie aus: daß das erkennende Subjekt in der bewußten Vergewisserung seiner selbst sich, indem es sich unvermeidlich zum Objekt macht, als die vorgängige, aller Vergegenständlichung vorausliegende, schlechthin subjektive Quelle spontaner Bewußtseinsleistungen verfehlt. […] Freilich bleibt auch jene Auflösung, die Fichte […] vorschlägt, in diesem anfänglichen Zirkel gefangen.44

6.3

Henrichs Bewusstseinstheorie: präreflexives, ich-loses (Selbst-)Bewusstsein

Während Habermas einen kommunikationstheoretischen Ansatz zur Erklärung des Selbstbewusstseins wählt, sucht Henrich eine Lösung für das Problem innerhalb des Paradigmas der Bewusstseinsphilosophie und begründete damit die sogenannte Heidelberger Schule, der neben Frank auch Konrad Cramer und Ulrich Pothast zugerechnet werden.45 Um einen Zirkelschluss zu vermeiden, geht Henrich davon aus, dass dem reflexiv selbstbewussten Ich ein „ichloses Bewusstsein“46 zu Grunde

39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 74. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 75. Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 201. Henrich: Fichtes ‚Ich‘, 72. Vgl. Habermas: Individuierung, 202. Habermas: Individuierung, 198f. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 213. Henrich: Selbstbewusstsein, 275.

Henrichs Bewusstseinstheorie: präreflexives, ich-loses (Selbst-)Bewusstsein

liegt. Dieses ich-lose Bewusstsein beruht nicht auf einer aktiven Leistung, es ist nicht Resultat einer Handlung sondern ein Ereignis.47 Es handelt sich um eine Dimension, die eine Kenntnis ihrer selbst einschließt.48 Dabei ist aber das Bewusstsein nicht sein eigenes Objekt, es liegt keine Subjekt-Objekt-Beziehung vor,49 sondern es handelt sich um eine ich-lose und insofern anonyme, nicht-relationale, nicht-reflexive, unmittelbare, präreflexive Bekanntschaft bzw. Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst.50 Henrich erläutert dies folgendermaßen: Eine Selbstbeziehung kommt dem Bewußtsein allenfalls insofern zu, als wir uns über es verständigen: Es ist Bewußtsein und Kenntnis von Bewußtsein in einem und somit, in unserer schwer vermeidbaren, aber mißverständlichen Rede: Kenntnis von sich. Die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion vorliegt, ist kein Grundsachverhalt, sondern ein isolierendes Explizieren, aber nicht unter der Voraussetzung eines wie immer gearteten implizierten Selbstbewußtseins, sondern eines (impliziten) selbstlosen Bewußtseins vom Selbst.51

Dabei ist diese „implizite Vertrautheit des Bewußtseins mit sich selbst […] eine interne Eigenschaft desselben“52 , d. h. die implizite Vertrautheit des Bewusstsein mit sich selbst ist schon a priori im Begriff des Bewusstseins enthalten, Vertrautheit ist ein notwendiges Implikat von Bewusstsein.53 Weil das präreflexive Bewusstsein nach Henrich ich-los ist, wurde – um Missverständnisse zu vermeiden – in der Überschrift zu diesem Kapitel das „Selbst-“ im Begriff „Selbstbewusstsein“ in Klammern gesetzt. Dies wird auch im Folgenden so gehandhabt, wenn Ansätze thematisiert werden, die das präreflexive Bewusstsein als ich-los ansehen. Insofern Henrich jedoch von einer präreflexiven Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst spricht, erscheint es gerechtfertigt, den Begriffszusatz „Selbst-“ in Klammern stehen zu lassen. Innerhalb dieser ich-losen Bewusstseinsdimension tritt nach Henrich eine Aktivität auf, die als ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘ bezeichnet werden kann.54 Präreflexive Vertrautheit mit sich selbst kommt diesem Ich zu, weil es Anteil hat an der impliziten

47 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 275–277. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 277. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 278. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 277. Vgl. Lerch: All-Einheit, 49–52. Vgl. Mauersberg: Abschied, 116–118. Henrich: Selbstbewusstsein, 280. Striet: Ich, 277. Vgl. Lerch: All-Einheit, 50 und 55. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 276 und 279. Vgl. Lerch: All-Einheit, 53.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Vertrautheit der ich-losen Bewusstseinsdimension.55 Die Vertrautheit ist keine aktive Leistung des Ich.56 Indem diese Aktivität sich auf sich selbst zurückbiegt, entsteht – ohne Zirkel – reflexives Selbstbewusstsein eines Ich.57 Allein auf Grund dieser „Fähigkeit, auf sich selbst zu reflektieren, kann dieses aktive Prinzip den Namen ‚Ich‘, ‚Selbst‘ oder ‚Subjekt‘ zu Recht haben.“58 Die beschriebene Aktivität ist nach Henrich in der Lage, sich selbst zu steuern.59 Das ich-lose Bewusstsein indessen könne, so Henrich, nicht auf etwas anderes zurückgeführt werden.60 Er hält es also für ein irreduzibles, nicht weiter erklärbares Faktum. Frank übernimmt die beschriebene Theorie von Henrich.61 Habermas beurteilt Henrichs Lösungsversuch als gleichermaßen paradox wie den Versuch Fichtes.62 Bezugnehmend auf Henrichs These vom „(impliziten) selbstlosen Bewußtsein[s] vom Selbst“63 konstatiert er: „Dieser Begriff ist nicht weniger paradox als der Begriff des identifizierend gedachten Nicht-Identischen [der Reflexionstheorie], und zwar aus dem gleichen Grund.“64 Ernst Tugendhat, selbst ein Vertreter des sprachphilosophischen Paradigmas, meint zu Henrichs Ansatz ebenfalls, hier stoße man wohl an die Grenze der Verständlichkeit.65 Tatsächlich stellt sich im Hinblick auf Henrichs These die Frage, ob es angemessen ist, ein Bewusstsein, das mit sich selbst vertraut ist, das Kenntnis von sich hat, als anonym bzw. ich-los zu bezeichnen. Beinhaltet der Begriff des ‚Bewußtseins vom Selbst‘ analytisch nicht schon, das dieses Bewusstsein gerade nicht anonym, sondern ‚selbsthaft‘ ist? Im Zusammenhang mit phänomenologischen Überlegungen zum präreflexiven Selbstbewusstsein (vgl. Kapitel 6.5) komme ich auf diese Frage zurück. Weitere kritische Anfragen an Henrichs Selbstbewusstseinstheorie ergeben sich aus der freiheitstheoretischen Perspektive im Anschluss an Hermann Krings, wie die Erörterungen in Kapitel 8.4.2 zeigen werden.

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 279. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 276. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 279. Vgl. Lerch: All-Einheit, 53. Henrich: Selbstbewusstsein, 276. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 279. Vgl. Henrich: Selbstbewusstsein, 280. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 6f. Vgl. Mauersberg: Abschied, 117f. Vgl. Habermas: Theorie 1, 528. Henrich: Selbstbewusstsein, 280. Habermas: Theorie 1, 528. Tugendhat: Selbstbewusstsein, 66.

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

6.4

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

Habermas geht davon aus, dass „das Fichtesche Ausgangsproblem durch einen Wechsel des Paradigmas gegenstandslos wird.“66 Seinen kommunikationstheoretischen Vorschlag zur Genese des Selbstbewusstseins verortet er innerhalb des sprachphilosophischen Paradigmas. Eine Erklärung des Selbstbewusstseins allein unter Bezug auf die Semantik, wie Tugendhat sie versucht hat,67 gelingt aber nach Habermas‘ Auffassung nicht. Vielmehr muss in die Erklärung nach Habermas‘ Meinung die Sprachpragmatik mit einbezogen werden, die Sprache unter dem Aspekt ihrer Verwendung im kommunikativem Handeln analysiert.68 Zu diesem Zweck greift er auf die Kommunikations- bzw. Selbstbewusstseinstheorie des Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück, die eine wesentliche Grundlage seiner eigenen Theorie darstellt.69 Obwohl Mead die linguistische Wende in der Philosophie nicht zur Kenntnis nehme, ergäben sich erstaunliche Konvergenzen zwischen pragmatischer Sprachanalyse und Wissenschaftstheorie einerseits und der Mead‘schen Sozialpsychologie andererseits.70 6.4.1

(Selbst-)Bewusstsein auf dem Niveau nicht-propositionaler Gebärdenkommunikation

Die ursprünglichste Form von Selbstbewusstsein entsteht – so argumentiert Habermas mit Mead – noch vor der Entwicklung einer ausdifferenzierten propositionalen Sprache zugleich mit der Entwicklung einer vorsprachlichen Gebärdenkommunikation, wobei mit Gebärden Lautgebärden gemeint sind.71 Ein dieser Kommunikation vorausliegendes, nicht kommunikativ konstituiertes Selbstbewusstsein bestreiten Habermas und Mead.72 Vielmehr sei jedes Ich in „seinem bewußten Denken-, Fühlen-, Handeln- und Wollen-Können […] als sozial konstituiert anzusehen.“73 Die Fremdwahrnehmung geht dabei der Selbstwahrnehmung voraus.74 Habermas rekonstruiert Meads Kommunikationstheorie, die auch eine Erklärung für die

66 67 68 69 70 71 72 73 74

Habermas: Metaphysik, 34. Vgl. Tugendhat: Selbstbewußtsein. Vgl. Habermas: Theorie 1, 531f. Vgl. Habermas: Theorie 2, 12–30. Vgl. Habermas: Individuierung, 187–241. Vgl. Habermas: Theorie 2, 12. Vgl. Habermas: Individuierung, 212 und 214f. Vgl. Habermas: Individuierung, 217. Vgl. Düsing: Intersubjektivität ,45 und 83. Düsing: Intersubjektivität, 46. Vgl. Düsing: Intersubjektivität, 58.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Genese des Selbstbewusstseins beinhaltet, in der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ folgendermaßen:75 Die Entwicklung der propositional ausdifferenzierten Rede sei nach Mead ausgehend von der bei Wirbeltieren verbreiteten Gebärdensprachen (conversation of gestures) über den Zwischenschritt einer signalsprachlichen Stufe symbolisch vermittelter Interaktion entstanden. Im Gegensatz zu den auch subhuman verbreiteten Gebärdensprachen kämen nach Mead auf der signalsprachlichen Stufe symbolisch vermittelter Interaktion Signale – Rufe oder Zeichen – zum Einsatz, deren Bedeutung für die verschiedenen Teilnehmenden an der Interaktion identisch sei. Die Signale würden auf dieser Stufe jedoch nicht wie in der propositional ausdifferenzierten Rede syntaktisch geordnet. Vielmehr handele es sich um Einwortäußerungen oder Lautgesten. Zentral ist nun, wie Mead nach Habermas die Entstehung einer identischen Bedeutung eines Signals für die Kommunikationsteilnehmer:innen erklärt. Ausgangspunkt dafür ist die durch Gesten vermittelte Interaktion zwischen Tieren, die folgendermaßen abläuft: Die Interaktion baut sich so auf, daß die Anfangselemente der Bewegung des einen Organismus die Geste darstellen, die als auslösender Reiz für die Verhaltensreaktion des anderen Organismus dient, während die Anfangselemente dieser Bewegung wiederum eine Gebärde bilden, die auf seiten des ersten Organismus eine Anpassungsreaktion hervorruft […].76

Ein:e Beobachter:in könne dann die Reaktion des zweiten Organismus auf den Reiz des ersten Organismus als Interpretation einer Geste durch den zweiten Organismus verstehen, die einen Austausch von Gesten anstößt. Insofern diese Bedeutung der Geste durch eine:n Beobachter:in und nicht durch den Organismus selbst zugeschrieben wird, bezeichne Mead sie in Anlehnung an die Tierverhaltensforschung als objektive oder natürliche Bedeutung. Die Tierverhaltensforschung unterstelle dem Organismus selbst jedoch kein Bewusstsein dieser Bedeutung. Ein subjektives Bewusstsein von der Bedeutung der eigenen Gesten entstehe nach Mead in der Evolution erst beim Menschen. Mead geht nach Habermas davon aus, dass Gesten an der Schwelle zur Menschwerdung ausgehend von der objektiven auch eine subjektive Bedeutung für die Interaktionsteilnehmer:innen erhalten. Genauer gesagt erhalte die Geste des ersten Organismus eine subjektive Bedeutung zunächst nicht für diesen selbst sondern für den zweiten Organismus:

75 Vgl. zum Folgenden bis Fußnote 86, wenn nicht anders angegeben, Habermas: Theorie 2, 11–30 und 39. 76 Habermas: Theorie 2, 17.

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

Weil die Geste des ersten Organismus durch die Anfangselemente einer wiederholt auftretenden Bewegungsreaktion verkörpert wird und insofern ein Anzeichen für den Zustand ist, in dem die komplette Bewegung resultieren wird, kann der zweite Organismus darauf so reagieren, als ob die Geste Ausdruck einer Absicht sei, dieses Resultat herbeizuführen. Damit verleiht er der Geste eine Bedeutung, die diese freilich zunächst nur für ihn besitzt.77

Zwei Organismen, die Gesten austauschen, bringen demnach durch ihre Verhaltensreaktion zum Ausdruck, wie sie die Gesten des anderen jeweils verstehen. Die Bedeutung der eigenen Gesten – so erläutert Habermas Meads Theorie – erlerne ein:e Interaktionsteilnehmer:in, indem er:sie die Perspektive der anderen Interaktionsteilnehmer:innen auf sich selbst einnehme, genauer gesagt, indem er:sie „die Reaktion des anderen Organismus und damit dessen Deutung vorwegnimmt […].“78 Dazu ist er:sie in der Lage, wenn bzw. weil seine:ihre Gesten in ihm:ihr „die gleichen Reaktionen implizit auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen auslösen […].“79 Besonders leicht sei dies nach Mead bei vokalen Gesten, weil dabei der:die Sender:in akustische Signale ebenso gut wahrnehmen könne wie der:die Empfänger:in. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme scheint Mead als etwas spezifisch Menschliches anzusehen. Die eigene Geste gewinnt auf die beschriebene Art und Weise für den:die Interaktionsteilnehmer:in die gleiche Bedeutung wie für den:die andere:n. Auf diese Weise komme, so Habermas, eine rudimentäre Form von Selbstbewusstsein zu Stande in dem Sinne, dass der:die Interaktionsteilnehmer:in sich seiner:ihrer eigenen Absichten bewusst werde. „Das Individuum gelangt deshalb dazu, sich seiner eigenen Haltung bewußt zu werden, weil sie der offenkundig gewordene Anlaß für bestimmte Veränderungen im Verhalten anderer Individuen gewesen ist.“80 Intersubjektivität liegt indessen nach Habermas noch nicht vor, weil die Tatsache, dass beide Interaktionsteilnehmer:innen dieselbe Geste übereinstimmend interpretieren, den Interaktionsteilnehmer:innen nicht bewusst ist. Letzteres sei allerdings bei der symbolisch vermittelten Kommunikation der Fall. Habermas ergänzt deshalb selbst eine zweite Perspektivübernahme als weiteren Entwicklungsschritt, von dem er meint, Mead grenze ihn nicht deutlich genug vom ersten Entwicklungsschritt ab. Die oben beschriebene, erste Perspektivübernahme bewirke, dass jeder der beiden Organismen fortan in der Lage sei, Gesten in kommunikativer Absicht hervorzubringen, weil er mit ihnen die Erwartung verbinde, dass sie für den an-

77 78 79 80

Habermas: Theorie 2, 20. Habermas: Theorie 2, 23. Habermas: Theorie 2, 23. Düsing: Intersubjektivität, 51.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

deren Organismus eine bestimmte Bedeutung haben. Die Geste werde so „aus dem unreflektierten sozialen Regelkreis bloß instinktiver Reize und Reaktionen“81 herausgelöst und bewusst hervorgebracht. Dadurch entsteht eine Situation, in der der Mechanismus der Verinnerlichung erneut, und zwar auf die Einstellung angewendet werden kann, in der beide Organismen ihre Gesten nicht mehr nur geradehin, als adaptives Verhalten äußern, sondern aneinander adressieren. Sobald sie diese adressierende Einstellung des anderen auch sich selbst gegenüber einnehmen, lernen sie die Kommunikationsrollen von Hörer und Sprecher: sie verhalten sich zueinander wie ein Ego, das einem Alter Ego etwas zu verstehen gibt.82

Habermas stellt sich die zweite Perspektivübernahme also folgendermaßen vor: Ein erster Organismus, der Gesten in kommunikativer Absicht hervorbringt, ist sich auf Grund der ersten, Mead’schen Perspektivübernahme dieser Absicht bewusst und kann deshalb als Sprecher bezeichnet werden. Diese Rolle hat er bereits erlernt. Aus seiner Perspektive spricht er zum zweiten Organismus in der Erwartung, dass dieser seine Geste versteht, ihm also als Hörer gegenübertritt. Übernimmt nun der zweite, angesprochene Organismus die Perspektive des Sprechers auf sich – wozu er in der Lage ist, weil er selbst schon erlernt hat, Sprecher zu sein – , so lernt er, sich selbst als Hörer anzusehen, an den eine Geste adressiert wird in der Erwartung, dass er sie verstehen werde. Eine Hörerin, die weiß, dass von ihr eine verstehende Antwort erwartet wird, deren Antwort wird nicht mehr eine „stimulierte Reaktion“83 auf einen Reiz sein, sondern eine tatsächliche Antwort. Übernimmt die Sprecherin ihrerseits die Perspektive der Hörerin auf sich selbst als Sprecherin, so nimmt sie sich selbst gegenüber die Rolle der Hörerin ein. Fortan kann sie zu sich selbst genauso wie zu einer anderen Person sprechen. „Mit der zweiten Einstellungsübernahme lernen sie [die Interaktionsteilnehmer:innen], was es heißt, eine Geste in kommunikativer Absicht zu verwenden und eine reziproke Beziehung zwischen Sprecher und Hörer einzugehen.“84 Auf die zweite Einstellungsübernahme folgt nach Habermas noch eine dritte, die Mead ebenfalls nicht scharf herausarbeite. Diese sei dafür konstitutiv, „daß die Interaktionsteilnehmer nicht nur objektiv übereinstimmende Interpretationen vornehmen, sondern derselben Geste eine identische Bedeutung zuschreiben.“85 Missinterpretiert eine Hörerin die Geste einer Sprecherin, so wird letztere, weil

81 82 83 84 85

Düsing: Intersubjektivität, 48. Habermas: Theorie 2, 27. Habermas: Theorie 2, 27. Habermas: Theorie 2, 28. Habermas: Theorie 2, 28.

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

sie eine andere Interpretation und damit auch eine andere Reaktion der Hörerin erwartet hat, ihre Enttäuschung über die misslungene Kommunikation zum Ausdruck bringen. Übernimmt die Hörerin diese Perspektive auf sich, bemerkt sie das Missverständnis und kann ihre Interpretation korrigieren. Umgekehrt kann die Sprecherin die Perspektive der Hörerin einnehmen, die Missinterpretation ihrer eigenen Geste erkennen und sie ggf. modifizieren. Internalisiert eine Sprecherin die Hörer:innenperspektive, kann sie im Vorhinein überlegen, ob sie in einer gegebenen Situation eine mit Bedeutung versehene Geste so verwendet, dass sie zu Missverständnissen Anlass geben könnte. Unter dieser Voraussetzung können sich Regeln der Symbolverwendung, also Bedeutungskonventionen, bilden. Haben sich Bedeutungskonventionen gebildet, bringen Sprecher:innen Gesten nicht mehr nur in der prognostischen Erwartung hervor, dass Hörer:innen darauf in bestimmter Weise reagieren, sondern in der normativen Erwartung, dass Hörer:innen darauf regelkonform in bestimmter Weise reagieren müssten bzw. sollten, weil die Hörer:innen die Regel kennen. Die auf dieser Stufe vorliegende elementare, originäre Form von Selbstbeziehung86 ist das performative Selbstbewusstsein.87 Es beinhaltet allerdings nur ein Bewusstsein des Sprechers von sich selbst als Sprecher, d. h. als einem Wesen, das Symbole mit der Absicht der Verständigung mit einem Hörer hervorbringt, bzw. ein Bewusstsein des Hörers von sich selbst als Hörer, d. h. als einem Wesen, an das ein Sprecher Symbole mit der Absicht der Verständigung adressiert. Der Sprecher hat ein Bewusstsein von sich selbst (nur) insofern er „sich seine eigenen Äußerungen zurechnet; er wird erst durch die Perspektivübernahme auch für sich selbst zum Autor seiner Äußerung, wenn er dafür eine Begründungsverpflichtung übernimmt.“88 Die Verständigung dient außerdem auf dieser Stufe der symbolisch vermittelten Interaktion noch der Koordination eines Verhaltens, das abgesehen von diesem Kernprozess der Verständigung noch von Instinkten gesteuert ist.89 6.4.2

(Selbst-)Bewusstsein auf dem Niveau propositional ausdifferenzierter Sprache

Die Entstehung der symbolisch vermittelten Interaktion ist nach Habermas und Mead Voraussetzung für eine weitere, sich daran anschließende Entwicklungsstufe. Mead rekonstruiert die Entstehung dieser Entwicklungsstufe sozialpsychologisch.90 Habermas knüpft zwar teilweise an Meads Überlegungen an, rekonstruiert den 86 87 88 89 90

Vgl. Habermas: Individuierung, 215. Vgl. Mauersberg: Abschied, 143 und 149. Mauersberg: Abschied, 160. Vgl. Habermas: Individuierung, 40. Vgl. Habermas: Theorie 2, 45.

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Entwicklungsschritt aber doch anders als Mead und zwar aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive.91 Im Folgenden wird nur die Habermas’sche Rekonstruktion dargestellt. Bei den Einwortäußerungen der symbolisch vermittelten Interaktion sind die damit verbundenen Geltungsansprüche noch nicht ausdifferenziert: Es hängt vom Kontext ab, ob mit einer Äußerung ein Geltungsanspruch hinsichtlich eines Sachverhalts in der Welt übermittelt werden soll (Wahrheit), ob die Äußerung ein bestimmtes Verhalten einfordert bzw. kritisiert (Legitimität) oder Ausdruck einer persönlichen Betroffenheit ist (Wahrhaftigkeit).92 Diese Geltungsansprüche bilden eine „diffuse Einheit“93 . Das Potential zur Ausdifferenzierung dieser Geltungsansprüche ist aber vorhanden, so dass sich ausgehend von der symbolisch vermittelten Interaktion die propositional ausdifferenzierte Sprache entwickeln kann, bei der an der Äußerung selbst bereits erkennbar ist, welche Art von Geltungsanspruch (assertorisch, appellativ oder expressiv)94 explizit erhoben wird und welche in den impliziten Hintergrund treten. In einem ersten Schritt, meint Habermas, hätten Interaktionsteilnehmer:innen gelernt, sich durch Propositionen auf physische Dinge in einer objektiven Welt zu beziehen.95 In einem zweiten Schritt hätten sich normenreguliertes Handeln entsprechend gesellschaftlich zugeschriebener Rollen und die damit verbundenen Geltungsansprüche entwickelt.96 Sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch spielt dabei der oben beschriebene Mechanismus der Perspektivenübernahme eine Rolle,97 durch den „normativ generalisierte Verhaltenserwartungen“98 verinnerlicht werden.99 Die sich entwickelnden Normen dienen ebenso wie schon die Symbole der symbolisch vermittelten Interaktion der intersubjektiven Handlungskoordinierung. Diese wird allerdings nun anders als bei der symbolisch vermittelten Interaktion nicht mehr von Instinkten gesteuert, sondern durch das rational motivierte Einverständnis, das für die ursprüngliche kommunikative Etablierung der Normen vorausgesetzt werden muss und das im Konfliktfall diskursiv erneuert werden muss.100 Auf dieser Entwicklungsstufe sind also nicht mehr nur die Kommunikati-

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

Vgl. Habermas: Theorie 2, 41. Vgl. Habermas: Theorie 2, 16 und 45. Habermas: Theorie 2, 97. Vgl. Habermas, Theorie 2, 97. Vgl. Habermas, Theorie 2, 50. Vgl. Habermas, Theorie 2, 53–64. Vgl. Habermas, Theorie 2, 54. Habermas: Individuierung, 218. Vgl. Habermas: Individuierung, 218. Vgl. Habermas, Theorie 2, 50–52 und 63–65.

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

onsmittel sondern auch die Verhaltensschemata symbolisch durchstrukturiert.101 Sowohl mit dem assertorischen Modus als auch mit dem appellativen Modus der Rede ist jeweils eine bestimmte Art von Selbstbewusstsein verknüpft, das sich aus der Perspektivübernahme ergibt. Es handelt sich einmal um das Bewusstsein seiner selbst als erkennendes Subjekt, das seine Aussagen über die Welt vor anderen rechtfertigen kann und können muss, und einmal um das Bewusstsein seiner selbst als für die eigenen Handlungen und Handlungsmotive verantwortliches Subjekt.102 Besonders wichtig im Hinblick auf die Genese des Selbstbewusstseins ist aber die Ausdifferenzierung des expressiven Modus der Rede in einem dritten Schritt.103 Durch diese Ausdifferenzierung entsteht „jene subjektive Welt privilegiert zugänglicher Erlebnisse […], die der Handelnde in expressiven Äußerungen vor den Augen eines Publikums enthüllt […]“104 , durch sie entsteht eine „epistemische Selbstbeziehung“105 , die über das Bewusstsein von sich selbst als Sprecherin oder Hörerin sowie als erkennendes und handelndes Subjekt hinausgeht. Auch diese Selbstbeziehung entsteht durch Perspektivübernahme: Anknüpfend an Tugendhats semantische Erklärung von Selbstbewusstsein106 geht Habermas davon aus, dass Interaktionsteilnehmer:innen ihr Verhalten bzw. ihre Äußerungen gegenseitig als Ausdruck bestimmter innerer Zustände interpretieren können. Ursprünglich wird das entsprechende Verhalten bzw. werden die entsprechenden Äußerungen unwillkürlich und spontan hervorgebracht, ohne dass bei dem die Äußerungen hervorbringenden Individuum ein Wissen von den eigenen inneren Zuständen besteht.107 Das Verhalten bzw. die Äußerungen entspringen der „Bedürfnisnatur“108 des Menschen. Durch Übernahme der Perspektive anderer Interaktionsteilnehmer:innen auf sich selbst können Interaktionsteilnehmer:innen dann ein Wissen von den eigenen inneren Zuständen gewinnen und die entsprechenden Äußerungen willentlich in der Absicht hervorbringen, dass sie vom Gegenüber entsprechend der auf Erfahrung beruhenden Prognose interpretiert werden. Durch weitere Perspektivübernahmen entsprechend dem oben beschriebenen Modus können sich Bedeutungskonventionen für innere Zustände entwickeln. Ein innerer Zustand muss also in gewisser Weise zunächst über eine Expression, eine Äußerung, aus Interaktionsteilnehmer:innen heraustreten, damit er dann in einem zweiten Schritt ein Objekt des Wissens für andere und die die Äußerung

101 102 103 104 105 106 107 108

Vgl. Habermas; Theorie 2, 69. Vgl. Habermas, Theorie 2, 66. Vgl. Habermas, Theorie 2, 65–68. Habermas, Theorie 2, 67. Habermas: Individuierung, 230. Vgl. Mauersberg: Abschied, 142. Vgl. Habermas: Theorie 2, 99. Habermas: Theorie 2, 65.

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produzierenden Individuen selbst werden kann.109 Haben Interaktionsteilnehmer:innen die Perspektive der anderen Interaktionsteilnehmer:innen verinnerlicht, können sie sich ihrer eigenen inneren Zustände natürlich auch ohne eine tatsächlich stattfindende Interaktion bewusst sein. Sie führen dann gewissermaßen schon geführte Gespräche mit anderen ihresgleichen in einem inneren Dialog fort.110 Der reflexive Zugang, den jede:r zu seinen psychischen Erlebnissen hat, verdankt sich nach Habermas also nicht den introspektiven Fähigkeiten des individuellen Bewusstseins, sondern der intersubjektiven Perspektivübernahme und der Internalisierung dieser Perspektivübernahme.111 Mit dem expressiven Modus der Rede verbindet Habermas den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit.112 Wer eine expressive Äußerung tätigt, vertritt damit anderen Interaktionsteilnehmer:innen gegenüber den Anspruch, sich tatsächlich in dem entsprechenden inneren Zustand zu befinden. Das performative Selbstbewusstsein, das als Moment der intersubjektiven Struktur jeden Sprechakt formal begleitet, integriert alle drei mit den ausdifferenzierten Geltungsansprüchen verknüpften Selbstverhältnisse – das epistemische, das praktische und das expressive.113 Es garantiert die Einheit im Wechsel der Modi der Sprachverwendung.114 6.4.3

Mead im Vergleich zu Tomasello

Während sich Habermas in diesen älteren Überlegungen zur Genese des Selbstbewusstseins auf Mead bezieht, rezipiert er, wie in Kapitel 5.5.2 erläutert, in jüngeren Überlegungen zur Genese der besonderen Form des menschlichen Gegenstandsbewusstsein bzw. der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im Ganzen Tomasello. Beide – Mead und Tomasello – sind sich darin einig, dass das menschliche Bewusstsein entscheidend dadurch geprägt wird, dass Menschen gegenseitig ihre Perspektiven aufeinander voneinander übernehmen. Zwischen beiden Ansätzen bestehen aber auch Unterschiede in entscheidenden Hinsichten, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Habermas thematisiert diese Unterschiede nicht, obwohl sie für die Frage, wie menschliches Bewusstsein entsteht, wichtig sind. Der erste wichtige Unterschied besteht darin, dass Mead davon ausgeht, dass die Perspektivübernahme die Verwendung von Lautäußerungen, die mit natürlicher

109 110 111 112 113 114

Vgl. Mauersberg: Abschied, 140. Vgl. Düsing: Intersubjektivität, 55. Vgl. Mauersberg: Abschied, 141. Vgl. Mauersberg: Abschied, 142. Vgl. Mauersberg: Abschied, 143. Vgl. Habermas: Theorie 2, 117.

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Bedeutung verknüpft sind und eine Reaktion des Gegenübers hervorrufen, voraussetzt. Durch Perspektivübernahme, meint er, eigneten sich die Interaktionsteilnehmer:innen die objektive Bedeutung der Lautäußerungen subjektiv an. Tomasello stimmt mit dieser Auffassung in zweierlei Hinsicht nicht überein. Erstens geht er davon aus, dass die Perspektivübernahme keine Gesten oder Lautäußerungen voraussetzt, die sich an ein Gegenüber richten. Vielmehr setzt die Verwendung und das Verstehen von Zeigegesten nach Tomasello ihrerseits die Perspektivübernahme voraus. Für diese bedarf es nach Tomasello nur der Teilnahme an irgendwelchen Interaktionen mit identischen Zielen. Zweitens spielen nach Tomasello für die weitere Entwicklung der menschlichen Kognition nach der Perspektivübernahme Lautäußerungen zunächst keine Rolle. Stattdessen geht Tomasello davon aus, dass nach der Perspektivübernahme zunächst Zeigegesten und anschließend immitierende Gesten zum Einsatz kommen bzw. kamen und sich die Lautsprache erst später entwickelt(e). Mead postuliert eine kontinuierliche Entwicklung von der Verwendung von Lautäußerungen mit natürlicher (den Interaktionsteilnehmer:innen nicht bewusster) Bedeutung zur Verwendung von Lautäußerungen mit konventioneller, den Interaktionsteilnehmer:innen bewusster Bedeutung. Tomasello dagegen meint, dass Lautäußerungen mit natürlicher Bedeutung, die es bei Menschenaffen durchaus gibt, für die Perspektivübernahme und die damit verbundene Entwicklung gemeinsamer Intentionalität keine Rolle spielen bzw. gespielt haben. Nach Tomasello gibt es keine Kontinuität zwischen den Lautäußerungen von Menschenaffen bzw. der gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen und der Art und Weise, wie Menschen Lautäußerungen bewusst zu Kommunikationszwecken einsetzen. Kontinuität sieht er vielmehr zwischen den (erst nach der Perspektivübernahme möglichen) Zeigegesten und imitierenden Gesten und der Verwendung von Lautsprache. Der zweite wichtige Unterschied zwischen Mead und Tomasello besteht darin, dass Mead eindeutig davon ausgeht, dass die Interaktionsteilnehmer:innen vor der Perspektivübernahme nicht über Selbstbewusstsein und somit auch nicht über ein Bewusstsein der Absichten, die sie mit irgendwelchen Lautäußerungen verfolgen, verfügen. Die Lautäußerungen werden vielmehr unbewusst auf Grund irgendwelcher innerer oder äußerer Umstände hervorgebracht und rufen beim Gegenüber ebenfalls unbewusst nach einem Reiz-Reaktions-Schema Reaktionen hervor. Erst durch die Perspektivübernahme erwerben die Interaktionsteilnehmer:innen ein Bewusstsein von ihren eigenen Absichten (also Selbstbewusstsein) und die Fähigkeit Lautäußerungen bewusst in kommunikativer Absicht hervorzubringen. Tomasello äußert sich in dieser Hinsicht weniger eindeutig. Er geht davon aus, dass auch Menschenaffen, obwohl sie zur Perspektivübernahme nicht fähig sind, dennoch durchaus über Intentionen verfügen und die Intentionen ihrer Artgenoss:innen erkennen können. Er äußert sich jedoch nicht dazu, ob diese Menschenaffen ohne Fähigkeit zur Perspektivübernahme sich ihrer Intentionen auch bewusst sind oder

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nicht, ob sie also ohne Perspektivübernahme über Selbstbewusstsein verfügen oder nicht. Auch erläutert er nicht, ob die Menschenaffen sich ihres Wissens bezüglich der Intentionen ihrer Artgenoss:innen bewusst sind. 6.4.4

Der Zirkel in der Habermas’schen Erklärung von Selbstbewusstsein

Henrich und Frank bestreiten allerdings, dass Habermas durch das neue Paradigma das Zirkelproblem der Genese von Selbstbewusstsein gelöst habe. Henrich geht argumentativ dabei nicht ins Detail. Ausdrücklich gegen Habermas hält er aber daran fest, dass das Funktionieren der sprachlichen Kommunikation ein Selbstverhältnis der Sprecher:innen konstitutiv voraussetze.115 Detailliert setzt Henrich sich nur mit der auf Tugendhat zurückgehenden semantischen und somit ebenfalls kommunikativen und letztlich intersubjektiven Erklärung von Selbstbewusstsein auseinander.116 Seine dort geäußerte Kritik trifft in weiten Teilen auch auf den Habermas’schen Ansatz zu.117 Da die Theorie Tugendhats mit der von Habermas aber nicht identisch ist, werde ich mich im Folgenden stattdessen auf Franks Ausführungen konzentrieren. Dieser beschäftigt sich ausführlich mit dem Habermas’schen Erklärungsansatz für Selbstbewusstsein und verteidigt die Ansicht, dass solche „Versuche, die irrelationale Vertrautheit von Bewusstsein aus Verhältnissen – sei’s der Verhaltensbeobachtung, sei’s der interaktiven Rollenübernahme – abzuleiten […] früher oder später in die von Dieter Henrich aufgezeigten Zirkel“118 münden.119 Dieses Problem teile sich der Habermas’sche Ansatz mit ähnlich gelagerten Theorieansätzen wie dem von Tugendhat.120 Sprachkonditionierung könne zu Selbsterkenntnis „nur unter der zirkelhaften Voraussetzung führen, dass der Sinn von Selbstheit schon von anderwärtsher verfügbar war und in der Zueignung fremder Sicht-auf-mich lediglich wieder-, aber nicht ursprünglich erkannt wurde.“121 Der Sinn von Subjektsein könne „aus der Kooperation nicht abgeleitet werden […].“122 Wie aber begründet Frank diese Behauptungen? Zur Verdeutlichung des Zirkelproblems bei Habermas bezieht sich Frank auf folgende Habermas’sche Erläuterung: „Das Selbst, das mir, vermittelt durch den Blick des Anderen auf mich, gegeben ist, ist das ‚Erinnerungsbild‘ meines Ego, wie es im Anblick eines Alter ego soeben

115 116 117 118 119 120 121 122

Vgl. Henrich: Metaphysik, 34. Vgl. Henrich: Zirkeln. Vgl. Dews: Naturalismus, 866–868. Frank: Ansichten, 265. Vgl. Frank: Ansichten, 293. Vgl. Frank: Ansichten, 266. Frank: Ansichten, 296. Frank: Ansichten, 306.

Die Habermas’sche Erklärung von (Selbst-)Bewusstsein durch sprachliche Vergesellschaftung

von Angesicht zu Angesicht gehandelt hat.“123 An anderer Stelle schreibt Habermas, durch die Perspektivübernahme werde ein:e Akteur:in seiner:ihrer selbst als soziales Objekt ansichtig.124 Und er fährt, Mead zitierend, fort: Mit dieser Selbstbeziehung verdoppelt er sich in die Instanz eines ‚Mich‘, das dem performativen ‚Ich‘ als Schatten folgt – als Schatten, denn ‚mir‘ bin ‚ich‘ als der Urheber einer spontan vollzogenen Gebärde nur in der Erinnerung gegeben: ‚Wenn man also fragt, wo das ‚Ich‘ in der eigenen Erfahrung direkt auftritt, lautet die Antwort: als historische Figur. Was man eine Sekunde vorher war, das ist das ‚Ich‘ des ‚Mich‘.125

Das spontan handelnde ‚Ich‘ (bei Mead „I“) ist demnach einer direkten, eigenen Erfahrung unzugänglich.126 Es wird aber aus der internalisierten Perspektive eines sozialen Gegenübers, d. h. aus der Perspektive des ‚Mich‘ (bei Mead „Me“), erfahrbar für sich selbst bzw. für das ‚Mich‘ – und zwar als Erinnerung. Das sprechende Subjekt verfügt demnach kommunikativ vermittelt über eine Erinnerung an sein introspektiv unzugängliches Ich.127 Frank entgegnet: Erinnerung setzt aber doch Kontinuität zwischen der subjektiven Selbsterkenntnis und der intersubjektiven Rollenkenntnis voraus – und eben eine solche kann Meads Modell nicht verständlich machen, da sie die von der Erinnerung aufs Erinnerte geschlagene Brücke auf der Seite der vorsprachlich-intuitiven Selbstvertrautheit ihres Widerlagers beraubt. So kann im Reflex des ‚Me‘ gerade kein ‚Erinnerungsbild‘ entstehen: das ‚Me‘ ist zwar gegenständlich, [sic!] gegeben, aber nicht als ‚Me‘.128

Das von Frank angesprochene Problem besteht hier letztlich in der Frage, wer sich eigentlich erinnert, wer das Subjekt der Erinnerung ist. Ist es das ‚Me‘, das sich erinnert, – also letztlich der:die Andere, das Alter ego – bleibt es unverständlich, woher dieses ‚Me‘ überhaupt weiß, dass es sich an sich selbst erinnert und nicht etwa an irgendein anderes soziales Gegenüber, das nicht es selbst ist. Ist es das ‚I‘, das sich erinnert, muss man davon ausgehen, dass es über eine vorkommunikative, ursprüngliche Vertrautheit mit sich selbst verfügt, durch die es sich seines spontanen Handelns bewusst ist, und sich daran – kommunikativ vermittelt – erinnern kann.

123 124 125 126 127 128

Habermas: Individuierung, 211f. Vgl. Habermas: Individuierung, 216. Habermas: Individuierung, 216. Vgl. Habermas: Individuierung, 211. Vgl. Frank: Ansichten, 314. Frank: Ansichten, 314.

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Ohne diese vorkommunikative Vertrautheit des ‚I‘ mit sich selbst gäbe es auch nichts, woran das ‚I‘ sich erinnern könnte. Während durch die „Rede vom Sich-Erinnern ans vorsprachliche ‚Ich‘ aus der Perspektive des (fremdkonstituierten) ‚Mich‘“129 das Zirkelproblem besonders deutlich wird, betrifft es dennoch nach Franks Meinung, die hier geteilt wird, den Habermas’schen Ansatz zur Genese von Selbstbewusstsein als Ganzen.130 Der Zirkelschluss tritt bereits bei der ersten Perspektivübernahme auf, die Habermas der Entstehung der signalsprachlichen Stufe symbolisch vermittelter Interaktion zu Grunde legt. Die Bedeutung der eigenen Gesten, meint Habermas wie bereits erläutert, erlernt der:die Interaktionsteilnehmer:in, indem er:sie die Perspektive der anderen Interaktionsteilnehmer:innen auf sich selbst einnimmt bzw. indem er:sie die Reaktion des anderen Organismus und damit dessen Deutung der eigenen Geste vorwegnimmt. Wie aber kann der:die Interaktionsteilnehmer:in sich überhaupt bewusst sein, dass (1) überhaupt eine Geste oder eine Lautäußerung stattgefunden hat und dass (2) er:sie selbst diese Geste oder Lautäußerung hervorgebracht hat? Zumindest das zuerst Genannte müsste vorausgesetzt werden, damit ein:e Interaktionsteilnehmer:in seiner:ihrer Geste durch Perspektivübernahme eine Bedeutung zuschreiben kann. Ansonsten könnte sich zwar möglicherweise in seinem:ihrem Gehirn die mit der Ausführung der Geste korrelierte neuronale Aktivität mit der neuronalen Aktivität einer der Geste entsprechenden Reaktion verknüpfen. Man könnte aber nicht davon sprechen, dass der:die Interaktionsteilnehmer:in der Geste bewusst Bedeutung zuspricht, sondern nur davon, dass mit einem bestimmten unbewussten Reiz eine bestimmte unbewusste Reaktion verknüpft ist. Dementsprechend fragt Frank: „[…] wie soll ich Bewußtseinszustände in Erfahrung überführen, wenn zwischen beiden kein Band des Bewußtseins besteht?“131 Und selbst wenn der:die Interaktionsteilnehmer:in wie auch immer ein Bewusstsein davon entwickelt haben sollte, dass eine Lautäußerung stattgefunden hat (1), wie kann er:sie wissen, dass (2) er:sie selbst der:diejenige ist, der:die die Geste hervorgebracht hat und auf den:die er sich nun aus der Perspektive eines Gegenübers bezieht? Frank meint dazu: Ist nun das reflektierende Subjekt bewußt, so kann, wenn die Beziehung wirklich eine epistemische Selbstbeziehung artikulieren soll, sein Gegenstand nicht unbewußt sein. […] Ich beziehe mich im intentionalen Selbstbewußtsein auf selbst schon Bewußtes, das den Zustand von Bewußtheit mithin nicht erst dadurch erwirbt, daß ich es in den Lichtkegel

129 Frank: Ansichten, 317. 130 Vgl. Frank: Ansichten, 317. 131 Frank: Selbstbewusstsein, 33.

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meines propositionalen Wissens, daß… hineinziehe. Die Reflexion kann nur entdecken, was schon ist.132

Sowohl von der Geste selbst als auch von der Tatsache, dass er:sie selbst sie hervorgebracht hat, muss bei dem:der Interaktionsteilnehmer:in irgendeine Art von vorkommunikativem Bewusstsein bestehen, wenn die Perspektivübernahme funktionieren soll. Wer keine eigene Perspektive bzw. keinerlei Bewusstsein (von sich oder von irgendetwas anderem) hat, kann auch nicht die Perspektive eines anderen (auf sich oder irgendetwas anderes) übernehmen. Das Problem ist genau genommen sogar schon vor der Perspektivübernahme anzusetzen: Habermas meint wie bereits erläutert, ein zweiter Organismus deute durch seine Reaktion die Geste eines ersten Organismus als Anzeichen für einen Zustand, in dem die mit der Geste angefangene Bewegung resultieren werde. Die Geste des ersten erlange so für den zweiten Organismus eine Bedeutung. Da nun aber, da noch keinerlei Perspektivübernahme stattgefunden hat, der zweite Organismus weder ein Bewusstsein von der Geste des ersten Organismus noch von seiner eigenen Reaktion haben kann, ist es abwegig zu behaupten, die Geste habe eine Bedeutung für ihn. Der zweite Organismus besitzt also gar keine Perspektive, sondern sein Nervensystem verknüpft schlicht einen bestimmten Reiz mit einer bestimmten Reaktion. Die Geste hat dann zwar eine aus der Beobachter:innenperspektive feststellbare natürliche Bedeutung, aber keine subjektive. Dann kann aber auch der erste Organismus vom zweiten keine Perspektive auf sich selbst übernehmen. Wenn sich schon die erste von Habermas in Anschlag gebrachte Perspektivenübernahme als unmöglich erweist, erübrigt sich eine Analyse der darauf aufbauenden weiteren Perspektivübernahmen. Auch die Philosophin Barbara Mauersberg, die sich ansonsten dem Habermas’schen Aufruf zum Abschied von der Bewusstseinsphilosophie anschließt, gesteht zu, die Perspektive von Sprecher:innen müsse „für die Rekonstruktion der Verständigungsleistungen in Anspruch genommen“133 werden und Selbstbewusstsein setze Bewußtsein voraus.134 Ein Zirkel liege aber dennoch nicht vor, denn jede Erklärung impliziere ein zu Erklärendes135 und Selbstbewusstsein setze schließlich auch ein Gehirn voraus.136 Dabei übersieht sie allerdings, dass eine Erklärung zwar nicht zugleich auch eine Erklärung aller ihrer Voraussetzungen sein muss, dass aber eine Erklärung, die das zu Erklärende voraussetzt, sehr wohl zirkulär ist.

132 133 134 135 136

Frank: Selbstbewusstsein, 38. Mauersberg: Abschied, 169. Vgl. Mauersberg: Abschied, 170. Vgl. Mauersberg: Abschied, 169. Vgl. Mauersberg: Abschied, 170.

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Während die genannten Einwände gegen den Habermas’schen Erklärungsansatz logischer Natur sind, ergänzt Frank diese noch durch Überlegungen phänomenologischer Art. Er entwickelt diese in erster Linie in Auseinandersetzung mit Tugendhat. Sie sind aber auch für den Habermas’schen Ansatz relevant. Ein vorkommunikatives Bewusstsein anzunehmen hält Frank nicht nur aus logischen Gründen für notwendig. Die Existenz eines solchen Bewusstseins zeigt sich seines Erachtens in der genauen Analyse der eigenen Erfahrung. Psychische bzw. innere Zustände sind dort seiner Meinung nach als bewusste innere Erlebnisse bzw. Erfahrungen137 , als bewusste Empfindungen,138 als Erlebniswissen139 zugänglich und zwar unmittelbar ohne sprachliche oder intersubjektive Vermittlung.140 Als ‚Wissen‘ im eigentlichen Sinne will er „die eigenartige Form von Bekanntschaft, durch die mir meine Erlebnisse erschlossen sind“141 zwar nicht verstanden wissen, sei dieses doch stets intentional und propositional,142 hält sie aber dennoch für epistemisch relevant.143 Unter Verweis auf Nagel und die Qualia-Debatte (vgl. Kapitel 4.4.1) erläutert er, es gehe dabei nicht um ein „Wissen, daß…“ sondern um ein „Wissen, wie (nämlich, wie es ist, in dem oder jenem psychischen Zustand sich zu befinden).“144 Die subjektive Seite der Erfahrung könne „nur dadurch erworben werden, daß man in einem mentalen Zustand sich befindet, daß man ihn nicht nur aus der Außenperspektive durch ein Wissen, daß wahrheitsgemäß und regelkonform beschreiben kann, sondern ihn erlebt.“145 Neben diesem Argument aus der eigenen Erfahrung spricht gegen die Habermas’sche Erklärung von Bewusstsein die bereits erwähnte Tatsache, dass Verhaltensforscher:innen üblicherweise auch anderen Lebewesen, wie z. B. Schimpansen, Bewusstsein und Intentionalität zusprechen, obwohl diese nicht über eine Sprache verfügen. Mit Bieri, auf den auch Frank verweist,146 lässt sich gegen Habermas einwenden: „Tiere wissen nicht, daß sie Schmerzen haben. Es wäre seltsam zu sagen, daß sie deshalb nichts bestimmtes erleben und nicht wissen, wie es ist, Schmerzen und Angst zu haben.“147 Habermas macht in seinem jüngsten Aufsatz zum Willensfreiheitsproblem entsprechende Zugeständnisse an die Bewusstseinsphilosophie.

137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 227. Vgl. Mauersberg: Abschied, 122. Vgl. Mauersberg: Abschied, 119. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 214 und 220f. Frank: Selbstbewußtsein, 221. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 221. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 225. Frank: Selbstbewußtsein, 227. Frank: Selbstbewußtsein, 227f. Vgl. Frank: Selbstbewußtsein, 71 und 73f. Bieri: Nominalismus, 3.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

Während er in älteren Veröffentlichungen betont, „daß das im Ich […] zentrierte Bewußtsein nichts Unmittelbares und schlechthin Innerliches“148 sei, schreibt er nun, es sei „nicht die Subjektivität eines Bewußtseinslebens, die Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet […]“149 . In Bezug auf die Unterschiede zwischen Tomasello und Mead sprechen die Überlegungen des aktuellen Kapitels dafür, davon auszugehen, dass die Intentionen, von denen Tomasello annimmt, dass auch Menschenaffen ohne Fähigkeit zur Perspektivübernahme über sie verfügen, von diesen Menschenaffen durchaus bewusst erlebt werden, ebenso wie das ‚Wissen‘ über die Intentionen von Artgenoss:innen. Zugleich muss man davon ausgehen, dass die Menschenaffen sich ihrer Intentionen und ihrer Kenntnis der Intentionen ihrer Artgenoss:innen nicht reflexiv bewusst sind, dass sie also nicht (in einem propositionalen Sinne) wissen, dass sie Intentionen bzw. ‚Wissen‘ haben.

6.5

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

Mit den beschriebenen Überlegungen zu einem vorkommunikativen, im eigenen Erleben bewusst erfahrbaren präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein knüpft Frank an eine breite phänomenologische Tradition an. Auf klassische phänomenologische Theorien z. B. von Husserl, Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty geht die Annahme zurück, dass alle intentionalen, also gegenstandsbzw. objektbezogenen mentalen Zustände stets von einem impliziten, unmittelbaren, phänomenal erlebten, präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein begleitet werden.150 Husserl beispielsweise erläutert: „Als waches Ich bin ich ständig im Weltbewusstsein und darin […] bin ich ständig im Selbstbewusstsein.“151 An anderer Stelle konkretisiert er: In der Erfahrung sei ein „universaler Strom des Lebens in Form ursprünglichen Selbstbewußtseins“152 im Sinne eines „Für-sich-selbst-erscheinens“153 enthalten. Sartre formuliert dasselbe folgendermaßen: Jedes „setzende Bewußtsein vom Objekt [sei] zu gleicher Zeit nichtsetzendes Bewußtsein von sich selbst.“154 Allerdings ist dieses präreflexive (Selbst-)Bewusstsein kein zusätzlicher mentaler Zustand, der separat von dem Gegenstandsbewusstsein besteht. Vielmehr handelt

148 Habermas: Individuierung, 217. 149 Habermas: Sprachspiel, 322. 150 Vgl. Crone: Identität, 38. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 52f. Vgl. Thompson: Mind, 249f. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 21. 151 Husserl: Phänomenologie 3, 492. 152 Husserl: Philosophie, 188. 153 Husserl: Philosophie, 189. 154 Sartre: Sein, 18.

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es sich um eine Komponente innerhalb des Gegenstandsbewusstseins,155 um ein intrinsisches Merkmal des Gegenstandsbewusstseins.156 Sartre schreibt: „Dieses [präreflexive] Bewußtsein (von) sich dürfen wir nicht als ein neues Bewußtsein ansehen, sondern als die einzige mögliche Daseinsweise für ein Bewußtsein von etwas.“157 Während der jeweilige Gegenstand als Objekt im Bewusstsein erscheint, wird das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein nicht als Objekt erfahren sondern taucht implizit als Subjekt des Gegenstandsbewusstseins in der Erfahrung auf.158 In Husserls Worten: Die Empfindungen und desgleichen die sie [die Gegenstände] ‚auffassenden‘ oder ‚apperzipierenden‘ Akte werden hierbei erlebt, aber sie erscheinen nicht gegenständlich; sie werden nicht gesehen, gehört, mit irgendeinem ‚Sinn‘ wahrgenommen. Die Gegenstände andererseits erscheinen, werden wahrgenommen, aber sie sind nicht erlebt.159

Das schlichte Dasein eines Inhaltes im Bewusstsein dürfe nicht mit der intentionalen Gegenständlichkeit vermengt werden, meint Husserl.160 Das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein besteht darin bzw. ist dadurch gekennzeichnet, dass der Gegenstand aus einer erstpersonalen Perspektive erfahren wird, dass die Erfahrung des Gegenstandes subjektiv ist, dass die Erfahrung des Gegenstandes als eine bewusste Erfahrung bewusst ist. Dan Zahavi und Shaun Gallagher erläutern: „An experience does not simply exist, it exists in such a way that it is implicitly self-given […].“161 Weil das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein als solches kein Objekt des Bewusstseins ist, enthält es keine Subjekt-Objekt-Relation,162 sondern ist eine relationslose Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst. Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein liegt nach klassisch phänomenologischer Ansicht dem reflexiven Selbstbewusstsein als Bedingung der Möglichkeit zu Grunde.163 Husserl schreibt dazu: Sage ich ‚ich‘, so erfasse ich mich in schlichter Reflexion; aber diese Selbsterfahrung ist wie jede Erfahrung, und zunächst jede Wahrnehmung, bloss Hin-mich-richten auf etwas,

155 156 157 158 159 160 161 162 163

Vgl. Crone: Identität, 38. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 61. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 125. Sartre: Sein, 19f. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 60. Husserl: Untersuchungen, 399. Vgl. Husserl: Untersuchungen, 423. Gallagher/Zahavi: Mind, 53. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 62. Vgl. Sartre: Sein, 19.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

das schon für mich da ist, schon bewusst ist und nur nicht thematisch erfahren ist, nicht Aufgemerktes.164

Reflexives Selbstbewusstsein entsteht, wenn das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein in die Objektstellung des Bewusstseins gelangt. Während präreflexives (Selbst-)Bewusstsein jedoch unabhängig von reflexivem Selbstbewusstsein existieren kann, trifft das Umgekehrte nicht zu.165 Eine detailliertere Exegese klassischer phänomenologischer Texte würde an dieser Stelle zu weit führen. Deshalb soll im Folgenden dargestellt werden, wie das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein in phänomenologischen Ausführungen jüngeren Datums, u. a. von Dan Zahavi, Dorothée Legrand und Hermann Schmitz, beschrieben wird. Es wird allerdings danach noch auf einen wichtigen Unterschied zwischen diesen Positionen jüngeren Datums und den klassischen phänomenologischen Ansätzen einzugehen sein. ‚Unmittelbarkeit‘ des präreflexiven (Selbst-)Bewusstseins bedeutet, „dass der betreffende mentale Zustand nicht begrifflich vermittelt oder das Ergebnis von Inferenzen ist: Man muss nicht über einen Begriff oder eine Vorstellung von sich […] verfügen, um sich, im Sinne des präreflexiven Selbstbewusstseins, seiner selbst gewahr zu sein.“166 Neben den Eigenschaften, die in der Erfahrung mit den jeweiligen Objekten verbunden sind (z. B. die Eigenschaft einer Zitrone, sauer zu sein, oder die Eigenschaft von Watte, weich zu sein), gibt es, so erläutert Zahavi, außerdem noch Eigenschaften der Erfahrung von Objekten, die nicht mit den Objekten selbst verbunden sind und somit invariant bleiben trotz wechselnder Objekte der Erfahrung.167 Im einen Fall gehe es darum, „what the object is like for the subject“168 , im anderen Fall darum, „what the experience of the object is like for the subject“169 . Die Erfahrung von Objekten – nicht die Objekte selbst in der Erfahrung – ist für das Subjekt auf spezielle, nämlich subjektive Weise gegeben und dies wiederum in verschiedenen Modi, wie z. B. als Erinnerung, als Wahrnehmung, als Vermutung etc..170 Diese erstpersonale Gegebenheitsweise sei konstitutiv für jegliche Erfahrung, meint Zahavi.171

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Husserl: Phänomenologie 3, 492f. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 21f. Crone: Identität, 44. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 121f. Zahavi: Subjectivity, 121. Zahavi: Subjectivity, 121. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 122. Vgl. Zahavi: Subjektivity, 122.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Legrand spricht von einem „self-as-subject“172 , das stets zusammen mit der expliziten intentionalen Erfahrung von Objekten implizit erfahrbar sei.173 Diese einfachste Form des (Selbst-)Bewusstseins bestehe schlicht in der subjektiven Gegebenheitsweise von Erfahrung.174 „Rather, each time an experience is given in a first-personal mode of presentation to me, it can be considered as a form of self-consciousness since it is given as my experience.“175 Bei der Tatsache, dass jegliche Erfahrung immer als Erfahrung für ein Subjekt gegeben sei, könne es sich nicht um eine Eigenschaft des jeweils erfahrenen Objektes handeln, erstere könne nicht auf letztere reduziert werden, weil diese Tatsache auch bei variierenden Objekten invariant bleibe.176 Bewusstsein sei deshalb nicht deckungsgleich mit Objektbewusstsein sondern enthalte (Selbst-)Bewusstsein.177 Auch bei Hermann Schmitz taucht das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein auf. Er bezeichnet es als „affektives Betroffensein“178 , welches die subjektive Gegebenheitsweise von Erfahrungsgegenständen konstituiere. Ohne affektives Betroffensein „gäbe es […] kein Bewußthaben und niemanden, der Bewußtsein von etwas hätte.“179 Auch bei „Tieren, Säuglingen und Idioten“180 sei es anzutreffen. 6.5.1

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein und Leiblichkeit in der Phänomenologie

Darüber hinaus wird in der phänomenologischen Tradition zumeist die Ansicht vertreten, dass das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein ein leibliches ist, d. h. dass in ihm die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit eingeschlossen ist oder sogar, dass es in erster Linie die Erfahrung des eigenen Leibes ist. Diese Ansicht findet sich schon bei Husserl.181 Besonders intensiv untersucht Merleau-Ponty den Zusammenhang von präreflexivem (Selbst-)Bewusstsein (= Subjektivität) und Leiblichkeit.182 MerleauPonty sieht den Leib als das eigentliche Subjekt der Wahrnehmung an.183 Er schreibt beispielsweise, „daß ‚mein Bewusstsein‘ […] von der präreflexiven und präobjekti-

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Legrand: Dimensions, 206. Vgl. Legrand: Dimensions, 204–208. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 587f. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 584. Legrand: Self, 93. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 585. Vgl. Legrand: Self-as-Subjekt, 585. Schmitz: Konkurrenz, 155. Schmitz: Konkurrenz, 155. Schmitz: Konkurrenz, 155. Vgl. Husserl: Meditationen, 128f. Vgl. Thompson: Mind, 232. Vgl. Wendel: Affektiv, 284. Vgl. Wendel: Affektiv, 283–286. Vgl. Wendel: Affektiv, 284.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

ven Einheit meines Leibes getragen und unterstützt wird.“184 Dementsprechend kommt dem Leib als Bedingung der Möglichkeit von Objektbewusstsein eine konstituierende und somit eine transzendentale Funktion zu.185 Auch Edith Stein betont die Untrennbarkeit des Leibes vom erlebenden Ich.186 Der Leib, so schreibt sie, ist „eben wesensmäßig durch Empfindungen konstituiert, Empfindungen sind reelle Bestandstücke des Bewußtseins und als solche dem Ich zugehörig. Wie sollte also ein Leib möglich sein, der nicht Leib eines Ich wäre?“187 Die Theologin Saskia Wendel erläutert diese phänomenologische Einsicht folgendermaßen: Das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein sei ein „unmittelbares, intuitives, präreflexives Gewahrwerden meiner selbst in und durch meinen Leib.“188 Dementsprechend sei der Leib „kein Akzidenz eines substanziellen Innen-Ich“.189 Selbstsein sei Leibsein.190 Dies wird auch in der gegenwärtigen Phänomenologie so gesehen. Gallagher und Zahavi beispielsweise schreiben: We have a sense of the body in what it accomplishes. I have a tacit sense of the space that I am in. Likewise I have a proprioceptive sense of whether I am sitting or standing, stretching or contracting my muscles. Of course, these postural and positional senses of where and how the body is tend to remain in the background of my awareness; they are tacit, recessive. They are what phenomenologists call a ‘pre-reflective sense of myself as embodied’.191

Auch Schmitz erläutert, alles affektive Betroffensein – seine Beschreibung für präreflexives (Selbst-)Bewusstsein – sei leiblich.192 Legrand warnt davor, den Leib und das Selbst als voneinander unterschieden anzusehen.193 Deshalb lehnt sie die Rede von einem ‚embodied self ‘ ab und setzt ihr die Formulierung des ‚bodily self ‘ entgegen.194 Das Selbst sei genuin leiblich (bodily), der Leib sei Subjekt (body-as-subject) des Bewusstseins, so Legrand.195 Sie schreibt:

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Merleau-Ponty: Sichtbare. Vgl. Wendel: Affektiv, 286. Vgl. Stein: Problem, 50f. Vgl. Wendel: Affektiv, 284. Stein: Problem, 52. Wendel: Affektiv, 288. Wendel: Affektiv, 289. Vgl. Wendel: Affektiv, 289. Gallagher/Zahavi: Mind, 155. Vgl. Schmitz: Konkurrenz, 158. Vgl. Legrand: Self, 89. Vgl. Legrand: Self, 89. Vgl. Legrand: Self, 90 und 96.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Indeed, most of the time, the body is neither completely transparent […] nor the object of consciousness […]. Rather, it appears phenomenologically in a pre-reflective manner. This is what I call here the consciousness of the body-as-subject. It corresponds to the relation of the experiencing body to itself, that is, the experience of the body as perceiving rather than perceived.196

Ebenso meint der Phänomenologe Fuchs, das Subjekt aller Bewusstseinstätigkeiten sei immer leiblich.197 Ein leibloses, reines Bewusstsein – so zitiert er MerleauPonty – sei eine dualistische Abstraktion, die sich in der Erfahrung nicht finden lasse.198 „Mein Leib […]“, meint Fuchs, „ist kein Gegenstand in der Welt, sondern das Vermögen, das mir die Welt eröffnet.“199 In welchem Verhältnis steht aber der derart phänomenologisch beschriebene ‚Leib‘ zum ‚Körper‘? Die Begriffe ‚Körper‘ und ‚Leib‘ werden in der Phänomenologie unterschiedlich verwendet. Der ‚Körper‘ ist reflexiv thematisierter, intentionaler Gegenstand des Bewusstseins.200 Er ist der objektivierte ‚Leib‘.201 Die Art und Weise wie ein Mensch seinen eigenen ‚Körper‘ erfährt unterscheidet sich deshalb im Prinzip nicht von der Art und Weise, in der er den ‚Körper‘ eines anderen erfährt.202 Der ‚Leib‘ dagegen ist der ‚Körper‘, „so wie er für mich ist.“203 Gemeint ist damit das schon beschriebene unthematische, vor-reflexive Leibbewusstsein,204 der ‚Körper‘ insofern er Subjekt ist. Als solcher „erscheint er mir nicht als Stück der Welt“205 sondern als das, was einem Menschen die Welt erschließt. Husserl spricht vom „fungierenden Leib“206 , der – selbst kein bloßes Ding – bei allen dinglichen Erfahrungen miterfahren werde.207 Die Erfahrung des ‚Körpers‘ als Objekt ist abhängig von der präreflexiven Erfahrung des ‚Leibes‘, weil letztere erstere erst ermöglicht.208 Die phänomenologische Unterscheidung von ‚Leib‘ und ‚Körper‘ impliziert allerdings keine strikte ontologische Trennung. Eine solche strikte Trennung vorzuneh-

196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208

Legrand: Self, 97. Vgl. Fuchs: Gehirn, 98. Vgl. Fuchs: Gehirn, 98. Fuchs: Gehirn, 99. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 63. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 63. Vgl. Sartre: Sein, 298. Sartre: Sein, 298. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 63. Sartre: Sein, 298. Husserl: Phänomenologie 2, 57. Vgl. Husserl: Phänomenologie 2, 57. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 64.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

men wirft Legrand dem Phänomenologen Michel Henry vor.209 Bei Henry gehöre der erlebte Leib einer absolut immanenten Sphäre der Subjektivität an und habe mit dem biologischen lebenden Körper nichts zu tun. Für Henry sei zudem der Leib, nicht der Körper, das eigentlich Reale. Unabhängig davon ob diese Interpretation Henrys zutrifft, ist ein solcher ontologischer Dualismus für die Phänomenologie nicht typisch. Zahavi erläutert in einer Einführung in die Phänomenologie: Thema der phänomenologischen Analysen ist […] keineswegs ein weltloses Subjekt, ebenso wenig wie die Phänomenologie das Bewusstsein auf Kosten der Welt thematisiert. Ganz im Gegenteil gilt das Interesse der Phänomenologie dem Bewusstsein, gerade weil es den Bereich bildet, in dem die Welt erscheint. Mit ihren Phänomenanalysen möchte die Phänomenologie über die Subjekt/Objekt-Dichotomie hinausdenken, um so gerade den Zusammenhang zwischen Welt und Subjektivität zu untersuchen.210

Er betont: Das Beharren der Phänomenologie auf der Bedeutung der Ersten-Person-Perspektive darf nicht mit einem idealistischen (und klassisch transzendentalphilosophischen) Versuch verwechselt werden, das Bewusstsein von der Welt loszulösen und den Reichtum und die Fülle der Welt von der konstitutiven Leistung eines reinen und weltlosen Subjekts bedingt sein zu lassen. […] Das Subjekt hat keine Priorität vor der Welt […]. Der Mensch ist in der Welt und kennt auch sich selbst nur auf Grund seines Verweilens in der Welt. Die durch die phänomenologische Reduktion enthüllte Subjektivität ist keine verborgene Innerlichkeit, sondern ein offenes Weltverhältnis.211

In der bewussten Erfahrung, wie sie sich der phänomenologischen Analyse erschließt, sind leibliches Subjekt und Welt also auf das Engste miteinander verbunden. Präreflexives, leibliches (Selbst-)Bewusstsein ist abhängig von gegenständlicher Welterfahrung, weil es nur bei der bzw. durch die Erfahrung von Welt implizit miterfahren wird. Dies betont Legrand und erläutert, „that consciousness of oneself-as-subject and consciousness of objects are irreducible to each other but are constitutively interrelated to each other […].“212 Objekte erscheinen in der Wahrnehmung stets perspektivisch. Dies ist nur möglich, wenn bzw. weil das erfahrende Subjekt selbst eine Position im Raum – also in der Welt – einnimmt.213

209 210 211 212 213

Vgl. Legrand: Self-Consciousness, 298f. Zahavi: Phänomenologie, 19. Zahavi: Phänomenologie, 38f. Legrand: Self-Consciousness, 288. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 58.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Weiterhin stimmen Leib und Körper in unserer Erfahrung in ihrer räumlichen Ausdehnung überein – sie sind koextensiv.214 Zudem zeigen phänomenologische Analysen, dass Wahrnehmung und Handeln in der Welt eng miteinander verknüpft sind.215 Ein Subjekt kann aber nur handelnd in die Welt involviert sein, wenn es selbst Teil der Welt ist. Dem Leib-Sein des Subjekts muss also ein Körper-Haben entsprechen. Dementsprechend schreibt Sartre: Durch die bloße Tatsache, das [!] es eine Welt realisiert, läßt sich also mein In-der-Weltsein […] für sich selbst als ein Weltstück anzeigen, und dies kann auch nicht anders sein, denn es gibt nur eine Möglichkeit, Verbindung mit der Welt zu erhalten: das eigene Weltlichsein. Eine Welt, in der ich nicht selber wäre und die reines Objekt freischwebenden Zuschauens wäre, könnte ich unmöglich realisieren. […] Darum ist es eines und dasselbe, ob ich sage: ich bin zur Welt gekommen, oder: es gibt eine Welt, oder: ich habe einen Leib.216

Deshalb ist Phänomenologie eine Analyse des In-der-Welt-Seins des Menschen.217 Dem präreflexiven, leiblichen (Selbst-)Bewusstsein kommt zwar eine transzendentale Funktion zu, dieses Subjekt ist aber selbst kein transzendentales, weil es von der Welt untrennbar ist ebenso wie die Welt untrennbar vom Subjekt ist. Das Subjekt lässt sich aus Sicht der Phänomenologie nur in seinem Verhältnis zur Welt verstehen. Eben weil (1) Subjekt und Welt und somit auch Leib und Körper in der Erfahrung so eng mit einander verbunden sind und (2) Erfahrung unser einziger Zugang zur Wirklichkeit ist,218 lehnen die meisten Phänomenolog:innen einen cartesianischen, ontologischen Dualismus zwischen res extensa und res cogitans bzw. phänomenologisch gewendet zwischen Leib und Körper ab. Die Erfahrung spricht zwar für eine Unterscheidung von Körper und Leib, nicht aber für eine ontologische Trennung.219 Fuchs spricht deshalb – wie er sagt im Anschluss an Husserl – von „zwei unterschiedlichen Einstellungen“ – der „personalistischen Einstellung“ und der „naturalistischen Einstellung“220  – die Menschen einnehmen können. Beide Einstellungen würden sich jedoch „auf die gleiche Entität“221 richten. Die gleiche Entität kön-

214 215 216 217 218 219 220 221

Vgl. Fuchs: Gehirn, 33f. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 58. Sartre: Sein, 415. Vgl. zum ganzen Absatz: Zahavi: Phänomenologie, 20. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 14–16. Vgl. Legrand: Dimensions, 211. Vgl. Barabas: Life, 7–8. Alle drei Zitate: Fuchs: Gehirn, 100. Fuchs: Gehirn, 100.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

ne auf zwei verschiedene, nicht ineinander überführbare Weisen, also entweder als Leib oder als Körper, betrachtet werden.222 Die zu Grunde liegende Entität ist für Fuchs das Lebewesen als ontologische Einheit, an dem sich je nach Einstellung unterschiedliche Aspekte feststellen lassen.223 Fuchs trennt hier also klar Erkenntnistheorie von Ontologie: Man hat es seiner Ansicht nach mit zwei unterschiedlichen (Erkenntnis-)Perspektiven auf ein und dieselbe ontologische Entität zu tun. Wie Zahavi erläutert, ist eine solche traditionelle Trennung von Erkenntnistheorie und Ontologie in der Phänomenologie aber eigentlich nicht üblich, eben weil Subjektivität und Welt in der Erfahrung untrennbar miteinander verwoben sind.224 Möglicherweise stellen Fuchs‘ Überlegungen ein Zugeständnis an die analytische Philosophie des Geistes dar, mit der er sich in seinem Buch auseinandersetzt und für die die Forderung nach Eindeutigkeit und präzise Differenzierungen typisch ist. Typisch für die Phänomenologie wäre es dagegen, auch für ontologische Aussagen nicht über das der Erfahrung Zugängliche hinauszugehen. Die von Fuchs postulierte, zu Grunde liegende, einheitliche, ontologische Entität ist der Erfahrung nicht jenseits der beiden genannten Einstellungen zugänglich. Deshalb würde klassische Phänomenologie wohl auch in ontologischer Hinsicht nicht weiter gehen als festzustellen, dass eine Unterscheidung von Leib und Körper notwendig, eine ontologische Trennung von beiden jedoch von der Erfahrung nicht gedeckt ist. Für den Diskurs mit anderen philosophischen Traditionen ist die von Fuchs vorgenommene Differenzierung aber trotzdem hilfreich. Wegen der beschriebenen, in ontologischer Hinsicht nicht-dualistischen Sichtweise der Phänomenologie in Bezug auf das Verhältnis von Leib und Körper konnte dieser philosophische Ansatz in den letzten Jahren zu einem wichtigen Impulsgeber für Kognitionswissenschaftler:innen werden. Insbesondere im Enaktivismus, um den es in Kapitel 9 gehen wird, spielt sie eine wichtige Rolle. 6.5.2

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein – egologisch oder nicht-egologisch?

Unterschiedliche Ansichten werden in der Phänomenologie dahingehend vertreten, ob das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein als egologisch oder als nicht-egologisch zu beschreiben ist.225 Gemäß dieser auf Aron Gurwitsch zurückgehenden Differenzierung226 beschreiben der frühe Husserl, Sartre und Merleau-Ponty genauso wie die 222 223 224 225 226

Vgl. Fuchs: Gehirn, 101. Vgl. Fuchs: Gehirn, 105. Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 19f. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 99. Vgl. Gurwitsch: Conception, 325–338.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

Philosophen der Heidelberger Schule (vgl. Kapitel 6.3) das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein als nicht-egologisch.227 Der späte Husserl, Henry, Schmitz, Zahavi und Legrand beschreiben es als egologisch.228 Zahavi weist allerdings darauf hin, dass die Unterscheidung egologisch vs. nicht-egologisch zu grob sei.229 Wie kommt er zu diesem Urteil? In seiner frühen Schrift ‚Logische Untersuchungen‘ bestreitet Husserl die Existenz eines präreflexiven Ichs. Solange man bei der Wahrnehmung eines Objektes nicht auf diese Wahrnehmung reflektiere, sondern im „wahrnehmenden Betrachten eines erscheinenden Vorgangs auf[gehe]“230 , sei von einem Ich als Beziehungspunkt der vollzogenen Akte nichts zu merken.231 Als ‚Ich‘ kann seines Erachtens nach entweder nur die empirisch und intentional als Objekt wahrnehmbare Person gelten oder aber der präreflexive Strom des Bewusstseins als ganzer,232 die „Komplexion der Erlebnisse“233 , die präreflexive „Bewusstseinseinheit“234 . Ein einzelner präreflexiver Wahrnehmungsakt eines Objektes enthalte aber in sich kein Ich als Teilerlebnis.235 Erst alle präreflexiven Wahrnehmungsakte in ihrer Gesamtheit würden das Ich bilden;236 es sei „mit ihrer eigenen Verknüpfungseinheit identisch.“237 Deshalb könne auch das Ich diese Verknüpfung nicht leisten. Die einzelnen Bewusstseinsakte verschmölzen ‚von selbst‘ zu einer Einheit. Ein die einzelnen Bewusstseinsakte einigendes Ichprinzip gebe es nicht.238 Erst durch die Reflexion auf den Bewusstseinsakt würde der präreflexive Strom des Bewusstseins als ganzer als ein ‚Ich‘ wahrgenommen, das dem wahrgenommenen Objekt gegenüberstehe. Erst in der Reflexion des Wahrnehmungsaktes sei mit der Wahrnehmung des Objektes auch die Wahrnehmung eines Ichs verbunden, dass sich auf das Objekt bezieht.239 Sartre hat die beschriebene Position von Husserl übernommen.240 Die phänomenologische Analyse finde im präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein kein Ego.

227 Vgl. Zahavi: Subjectivity, 31–35, 100f und 115. Vgl. Wendel: Affektiv, 283 (Anmerkung 144) und 288. 228 Vgl. Zahavi: Subjectivity, 44–47, 105f und 115–132. Vgl. Wendel: Affektiv, 283 (Anmerkung 144). Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 584. 229 Vgl. Zahavi: Subjectivity, 146. 230 Husserl: Untersuchungen, 390. 231 Vgl. Husserl: Untersuchungen, 390. 232 Vgl. Husserl: Untersuchungen, 363 und 390. 233 Husserl: Untersuchungen, 391. 234 Husserl: Untersuchungen, 363. 235 Vgl. Husserl: Untersuchungen, 391. 236 Vgl Zahavi: Subjectivity, 33. 237 Husserl: Untersuchungen, 364. 238 Vgl. Husserl: Untersuchungen, 364. 239 Vgl. Husserl: Untersuchungen, 390. 240 Vgl. Zahavi: Subjectivity, 33.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein habe deshalb keine egologische Struktur.241 Das Ego entstehe durch Reflexion. Es sei dann aber immer Objekt und niemals Subjekt der Reflexion. Das Subjekt der Reflexion bleibe stets nicht-egologisch.242 Um jede Vorstellung von etwas Objekt- oder Dinghaftem von dem präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein, das im präreflexiven Gegenstandsbewusstsein enthalten ist, fernzuhalten, betont Merleau-Ponty: „es gibt keine ‚Subjektivität‘, kein ‚Ego‘, das Bewußtsein ist ohne ‚Bewohner‘ […].“243 Neben den wahrgenommenen Objekten ist für MerleauPonty im präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein kein ‚Ich‘ enthalten. Wenn ich ek-statisch [!] in der Welt und in den Dingen sein soll, so darf mich nichts in mir selbst zurück- und von ihnen fernhalten, keine ‚Vorstellung‘, kein ‚Gedanke‘, kein ‚Bild‘ und nicht einmal eine Qualifizierung wie ‚Subjekt‘, ‚Geist‘ oder ‚Ego‘, durch die der Philosoph mich gänzlich von den Dingen unterscheiden will […].244

Auf Grund der soeben zusammengefassten Äußerungen werden die Bewusstseinstheorien des frühen Husserl, Sartres und Merleau-Pontys als nicht-egologisch klassifiziert. Zahavi fasst zusammen, nicht-egologische Bewusstseinstheorien gingen davon aus, dass bewusste Erfahrungen – solange sie präreflexiv bleiben – ich-lose, demnach anonyme mentale Ereignisse sind, die kein Subjekt beinhalten.245 Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein muss demnach verstanden werden als die Vertrautheit von Bewusstsein mit sich selbst und nicht als implizites Bewusstsein von einem erfahrenden Selbst. Demgegenüber behaupten Bewusstseinstheorien, die gemäß Gurwitsch als egologisch zu klassifizieren sind, dass intentionale Erfahrungen notwendig und erfahrbar ein Subjekt der Erfahrung beinhalten. Damit wird allerdings nicht – wie der Begriff ‚egologisch‘ vermuten lässt – die vom frühen Husserl, von Sartre und Merleau-Ponty abgelehnte Position affirmiert, bei diesem Subjekt handele es sich um ein dinghaftes, substanzielles ‚Ego‘, um eine res cogitans. Wird der Begriff ‚egologisch‘ in diesem Sinne verstanden, dann ist das Raster ‚egologisch‘ vs. ‚nicht-egologisch‘ nach Zahavis Auffassung zu grob, um seine Bewusstseinstheorie (und die Bewusstseinstheorien des späten Husserl, von Henry, Schmitz und Legrand) adäquat zu beschreiben.246 Adäquat wäre die Bezeichnung ‚egologisch‘ für die genannten Bewusstseinstheorien demnach, wenn damit gemeint ist, dass präreflexive Erfahrungen nicht

241 242 243 244 245 246

Vgl. Zahavi: Subjectivity, 34. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 34. Merleau-Ponty: Sichtbare, 77. Merleau-Ponty: Sichtbare, 77. Vgl. zum ganzen Absatz: Zahavi: Subjectivity, 99f. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 146.

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Erklärt der Habermas’sche Ansatz Selbstbewusstsein?

anonym sind, sondern implizit ein Subjekt enthalten, weil sie aus einer Erste-PersonPerspektive gegeben sind – in Zahavis Worten: To be conscious of oneself  […] is not to capture a pure self that exists in separation from the stream of consciousness, but rather entails just being conscious of an experience in its first-personal mode of giveness; it is a question of having first-personal access to one’s own experiential life.247

Erfahrungen enthalten implizit eine Referenz auf das Subjekt dieser Erfahrung, meint Zahavi.248 Dies macht es möglich, die Erfahrung eines bestimmten Menschen von der Erfahrung eines anderen bestimmten Menschen zu unterscheiden – die Erfahrungen haben jeweils ein anderes Subjekt,249 sie haben einen egozentrischen Charakter.250 Diese Art und Weise, in der Erfahrungen stets gegeben sind, kann laut Zahavi als eine minimale Erfahrung eines Selbst („a minimal, or core, sense of self “251 ) bezeichnet werden. Legrand teilt diese Auffassung. Sie schreibt: „I do not first experience a neutral or anonymous toothache or intention to act, then ask the question ‚Whose experience is this actually?‘ to finally find myself as the owner of these experiences.“252 Den gleichen Sachverhalt benennt Schmitz: „[…] niemand, der zum Beispiel traurig ist, bedarf noch einer zusätzlichen Information, um zu wissen, daß er selbst traurig ist und es sich nicht etwa um die Trauer eines anderen oder die anonym herumliegende Trauer von niemand handelt […].“ 253 Erfahrungen sind seiner Ansicht nach deshalb nicht anonym, weil sie von der affektiven Betroffenheit des Subjektes herrühren. Die Subjekte „sind ihrer selbst inne, weil sie spüren, daß es um sie selber geht […].“254 Für ein in diesem beschriebenen Sinne egologisches präreflexives Selbstbewusstsein (auf die Einklammerung des „Selbst-“ kann nun verzichtet werden) findet man, wie Zahavi erläutert, durchaus Hinweise auch bei den Autor:innen, deren Theorien wegen ihrer Ablehnung eines substanziellen Egos als nicht-egologisch klassifiziert werden.255 Sartre beispielsweise spricht von der ‚Selbstheit‘ des Bewusstseins, die Bedingung des Erscheinens des Ego in der Reflexion sei.256

247 248 249 250 251 252 253 254 255 256

Zahavi: Subjectivity, 106. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 122. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 122. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 124. Zahavi: Subjectivity, 125. Legrand: Self-as-Subject, 584. Schmitz: Konkurrenz, 156. Schmitz: Konkurrenz, 164. Vgl. Zahavi: Subjectivity, 40f und 115f. Vgl. Sartre: Sein, 160.

Präreflexives (Selbst-)Bewusstsein in der Phänomenologie

Versteht man den Ausdruck ‚egologisch‘ in dem beschriebenen Sinne, ist es also sinnvoll und sachangemessen, präreflexives Bewusstsein entgegen der Ansichten u. a. der Heidelberger Schule als egologisch zu bezeichnen. Nicht zuletzt spricht dafür auch die Leiblichkeit des präreflexiven Bewusstseins. Denn ist das Bewusstsein an einen Leib gebunden, der phänomenologisch betrachtet wiederum aufs engste mit einem Körper verbunden ist, dann ist das Bewusstsein kein anonymes, sondern individuelles Bewusstseins eines Subjekts, das einen individuellen Körper hat und deshalb individueller Leib ist.257

257 Vgl. Wende: Affektiv, 276.

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7.

Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein (Antonio Damasio)

Die phänomenologische und bewusstseinsphilosophische Annahme eines präreflexiven Selbstbewusstseins wird in jüngerer Zeit zunehmend auch von der analytischen Philosophie und den Kognitionswissenschaften rezipiert. Verschiedene Autor:innen aus dem Bereich der analytischen Sprachphilosophie beschäftigen sich mit den Besonderheiten von Selbstzuschreibungen unter der Verwendung des Indexwortes „ich“ in erstpersonalen Äußerungen. Sie führen diese Besonderheiten u. a. auf einen vorsprachlichen, erlebnishaften, privilegierten Zugang der ersten Person zu ihren eigenen psychischen Zuständen zurück.1 Innerhalb der analytischen Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften rezipieren beispielsweise Kristina Musholt, Lynne Baker und Anna Strasser – teils ablehnend, teils zustimmend – die Idee des präreflexiven Selbstbewusstseins,2 ebenso wie Marc Borner3 und Katja Crone4 . Die beiden zuletzt Genannten befassen sich auch mit der Frage, wie präreflexives Selbstbewusstsein naturwissenschaftlich auf einer subpersonalen Ebene erklärt werden kann. Beide beziehen sich dabei auf den Neurobiologen Antonio Damasio, dessen Bewusstseinstheorie sich dafür gut eignet und die deshalb im Folgenden näher erörtert werden soll. Damasio hat eine viel rezipierte neurobiologische Theorie zur Entstehung von Bewusstsein entwickelt, die auch ein Element enthält, das man als präreflexives Selbstbewusstsein bezeichnen kann – ohne dass Damasio selbst es so bezeichnet. Diese Theorie kann das Bild, das im Verlauf des vorhergehenden Kapitels aus der Erfahrungsperspektive von präreflexivem Selbstbewusstsein gewonnen wird, durch eine naturwissenschaftliche Perspektive ergänzen. Da Damasios Theorie schon von vielen Autor:innen aufgearbeitet wurde,5 soll hier ein Überblick genügen. Weitere neurobiologische Theorien zur Entstehung des präreflexiven Selbstbewusstseins sind innerhalb des kognitionswissenschaftlichen Paradigmas des Enaktivismus entstanden und werden in Kapitel 9.2 erläutert.

1 Vgl. Crone: Identität, 14–34. Vgl. die Aufsätze von Sydney Shoemaker, G. Elizabeth M. Anscombe, Hector-Neri Castaneda und John Perry in Frank: Theorien und in Kienzle/Pape: Dimensionen. Vgl. Wendel: Affektiv, 253f. Vgl. Müller: Studien. 2 Vgl. zu diesen drei Autorinnen deren Aufsätze in: Crone/Musholt/Strasser: Facets. 3 Vgl. Borner: Selbstbewusstsein. 4 Vgl. Crone: Identität. 5 Vgl. Becker: Bewusstseinsfalle, 158–163. Vgl. Crone: Identität, 62–66. Vgl. Borner: Selbstbewusstsein, 201–241. Vgl. Fuchs:Gehirn, 136–147.

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Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein

Damasio geht davon aus, dass Bewusstsein schrittweise entsteht, wobei die Entstehung des Geistes – das englische Wort „mind“ wirkt hier weniger irritierend – der Entstehung von Bewusstsein vorausgeht.6 Sowohl Bewusstsein als auch die nicht bewussten Geistesprozesse dienen nach seiner Auffassung der Homöostase, d. h. dem Prozess durch den ein Organismus die chemischen Parameter seines inneren Milieus innerhalb einer mit dem Leben vereinbaren Spanne zu halten versucht.7 Das Bestreben des Organismus, sein Überleben zu sichern und entsprechende Bedürfnisse zu befriedigen, impliziert, dass Faktoren in seiner Umgebung für den Organismus einen biologischen Wert haben.8 Eine bestimmte Art von Normativität und Zielgerichtetheit wohnt also schon vor der Entstehung von Geist und Bewusstsein dem Leben inne9 und ihr verdankt sich auch die Gerichtetheit bzw. Intentionalität neuronaler Prozesse bei geistbegabten Organismen höherer Evolutionsstufen. Das „Wollen“, meint Damasio, „war früher da als explizites Wissen und Nachdenken […].“10 Zum Zweck der Homöostase entwickelten Organismen in der Evolution Fähigkeiten zur Wahrnehmung des Körperinneren und der Umgebung, Regeln für Reaktionen, Beweglichkeit und schließlich den Geist.11 Der Geist sorgt „für die Optimierung der automatischen Lebenssteuerung.“12 Geist liegt nach Damasio dann vor, wenn im Gehirn die Aktivität kleinerer Schaltkreise von Neuronen in großen Netzwerken so organisiert wird, dass sich kurzzeitige Muster ergeben und diese Muster Dinge (aus der Außenwelt, aus dem Körper oder andere neuronale Aktivitätsmuster des Gehirns) repräsentieren.13 Solche neuronalen Muster, die Dinge repräsentieren, bezeichnet Damasio als „Bilder“.14 Diese Bezeichnung wählt er wie es scheint deshalb, weil er der Ansicht ist, dass repräsentierende neuronale Aktivitätsmuster, wenn sie bewusst werden, aus der Erlebnisperspektive als Bilder erscheinen.15 „Manche neuronalen Muster sind gleichzeitig geistige Bilder“16 , meint Damasio und gibt sich damit als Vertreter einer Identitätstheorie zu erkennen. Als alternative Bezeichnung für repräsentierende neuronale Aktivitätsmuster aus der neurobiologischen Perspektive wählt

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Damasio: Selbst, 24. Vgl. Damasio: Selbst, 54 und 71. Vgl. Damasio: Selbst, 59. Vgl. Damasio: Selbst, 63. Ein wenig scheint Damasio vor der Kühnheit seiner eigenen These zurückzuschrecken, denn er setzt die Begriffe „Absichten“ und „Zwecke“ hier in Anführungszeichen. Beide Zitate Damasio: Selbst, 47. Vgl. Damasio: Selbst, 37 und 62. Damasio: Selbst, 69. Vgl. Damasio: Selbst, 29. Vgl. Damasio: Selbst, 27 und 77. Vgl. Damasio: Selbst, 76f. Damasio: Selbst, 27.

Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein

er den Begriff der „Karten“.17 Karten werden erstellt, wenn der Organismus mit Objekten interagiert und sie dienen dem Gehirn zur Information.18 Nicht alle Gehirnregionen produzieren solche Repräsentationen. Schwerpunktmäßig sind daran verschiedene Regionen der Hirnrinde beteiligt, aber auch Zentren im oberen Hirnstamm.19 Innerhalb des Geistes spielen Emotionen und Gefühle eine zentrale Rolle, auch ohne das Vorhandensein von Bewusstsein. Emotionen, wie Damasio sie definiert, sind „komplexe, größtenteils automatisch ablaufende, von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen“20 und betreffen dementsprechend vorwiegend Vorgänge, die im Körper ablaufen.21 Emotionen dienen der Erhaltung des Organismus und seiner Homöostase.22 Ausgelöst werden sie durch Repräsentationen von Objekten oder Ereignissen – gegenwärtigen, erinnerten oder fantasierten.23 Emotionen sind für sich genommen nicht mit Bewusstsein verbunden und sie sind sogar bei Lebewesen vorhanden, die nicht über geistige Prozesse verfügen.24 Von den Emotionen müssen die Gefühle unterschieden werden, innerhalb derer Damasio ebenfalls Unterscheidungen trifft. Repräsentationen des inneren Milieus des Organismus und der damit verbundenen Parameter der inneren Organe im oberen Hirnstamm sind bzw. bilden bzw. produzieren – Damasio drückt sich hier nicht eindeutig aus – ursprüngliche Gefühle.25 Im Gegensatz zu Repräsentationen der Außenwelt, die gefühlt werden, weil sie von Repräsentationen von Gefühlen begleitet sind,26 werden die Repräsentationen, welche die ursprünglichen Gefühle produzieren, „von Anfang an spontan und ganz natürlich gefühlt […].“27 Sie fassen den inneren Gesamtzustand des Körpers auf einer Skala, die von Lust bis Schmerz reicht, zusammen.28 Zusammen mit propriozeptiven Karten, die den Bewegungsapparat (Muskeln, Skelett etc.) im Ruhezustand repräsentieren, und Karten der sensorischen Portale für die Außenwelt, die die Lage der Sinnesorgane im Körper im Ruhezustand repräsentieren, bilden die ursprünglichen Gefühle die ursprünglichen Körpergefühle, die Damasio auch als Protoselbst bezeichnet.29 Für sich genommen 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. Damasio: Selbst, 76f. Vgl. Damasio: Selbst, 75. Vgl. Damasio: Selbst, 85–87. Damasio: Selbst, 122. Vgl. Damasio: Selbst, 122. Vgl. Fuchs: Gehirn, 145. Vgl. Damasio: Selbst, 124. Vgl. Damasio: Selbst, 123. Vgl. Damasio: Selbst, 33f, 88 und 91. Vgl. Damasio: Selbst, 88. Damasio: Selbst, 201. Vgl. Damasio: Selbst, 33 und 109. Vgl. Damasio: Selbst, 202–212.

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Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein

sind ursprüngliche Körpergefühle bzw. das Protoselbst nicht bewusst.30 Von den ursprünglichen Körpergefühlen unterscheidet Damasio Gefühle von Emotionen.31 Diese sind Wahrnehmungen davon, wie sich die ursprünglichen Körpergefühle durch auf Objekte gerichtete Emotionen verändern.32 „Alle Gefühle von Emotionen enthalten eine Variation des Themas der ursprünglichen Gefühle […].“33 Gefühle von Emotionen stehen in engem Zusammenhang mit der Entstehung von Bewusstsein. Sie entstehen durch Aktivität in der Inselrinde der Großhirnrinde, die ihrerseits Signale aus dem Hirnstamm empfängt und in der Lage ist, Gefühle zu anderen Aspekten der Kognition in Beziehung zu setzen.34 Bewusstsein setzt nach Damasios Auffassung voraus, dass zum Geist ein Selbst bzw. ein Selbst-Prozess hinzutritt35 und dass der Organismus, der durch dieses Selbst repräsentiert wird, in eine Beziehung zu einem zu erkennenden Objekt tritt.36 Das für Bewusstsein nötige Selbst wird vom Gehirn stufenweise aufgebaut, wobei die unterste Stufe das bereits erwähnte Protoselbst bildet.37 Nimmt der Organismus ein Objekt wahr, verändert dies das Protoselbst, weil der Körper sich als Reaktion auf das Objekt u. a. durch Emotionen verändert.38 Die Veränderung des Protoselbst wird von Bildern beschrieben39 , d. h. durch Muster zweiter Ordnung repräsentiert,40 und macht auf die Gegenwart des Objekts verstärkt aufmerksam.41 Geht die Veränderung des Protoselbst auf Emotionen zurück, handelt es sich bei den Repräsentationen der Veränderungen um Gefühle von Emotionen (s. o.). Wenn die Repräsentation der Veränderung des Protoselbst durch das Objekt mit dem Objekt (bzw. mit der Repräsentation des Objekts) vorübergehend zu einem zusammenhängenden Muster verknüpft wird, entsteht das bewusste Kernselbst. 42 Das Kernselbst „entfaltet sich in einer Abfolge von Bildern: Diese beschreiben, wie ein Objekt das Protoselbst beschäftigt und es – einschließlich der ursprünglichen Gefühle – abwandelt.“43 Die Repräsentation der Veränderung des Protoselbst „erzeugt im Geist den Eindruck, dass es einen Protagonisten gibt, dem bestimmte Dinge

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. Damasio: Selbst, 194. Vgl. Damasio: Selbst, 122. Vgl. Damasio: Selbst, 122f und 129f, Damasio: Selbst, 130. Vgl. Damasio: Selbst, 91 und 130. Vgl. Damasio: Selbst, 19. Vgl. Damasio: Selbst, 200. Vgl. Damasio: Selbst, 193. Vgl. Damasio: Selbst, 215. Vgl. Damasio: Selbst, 34. Vgl. Damasio: Entschlüsselung, 214f. Vgl. Damasio: Selbst, 215. Vgl. Damasio: Selbst, 215f und 194. Vgl. Damasio: Entschlüsselung, 204f. Damasio: Selbst, 34.

Eine neurobiologische Theorie zu präreflexivem Selbstbewusstsein

zustoßen, und dieser Protagonist ist das materielle Ich.“44 Das Gefühl, dass mein eigener Körper existiert und dass diese Existenz eine Qualität irgendwo zwischen Lust und Schmerz hat, geht auf das Protoselbst zurück und wird mit der Entstehung des Kernselbst bewusst erfahrbar.45 Weil die Repräsentation der Veränderung des Protoselbst durch Objekte auch Gefühle von Emotionen enthält, entstehen bei der Verknüpfung mit dem die Veränderung auslösenden Objekt objektbezogene Gefühle.46 Das Bewusstsein auf der Stufe des Kernselbst entspricht dem in diesem Kapitel beschriebenen präreflexiven Selbstbewusstsein.47 Insofern es stets ein Objektbewusstsein beinhaltet, ist es „präreflexives ‚Zur-Welt-Sein‘“48 . Das Kernselbst wird pulsartig für jedes Objekt erzeugt, das den Mechanismus des Kernselbst auslöst.49 „Da ständig auslösende Objekte vorhanden sind, wird es fortlaufend erzeugt und erscheint daher dauerhaft in der Zeit.“50 Das Kernbewusstsein ist nichtsprachlich beschaffen.51 Auf dem Kernselbst baut das autobiografische Selbst auf, das das autobiografische Gedächtnis involviert.52 Es beruht auf der „permanenten, aber dispositionalen Aufzeichnung von Kernselbst-Erfahrungen.“53 Folgende Konvergenzen ergeben sich zwischen den bisher thematisierten philosophischen Ansätzen des vorhergehenden Kapitels und der auf empirischen Befunden beruhenden neurobiologischen Theorie Damasios: Erstens bestätigt Damasio aus naturwissenschaftlicher Perspektive die philosophische Annahme von Bewusstseinsphilosophie und Phänomenologie (und wie sich im folgenden Kapitel zeigt auch von der Subjektphilosophie im Anschluss an Krings), dass es ein präreflexives, zunächst nicht sprachlich konstituiertes (Selbst-)Bewusstsein gibt. Die Habermas’sche Annahme, dass es für die Genese von (Selbst-)Bewusstsein der kommunikativen Vergesellschaftung bedürfe, wird von Damasios Theorie nicht unterstützt. Zwischen Damasio und verschiedenen Phänomenolog:innen (und den subjektphilosophischen Überlegungen im Anschluss an Krings) besteht zweitens Übereinstimmung dahingehend, dass Objektbewusstsein immer mit (präreflexivem) Selbstbewusstsein einhergeht und umgekehrt. Drittens stimmen Damasio und die philosophische Phänomenologie darin überein, dass zwischen dem Körper des

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Damasio: Selbst, 216. Vgl. Damasio: Selbst, 198. Vgl. Damasio: Selbst, 217. Vgl. Fuchs: Gehirn, 142. Fuchs: Gehirn, 143. Vgl. Damasio: Entschlüsselung, 212f. Damasio: Entschlüsselung, 212. Vgl. Damasio: Entschlüsselung, 224. Vgl. Damasio: Selbst, 223–253. Vgl. Damasio: Entschlüsselung, 211. Damasio: Entschlüsselung, 212.

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Menschen und seinem (leiblichen) Bewusstsein ein unauflöslicher Zusammenhang besteht. Viertens spricht Damasios Theorie deutlich gegen eine nicht-egologische Bewusstseinstheorie, wie Henrich und manche Phänomenolog:innen sie vertreten. Bewusstsein setzt nach Damasio ein Selbst bzw. einen Selbstprozess voraus, dessen Veränderung bemerkt wird. Der Selbstprozess seinerseits ist an einen konkreten Körper gebunden und insofern nicht anonym. Auf Grund der genannten Konvergenzen – insbesondere wegen der Bedeutung des Körpers und der Relevanz eines Selbstprozesses – ist die Bewusstseinstheorie Damasios deutlich plausibler als die neurobiologischen Erklärungen von Roth und Singer, die weder dem Körper noch dem Selbst eine Rolle bei der Entstehung von Bewusstsein zugestehen. Dass Bewusstsein stets eine subjektive Perspektive hat, mit der sich eine Art von Normativität und Zielgerichtetheit verbindet, wird außerdem plausibler, wenn man wie Damasio davon ausgeht, dass Bewusstsein an einen Körper und somit erstens an einen Standpunkt im Raum gebunden ist und zweitens im Dienste der Bedürfnisse dieses Körpers steht, die erfüllt werden müssen, um das Überleben zu sichern. Auf die Frage, wie überhaupt die Erlebnisqualität von Bewusstsein aus der neuronalen Basis hervorgeht, bietet aber auch Damasio keine befriedigende Antwort. Dasselbe gilt für die Frage, wie genau neuronale Aktivitäten eigentlich die Fähigkeit erwerben, Dinge außerhalb ihrer selbst zu repräsentieren, d. h. die Frage, wie Intentionalität auf einer materiellen Basis zu Stande kommen kann. Im Hinblick auf die von Singer vorgeschlagenen Metarepräsentationen als Erklärung für das Zustandekommen von Bewusstsein (vgl. Kapitel 3.1.2.5) stellt sich, wie bereits erörtert, die Frage, warum aus dem Verhältnis zweier nicht bewusster neuronaler Zustände zueinander Bewusstsein entstehen soll. Diese Frage lässt auch Damasio unbeantwortet, wenn er davon ausgeht, dass die Verknüpfung der Repräsentation der Veränderung des Protoselbst mit der Repräsentation des Objekts zu Bewusstsein führt. In dieser Hinsicht hat Damasio also im Vergleich mit anderen Neurowissenschaftler:innen keine bessere Erklärung zu bieten. Auch im Hinblick auf seine Hypothesen stellt sich die Frage: Weshalb sollte aus der Verknüpfung mehrerer nicht bewusster Zustände Bewusstsein entstehen?

8.

Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit: Überlegungen ausgehend von Hermann Krings

Die Habermas’sche Konzeption kommunikativer Vernunft weist aber nicht nur eine Lücke in Bezug auf die Erklärung von Selbstbewusstsein auf sondern auch in freiheitstheoretischer Hinsicht. Willensfreiheit wird in dieser Konzeption vorausgesetzt: Sie ist eine Präsupposition, die Teilnehmer:innen kommunikativen Handelns notwendig performativ für sich in Anspruch nehmen, wenn sie Geltungsansprüche anerkennen oder zurückweisen (vgl. Kapitel 6.5.4). Insofern ist sie Bedingung der Möglichkeit theoretischen Wissens, moralisch-praktischen Wissens und eines reflektierten Selbstverhältnisses (vgl. Kapitel 6.5.1). Zugleich ist die sprachliche Sozialisierung des Bewusstseins Bedingung der Möglichkeit von Willensfreiheit, Willensfreiheit wird erst durch die Sozialisierung des Bewusstseins real, denn erst durch sie erhält der:die Einzelne Zugang zu der Dimension, in der sich „die rationale Motivation von Überzeugungen und Handlungen nach logischen, sprachlichen und pragmatischen Regeln, die sich nicht auf Naturgesetze reduzieren lassen“1 vollzieht (vgl. Kapitel 6.5.4). Habermas fokussiert sich also auf die sozialen Bedingungen, die nötig sind, damit Willensfreiheit auftreten kann. Worauf Habermas allerdings nicht reflektiert ist zum einen das Moment von Unbedingtheit, das der Willensfreiheit unbeschadet aller sozialen und gesellschaftlichen Bedingtheiten eignet. Zum anderen geht er nicht weiter darauf ein, dass Willensfreiheit trotz ihrer kommunikativen Bedingtheit nicht in der Kommunikationsgemeinschaft entspringt, sondern in den Teilnehmer:innen an Kommunikation – in Subjekten. Genaueres zu diesem Ursprung von Freiheit im Subjekt zu sagen, den genauen ‚Ort‘, an dem Freiheit im Subjekt entspringt, näher zu bestimmen, ist ausgehend vom Ansatz kommunikativer Vernunft gar nicht möglich, weil es jenseits kommunikativer Vergesellschaftung eben kein Subjekt gibt. Selbstbewusstsein (= ein Subjekt) gibt es, wie das vorherige Kapitel zeigt, nur als reflektiertes Selbstbewusstsein, das durch kommunikative Vergesellschaftung entsteht. Subjektivität und Intersubjektivität sind gleichursprünglich. Dem kommunikativ entstandenen Subjekt muss Freiheit zugesprochen werden. Demgegenüber ergeben sich wichtige, die Habermas’schen Überlegungen ergänzende Einsichten hinsichtlich des Verhältnisses von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit im Subjekt, wenn man freiheitsanalytische Überlegungen

1 Habermas: Freiheit, 178.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

im Anschluss an den Philosophen Hermann Krings (1913–2004)2 heranzieht und sie mit den im vergangenen Kapitel ausgeführten bewusstseinsphilosophischen und phänomenologischen Einsichten ins Gespräch bringt. Dieser Aufgabe haben sich in den letzten Jahrzehnten in erster Linie katholische Theolog:innen gewidmet. Krings‘ transzendentalphilosophische Überlegungen wurden innerhalb der katholischen Theologie zunächst stark von Thomas Pröpper rezipiert und theologisch fruchtbar gemacht.3 An dessen Überlegungen knüpft wiederum eine größere ‚Theolog:innenschule‘ an, zu der u. a. Striet,4 Essen,5 Bernhard Nitsche6 und Lerch7 zählen. Die Anfragen und Überlegungen aus dieser transzendentalphilosophisch orientierten Richtung wollen den Erkenntnissen zur intersubjektiven und kommunikativen Situiertheit der menschlichen Vernunft, die Denkern wie Habermas oder Karl-Otto Apel zu verdanken sind, nicht ihre Plausibilität und Relevanz absprechen. Sie gehen aber – ausgehend von Krings und den bewusstseinsphilosophische Überlegungen, die im vorherigen Kapitel erörtert wurden – davon aus, dass der Ansatz bei der Sprachpragmatik zu Erklärung der menschlichen Rationalität „das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität (…) einseitig taxiert“8 und deshalb „Problemüberhänge“9 bzw. offene Fragen im Hinblick auf (Willens-)freiheit und Selbstbewusstsein aufweist, die er methodenbedingt nicht bearbeiten kann.10 Die Plausibilität der Überlegungen im Anschluss an Krings soll im Folgenden geprüft werden. Erweisen sich die transzendentalphilosophischen Überlegungen ebenso wie die bewusstseinsphilosophischen Überlegungen des vorherigen Kapitels als berechtigt und plausibel, ist im Anschluss zu überlegen, ob und wie der Habermas’sche Ansatz entsprechend ergänzt werden kann bzw. muss.

8.1

Krings: Willensfreiheit impliziert ein Unbedingtheitsmoment

Die erste Anfrage, die von den Krings’schen Überlegungen an die Habermas’sche Konzeption kommunikativer Vernunft ausgeht, lautet, ob im Begriff der Willensfreiheit (die auch der Habermas’sche Ansatz voraussetzt) möglicherweise ein Unbe-

2 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Krings: System. Vgl. Krings: Logik. Vgl. Pröpper: Erlösungsglaube. Vgl. Pröpper: Evangelium. Vgl. Pröpper: Anthropologie 1 und 2. Vgl. Striet: Ich. Vgl. Essen: Freiheit. Vgl. Nitsche: Endlichkeit. Vgl. Lerch: All-Einheit. Vgl. Lerch: Einheit. Nitsche: Endlichkeit, 205. Nitsche: Endlichkeit, 207. Vgl. Krings: Empirie.

Krings: Willensfreiheit impliziert ein Unbedingtheitsmoment

dingtheitsmoment implizit enthalten ist, das nicht durch sprachliche Sozialisierung konstituiert ist, sondern ihr als Bedingung der Möglichkeit logisch vorausliegt. In seiner Auseinandersetzung mit der Sprachpragmatik hebt Krings einen Aspekt hervor, den faktisch auch Habermas nicht leugnet: dass nämlich in einer Konzeption kommunikativer Vernunft Willensfreiheit als Bedingung der Möglichkeit kommunikativer Praxis vorausgesetzt werden muss. Krings schreibt: Die nicht-empiristische Pragmatik setzt eine transzendentalbegründende Aktualität, wie Kant sie kritisch als reinen Willen bestimmt, stillschweigend voraus. Die Anerkennung universaler Geltungsansprüche, wie J. Habermas sie als Apriori kommunikativen Handelns eruiert, setzt voraus, daß dergleichen wie Anspruch, Geltung etc. konstituiert sind, daß die Partner a priori wissen, was Anerkennung heißt und daß sie sich (immer schon) als Partner anerkannt haben. Die Universalpragmatik von Habermas wie die transzendentale Sprachpragmatik von Apel setzen eine prinzipielle Gewilltheit voraus; ohne sie wären die akzeptierten Regeln lediglich als Verhaltenskonditionierung feststellbar, nicht aber als Geltungsansprüche identifizierbar.11

An anderer Stelle betont er „das Moment der Unbedingtheit, das in Begriffen wie Geltung, Verbindlichkeit, Anerkennung, Wahrheit, Richtigkeit, Zweck etc. enthalten ist (…).“12 Für ihn ist es zentral, dass Freiheit „nicht erst durch die Sprechsituation hervorgebracht ist“13 , sondern als ihr vorausliegend gedacht werden muss,14 dass „die qualifizierte Sprechsituation durch eine Regelhaftigkeit konstituiert ist, die nicht durch sie selbst generiert ist (…).“15 Im letzten Zitat klingt an, worin trotz der Übereinstimmung dahingehend, dass Willensfreiheit vorausgesetzt wird, der Konfliktpunkt zwischen Habermas und Krings besteht. Die Kritik an der Konzeption kommunikativer Vernunft von der transzendentalphilosophischen Seite resultiert daraus, dass nach Habermas der Diskurs bzw. verständigungsorientierte kommunikative Praxis Willensfreiheit einerseits schlicht voraussetzt, dass aber andererseits nach Habermas die Teilnahme an kommunikativer Praxis Willensfreiheit überhaupt erst möglich macht. Zugespitzt und in den Worten von Krings formuliert: Das für kommunikative Praxis Vorausgesetzte wird durch diese erst generiert. Die Zirkularität dieser Erklärung ist offensichtlich. Es scheint als gebe es, will man die Zirkularität vermeiden, nur die

11 12 13 14 15

Krings: Reale Freiheit, 59. Krings: Empirie, 94. Krings: Empirie, 93. Vgl. Krings: Empirie, 93. Krings: Empirie, 93.

311

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Alternativen, entweder Willensfreiheit oder kommunikative Praxis als ursprünglich und das jeweils andere als abgeleitet anzunehmen. Müsste man Habermas dahingehend interpretieren, dass er die Zirkularität vermeidet, indem er sich letztlich doch davon verabschiedet, Willensfreiheit als Voraussetzung kommunikativer Praxis anzusetzen und sie stattdessen ausschließlich als Produkt kommunikativer Praxis versteht, wäre dies allerdings problematisch. Denn eine Freiheit, die ein vollständiges Produkt, also vollständig und somit hinreichend bedingt ist, wäre allenfalls noch eine Freiheit im kompatibilistischen, nicht aber im libertarischen Sinne. „Das freie und wahrheitsfähige Subjekt ist in dieser verständigungsorientierten Wahrheits- und Freiheitsbestimmung zum sekundären Moment des rationalen Diskurses geworden,“16 stellt Nitsche fest. Das freie Subjekt sei durch ein Kollektivsubjekt – die Kommunikationsgemeinschaft – ersetzt worden.17 Wäre im Diskurs allein das implizite Hintergrundwissen der intersubjektiv geteilten Lebenswelt ausschlaggeben dafür, ob ein Geltungsanspruch akzeptiert oder abgelehnt wird (vgl. Kapitel 6.5.1), träfe nicht der einzelne Mensch diese Entscheidung, sondern die Kommunikationsgemeinschaft. Somit wäre der Vorgang der sprachlichen Vergesellschaftung des Menschen schlicht ein Vorgang der Verhaltenskonditionierung und damit der Unterschied zwischen Faktizität und Geltung aufgehoben. Es muss also ein Moment der Unbedingtheit angenommen werden, das sich nicht vollständig aus der kommunikativen Praxis ableitet. Dieses Moment der Unbedingtheit muss als in jeder Stellungnahme zu Geltungsansprüchen wirksam angesehen werden, wenn diese Stellungnahme als rational und als nicht verhaltenskonditioniert gelten soll. Und es muss sogar noch als in den Geltungsansprüchen wirksam angesehen werden, die Teilnehmer:innen an kommunikativer Praxis nach Habermas notwendig performativ erheben sobald sie kommunizieren. Krings erläutert: „Die normative Kraft der universalen Geltungsansprüche [z. B. die Präsupposition der Willensfreiheit (H.P.)] leitet sich nicht daher, daß ohne sie der Diskurs nicht möglich wäre. Warum soll er möglich sein? Sicherlich nicht nur deswegen, weil er faktisch ist.“18 Und: „Auch das nicht hintergehbare Faktum von Gelten macht nicht begreiflich, warum überhaupt etwas gilt und nicht vielmehr nichts gilt.“19 Nun ist aber Habermas nicht so zu verstehen, dass er Willensfreiheit ausschließlich als Produkt kommunikativer Praxis ansieht, sondern vielmehr so, dass kommunikative Praxis und Willensfreiheit gleichursprünglich sind in dem Sinne, dass es das eine nicht ohne das andere gibt, beide werden zugleich real und bedingen sich dabei gegenseitig. Das eine ist jeweils Bedingung der Möglichkeit des anderen 16 17 18 19

Nitsche: Endlichkeit, 189. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 188. Krings: Reale Freiheit, 65. Krings: Empirie, 82.

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch, wobei ontogenetisch Gesellschaft der individuellen Willensfreiheit vorausgeht, aber die Vergesellschaftung einzelner Menschen, die sie zu Teilnehmer:innen kommunikativer Praxis macht, als gleichursprünglich mit der individuellen Willensfreiheit gedacht werden muss. Insofern Willensfreiheit für Habermas nicht ausschließlich Produkt kommunikativer Praxis ist, kann man durchaus davon sprechen, dass in seinem Begriff von Willensfreiheit ein Moment von Unbedingtheit enthalten ist, nichts anderes bedeutet es ja, dass Teilnehmer:innen an kommunikativer Praxis vor dem Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt frei Stellung nehmen zu von anderen erhobenen Geltungsansprüchen. Willensfreiheit hat so gesehen kommunikative Praxis zwar zu ihrer Bedingung, wird aber nicht durch sie hervorgebracht sondern hat einen eigenen Ursprung im Subjekt.

8.2

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

Mit Krings kann man feststellen, dass Habermas über die Sprachpragmatik zwar sehr genau die empirischen, intersubjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Willensfreiheit, die Bedingungen unter denen Willensfreiheit überhaupt auftreten kann, analysiert, das Unbedingtheitsmoment, welches die Willensfreiheit ausmacht, aber als ein bloßes Faktum der kommunikativen Vernunft stehen lässt.20 Hier sieht Krings die Aufgabe vernachlässigt, diese Unbedingtheit für die Vernunft einsichtig, begreiflich zu machen,21 „das Unbedingte (…) zu denken.“22 Krings Frage lautet also, wie es möglich ist, dass der Wille eines ansonsten vielfältig bedingten Menschen als unbedingt gedacht wird. Er möchte die transzendentallogischen Bedingungen eruieren, unter denen ein Moment der Unbedingtheit in der menschlichen Freiheit als möglich gedacht werden kann.23 In Krings eigenen Worten: Die transzendentale Freiheitslehre ist nicht absolute Philosophie, sondern der Versuch zu begreifen, warum ein zeitliches und endliches Wesen wie der Mensch sich unbedingt in die Verantwortung genommen weiß und warum er sein geschichtlich bedingtes und zeitlich endliches Handeln letztlich nicht anthropologisch oder historisch relativieren kann.24

20 21 22 23 24

Vgl. Krings: Reale Freiheit, 59. Vgl. Krings: Empirie, 81f. Krings: Reale Freiheit, 59. Vgl. Krings: Replik, 371. Krings: Replik, 396.

313

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Hier liegt es nahe zu fragen, ob dieses Vorhaben nicht selbstwidersprüchlich ist. Ist nicht schon im Begriff der Unbedingtheit impliziert, dass sich keine hinreichenden Bedingungen ihrer Möglichkeit angeben lassen, weil sonst Unbedingtheit eben nicht gegeben wäre? Auf diesen Einwand wird zurückzukommen sein. Die Kernproblematik des Krings’schen Ansatzes deutet sich hier bereits an und tatsächlich gelingt Krings das skizzierte Vorhaben nicht, wie die folgenden Kapitel zeigen. Trotzdem ergeben sich aus der Krings’schen transzendentalen Freiheitsanalyse und den daran anknüpfenden Überlegungen der schon genannten Theolog:innen wichtige Einsichten im Hinblick auf den ‚Ort‘, an welchem der Ursprung der menschlichen Freiheit im Subjekt zu suchen ist, bzw. im Hinblick darauf, auf welche Art und Weise Subjektivität und Freiheit an ihrem Ursprung verbunden sind. Deshalb sollen im Folgenden die Krings’schen Überlegungen zunächst ausgehend von seinem eigenen Anliegen „das Unbedingte (…) zu denken“25 erläutert werden. 8.2.1

Krings: die Bedingung der Möglichkeit von Wissen

Weil das Krings’sche Freiheitsdenken sich aus seiner Erkenntnistheorie ergibt, sollen im Folgenden zunächst seine Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen dargestellt werden. 8.2.1.1

Erkennen als reflexe Transzendenz

Wissen bzw. Erkennen ist nach Krings eine Beziehung bzw. Relation zwischen einem Erkennenden (von Krings Fundamentum genannt) und einem Erkannten (von Krings Terminus genannt).26 Ebenso gut könnte man von der Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Objekt sprechen. Diese Relation wird vom Fundamentum konstituiert in dem Sinne, dass das Fundamentum auf den Terminus hin gerichtet ist bzw. sich für ihn öffnet bzw. zum Terminus hinübergeht bzw. sich selbst auf den Terminus hin transzendiert, so dass der Terminus in Relation zum Fundamentum treten kann.27 Diese vom Fundamentum, also vom Subjekt, konstituierte Relation zum Terminus – dem Objekt – ist für Krings das „Erkennen im engeren Sinn“28 . Im Hinübergehen zum Terminus, im Transzendieren lässt das Fundamentum sich aber nicht zurück, sondern es bleibt im Hinübergehen zugleich bei sich.29 Außerdem kehrt das Fundamentum vom Terminus aus wieder zu sich zurück, es transzendiert den Terminus wiederum auf sich selbst hin (=Retroszendenz oder 25 26 27 28 29

Krings: Reale Freiheit, 59. Vgl. Krings: Logik, 49. Vgl. Krings: Logik, 49–51 und 54. Krings: Logik, 49. Vgl. Krings: Logik, 54.

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

reflexe Transzendenz).30 Auf diese Art und Weise konstituiert sich eine Einheit, genauer gesagt eine relationale Einheit von Erkennendem und Erkanntem, von Subjekt und Objekt sowie des Subjekts mit sich selbst,31 die für Krings das „Erkennen im weiteren Sinn“32 ist. Erst diese Einheit beschreibt Erkenntnis vollständig.33 Durch den „Rückgang des Erkennens in sich“34 „wird nicht nur schlechthin ein Erkanntes als Erkanntes konstituiert, sondern […] [es] konstituiert sich auch allererst das Erkennende als Erkennendes; ohne diesen Rückgang in sich kann das Fundamentum nicht als erkennend gedacht werden.“35 Jedes Wissen, jedes Erkennen als Relation eines Erkennenden zu einem Erkannten beinhaltet demnach zugleich immer auch eine Relation des Erkennenden zu sich selbst und insofern ein Wissen des Erkennenden von sich selbst. Hinsichtlich dieser Analyse nimmt Krings noch einige Begriffsklärungen vor: Das Fundamentum der Erkenntnisbeziehung kann nach Krings auch „Ich“ genannt werden.36 Der Terminus, also das Erkannte – oder vielleicht besser das Zuerkennende der Erkenntnisrelation – tritt innerhalb der konstituierten Erkenntnisrelation in den Status eines „Gegenstands“37 „insofern er dem Ich entgegensteht“38 . Ein Seiendes in seinem Selbstsein (=ein „Gehalt“) nimmt innerhalb einer Erkenntnisrelation als das Erkannte/der Terminus den Status eines Gegenstands ein.39 Indem ein Gehalt Terminus einer Erkenntnisrelation wird, wird er ”aktueller Gehalt“40 . 8.2.1.2

Die Krings’sche Alternative zur Reflexionstheorie: immanente Retroszendenz des Erkennenden

Wenn Krings in dem erläuterten Zusammenhang schreibt, dass das Fundamentum vom Terminus aus wieder zu sich zurückkehrt, dass durch den Rückgang des Erkennens in sich das Erkennende sich als Erkennendes konstituiert (s. o.), so ist dies so zu verstehen, dass in der Reflexion, in der Zurückwendung auf sich selbst, sich das Erkennende seiner selbst ausdrücklich als erkennend bewusst wird.

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Krings: Logik, 54. Vgl. Krings: Logik, 54. Krings: Logik, 49. Vgl. Lerch: All-Einheit, 138. Krings: Logik, 55. Krings: Logik, 55. Vgl. Krings: Logik, 59. Vgl. Krings: Logik, 59. Lerch: All-Einheit, 141. Vgl. Krings: Logik, 60f. Krings: Logik, 60.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Krings beschreibt hier also in seinen Worten reflexives Selbstbewusstsein, wie es entsprechend der Reflexionstheorie zu Stande kommt (vgl. Kapitel 6.1). Krings, dessen Philosophie an die Philosophie Fichtes anknüpft, weiß allerdings um die Zirkularität des Reflexionsmodells. Seine oben beschriebenen Überlegungen zielen deshalb auch nicht darauf ab, Selbstbewusstsein zu erklären, sondern sie rekonstruieren (neben dem Gegenstandsbewusstsein) die Struktur reflexiven Selbstbewusstseins, dem aber nach Krings ein nicht-reflexives bzw. präreflexives41 Selbstbewusstsein zu Grunde liegt, das noch näher zu erläutern sein wird. Krings selber erläutert das Problem der Zirkularität sinngemäß folgendermaßen: Die relationale Einheit von Erkennendem (Fundamentum) und Erkanntem (Terminus), die das Erkennen ist, konstituiert sich durch die reflexe Transzendenz des Fundamentums, d. h. indem das Fundamentum zum Terminus ‚hinübergeht‘ und von dort zu sich zurückkehrt (s. o.). Zu sich zurückkehren und sich im Zurückkehren als mit sich identisch erkennen und so die relationale Einheit stiften kann das Fundamentum aber nur, wenn es schon zuvor mit sich vertraut war. Deshalb schreibt Krings: „Die Aktualisierung jedweder Einheit fordert als notwendige Bedingung ihres Hervorgangs eine aktuelle Einheit; denn Einheit kann nur durch das aktualisiert werden, was selber Einheit ‚ist‘.“42 Deshalb, folgert Krings, müsse das Fundamentum als das einheitsstiftende Element eine Einheit von anderer Art sein als die durch es hergestellte relationale Einheit von Fundamentum und Terminus. Das Fundamentum müsse ursprüngliche – d. h. unbedingte43 oder selbstursprüngliche44 Einheit bzw. „Einheit durch sich selbst“45  – sein: „Ihr Ursprung liegt nirgendwo anders als in ihr selbst; sie ist selbst Ursprung.“46 Diese Selbstursprünglichkeit des Erkennenden, des Fundamentum im Sinne eines selbstursprünglichen, nicht-relationalen Mit-sich-Vertrautseins ist nach Krings darauf zurückzuführen, dass das Fundamentum jene Bewegung der reflexen Transzendenz, die es in der Bezugnahme auf einen realen Gehalt als Terminus vollzieht, zugleich auch immanent in sich vollzieht. Genauer gesagt ist das Fundamentum nichts anderes als diese Bewegung bzw. Handlung bzw. der Prozess der immanenten reflexen Transzendenz.47 D. h. immanent schafft das Fundamentum (das Ich) eine Distanz zu sich selbst, es schafft „eine Differenz in einer Identität“48 . Im Bezugnehmen auf einen Terminus transzendiert das Fundamentum sich, es öffnet sich und

41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. Lerch: All-Einheit, 147. Krings: Logik, 62. Vgl. Lerch: All-Einheit, 142. Vgl. Krings: Logik, 63. Krings: Logik, 62. Krings: Logik, 63. Vgl. Krings: Logik, 63–66. Vgl. Lerch: All-Einheit, 143–146. Krings: Handbuchartikel, 115.

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

„exakt diese im Begriff des ‚Sich-Öffnens angezeigte Rückbezüglichkeit oder Reflexivität des Ich bezeichnet seine transzendentale, daher rein formale immanente Distanz zu sich bzw. die Differenz in der eigenen Identität.“49 Im ‚Hinübergehen‘ zu einem Terminus, im Transzendieren, bleibt das Ich zugleich bei sich, d. h. es wendet sich schon immanent auf sich zurück und schafft so die Bedingung der Möglichkeit, dass es sich tatsächlich von einem Terminus auf sich zurückwenden und dabei als es selbst identifizieren kann.50 Das reflexive Selbstbewusstsein, in dem die beiden Relata Ich-Subjekt und Ich-Objekt als identisch erkannt werden, wird ermöglicht durch ein präreflexives Selbstbewusstsein des Ich-Subjekts (des Fundamentums), ein präreflexives Mit-sich-Vertrautsein, das aus dem Prozess immanenter Retroszendenz hervorgeht.51 „Das Ichbewußtsein […] ist nicht die Voraussetzung und auch nicht die Beigabe des transzendentalen Handelns, sondern geht allererst in ihm hervor.“52 Anders gewendet: Insofern das Eröffnen von Gehalt ein reflexiv verfasstes Öffnen (ein ‚Sich-Öffnen‘) des Ich bezeichnet, muss bereits die transzendentale Identität ‚Ich‘ eine Differenz enthalten, die mittels der transzendentalen Strukturmomente der Einkehr und Auskehr beschrieben werden kann.53

Die immanente Transzendenz (bzw. Retroszendenz) geht also dem Akt der ReIdentifikation, durch den reflexes Selbstbewusstsein entsteht, transzendentallogisch voraus und ermöglicht erst die Re-Identifikation.54 Krings unterscheidet demnach „zwischen der inneren formalen und der real gehaltsbezogenen Verwirklichung der Transzendenz“55 . Er greift hier auf den in Kapitel 6.2 bereits beschriebenen Gedanken der transzendentalen Selbstsetzung des Ich des frühen Fichte zurück,56 der die nicht mehr hinterfragbare Einheit des präreflexiv mit sich selbst vertrauten transzendentalen Ichs „durch ein Handlungsmodell interpretiert“57 . Die Vorstellung Fichtes, dass das Ich sich selbst setzt, findet sich in anderen Worten auch bei Krings, wenn er

49 50 51 52 53 54 55 56 57

Lerch: All-Einheit, 146. Vgl. Lerch: All-Einheit, 146. Vgl. Lerch: All-Einheit, 143. Krings: Handbuchartikel, 106. Lerch: All-Einheit, 148. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 224f. Nitsche: Endlichkeit, 224f. Vgl. Lerch: All-Einheit, 143. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 113–116. Krings: Handbuchartikel, 113.

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318

Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

schreibt, dass „was immer als nicht hinterfragbare Einheit gedacht wird, als ein freier Prozess zu denken ist, durch welchen diese Einheit sich selbst begründet.“58 8.2.2

Krings: Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit

Im Fundamentum (=transzendentales Ich), das nichts anderes ist als der beschriebene Prozess immanent reflexer Transzendenz, als (eine) Bedingung der Möglichkeit von Wissen, erblickt Krings darüber hinaus das Moment von Unbedingtheit innerhalb der menschlichen Freiheit und – sofern man wie Krings von libertarischer Freiheit spricht – damit die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit:59 Die immanent reflexe Transzendenz ist gehaltlos, d. h. sie ‚begegnet‘ keinem Terminus. Das immanente Sich-Öffnen und In-Sich-Zurückkehren bleibt gewissermaßen ‚leer‘.60 Gerade aber weil es leer bleibt, ist es unbedingt, ist es frei.61 „Weil kein faktisch-endlicher Gehalt, kein reales Seiendes die transzendentale Aktivität des Ich zu erschöpfen und der Retroszendenz seiner Selbsteinheit ein Ende zu setzen vermag, ist das Ich ‚frei‘ […].“62 Freiheit ist demnach keine Eigenschaft eines Subjekts, sondern das Subjekt ist Freiheit in dem Sinne, dass es sich in einer freien Handlung oder als freie Handlung erst selbst konstituiert.63 Diese Freiheit nennt Krings transzendentale Freiheit und bezeichnet sie als Bedingung der Möglichkeit empirischer Freiheit.64 Wichtig ist zu beachten, dass die transzendentale Freiheit nur ein Moment an der empirischen Freiheit ist, dass es transzendentale Freiheit nur zusammen oder zugleich mit empirischer Freiheit ‚gibt‘ und dass deshalb transzendentale Freiheit nicht gleichzusetzen ist mit absoluter Freiheit. Krings spricht davon, dass die menschliche Freiheit formal unbedingt, aber material bedingt sei65 und identifiziert die transzendentale Freiheit als das Moment der formalen Unbedingtheit innerhalb der empirischen Freiheit. Inwiefern ist die menschliche Freiheit nach Krings aber material bedingt? Insofern die immanent reflexe Transzendenz (das Fundamentum) als ein Relat der zweistelligen Relation von Fundamentum und Terminus gedacht wurde, ist es auf das andere Relat – den Terminus – angewiesen.66 Nur wenn es materiale Gehalte gibt, auf die hin sich das Fundamentum als Terminus öffnen und

58 59 60 61 62 63 64 65 66

Krings: Handbuchartikel, 116. Vgl. Lerch: All-Einheit, 150–155. Vgl. Krings: Logik, 71f. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 117. Vgl. Lerch: All-Einheit, 150. Vgl. Krings: Logik, 72. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 117f. Lerch: All-Einheit, 150. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 117. Vgl. Krings: Freiheit, 173f. Vgl. Krings: Freiheit, 176f. Vgl. Krings: Logik, 65.

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

von dort aus zu sich zurückkehren kann, wird auch das immanente Sich-Öffnen und In-sich-Zurückkehren erst real bzw. wirklich.67 Ohne einen realen Terminus bleibt das transzendentale Ich ein nur als Bedingung der Möglichkeit von Wissen gedachtes, „ein lediglich begrifflich unterscheidbares“68 , aber es ist nicht wirklich. „Das transzendentale, retroszendierende Ich wird als bloße Möglichkeitsbedingung realer Identität nur gedacht, weil ohne diese unbedingte Bedingung das wirkliche, reflexive Selbstverhältnis einer Person unverstanden bliebe.“69 Deshalb ist das transzendentale Ich absolut auf materiale Gehalte angewiesen, für deren Sein/Existenz es nicht aufkommen kann. Krings erläutert: Damit die Transzendenz des Ich wirkliche Transzendenz sei, bedarf es außer jener formalen Ermöglichung noch eines Grundes: des Gehalts. […] Grund wird der Gehalt allererst kraft des transzendentalen Aktus. Das Ich ‚nimmt Grund‘ und zwar dadurch, daß die transzendentale Aktualität des Ich einen selbstseienden Gehalt als ihren Terminus aktuiert und als Terminus setzt. Das Ich schafft nicht den Gehalt, in welchem es Grund nimmt; es ‚schafft‘ sich jedoch den Terminus formaliter als den Terminus seiner Transzendenz. Das Ich nimmt den Gehalt als den ‚Grund‘ seines gehaltvollen Wirklichseins. Kraft dieses Grundes, den das Ich gefunden und genommen hat, ist es nicht nur formaliter Ich, sondern ist es wirklich transzendierend und wirklich es selbst.70

Menschliche Freiheit kann insofern „keineswegs für die eigene Existenz aufkommen.“71 Sie ist also nicht in einem absoluten Sinne frei, sondern in ihrer Unbedingtheit bedingt. Die Unbedingtheit konstituiert sich nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. An anderen Stellen erläutert Krings das transzendentale Unbedingtheitsmoment der menschlichen Freiheit etwas direkter, ohne ausdrücklichen Umweg über die Erkenntnistheorie sondern vom Vollzug der empirischen bzw. praktischen Freiheit (man kann auch sagen von der Willensfreiheit) her. Das Modell der immanent reflexen Transzendenz ist dennoch wiederzuerkennen: Willensfreiheit im Sinne von „Selbstbestimmung“72 ist nach Krings die „Affirmation eines Gehaltes“73 . Durch die Affirmation eines realen Gehaltes gibt sich der Wille einen Inhalt, der ihn zum bestimmten Willen macht.74 Damit ist nicht gemeint, dass der Wille sich

67 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Krings: Logik, 65. Krings: Logik, 65. Lerch: All-Einheit, 148. Krings: Logik, 68. Lerch: All-Einheit, 154, Krings: Freiheit, 171. Krings: Reale Freiheit, 60. Vgl. Krings: Freiheit, 171.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

einen Inhalt erschafft, sondern dass er etwas schon Vorhandenes ergreift bzw. entgegennimmt und es sich so zum Inhalt macht.75 Krings nennt dies auch „ein ursprüngliches Sich-öffnen für Gehalt“76 . In diesem Sich-Öffnen für Gehalt ist ein Unbedingtheitsmoment anzutreffen. Dieses ist nicht im jeweiligen Gehalt zu finden, denn dieser ist unabhängig vom Willen vorhanden und bedingt somit den Willen, sondern im Sich-Öffnen für Gehalt überhaupt. Das Unbedingtheitsmoment beruht darauf, dass der Entschluss als „primärer Entschluß des Willens zur eigenen Materialität“77 verstanden werden müsse, d. h. der Willen entschließt sich dazu, öffnet sich dazu, sich als Sich-Öffnenden, als sich zur Materialität Entschließenden zu wollen. Krings beschreibt hier mit anderen Worten, was weiter oben mit immanent reflexer Transzendenz bezeichnet wurde. Die Affirmation eines Gehaltes, das SichÖffnen für Gehalt impliziert die Affirmation einer Instanz, die der Affirmation, des unbedingten Sich-Öffnens fähig ist.78 In der Affirmation eines Gehaltes ist also „die Affirmation praktischer Freiheit durch praktische Freiheit impliziert“79 , die „Selbstaffirmation“80 praktischer Freiheit. Freiheit konstituiert sich dadurch, dass Freiheit anerkannt wird.81 Transzendentale Freiheit besteht deshalb nicht in einem Wählen zwischen Alternativen, sondern darin, dass die Wahl selbst gewählt wird.82 8.2.3

Zur Krings’schen Methodik

Die transzendentalphilosophischen Methode, auf der das gesamte philosophische Denken von Krings beruht und mit deren Hilfe er sowohl dem Phänomen Bewusstsein bzw. Wissen als auch dem Phänomen Freiheit auf den Grund geht, nennt er selbst ‚transzendentallogisch‘. Lerch erläutert die Methode folgendermaßen: „Mithilfe einer transzendentalen Analyse soll demnach das Nicht-Gegebene als die logisch (nicht: zeitlich!) frühere Bedingung des gegebenen Faktums einsichtig werden (…).“83 Dem gegebenen Faktum entspricht hier nun die sprachpragmatisch als unhintergehbares Faktum aufgewiesene Willensfreiheit, die durch das beschriebene Unbedingtheitsmoment gekennzeichnet ist und hinsichtlich der nun transzendentallogisch gefragt wird, worauf logisch gesehen dieses Unbedingtheits-

75 76 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Krings: Freiheit, 172f. Krings: Freiheit, 172f. Krings: Freiheit, 172. Vgl. Krings: Reale Freiheit, 60. Krings: Reale Freiheit, 60. Krings: Reale Freiheit, 60. Vgl. Krings: Reale Freiheit, 62. Vgl. Krings: Handbuchartikel, 118. Lerch: All-Einheit, 134.

Krings: Präreflexives Selbstbewusstsein als Produkt von Freiheit

moment zurückgeht, d. h. was im Begriff der Willensfreiheit als die logisch frühere, nicht als Faktum gegebene Bedingung von Willensfreiheit impliziert ist. Krings‘ Antwort auf diese Frage lässt sich nur im Zusammenhang seiner in der „Transzendentale[n] Logik“84 entwickelten Erkenntnistheorie verstehen. In dieser setzt er das Faktum des Wissens (d. h. des intentionalen Bewusstseins) als gegeben voraus und fragt davon ausgehend nach den logischen Bedingungen der Möglichkeit des Wissens.85 In methodischer Hinsicht ist hier zu beachten, dass Krings, wie Lerch erläutert, seine Transzendentalphilosophie strikt von Metaphysik unterschieden wissen will.86 Die transzendentalphilosophische Methode verfolgt demnach nicht das Ziel, ein im ontologischen oder metaphysischen Sinne Wirkliches – also unbezweifelbar Existierendes - ‚hinter‘ dem Faktum zu entdecken, von dem sich dann wiederum das faktische Wissen ableiten lässt, sondern das Faktum selbst besser zu verstehen, indem danach gefragt wird, was es rein logisch impliziert.87 Nitsche erläutert dies folgendermaßen: Reduktiv ist dieses Reflexionsverfahren, weil es nicht einzelne Wirklichkeitsaspekte aus einem schon ‚vorhandenen‘ transzendentalen Subjekt deduktiv ableitet, sondern umgekehrt bestimmte Zusammenhänge des Subjektseins ‚reduktiv‘ auf die nichtempirischen Voraussetzungen und Bedingungen in der Tätigkeit von Subjektivität selbst zurückführt.88

Gegen mögliche Missverständnisse muss betont werden, dass diesem Denken kein Letztbegründungsanspruch zu Grunde liegt, kommt doch den Erkenntnissen zur logischen Bedingung der Möglichkeit des Faktums Wissen letztlich nicht mehr Gewissheit zu als dem faktischen Wissen selbst. Es geht Krings auch gar nicht darum, die Möglichkeit objektiver Gegenstandserkenntnis zu ergründen, sondern die ganz allgemeine Fähigkeit des Menschen, sich auf Gehalt (jeglicher Art) zu beziehen.89 Selbst der:diejenige, der:die das Faktum des Wissens bezweifelt, nimmt damit schon ein Wissen in Anspruch. Insofern lässt sich das Faktum des Wissens, die Tatsache, dass Menschen sich auf Gehalt beziehen, nicht bestreiten. Das Wissen

84 85 86 87 88

Krings, Hermann: Logik. Vgl. Krings: Logik, 45–48. Vgl. Lerch: All-Einheit, 135. Vgl. Lerch: All-Einheit, 134f. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 210. Vgl. Krings: Logik, 48: „Die Untersuchung der Herkunft des Wirklichen in seinem Wirklichsein ist eine andere als die der Konstitution des Wirklichen in seinem Möglichsein. Jenes zu erörtern, ist eine Aufgabe der Metaphysik. Die transzendentale Logik hingegen fragt nach der immanenten Möglichkeit des Faktums; sie ist die Darstellung der transzendentalen ‚Genesis‘ des Faktums, wie Fichte sagt.“ 89 Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 211.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

„hat je schon angefangen“90 . Wer deshalb nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen fragt, kann dies nicht außerhalb des Wissens tun, kann nicht nach einem absoluten Anfangspunkt des Wissens suchen, sondern muss vom Wissen selber ausgehen.91 „Inhaltliches Wissen ist schlechthin vorausgesetzt.“92 Die Krings’sche Vorgehensweise, nach den logischen Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Erfahrungen (wie Willensfreiheit oder Wissen) zu fragen, ist als Methodik vollkommen einleuchtend und nachvollziehbar. Einzig die Erläuterung Lerchs, dass die Methodik nicht dazu diene, etwas im ontologischen oder metaphysischen Sinne Wirkliches ‚hinter‘ dem Faktum zu entdecken, bedarf einer genaueren Betrachtung. Muss nicht der Bedingung der Möglichkeit eines erfahrbaren Faktums derselbe Grad an ontologischer oder metaphysischer ‚Wirklichkeit‘ zukommen wie dem erfahrbaren Faktum selbst? Natürlich ist die Wirklichkeit bzw. Existenz von Freiheit nicht in dem Sinne gewiss, dass es für sie eine unwiderlegbare und unbezweifelbare Letztbegründung gibt. Wer aber die Wirklichkeit bzw. Existenz von Freiheit voraussetzt bzw. unterstellt, muss auch von der Wirklichkeit bzw. Existenz der Bedingungen ihrer Möglichkeit ausgehen. Diese können dann nicht nur als rein ‚gedachte‘ deklariert werden sondern müssen zugleich auch als ‚wirklich‘ bzw. existent angenommen werden (ohne dass dies impliziert, dass sie auf irgend eine Weise erfahrbar sind, und ohne dass dies impliziert, dass diese Existenz unbezweifelbar gewiss wäre). Insofern gelingt Krings die Abgrenzung seiner Philosophie von der Metaphysik nicht.

8.3

Vermeidet Krings den Zirkel?

Krings greift, wie bereits erwähnt, auf den vom frühen Fichte stammenden Gedanken der transzendentalen Selbstsetzung des Ich zurück. Dieser allerdings wird von Henrich mit guten Gründen als inkonsistent kritisiert (vgl. Kapitel 6.2).93 Es stellt sich deshalb die auch von Striet, Nitsche und Lerch diskutierte Frage, ob die Kritik Henrichs an der Selbstbewusstseinstheorie des frühen Fichte auch die Krings’sche Denkfigur trifft.94 Nitsche vertritt die Ansicht, die Krings’sche Figur der immanenten Retroszendenz erweise sich im Gegensatz zu Fichtes transzendentaler Selbstsetzung des

90 91 92 93 94

Krings: Wissen, 140. Vgl. Krings: Wissen, 141. Krings: Wissen, 141. Vgl. Henrich: Fichtes ‚Ich‘. Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Vgl. Striet: Ich, 281. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 216–225 und 285. Vgl. Lerch: All-Einheit, 147f und 180–194.

Vermeidet Krings den Zirkel?

Ich als geeignet, die von Henrich diagnostizierten Probleme der Reflexionstheorie zu überwinden.95 Aus Nitsches Sicht ist es entscheidend, dass sich die reflexe Transzendenz nach Krings anders als bei Fichte immanent vollzieht.96 Er schreibt: „Selbstsetzung ist nach Krings im Unterschied zu Fichte als die Eröffnung einer Differenz in einer abstrakten Identität (‚Ich‘) zu fassen […]. Es geht nach Krings daher um das Eröffnen einer Differenz […] unter Voraussetzung einer schon gegebenen Einheit.“97 Diese Annahme einer schon gegebenen Einheit passt allerdings nicht zu der im gleichen Zusammenhang von Nitsche zitierten Formulierung von Krings, die immanent reflexe Transzendenz mache das formale Wesen der Selbsteinheit aus; als diese Transzendenz ‚sei‘ das Ich.98 Wenn das Ich als reflexe Transzendenz ‚ist‘, also in Differenz, dann kann ihm in seinem ‚Sein‘ nicht eine ‚schon gegebene‘ Einheit vorausgehen. Geht ihm aber keine Einheit voraus, ist die Begründung der Vertrautheit durch die immanent reflexe Transzendenz zirkulär. Dennoch geht Nitsche davon aus, die Krings‘sche Figur der in sich zurückgewendeten Transzendenz könne das ursprüngliche Vertrautsein begründen.99 Verschiedene Stellen in Pröppers ‚Anthropologie‘ deuten drauf hin, dass er die Ansicht Nitsches teilt. Er erläutert, die immanent reflexe Transzendenz sei „das eben in dieser Form sich allererst konstituierende Ich“100 und die immanent reflexe Transzendenz münde in ein ständiges ‚Beisichsein‘.101 Das ‚Beisichsein‘ komme dadurch zu Stande, „daß ein Akt des Transzendierens durch die Rückkehr in sich auf sich selbst trifft und so im Transzendieren, im inneren wie im realen gehaltbezogenen, bei sich bleibt.“102 Dem hält Henrich zu Recht entgegen, der Zirkel im Begriff des selbstbezogenen Wissens werde „nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß man ihm die Qualität der Unmittelbarkeit zuspricht.“103 Nach Krings geht das präreflexive Mit-sichVertrautsein aus dem Prozess immanenter Retroszendenz hervor, es ist Resultat des transzendentalen Handelns (s. o.). Das bedeutet, dass der immanente Prozess, die immanente Aktivität des Sich-Öffnens und des In-sich-Zurückkehrens keinerlei Wissen von sich selbst besitzt. Wie aber soll dieser Prozess in der Rückwendung auf sich selbst das, worauf er stößt, als mit sich selbst identisch erkennen, wenn er kein Wissen von sich mitbringt? Der Zirkel der Reflexionstheorie kehrt hier zurück.104

95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 285. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 216 und 225. Nitsche: Endlichkeit, 216. Vgl. Nitsche: Endlichkeit, 225. Vgl. Krings: Logik, 64. Vgl. Lerch: All-Einheit, 186. Pröpper: Anthropologie 1, 555. Pröpper: Anthropologie 1, 558. Pröpper: Anthropologie 1, 558. Henrich: Selbstbewusstsein, 268. Diese Auffassung teilt Lerch: Selbstmitteilung, 91f.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Die Zirkularität findet sich auch in den Krings’schen Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit von Freiheit: Das Unbedingtheitsmoment im Sich-Öffnen für Gehalt beruht, so wurde bereits erläutert, darauf, dass das Sich-Öffnen für Gehalt bzw. der Entschluss zur Affirmation von Gehalt zugleich ein Entschluss des Willens zur eigenen Materialität ist. Das Sich-Öffnen ist ein Sich-Öffnen auf sich selbst als Sich-Öffnendes hin. Die Affirmation eines Gehaltes, das Sich-Öffnen für Gehalt impliziert die Affirmation einer Instanz, die der Affirmation, des unbedingten Sich-Öffnens fähig ist. Freiheit konstituiert sich dadurch, dass Freiheit anerkannt wird. Es entsteht der Eindruck, dass man es hier mit einem ‚Baron Münchhausen‘ zu tun hat, der versucht, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen: Ist der ursprüngliche Entschluss (das immanente Sich-Öffnen) nicht schon unbedingt, so kann ihm diese Unbedingtheit auch nicht dadurch zukommen, dass er sich in der Rückwendung auf sich selbst zu sich selbst entschließt. Freiheit kann sich nicht dadurch konstituieren, dass sie sich selbst anerkennt/affirmiert, denn für die Affirmation wird Freiheit schon vorausgesetzt. Der:Die Setzende kann sich nicht durch eine Setzung selbst als Setzende:n konstituieren (s. o.), weil die Setzung den:die Setzende:n voraussetzt.

8.4

Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit

Auch Magnus Striet ist nach einer Auseinandersetzung mit Henrichs Überlegungen der Auffassung, dass Krings den Zirkel nicht vermeidet. Er fragt: „Denn ist nicht der von Krings in der Tradition Fichtes angesetzte primäre Setzungsakt des Ich […] gleichzusetzen mit dem im Reflexionsmodell gedachten Ich, das den Identifikationsakt angeblich leistet?“105 Die Frage sei, „ob sich hier [bei der immanent reflexen Transzendenz] nicht wiederum der reflexionstheoretische Zirkel einstellt, wenn gefragt wird, wie sich diese Einheit als eine ihrer selbst bewußte konstituiert.“106 Im Anschluss konzipiert er eine „Vermittlungsfigur zwischen der Selbstbewußtseinstheorie von Henrich und der Freiheitslehre von Krings“107 , die dem Zirkel entgehen und doch zentrale freiheitstheoretische Einsichten von Krings bewahren will. Henrichs Überlegungen fließen in diese Vermittlungsfigur insofern ein, als Striet das präreflexive Selbstbewusstsein auf solche Weise in seinen Ansatz zu integrieren versucht, dass es nicht oder zumindest nicht ausschließlich – wie bei Krings – Resultat einer freien Handlung ist. Die Striet’sche Vermittlungsfigur stelle 105 Striet: Ich, 281. 106 Striet: Ich, 281. 107 Striet: Ich, 282. Die Selbstbewusstseinstheorie Henrichs und die Unterschiede zwischen dieser und der Striet’schen Vermittlungsfigur werde ich erst später thematisieren.

Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit

ich im Folgenden dar. Die Kritik erfolgt dabei zum Teil an Ort und Stelle, zum Teil im nachfolgenden Kapitel. Striet schlägt zum einen vor, die „präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich“108 als einen der Gehalte anzusetzen, „in dem das transzendentallogisch Frühere, die nur formale Selbstbeziehung der immanenten Transzendenz, Grund nimmt, und so die abstrakte Identität der ursprünglich eröffneten Differenz zu einer wirklichen, gehaltvollen Identität wird.“109 Das präreflexive Selbstbewusstsein soll demnach an die Stelle des Terminus, d. h. des Objektes, treten, auf den hin sich das Fundamentum, d. h. die immanente Transzendenz, öffnet. Das Verhältnis von präreflexiver Vertrautheit zur immanent reflexen Transzendenz ist dann nach Striet so zu bestimmen, dass die präreflexive Vertrautheit als die „Bedingung“ des freien Ich, „nicht aber als dessen Erklärung“110 angesehen werden kann. „Bedingung“ ist sie deshalb, weil die immanent reflexe Transzendenz nur wirklich wird, indem sie in einem Gehalt – in diesem Fall dem präreflexiven Selbstbewusstsein – Grund nimmt. Der „Gehalt der präreflexiven Vertrautheit mit sich, d. h. in seiner reflexiven Form, wäre dann als ein Produkt der Freiheit zu begreifen: des ursprünglichen Entschlusses der Freiheit zu sich selbst.“111 Produkt der Freiheit ist die präreflexive Vertrautheit dann deshalb, weil sie nur durch das freie Sich-Öffnen des Fundamentums zum Terminus werden kann. Dieser Vorschlag ist aber nicht die entscheidende Modifikation Striets am Krings’schen Ansatz. Sicherlich kann die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst nach Krings auch zu einem Gehalt der immanent reflexen Transzendenz werden und sie ist dann, insofern sie Terminus ist, auch ein Produkt der Freiheit. Beides ist der Fall, wenn reflexives Selbstbewusstsein vorliegt. Dies schließt jedoch nach Krings nicht aus, dass auch andere Gehalte als Terminus der Transzendenz fungieren können. Selbst wenn die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst als Gehalt der immanent reflexen Transzendenz angesetzt wird, ist damit allerdings das Zirkelproblem innerhalb der immanent reflexen Transzendenz noch nicht aufgehoben. Dies löst Striet erst durch eine weitere Überlegung, die auch unabhängig von der ersten beschriebenen Überlegung sinnvoll ist: Striet stellt die Überlegung an, dass „das Ich der formalen immanent-reflexen Selbsteinheit und das Ich der präreflexiven Vertrautheit mit sich nicht ontologisch voneinander getrennt werden [dürfen].“112 Vielmehr solle das Verhältnis so bestimmt werden, „daß sich das Übersichhinaussein der immanent-reflexen Selbsteinheit als formales Moment an der Vertrautheit mit sich selbst entzündet, 108 109 110 111 112

Striet: Ich, 283. Striet: Ich, 283. Beide Zitate: Striet: Ich, 283. Striet: Ich, 283. Striet: Ich, 283.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

so daß das Ich sich als formal unbedingtes konstituiert, und zwar an etwas, das es selbst ist.“113 Durch diesen zuletzt genannten Gedanken entgeht Striet der „Aporie des Reflexionsmodells“114 . Dabei wird die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst in zweifacher Weise zur Bedingung der immanent reflexen Transzendenz. Einmal ist sie Bedingung insofern sie nach Striet der Gehalt ist, ohne den die immanent reflexen Transzendenz nicht wirklich wird. Außerdem ist sie Bedingung insofern sie den Identifikationsakt ersetzt, durch den nach Krings erst im immanenten Auftreffen des Ich auf sich selbst in der Bewegung immanent reflexer Transzendenz die präreflexive Vertrautheit zu Stande kommt. Im Hinblick auf diese zweite Weise der Bedingtheit der immanent reflexen Transzendenz schlägt Striet also vor davon auszugehen, dass die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst (anders als bei Krings und Nitsche) kein Produkt der Bewegung immanenter reflexer Transzendenz ist, denn sie liegt schon vor dieser Bewegung bzw. Handlung vor und ist ihre Bedingung. Dennoch vollzieht das präreflexive Ich im Sich-Öffnen für Gehalt eine Bewegung wirklicher Retroszendenz, die ihrerseits eine immanente Bewegung der Retroszendenz impliziert. Die immanente Bewegung der Retroszendenz muss auf sich selbst treffend keinen Identifikationsakt leisten,115 denn sie ist ja schon vorgängig mit sich selbst vertraut. Wohl aber konstituiert sich nach Striet durch diese immanente Retroszendenz das Ich „als formal unbedingtes“116 in dem Sinne, dass sich die Unbedingtheit durch Selbstaffirmation konstituiert. Freiheit konstituiert sich dadurch, dass sie sich ursprünglich zu sich selbst entschließt.117 Das wirkliche Sich-Öffnen für Gehalt bezieht aus dieser immanenten Selbstwahl von Freiheit das Moment seiner formalen Unbedingtheit (bei materialer Bedingtheit) und insofern das präreflexive Ich sich reflektierend auf sich selbst zurückwendet, d. h. sich auf sich selbst als wirklichen Gehalt hin öffnet, muss auch das daraus resultierende reflexive Selbstbewusstsein als ein Produkt der Freiheit begriffen werden. Eben weil reflexives Wissen und reflexives Selbstbewusstsein ein Produkt der Freiheit sind, ist die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst zwar eine Bedingung, nicht aber die Erklärung des Wissens und des reflexiven Selbstbewusstseins.118 Die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst ist zwar ermöglichende Bedingung von Freiheit, aber es verursacht sie nicht, denn das widersprüche dem Wesen von Freiheit. In den Worten von Lerch: „das präreflexive Ich konstituiert sich als reflexives Ich durch

113 114 115 116 117 118

Striet: Ich, 283. Striet: Ich, 283. Vgl. Striet: Ich, 283. Striet: Ich, 283. Vgl. Striet: Ich, 283. Vgl. Striet: Ich, 283.

Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit

einen selbstursprünglichen Freiheitsakt, der dafür verantwortlich zeichnet, dass in der eigenen Präreflexivität eine Differenz aufbricht.“119 Obwohl die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst nach Striet Bedingung der immanent reflexen Transzendenz ist (und auf diese Weise der Zirkel vermieden wird), muss letztere dennoch seiner Ansicht nach transzendentallogisch betrachtet als das Primäre gedacht werden.120 Eine Bedingung geht aber doch dem von ihr Ermöglichten logisch voraus, so dass die immanent reflexe Transzendenz gegenüber der präreflexiven Vertrautheit als das Sekundäre bezeichnet werden müsste. Warum bezeichnet Striet die immanent reflexe Transzendenz dennoch als das transzendentallogisch Primäre? Er will meines Erachtens mit dieser Formulierung den Eindruck vermeiden, die immanent reflexe Transzendenz sei in irgendeiner Weise durch die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst verursacht. Er nennt die immanent reflexe Transzendenz ‚transzendentallogisch primär‘, um den Charakter ihrer formalen Unbedingtheit nicht zu gefährden. Tatsächlich ist es nötig an der formalen Unbedingtheit festzuhalten. Dies schließt aber nicht aus, dass ihr die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst als ermöglichende Bedingung (nicht als hinreichende Ursache) transzendentallogisch vorausgeht und diese Vertrautheit deshalb auch transzendentallogisch als primär angesehen werden muss. Allerdings setze ich bei dieser Überlegung voraus, dass ‚primär‘ nicht im Sinne von ‚unverursacht‘ und ‚sekundär‘ nicht im Sinne von ‚deterministisch verursacht‘ zu verstehen ist. 8.4.1

Der Zirkel bei Striet und das Albert’sche Trilemma

Durch die beschriebene Vermittlungsfigur vermeidet Striet den Zirkel im Hinblick darauf, wie die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst zu Stande kommt – diese wird schlicht vorausgesetzt. Indessen vermeidet er den Zirkel nicht insofern er an dem Krings’schen Gedanken festhält, dass sich das Unbedingtheitsmoment innerhalb der menschlichen Freiheit durch eine Selbstwahl von Freiheit, durch die immanente Selbstaffirmation einer Instanz, die der Affirmation, des unbedingten Sich-Öffnens fähig ist, konstituiert (s. o.). Ist der ursprüngliche Entschluss (das immanente Sich-Öffnen) nicht schon unbedingt, so kann ihm diese Unbedingtheit auch nicht dadurch zukommen, dass er sich in der Rückwendung auf sich selbst zu sich selbst entschließt. Freiheit kann sich nicht dadurch konstituieren, dass sie sich selbst anerkennt/affirmiert, denn für diese Selbstaffirmation wird Freiheit schon vorausgesetzt (s. o.). Das immanente Sich-Öffnen muss also

119 Lerch: All-Einheit, 182. 120 Striet: Ich, 282.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

auch ohne die immanente Rückwendung auf sich selbst, ohne den Entschluss zu sich selbst schon unbedingt sein, wenn (libertarische) Freiheit wirklich ist. Wie ist diese Erkenntnis zu bewerten? Für die Beantwortung dieser Frage kann der Philosoph Hans Albert mit seinen Überlegungen zum sogenannten Trilemma der Erkenntnis bzw. Münchhausen-Trilemma121 gute Dienste leisten.122 Auf der Suche nach einem Wissen, das über jeden Zweifel erhaben ist, folge die klassische Erkenntnistheorie, so Albert, dem Grundsatz: „Suche stets nach einer zureichenden Begründung aller deiner Überzeugungen.“123 Nur zureichend begründete Aussagen haben demnach Anspruch auf allgemeine Anerkennung.124 Verzwickterweise werde aber im Zuge dieser dem beschriebenen Grundsatz folgenden Suche niemals ein „archimedischer Punkt“125 der Erkenntnis, niemals eine „absolute [nicht mehr auf Gründe hinterfragbare] Begründung“126 gefunden. Stattdessen stehe der:die nach einem unbezweifelbaren Fundament des Wissens Suchende letztlich vor drei Alternativen, von denen keine rational akzeptabel ist:127 Entweder müsse er:sie (1) die Suche nach Begründungen in einem infiniten Regress fortsetzen, was praktisch nicht möglich ist, oder er:sie gerate (2) in einen logischen Zirkel, indem er:sie in einer Begründung auf Aussagen zurückgreift, die eigentlich erst begründet werden sollen, oder er:sie breche (3) das Verfahren der Suche nach zureichenden Gründen an einem bestimmten Punkt willkürlich ab und deklariere die an diesem Punkt vorliegende Begründung ohne weitere rationale Begründung für unbezweifelbar.128 Bei der letzten Alternative habe man es mit einer Begründung durch „Rekurs auf ein Dogma“129 zu tun. Auf diesem Wege werde aber Erkenntnis durch eine Entscheidung ersetzt.130 Den Ausweg aus dem Trilemma sieht Albert darin, „an die Stelle der Begründungsidee die Idee der kritischen Prüfung, der kritischen Diskussion aller in Frage kommenden Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente“131 zu setzen. Dies bedeute aber zugleich, auf die Annahme unbezweifelbarer Gewissheiten zu verzichten. Jeglichen Aussagen, auch den Aussagen über die Fundamente unseres Wissens, kommt demnach der Charakter

121 Vgl. Albert: Traktat, 9–18. 122 Für den Hinweis, dass in diesem Zusammenhang Hans Alberts Trilemma eine Rolle spielen könnte, danke ich Patrick Becker. 123 Albert: Traktat, 11. 124 Vgl. Albert: Traktat, 11. 125 Albert: Traktat, 10. 126 Albert: Traktat, 10. 127 Vgl. Albert: Traktat, 15. 128 Vgl. Albert: Traktat, 16. 129 Albert: Traktat, 16. 130 Vgl. Albert: Traktat, 39. 131 Albert: Traktat, 42.

Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit

von mehr oder weniger gut geprüften, überprüfbaren und rational begründbaren Hypothesen zu, die vor einer Falsifizierung niemals gefeit sind.132 Es liegt nun die Vermutung nahe, dass sich die transzendentale Logik bei dem Versuch, eine Begründung für das Unbedingtheitsmoment in der menschlichen Freiheit zu finden, in einen logischen Zirkel verstrickt, weil sie dem klassischen Erkenntnisideal folgt, für jede Aussage und damit eben auch für die Annahme eines Unbedingtheitsmoments innerhalb der menschlichen Freiheit eine zureichende Begründung zu finden. Schon zu Beginn dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass dieses Vorhaben selbstwidersprüchlich sein könnte, weil schon der Begriff der Unbedingtheit impliziert, dass sich keine zureichenden Bedingungen ihrer Möglichkeit angeben lassen, weil sonst keine Unbedingtheit gegeben wäre. Die Analyse der transzendentalen Logik hat gezeigt, dass der Gedanke, dass die formal Unbedingtheit von Freiheit sich durch die in der immanent reflexen Retroszendenz sich vollziehende Selbstwahl von Freiheit konstituiert, als zirkulär zurückgewiesen werden muss. Für das Moment der Unbedingtheit lässt sich keine zureichende Bedingung angeben. Wie kann aber mit Albert eine Alternative aussehen? Nach Albert kann die Alternative nicht sein, das Moment formaler Unbedingtheit innerhalb der menschlichen Freiheit dogmatisch als unbezweifelbar zu postulieren. Die Alternative besteht vielmehr darin, das Moment formaler Unbedingtheit, das – wie Krings in der Auseinandersetzung mit Habermas und Apel deutlich macht (vgl. Kapitel 8.1) – im Begriff praktischer Freiheit bzw. Willensfreiheit vorausgesetzt wird, also Bedingung der Möglichkeit von praktischer Freiheit ist, zusammen mit eben dieser praktischen Freiheit/Willensfreiheit als eine Hypothese zu betrachten. Die Hypothese muss demnach lauten: Das Krings’sche Sich-Öffnen für Gehalt ist unabhängig von einer Bewegung immanent reflexer Transzendenz formal unbedingt. Wer wie Habermas (libertarische) Willensfreiheit mit guten Gründen als wirklich ansieht (auch dies ist letztlich keine unbezweifelbare Gewissheit sondern eine Hypothese, wenn auch eine bei Habermas gut begründete), der:die muss zugleich – und das ist eine wichtige Pointe der Krings’schen Überlegungen – ein Moment von Unbedingtheit oder auch Selbstursprünglichkeit in dieser Freiheit annehmen, ohne das Freiheit eben nicht Freiheit wäre sondern (in der Konzeption von Habermas) konditioniertes Verhalten (vgl. Kapitel 8.1). Durch einen Prozess der Selbstwahl begründen lässt sich dieses Unbedingtheitsmoment indessen nicht. Dies beachtet auch Lerch in seinem Ansatz nicht, der in Kapitel 8.5 Thema ist. Gibt es aber überhaupt noch einen Grund, am Gedanken der immanent reflexen Transzendenz festzuhalten, wenn diese die Unbedingtheit nicht begründet? Dies ist der Fall, weil durch die immanent reflexe Transzendenz die ontologisch zwar untrennbaren, aber transzendentallogisch unterschiedenen Elemente präreflexives

132 Vgl. Albert: Traktat, 43.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Selbstbewusstsein des Ich und unbedingtes Sich-Öffnen von diesem Sich-Öffnen her aktiv miteinander verbunden werden. Die unbedingte Aktivität eignet sich schon immanent sozusagen die eigene präreflexive Vertrautheit mit sich selbst aktiv an, so dass Vertrautheit und Aktivität im transzendentalen Ich auch von der Aktivität her geeint sind. Erst dadurch wird es möglich in einem engeren Sinne vom Sich-Öffnen oder von einem Sich-Bestimmen der Freiheit zu sprechen. Darüber hinaus ist es denkbar, dass die immanente Selbstbezüglichkeit der unbedingten Aktivität deren Selbststeuerungsfähigkeit in Bezug auf mögliche Gehalte einschließlich der Fähigkeit, sich von einem Gehalt auf sich selbst zurückzuwenden, begründet. Eine solche Selbststeuerungsfähigkeit muss sicherlich als analytisch im Begriff von Freiheit enthalten angesehen werden und bedarf deshalb einer Klärung der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Im Gedanken der immanent reflexen Transzendenz ist der Gedanke der ‚Selbstwahl‘ der Freiheit impliziert. An diesem Krings’schen Gedanken kann man also durchaus festhalten. Die Unbedingtheit der Freiheit wird durch die Selbstwahl aber nicht begründet. 8.4.2

Striet und Henrich im Vergleich

Mit den beschriebenen Überlegungen nähert sich Striet stark der Henrich’schen Bewusstseinstheorie an. Im Folgenden werde ich deshalb genauer analysieren, inwiefern sich die Striet’sche Vermittlungsfigur von der Selbstbewusstseinstheorie Henrichs unterscheidet. Striet geht es in erster Linie darum, das Unbedingtheitsmoment innerhalb der menschlichen Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von (libertarischer) Freiheit zu bewahren. Zwar kommt bei ihm zusätzlich zu der schon bei Krings gedachten Angewiesenheit des Ich auf selbstseienden Gehalt noch die Angewiesenheit auf das vorreflexive Vertrautsein mit sich selbst hinzu, die das Ich ebenfalls nicht selbst begründen kann. Striet formuliert dies folgendermaßen: Die Erfahrung eigener Kontingenz betrifft folglich sowohl die Faktizität von Welt und Geschichte als auch die selbstbewußtseinstheoretisch vorauszusetzende präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst, die in einer durch das Setzen der Freiheit aufgebrochenen Differenz als kontingent reflektiert werden muß.133

Insofern ist das Ich „radikal kontingent, weil seines eigenen Grundes nicht mächtig“134 . Zwei Überlegungen sichern dennoch bei Striet das Unbedingtheitsmoment der Freiheit: Zum einen sieht Striet das Unbedingtheitsmoment durch den Krings’schen

133 Striet: Ich, 285. 134 Striet: Ich, 284.

Magnus Striet: Präreflexives Selbstbewusstsein als Bedingung, nicht als Produkt von Freiheit

Gedanken der Selbstaffirmation von Freiheit in der immanenten Retroszendenz gewährleistet: „Ist die endliche Freiheit aber da, so ist sie, weil sie sich ursprünglich zu sich selbst entschlossen hat.“135 Der Gedanke, dass die Unbedingtheit der Freiheit auf einer immanenten Selbstwahl beruht, hat sich allerdings als zirkulär erwiesen. Zum anderen will Striet im Unterschied zu Henrich kein ich-loses Bewusstsein als Grund des reflexiven Selbstbewusstseins annehmen sondern ein präreflexiv mit sich vertrautes Ich – so jedenfalls lese ich ihn zusammen mit Lerch im Gegensatz zu Nitsche.136 Dies könnte seinen Grund darin haben, dass er in Henrichs ich-losem Bewusstsein (vgl. Kapitel 6.3) eine Gefährdung der Selbstursprünglichkeit, d. h. der Unbedingtheit, der Freiheit sieht. Ist die Aktivität (s. Henrich), ist das SichÖffnen (s. Krings) nicht eindeutig eine Aktivität des Ich, sondern nur ein Moment innerhalb eines apersonalen Ereignisses (wie bei Henrich), dann liegt der Gedanke einer Heteronomie der Aktivität durch dieses nicht-ichhafte Bewusstsein nahe. Diese Sichtweise vertritt Lerch. Er ist der Ansicht, „die Henrich’sche Konzeption eines ich-losen, all-einen Grundes im Bewusstsein“ verspiele „doch entscheidende freiheitsanalytische Elemente […].“137 Es sei seines Erachtens nicht ausgemacht, dass die Annahme eines ich-losen Bewusstseins als Dimension in der sich die Aktivität ereignet, die zu einem reflexiven Ich-Bewusstsein führt, nicht zur Aufhebung von Freiheit, sondern zur begründeten Zuschreibung von Freiheit (Lerch schreibt „Selbsttätigkeit“) führe.138 Das all-eine Sein – zu dem Henrich das ich-lose Bewusstsein ausbuchstabiert – schließe Differenzen in sich ein, es gestatte deshalb keinen Eigenstand des Ich ihm gegenüber. Weil der ich-lose Grund allein letzte Möglichkeitsbedingung des um sich wissenden Ich ist, komme der Subjektivität und Freiheit des Ich lediglich ‚vorläufige Gewissheit‘ zu.139 In gleicher Weise kritisiert auch Saskia Wendel den Ansatz Henrichs. Die Annahme eines ich-losen Grundes im Bewusstsein führe letztlich geradewegs zu einem heteronomen Verständnis von Selbstbewusstsein, denn in letzter Konsequenz bin nicht ich es, die denkt, fühlt, erlebt, sondern ein ichloser Grund, dessen Moment ich bin, also letztlich ein anonymes Es, dem sich mein Fühlen verdankt; dann aber ist mein Fühlen und Erleben streng genommen gar nicht je meines.140

135 136 137 138 139 140

Striet: Ich, 285. Lerch: All-Einheit, 181. Lerch: All-Einheit, 169. Vgl. Lerch: All-Einheit, 173. Vgl. Lerch: All-Einheit, 175. Vgl. Wendel: Affektiv, 278. Vgl. Lerch: All-Einheit, 175.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Neben die schon im letzten Kapitel beschriebenen Einwände gegen eine nichtegologische Bewusstseinstheorie tritt hier also ein weiterer, starker freiheitstheoretischer Einwand hinzu. Einen weiteren Unterschied zwischen Henrichs und Striets Theorie benennt Striet, indem er im Hinblick auf die von Henrich angenommene ‚Aktivität‘ als Moment im ich-losen Bewusstsein, die von Henrich ohne den Krings’schen Gedanken der immanenten Retroszendenz konzipiert wird, fragt „wie eine ichlos gedachte Aktivität sich selbst steuern können soll, so daß am Ende ein ausdrückliches Bewußtsein von ihr entsteht.“141 Während bei Krings und Striet die immanent reflexe Transzendenz die Selbststeuerungsfähigkeit der Aktivität/des Sich-Öffnens begründet (s. o.), fehlt bei Henrich eine Erklärung für diese Fähigkeit. Zum Verhältnis des Ansatzes von Henrich zur Striet’schen Vermittlungsfigur kann zusammenfassend trotz der erläuterten Unterschiede Folgendes gesagt werden: Nimmt man die Striet’sche Vermittlungsfigur und zieht von ihr den zirkulären Gedanken der Selbstwahl von Freiheit ab, so lässt sich kaum noch ein Unterschied zwischen dem Krings’schen ‚Sich-Öffnen‘ für Gehalt und der Henrich’schen ‚Aktivität‘ (vgl. Kapitel 6.3) ausmachen, die beide Grund des reflexiven (Selbst)bewusstseins sind. Denn Henrich sieht die Freiheit der ‚Aktivität‘ nicht als durch das ‚ich-lose Bewusstsein‘ aufgehoben, sondern als durch letzteres ermöglicht an. Das ich-lose Bewusstsein ist zwar „Bedingung der Autonomie“142 , daraus soll aber keine Heteronomie resultieren. Das ich-lose Bewusstsein als Feld, in welchem die ‚Aktivität‘ auftritt, darf nicht als äußerliche Ursache aufgefasst werden, sondern es ist das Fundament, der Boden, auf dem die Freiheit Bestand hat und sich realisieren kann.143 Ein Unterschied der beiden Theorien bleibt allerdings dahingehend bestehen, dass bei Henrich die ‚Aktivität‘ ein Moment innerhalb des ich-losen Bewusstseins ist, während Striet davon ausgeht, dass das unbedingte ‚Sich-Öffnen‘ ontologisch letztlich eine Handlung des ganzen präreflexiv mit sich vertrauten Ich ist. Ein weiterer Unterschied besteht in der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Erklärung der Selbststeuerungsfähigkeit der Aktivität. Aus freiheitstheoretischer Sicht ist die Annahme eines präreflexiv mit sich vertrauten Ich plausibler, weil so eine Fremdbestimmtheit des ‚Sich-öffnens‘/der ‚Aktivität‘ durch ein Nicht-Ich (‚ichloses Bewusstsein‘) ausgeschlossen ist. Allerdings erläutert Striet nicht, was das präreflexive Bewusstsein zu einem ich-haften macht.

141 Striet: Ich, 280. 142 Vgl. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 219. 143 Vgl. Lerch: All-Einheit, 92.

Magnus Lerch: Gleichursprünglichkeit von Beisichsein und Freiheit

8.5

Magnus Lerch: Gleichursprünglichkeit von Beisichsein und Freiheit

Jüngere Überlegungen dazu, wie das Verhältnis von präreflexiver Vertrautheit bzw. ‚Beisichsein‘ und immanent reflexer Transzendenz zu bestimmen ist, stammen von Magnus Lerch.144 Ihren Ausgangspunkt nehmen seine Überlegungen von den jüngsten Ausführungen Pröppers zur selben Fragestellung in dessen ‚Anthropologie‘.145 Pröppers Ausführungen weisen gemäß der Analyse Lerchs, die ich in dieser Hinsicht für treffend halte, eine gewisse Uneindeutigkeit146 auf: Einerseits finden sich bei Pröpper Formulierungen, die nach Lerch so interpretiert werden müssen, dass „das Ich der Grund […] seiner Identität mit sich (seines Beisichseins)“147 ist. Demnach wäre das ‚Beisichsein‘ das Produkt der Bewegung immanent reflexer Transzendenz. Die immanent reflexe Transzendenz konstituiert demnach das ‚Beisichsein‘.148 Im Hinblick auf diese Verhältnisbestimmung teilt Lerch allerdings die auch in dieser Arbeit vertretene Auffassung, dass sich hier der Zirkel der Reflexionstheorie immanent wiederholt (vgl. Kapitel 6.1). Lerch schreibt: Dann aber wird das Beisichsein – wenn auch auf transzendentaler Ebene – letztlich doch durch Reflexion (Retroszendenz) konstituiert, was sofort die Frage aufwerfen muss, die zugleich die Aporie des Reflexionsmodells anzeigt: Woher weiß denn das Ich, dass es im Akt des Transzendierens auf sich selbst trifft, wenn dieses Beisichsein zugleich Ergebnis erst des besagten Aktes sein soll?149

Deshalb darf nach Lerch das Verhältnis von immanent reflexer Transzendenz und Beisichsein nicht in dem Sinne asymetrisch bestimmt werden, dass erstere der Grund des Letzteren ist.150 „Denn ein solchermaßen konzipiertes Bedingungsgefüge zwischen Retroszendenz und transzendentalem Beisichsein würde den Reflexionszirkel nur perpetuieren – wenn auch diesmal auf transzendentaler Ebene.“151 Andererseits seien andere Formulierungen Pröppers so zu interpretieren, als ob Pröpper an eine Gleichursprünglichkeit von Retroszendenz und Beisichsein

144 145 146 147 148 149 150 151

Lerch: Selbstmitteilung, 86–95. Lerch: Einheit. Pröpper: Anthropologie 1, 535–578 . Lerch spricht von „schillernden Auskünfte[n]“ (Lerch: Selbstmitteilung, 92). Lerch: Selbstmitteilung, 92. Vgl. Lerch: Selbstmitteilung, 91. Lerch: Selbstmitteilung, 91. Vgl. Lerch: Selbstmitteilung, 91. Lerch: Selbstmitteilung, 91.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

denke.152 In diesem Sinne versteht Lerch die Aussage Pröppers, die immanent reflexe Transzendenz sei die „Form der präreflexiven Vertrautheit des Ich mit sich[…].“153 Beides werde hier in eins gesetzt, immanent reflexe Transzendenz würde mit dem präreflexives Beisichsein identifiziert. Diese Sichtweise hält er für die bei Pröpper dominantere und favorisiert sie auch selbst als logisch möglichen und notwendigen Ausweg aus dem reflexionstheoretischen Zirkel. Die Frage, ob es sich dabei um eine adäquate Interpretation der Ausführungen Pröppers handelt, soll wegen der Uneindeutigkeit dieser Ausführungen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Ausgehend von seiner Pröpper-Interpretation arbeitet Lerch den Gedanken der Gleichursprünglichkeit von immanent reflexer Transzendenz und Beisichsein seinerseits weiter aus. Seine Überlegungen eröffnen interessante Perspektiven und sollen deshalb im Folgenden genauer dargestellt und geprüft werden. Lerch schreibt, dass „das Beisichsein des Ich die Auskehr und Rückkehr des Ich zu sich (Retroszendenz) ist […].“154 Weil „die Retroszendenz die innere Form des transzendentalen Beisichseins“ sei, seien „beide subjekttheoretischen Theorieelemente logisch gleichursprünglich anzusetzen.“155 Lerchs Rede von zwei ‚Theorieelementen‘ ist missverständlich. Man kann sie so verstehen, dass mit präreflexivem Selbstbewusstsein und Retroszendenz zwei voneinander ontologisch unterschiedene Entitäten vorliegen. Der Gedanke der logischen Gleichursprünglichkeit bedeutet dann, dass Lerch davon ausgeht, dass immanente Retroszendenz und präreflexive Vertrautheit als zwei unterschiedliche Entitäten sich logisch gegenseitig bedingen bzw. dass beide logisch voneinander abhängen: Die eine Entität kann es nicht ohne die andere geben und umgekehrt. Die Bewegung immanent reflexer Transzendenz setzt die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst voraus. Umgekehrt ist aber auch das Beisichsein logisch nicht möglich ohne eine selbstbezügliche Aktivität (immanent reflexe Transzendenz). Dann kann keine der beiden Entitäten als hinreichende Ursache oder Bedingung der jeweils anderen verstanden werden, sondern maximal als notwendige Ursache oder Bedingung und beide werden „logisch simultan[…]“156 wirklich. Andererseits deutet die Formulierung Lerchs, dass „das Beisichsein des Ich die Auskehr und Rückkehr des Ich zu sich (Retroszendenz) ist […]“157 , darauf

152 153 154 155 156

Vgl. zum ganzen Absatz: Lerch: Selbstmitteilung, 90f. Pröpper: Anthropologie 1, 558 und 560. Vgl. Lerch: Selbstmitteilung, 91. Lerch: Selbstmitteilung, 92. Beide Zitate Lerch: Selbstmitteilung, 91. Lerch: Selbstmitteilung, 91. Wobei mir der Begriff einer ‚logischen Simultanität‘ zwei Kategorien zu vermischen scheint. Man müsste wohl eher sagen, weil Retroszendenz und Beisichsein logisch voneinander abhängig sind, können beide zeitlich auch nur zusammen auftreten. 157 Lerch: Selbstmitteilung, 92.

Magnus Lerch: Gleichursprünglichkeit von Beisichsein und Freiheit

hin, dass es sich bei präreflexivem Selbstbewusstsein und immanent reflexer Transzendenz um ein und dieselbe Entität handelt. Wie ist das aber möglich, wenn sie doch so unterschiedlich beschrieben werden? Dass Lerch von nur einer ontologischen Entität ausgeht, lässt eine spätere Veröffentlichung von ihm vermuten.158 Hier werden die beiden Theorieelemente, die im bzw. am Ich unterschieden werden müssen, als das Ergebnis zweier unterschiedlicher Perspektiven159 auf ein und dieselbe Entität, die man Ich nennen kann, aufgefasst. Die transzendentallogische Analyse realer menschlicher Freiheitsvollzüge, die nach deren Bedingung der Möglichkeit fragt (d. h. die Perspektive der Transzendentalphilosophie), bringe – so meint Lerch Nitsche zitierend – „eine Prävalenz der Autonomie, also des formell unbedingten ‚Auf-hin-Seins‘ menschlicher Subjektivität zur Geltung“160 (immanent reflexe Transzendenz). Aus dieser Perspektive bzw. „Reflexionsrichtung“161 kommt also in den Blick, dass das Ich im Kern als Handlung, als formal unbedingte Aktivität zu verstehen ist. Das präreflexive Vertrautsein des Ich mit sich selbst zeigt sich dagegen einer phänomenologischen Perspektive auf das Selbstbewusstsein.162 Es hat – anders als die immanent reflexe Transzendenz – keinen Handlungs- sondern (und an diesem Punkt stimmen Lerchs Überlegungen mit denen von Henrich zur präreflexiven Vertrautheit überein) einen Ereignischarakter,163 weil es nicht durch die Handlung immanent reflexer Transzendenz konstituiert wird.164 Insofern „kommt in der phänomenologischen Reduktion eine Prävalenz von Prozessen der Subjektivierung zum Ausdruck, welche das durch den Weltbezug des Menschen konstituierte ‚Von-her-Sein‘ reflektieren.“165 Eben weil das Ich das Beisichsein nicht konstituiert, müsse, so Lerch, noch stärker als dies bei Pröpper der Fall sei, betont werden, „dass das transzendentale Ich […] in die Struktur eingesetzt ist, in der es sich immer schon als ebenso freies wie seiner selbst bewusstes Ich vorfindet.“166 Beide Perspektiven müssen nach Lerch als irreduzibel und komplementär angesehen werden.167 Sie zeigen bzw. beschreiben dasselbe Phänomen „wie in einem Vexierbild“168 . In anderen Worten: Aus der einen Perspektive zeigt sich das Ich als Handlung bzw. als Aktivität, aus der anderen als 158 Vgl. Lerch: Einheit. 159 Vgl. Lerch: Einheit, 282. Lerch spricht hier von der jeweils „irreduzible[n] Perspektive“ von Phänomenologie und Transzendentalphilosophie. 160 Lerch: Einheit, 282. Nitsche: Endlichkeit, 286. 161 Lerch: Einheit des Menschen, 282. 162 Vgl. Lerch: Einheit, 282. 163 Lerch: Selbstmitteilung, 92. 164 Lerch: Einheit, 286. 165 Nitsche: Endlichkeit, 286. Lerch: Einheit, 282. 166 Lerch: Einheit, 286. 167 Vgl. Lerch: Einheit, 282. 168 Lerch: Einheit, 285.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Ereignis. Keine der beiden Perspektiven erfasst das Ich vollständig. Deshalb müssen sie als komplementär angesehen werden. Sie lassen sich aber auch nicht zu einer widerspruchsfreien Gesamtperspektive integrieren, denn man kann eigentlich nicht denken, dass etwas zugleich Handlung und Ereignis ist, muss es in diesem Fall aber. Dies ist nur möglich, wenn dabei zugleich zugestanden wird, dass unser Zugriff auf die Wirklichkeit stets nur ein perspektivischer ist. Es taucht hier eine erstaunliche Parallele zum Perspektivendualismus von Habermas auf. Würde es sich bei den beiden Theorieelementen tatsächlich wie soeben beschrieben ausschließlich um das Ergebnis zweier unterschiedlicher Perspektiven auf das Ich handeln, ohne dass den Theorieelementen jeweils eine Entität im Ich auf der Seinsebene entsprechen würde, könnte man beide wohl dennoch als logisch gleichursprünglich bezeichnen. Denn immer wenn ein Ich vorliegt und demnach die eine Perspektive darauf möglich ist, muss logischerweise auch die andere Perspektive möglich sein. Allerdings kann man dann nicht von einem Verursachungsverhältnis zwischen beiden Theorieelementen sprechen, wie in der oben genannten alternativen Interpretation Lerchs, denn Perspektiven wechselwirken nicht miteinander. Sie beschreiben nur ein und dieselbe Entität. Es wäre dann auch nicht möglich, dass das transzendentale Ich, wie Lerch meint, in die „Struktur eingesetzt“169 ist, in der es sich als freies vorfindet. Denn eine solche Struktur gäbe es dann auf der Seinsebene nicht. Die beiden Perspektiven könnten dann nicht in eine Gesamtperspektive überführt werden, in welcher das eine Theorieelement in irgendeiner Weise mit dem anderen Theorieelement interagiert. Vermutlich liegt eine adäquate Interpretation Lerchs zwischen den beiden beschriebenen Extremen. Diese Interpretation lautet: Präreflexives Selbstbewusstsein und immanent reflexe Transzendenz sind jeweils voneinander unterschiedene ontologische Entitäten bzw. Strukturen, die zusammen die Entität des präreflexiven „Ich“ bilden. Präreflexives Selbstbewusstsein erschließt sich der phänomenologischen Perspektive. Immanent reflexe Transzendenz erschließt sich der transzendentalen Reflexion auf die menschliche Freiheit. Dass das Ich sowohl Handlung als auch Ereignis ist (und nicht nur als beides zugleich erscheint), ergibt sich, wenn man die Erkenntnis beider Perspektiven in dem Sinne ernst nimmt, dass sie – wenn auch perspektivisch – etwas über die Seinsebene aussagen. Beide Theorieelemente/ Entitäten sind logisch gleichursprünglich, d. h. sie treten nicht nur stets zugleich auf sondern sie müssen stets zugleich auftreten, weil das eine Theorieelement das andere logisch voraussetzt und umgekehrt.

169 Lerch: Einheit, 286.

Vergleich und Diskussion

8.6

Vergleich und Diskussion

Im Vergleich zwischen Lerchs Konzept mit der Striet’schen Vermittlungsfigur ergeben sich folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Sowohl Striet als auch Lerch unterscheiden im Ich die beiden Theorieelemente ‚präreflexive Vertrautheit‘ und ‚immanent reflexe Transzendenz‘. Beide schließen eine asymmetrische Verhältnisbestimmung, gemäß der die immanent reflexe Transzendenz die Vertrautheit konstituiert, aus, weil eine solche Erklärung der Vertrautheit zirkulär wäre. Während Lerch die logische Gleichursprünglichkeit von präreflexiver Vertrautheit und immanent reflexer Transzendenz im oben beschriebenen Sinne als angemessene Bestimmung des Verhältnisses vorschlägt, bestimmt Striet das Verhältnis als ein asymmetrisches in dem Sinne, dass die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich Bedingung der immanent reflexen Transzendenz ist, umgekehrt aber die immanent reflexe Transzendenz nicht Bedingung der präreflexiven Vertrautheit des Ich mit sich. Entwickelt man Striets Überlegung weiter, bedeutet sie, dass es Formen präreflexiver Vertrautheit eines Ich mit sich selbst geben kann (z. B. bei Säuglingen oder höheren Säugetieren), ohne dass dieses Ich eine Bewegung immanent reflexer Transzendenz vollzieht. Ein solches Ich wäre dann als weder real noch transzendental frei zu bestimmen. An dieser Vertrautheit des Ich mit sich selbst kann sich aber unter bestimmten Umständen, zu denen man die sprachliche Sozialisierung zählen könnte, eine Bewegung der Transzendenz ‚entzünden‘, die sich sowohl immanent (immanent reflexe Transzendenz) als auch von einem realen Gehalt aus auf sich zurückwendet. Freiheit kann sich demnach an der Vertrautheit des Ich mit sich selbst ‚entzünden‘ und ermöglicht in einem damit Wissen und reflexives Selbstbewusstsein. Ist dies der Fall, können laut Striet immanent reflexe Transzendenz und präreflexives Vertrautsein ‚ontologisch‘ nicht unterschieden werden. Zusammen sind sie das Ich. Bei Lerch dagegen kann es präreflexive Vertrautheit nur zusammen bzw. zugleich mit immanent reflexer Transzendenz geben (und umgekehrt). Auch Säuglingen oder höheren Säugetieren, die nicht über ein reflexives (Selbst-)Bewusstsein verfügen, muss dann immanent reflexe Transzendenz zugeschrieben werden, sofern man davon ausgeht, dass sie über präreflexives Selbstbewusstsein verfügen. Für Lerchs Konzeption gilt, dass ein Ich, sobald es im phänomenologischen Sinn als ein präreflexives gegeben ist, über transzendentale Freiheit (immanent reflexe Transzendenz) verfügt und logisch verfügen muss. Schon das präreflexive Ich ist formal unbedingt – ohne dass sich seine Existenz als formal unbedingtes Ich einer Selbstsetzung verdanken würde. Lerch selbst geht allerdings nicht darauf ein, welche Argumente aus seiner Sicht für die logische Gleichursprünglichkeit und gegen das Striet’sche Konzept sprechen. Für das Striet’sche Konzept spricht, dass es der transzendentallogischen Metho-

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

de stärker verpflichtet ist: Transzendentale Freiheit (immanent reflexe Transzendenz) muss als gegeben angenommen werden, wenn reale Freiheit und reflexives (Selbst-)Bewusstsein auftreten. Liegen letztere nicht vor, kann entsprechend auch nicht auf transzendentale Freiheit geschlossen werden. Für Lerchs Sichtweise kann man argumentieren, dass es plausibel ist anzunehmen, dass eine Form von Selbstbezüglichkeit analytisch im Begriff präreflexiver Vertrautheit mit sich selbst enthalten ist, dass Beisichsein begrifflich eine Selbstbeziehung impliziert und diese auch nicht ohne ein Aktivitätsmoment gedacht werden kann. Darüber hinaus bleibt Striet eine Erklärung schuldig, was die präreflexive Vertrautheit zu einer egologischen macht, warum sie – auch ohne die Bewegung immanent reflexer Transzendenz – als Vertrautheit eines Ich mit sich selbst zu bestimmen ist. Zwar könnte er sich auf die phänomenologischen Analysen, wie die in Kapitel 6.5.2 dargestellten, berufen, als Beleg für die Tatsache, dass die präreflexive Vertrautheit egologisch ist. Warum das so ist, ergeben die phänomenologischen Analysen jedoch nicht. Was macht die präreflexive Vertrautheit zu einer ich-haften? Dass Striet diese Frage nicht beantwortet, wiegt besonders deshalb schwer, weil sich Striets Konzeption gerade durch die Ich-Haftigkeit der präreflexiven Vertrautheit vom Bewusstseinsmodell Henrichs abgrenzt und Striet gerade an diesem Unterschied auch die Unterscheidung von Heteronomie und Autonomie festmacht (s. o.). Das Konzept von Lerch hält hier ein Erklärungspotential bereit: Die Ich-haftigkeit kommt der präreflexiven Vertrautheit von der immanent reflexen Transzendenz her zu, die nach Lerch ebenso Bedingung der Möglichkeit von präreflexiver Vertrautheit ist wie präreflexive Vertrautheit Bedingung der immanent reflexen Transzendenz ist. Da beide Elemente zusammen das Ich bilden, können sie schließlich auch aufeinander einwirken. Dieses Erklärungspotential hat Lerch Striet voraus. Bewusstsein, auch präreflexives Bewusstsein ist gemäß Lerchs Vorschlag notwendig immer ich-haft und immer transzendental frei, weil mit ihm zugleich stets immanent reflexe Transzendenz stattfinden muss (ohne dass diese alleine die Vertrautheit produzieren würde). Die Freiheit ist nicht sekundär gegenüber einem präreflexiven Bewusstsein, für dessen Ichhaftigkeit es keine Erklärung gibt, sondern mit diesem gleichursprünglich: Freiheit und Bewusstsein gibt es notwendig nur zusammen oder gar nicht. Weil aber zugleich die immanent reflexe Transzendenz das Beisichsein zu ihrer Bedingung hat, kann nicht von einer Selbstsetzung des Ich die Rede sein. Sondern „das transzendentale [und transzendental freie] Ich findet sich in die Form der Retroszendenz eingesetzt, es hat diese Struktur nicht selbst hervorgebracht.“170 Das transzendentale Subjekt ist als freies „immer schon ‚gesetzt‘“171 . Die Identität des Ich mit sich ist „keine Produktion und Leistung des

170 Lerch: Selbstmitteilung, 92. 171 Lerch: Selbstmitteilung, 93.

Vergleich und Diskussion

Ich“172 , aber sie muss aktiv angeeignet oder – metaphorisch gesprochen – bewohnt werden, um wirklich zu sein. Lerchs Theorie impliziert allerdings, allen präreflexiv bewussten Lebewesen (z. B. auch Säuglingen oder höheren Säugetieren) transzendentale Freiheit zuzusprechen, auch wenn oder obwohl sie nicht über reale/wirkliche Freiheit, die dann auch Wahlfreiheit ist, nicht über ein reflexives Selbstbewusstsein und nicht über ein reflexives Gegenstandsbewusstsein verfügen. Lerch leitet mittels der transzendentallogischen Methode an dieser Stelle weiterreichende Behauptungen ab, als Krings es tut: Krings nimmt transzendentale Freiheit nur bei solchen Individuen als gegeben an, die auch über reale Freiheit verfügen, denn in diesem Fall ist sie als Bedingung der Möglichkeit realer Freiheit notwendig zu denken. Lerch dagegen meint, transzendentale Freiheit auch dann als gegeben annehmen zu können, wenn – beim selben Individuum – keine reale Freiheit sondern nur präreflexives Selbstbewusstsein vorliegt. Dennoch scheint mir diese Annahme im Rahmen der transzendentallogischen Methodik als gerechtfertigt. Als Bedingung der Möglichkeit realer Freiheit liegt transzendentale Freiheit dann eben nicht nur bei Individuen vor, denen reale Freiheit eignet, sondern bei allen Individuen mit Bewusstsein. Lerch behauptet mit seinem Modell allerdings implizit, dass präreflexives Selbstbewusstsein sich nicht vollständig aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive erklären lässt, weil es immanent reflexe Transzendenz voraussetzt. Präreflexives Selbstbewusstsein als die ‚Urform‘ von Bewusstsein erweist sich demnach als ‚irreduzibel‘. Diese Annahme ist plausibel, sie könnte sich aber auch angesichts der Tatsache, dass die Kognitionswissenschaften sich aktuell damit befassen, gerade dieses präreflexive Selbstbewusstsein zu erforschen und zu ergründen, wie es mit der Körperlichkeit des Menschen zusammenhängt, in absehbarer Zeit als falsch erweisen. Das wiederum wäre ein Argument dafür, zum von Striet vorgeschlagenen Vermittlungsmodell zurückzukehren. Denkbar ist dann aber auch ein Mittelweg zwischen dem Modell von Striet und dem von Lerch: Wie bei Striet kann präreflexives Selbstbewusstsein Bedingung der immanent reflexen Transzendenz sein, ohne dass das Umgekehrte der Fall ist. Allerdings tritt das präreflexive Selbstbewusstsein faktisch (nicht notwendig wie bei Lerch) stets nur zusammen mit immanent reflexer Transzendenz auf. Die beiden Theorieelemente können dann als gleichursprünglich im zeitlichen Sinne bezeichnet werden, nicht aber als logisch gleichursprünglich. Die Tatsache, dass die immanent reflexe Transzendenz präreflexives Selbstbewusstsein zu ihrer ermöglichenden Bedingung hat, widerspricht ihrer Selbstursprünglichkeit nicht grundsätzlich. Phänomenologisch kann man dieses Modell so plausibilisieren, dass

172 Lerch: Einheit, 286.

339

340

Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

mit der präreflexiven Vertrautheit eine Struktur gegeben ist, die unmittelbar und zugleich mit ihrem Auftreten geeignet ist, von eine Aktivität ‚bewohnt‘ zu werden, eine Struktur, die wegen der ihr immanenten Struktur in der Lage ist, in eine immanente Selbstbeziehung zu treten. Dieses Modell verhält sich anders als das von Lerch, aber ebenso wie das Striet’sche neutral zu möglichen Erklärungen der Genese des präreflexiven Selbstbewusstseins. Im Gegensatz zum Striet’schen Ansatz bietet es aber für die Ichhaftigkeit des präreflexiven Selbstbewusstseins eine Erklärung – dieselbe wie der Ansatz von Lerch. Im Bewusstsein dessen, dass alle drei zuletzt erörterten Modelle (Striet, Lerch, Peters) plausible Denkmöglichkeiten darstellen, werde ich mich im folgenden Fazit der vereinfachten Darstellung halber zunächst nur auf das Modell von Lerch beziehen.

8.7

Fazit: Kommunikative Vernunft, präreflexives Selbstbewusstsein und transzendentale Freiheit

Die Analysen in Kapitel 6 haben ergeben, dass die kommunikationstheoretische Erklärung der Genese von Selbstbewusstsein ebenso wie die reflexionstheoretische und der Erklärungsversuch Fichtes wegen Zirkularität als gescheitert betrachtet werden muss. In der Auseinandersetzung mit der Bewusstseinsphilosophie, der Phänomenologie und der neurobiologischen Bewusstseinstheorie Damasios hat sich gezeigt, dass dem reflexiven Selbstbewusstsein ein präreflexives (Selbst-)Bewusstsein zu Grunde liegt, dessen Genese nicht kommunikativ erklärt werden kann. Darüber hinaus sprechen eine genaue phänomenologische Analyse sowie Damasios Theorie dafür, das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein entgegen der Ansicht Henrichs und mancher Phänomenolog:innen als egologisch, also als Selbstbewusstsein anzusehen. Das vorliegende Kapitel hat erstens ergeben, dass Habermas in seinem Ansatz voraussetzt, dass Willensfreiheit ein Moment von Unbedingtheit impliziert (vgl. Kapitel 8.1), es jedoch nicht ausdrücklich als ein Implikat seines Ansatzes benennt. Insofern das Kapitel aber auch ergeben hat, dass sich die Genese dieses Unbedingtheitsmomentes nicht weiter aufklären lässt, ist das Defizit des Habermas’schen Ansatzes an dieser Stelle nicht groß. Wohl jedoch lässt sich, wie das vorliegende Kapitel zweitens ergeben hat, mehr dazu sagen, wo innerhalb der Struktur des Subjektes bzw. innerhalb der Genese des Selbstbewusstseins und unter welchen Bedingungen dieses Unbedingtheitsmoment auftritt: Es ist auf das Engste mit dem präreflexiven Selbstbewusstsein verbunden. Liegt präreflexives Selbstbewusstsein vor, so muss nach Lerch zugleich stets auch immanent reflexe Transzendenz vorliegen und umgekehrt, da sie sich gegenseitig voraussetzen. Beide Theorieelemente bzw. Entitäten bilden zusammen das präreflexive Ich. Sie erschließen sich jeweils unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf dieses Ich. Während das eine

Fazit: Kommunikative Vernunft, präreflexives Selbstbewusstsein und transzendentale Freiheit

Theorieelement sich zeigt, wenn man nach den Bedingungen der Möglichkeit realer Freiheitsvollzüge fragt, zeigt sich das andere Theorieelement der phänomenologischen Analyse des Bewusstseins. Um diese Aspekte muss (und kann) der Habermas’sche Ansatz ergänzt werden. Wie kann dementsprechend eine Theorie der Willensfreiheit (und des Selbstbewusstseins) aussehen, die den Habermas’schen Ansatz durch die Krings’sche Erkenntnis in der von Lerch modifizierten Variante ergänzt? Ein Hinweis darauf, wie der Gedanke der Selbstursprünglichkeit menschlicher Freiheit mit dem Gedanken ihrer intersubjektiven bzw. sozialen Bedingtheit zusammengedacht werden kann, findet sich schon beim frühen Fichte in seiner sogenannten Aufforderungslehre.173 Fichte nimmt an, dass die Genese des individuellen Selbst- und Freiheitsbewusstseins abhängig ist von realen intersubjektiven Beziehungen,174 genauer gesagt von der „Aufforderung durch ein schon fertig ausgebildetes anderes Selbstbewußtsein.“175 Das Individuum muss nach Fichte „durch die Begegnung mit mindestens einem personalen Gegenüber erst zum Bewußtsein seiner eigenen Freiheit erhoben werden.“176 Der Begriff der ‚Aufforderung‘ macht dabei deutlich, dass der:die Aufgeforderte durch die Aufforderung nicht fremdbestimmt ist, sondern zur Ausübung einer schon latent vorhandenen Fähigkeit angestoßen oder angeregt wird, die aber letztlich seine:ihre eigene Aktivität ist.177 Düsing erläutert: „Der andere bringt also in dem sich entwickelnden Subjekt nichts diesem Fremdes oder schlechthin Neues hervor, sondern weckt es dazu, für sich das zu werden, was es an sich und für diesen anderen schon ist – ein freies Vernunftwesen.“178 Bei Krings findet sich ein ähnlicher Gedanke. Er betont, ein Mensch alleine könne nicht frei sein.179 Vielmehr sei das „Kommerzium der Freiheit […] transzendental früher als das Subjekt, und im Begriffe des Subjekts […] [sei] der Begriff der Intersubjektivität als der transzendentallogisch frühere Begriff schon enthalten.“180 Das Subjekt gehe „in seiner transzendentalen Selbstbegründung aus einem Kommerzium der Freiheit und aus einer durch andere Freiheit vermittelten Selbstsetzung“181 hervor. Lerch interpretiert den Krings’schen Ausdruck ‚Kommerzium 173 Vgl. Striet: Ich, 260. Striet verweist seinerseits auf die ausführliche Darstellung in Düsing, Edith: Intersubjektivität, 240–289. Fichte befasst sich mit der Aufforderungslehre in der „Grundlage des Naturrechts“ von 1796 und in der „Wissenschaftslehre nova methodo“, die in Form von Vorlesungsmitschriften erhalten ist. 174 Vgl. Düsing: Intersubjektivität, 240. 175 Düsing: Intersubjektivität, 243. 176 Düsing: Intersubjektivität, 243. 177 Vgl. Düsing: Intersubjektivität, 245. 178 Düsing: Intersubjektivität, 245. 179 Vgl. Krings: Handbuchartikel, 125. 180 Krings: Handbuchartikel, 125. 181 Krings: Handbuchartikel, 125f.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

der Freiheit‘ als eine Chiffre für „intersubjektive Anerkennungsverhältnisse“182 und erläutert: „Gründet also auch der unableitbare Entschluss zur eigene Freiheit im Ich, so kann diese doch erst wirklich im Kommerzium der Freiheiten werden […].“183 Die Aufforderung, von der Fichte spricht, lässt sich unschwer im Ansatz von Habermas wiederfinden: In der Kommunikation miteinander erheben die Teilnehmer:innen an dieser Kommunikation Geltungsansprüche und fordern damit das Gegenüber zu einer freien Stellungnahme (Anerkennung oder Zurückweisung der Geltungsansprüche) auf. Innerhalb seiner Ontogenese wird ein Mensch also von seinen zur Freiheit schon fähigen Mitmenschen durch Kommunikation über die Welt (oder andere Geltungsansprüche) dazu aufgefordert bzw. angeregt bzw. angestoßen, die in ihm schon latent vorhandene Möglichkeit der Freiheit (= immanent reflexe Transzendenz oder transzendentale Freiheit) zu ergreifen und durch die Stellungnahme zu Geltungsansprüchen wirklich und wirksam werden zu lassen. Soll die Anerkennung oder Zurückweisung eines Geltungsanspruchs aber nicht nur das Ergebnis von Verhaltenskonditionierung sein, sondern frei in einem libertarischen Sinne, so muss ein Moment von Unbedingtheit bzw. Selbstursprünglichkeit in dieser Stellungnahme angenommen werden. Während Habermas stärker die kommunikative Sozialisierung des Menschen als ermöglichende Bedingung von Freiheit, als Voraussetzung, unter der Freiheit nur wirklich werden kann, in den Blick nimmt, betont Krings dagegen eher das Moment der Unbedingtheit. Letztlich braucht es aber beides: die kommunikative Verständigung über die Welt setzt die Selbstursprünglichkeit von Freiheit voraus und diese selbstursprüngliche Freiheit kann nur wirklich werden unter der Bedingung einer kommunikativen Vergesellschaftung des betreffenden Individuums. Hinsichtlich der Phylogenese des Menschen bedeutet dies, dass in der Evolution zugleich mit der kommunikativen Verständigung über die Welt auch selbstursprüngliche Freiheit wirklich geworden ist. Im Hinblick auf die Überlegungen Lerchs können die Krings’schen Aussagen zum Kommerzium der Freiheit präzisiert werden: Das Kommerzium der Freiheit/die Gemeinschaft freier Individuen ist früher als das reflexive Subjekt und es ist auch früher als die reale Freiheit, aber das präreflexive Subjekt und damit auch transzendentale Freiheit gehen der sprachlichen Sozialisierung voraus. Transzendentale Freiheit bedeutet dann schlicht ‚latent vorhandene Fähigkeit‘ zu realer Freiheit, die das Subjekt, intersubjektiv aufgefordert, ergreift und die so wirkliche Freiheit wird. Präreflexives Selbstbewusstsein (das transzendentale Freiheit impliziert und umgekehrt) zusammen mit realer Freiheit ermöglicht dann reflexives Selbstbewusstsein und intentionales Gegenstandbewusstsein.

182 Lerch: All-Einheit, 156. 183 Lerch: All-Einheit, 156.

Fazit: Kommunikative Vernunft, präreflexives Selbstbewusstsein und transzendentale Freiheit

Habermas und Krings kommen darin überein, dass die menschliche Freiheit (einschließlich des Unbedingtheitsmoments, das Habermas allerdings nicht in dieser Ausdrücklichkeit erwähnt) und die kommunikative Vergesellschaftung (die bei Krings aber nur am Rande in den Blick kommt) Bedingung der Möglichkeit sowohl des Gegenstandsbewusstseins bzw. Objektbewusstseins als auch des reflexiven Selbstbewusstseins ist. Man könnte auch sagen: Das intentionale Weltverhältnis des Menschen, die Intentionalität als ein Merkmal des Bewusstseins ist ein Produkt von kommunikativer Vergesellschaftung und selbstursprünglicher Freiheit. Mit Lerch kann man ergänzen: Das intentionale Weltverhältnis ist ein Produkt von kommunikativer Vergesellschaftung, selbstursprünglicher Freiheit und präreflexivem Selbstbewusstsein. Es liegt hier also eine nicht-reduktionistische Erklärung für die Intentionalität des Bewusstseins vor in dem Sinne, dass die Erklärung mindestens ein Element (Freiheit) enthält, das sich einem naturwissenschaftlichen Zugriff entzieht. Insofern nach Lerchs Modell präreflexives Selbstbewusstsein transzendentale Freiheit voraussetzt, entzieht sich demnach auch das präreflexive Selbstbewusstsein einer vollständigen naturwissenschaftlichen Erklärung. Im Gegensatz zu dem Modell von Lerch kann gemäß dem Modell von Striet und gemäß dem beschriebenen Mittelweg zwischen Lerch und Striet präreflexives Selbstbewusstsein durchaus einer naturwissenschaftlichen Erklärung zugänglich sein, ohne dass dies das vorgeschlagene Modell in Frage stellt. Weder Habermas noch Krings erkennen, dass reflexives Selbstbewusstsein ein präreflexives (Selbst)bewusstsein als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt, dessen Entstehung nicht – wie Krings meint – durch eine selbstbezügliche Aktivität, durch ein Handlungsmodell erklärt werden kann. Diese Erkenntnis bringen erst Henrich und Striet in die Debatte ein. Während Krings ein präreflexives Selbstbewusstsein zwar annimmt, seine Genese aber nicht zirkelfrei erklären kann, versteht Habermas unter Selbstbewusstsein ausschließlich reflexives Selbstbewusstsein. Für eine Theorie der Willensfreiheit liegt es angesichts dieser Erkenntnis nahe, präreflexives Selbstbewusstsein zusammen mit Striet und Lerch nicht nur als eine Bedingung von intentionalem Bewusstsein und reflexivem Selbstbewusstsein anzusehen, sondern auch als eine weitere Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Mit Lerch muss man ergänzen, dass auch umgekehrt transzendentale Freiheit Bedingung der Möglichkeit präreflexiven Selbstbewusstseins ist. Ergänzt man den Ansatz kommunikativer Vernunft mit Striets Überlegungen ist das Unbedingtheitsmoment der Freiheit dann eine als Reaktion auf eine soziale Aufforderung hin auftretende formal unbedingte Aktivität des präreflexiv mit sich vertrauten Ich. Zugleich mit der Freiheit ist dann auch ein präreflexives Bewusstsein von dieser Freiheit gegeben. Mit Lerch muss man sagen, dass die formal unbedingte Aktivität nicht erst auf die Aufforderung hin auftritt, sondern auf die Aufforderung hin von einer transzendentalen zu einer realen Aktivität wird.

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Zum Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit

Der Gedanke der ‚Selbstwahl‘ der Freiheit ist im Übrigen nicht nur über Krings erreichbar, sondern auch vom Konzept kommunikativer Vernunft her: Mit jeder Affirmation von Gehalt (Krings), die einem Erheben von Geltungsansprüchen im Habermas’schen Sinne gleichkommt, nehmen Personen die Rollen von Kommunikationsteilnehmer:innen ein. Diese Rollen implizieren ein gemeinsames Hintergrundwissen über die Welt, ein bestimmtes Verständnis vom Gegenüber (Du), ein bestimmtes Verständnis von den Regeln der Verständigung und, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, auch ein Selbstverhältnis der Kommunikationsteilnehmer:innen bzw. ein Verständnis der Kommunikationsteilnehmer:innen von sich selbst. Insofern ein Mensch also auf formal unbedingte Weise Gehalte affirmiert, nimmt er zugleich und damit ebenfalls in unbedingter Weise ein Selbstverhältnis ein, das Willensfreiheit impliziert. Deshalb kann man von einer impliziten Selbstwahl von Freiheit sprechen. Ebenfalls ist damit implizit auch die Affirmation der Freiheit des anderen verbunden. Die Selbstwahl von Freiheit – sei es die immanente oder die in der Kommunikation implizite – kann jedoch nicht deren Unbedingtheit konstituieren – dies würde in die Zirkularität führen. Nichtsdestotrotz ist diese Selbstwahl von Freiheit insofern bemerkenswert, als sie nicht in gleicher Weise material bedingt ist wie die Affirmation anderer Gehalte. Freiheit ist der einzige Gehalt für Freiheit, der formal unbedingt und nicht-material ist.

9.

Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit – oder die Kontinuität von Leben und Geist

Innerhalb der vergleichsweise jungen Wissenschaftsrichtung der Kognitionswissenschaft spielte der Körper für die Erklärung von Kognition und Bewusstsein jahrzehntelang keine Rolle.1 Die klassische Kognitionswissenschaft und die KIForschung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts definierten Geist als Informationsverarbeitung. Denken und intelligentes Verhalten lasse sich, so lautete die Annahme des Computerfunktionalismus, von Hochleistungscomputern realisieren, die in Symbolen repräsentierte Inhalte nach syntaktischen Regeln verarbeiten. Denken wurde als Rechenprozess verstanden. In materieller Hinsicht bedarf es dazu demnach in erster Linie eines zentralen Prozessors, der auf der Basis von Inputs Rechenleistungen vornimmt und daraus einen Output generiert. Probleme dieses Ansatzes führten in den 1980er Jahren zur Entwicklung des sogenannten Konnektionismus, der inspiriert von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen davon ausgeht, dass die Informationsverarbeitung nicht auf im Voraus festgelegten symbolischen Strukturen beruht, sondern auf einem Netzwerk aus sehr vielen einfachen Prozessoren, die massiv miteinander verschaltet sind und Informationen parallel verarbeiten. Ein solches System kann durch Versuch und Irrtum lernen, zu einem bestimmten Input einen korrekten Output zu generieren, weil die Aktivität der Verbindungen zwischen den einzelnen Prozessoren durch die Lerngeschichte des Systems verändert wird. So schreibt das System Wissen „in Mustern numerischer Stärke der Verbindungen zwischen den Prozessoren“2 fest. Obwohl die Leistungen konnektionistischer Netzwerke in vieler Hinsicht mehr dem menschlichen Geist entsprechen als die Leistungen traditioneller Digitalrechner,3 stellt der Konnektionismus letztlich aber doch nur eine Variante des klassischen Computer-Paradigmas dar.4 Der Unterschied besteht nur in der Art und Weise der Informationsverarbeitung. In den 1990er Jahren wurde die kognitive Neurowissenschaft zur Leitdisziplin der Kognitionswissenschaft. Auch aus dieser Perspektive spielt der Körper für die Kognition so gut wie keine Rolle. Erklärungen für kognitive Leistungen und

1 Zum folgenden historischen Überblick, wenn nicht anders angegeben: Vgl. Fingerhut/Hufendiek/ Wild: Einleitung, 43–47. Vgl. Gallagher: Kognitionswissenschaften, 320. 2 Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 55. 3 Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 56. 4 Vgl. Rhode: Enaction, 14.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Bewusstsein werden im Gehirn, seinen Strukturen und den dort stattfindenden Aktivität gesucht. Die Rolle des Körpers besteht darin, Inputs für das Gehirn zu liefern und Outputs des Gehirns in entsprechende Aktivitäten umzusetzen. Zentralen Eigenschaften des Bewusstseins wie ‚Privatheit‘, ‚Erlebnisperspektive‘ und ‚Intentionalität‘ konnten, wie das Kapitel 4.4.1 gezeigt hat, bisher aber auch ausgehend von diesem Forschungsparadigma nicht erklärt werden. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer gewissen Stagnation bisheriger Versuche, den menschlichen Geist zu erklären, hat sich in den letzten Jahren innerhalb der Kognitionswissenschaften ein neues Forschungsparadigma etabliert, das die Idee der Verkörperung ins Zentrum stellt.5 Die Rede ist auch von einem „embodied turn“6 oder von „embodied approaches to cognition“7 . Während man bisher für die Konstitution von Bewusstsein und geistigen Fähigkeiten allein das menschliche Gehirn (neurowissenschaftlich ausgerichtete Kognitionswissenschaften) bzw. eine zentrale Recheneinheit (KI-Forschung) für entscheidend oder ausreichend hielt, geht man nun davon aus, dass der in eine Umwelt eingebundene Körper und die Integration des Gehirns in diesen Körper eine wesentliche Rolle dabei spielen. Entscheidende Anstöße zur Entwicklung dieses Paradigmas gingen und gehen von der philosophischen Phänomenologie und dem philosophischen Pragmatismus aus,8 die von der analytischen Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft zuvor lange Zeit als irrelevant ignoriert wurden.9 Einige entsprechende phänomenologische Überlegungen zu Verkörperung und Leiblichkeit wurden in Kapitel 6.5.1 bereits vorgestellt. Die Kognitionswissenschaftlerin Marieke Rhode beurteilt das sich etwa sei den 1990er Jahren entwickelnde10 neue Paradigma als mittlerweile so stark, dass sie davon ausgeht, dass nicht mehr darüber diskutiert werde „whether the body shapes the mind, but much rather how and to what extent.“11 Auch die Bewusstseinstheorie von Damasio (vgl. Kapitel 7) kann wegen der großen Relevanz, die Damasio dem Körper für das Bewusstsein zuschreibt, diesem Paradigma zugerechnet werden. Innerhalb des Paradigmas der Verkörperung finden sich, wie im Zitat von Rhode bereits angedeutet, höchst unterschiedliche Ansätze, von denen nicht alle phänomenologische Ideen mit einbeziehen.12 Die Idee der Verkörperung wird unterschiedlich radikal gedacht und die Abgrenzung von klassischen Computermodellen

5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 64. Rhode: Enaction, 1. Gallagher und Zahavi, 5. Vgl. Fingerhut, Einleitung, 10. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 2. Vgl. Gallagher/Zahavi: Mind, 5. Rhode: Enaction, 1. Vgl. Gallagher: Kognitionswissenschaften, 321.

Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

der Kognition ist unterschiedlich stark ausgeprägt.13 Am radikalsten präsentieren sich innerhalb dieses Spektrums Auffassungen, die unter dem Label Enaktivismus, enaction bzw. enactive approach zusammengefasst werden.14 Der Begriff „Enaktivismus“ („to enact“ = etwas hervorbringen) verweist auf die Grundannahme, dass „mentale Prozesse durch die verkörperlichte Interaktion eines kognitiven Systems mit seiner Umwelt dynamisch hervorgebracht werden.“15 Der enaktive Ansatz geht auf die Monografie The Embodied Mind von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleonor Rosch aus dem Jahr 1991 zurück.16 Verschiedene, schon zuvor vorhandene Theorieelemente wurden im Enaktivismus zusammengefügt:17 Der Konnektionismus hatte gezeigt, dass neuronale Netzwerke selbstorganisierende Systeme sein können und dass dementsprechend die Theorie dynamischer Systeme eine wichtige Rolle für das Verständnis dieser Netzwerke spielt. Ebenso wurden Ideen aus der ökologischen Psychologie James Jeromes Gibsons und aus der Robotik (situated robotics) und der artificial-life-Forschung18 übernommen. Von der Phänomenologie ließ sich der Enaktivismus belehren, die Erste-Person-Perspektive der Erfahrung auch für die Erforschung des Bewusstseins aus naturwissenschaftlicher Perspektive ernst zu nehmen, und er bezieht dementsprechende Analysen Martin Heideggers, Merleau-Pontys, Husserls und anderer Phänomenolog:innen in seine Überlegungen mit ein. Ebenfalls Einfluss auf den Enaktivismus hatten die Theorie der Autopoiesis von Humberto Maturana und Francisco Varela,19 die Lebensphilosophie von Hans Jonas,20 Jean Piagets Theorie kognitiver Entwicklung und der amerikanische Pragmatismus.21 Für die vorliegende Arbeit ist der Enaktivismus von großem Interesse, weil innerhalb dieses Ansatzes verschiedene Theorielemente und Perspektiven aus vorherigen Kapiteln erneut hervortreten, darin zusammengeführt werden bzw. sich davon ausgehend zusammenführen lassen. (1) Aus der Phänomenologie übernehmen viele Vertreter:innen des Enaktivismus die Ablehnung eines cartesianischen, ontologischen Dualismus, die Beobachtung, dass Bewusstsein auf einer grundlegenden Ebene leiblich ist und die Annahme, dass 13 Vgl. Gallagher: Kognitionswissenschaften, 321. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 64–91. 14 Vgl. Rhode: Enaction, 2 und 19. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 83. Vgl. Gallagher: Kognitionswissenschaften, 329. 15 Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 197. 16 Vgl. Varela/Rosch/Thompson: Mind. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild: Einleitung, 83. Vgl. Rhode: Enaction, 19. 17 Vgl. Ward/Silverman/Villalobos: Introduction, 365–368. 18 Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 197. 19 Vgl. Maturana/Varela: Autopoiesis. 20 Vgl. Jonas: Organismus. Vgl. Thompson: Mind, 128–129 und 149–165. Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 197. 21 Vgl. Rhode: Enaction, 25.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

zwischen Leib und Körper des Menschen ein enger Zusammenhang besteht (vgl. Kapitel 6.5.1). Fuchs beispielsweise, dessen Entwurf dem Enaktivismus zugerechnet werden kann,22 geht, wie in Kapitel 6.5.1 bereits erläutert, davon aus, dass es sich bei Leib und Körper um zwei unterschiedliche Aspekte handelt, unter denen ein und dieselbe ontologische Entität – das Lebewesen – je nach Einstellung bzw. Perspektive in Erscheinung tritt.23 Vergleichbare Überlegungen finden sich bei Evan Thompson.24 Er erläutert: „The body can be disclosed as a physical body [= Körper] and as a lived body [= Leib], but this does not imply that there are two bodies or that the body has two mutually irreducible, metaphysical properties […].“25 Zur Formulierung (und Beantwortung) der Frage, wie Körper und Leib miteinander zusammenhängen, müsse man Bezug nehmen auf die beidem zu Grunde liegende ontologische Einheit des Lebewesens: „ […] we need to make common reference to life or living being.“26 Leben, meint Thompson, sei „beyond the gap“27 , ist also seiner Ansicht nach jenseits des Perspektivendualismus zu verorten. Es verfüge über eine Innerlichkeit, die materialistisch nicht erklärt werden könne.28 Auch wenn Thompson nicht von Einstellungen oder Perspektiven spricht, geht er, wie die Zitate zeigen, wie Fuchs von einem epistemischen Dualismus aus, dem ein ontologischer Monismus zu Grunde liegt. Gemeinsamer Gegenstand bzw. Referenzpunkt der beiden Wissensperspektiven ist wie bei Fuchs das Lebewesen. Im „Handbuch Kognitionswissenschaft“ erläutert Miriam Kyselo, für den Enaktivismus seien Kognition und Subjektivität zwei Seiten desselben Prozesses.29 Phänomenologie und naturwissenschaftliche Methode stünden im Enaktivismus nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Perspektiven miteinander in Beziehung. Die klassische Frage, wie sich das Mentale und Physikalische als zwei voneinander distinkte Prozesse zueinander verhalten, gebe es für den Enaktivismus in dieser Form nicht. Es gibt sie deshalb nicht, weil vorausgesetzt wird, dass es sich nicht um distinkte Prozesse handelt, sondern um unterschiedliche „Beschreibungsebenen“, denen durch den Bezug auf ein einheitliches zu Grunde liegendes Lebewesen „ein gemeinsames Fundament gegeben“30 wird.

22 Fuchs selbst würde sich philosophisch möglicherweise eher in der Phänomenologie als im Enaktivismus verorten. Seine Überlegungen weisen aber so viele Übereinstimmungen mit denen des Enaktivismus auf, dass ich es für legitim halte, ihn dem Enaktivismus zuzurechnen. 23 Vgl. Fuchs: Gehirn, 100–105. 24 Vgl. Thompson: Mind, 222–225 und 235–237. 25 Thompson: Mind, 235. 26 Thompson: Mind, 237. 27 Thompson: Mind, 224. 28 Vgl. Thompson: Mind, 224. 29 Vgl. zum ganzen Absatz: Kyselo: Enaktivismus, 199. 30 Beide Zitate: Kyselo: Enaktivismus, 200.

Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Enaktivist:innen versuchen also die Ergebnisse phänomenologischer Analysen des Bewusstseins und naturwissenschaftliche Methoden zur Erforschung der Kognition zueinander in Bezug zu setzen und sich gegenseitig beeinflussen zu lassen. Ein Ergebnis davon ist eine deutliche Annährung der beiden Perspektiven, die in erster Linie durch eine Modifizierung der naturwissenschaftlichen Perspektive eintritt. Die Erfahrungsperspektive wird dabei nicht auf die naturwissenschaftliche Perspektive reduziert, weil sie sich nach enaktiver Auffassung nicht vollständig naturwissenschaftlich erklären lässt. Aber die Komplementarität der beiden Perspektiven, ihre Korrelationen und Strukturähnlichkeiten werden wesentlich deutlicher als es bei anderen dualistischen oder reduktiv-naturalistischen Ansätzen der Fall ist.31 Jürgen Habermas fordert in seinen beiden Aufsätzen zur Willensfreiheit weitere Forschung mit dem Ziel einer Detranszendentalisierung unserer Erkenntnisbedingungen unter Beachtung der „Nicht-Hintergehbarkeit komplementär verschränkter Wissensperspektiven“32 (vgl. Kapitel 5). Dabei sollen Beschreibungen ‚von unten‘, d. h. aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive, und Beschreibungen ‚von oben‘, d. h. aus der Teilnehmer:innenperspektive, sich ergänzen.33 Es erscheint hier nicht ganz abwegig, den Enaktivismus als einen Forschungsansatz zu verstehen, der genau dieser Habermas’schen Forderung nachkommt – ein guter Grund, ihn im Rahmen dieser Arbeit genauer zu untersuchen und zu prüfen, wie plausibel die Ergebnisse sind. Ein erster Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht allerdings darin, dass der Enaktivismus anders als Habermas vorsprachliche bzw. vorkommunikative Formen von Kognition und Bewusstsein in seine Überlegungen miteinbezieht. Entsprechend dem Paradigma kommunikativer Vernunft will Habermas die verobjektivierende, naturwissenschaftliche Sichtweise durch eine „Teilnehmerperspektive“ ergänzen, während der Enaktivismus die naturwissenschaftliche Sichtweise durch eine phänomenologische Sichtweise ergänzen will, d. h. durch eine Perspektive, die sich aus der systematischen Analyse von Erfahrungen aus der auch vorkommunikativ schon vorhandenen Perspektive des Subjekts ergibt. Hier wäre der Begriff der „Erlebnisperspektive“ angemessener als der Begriff der „Teilnehmerperspektive“. Trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ansätzen hinsichtlich des Anliegens und des Vorgehens ist es allerdings wegen der Modifikation der naturwissenschaftlichen Perspektive, die der Enaktivismus vornimmt, zweifelhaft, ob Habermas diesen Forschungsansatz befürworten würde. Dies wird in Kapitel 9.5 genauer erörtert.

31 Vgl. Fuchs: Gehirn, 105. 32 Habermas: Sprachspiel, 338. 33 Vgl. Habermas: Realismus, 30 und Habermas: Einleitung, 26.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

(2) Darüber hinaus finden sich für das Phänomen des präreflexiven Selbstbewusstseins innerhalb des Enaktivismus subpersonale naturwissenschaftliche Erklärungsansätze, die das phänomenologisch orientierte Kapitel und die Ausführungen von Damasio zu diesem Thema ergänzen können. (3) Weiterhin lässt sich ausgehend von enaktiven Hypothesen und Erkenntnissen plausibilisieren, dass Willensfreiheit in einem libertarischen Sinne auch aus naturwissenschaftlicher Sicht möglich ist. An entsprechende Überlegungen von Christian Tewes34 kann dabei angeknüpft werden. (4) Damit zusammenhängend ergeben sich überraschende Konvergenzen zwischen dem Enaktivismus und den subjektphilosophischen Überlegungen im Anschluss an Krings zum Zusammenhang von Bewusstsein und Freiheit aus Kapitel 8.35 (5) Besondere Relevanz kommt dem Enaktivismus deshalb zu, weil es sich trotz aller philosophischen Theoriebildung, die mit diesem Ansatz einhergeht, auch um ein empirisches Forschungsprogramm handelt. Der Enaktivismus integriert und erklärt empirische Befunde. Er formuliert seine Ideen so, dass es möglich ist, sie empirisch zu überprüfen und sie davon ausgehend zu verbessern.36 Enaktive Ideen generieren empirische Forschungssettings. Im Folgenden werden zunächst zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus vorgestellt. Im Anschluss daran werden enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein erläutert. Aufbauend auf diesen Vorarbeiten wird dann ein Vorschlag entwickelt, wie libertarische Willensfreiheit unter enaktiven Voraussetzungen denkbar ist. Dieser (zweite) Vorschlag (neben dem ersten Vorschlag aus Kapitel 4.6) wird anschließend kritisch diskutiert und in einen Zusammenhang mit den vorhergehenden Kapiteln dieser Arbeit gebracht.

9.1

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

Innerhalb des Enaktivismus haben sich in den letzten Jahren unterschiedliche Strömungen entwickelt.37 Die folgenden Darstellungen orientieren sich am Enaktivismus wie er sich bei Thompson38 und Ezequiel A. Di Paolo, Thomas Buhrmann

34 Vgl. Tewes: Libertarismus, 293–385. 35 Auch hier kann an entsprechende Überlegungen von Christian Tewes angeknüpft werden, der enaktive Ideen in Bezug zur Bewusstseinstheorie Henrichs setzt und auf Konvergenzen zwischen enaktiven Ideen und der Selbstbewusstseinstheorie Fichtes hinweist (vgl. Tewes: Libertarismus, 356–364). 36 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 21. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 409f. 37 Vgl. Ward/Silverman/Villalobos: Introduction. Vgl. Kyselo: Enaktivismus. 38 Vgl. Thompson: Mind.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

und Xabier E. Barandiaran39 findet und stützen sich deshalb überwiegend auf Publikationen dieser Autoren. Zentral ist für diese Richtung des Enaktivismus die Idee der Autonomie selbstorganisierender Systeme, für welche die lebende Zelle das Paradigma darstellt.40 Entsprechend dem von Maturana und Varela geprägten Begriff für die Autonomie lebender Zellen – die Autopoiesis – wird diese Ausprägung des Enaktivismus auch „autopoietic enactivism“ genannt.41 Außen vor bleiben in der folgenden Darstellung Ausprägungen des Enaktivismus, die sich wie beispielsweise der Enaktivismus von J. Kevin O’Regan und Alva Noë für die Erklärung von Kognition und Bewusstsein ausschließlich auf senso-motorische Wechselwirkungen beziehen,42 sowie der von Daniel Hutto und Erik Myin vertretene „radical enactivism“.43 9.1.1

Die Autonomie selbsterhaltender dynamischer Systeme

Eine der zentralen Thesen des Enaktivismus lautet, dass Kognition und Bewusstsein aus selbstorganisierenden und selbstdeterminierenden Prozessen emergieren, die das Gehirn, den Körper und die Umwelt miteinander verbinden.44 Insofern diese Prozesse selbstdeterminierend sind, werden sie auch als autonom bezeichnet.45 Diese Idee ist u. a. von mathematischen Theorien und Methoden zur Beschreibung komplexer dynamischer Systeme inspiriert.46 Diese Bezüge werden in Kapitel 9.1.3 und 9.4.2 analysiert. Geistbegabte Lebewesen sind komplexe dynamische Systeme, so die Annahme des Enaktivismus.47 Autonomie tritt bei dynamischen Systemen nach enaktiver Auffassung unter zwei Voraussetzungen auf: (1) Autonomie setzt voraus, dass das System so organisiert ist, dass die es konstituierenden Einzelprozesse wechselseitig voneinander abhängig sind.48 Diese Eigenschaft wird als operational closure bezeichnet.49 Di Paolo präzisiert, operational closure liege dann vor, wenn jeder Einzelprozess des Systems andere Einzelprozesse des Systems ermöglicht bzw. verstärkt, die wiederum auf den sie ermöglichenden

39 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life. 40 Vgl. Ward/Silverman/Villalobos: Introduction, 369. Vgl. Thompson: Mind, 43–51. Vgl. Di Paolo/ Buhrmann/Barandiaran: Life, 111–132. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis. 41 Vgl. Ward/Silverman/Villalobos: Introduction, 369. 42 Vgl. O’Regan/Noë: Account.Vgl. Noë: Action. 43 Vgl. Hutto/Myin: Radicalizing Enactivism. Vgl. Hutto/Myin: Evolving Enactivism. Vgl. Ward/ Silverman/Villalobos: Introduction, 370–373. 44 Vgl. Thompson: Mind, 37. 45 Vgl. Thompson: Mind, 37. 46 Vgl. Thompson: Mind, 38f. 47 Vgl. Thompson: Mind, 40. 48 Vgl. Thompson: Mind, 44. 49 Vgl. Thompson: Mind, 45.

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Einzelprozess zurückwirken und ihn ermöglichen bzw. verstärken.50 Er erläutert weiter: An „operationally closed system is defined as a network of […] processes in which each process enables at least one other process in the system and is, in turn, enabled by at least one other process in the system.“51 Somit trägt jeder Einzelprozess letztlich zur Aufrechterhaltung des Gesamtsystems bei.52 Di Paolo spricht davon, dass System sei deshalb selbst-individuierend und sorge durch seine eigene Aktivität (d. h. durch die gekoppelte Aktivität seiner Teilprozesse) für die Aufrechterhaltung seiner Identität.53 Operationale Geschlossenheit bedeutet allerdings nicht, dass das System unabhängig von seiner Umgebung oder isoliert davon ist.54 Es kann sowohl sein, dass das System auf ermöglichende äußere Bedingungen angewiesen ist, als auch, dass es seinerseits auf seine Umwelt einwirkt. Die entsprechenden Prozesse gehören aber nicht zum System, weil sie ihrerseits entweder nicht ermöglichend auf das System einwirken oder nicht vom System ermöglicht werden. Sie sind nicht Teil des zirkulären Feedback-Prozesses.55 (2) Autonomie setzt zudem voraus, dass das System beständig von Desintegration bedroht ist. Di Paolo und Thompson nennen dieses Merkmal „precariousness“ und bezeichnen entsprechende Systeme als „precarious“56 . Diese Fragilität des Gesamtsystems geht auf die Fragilität der es konstituierenden Einzelprozesse zurück: Die Existenz der Einzelprozesse hängt notwendig von der Existenz des Gesamtsystems ab. In Abwesenheit des Gesamtsystems würden die Einzelprozesse ebenfalls enden. „The ‚natural tendency‘ for each constituent process is to stop, a fate the activity of the other processes prevents.“57 Das Gesamtsystem erhält sich also selbst, indem es seine Einzelprozesse entgegen deren inhärenter Tendenz aktiv hält.58 Das System, bestehend aus vielen Einzelprozessen, muss beständig aktiv sein, um seine Identität aufrechtzuerhalten.59 Dazu braucht es Energie, Materie und Beziehungen zur Umwelt.60 Als Paradigma für ein autonomes System wird im Enaktivismus die lebende Zelle angesehen, deren Autonomie Autopoiesis genannt wird.61 Autonomie etabliert eine Art natürlicher Normativität: Umweltbedingungen sind im Hinblick

50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 71. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 113. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 69. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 112f. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 71. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 71. Beide Zitate Di Paolo/Thompson: Approach, 72. Di Paolo/Thompson: Approach, 72. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 72. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 411. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 116. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 72. Vgl. Thompson: Mind, 44.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

auf das Weiterbestehen des Systems entweder gut oder schlecht (wörtlich „good or bad“62 ), positiv oder negativ.63 9.1.2

Autonomie und Kognition – die Kontinuität von Leben und Geist

Nach Auffassung des Enaktivismus besteht ein äußerst enger Zusammenhang zwischen Autonomie, wie sie soeben beschrieben wurde, und Kognition. Der Zusammenhang ist so eng, dass Enaktivist:innen übereinstimmend davon ausgehen, dass alle lebenden Systeme – selbst Einzeller – kognitive Systeme sind.64 Dies hat damit zu tun, dass Dinge in der Umgebung des Systems in Relation zu diesem System eine Bedeutung haben.65 Sie sind entweder negativ oder positiv in Bezug auf die Selbsterhaltung des Systems.66 Kognition – im Enaktivismus oft als sense-making bezeichnet67  – ist die Fähigkeit eines Systems, entsprechend dieser positiven oder negativen Bedeutung zum Zwecke der Aufrechterhaltung der eigenen Identität mit der Umgebung zu interagieren. Kognition ist also eine Aktivität.68 Dementsprechend definiert Thompson: „[…] cognition is the exercise of skillful know-how in situated and embodied action.“69 Zwischen dem System und seiner Umwelt besteht eine physische (z. B. metabolische oder sensomotorische) Kopplung: Manche Faktoren aus der Umwelt beeinflussen das System und das System wirkt seinerseits auf die Umwelt.70 Kognition bedeutet, dass das System diese Kopplung mit der Umwelt aktiv beeinflussen kann.71 Dazu muss das System in der Lage sein, Einwirkungen aus der Umwelt zu bemerken und darauf zu reagieren. Beeinflusst das System Faktoren in seiner Umgebung, die ihrerseits wiederum das System beeinflussen, so werden die Faktoren in der Umgebung des Systems ein Teil des Systems selbst, denn sie werden dann ein Teil des zirkulären Selbsterhaltungsprozesses des Systems. Bedeutung wird vom System selbst produziert, weil sie von den Eigenschaften bzw. Bedürfnissen des Systems, das sich selbst erhält, abhängig ist. Insofern Dinge in der Umgebung eine Bedeutung für das System haben, besitzt das System eine

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Baraniaran: Autonomy, 411. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 411. Vgl. Thompson: Mind, 124. Vgl. Ward/Silverman/Villalobos: Introduction, 368. Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 199. Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 199. Vgl. Thompson: Mind, 146–149. Vgl. Rhode: Enaction, 22. Thompson: Mind, 13. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 116. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Baranidaran: Life, 117.

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(minimale) Form von Intentionalität.72 Durch die Konstitution einer autonomen Identität entsteht eine Perspektive (des Systems) auf die Welt,73 „aus welcher heraus Interaktionen mit der Umwelt einen normativen Status erhalten.“74 Kyselo erläutert, das enaktive Kognitionsmodell sei damit explizit teleologisch: Mit ihrem Streben danach, sich selbst zu erhalten (Autonomie) und Interaktionen mit der Umwelt so auszuwählen, dass sie diesem Ziel zuträglich sind (sense-making), verfolgen kognitive Systeme einen doppelten intrinsischen, d. h. in ihnen selbst begründeten, Zweck.75

Kognition impliziert deshalb nach Di Paolo auch eine basale Form von Affektivität.76 Uneinigkeit besteht unter Enaktivist:innen darüber, wie eng der Zusammenhang zwischen Autonomie bzw. Autopoiesis und Kognition ist.77 Andreas Weber und Francisco Varela vertreten die Auffassung, dass Autonomie Kognition notwendig enthalte bzw. dass aus Autonomie Kognition automatisch folge.78 Sie schreiben: „The key here is to realize that because there is an individuality that finds itself produced by itself it is ipso facto a locus of sensation and agency […].“79 Autonome Systeme, wie die lebende Zelle, seien notwendig intrinsisch teleologisch.80 Demgegenüber ist Di Paolo – und Thompson folgt ihm in dieser Hinsicht81  – der Ansicht, dass Autonomie nicht ausreiche, um Kognition, intrinsische Teleologie und minimale Intentionalität zu erklären.82 Allein auf der Basis von Autonomie bzw. Autopoiesis, erläutert Di Paolo, sei ein System nicht in der Lage, Dinge in seiner Umwelt als positiv oder negativ für die Aufrechterhaltung seiner Autonomie zu bewerten.83 Dass das System durch bestimmte Umweltbedingungen einem erhöhten Risiko der Desintegration ausgesetzt ist, könnten nur externe Beobachter:innen bemerken, nicht aber das autonome System selbst.84 Deshalb bleibe die Identität des Systems solange bestehen, wie die Umweltbedingungen es zulassen, 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

Vgl. Thompson: Mind, 147. Vgl. Kyselo: Enaktivismus, 199. Vgl. Weber/Varela: Life, 116. Kyselo: Enaktivismus, 199. Kyselo: Enaktivismus, 199. Vgl. Auch Weber/Varela: Life, 116 und 120f. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 124. Vgl. Thompson: Mind, 124–127 und 146–149. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 414f. Vgl. Thompson: Mind, 146. Weber/Varela: Life, 117. Vgl. Weber/Varela: Life, 117. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, besonders 73. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, besonders 435–439. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 434–436. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 436. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 122.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

und löse sich auf, wenn dies nicht mehr der Fall ist.85 Ein autonomes System, wie oben beschrieben, unternehme keine Anstrengungen, um seine Identität aufrechtzuerhalten; es sei nicht zielgerichtet. „It is not because the organism has struggled to conserve itself that we can observe it now, it is because we see it now that it must have remained viable up to this point. […] [O]rganisms live as long as they don’t die.“86 Dies entspreche, so Di Paolo, der Vorstellung von Autopoiesis, die Maturana und Varela in Publikationen früherer Jahre entwickelt haben.87 Während ihre Theorie dort explizit antiteleologisch gewesen sei, habe sich Varelas Position in dieser Hinsicht gewandelt.88 Autonomie bzw. Autopoiesis liefere jedoch, so Di Paolo, nur eine „all-or-nothing norm“89 , die nicht geeignet sei, dem System eine Orientierung zu geben, wie es die Kopplung mit der Umwelt beeinflussen soll. Denn Umwelteinflüsse bzw. Aktivitäten des Systems zur Beeinflussung der Kopplung mit der Umwelt sind aus der Perspektive des Systems immer positiv, solange das System besteht. Ist das nicht mehr der Fall, kann das System die Kopplung mit der Umwelt nicht mehr beeinflussen, weil es stirbt bzw. desintegriert.90 Entweder befinde sich das System innerhalb eines Bedingungsbereichs, in dem es bestehen könne, oder nicht. Innerhalb des Bereiches, in dem das System weiterbestehen könne, könne es keine besseren oder schlechteren Bedingungen unterscheiden.91 Um Kognition zu erklären, brauche es, so Di Paolo, nicht nur Autonomie bzw. Autopoiesis, sondern zusätzlich müsse das System über Adaptivität und über die Fähigkeit zur Interaktionsasymmetrie verfügen.92 Nicht alle autonomen Systeme verfügen also gemäß der Auffassung von Di Paolo über diese beiden Eigenschaften.93 Unter Interaktionsasymmetrie versteht er die oben schon erwähnte Fähigkeit eines Systems, seine Kopplung mit der Umwelt aktiv zu beeinflussen. Ohne diese Fähigkeit sei Kognition nicht möglich: „Cognition requires a natural center of activity […].“94 Adaptivität bedeutet, dass das System in der Lage ist, innerhalb des Bereiches, in dem es weiterbestehen kann, graduell zwischen besseren und schlechteren Bedingungen zu unterscheiden, um aufbauend darauf, das Verhältnis

85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 435. Di Paolo: Autopoiesis, 435 und 436. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 435. Di Paolo verweist hier auf Maturana/Varela: Autopoiesis. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 434. Di Paolo: Autopoiesis, 436. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 122. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 122. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 73. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 116–124. Vgl. Di Paolo/Thompson: Approach, 73. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 127. Di Paolo: Autopoiesis, 443.

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zur Umwelt so zu verändern, dass die Bedingungen besser werden.95 Wie nahe das System den Grenzen seiner Überlebensfähigkeit ist, könne es daran erkennen, wie viele regulative Ressourcen es zur Aufrechterhaltung seiner Identität aufwenden müsse.96 Adaptivität ist also die Fähigkeit eines Systems unter Voraussetzung der durch die Identität des Systems gegebenen Norm so zu agieren, dass diese Norm nicht verletzt wird. Während Weber und Varela aber davon ausgehen, dass ein autonomes System immer und automatisch auch ein kognitives System ist oder sich dazu entwickelt, d. h. zum Zweck der Aufrechterhaltung seiner Identität seine Kopplung mit der Umwelt aktiv beeinflusst, nehmen Di Paolo und Thompson an, dass nicht alle autonomen Systeme automatisch kognitive Systeme sind oder werden. Die Differenz zwischen beiden Ansichten lässt sich möglicherweise durch die Annahme überbrücken, dass unter natürlicherweise wechselnden Umweltbedingungen nur autonome Systeme mit Interaktionsasymmetrie und Adaptivität dauerhaft bestehen können, so dass faktisch die meisten natürlich vorkommenden autonomen Systeme auch kognitive Systeme sind. Damit passt dann auch die Aussage von Di Paolo an anderer Stelle zusammen, dass die Aufrechterhaltung der systemischen Identität über die Zeit hinweg von der Interaktion des Systems mit seiner Umwelt abhängt.97 Über die Zeit hinweg hängt die Identität des Systems also von seiner Aktivität ab und die Aktivität tritt nur unter Voraussetzung der Identität auf. Identität und Aktivität sind „co-dependent“98 . Zusammen mit Weber und Varela ist Di Paolo der Ansicht, dass in lebenden Zellen – auch in Einzellern – sowohl Autonomie als auch Kognition im beschriebenen Sinne vorliegen.99 Wenn, wie in lebenden Zellen, Autonomie, Interaktionsasymmetrie und Adaptivität vorliegen, könne man, so Di Paolo, das System einen Akteur100 (engl. agent) nennen und die Aktivität des Systems als Handeln (engl. agency) bezeichnen.101 Die Überlegungen von Di Paolo zur Interaktionssymmetrie und zu Adaptivität sind plausibel. Der Einfachheit der Darstellung halber wird im Folgenden weiterhin nur von Autonomie gesprochen. Wenn nicht anders erwähnt, meint

95 96 97 98 99 100

Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 122. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 438. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 134. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 134. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 111 und 170. Wenn innerhalb dieses Hauptkapitels von autonomen Systemen bzw. von Organismen als „Akteuren“ die Rede ist, werde ich – sachangemessen und grammatikalisch korrekt – auf das Gendern verzichten. Ist dagegen von menschlichen „Akteur:innen“ die Rede, ohne dass diese im selben Satz als „Systeme“ oder „Organismen“ bezeichnet werden, werde ich – sachangemessen und grammatikalisch korrekt – mit Hilfe des Doppelpunktes gendern. 101 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 111 und 127.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

dies jedoch im Folgenden die Kombination aus Autonomie, Interaktionsasymmetrie und Adaptivität. 9.1.3

Emergenz durch Abwärtskausalität bzw. zirkuläre Kausalität

Die Idee der Autonomie ist im Enaktivismus mit der Annahme eng verbunden, dass bei der Aufrechterhaltung der Identität autonomer Systeme Abwärtskausalität („downward causation“102 ) eine Rolle spielt.103 Wie bereits erwähnt knüpft die Idee, dass kognitive Systeme selbstdeterminierende komplexe dynamische Systeme sind, an mathematische Theorien und Methoden an, die der Beschreibung und Berechnung der Entwicklung komplexer dynamischer physikalischer Systeme dienen.104 Kognitive Systeme werden im Enaktivismus als komplexe, nicht-lineare, metastabile dynamische Systeme angesehen.105 Innerhalb solcher Systeme können, so die Annahme, emergente Prozesse die Dynamik des Systems, d. h. seine Entwicklung über die Zeit, beeinflussen.106 Diese emergenten Prozesse und ihre Wirkung auf das Gesamtsystem würden nicht vollständig durch die Einzelkomponenten des Systems determiniert.107 Die These lautet also, dass starke Emergenz vorliegt (vgl. Kapitel 4.4.2). Wegen dieser Abwärtskausalität, so die Annahme, kann die Entwicklung des Systems auf der Basis der Ausgangsbedingungen nicht vorausberechnet werden.108 Emergente Prozesse des Systems würden als sogenannte Kontroll- oder Ordnungs-Parameter wirken, die die Freiheitsgrade der Einzelkomponenten des Systems beschränken und so eine bestimmte Dynamik hervorbringen.109 Der emergente Prozess ‚versklavt‘ seine Einzelkomponenten.110 Das Verhalten der Einzelkomponenten kann vollständig nur erklärt werden unter Bezugnahme auf das Verhalten des Gesamtsystems.111 Zur Untermauerung dieser wissenschaftlich umstrittenen These wird u. a. auf Publikationen von Donald T. Campbell (Psychologe),112 Hermann Haken (Physiker)

102 Thompson/Varela: Embodiment, 420. 103 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 38f. Vgl. Thompson: Mind, 38–43 und 60–65. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment. Vgl. Fuchs: Gehirn, 121–133. Vgl. Freeman: Consciousness. 104 Vgl. Thompson: Mind, 38f. 105 Vgl. Thompson: Mind, 39f. 106 Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 420. 107 Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 420. 108 Vgl. Thompson: Mind, 39f. 109 Vgl. Thompson: Mind, 41. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 421. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/ Barandiaran: Life, 38f. 110 Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 421. 111 Vgl. Bishop: Causation, 231. 112 Campbell: Causation.

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und Michael Stadler (Psychologe),113 J. A. Scott Kelso (Neurowissenschaftler und Psychologe),114 Walter J. Freeman (Neurowissenschaftler),115 Alicia Juarrero (Philosophin)116 verwiesen. Als ein Beispiel für das Auftreten solcher (stark) emergenten Prozesse mit Abwärtskausalität jenseits neuronaler Systeme wird die sogenannte BénardKonvektion in Strömungsflüssigkeiten genannt.117 Diese kann entstehen, wenn eine flache Flüssigkeitsschicht von unten erhitzt wird. Ab einem bestimmten Temperaturunterschied zwischen dem Boden und der Oberfläche der Flüssigkeitsschicht beginnen Teilchen aus unteren Schichten sich verstärkt nach oben und Teilchen aus oberen Schichten sich verstärkt nach unten zu bewegen. Es entsteht so eine sich selbst verstärkende Strömungsdynamik, durch die das System sich so selbst organisiert, dass sogenannte Bénard-Konvektions-Zellen entstehen.118 „Dabei handelt es sich um Rollenmuster, die ganz unterschiedliche breite, schmale, kreisrunde oder auch quadratische Formen haben können.“119 Wie diese Muster konkret aussehen, hängt zwar von den Ausgangs- und Randbedingungen ab, wird von diesen aber nicht determiniert,120 sondern auch von der emergenten Entwicklung des Gesamtsystems bestimmt. Das Gesamtsystem beschränkt dabei die Bewegungsmöglichkeiten der Flüssigkeitsteilchen.121 Natürlich wirken bei neuronalen Systemen ebenso wie bei den Bénard-Zellen nicht nur die emergenten Prozesse auf die Einzelkomponenten des Systems ein, sondern die emergenten Prozesse werden durch die Einzelkomponenten des Systems erst ermöglicht, aufrecht erhalten und von diesen beeinflusst.122 Thompson bezeichnet diese Art der Wechselwirkung zwischen Aufwärtskausalität („local-to-global determination“123 ) und Abwärtskausalität („global-to-local determination“124 ) als „‚dynamic co-emergence‘, in which part an whole co-emerge and mutually specify each other.“125 Auf Haken geht die Bezeichnung ‚zirkuläre Kausalität‘ zurück.126

113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

Haken/Stadler: Synergetics. Haken: Synergetics. Haken, Hermann: Advanced Synergetics. Kelso: Patterns. Freeman: Brains. Juarrero: Dynamics. Juarrero: Causation, 83–102. Vgl. Thompson: Mind, 60f. Vgl. Bishop: Causation, 229–248. Vgl. Tewes: Libertarismus, 94–97. Vgl. Tewes: Libertarismus, 95f. Tewes: Libertarismus, 96. Vgl. Tewes: Libertarismus, 96. Vgl. Bishop: Causation, 236f. Vgl. Thompson: Mind, 62. Thompson/Varela: Embodiment, 419. Thompson/Varela: Embodiment, 419. Thompson: Mind, 60. Vgl. Fuchs: Gehirn, 121. Vgl. Thompson: Mind, 62.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

Bemerkenswerterweise betont Di Paolo bezüglich der Systemebene der prekären Identitätsbildung durch operationale Geschlossenheit – also auf der Ebene von Autonomie ohne Interaktionsasymmetrie und Adaptivität –, dass dort Abwärtskausalität keine Rolle spiele („The concept of operational closure may sound suspicious, as if some strange kind of backward causation was implied. This is not the case.“127 ). Di Paolo erläutert dies anhand einer schematischen Skizze eines einfachen, operational geschlossenen Systems von chemischen Reaktionen (s. Abb. 4). Das Netzwerk ist so organisiert, dass jede Reaktion von Produkten anderer Reaktionen des Netzwerks katalysiert wird.128 Weil die einzelnen Reaktionen sich gegenseitig ermöglichen, kann man davon sprechen, dass das Netzwerk sich selbst aufrechterhält („maintains itself “129 ) (sofern bestimmte Umweltbedingungen gegeben sind).130 Dabei spielt aber, obwohl ‚Feedback-Prozesse‘ vorkommen und die Prozesse voneinander abhängen, Abwärtskausalität keine Rolle, sondern lediglich ‚normale‘ lineare bzw. lokale Kausalität, also Wirkursächlichkeit (= causa efficiens) zwischen den einzelnen am Prozess beteiligten Reaktionen, wie das Schema deutlich macht. Trotzdem laufen die Einzelprozesse des Systems anders ab, als wenn sie nicht Teil des Systems wären.

Abb. 4 Ein prekäres, operational geschlossenes System nach Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 113. © Ezequiel A. Di Paolo, Thomas Buhrmann, Xabier E. Barandiaran

Di Paolo geht nicht darauf ein, unter welchen Bedingungen bei einem autonomen System Abwärtskausalität auftritt. Es liegt aber nahe zu vermuten, dass

127 128 129 130

Thompson: Mind, 112. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 113. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 113. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 113.

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dies dann der Fall ist, wenn ein autonomes System Interaktionasymmetrie und Adaptivität aufweist, denn dann wird das System als Ganzes zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Identität aktiv. Es verfolgt damit dann ein Ziel, das sich nur auf der Systemebene ergibt, und zu dessen Erreichen das System seine Komponenten aktiv in Dienst nimmt und aktiv auf seine Umgebung einwirkt. Thompson, Varela, Fuchs und auch Freeman sind sich einig, dass der Modus der Verursachung bei der Abwärtskausalität ein anderer ist als bei der Aufwärtskausalität.131 Bei der Aufwärtskausalität wirken Kräfte lokal und linear.132 Als Beispiel dient eine Billardkugel, die eine andere anstößt.133 Diese Art der Kausalität wird als Wirkursächlichkeit bzw. in Anlehnung an die Ursachenlehre des Aristoteles als causa efficiens bezeichnet.134 Abwärtskausalität, meinen die genannten Autoren, ereigne sich nicht im Modus der Wirkursächlichkeit sondern im Modus der aristotelischen causa formalis (formierende Kausalität).135 Bei dieser Art der Verursachung würden, so Fuchs, keine neuen Kräfte auftreten,136 sondern das Gesamtsystem bzw. die Makro-Strukturen seien in der Lage, „bestimmte Eigenschaften ihrer Komponenten zu selektieren und andere zu blockieren.“137 D. h., die Kräfte stammen eigentlich aus den Komponenten, aber welche dieser Kräfte wirken und vor allem auf welche Weise, bestimmt das Gesamtsystem. Das Ganze erlegt den Wirkungen der Teile gewisse Restriktionen auf, es formiert, organisiert, strukturiert und ordnet seine Bestandteile.138 Diese formierende Ursache entsteht aus der Relation der verschiedenen Systemprozesse zueinander.139 Die Existenz einer solchen Form von Kausalität ist wissenschaftlich umstritten.140 In Kapitel 9.4.2 werden Gegenargumente aufgegriffen und diskutiert, um eine Bewertung der hier beschriebenen Thesen vorzunehmen.

131 Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 420. Vgl. Thompson: Mind, 427 und 433. Vgl. Fuchs: Gehirn, 122–125. Vgl. Freeman: Consciousness, besonders 84–90. Auch Di Paolo scheint sich dieser Auffassung anzuschließen. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 38. 132 Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 420. Vgl. Freeman: Consciousness. 133 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122. 134 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122. Vgl. Freeman: Consciousness, 90. 135 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122f. Vgl. Thompson: Mind, 427. 136 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122. 137 Fuchs: Gehirn, 122. 138 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 420. Vgl. Freeman: Consciousness, 84. 139 Vgl. Thompson: Mind, 427. 140 Vgl. Fuchs: Gehirn, 122.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

9.1.4

Organismische, sensomotorische und die Autonomie sozialer Interaktionen

Innerhalb eines vielzelligen Organismus existieren, so die Meinung der meisten Enaktivist:innen, diverse autonome Systeme, wie beispielsweise das Immunsystem,141 (wobei nicht alle diese Systeme auch über Interaktionsasymmetrie und Adaptivität verfügen, also nicht alle diese Systeme kognitiv sind). Organismen bestehen aus einem Netzwerk vieler solcher Systeme142 auf verschiedenen Ebenen und jeder Organismus als ganzer bildet (mit seiner Umwelt) ebenfalls ein autonomes kognitives System, das untergeordnete autonome System integriert. Thompson erläutert, die autonome Organisationsform wiederhole sich in komplexerer Form in vielzelligen Organismen mit Nervensystem.143 Enaktivist:innen grenzen insbesondere drei verschiedene Ebenen von Autonomie voneinander ab:144 1. Die Ebene der organismischen Autonomie, 2. Die Ebene der sensomotorischen Autonomie, 3. Die Ebene der Autonomie sozialer Interaktionen (einschließlich der sprachlichen Kommunikation beim Menschen). Zur Aufrechterhaltung ihrer Autonomie nutzen die autonomen Systeme dieser Ebenen kausale Kreisläufe145 bzw. Schleifen kausalen Feedbacks,146 die ihnen ihre eigene Organisationsstruktur zur Verfügung stellt bzw. ermöglicht. Das bedeutet, dass sie verstärkend auf Prozesse einwirken, die dann wiederum verstärkend auf die Identität des Systems einwirken, und dass sie hemmend auf Prozesse einwirken, die sich schädlich für die Identität des Systems auswirken. Während organismische Regulationsprozesse sich überwiegend – aber nicht nur – innerhalb vielzelliger Organismen abspielen, integrieren die autonomen Systeme spätestens auf der Ebene der sensomotorischen Autonomie auch Elemente aus der Umwelt des Organismus. Der Organismus verfügt also über „offene Schleifen“147 für mögliche Interaktionen mit der Umwelt.148

141 142 143 144 145 146 147 148

Vgl. Thompson: Life, 49. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 173. Vgl. Thompson: Life, 49. Vgl. Thompson: Subjectivity, 417. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 242. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 5. Vgl. Thompson: Mind, 243. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 242. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 5. Vgl. Fuchs: Gehirn, 129–133 und 148–156. Fuchs: Gehirn, 129. Vgl. Fuchs: Gehirn, 129.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Zur Aufrechterhaltung ihrer biochemischen Identität bzw. Organisation müssen Organismen die Identität ihrer Teilprozesse (Gewebe, Organe und die Koordination ihrer Zusammenarbeit) aufrechterhalten.149 Voraussetzung dafür ist, dass sie die Autopoiesis ihrer Zellen gewährleisten, deren Überleben Voraussetzung für das Funktionieren ihrer Organsysteme ist. Autonomie, wie sie auf diesem Niveau eines vielzelligen Organismus auftritt, wird im Enaktivismus als biologische Autonomie oder auch als „biological agency“150 bezeichnet.151 Alternativ kommen auch die Bezeichnungen metabolische Autonomie oder organismische Autonomie vor.152 Die Schleifen bzw. Kreisläufe, die der Organismus zur Aufrechterhaltung seiner organismischen Autonomie nutzt, schließen sich, wie bereits erwähnt, nicht immer innerhalb des Organismus, sie können auch Elemente der Umwelt enthalten. Bei vielzelligen Organismen mit Nervensystem dient auch das Nervensystem dem Zweck der Aufrechterhaltung der organismischen Autonomie.153 Zu diesem Zweck partizipiert das Nervensystem einschließlich des Gehirns – falls vorhanden – an den Kreisläufen bzw. Schleifen organismischer Regulation.154 Sensoren und Effektoren des vegetativen Nervensystems verbinden dazu neuronale Prozesse mit homöodynamischen bzw. homöostatischen Prozessen der inneren Organe und Eingeweide.155 Sowohl Thompson und Varela als auch Fuchs verweisen hinsichtlich konkreterer Informationen dazu, wie das Nervensystem für die Aufrechterhaltung der organismischen Autonomie sorgt und wie diese Vorgänge wiederum mit Emotionen und Affekten zusammenhängen, auf die Erkenntnisse Damasios zu diesem Thema, die in Kapitel 7 dargestellt werden.156 Thompson und Varela erwähnen in diesem Zusammenhang auch den von Damasio stammenden Begriff des Kernbewusstseins und gehen davon aus, dass dessen Entstehung mit den Regulationsprozessen organismischer Autonomie zusammenhängt.157 Enaktivist:innen lehnen allerdings den Repräsentationalismus Damasios – also die Vorstellung, dass neuronale Aktivitäten Dinge aus der Außenwelt des Organismus abbilden bzw. repräsentieren – ab.158 Wegen dieses Repräsentationalismus kann Damasios Bewusstseinstheorie auch nicht dem Enaktivismus zugerechnet werden.

149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

Vgl. Barandiaran: Autonomy, 412. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 173. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 412. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 414. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 173. Vgl. Thompson: Life, 46. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 170 und 175. Vgl. Thompson/ Varela: Embodiment, 424. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 446. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 424. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 424. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 424. Vgl. Fuchs: Gehirn, 136–147. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, 424. Vgl. Fuchs: Gehirn, 143f.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

Die Aufrechterhaltung der organismischen Autonomie ist aber nicht das einzige Ziel, auf das die Aktivitäten des Nervensystems ausgerichtet sind. Nicht alle Aktivitäten eines Lebewesens und erst recht nicht des Menschens werden von seinen organismischen Bedürfnissen bestimmt.159 Wie Di Paolo überzeugend darstellt,160 können aus der Verbindung verschiedener sensomotorischer Schemata sensomotorische Netzwerke entstehen, die Autonomie, Interaktionsasymmetrie und Adaptivität aufweisen und insofern autonome kognitive Systeme bzw. sensomotorische Akteure sind.161 Das Verhalten des Organismus wird durch die Anforderungen der organismischen Autonomie nicht determiniert, sondern bleibt unterbestimmt.162 Innerhalb der Grenzen, die dadurch gesetzt sind, dass der Organismus als Gesamtsystem überleben muss, können die sensomotorischen Netzwerke zur Aufrechterhaltung ihrer Identität eigene Ziele verfolgen oder (ebenfalls entsprechend ihrer Identität) unterschiedliche Wege einschlagen, um das Überleben des Organismus als Ganzem zu sichern.163 Die Normen, denen das Verhalten des Organismus folgt, werden dann nicht nur durch die organismische Autonomie bestimmt („biological normativity“164 ), sondern es entstehen genuin sensomotorische Normen165 („sensorimotor normativity“166 ) ebenso wie eine sensomotorische Subjektivität und sensomotorische Intentionalität.167 Dinge in der Umwelt des Organismus haben nun Bedeutung nicht nur in Bezug auf den Organismus als organismischen Akteur, sondern auch in Bezug auf den Organismus als sensomotorischen Akteur.168 Ein autonomes, kognitives sensomotorisches Netzwerk setzt sich, so Di Paolo, aus labilen, autonomen sensomotorischen Schemata bzw. Mustern zusammen, die er Gewohnheiten (engl. habits) nennt.169 Ein sensomotorisches Schema bzw. Muster bzw. eine Gewohnheit ist eine bestimmte Koordination von Sensorik und Motorik, die in einer bestimmten Situation gewohnheitsmäßig bevorzugt wird, weil sie sich als vorteilhaft erwiesen hat.170 Ein sensomotorisches Muster schließt Elemente aus der Umwelt des Organismus ein, erläutert Xabier Barandiaran.171

159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171

Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 39. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 141–181. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 149. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 140 und 154. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 140. Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 446. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 155. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 142. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 154. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 412. Barandiaran erläutert hier, dass jedes autonome System, also auch ein autonomes senso-motorisches System, eine „phänomenologische Domäne“ entwickele. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 179. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 144. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 58. Vgl. Barandiaran: Autonomy, 419.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Die Umwelt des Organismus ist somit nicht nur Quelle von Störungen des autonomen Systems, sondern Teil des Systems.172 Labil sind die sensorischen Muster, weil sie desintegrieren, wenn sie nicht häufig genug genutzt werden.173 Eine Gewohnheit, meint Di Paolo, deshalb, „‚calls‘ for its exercise“174 . Eine Gewohnheit etabliert außerdem eine eigene Normativität entsprechend der Bedingungen, unter denen sie weiterbestehen kann.175 Komplexe Aktivitäten – Di Paolo nennt u. a. die Beispiele Kochen, Essen, Putzen, Fahrradfahren – werden dadurch möglich, dass sich sensomotorische Schemata bzw. Muster (Gewohnheiten) zu autonomen, kognitiven, sensomotorischen Netzwerken zusammenschließen.176 Die Aktivität der Einzelprozesse (sensomotorische Muster) wird vom Gesamtsystem (dem sensomotorischen Netzwerk) so beeinflusst, dass die Aktivität des Gesamtsystems (z. B. Kochen) möglich wird.177 Das Netzwerk weist auch Adaptivität auf: „If […] a regular form of behaviour is reached, this will tend to be conserved in so far as it involves adaptive processes that regulate is maintenance.“178 Die Ausdehnung des sensomotorischen Netzwerks – das betont Di Paolo ausdrücklich – ist nicht auf das Gehirn, ja noch nicht einmal auf den Körper beschränkt, sondern schließt auch Dinge in der Umwelt des Organismus mit ein.179 Dinge in der Umwelt des Organismus und Prozesse im Körper und Gehirn des Organismus beeinflussen sich gegenseitig und in zirkulärer Weise, wenn sie zum sensomotorischen Netzwerk gehören. Die operationale Geschlossenheit ergibt sich nur unter Einbezug von neurodynamischen Mustern, der Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt. Ein sensomotorischer Akteur kann die Kopplung mit seiner Umwelt beeinflussen, indem er Umweltfaktoren verändert und sich so weitere Handlungsmöglichkeiten schafft. Hier zeigt sich die Adaptivität des sensomotorischen Akteurs. Innerhalb der Individualentwicklung können verschiedene sensomotorische Schemata Stabilität gewinnen und auch wieder verlieren und einander so ablösen. Thompson arbeitet die Charakteristika sensomotorischer Autonomie nicht so detailliert heraus wie Di Paolo, geht aber ebenfalls von Autonomie auf dieser Ebene aus, wenn er erläutert, autopoietische Geschlossenheit bringe ein minimales körperliches Selbst und sensomotorische Geschlossenheit ein sensomotorisches Selbst

172 173 174 175 176 177 178 179

Vgl. Barandiaran: Autonomy, 419. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 144. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 144. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 144. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 146f. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 148. Di Paolo: Autopoiesis, 446. Vgl. zum ganzen Absatz: Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 152, 157 und 60.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

auf der Ebene von Handlungen und Wahrnehmungen hervor.180 Dafür dass er Autonomie auch auf der sensomotorischen Ebene verortet spricht außerdem seine Ansicht, dass die sensomotorischen Schleifen bzw. Kreisläufe endogen angetrieben werden.181 Insofern in einem Organismus verschiedene autonome, kognitive sensomotorische Netzwerke (sowie weitere autonome, kognitive Systeme auf untergeordneten Ebenen) koexistieren können, kann man sagen, dass der eine Organismus verschiedene Subjekte zu einem Gesamtsystem bzw. einem einzigen Subjekt integriert.182 Im selben Organismus koexistieren verschiedene Identitäten.183 Deshalb bewegt sich der Organismus, wie Di Paolo unter Bezugnahme auf Varela erläutert, durch Mikrowelten von Bedeutung,184 weil für verschiedene autonome Systeme innerhalb des einen Organismus je unterschiedliche Aspekte der Umwelt relevant sind. Das Selbst, das der Organismus als Ganzer bildet, sei deshalb, so Di Paolo, eine relationale Eigenschaft, aber deshalb nicht irreal oder unwirksam.185 Während nach Di Paolo alle Lebewesen über biologische Autonomie (biological agency) verfügen, tritt sensomotorische Autonomie innerhalb der Tierwelt graduell auf.186 Dem Bakterium Escherichia coli beispielsweise schreibt Di Paolo minimales sensomotorisches Engagement zu, denn es zeigt sensorisch geleitetes Verhalten (es verfügt also über sensomotorische Schemata) und kann in Abhängigkeit von metabolischen Anforderungen zwischen unterschiedlichen Verhaltensweisen wechseln. Sein gesamtes Verhalten folgt aber autopoietischen Anforderungen. Es verfügt über keine Normen auf sensomotorischem Niveau. Beim Nematoden Caenorhabditis elegans spricht Di Paolo dagegen von minimalem sensomotorischem Lernen. Caenorhabditis elegans zeigt ein großes Spektrum an Verhaltensweisen wie Chemotaxis, Thermotaxis und Vermeidung schädlicher Reize und kann seine sensomotorischen Schemata anpassen und neu koordinieren. Die Anpassung und Koordination der sensomotorischen Schemata wird aber von organismischen Normen geleitet. Es existiert keine sensomotorische Autonomie und keine sensomotorischen Normen. Tiere, die spielen können, nennt Di Paolo minimale sensomotorische Akteure. Bei diesen bildet die flexible Organisation sensomotorischer Schemata ein autonomes, 180 Vgl. Thompson: Mind, 48f. 181 Vgl. Thompson: Mind, 370. Zum autonomen System auf sensomotorischer Ebene scheinen nach Thompson allerdings keine Elemente aus der Umwelt des Organismus zu gehören. Er scheint das Nervensystem als ein in sich operational geschlossenes System zu verstehen, wenn er hier von den „endogenous, self-organizing dynamics of cortical and subcortical brain areas [Hervorhebung durch HP]“ spricht. Di Paolos Verständnis von senso-motorischer Autonomie ist plausibler. 182 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 181. 183 Vgl. Di Paolo: Autopoiesis, 446. 184 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 181. 185 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 181. 186 Vgl. zum gesamten Absatz Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 169–171.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

kognitives System, so dass ihr Verhalten nicht nur von organismischen sondern auch von sensomotorischen Normen geleitet wird. Menschen, Primaten, Singvögel und trainierbare Tiere wie Haustiere oder Krähen bezeichnet Di Paolo als offene sensomotorische Akteure, weil sie unvorhersehbar viele neue sensomotorische Schemata erlernen und in ihr sensomotorisches Netzwerk integrieren können und dabei von historischen und kulturellen Bedingungen beeinflusst werden. Biologische/organismische Autonomie und sensomotorische Autonomie verhalten sich folgendermaßen zueinander:187 Einerseits setzt die organismische Autonomie der sensomotorischen Autonomie Grenzen, weil die sensomotorischen Netzwerke automatisch desintegrieren, wenn der Organismus stirbt. Andererseits wirkt die sensomotorische Autonomie auf die Konstitution des Organismus zurück und verändert die organismische Identität. Sensomotorische Handlungsfähigkeit eröffnet dem Organismus neue Möglichkeiten, seine organismische Identität aufrechtzuerhalten, indem er seine Umwelt aktiv verändert oder sich selbst darin aktiv bewegt. Mit der Zeit kann sich die organismische Konstitution des Organismus dadurch so verändern, dass er zur Aufrechterhaltung seiner organismischen Autonomie auf die sensomotorische Handlungsfähigkeit/Autonomie angewiesen ist. Dies ist zum Beispiel bei Tieren der Fall, da diese, um sich ernähren zu können, darauf angewiesen sind, beweglich zu sein. Obwohl sensomotorische Autonomie also erst ab einem bestimmten Level organismischer Komplexität auftritt – ein Nervensystem wird dafür vorausgesetzt –, wirkt sie sich auch auf die untergeordneten Organisationsniveaus aus und transformiert den ganzen Organismus. Der Organismus als Ganzer wird zum sensomotorischen Akteur, der sensomotorische Akteur kann deshalb mit seinem ganzen Körper identifiziert werden. Das sensomotorische Engagement ist ein zweifaches: Es ist aktiv zur Aufrechterhaltung der biologischorganismischen Identität des Organismus und es ist aktiv zur Aufrechterhaltung der eigenen sensomotorischen Identität. Eine direkte Interaktion zwischen dem organischen Körper und dem sensomotorischen Körper wird durch Verbindungen zwischen dem vegetativen Nervensystem und dem limbischen System vermittelt durch den Hypothalamus, aber ebenso durch das Hormonsystem und das Immunsystem gewährleistet. Interaktionen zwischen dem organismischen und dem sensomotorischen Level könnten, mutmaßt Di Paolo unter Bezugnahme auf Fuchs, der sich seinerseits auf Damasio beruft,188 sogar einer Art Kernbewusstsein der eigenen körperlichen Identität – also einem präreflexiven, leiblichen Selbstbewusstsein – zu Grunde liegen. Organismische Autonomie und sensomotorische Autonomie können, so Di Paolo, ihrerseits in die autonomen Systeme integriert werden, die sich durch soziale

187 Vgl. zum ganzen Absatz Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 173–177. 188 Vgl. Fuchs: Gehirn, 136–147.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

Interaktionen (einschließlich der sprachlichen Kommunikation beim Menschen) herausbilden.189 Auch auf diesem Level kann sich so eine eigene Form von Normativität ausbilden.190 Zu diesem Level von Autonomie finden sich in den Publikationen von Enaktivist:innen keine ausführlichen Darstellungen. Di Paolo stellt allerdings ein paar skizzenhafte Überlegungen zu diesem Niveau von Autonomie an:191 Es sei bereits von verschiedenen Autor:innen darauf hingewiesen worden, dass sich Menschen in Situationen sozialer Interaktionen umfänglich und auf verschiedenen Ebenen untereinander koordinieren. Diese Koordination könne physische Parameter, Körperhaltung, den Abstand voneinander, Gesten, Sprachhandlungen und Affekte betreffen. Es ist hier dementsprechend und in Analogie zu der Wirkung sensomotorischer Autonomie davon auszugehen, dass die Autonomie sozialer Interaktionen sich auf die Autonomie der untergeordneten Organisationsniveaus auswirken und so den gesamten Organismus transformieren kann. Di Paolo erläutert beispielsweise, dass die Autonomie sozialer Interaktionen sich darauf auswirke, wie sensomotorische Muster aktiviert werden. Weil das autonome System im Falle sozialer Interaktionen mehr als ein Individuum umfasst, kann logischerweise die sensomotorische Aktivität eines Individuums auch von anderen Individuen beeinflusst werden. Die Fähigkeit, sich selbst (also reflexiv) Autonomie zuzuschreiben, erreiche ein System erst auf diesem Niveau, auf dem es Teil von sozialen Interaktionssystemen werden könne, meint Di Paolo. 9.1.5

Antirepräsentationalismus

Enaktivist:innen lehnen die in den Kognitionswissenschaften gängige Vorstellung ab, dass neuronale Aktivitäten im Gehirn Dinge aus der Außenwelt abbilden bzw. repräsentieren und deshalb Informationen enthalten.192 Intentionalität und Bedeutung als mentale Eigenschaften kommen nach enaktiver Auffassung nicht durch neuronale Repräsentation zu Stande.193 „In the enactive view […] meaningful, cognitive activity does not depend on vehicles storing information […].“194 Wahrnehmungen sind nach enaktiver Auffassung keine Zustände des Gehirns und Kognition findet nicht (in erster Linie) im Kopf statt.195 Zusammen mit dieser Vorstellung wird es abgelehnt, Kognition als Informationsverarbeitung durch die Manipulation von

189 190 191 192

Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 215. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 216. Vgl. Zum ganzen Absatz: Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 216f. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 11–40, besonders 16–29. Vgl. Fuchs: Gehirn, 56–64 und 178–191. Vgl. Thompson: Mind, 10f und 52–60. 193 Vgl. Ward/Silvermann/Villalobos: Introduction, 368. 194 Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 27. 195 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 19. Vgl. Thompson: Mind, 11.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Repräsentationen zu definieren.196 Das Kernproblem dieses Repräsentationalismus bestehe darin, erläutert Di Paolo, dass die Beziehung zwischen Repräsentiertem und Repräsentierendem nur durch ein Subjekt zu Stande komme, welches das Repräsentierende als Repräsentation des Repräsentierten interpretiert.197 Demnach müsste es im Gehirn auf einer höheren Ebene ein Subjekt geben, das die neuronalen Repräsentationen interpretiert und ihnen Informationen über die Außenwelt entnimmt. Wenn Damasio von neuronalen Bildern spricht (vgl. Kapitel 7), ergibt sich genau dieses Problem: Bilder können eine Bedeutung nur für ein Subjekt haben, das diese betrachtet.198 Ein solcher Homunkulus im Sinne eines Wahrnehmungsund Interpretationszentrums existiert aber im Gehirn nicht.199 Fuchs thematisiert dasselbe Problem: Die Übertragung von Informationen auf ein Trägermedium erzeuge keine Informationen, „die dem Träger als solchem zukämen, sondern nur potenzielle Informationen, die erst in der Dekodierung durch eine Person realisiert werden.“200 Physikalische Prozesse enthielten, so Fuchs, für sich genommen gar keine Informationen.201 Intentionalität sei eine dreistellige Relation, bei der etwas etwas für jemanden bedeute.202 Intentionalität und Subjektivität ließen sich deshalb nicht voneinander trennen.203 Auch seien weder ein Organismus noch sein Gehirn in der Lage, die eigenen neuronalen Zustände wahrzunehmen oder zu erleben.204 Im Gegensatz zu klassischen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen definiert der Enaktivismus Kognition als wahrnehmungsgeleitetes Handeln, das durch sensomotorische Muster (bzw. auf organismischer Ebene durch andere Kopplungen zwischen autonomem System und Umwelt) ermöglicht wird.205 Kognition kann also verstanden werden als die Fähigkeit eines autonomen Systems die zirkuläre Kopplung mit der Umwelt zum Zweck der Aufrechterhaltung der eigenen Identität aktiv zu beeinflussen. Dementsprechend definiert Thompson Kognition sei „the exercise of skillful know-how in situated and embodied action.“206 Mit stärkerem Fokus auf sensomotorischen Zusammenhängen wird definiert, (der kognitive

196 197 198 199 200 201 202 203 204 205

Vgl. Thompson: Mind, 52. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 25. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 24f. Vgl. Fuchs: Gehirn, 181. Vgl. Fuchs: Gehirn, 179 und 182. Fuchs: Gehirn, 178. Vgl. Fuchs: Gehirn, 179. Vgl. Fuchs: Gehirn, 58. Vgl. Fuchs: Gehirn, 58. Vgl. Fuchs: Gehirn, 181f. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 17. („(1) perception consists in perceptually guided action and (2) cognitive structures emerge from the recurrent sensorimotor patterns that enable action to be perceptually guided.“) 206 Thompson: Mind, 13.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

Vorgang der) Wahrnehmung sei die Beherrschung (engl. mastery) sensomotorischer Regularitäten oder Möglichkeiten.207 Durch diese könne ein Akteur sich kontinuierlich den Herausforderungen einer sich verändernden Welt anpassen.208 In engem Zusammenhang mit dieser Definition von Kognition steht die enaktive Auffassung, dass Kognition nicht darin besteht, eine Bedeutung, welche die Welt unabhängig vom Subjekt hat, aus dieser Welt zu extrahieren oder abzubilden.209 Vielmehr erhält die Welt erst Bedeutung in Relation zu den Bedürfnissen und damit zur Perspektive des autonomen Systems. Organismen bringen durch ihr Handeln Bedeutung aktiv hervor.210 Thompson erläutert: „For enactive theorists, information is context-dependent and agent-relative; it belongs to the coupling of a system and its environment. What counts as information is determined by the history, structure, and needs of the system acting in its environment.“211 Ähnlich wie viele phänomenologische Ansätze212 (u. a. der von Merleau-Ponty)213 und wie Habermas vertritt der Enaktivismus damit eine Zwischenposition zwischen einem strikten bzw. naiven Realismus bzw. Objektivismus und einem Idealismus bzw. Konstruktivismus.214 Unser Wissen von der Welt ist demnach kein bloßes Konstrukt, sondern die Welt präsentiert sich uns aus einer bestimmten Perspektive, die durch unsere eigene Identität konstituiert wird.215 Unsere Wahrnehmung präsentiert uns deshalb „keine Konstrukte, sondern die tatsächliche Welt – freilich nicht als ‚Welt an sich‘, sondern als die Welt in der Beziehung zu uns, den Wahrnehmenden.“216 Die Welt des Organismus, d. h. die Welt aus der Perspektive des Organismus, enthält nur solche Dinge, die für den Organismus entsprechend seiner eigenen Identität Relevanz haben.217 Insofern verfügen unterschiedliche Organismus bzw. Individuen über unterschiedliche Welten. Damit wird nicht die Existenz einer externen, subjektunabhängigen Welt geleugnet.218 Aber diese Welt erschließt sich nach enaktiver Auffassung stets nur aus der Perspektive eines verkörperten Subjekts. Einen vollständig objektiven Blick auf die Welt gibt es nicht. Die Welt, wie sie sich uns erschließt, ist weder rein subjektiv noch rein objektiv, weil sie sich uns

207 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 18. („[…] that perceptual experience is constituted by the mastery of these sensorimotor regularities or contingencies.“) 208 Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 37. 209 Vgl. Rhode: Enaction, 22. Vgl. Fuchs: Gehirn, 47. 210 Vgl. Thompson: Mind, 58. 211 Thompson: Mind, 51f. 212 Vgl. Zahavi: Phänomenologie, 17f. 213 Vgl. Thompson: Mind, 247. 214 Vgl. Ward/Silvermann/Villalobos: Introduction, 369. 215 Vgl. Fuchs: Gehirn, 44. 216 Fuchs: Gehirn, 48. 217 Vgl. Thompson: Mind, 53. 218 Vgl. Rhode: Enaction, 22.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

durch unsere Interaktion mit der Welt erschließt, deren Modus von der eigenen Identität abhängt. Für Bewusstsein gilt nach enaktiver Auffassung dasselbe wie für Kognition insgesamt: Es entsteht nicht (ausschließlich) im Gehirn und kann deshalb von einem Zugang, der sich ausschließlich auf das Gehirn konzentriert, nicht verstanden werden. Bewusstsein ist „weder Produkt bestimmter neuronaler Prozesse noch identisch mit ihnen.“219 Bewusstsein ist keine Eigenschaft des Gehirns sondern eines Lebewesens als Ganzem.220 Bewusstsein ist „eine integrale Funktion des Organismus […], die […] seine kontinuierliche Einbettung in einen Umweltzusammenhang voraussetzt.“221 Bewusstsein ist „das Integral der gesamten aktuellen, zu einem vollständigen Kreis geschlossenen Beziehungen zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt […].“222 Fuchs schlägt vor, den Begriff der Repräsentation durch die Begriffe Resonanz und Kohärenz zu ersetzen und buchstabiert dies am Beispiel der Wahrnehmung aus:223 Er spricht von einem „Funktionskreis von Wahrnehmung und Bewegung“224 , von einer „zirkulären Interaktion von Gehirn und Körper“225 und davon, dass Gehirn, Körper und Umwelt zusammen ein System bilden.226 Die Konstitution des Organismus als sensomotorisches, autonomes und kognitives System (bzw. als Teil eines solchen Systems) ist also entscheidend dafür, wie Wahrnehmung funktioniert. Weil Organismus und Umwelt zusammen ein System bilden, hält der Organismus offene Schleifen zur Interaktion mit Dingen in der Umwelt bereit.227 Sensoren und Effektoren des Organismus befinden sich an den offenen Enden der Schleife.228 Solche offenen Schleifen entstehen durch neuronale Musterbildung: Wiederkehrende Konfigurationen von Einzelreizen, die mit dem Organismus in Beziehung treten, führen dazu, dass sich komplexe Muster neuronaler Erregungsbereitschaft ausbilden,229 die ihrerseits mit zu der Konfiguration von Reizen passenden Handlungen verknüpft sind. Der Organismus antizipiert durch die neuronale Erregungsbereitschaft ähnliche zukünftige Reize.230 „Werden dem Organismus neue Umweltobjekte bzw. Reizkonfigurationen präsentiert, so 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230

Fuchs: Gehirn, 157. Vgl. Fuchs: Gehirn, 75. Fuchs: Gehirn, 75. Fuchs: Gehirn, 189. Vgl. Fuchs: Gehirn, 148–191. Fuchs: Gehirn, 148. Fuchs: Gehirn, 144. Vgl. Fuchs: Gehirn, 148f. Vgl. Fuchs: Gehirn, 151. Vgl. Fuchs: Gehirn, 151. Vgl. Fuchs: Gehirn, 170. Vgl. Fuchs: Gehirn, 151.

Zentrale Annahmen und Ideen des Enaktivismus

schwingt sich das neuronale System auf die dazu am besten passenden Muster ein, und eine Kohärenz von Gehirnzuständen und Umwelt resultiert.“231 Kohärenz meint hier, dass eine Passung von Gehirnzuständen und Umweltkontexten eintritt.232 Das ’Einschwingen’ des neuronalen Systems auf das passende Muster vollzieht sich durch die Aktivierung des passenden Musters, d. h. dadurch dass die am Muster beteiligten Neuronenensembles synchron aktiv sind.233 Das Schwingen bzw. die Aktivität des passenden neuronalen Musters bezeichnet Fuchs als Resonanz. „Neuronale Netzwerke repräsentieren nicht Objekte oder Situationen der Außenwelt, sondern sie schwingen koordiniert mit Umweltreizen mit, insofern diese in Entsprechung zu bestimmten, schon vorgebahnten neuronalen Mustern angeordnet sind.“234 Resonanz und Kohärenz erzeugen aus „Konstellationen von Einzelelementen […] Muster, also Ganzheiten […].“235 Damit gehe, so Fuchs, bewusste Wahrnehmung einher, wobei man für diesen zuletzt genannten Zusammenhang auf physiologische Ebene keine Erklärung geben könne.236 „Wahrnehmung“, schlussfolgert Fuchs aus dem beschriebenen Modell, sei „kein linearer, sondern ein zirkulärer, immer mit Vorerfahrungen und möglichen Handlungen verknüpfter Prozess.“237 Auch gehe der Reiz der Wahrnehmung nicht voraus und erzeuge sie nicht, sondern er aktualisiere die Wahrnehmung nur. Der Reiz trete wie ein fehlendes Puzzleteil an die noch offene Stelle in einem schon bestehenden Funktionskreis, der sich im übergreifenden System von Organismus und Umwelt gebildet hat. Insofern erzeuge die Aktivität des Individuums erst den Reiz.238 Die Interaktion mit der Umwelt erschaffe im Organismus erst die Bedingungen, die zur Erfahrung dieser Umwelt erforderlich sind.239 Dass Wahrnehmungen nicht passives Abbilden, sondern intentionale Handlungen sind, macht auch das neurodynamische Modell des Handelns des Neurowissenschaftlers Freeman, auf den sich Thompson bezieht, deutlich.240 Wahrnehmung, meint Freeman, setze eine vorhergehenden Zustand der Bereitschaft in Form einer Positionierung der Sinnesorgane und eine Sensibilisierung der sensorischen

231 232 233 234 235 236 237 238 239 240

Fuchs: Gehirn, 173. Vgl. Fuchs: Gehirn, 185. Vgl. Fuchs: Gehirn, 173. Fuchs: Gehirn, 185. Fuchs: Gehirn, 172. Vgl. Fuchs: Gehirn, 173. Beide Zitate: Fuchs: Gehirn, 151. Vgl. Fuchs: Gehirn, 150f. Vgl. Fuchs: Gehirn, 163. Vgl. Freeman: Consciousness, 75. Vgl. Thompson: Mind, 366–370. Vgl. Tewes: Libertarismus, 314–317.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Kortizes voraus, der Ausdruck der Existenz eines Ziels und Vorbereitung von motorischen Handlungen sei.241 Wahrnehmung wird also aufbauend auf früheren Erfahrungen endogen initiiert.242 Wahrnehmung, so Freeman, sei das Resultat früherer Handlungen und die Bedingung für zukünftige Handlungen.243

9.2

Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein

Intentionalität und Zielgerichtetheit, die in der klassischen analytischen Philosophie des Geistes als typische Eigenschaften von Bewusstsein angesehen werden, sind, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, nach enaktiver Auffassung kognitive Merkmale, die allen Lebewesen zukommen und nicht notwendig mit Bewusstsein verbunden sind.244 Bewusstsein – darin sind Thompson und Fuchs sich einig – setzt außer Autonomie und getrennten sensorischen und motorischen Organen vor allem das Vorhandensein eines Nervensystems bzw. – wie Fuchs meint – eines nervösen Zentralorgans voraus.245 Hinsichtlich der Fragestellung, wie präreflexives Selbstbewusstsein im Sinne eines ‚Selbst-als-Subjekt‘ (vgl. Kapitel 6.5) auf subpersonaler Ebene zu Stande kommt, verweisen sowohl Fuchs als auch Thompson auf einen Mechanismus, mit dem sich u. a. die Kognitionswissenschaftlerin Legrand ausführlicher auseinandersetzt.246 Entgegen anders lautender Hypothesen innerhalb der Kognitionswissenschaften geht Legrand davon aus, dass präreflexives Selbstbewusstsein dadurch zu Stande kommt, dass eine sensorisch bemerkte Veränderung in der Beziehung zur Umwelt zu einer vorhandenen oder nicht vorhandenen entsprechenden motorischen Aktivität in Bezug gesetzt wird. Auf diese Art und Weise kann der Organismus zwischen Veränderungen in der Beziehung zur Umwelt, die durch ihn selbst hervorgerufen wurden und solchen, die unabhängig von der eigenen Aktivität aufgetreten sind, unterscheiden.247 Eine Unterscheidung zwischen Selbst und Welt – ein präreflexives Selbst- und Weltbewusstsein wird für den Organismus dadurch möglich. Der konkrete Mechanismus involviert das von Holst und Mittelstaedt248 schon

241 242 243 244 245 246 247 248

Vgl. Freeman: Consciousness, 75f. Vgl. Freeman: Consciousness, 76. Vgl. Freeman: Consciousness, 77. Vgl. Thompson: Mind, 161f. Vgl. Thompson: Mind, 162. Vgl. Fuchs: Gehirn, 117. Vgl. Thompson: Mind, 252. Vgl. Fuchs: Gehirn, 119. Vgl. Legrand: Self, 103–113. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 594–597. Vgl. Holst/Mittelstaedt: Reafferenzprinzip.

Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein

Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckte sogenannte Reafferenzprinzip.249 Demnach senden motorische Regionen des Gehirns, wenn sie Bewegungen initiieren, eine Kopie (efference copy) des motorischen Befehls an eine andere Gehirnregion (den sogenannten „comparator“).250 Eingehende Afferenzen – also Nervensignale, die durch die Aktivierung von Sensoren ausgelöst werden – werden dort, so Legrand, mit der Kopie des motorischen Befehls verglichen und je nachdem entweder als Reafferenzen – also als sensorische Signale, die durch eigene Aktivität ausgelöst wurden – oder als ‚normale‘ Afferenzen – also als sensorische Signale, die nicht durch eigene Aktivität sondern durch Veränderungen der Umwelt ausgelöst wurden – klassifiziert.251 Afferenzen und Reafferenzen werden dann vom Gehirn unterschiedlich verarbeitet.252 Ein ähnliches Model schlagen Sarah-J. Blakemore, Chris D. Frith und Daniel M. Wolpert vor.253 Demnach wird aus der Kopie des motorischen Befehls zunächst (von einem „predictor“) eine Vorhersage ermittelt, welche sensorischen Konsequenzen ausgehend von dem motorischen Befehl zu erwarten sind. Diese Vorhersage wird dann von einem „comparator“ mit den tatsächlichen sensorischen Konsequenzen der Handlung verglichen. Durch diesen Mechanismus kann der Organismus von ihm selbst erzeugte Handlungen (einschließlich der sensorischen Konsequenzen) als seine eigenen Handlungen erkennen.254 Beispielsweise kann der Organismus so unterscheiden, ob eine Veränderung des visuellen Inputs auf eine Bewegung des Organismus selbst oder auf eine vom Organismus unabhängige Bewegung der Außenwelt zurückzuführen ist. Ist das zuerst Genannte der Fall, werden die entsprechenden sensorischen Signale gelöscht, so dass das beobachtete Objekt weiterhin als bewegungslos erscheint.255 Auf noch komplexere Modelle von Vergleichsprozessen verweisen Di Paolo (vgl. Abb. 5) und der Enaktivist Shaun Gallagher.256 Die von beiden referierten Autor:innen schlagen vor, zusätzlich zu dem Vergleich zwischen vorhergesagten und tatsächlichen sensorischen Signalen noch von zwei weiteren Vergleichsprozessen auszugehen. Um zu kontrollieren, ob die motorischen Befehle geeignet sind, das beabsichtigte Ziel zu erreichen, werde erstens – noch vor der Ausführung des motorischen Befehls – von einem „forward comparator“257 ein Vergleich zwischen

249 250 251 252 253 254 255 256 257

Vgl. Fuchs: Gehirn, 119. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 192f. Vgl. Legrand: Roots, 111. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 594. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 594. Vgl. Blakemore/Frith/Wolpert: Prediction. Vgl. Blakemore/Frith/Wolpert: Prediction, 552. Vgl. Blakemore/Frith/Wolpert: Prediction, 552. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 193f. Vgl. Gallagher: Body, 173–178. Gallagher: Body, 176.

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dem erwünschten bzw. intendierten sensorischen Zustand und dem auf Grund der motorischen Befehle vorausberechneten sensorischen Zustand durchgeführt. Zweitens werde ein Vergleich zwischen dem angestrebten Zustand der Welt und dem nach der Handlung tatsächlich eingetretenen Zustand der Welt durchgeführt. Der Vorgang, bei dem Sensorik und Motorik über die beschriebenen Vergleiche integriert werden, wird auch als „action monitoring“258 bezeichnet.

Abb. 5 Verschiedene Vergleichsmechanismen generieren präreflexives Selbstbewusstsein. (Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 103) © Ezequiel A. Di Paolo, Thomas Buhrmann, Xabier E. Barandiaran

Präreflexives Selbstbewusstsein entsteht, um auf die einfachste Form der Vergleichshypothese von Legrand zurückzukommen, wenn Handlungen (motorische

258 Legrand: Roots, 111.

Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein

Befehle) und Wahrnehmungen als kohärent bzw. als konvergierend erlebt werden.259 Die von Di Paolo referierten Autor:innen differenzieren etwas stärker: Während das Gefühl, die Kontrolle über eine Handlung zu haben, entstehe, wenn der Vergleich zwischen gewünschten und vorhergesagten sensorischen Zuständen eine Passung ergebe, entstehe das Gefühl, bestimmte Veränderungen in der Umwelt selbst herbeigeführt zu haben, wenn der Vergleich zwischen vorhergesagten und tatsächlichen sensorischen Zuständen eine Passung ergebe.260 Gallagher mutmaßt, dass, sollte das Vergleichsmodell zutreffen, es in erster Linie der Mechanismus des Vorwärts-Vergleichs sei, der für das Gefühl, Urheber:in einer Handlung zu sein (sense of agency) entscheidend sei.261 Unabhängig davon, welche Vergleichsmechanismen nun tatsächlich konkret involviert sind, setzt präreflexives Selbstbewusstsein entsprechend der beschriebenen Auffassungen motorische Aktivität bzw. die Initiierung motorischer Aktivität voraus. Gemäß der enaktiven Vorstellung von Autonomie wird diese Aktivität vom System selbst generiert und determiniert. Subjektivität und Intentionalität sind nach diesem Modell eng miteinander verbunden.262 Das aktive intentionale Handeln des Organismus in der Welt ermöglicht ihm, die Welt in Relation zum eigenen Handeln zu erfahren und so ein präreflexives Selbstbewusstsein, also Subjektivität, zu entwickeln. Das Stichwort ‚Aktivität‘ markiert einen der deutlichsten Unterschiede zwischen der Theorie des Kernbewusstseins von Damasio und dem beschriebenen Vergleichsmechanismus: Bei Damasio bleibt der Organismus vergleichsweise passiv. Er registriert Veränderungen des eigenen Ruhezustands (Protoselbst), die durch Einwirkungen der Umwelt auftreten (vgl. Kapitel 7). Demgegenüber setzt die Entstehung von präreflexivem Selbst- und Weltbewusstsein gemäß der Theorie des Vergleichsmechanismus Aktivitäten des Organismus voraus. Der Vergleichsmechanismus liefert so – anders als Damasios Theorie – auch eine Erklärung dafür, wie der Organismus zwischen selbst- und fremdgenerierten Veränderungen der Umwelt unterscheiden kann. Darüber hinaus kommt die Theorie des Vergleichsmechanismus, wie Legrand betont, anders als Damasios Theorie ohne die Annahme von Repräsentationen aus. Während Damasio davon ausgehe, dass Selbstbewusstsein „processing of self-specific information“263 voraussetze, also einen Repräsentationsvorgang beinhaltet, bei dem das Selbst zum Objekt wird, gehe die Theorie des Vergleichsmechanismus davon aus, dass Selbstbewusstsein die Fähigkeit „to process

259 260 261 262 263

Vgl. Legrand: Roots, 111. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 194. Vgl. Gallagher: Body, 178. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 597. Legrand: Self-as-Subject, 592.

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the content of one’s perception in a self-related manner (in this particular case, related to one’s own action)“264 voraussetze. In diesem Fall ist keine Repräsentation des Selbst involviert, sondern nur auf das Selbst (als Handelndes) bezogene Prozesse,265 so dass das handelnde Selbst als Subjekt auftritt. Di Paolo hält allerdings auch das Vergleichsmodell für nicht geeignet präreflexives Selbstbewusstsein zu erklären.266 Unter anderem stellt sich, wie Di Paolo erläutert, bei dem Vergleichsmodell dieselbe Frage wie bei der Theorie des Kernbewusstseins (vgl. Kapitel 7) (und wie bei der neurobiologischen Theorie der Metarepräsentationen aus Kapitel 3.1.2.5): Warum sollte aus dem Verhältnis zweier unbewusster neuronaler Zustände zueinander (sensorische Vorhersagen und sensorische Tatsachen) Bewusstsein entstehen? Di Paolo formuliert das Problem folgendermaßen: „Note that it cannot be simply the presence of certain computations and resulting measures of mismatch that constitute the subjective sense of agency. If this were the case then one would have to grant agency awareness also to thermostats and simple robots.“267 Di Paolo geht zudem davon aus, dass die Theorie des Vergleichsmechanismus entgegen der Behauptung von Legrand doch die Annahme von Repräsentationen voraussetzt.268 Diese Auffassung teilt Gallagher.269 Alternativ zur Theorie des Vergleichsmechanismus entwickelt Di Paolo eine eigene Hypothese zum Zustandekommen präreflexiven Selbstbewusstseins. Diese lautet, dass Prozesse der Auswahl, Initiierung und Kontrolle von sensomotorischen Schemata mit einem präreflexiven Bewusstsein des Organismus von sich als Akteur (sense of agency) einhergehen.270 Welche sensomotorischen Schemata in einer bestimmten Situation aktiviert würden, hänge sowohl von externen Bedingungen im Sinne von Anforderungen der Umwelt ab als auch von internen Bedingungen, zu denen z. B. Bedürfnisse Organismus gehören können aber auch „internal ‚gestures‘“271 , die durch sprachlichen Fähigkeiten ermöglicht werden. Durch Regulationsmechanismen höherer Ordnung sei der Organismus als Akteur in der Lage, den Prozess der Auswahl sensomotorischer Schemata zu beeinflussen.272 Unabhängig davon, ob Anforderungen der Umwelt oder interne Prozesse des Organismus die Auswahl der sensomotorischen Schemata beeinflussen, sei an diesem

264 265 266 267 268 269 270 271 272

Legrand: Self-as-Subject, 595. Vgl. Legrand: Self-as-Subject, 595. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 194. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 195. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 196. Vgl. Gallagher: Body, 180f. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 197. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 199. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 199.

Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein

Auswahl Prozess der gesamte Organismus als Akteur beteiligt, indem er dafür sorge, dass bestimmte Schemata durch Verstärkung in Resonanz mit der gegebenen Umweltsituation treten und andere Schemata gehemmt werden.273 Verschiedene Stadien innerhalb des Prozesses der Auswahl, der Initiierung und der Kontrolle von sensomotorischen Schemata sind nach Auffassung von Di Paolo mit unterschiedlichen Aspekten des ‚sense of agency‘ verbunden. Eine Art von Voraktivierung mehrerer, zu einer aktuellen Situation passender sensomotorischer Schemata und die gleichzeitige Hemmung anderer sensomotorischer Schemata erzeugen, so Di Paolo, einen sensomotorischen Kontext, der als bewusste Intention erlebt werde.274 Das Bewusstsein, soeben eine Entscheidung getroffen zu haben, sei mit der irreversiblen Aktivierung eines der sensorischen Schemata und dem Kollaps des zuvor erzeugten sensomotorischen Kontextes assoziiert. Während der Ausführung einer Handlung seien Prozesse der Ausführung und der Anpassung der sensomotorischen Schemata an unerwartete Bedingungen mit dem bewussten Gefühl der Kontrolle über die Handlung und dem Gefühl des Handlungserfolgs verknüpft. Folgendermaßen fasst Di Paolo seine Hypothese zusammen: In summary, we can relate the sense of being the initiator of an action to intentional and premotor processes involved in the selection and activation of sensorimotor schemes, and the sense of being in, as well as exerting, control to intentional and movement-related processes of assimilation and accommodation.275

Demnach entsteht präreflexives Selbstbewusstsein eines Akteurs von sich selbst als Akteur und Kontrolleur der Handlung, wenn sensomotorische Schemata passend zu inneren und äußeren Anforderungen und zusammen mit anderen passenden sensomotorischen Schemata von dem Akteur ausgewählt, aktiviert und ausgeführt werden.276 Nicht die Übereinstimmung von Signalen im Gehirn führt also zum Bewusstsein, ein Akteur zu sein, sondern schlicht die Tatsache, ein Akteur zu sein: „The agent does not need to ‚find out‘ whether a sensorimotor scheme equilibrates by comparing signals. It is the enactment of the scheme itself that results in success or failure to various degrees.“277 Werden im Zusammenspiel von Akteur und Umwelt keine geeigneten sensorimotorischen Schemata ausgewählt, scheitert die Ausführung der gewählten Schemata an der Umwelt oder an inneren Hindernissen und es stellt sich das Bewusstsein ein, die Handlung nicht initiiert oder kontrolliert

273 274 275 276 277

Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 199. Vgl. zum ganzen Absatz: Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 199–203. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 205. Vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 206. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 206.

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zu haben. „In other words, whether or not I am the agent of my actions […] is not a question of reflection and verification. Rather, it is the enactment of the act that asserts the agency of the agent.“278 Ebenso wie bei der Theorie des Vergleichsmechanismus setzt präreflexives Selbstbewusstsein eines Akteurs von sich selbst als Akteur auch gemäß der Hypothese Di Paolos eine Aktivität voraus, die der Akteur selbst generiert. Anders als bei der Theorie des Vergleichsmechanismus bedarf es dazu aber nach Di Paolo keines Vergleichs höherer Ordnung zwischen sensorischen und motorischen Signalen. Dass die beschriebenen Prozesse überhaupt mit Bewusstsein verbunden sind, ist nach Di Paolo darauf zurückzuführen, dass das zu Grunde liegende sensomotorische System autonom und kognitiv ist, dass es ein sensomotorischer Akteur und als solcher ein Subjekt „with an intrinsically defined perspective, able to engage in intentional actions subservient to her self-generated desires and norms“279 ist. Bewusstsein ist gemäß der Theorie des Vergleichsmechanismus deutlich stärker im Gehirn lokalisiert als bei der Theorie Di Paolos. Das widerspricht dem enaktiven Ansatz und resultiert daraus, dass die Theorie des Reafferenzprinzips aus einer Zeit stammt, in der das kognitivistische Paradigma vorherrschte. Die Theorie des Vergleichsmechanismus, insbesondere die Annahme, dass der Vergleich nach der erfolgten Handlung zum Akteursbewusstsein führe, widerspricht außerdem der phänomenologischen Einsicht, dass das Bewusstsein, Akteur:in der eigenen Handlungen zu sein, in der Erfahrung von der Handlung untrennbar ist.280 Denn gemäß der Theorie des Vergleichsmechanismus sind die neuronalen Prozesse, die zum Bewusstsein führen, andere als die, die zur Handlung führen. Zu Di Paolos Theorie sei angemerkt, dass der Organismus nur unter bestimmten Bedingungen die Fähigkeit haben kann, die Aktivierung sensomotorischer Schemata zu kontrollieren. Entweder muss er als Ganzer ein sensomotorisches, autonomes und kognitives Netzwerk bilden, das alle anderen sensomotorischen Schemata und Netzwerke integriert und kontrolliert. Oder es muss im Organismus oberhalb der Ebene sensomotorischer Autonomie noch ein weiteres autonomes System geben, das diese Kontrolle leisten kann. Denn ansonsten würden verschiedene autonome sensomotorische Netzwerke innerhalb des einen Organismus miteinander um Aktivierung konkurrieren, ohne dass der Organismus als ganzer auf das Ergebnis Einfluss nehmen könnte. Beide Bedingungen sind aber vor dem Hintergrund der enaktiven Vorstellung von adaptiver Autonomie plausibel vorstellbar. Im Vergleich erscheint deshalb in Bezug auf die Entstehung von Bewusstsein Di Paolos Theorie überzeugender als die Theorie des Vergleichsmechanismus (was

278 Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 206. 279 Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 197. 280 Vgl. Gallagher: Body, 193.

Enaktive Theorien zur Entstehung von Bewusstsein und präreflexivem Selbstbewusstsein

nicht ausschließt, dass unabhängig davon trotzdem ein solcher Vergleichsmechanismus existiert) und auch überzeugender als die neurobiologische Theorie der Metarepräsentationen (vgl. Kapitel 3.1.2.5). Eine Frage, die sich angesichts der Theorie Di Paolos trotzdem stellt, ist, warum erst auf der Ebene sensomotorischer Autonomie Bewusstsein auftritt und nicht schon auf der Ebene der organismischen Autonomie. Denn auch die organismische Autonomie kann ja eine z. B. physiologische Kopplung mit der Umwelt implizieren. Was also unterscheidet sensomotorische Autonomie von organismischer Autonomie, dass auf der einen Ebene Bewusstsein auftritt und auf der anderen nicht? Müsste man nicht eher davon ausgehen, dass schon auf der organismischen Ebene eine minimale Form von Subjektivität, also Bewusstsein auftritt? Auch Fuchs und Thompson begründen ihre Annahme, dass Bewusstsein ein Nervensystem voraussetzt, nicht. Eine kritische Rückfrage an beide Theorien ergibt sich aus der Feststellung, dass Selbstbewusstsein nicht nur ein Bewusstsein beinhaltet, Urheber:in und Kontrolleur:in der eigenen Handlungen zu sein. Neben diesem Bewusstsein gehört zum Selbstbewusstsein auch das Bewusstsein davon, dass Dinge zu einem selbst gehören. Dementsprechend unterscheidet beispielsweise die Kognitionswissenschaftlerin Anna Strasser zwischen einem „sense of agency“ und einem „sense of ownership that describes something as belonging to me. This can be a part of my body, a movement […], a thought […].“281 Wie kann beispielsweise ein Organismus eine Berührung des eigenen Körpers durch einen anderen Organismus als solche erkennen, wenn der Organismus selbst dabei gar nicht selbst motorisch aktiv ist? Leitet sich diese Fähigkeit von der Fähigkeit des Organismus ab, Berührungen zwischen dem eigenen Körper und der Umwelt aktiv herbeizuführen? Beide Theorien geben darauf keine Antwort, berücksichtigen das Bewusstsein der Zugehörigkeit (sense of ownership) also nicht.282 Gallagher meint zwar, während der ‚sense of agency‘ durch den Vorwärtsvergleich zu Stande komme, würde der ‚sense of ownership‘ möglicherweise durch den Vergleich zwischen vorhergesagten und tatsächlich eingetretenen sensorischen Veränderungen entstehen.283 Dies ist aber nicht plausibel, denn wird eine Bewegung des eigenen Körpers nicht von dem Organismus selbst ausgelöst, kann es auch keine neuronalen motorischen Befehle geben, auf deren Basis ein Komparator sensorische Veränderungen vorhersagen könnte. Auch der Rückwärtsvergleich kann deshalb nur zu einem ‚sense of agency‘ beitragen. Denkbar wäre allerdings, wie bereits angedeutet, dass die Fähigkeit des Organismus, sensorische Inputs, die von Berührungen des eigenen Körpers stammen, aktiv zu verändern, im Gegensatz zur deutlich geringeren Fähigkeit, sensorische Inputs, die 281 Vgl. Strasser: Self-Consciousness, 45. 282 Di Paolo ist sich dessen allerdings bewusst und erhebt auch nicht den Anspruch, eine Erklärung für beide Formen von Bewusstsein zu geben (vgl. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 188). 283 Vgl. Gallagher: Body, 178.

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nicht von Berührungen des eigenen Körpers stammen, aktiv zu verändern, zu einer Unterscheidung von Selbst und Welt im Sinne des ‚sense of ownership‘ führt.

9.3

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

Die beschriebenen Erkenntnisse und Überlegungen aus dem Bereich des Enaktivismus bieten eine Möglichkeit, plausibel zu erklären, wie Menschen Willensfreiheit ausüben können.284 Entscheidungen können allerdings, wie bereits in Kapitel 2.3 herausgearbeitet, nur frei sein, wenn sie von Urheber:innen bewusst getroffen werden. Es reicht also für Willensfreiheit nicht, dass ein autonomes System sich durch Abwärtskausalität selbst bestimmt, wenn dies kein bewusst gesteuerter Prozess ist. Es stellt sich deshalb in Bezug auf die bisherigen Ausführungen die Frage, welche Rolle das Bewusstsein in den soeben beschriebenen Prozessen der Auswahl, Initiierung und Kontrolle sensomotorischer Schemata spielt. Um eine möglichst breite Perspektive auf diese Fragestellung zu ermöglichen, soll zusätzlich zu den bereits dargestellten Überlegungen zunächst die Position des Neurowissenschaftlers Freeman zur Rolle des Bewusstseins referiert werden.285 Ausgehend davon sowie von den bisher dargestellten Überlegungen von Enaktivist:innen wird dann ein eigener Vorschlag entwickelt. 9.3.1

Freeman zur Bedeutung des Bewusstseins für Handlungsentscheidungen

Freeman geht im Gegensatz zu Di Paolo und im Einklang mit der von Legrand und anderen vertretenen Theorie des Vergleichsmechanismus (vgl. Kapitel 9.2) davon aus, dass die Aktivität der sensomotorischen Schemata, also die Handlungen selbst nicht unmittelbar mit Bewusstsein einhergeht,286 sondern Bewusstsein erst „aufgrund von Rückkoppelungsprozessen innerhalb des Gehirns erzeugt“287 wird. Gewohnte – auch komplexe – Handlungen würden deshalb automatisch und ohne Bewusstsein ablaufen: „Actions ‚flow‘ without awareness.“288 Die Bedeutung des Bewusstseins erklärt Freeman unter Einbezug der dynamischen Systemtheorie und der in Kapitel 9.1.3 erläuterten Annahme von Ab-

284 Dies hat auch Tewes erkannt, so dass die folgenden Ausführungen von seiner Entdeckung und seinen diesbezüglichen Überlegungen profitieren (vgl. Tewes: Libertarismus, besonders 293–377). 285 Auch Tewes setzt sich mit Freemans Ansichten auseinander (vgl. Tewes: Libertarismus, 314–329). 286 Vgl. Tewes: Libertarismus, 323. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 1 und 17. 287 Tewes: Libertarismus, 323. Vgl. Freeman: Consciousness, 84. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 11–13. 288 Freeman: Consciousness, 86. Freeman: Consciousness, Intentionality, 17.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

wärtskausalität.289 Er beschreibt das Gehirn als dynamisches System, das aus einer Ansammlung von Attraktoren besteht.290 Diese Ansammlung von Attraktoren beschreibt er als „attractor landscape“291 . Ein einzelner Attraktor innerhalb der Freeman’schen Terminologie scheint mit einem sensomotorischen Schema bzw. mit dem jeweiligen neuronalen Anteil eines solchen Schemas in der Terminologie Di Paolos vergleichbar zu sein. Wird ein bestimmtes Schema vom Organismus ausgeführt, dann befindet sich das Gehirn in einem mehr oder weniger stabilen Zustand, dessen Stabilität von der Stärke des Attraktors bzw. der Tiefe des Attraktor-Tals abhängt.292 Störungen des Systems können zur Verstärkung anderer Attraktoren führen, was zu einem Phasenübergang führen kann, an dessen Ende ein neuer stabiler Zustand mit seinem eigenen Attraktor steht, was bedeutet, dass ein anderes sensomotorisches Schema ausgeführt wird.293 Ebenso wie Di Paolo geht Freeman davon aus, dass bei der Organisation von Neuronenaktivität zur Ausführung eines sensomotorischen Schemas Abwärtskausalität eine Rolle spielt, so dass jeder Phasenübergang zirkuläre Kausalität involviere.294 Das limbische System, das bekannterweise auch Emotionen integriert, hat, gemäß der Darstellung von Freeman, Einfluss auf die Aktivierung von sensomotorischen Schemata, indem es die Attraktor-Landschaft verändert.295 Dem Bewusstsein entspreche, so Freeman, ein globales, kohärentes neuronales Aktivitätsmuster höherer Ordnung, das sowohl die Aktivitäten des limbischen Systems als auch die Aktivitäten des sensorischen Cortex in ein globales Aktivitätsmuster integriere, das alle seine Komponenten ‚versklave‘.296 Das globale Aktivitätsmuster dämpfe die chaotische Fluktuation innerhalb der Attraktorlandschaft und verzögere so die Entscheidung für ein bestimmtes sensomotorisches Schema.297 Bewusstsein kann also eine Handlungssuspension bewirken, die dem Organismus Zeit gibt, potentielle Folgen der verschiedenen möglichen Handlungen genauer zu evaluieren.298 Außerdem verändert es die Attraktorlandschaft des motorischen Systems.299 Das globale Aktivitätsmuster kann jedoch nach Freemans Auffassung keine Hand-

289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Vgl. Tewes: Libertarismus, 320. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 16–20. Vgl. Freeman: Consciousness, 83. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 15. Freeman: Consciousness, 83. Vgl. Freeman: Consciousness, 82. Vgl. Freeman: Consciousness, 82. Vgl. Freeman: Consciousness, 84. Vgl. Freeman: Consciousness, 84. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 16. Vgl. Freeman: Consciousness, 85–87. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 16f. Vgl. Freeman: Consciousness, 85. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 19. Vgl. Freeman: Consciousness, 85. Vgl. Tewes: Libertarismus, 324. Vgl. Freeman: Consciousness, 87. Freeman schreibt hier: Bewusstsein „alters the attractor landscape […] of the motor systems […].“

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

lungen initiieren.300 Es induziert keine Phasenübergänge.301 Die Initiierung der Phasenübergänge erfolgt gemäß Freemans Auffassung durch neuronale Aktivitäten niedrigerer Ordnungen. Entsprechend folge die bewusste Aufmerksamkeit dem Einsetzen der Handlung und gehe ihr nicht voraus.302 Tewes deutet Freemans Aussage, dass das globale Aktivitätsmuster keine Handlungen initiieren kann, so, dass dem Bewusstsein hier kein wirkursächliches Vermögen (causa efficiens) sondern nur eine formierende und kontrollierende Funktion (causa formalis) zugeschrieben werde.303 Gegen Freemans These, dass die Ausführung sensomotorischer Schemata nicht unmittelbar mit Bewusstsein verknüpft ist, und für die These Di Paolos, dass Auswahl, Initiierung, Ausführung und Kontrolle der sensomotorischen Schemata sehr wohl unmittelbar mit Bewusstsein verbunden sind, sprechen allerdings phänomenologische Überlegungen, wie Tewes erläutert. Phänomenologische Untersuchungen würden zeigen, so Tewes, dass die Ausführung habitualisierter Handlungen von einem präreflexiven leiblichen Selbstbewusstsein begleitet und darauf angewiesen sei, zu dem auch eine volitionale Komponente gehöre. Zwar liege der Fokus der Aufmerksamkeit bei habitualisierten Handlungen auf dem zu erreichenden Ziel, doch das „Wie der Bewegung“304 werde deutlich miterlebt. Tewes meint, dass aus phänomenologischer Perspektive „selbst scheinbar vollständig automatisierte Handlungen von Aufmerksamkeitsleistungen und bewussten Volitionen […] wesentlich mit abhängen.“305 Wegen dieses präreflexiven Selbstbewusstseins könne man, so Tewes, davon sprechen, dass die Handlung von einem präreflexiven Ich bewohnt werde, dass das Ich nicht punktförmig, sondern über die Handlung ausgedehnt sei. 9.3.2

Enaktivismus und Willensfreiheit – eine Hypothese

Im Folgenden soll nun unter Voraussetzung der enaktiven Vorstellung von adaptiver Autonomie, den Überlegungen Di Paolos und den Hypothesen Freemans eine eigene Hypothese zur Willensfreiheit formuliert werden. Wie Di Paolo andeutet, ist es nicht abwegig, davon auszugehen, dass sich oberhalb der organisatorischen Ebene sensomotorischer Netzwerke weitere autonome adaptive Systeme entwickeln, welche die Prozesse organismischer und sensomotorischer Autonomie integrieren und zur Aufrechterhaltung durch (nicht-reduzierbare)

300 301 302 303 304 305

Vgl. Freeman: Consciousness, 87. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 19. Vgl. Freeman: Consciousness, 87. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 19. Vgl. Freeman: Consciousness, 87. Vgl. Freeman: Consciousness, Intentionality, 19. Vgl. zum ganzen Absatz: Tewes: Libertarismus, 327–337. Tewes: Libertarismus, 335. Tewes: Libertarismus, 337.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

Abwärtskausalität steuern (vgl. Kapitel 9.1.4). Wie die sensomotorische Autonomie den gesamten Organismus transformiert, würden entsprechend auch diese autonomen Prozesse die beteiligten Organismen in ihrer Identität als Ganze transformieren und zu Akteuren der entsprechenden Autonomieebenen machen. Di Paolo deutet an, dass autonome, adaptive soziale Systeme durchaus auch mehrere Individuen und deren Umwelt umfassen können (vgl. Kapitel 9.1.4). Dies wirft natürlich die Frage auf, ob es legitim ist, den einzelnen Organismus, der Teil eines solchen Systems ist, als einen sozialen Akteur im enaktiven Sinn zu bezeichnen oder ob der Akteur hier nicht vielmehr das Gesamtsystem ist, von dem der Organismus ‚versklavt‘ wird. Sicherlich ist davon auszugehen, dass autonome Systeme sozialer Interaktion die Autonomie der einzelnen daran beteiligten Individuen einschränken und beeinflussen. An der Hypothese, dass das einzelne Individuum in diesem System dennoch auch autonomer Akteur bleibt, kann man aber unter Zuhilfenahme folgender Überlegungen festhalten: Erstens (1) liegt es nahe anzunehmen, dass es zwischen dem Level der Autonomie sensomotorischer Netzwerke und dem Level der Autonomie sozialer Interaktionen weitere autonome Systeme gibt, die den Organismus als Ganzen zum Akteur des entsprechenden Levels machen. Zweitens (2) hebt die Autonomie höherer Systemebenen, wie bereits erläutert, die Autonomie niedrigerer Systemebenen nicht auf, sondern muss sie aufrechterhalten, um die eigenen Identität zu bewahren. Zwar legt die Aufwärtskausalität zusammen mit der Abwärtskausalität das Verhalten des Gesamtsystems fest, aber insofern Aufwärtskausalität eben auch eine wichtige Rolle spielt, beeinflussen auch die einzelnen Individuen das Verhalten des autonomen sozialen Systems, dem sie angehören. Drittens (3) ist es darüber hinaus denkbar, dass gerade der Vorgang der kommunikativen, sprachlichen Vergesellschaftung, wie er in der Ontogenese des Menschen stattfindet, den einzelnen Menschen in ein sprachpragmatisch-soziales System integriert, das – per Abwärtskausalität – so auf das einzelne menschliche Individuum einwirkt, dass es zu einem sprachpragmatischen Akteur (im enaktiven Sinn) innerhalb dieses Systems wird. Dafür sprechen jedenfalls die Überlegungen von Habermas zur kommunikativen Vernunft. Durch die sprachliche Vergesellschaftung könnte das Gehirn – per Abwärtskausalität – so geprägt werden, dass es als ‚Trägermedium‘ für das Abwägen von Gründen fungieren kann. Das besondere Kennzeichen sprachpragmatischer Akteur:innen wäre es dann, vor der Ausführung einer Handlung mögliche rationale (d. h. intersubjektiv kommunizierbare) Gründe für oder gegen diese Handlung oder eine alternative Handlung gedanklich zu evaluieren, entsprechend der als ausschlaggebend angesehenen Gründe eine Handlung zu initiieren und diese vor anderen Kommunikationsteilnehmer:innen unter Bezugnahme auf intersubjektiv kommunizierbare Gründe rechtfertigen zu können. Ein solches autonomes sprach-

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

pragmatisches System wäre vermutlich noch oberhalb des Niveaus eines sozialen, aber vorsprachlichen autonomen Systems anzusiedeln.306 Insofern nach Di Paolo schon die Auswahl, Initiierung, Ausführung und Kontrolle sensomotorischer Schemata auf der Ebene sensomotorischer Autonomie von Bewusstsein begleitet ist, kann man davon ausgehen, dass auch die Aktivitäten der autonomen Systeme höherer Ebenen von Bewusstsein begleitet sind. Die Aktivität der höheren Systemebenen könnte über verschiedene Hierarchiestufen hinweg, auf denen z. B. über das limbische System auch Emotionen in den Prozess integriert werden, die sensomotorische Attraktorlandschaft modifizieren, bestimmte Attraktoren verstärken und andere hemmen. Auf diesem Weg könnte auch der Prozess des bewussten Abwägens von Gründen die Auswahl von sensomotorischen Schemata beeinflussen. Nach Di Paolo dürfte ein Großteil dieser Prozesse von Bewusstsein begleitet sein. Insofern die sensomotorischen Schemata in das Gesamtsystem, welches der Organismus bildet, integriert sind, sind auch die Ausführung der sensomotorischen Schemata sowie deren Kontrolle Leistungen des Organismus als Akteurs, auch wenn dazu die Autonomie der einzelnen Schemata in Dienst genommen wird. Nach Di Paolo sind auch Ausführung und Kontrolle der sensomotorischen Schemata von Bewusstsein begleitet. Akteur:innen erfahren ihre eigene Abwärtskausalität, ihre Kraft als Akteur:innen, nicht nur bei der Auswahl und Initiierung von Handlungen sondern auch noch bei deren Ausführung auf präreflexive Weise. Aus der Erste-Person-Perspektive gesprochen: Das präreflexive Ich bewohnt die Handlungen.307 Tewes legt in seinen Überlegungen allerdings besonderen Wert auf die Einsicht, dass es für Willensfreiheit nicht ausreiche, dass eine Entscheidung nach einer Phase bewussten Überlegens entsprechend der als besser erkannten Gründe erfolge. Denn entsprechend einer libertarischen Auffassung von Willensfreiheit impliziert letztere Subjekte bzw. Akteur:innen, die zu den Gründen, die für oder gegen bestimmte Handlungsoptionen sprechen (wobei es sich bei den Gründen u. a. auch um Emotionen handeln kann), Stellung nehmen und Handlungsgründe gegenüber anderen „willentlich vorzieh[t][en].“308 Der Entscheidungsprozess ist also nicht ausschließlich ein Wettbewerb von Gründen, den der objektiv beste Grund letztlich gewinnt. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Anforderung der Urheberschaft

306 Genauere Überlegungen dazu, welche Rolle die phylo- und ontogenetische sozial-kommunikative Enkulturation des Menschen in diesem Zusammenhang spielt, stellt Tewes an, der dazu u. a. an Tomasello anknüpft. (vgl. Tewes: Libertarismus, 344–354). Tewes geht davon aus, „dass es aufgrund der Prozesse der Enkulturation und der damit verbunden Fähigkeiten der sozialen Kognition […] zur Emergenz eines neuen Teilganzen kommt […].“ (Tewes: Libertarismus, 351). 307 Vgl. Tewes: Libertarismus, 333. 308 Tewes: Libertarismus, 123.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

(vgl. Kapitel 2) erfüllt ist, dass also letztlich das Subjekt wählt, von welchen Gründen es sich bestimmen lässt. So kann es dann auch geschehen, dass ein Subjekt Gründe handlungswirksam werden lässt, die eine Mehrheit anderer Subjekte als die schlechteren Gründe ansehen würde. Die Existenz von Akteur:innen, die bestimmte Handlungsgründe anderen willentlich vorziehen, ist umso notwendiger, wenn man wie Tewes von einer (hier geteilten) pluralen Rationalitätskonzeption ausgeht, gemäß der es in bestimmten Handlungskontexten und Konfliktsituationen für Akteur:innen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten gibt, die aber beide bzw. alle als „gleichermaßen begründet und rational“309 angesehen werden können.310 Es müsse, meint Tewes, „keinesfalls immer möglich sein, die Entscheidung für die eine oder andere zugrunde gelegte Handlungsmaxime selber noch einmal abschließend normativ auszuzeichnen.“311 Dies gelte insbesondere wenn man voraussetze, dass Akteur:innen faktisch nur über begrenzte kognitive Kapazitäten und üblicherweise auch nur über einen begrenzten Zeitrahmen für Entscheidungen verfügen. Auch unter evolutiven Gesichtspunkten sei, so Tewes, nicht davon auszugehen, „dass es jeweils nur eine (optimale) Strategie zur Bewältigung von […] Problemen oder Herausforderungen geben muss.“312 Gäbe es in einer solchen argumentativen Pattsituation kein Stellung nehmendes Subjekt, müsste man davon ausgehen, dass die letztlich stattfindende Handlung zufällig gewählt wurde. Auf Zufall kann aber eine rationale und zu verantwortende Entscheidung nicht beruhen.313 Deshalb muss ihm Rahmen der hier entwickelten Hypothese davon ausgegangen werden, dass nicht nur das bewusste Abwägen von Gründen die sensomotorische Attraktorlandschaft verändert, sondern dass auch das Subjekt selbst, als autonomes adaptives System durch Abwärtskausalität die Attraktorlandschaft so modifizieren kann, dass das Subjekt selbst determiniert, welche Handlung ausgeführt wird und dass auch dieser Prozess bewusst ist. Es muss davon ausgegangen werden, dass es nicht die Gründe selbst sind, welche die Handlung determinieren, sondern dass das Subjekt dies tut.314 Tewes hält zu diesem Zweck eine formierende Kausalität im 309 310 311 312 313

Tewes: Libertarismus, 124. Vgl. zum ganzen Absatz: Tewes: Libertarismus, 124 und 127f. Tewes: Libertarismus, 124. Tewes: Libertarismus, 128. Wegen der beschriebenen Problematik lehnt Tewes libertarische Theorien, die wie die Theorien von Donald Davidson, Robert Kane und Gert Keil ausschließlich auf Ereigniskausalität setzen, ab und befürwortet Timothy O’Connors Theorie zur Akteurskausalität, die er ausgehend vom enaktivistischen Forschungsansatz weiter expliziert und plausibilisiert. Vgl. Tewes: Libertarismus, 133–292. Die entsprechende analytisch-philosophische Debatte darüber, wie libertarische Konzeptionen von Willensfreiheit angemessen zu explizieren sind, wird in der vorliegenden Arbeit nicht aufgegriffen. Den Ausführungen von Tewes in dieser Hinsicht ist aber weitgehend zuzustimmen. 314 Vgl. Tewes: Libertarismus, 365.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Sinne einer causa formalis, wie sie auch von Freeman in Anschlag gebracht wird, jedoch für nicht ausreichend.315 Dass globale, mit Bewusstsein verbundene Aktivitätsmuster laut Freeman Handlungen nicht initiieren, sondern nur suspendieren können, indem sie die Attraktorlandschaft verändern, führt nach Tewes „erneut zum Problem des Zufallseinwandes bezüglich der Willensfreiheit […].“316 Tewes meint: Auch in Freemans Ausführungen stößt man auf das […] Problem […], dass unklar ist, wie es berechtigt sein könnte, eine vom Gehirn aufgrund eines chaostheoretisch beschriebenen Phasenübergangs initiierte Handlung überhaupt einem Akteur als Urheber zuzuschreiben. […] Wenn das Bewusstsein […] an der Initiierung und konkreten Auswahl wie auch der ‚Entscheidung‘ für eine Handlung nicht beteiligt ist, sondern lediglich ein Suspensions- und Reflexionsvermögen hat, dann ist die für freie Handlungen notwendige Urheberschaftsbedingung nicht erfüllt.317

Ein dem Bewusstsein vollständig entzogener Vorgang im Gehirn sei, so Tewes, nicht dazu geeignet, die Urheberschaftsbedingung für eine sinnvolle personale Zuschreibbarkeit und Verantwortlichkeit zu erfüllen.318 „Das Gehirn“ sei „eben kein Akteur und kann deshalb auch nicht als Träger von Entscheidungen oder als Initiator von Handlungen fungieren.“319 Leibphänomenologische Analysen, meint Tewes, würden zeigen, dass dem Bewusstsein entgegen der Auffassung von Freeman durchaus ein „spontanes und handlungsinitiierendes Potential“320 zukomme und dass dieses Potential im Sinne einer Wirkursächlichkeit (causa efficiens) zu verstehen sei.321 Man müsste Tewes wohl Recht geben, wenn feststehen würde, dass durch Abwärtskausalität im Modus der causa formalis nicht determiniert werden könnte, welche Handlung ausgeführt wird. Freeman äußert sich zu dieser Frage nicht eindeutig. Aber warum sollte es nicht möglich sein, dass durch von Bewusstsein begleitete Abwärtskausalität globaler neuronaler Aktivitäten im Modus der causa formalis bestimmte Attraktoren so gehemmt und andere so verstärkt werden, dass am Ende dieses Prozesses ein – dementsprechend bewusst ausgewähltes – sensomotorisches Schema der stärkste Attraktor ist, so dass die Abwärtskausalität festlegt, welches der voraktivierten Schemata tatsächlich ausgeführt wird? Dass bei der Ausführung

315 316 317 318 319 320 321

Vgl. Tewes: Libertarismus, 322f. Tewes: Libertarismus, 327. Tewes: Libertarismus, 327f. Vgl. Tewes: Libertarismus, 328. Beide Zitate: Tewes: Libertarismus, 328. Tewes: Libertarismus, 339. Vgl. Tewes: Libertarismus, 339 und 365.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

und Realisierung des entsprechenden sensomotorischen Schemas dann auch Aufwärtskausalität im Sinne einer Ereigniskausalität, die von der Abwärtskausalität im Sinne einer Akteurskausalität zugelassen wird, eine Rolle spielt, ist kein Argument gegen die Willensfreiheit, ebenso wenig wie die Annahme, dass das übergeordnete autonome System sich die Autonomie untergeordneter, möglicherweise nicht mit Bewusstsein einhergehender Systeme zu Nutze macht. Tewes legt sich darauf fest, Akteurskausalität im Modus der causa efficiens zu denken. Dies ist aber nicht nötig. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass die Akteurskausalität als Abwärtskausalität im Modus der causa formalis die Ereigniskausalität in Dienst nimmt. Das stimmt auch mit den Erkenntnissen zur Abwärtskausalität in autonomen adaptiven Systemen (vgl. Kapitel 9.1.3) überein, gemäß denen das autonome System die Aktivität der es konstituierenden Prozesse kontrolliert und reguliert. Da auch die fachwissenschaftliche Literatur zum Thema keinen Rückhalt für die These vom Wirken der Abwärtskausalität im Modus der causa efficiens bietet, spricht nichts dafür dieser naturphilosophisch voraussetzungsreicheren These zu folgen. Sehr plausibel erscheint dagegen Tewes Hinweis darauf, dass leibphänomenologische Einsichten – entgegen Freemans Annahme – für die auch von Di Paolo vertretene These sprechen, dass nicht nur neuronale Aktivitäten höherer Ordnung sondern auch die Auswahl, Initiierung, Ausführung und Kontrolle auch von habitualisierten Handlungen mit Bewusstsein (möglicherweise notwendig) einhergeht (vgl. Kapitel 9.2). Die akteurskausale Kraft ist also der bewussten Erfahrung zugänglich.322 Dies ist wichtig, weil – wie bereits erwähnt – die Kontroll- und Auswahlprozesse bei der Auswahl von Handlungen dem Subjekt auf einer personalen Ebene, d. h. bewusst, zugänglich sein müssen. Ohne dies, so wurde schon zu Beginn dieser Arbeit definiert, ist Willensfreiheit, wie sie lebensweltlich verstanden wird, nicht möglich. Angesichts der skizzierten Hypothese liegt der Einwand nahe, ob das Bewusstsein auf die Prozesse der Abwärtskausalität überhaupt Einfluss ausübt oder ob es nicht vielmehr nur ein Epiphänomen dieser Prozesse ist, das sie begleitet ohne sie zu beeinflussen. Dass dieser Einwand nahe liegt, sieht auch Fuchs323 und ergänzt dazu folgende Anfrage: Ist Bewusstsein dann nicht doch das Produkt der materiellen Strukturen und entsprechenden Prozesse des Organismus? Haben wir durch die ganze Untersuchung womöglich nicht

322 Vgl. Tewes: Libertarismus, 337. 323 Vgl. Fuchs: Gehirn, 250.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

mehr erreicht, als die Basis für die Reduktion von Bewusstsein zu verbreitern, nämlich vom Gehirn auf den Organismus bzw. auf das System von Organismus und Umwelt?324

Fuchs reagiert auf diese Anfrage folgendermaßen: Er erinnert an die im Enaktivismus vertretene Ansicht, dass Kognition und Subjektivität zwei komplementäre Seiten desselben Prozesses sind, die sich zeigen, wenn dieser Prozess aus (zwei) unterschiedlichen Perspektiven heraus untersucht wird. Er erinnert daran, dass es sich bei Leib und Körper um zwei unterschiedliche Aspekte handelt, unter denen ein und dieselbe ontologische Entität – das Lebewesen – je nach Einstellung bzw. Perspektive in Erscheinung tritt (vgl. Kapitel 9, Einleitung). Fuchs betont: „Beide Beschreibungen geben komplementäre Aspekte der lebendigen Operation wieder, und sie üben keine ‚Wechselwirkung‘ aufeinander aus – schließlich sind sie nur Aspekte ein und desselben Geschehens.“325 Wer doch eine Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und neuronalen Prozessen annehmen wolle, der lasse sich von einer dualistischen Intuition in die Irre führen:326 Man würde damit die Komplementarität der Aspekte aufheben oder, bildlich gesprochen, eine Seite der Münze auf die andere einwirken lassen. Freilich spielen vorangehende [bewusste] Impulse und Entschlüsse eine Rolle für unsere Handlungen, doch sie lassen sich ihrerseits immer unter beiden Aspekten parallel und kontinuierlich beschreiben. Der Doppelaspekt lässt sich nicht umgehen oder an bestimmten Stellen durchlässig machen.327

Dass Aspekte, unter denen sich ein und dasselbe Geschehen zeigt, nicht aufeinander einwirken können, ist einleuchtend. Fuchs würde es dabei gerne bewenden lassen. Dass die Anfrage, ob Bewusstsein unter den beschriebenen Voraussetzungen nicht ein Epiphänomen ist, damit nicht erledigt ist, zeigt sich jedoch in den weiteren Ausführungen von Fuchs zum Thema. Dort wird deutlich, dass sich, wenn es um die Frage nach der Willensfreiheit geht, die ontologische bzw. metaphysische Frage nach der Einheit dessen, was unter den zwei komplementären Perspektiven beschrieben wird, nicht unter Verweis auf den epistemischen Dualismus abtun lässt. Dies gilt zumindest unter der Voraussetzung, dass man den Beschreibungen, welche die beiden Perspektiven liefern, nicht jeglichen Anspruch auf realistische Erkenntnis der Wirklichkeit abspricht.

324 325 326 327

Fuchs: Gehirn, 251. Fuchs: Gehirn, 249f. Vgl. Fuchs: Gehirn, 250. Fuchs: Gehirn, 250.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

Fuchs versucht plausibel zu machen, dass der Organismus dieselben kognitiven Leistungen nicht ebenso gut auch ohne Bewusstsein vollbringen könnte.328 Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn er muss dazu ausgehend von den beiden komplementären Perspektiven Bezug nehmen auf den Organismus bzw. das Lebewesen als die beiden Perspektiven zu Grunde liegende ontologische Entität. Fuchs führt hier zwei Argumente an. Erstens geht er davon aus, dass ein Organismus ohne Bewusstsein auch auf der biologischen Ebene eine vollkommen andere Struktur hätte. Wenn ein Organismus kein Bewusstsein hätte, hätte er entsprechend der Komplementarität der Perspektiven auch nicht die biologische Struktur, die ihm z. B. Abwärtskausalität möglich machen würde, d. h. er wäre nicht zu denselben Leistungen in der Lage. Dieses Argument ist soweit einleuchtend und unproblematisch, wiederlegt aber noch nicht die Ansicht, dass das Bewusstsein anders als seine organismische Entsprechung dennoch ein Epiphänomen ist. Zweitens hebt Fuchs darauf ab, dass dem Bewusstsein durchaus eine Funktion zukomme. Er erläutert dazu einerseits – aus einer phänomenologischen, die Erste-Person-Perspektive analysierenden Perspektive – Bewusstseinsprozesse würden „dem Lebewesen eine ungleich komplexere, integrale Erfassung seines Zustands und eine ungleich flexiblere Wahl der Handlungsmöglichkeiten in seiner Umwelt“ ermöglichen „als unbewusste Steuerungsroutinen es zulassen.“329 Dazu trüge besonders „die Fähigkeit des Bewusstseins bei, Gestalteinheiten herzustellen und die rein momentane Gegenwart zu überschreiten, sei es in der Vorwegnahme des Kommenden, sei es im Behalten des Erlebten.“330 Während alle biologischen Körperzustände immer nur streng gegenwärtig seien, würde es die „zeitübergreifende Dauer des Bewusstseins“331 erlauben, das Vergangene und das Zukünftige als solches zu erfassen. Eine Funktion kann dem Bewusstsein demnach also zunächst nur aus phänomenologischer Perspektive bzw. aus der Teilnehmer:innenperspektive zugeschrieben werden. Aus der naturwissenschaftlichen Perspektive spricht nach Fuchs zunächst die Evolutionsbiologie für eine Funktion des Bewusstseins, denn hätte sich Bewusstsein in der Evolution als überflüssig oder nachteilig erwiesen, dann hätte es sich auch nicht entwickelt oder wäre schnell wieder verschwunden.332 Was man aber durch die „Einbeziehung des Lebendigen“333  – Fuchs bezieht sich hier wohl vor allem auf die enaktiven Thesen zu zirkulärer Kausalität und Autonomie – weiterhin gewonnen habe, sei

328 329 330 331 332 333

Vgl. zum ganzen Absatz: Fuchs: Gehirn, 250f. Beide Zitate: Fuchs: Gehirn, 250. Fuchs: Gehirn, 250. Fuchs: Gehirn, 250. Vgl. Fuchs: Gehirn, 251. Fuchs: Gehirn, 251.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

der Primat der Funktion. Nicht die erlebten Prozesse verlaufen so, weil die organischen Prozesse auch ohne sie nun einmal so ablaufen wie sie es tun; sondern umgekehrt verlaufen die [organischen] Prozesse genau in dieser Weise, weil der Mensch über Bewusstsein verfügt, Hunger empfinden, wahrnehmen und sich bewegen kann. Denn Bewusstsein ist die maßgebliche Funktion höherer Lebewesen, die ihnen Gefühle, Wahrnehmungen und Handlungen ermöglicht […].334

Um diese Funktionen zu ermöglichen, meint Fuchs, hätten sich innerhalb der Phylogenese die entsprechenden organischen Strukturen der Lebewesen entwickelt.335 Bewusstsein sei demnach kein Epiphänomen sondern der eigentliche biologische Sinn und Zweck der entsprechenden organischen Strukturen und Prozesse.336 Wie sind diese Aussagen von Fuchs zur Funktion des Bewusstseins zu verstehen? Es ist offensichtlich, dass er hier keine naturwissenschaftliche, d. h. keine empirisch überprüfbare Theorie aufstellt, denn sonst befände er sich in direktem Widerspruch zu seiner Aussage, dass Aspekte, unter denen sich ein und dasselbe Geschehen zeigt, nicht miteinander wechselwirken (s. o.). Würde Bewusstsein auf empirisch nachweisbare Weise auf naturwissenschaftlich Beschreibbares einwirken, würde das der These vom Doppelaspekt widersprechen.337 Dann stellt sich allerdings die Frage, wie das „weil“ in der Aussage, dass „die organischen Prozesse genau in dieser Weise ablaufen, weil der Mensch über Bewusstsein verfügt“, zu deuten ist – offensichtlich nicht als eine naturwissenschaftlich aufweisbare Wechselwirkung. Stattdessen versucht Fuchs an dieser Stelle, unter Einbeziehung beider Perspektiven auf denselben Vorgang, der sich „an sich“ unserer Erkenntnis entzieht, eine plausible ‚Geschichte‘ zu erzählen, die die Einsichten beider Perspektiven miteinbezieht. Dabei muss er dann letztlich doch davon ausgehen, dass auf dieser metaphysischen Ebene ‚hinter‘ den Perspektiven irgendetwas an bzw. in dem den Perspektiven zu Grunde liegenden Lebewesen garantiert bzw. dafür sorgt bzw. ‚bewirkt‘, dass das, was uns als Bewusstsein erscheint, einen Einfluss auf das hat, was aus der Perspektive der Naturwissenschaften empirisch beschrieben wird. Indem er versucht zu beschreiben, was auf der ‚hinter‘ den Perspektiven liegenden metaphysischen Ebene passiert, und dazu versucht die beiden Perspektiven zu einem Gesamtbild zu integrieren, kann er aber wiederum nur das Vokabular und die gedanklichen Kategorien verwenden, die ihm die Perspektiven zur Verfügung stellen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass er das, was eigentlich nur perspektivische

334 335 336 337

Fuchs: Gehirn, 251. Vgl. Fuchs: Gehirn, 251f. Vgl. Fuchs: Gehirn, 251. Widersprüchlich erscheint es unter dieser Voraussetzung allerdings, dass Fuchs vom biologischen Sinn des Bewusstseins spricht.

Enaktivismus und Willensfreiheit (Willensfreiheit Variante II)

Beschreibungen (sozusagen Erscheinungsweisen) des zu Grunde liegenden Lebewesens sind (Bewusstsein/ein autonomes adaptives System), sprachlich zu zwei unterschiedlichen Entitäten hypostasiert, die aufeinander wirken. Das nämlich suggeriert die Aussage, dass „die organischen Prozesse genau in dieser Weise ablaufen, weil der Mensch über Bewusstsein verfügt“. Will man den beiden Perspektiven einen realistischen Erkenntnisanspruch zugestehen und sie dennoch zusammendenken, ergibt sich so zwangsläufig der Anschein eines ontologischen Dualismus, auch wenn genau dieser durch die Idee des Perspektivendualismus eigentlich vermieden werden soll. Diese Einschätzung gilt auch für den Habermas’schen Ansatz zur Plausibilisierung von Willensfreiheit. Es handelt sich aber nicht wirklich um einen ontologischen Dualismus sondern nur um ein sprachliches bzw. gedankliches Artefakt, das die Lücke füllt, die darin besteht, dass wir eigentlich gar nicht erkennen können, wie irgendetwas an dem ontologisch zu Grunde liegenden Lebewesen garantiert, dass das, was uns als Bewusstsein erscheint, einen Einfluss auf das hat, was aus der Perspektive der Naturwissenschaften empirisch beschrieben wird. Das Ganze eine ‚Geschichte‘ zu nennen, ist angemessen, weil sich konsistente wissenschaftliche Theorien wohl nur innerhalb einer der beiden Perspektiven entwickeln und überprüfen lassen, nicht aber perspektivenübergreifend. Eine konsistente naturwissenschaftliche Theorie zur Funktion des Bewusstseins lässt sich nicht entwickeln, weil die naturwissenschaftliche Analyse und die Erste-Person-Perspektive auf Bewusstsein zwar komplementär, aber nicht aufeinander reduzierbar sind. So lässt sich, wie auch schon in der Auseinandersetzung mit Habermas festgestellt (vgl. Kapitel 5.4 und 5.6), ausgehend von den beiden Perspektiven zwar eine plausible Metaerzählung über die Funktion des Bewusstseins entwickeln, den Status einer naturwissenschaftlich überprüfbaren Theorie hat diese Erzählung aber nicht. Am gleichberechtigten realistischen Erkenntnisanspruch beider Perspektiven auf das Lebewesen Mensch können Enaktivist:innen allerdings nur unter einer Voraussetzung festhalten, die von Naturalist:innen der Variante Ia (vgl. Kapitel 4.7) wohl nicht geteilt würde: Enaktivist:innen müssen davon ausgehen, dass die Abwärtskausalität, durch die ein menschlicher Organismus im Modus der causa formalis beeinflusst, welche Handlungsimpulse im Modus der causa efficiens wirksam werden, nicht durch (dem Entscheidungsprozess) vorhergehende Makrozustände des Gesamtsystems, welches der menschliche Organismus darstellt, und Naturgesetze determiniert ist. Die Art und Weise, wie das Gesamtsystem, d. h. das menschliche Subjekt als autonomes adaptives Gesamtsystem, die Attraktorlandschaft modifiziert, darf nicht naturgesetzlich determiniert sein, wenn die entsprechenden naturwissenschaftlichen Prozesse in der Lage sein sollen als ‚Trägermedium‘ für das Abwägen von Gründen zu fungieren. Sonst würden Gründe doch wieder auf Ursachen reduziert. In den Begriffen des Enaktivismus formuliert: Die Identität des komplexen autonomen Gesamtsystems darf seine Aktivität nicht determinieren. Wäre dies der Fall, würde die naturwissenschaftliche Perspektive in direktem Widerspruch

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

zur der unter Einbezug der Erste-Person-Perspektive entwickelten Aussage stehen, dass die organischen Prozesse so ablaufen, wie sie ablaufen, weil der Mensch über Bewusstsein verfügt. Man hätte dann ja schon eine vollständige naturwissenschaftliche Erklärung für die organischen Prozesse ohne Einbezug des Bewusstseins. Nur wenn die entsprechenden naturwissenschaftlich untersuchbaren Prozesse aus naturwissenschaftlicher Sicht Indeterminismen enthalten, kann ein solcher Prozess aus der Teilnehmer:innenperspektive so gedeutet werden, dass hier ein freies Subjekt zu Gründen Stellung nimmt. Auch wenn aus der naturwissenschaftlichen Perspektive keine mentale Verursachung nachweisbar ist, der Prozess aus dieser Sicht also von Naturgesetzen und Zufällen bestimmt ist, können Enaktivist:innen dann unter Einbezug beider Perspektiven berechtigterweise behaupten, dass das Bewusstsein bei dem Prozess eine Rolle gespielt hat. Aus der naturwissenschaftlichen Perspektive ist das Bewusstsein dann ein Epiphänomen, was aber nicht bedeutet, dass naturwissenschaftliche Theorien schon die ganze ‚Geschichte‘ erzählen. Die Leistung des Enaktivismus besteht darin, die naturwissenschaftliche Perspektive durch die Hypothese adaptiver autonomer Systeme deutlich näher an die Erste-Person-Perspektive auf Kognition und Bewusstsein herangerückt und die Komplementarität der beiden Perspektiven deutlicher herausgearbeitet zu haben. Dies wiederum stützt die philosophische These, dass es sich tatsächlich um zwei Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen handelt und nicht um zwei distinkte Seinsbereiche (Geist und Materie) oder um nur einen einzigen Seinsbereich (Materie), der vom naturwissenschaftlichen Zugriff in seinem Sein ‚an sich‘ vollständig und die Realität objektiv abbildend erfasst wird.

9.4

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

Im Folgenden werden Argumente gegen die Annahmen von starker Emergenz und nicht-reduzierbarer Abwärtskausalität, wie sie im Enaktivismus vertreten werden, dargestellt und diskutiert, die sich aus einem physikalistischen Weltbild ergeben. (Wobei starke Emergenz entsprechend den Ergebnissen aus Kapitel 5.7.3 ausschließlich im Sinne prinzipieller epistemischer Emergenz verstanden werden soll, mit der sich keine ontologischen Festlegungen und entsprechend auch kein physikalistisches Weltbild verbinden.) Die grundlegenden Einwände gegen Emergenztheorien, die bereits im Kapitel 4.6.1, das sich mit den Erklärungslücken befasst, erörtert wurden, sind mit Ausnahme der Einwände, die im Zusammenhang mit quantenphysikalischen Überlegungen zur Plausibilisierung mentaler Verursachung stehen, ebenfalls als Gegenargumente relevant. In welchem Verhältnis die Annahmen des Enaktivismus zum nicht-physikalistischen Naturalismus stehen, ist erst in Kapitel 9.5 Thema.

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

9.4.1

Schwache oder starke Emergenz im Enaktivismus?

Wie bereits in Kapitel 4.4.2 ausgeführt ist es wichtig zwischen schwacher und starker Emergenz zu unterscheiden. Die Behauptung, dass in einem bestimmten Fall starke Emergenz vorliegt, ist grundsätzlich heikel, weil es sich um eine Unmöglichkeitsbehauptung handelt.338 Hoyningen-Huene erläutert: „Hier muss nicht begründet werden, dass dieser oder jener vorgeschlagene Reduktionsversuch scheitert, sondern dass es grundsätzlich unmöglich ist, die entsprechende Reduktionsbeziehung zu konstruieren.“339 Solange man aber nicht sicher sein kann, alle Gesetze der Natur ohne Ausnahme zu kennen, was eine unrealistische Voraussetzung darstellt,340 können solche Behauptungen durch neue Erkenntnisse jederzeit widerlegt werden. Wissenschaftler:innen, die mit Emergenz sympathisieren, haben in der Vergangenheit des Öfteren Phänomene benannt, von denen sie ausdrücklich oder implizit behaupteten, dass es sich um Fälle von starker Emergenz handele. Bei näherer Betrachtung oder mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften zeigte bzw. zeigt sich aber, dass es sich nur um Fälle von schwacher Emergenz handelt. Beispielsweise hielt der Philosoph Charlie D. Broad Anfang des 20. Jahrhunderts chemische Phänomene für stark emergent.341 Mit der Entdeckung der Quantentheorie wurde es möglich, die Gesetze der Chemie aus denen der Physik abzuleiten und die vermeintlich starke Emergenz entpuppte sich als schwache.342 Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz nennt, wie Hoyningen-Huene ausführt, als Beispiel für ein emergentes Phänomen einen Stromkreis, bei dem Schwingungen auftreten können.343 Die Schwingungsfähigkeit des Stromkreises lässt sich aber aus den Eigenschaften der Komponenten und dem Bauplan mathematisch ableiten.344 Es handelt sich also um einen Fall von schwacher Emergenz. Der Neurophysiologe Roger Sperry, auf den sich auch Thompson und Varela beziehen,345 vergleicht die Wirkweise des Bewusstseins auf seine neurophysiologischen Grundlagen mit der Wirkung der Bewegung eines Rades auf die es konstituierenden Atome und Moleküle.346 Die Abwärtskausalität des rollenden Rades bestimme die Bewegung der es konstituierenden Moleküle, meint Sperry.347 Er

338 339 340 341 342 343 344 345 346 347

Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 190. Hoyningen-Huene: Reduktion, 190. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 142. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 141f. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 142. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 194. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 194. Vgl. Thompson/Varela: Embodiment, Endnote Nr. 28. Vgl. Sperry, Roger W.: Mind-Brain Interaction, 201. Vgl. Sperry: Mind-Brain Interaction, 201.

393

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

sieht also sowohl beim Bewusstsein als auch beim Rad starke Emergenz als gegeben an, denn er geht davon aus, dass die Bewusstseinsvorgänge nicht auf die Gesetze und Prinzipien der Neurophysiologie reduziert werden können.348 Tatsächlich lässt sich aber im Fall des Rades eine vollständige reduktionistische Beschreibung des Phänomens geben.349 Die Wirkung des Rades auf seine molekularen Bestandteile lässt sich „hinreichend beschreiben, indem man die Form des Rades und die Gravitationswirkung auf die einzelnen molekularen Bestandteile durchrechnet.“350 Clayton erläutert in seiner Publikation „Mind and Emergence“ zahlreiche Fälle von Emergenz in den Bereichen von Physik, Chemie, künstlichen Systemen, Biochemie, Biologie und Evolution.351 Er ist der Überzeugung, dass zumindest bei einigen dieser Beispiele starke Emergenz mit Abwärtskausalität vorliege.352 Besonders eindeutig erscheinen ihm die Hinweise auf starke Emergenz bei entsprechenden Phänomenen im Bereich der Biologie zu sein.353 Insbesondere die zuletzt genannte These stellt eine deutliche Parallele zur Interpretation des Enaktivismus im aktuellen Kapitel dar. Mutschler hält Claytons Darstellungen allerdings für nicht überzeugend und wirft ihm vor, aus der Primärliteratur zahlreiche Beispiele zu rezipieren, die dort als stark emergent ausgegeben würden, obwohl es sich durchweg nur um Beispiele für schwache Emergenz handele.354 Der Versuch, Willensfreiheit über enaktive Theorien zu plausibilisieren, kann nur dann erfolgreich sein, wenn das Emergieren autonomer adaptiver Systeme, von dem der Enaktivismus ausgeht, tatsächlich ein Phänomen von starker Emergenz ist. Bisher spricht Vieles dafür, was jedoch nicht ausschließt, dass zukünftige Erkenntnisfortschritte das Gegenteil erweisen werden. Viele Enaktivist:innen thematisieren die Frage, ob es sich bei der Abwärtskausalität autonomer, adaptiver Systeme um starke oder schwache Emergenz handelt, nicht. Bei Thompson findet sich eine kurze Passage, in der er sich mit dieser Frage auseinandersetzt.355 Er betont, dass die Art und Weise, wie das System seine Teile beeinflusst, bei komplexen Systemen eine andere sei als bei schwacher Emergenz. Das hat seiner Meinung nach damit zu tun, dass bei den Fällen schwacher Emergenz anders als bei selbstorganisierenden Systemen keine nicht lineare Kopplung von Systemkomponenten auftrete. Weil eine solche Kopplung fehle, sei beispielsweise Sperrys Rad ein Aggregat und kein selbstorganisierendes System. Ebenso trete

348 349 350 351 352 353 354 355

Vgl. Sperry: Mind-Brain Interaction, 201. Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 195. Mutschler: Wirklichkeit, 157. Vgl. Clayton: Mind, 65–106. Vgl. Clayton: Mind, 65 und 100. Vgl. Clayton: Mind, 65. Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 167. Vgl. Thompson: Mind, 433f.

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

bei dem Rad keine operationale Geschlossenheit auf. Thompson geht also davon aus, dass bei komplexen dynamischen Systemen starke Emergenz auftritt. Seine Argumentation geht allerdings nicht in die Tiefe. Bereits erwähnt wurde Mutschlers Überlegung, dass bei starker Emergenz die Teile in ihrer Vereinigung zu einem Ganzen Eigenschaften haben, die sie außerhalb nicht hätten (vgl. Kapitel 4.4.2),356 es als Kriterium für starke Emergenz also nicht ausreicht, dass das Ganze Eigenschaften aufweist, die die Teile für sich nicht aufweisen. Thompson geht sogar noch weiter. Er meint, es reiche auch nicht, dass die Teile die gleichen Eigenschaften wie das Ganze aufweisen, wie bei dem Rad, bei dem sowohl das Ganze als auch die Teile sich bewegen.357 Die Teile müssen im Ganzen also Eigenschaften haben, die sie außerhalb nicht haben und dies dürfen nicht dieselben Eigenschaften wie die des Ganzen sein. Diese Anforderung erfüllen autonome adaptive Systeme, denn die sie konstituierenden Teilprozesse können außerhalb des Systems gar nicht dauerhaft existieren wie bereits erläutert (vgl. Kapitel 9.1.2). Zweitens kann man starke Emergenz möglicherweise daran erkennen, dass sich auf der Mikroebene Konfigurationen und Bestandteile (in gewissen Grenzen) ändern können, ohne dass die emergenten Eigenschaften sich ändern.358 Ist dies der Fall – wovon Thompson bei komplexen Systemen ausgeht359  – dann wird die Makroebene nicht von der Mikroebene determiniert, was ein Merkmal von starker Emergenz ist. 9.4.2

Theorien komplexer Systeme und ihre naturphilosophischen Deutungen

Für die Frage, ob die autonomen adaptiven Systeme des Enaktivismus als Phänomene starker Emergenz angesehen werden können, spielt es eine wichtige Rolle, wie die mathematischen Theorien und Methoden zur Beschreibung und Berechnung der Entwicklung komplexer dynamischer Systeme, auf welche die Enaktivist:innen sich stützen, naturphilosophisch gedeutet werden. Denn diese Theorien und Methoden sprechen nicht so eindeutig dafür, dass durch sie Phänomene starker Emergenz beschrieben werden, wie manche Autor:innen suggerieren. Eine Theorie komplexer Systeme, auf die sich Enaktivist:innen immer wieder berufen, ist die von Haken entwickelte Synergetik.360 Das Ziel der Synergetik ist

356 357 358 359 360

Vgl. Mutschler: Wirklichkeit, 137. Vgl. Thompson: Mind, 434. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 324. Vgl. Thompson: Mind, 436. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 310. Haken/Stadler: Synergetics. Haken: Synergetics. Haken: Advanced synergetics.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

es, die Entwicklung komplexer dynamischer Systeme über die Zeit hinweg zu beschreiben und zu berechnen.361 Durch die Veränderung von Kontrollparametern können solche Systeme instabil werden und dann spontan und von alleine – also selbstorganisierend – neue Strukturen und qualitativ neue Eigenschaften ausbilden.362 Ursprünglich entwickelte Haken seine Theorie, um das Verhalten eines Lasers zu beschreiben und zu berechnen, bei dem ab einer bestimmten zugeführten Menge an Energie alle Atome anfangen, im Gleichtakt zu schwingen und Licht nur einer Wellenlänge auszusenden.363 Die zeitliche Entwicklung von Systemen wird in der Physik üblicherweise durch eine oder mehrere Differentialgleichungen beschrieben und berechnet. Bei komplexen dynamischen Systemen können die entsprechenden Gleichungssysteme mit den konventionellen Methoden der Physik nicht gelöst werden. Das liegt zum einen an der enormen Anzahl an Gleichungen und zum anderen an der wechselseitigen Kopplung der Gleichungen. Gekoppelt sind zwei Gleichungen dann, „wenn in der Gleichung für die eine Variable die andere Variable auftaucht, wobei diese andere Variable selbst jedoch ebenfalls noch zu bestimmen ist.“364 Der Synergetik gelingt es auf folgende Weise die Differentialgleichungssysteme komplexer dynamischer Systeme zu lösen:365 Verschiedene Prozesse innerhalb eines komplexen dynamischen Systems laufen unterschiedlich schnell ab. Bestimmte Parameter der Gleichungen, die für einige langsam ablaufende Prozesse (= Ordnungsparameter) stehen, können für die Berechnung als konstant betrachtet werden. Dies ermöglicht eine erhebliche Reduktion und Vereinfachung der Differentialgleichungen. Im Laufe der Zeit gewinnt einer von mehreren Ordnungsparametern die Oberhand. Dadurch kann das Gleichungssystem so vereinfacht werden, dass am Ende „eine [lösbare] Gleichung für eine Variable, und zwar für […] den schließlich alleinigen Ordnungsparameter des Systems“366 übrig bleibt, die die zeitliche Entwicklung des Systems korrekt beschreibt. Der eine Ordnungsparameter bestimmt also das Verhalten aller anderen Bestandteile des Systems. Die Synergetik interpretiert diesen Zusammenhang so, dass der Ordnungsparameter die anderen Bestandteile des Systems ordnet bzw. ‚versklavt‘.367 Dazu ist er in der Lage, obwohl er durch die Bestandteile des Systems wiederum erst selbst

361 362 363 364 365 366 367

Vgl. Kuhlmann: Theorien, 311. Vgl. Stephan: Emergenz, 233. Vgl. zum ganzen Absatz: Kuhlmann: Theorien, 310–312. Kuhlmann: Theorien, 311. Vgl. zum ganzen Absatz Kuhlmann: Theorien, 311–313. Kuhlmann: Theorien, 313. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 318.

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

verursacht wird.368 Kuhlmann erläutert: „Die Wirkung der Bestandteile in der Bildung eines Ordnungsparameters bestimmt (verursacht) also eben diese Bestandteile.“369 Wirkungen würden hier zu ihren eigenen Ursachen.370 Die Synergetik interpretiert die Ordnungsparameter also im Sinne starker Emergenz beinhaltender Abwärtskausalität, denn die Ordnungsparameter stehen für makroskopische Prozesse. Dementsprechend lässt sich die Entwicklung des Systems nicht allein anhand der Informationen über mikrophysikalische Prozesse und die sie bestimmenden Gesetze beschreiben. Die sogenannte Bénard-Konvektion in Strömungsflüssigkeiten (vgl. Kapitel 9.1.3) wurde erstmals von Ilya Prigogine im Rahmen der NichtgleichgewichtsThermodynamik analysiert.371 Auf Prigogine beruft sich auch Clayton.372 Die genaue Form der Konvektionsrollen kann hier vor ihrer Entstehung nicht vorhergesagt werden.373 Die Tatsache, dass die Konvektionsrollen zu Stande kommen, ist andererseits unabhängig von mikroskopischen Unterschieden in den Anfangsbedingungen.374 Prigogine interpretiert die Bénard-Konvektion ebenfalls im Sinne starker Emergenz mit Abwärtskausalität. Dies zeigt sich daran, dass er in diesem Zusammenhang von einer „spontanen eigenen Aktivität der Natur“375 spricht. Außerdem meint er, die Bénard-Zellen seien „im wesentlichen[!] ein Ausdruck der globalen Nichtgleichgewichtssituation, durch die sie hervorgebracht werden.“376 Kuhlmann kritisiert, dass die beschriebenen Theorien der Selbstorganisation in komplexen dynamischen Systemen mitunter – so wie von Haken und Prigogine – als eindeutiges Argument gegen den Reduktionismus – also für starke Emergenz – gelesen würden.377 Dabei ließen sie sich „genausogut als Krönung des reduktionistischen Programms sehen […]“378 angesichts der Tatsache, dass die grundlegenden Differenzialgleichungssysteme komplexer dynamischer Systeme auf die fundamentale Physik aufbauen. Insbesondere hält es Kuhlmann für fraglich, ob den Ordnungsparametern der Synergetik tatsächlich kausale Kräfte zugesprochen werden können. Er bezieht sich zur Erörterung dieser Frage auf Achim Stephan. Dieser kritisiert in seinem Standardwerk zum Thema Emergenz Hakens kausal-

368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378

Vgl. Kuhlmann: Theorien, 318. Kuhlmann: Theorien, 318. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 318. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 314. Nicolis/Prigogine: Self-Organization. Vgl. Clayton: Mind, 75. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 314. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 314. Prigogine/Stengers: Dialog, 129. Prigogine/Stengers: Dialog, 152. Vgl. zum ganzen Absatz: Kuhlmann: Theorien, 323–326. Kuhlmann: Theorien, 323.

397

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

theoretische Deutung der Ordnungsparameter.379 Die Erkenntnis Hakens, dass sich Entwicklungen komplexer dynamischer Systeme mit Hilfe der Ordnungsparameter adäquat beschreiben und berechnen lassen, hält Stephan für gut gestützt und fundiert. Von dem Funktionieren dieser mathematischen Methode darauf zu schließen, dass den Ordnungsparametern eine kausale Wirkung zugesprochen werden muss, wie es die Rede von der ‚Versklavung‘ suggeriert, hält er jedoch für falsch. Man habe es mit einem typischen Fall des „post hoc, ergo propter hoc-Fehlschluss[es]“380 zu tun. Mutschler kritisiert sowohl Hakens als auch Prigogines naturphilosophische Ausdeutungen der Synergetik stark.381 Er geht davon aus, dass Kategorien der Lebenswelt, wie Spontaneität, Freiheit oder Entscheidung, die Deutungen der Physik dabei auf eine Art und Weise bestimmen, zu der die Physik selbst nicht berechtigt. Darüber hinaus betont er, dass die Entwicklung komplexer dynamischer Systeme vom mikrophysikalischen Zufall bestimmt werde. Das System folge während der Veränderung von Kontrollparametern zunächst deterministischen Gesetzen und werde dann bei bestimmten Werten der Kontrollparameter instabil, wobei in dieser Situation der mikrophysikalische Zufall darüber entscheide, welche weitere Entwicklung das System nehme. Anschließend folge das System dann wieder deterministischen Gesetzen. Von Abwärtskausalität spricht er dagegen in diesem Zusammenhang nicht. Die Unmöglichkeit die Entwicklung eines solchen Systems mit den konventionellen Methoden der Physik zu berechnen führt Mutschler also nicht auf stark emergente Abwärtskausalität sondern auf mikrophysikalische Zufallsereignisse zurück, die beispielsweise festlegen, welches konkrete Muster die Bénard-Zellen ausbilden. Stark emergente Abwärtskausalität in komplexen dynamischen Systemen ist also kein empirisches Faktum. Die mathematischen Methoden der Synergetik lassen verschiedene Deutungen zu. Tatsächlich hält laut Kuhlmann die Mehrheit der Wissenschaftstheoretiker:innen die Erkenntnisse zur Selbstorganisation in den genannten Systemen für vereinbar mit einem ontologischen Reduktionismus, obwohl eine Reduktion praktisch nicht durchführbar ist.382 Emergent könnten Phänomene dann, so Kuhlmann, „höchstens in einem pragmatischen Sinne sein, also bezüglich zu dem, was wir mit unseren begrenzten Mitteln vorhersagen können und was wir erwarten.“383 Stark emergente Abwärtskausalität ist mit den empirischen Befunden aber auch nicht unvereinbar. Außerdem ist ein ontologischer Reduktionismus, der die me379 380 381 382 383

Vgl. Stephan: Emergenz, 232–238, besonders 236f. Stephan: Emergenz, 236. Vgl. zum ganzen Absatz: Mutschler: Physik, 106–124, besonders 106–109. Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326. Kuhlmann: Theorien, 326f.

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

thodische Reduktion für verzichtbar hält,384 ein nur wenig plausibles Konzept. Wenn eine Reduktion faktisch oder praktisch nicht möglich ist, stellt sich doch die Frage, auf Grund welchen Wissens man sie dann für theoretisch möglich halten sollte. In dem mathematischen Verfahren, das die Synergetik zu Beschreibung der komplexen dynamischen Systeme nutzt, sind es die makroskopischen Ordnungsparameter, die das Gesamtverhalten des Systems bestimmen. Eine Reduktion auf die Mikroebene ist methodisch (zumindest bisher) nicht möglich. Ist es dann nicht plausibler anzunehmen, dass Ordnungsparameter tatsächlich auch kausal wirken und nicht alle kausalen Wirkungen von der Mikroebene ausgehen? Wer trotzdem am ontologischen Reduktionismus festhält, tut dies nicht wegen, sondern trotz komplexer dynamischer Phänomene. Aus den vielen Fällen, in denen die Reduktion auch methodisch möglich ist, wird geschlussfolgert, dass sie prinzipiell und theoretisch immer möglich sein muss. 9.4.3

Kollision mit anderen naturphilosophischen Annahmen?

Zwei weitere Einwände gegen die kausale Wirksamkeit von stark emergenten Phänomenen formuliert der Philosoph Jaegwon Kim. Der erste der beiden Einwände richtet sich gegen synchrone Abwärtsverursachung durch stark emergente Eigenschaften. D. h. er richtet sich gegen die Annahme, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte mikrophysikalische Komponenten mit bestimmten Eigenschaften bestimmte stark emergente Eigenschaften verursachen und diese emergenten Eigenschaften zugleich verursachen, dass die mikrophysikalischen Komponenten die Eigenschaften aufweisen, die für die Verursachung der stark emergenten Eigenschaften eigentlich erst notwendig sind.385 Diese Annahme sei, so Kim, mit einer metaphysischen Annahme unvereinbar, die wir stillschweigend voraussetzen würden und die er „the causal-power actuality principle“386 nennt. Ein Objekt könne demnach eine kausale Wirkung, die es auf Grund einer bestimmten Eigenschaft habe, zu einem bestimmten Zeitpunkt nur ausüben, wenn es diese bestimmte Eigenschaft zu diesem bestimmten Zeitpunkt ebenfalls schon besitze. Wenn also im beschriebenen Fall von starker Emergenz die mikrophysikalischen Komponenten bestimmte Eigenschaften erst durch die Abwärtskausalität der stark emergenten Eigenschaften erwerben (und nicht schon besitzen), so können sie nicht zur gleichen Zeit die stark emergenten Eigenschaften verursachen. Der zweite der beiden Einwände richtet sich gegen diachrone Abwärtsverursachung durch stark emergente Eigenschaften. D. h. er richtet sich gegen die Annah-

384 Vgl. Kuhlmann: Theorien, 326. 385 Vgl. zum ganzen Absatz: Kim: Sense, 28f. 386 Kim: Sense, 29.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

me, dass stark emergente Eigenschaften eines Objektes, die zu einem bestimmten Zeitpunkt x1 von den mikrophysikalischen Bestandteilen des Objektes verursacht werden, zu einem späteren Zeitpunkt x2 eine kausale Wirkung auf die mikrophysikalischen Bestandteile oder die emergenten Eigenschaften des Objektes haben können.387 Eine kausale Wirksamkeit der emergenten Eigenschaften anzunehmen ergebe, so Kim, deshalb keinen Sinn, weil die Eigenschaften der mikrophysikalischen Bestandteile des Objekts zum Zeitpunkt x1 ausreichend seien, um sowohl die Eigenschaften der mikrophysikalischen Bestandteile als auch der emergenten Eigenschaften des Objekts zum Zeitpunkt x2 zu verursachen und zu erklären. Die emergenten Eigenschaften des Objekts seien als Ursache somit überflüssig. Entsprechend schlussfolgert Kim: „If emergent properties exist, they are causally, and hence explanatory, inert and therefore largely useless for the purpose of causal/ explanatory theories.“388 In den Veröffentlichungen von Enaktivist:innen finden sich keine Erörterungen der Frage, ob es sich bei der in Frage stehenden Abwärtskausalität um synchrone oder diachrone Verursachung handelt. Thompson bemerkt dazu nur: „Whether the circular causality of complex systems theory is best seen as synchronic and/or diachronic […] is an open and difficult question, which cannot be decided simply by armchair pronouncements.“389 Gegen Kims ersten Einwand beruft sich Thompson auf Erörterungen von Robert Bishop.390 Dieser befasst sich mit der Bénard-Konvektion und interpretiert diese gegen Kims Einwand so, dass die entsprechenden Muster aus der Dynamik der Einzelmoleküle hervorgehen und zugleich die Bewegungsmöglichkeiten derselben Einzelmoleküle einschränken. Er schreibt: „the large-scale structures determine/constrain some of the causal properties the fluid elements contribute at the time such contributions are made.“391 Kim, meint Bishop, gehe von der falschen Voraussetzung aus, dass die mikrophysikalischen Bestandteile des Systems und das System als Ganzes gänzlich unterschiedliche Entitäten seien.392 Bei der Bénard-Konvektion könne das Ganze aber nicht vollständig in seine Bestandteile zerlegt werden. Thompson und Bishop sind sich einig, dass eine synchrone Abwärtskausalität sehr wohl möglich ist, solange diese als eine causa formalis (also als eine strukturierende Ursache) gedacht werde und nicht als causa efficiens, bei der Ursache und Wirkung extern zueinander seien.393 Demnach könnten also

387 388 389 390 391 392 393

Vgl. zum ganzen Absatz: Kim: Sense, 29–33. Kim: Sense, 33. Thompson: Mind, 432. Vgl. Thompson: Mind, 433. Vgl. Bishop: Causation, 243. Vgl. zum ganzen Absatz: Bishop: Causation, 241–243. Vgl. Thompson: Mind, 433.

Emergenz und Abwärtskausalität im Enaktivismus – Diskussion

stark emergente Prozesse deshalb simultan auf die sie konstituierenden mikrophysikalischen Bestandteile wirken, weil der emergente Prozess sich aus diesen mikrophysikalischen Bestandteilen zusammensetzt. Hinzukommt allerdings, dass Kim einen Mikrodeterminismus und dementsprechend eine Supervenienz-Beziehung zwischen dem Mikro- und dem Makrolevel unhinterfragt voraussetzt. Besonders deutlich wird dies an seinem zweiten Einwand. Denn dieser trifft nur zu, wenn man davon ausgeht, dass die mikrophysikalischen Bestandteile des Objekts zusammen mit den für sie geltenden Naturgesetzen die Veränderung des Objekts über die Zeit hinweg determinieren. Geht man wie Bishop davon aus, dass die mikrophysikalischen Bestandteile des Objekts sich zwar gemäß der Naturgesetze verhalten, damit aber die Entwicklung des Objekts unterdeterminiert lassen, dann ist die Abwärtskausalität nicht mehr überflüssig. Auch der erste Einwand setzt den Mikrodeterminismus voraus. Denn Kim nimmt an, dass die durch Abwärtskausalität synchron verursachten Eigenschaften der mikrophysikalischen Elemente dieselben sind wie die, welche die emergenten Eigenschaften des Gesamtsystems erst hervorbringen. Dies entspricht der Supervenienz-Idee, dass die Mikro-Ebene die Makro-Ebene determiniert394 und demnach die Makro-Ebene keine eigene Wirksamkeit hat. Würde man von dieser Idee absehen, wäre es ebenso denkbar, dass die Eigenschaften der mikrophysikalischen Elemente, welche die emergenten Eigenschaften des Gesamtsystems hervorbringen andere sind als die Eigenschaften der mikrophysikalischen Elemente, welche durch die emergenten Eigenschaften des Gesamtsystems synchron verursacht werden. Die durch die emergenten Eigenschaften des Gesamtsystems hervorgebrachte Eigenschaft der mikrophysikalischen Elemente könnte z. B. darin bestehen, dass ihre Freiheitsgrade, was das Verhalten betrifft, deutlich eingeschränkter sind als sie es wären, wenn sie nicht in das Gesamtsystem eingebunden wären. Setzt man einen Mikrodeterminismus voraus, ist Abwärtskausalität im hier zur Debatte stehenden Sinne in der Tat nicht möglich. Aber mit der hier diskutierten Idee von Abwärtskausalität ist ja letztlich genau die Vorstellung verbunden, dass der Mikrodeterminismus nicht zutrifft.395 Insofern setzt Kim mit dem Mikrodeterminismus unhinterfragt voraus, was in diesem Zusammenhang eigentlich zu diskutieren wäre. Die Annahme eines physikalischen Determinismus wurde bereits in Kapitel 4.5 diskutiert und für problematisch befunden. Auch Thompson urteilt: „This position claims science for its support, but it is metaphysical in the sense of going beyond anything science itself tells us.“396 Kritisch anzumerken ist allerdings,

394 Vgl. Hoyningen-Huene: Reduktion, 180, Anmerkung 2. 395 Vgl. Thompson: Mind, 436–440. 396 Thompson: Mind, 439.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

dass weder Thompson noch die anderen in dieser Arbeit herangezogenen Enaktivist:innen erörtern, ob der Mikrodeterminismus aus ihrer Sicht auf Grund der Erkenntnisse aus dem Bereich der Quantenphysik (vgl. Kapitel 4.5.1) oder auch unabhängig von der Quantenphysik (vgl. Kapitel 4.5.2) unzutreffend ist. Thompson erwähnt in diesem Zusammenhang Erkenntnisse der Quantenphysik, ohne aber die Frage selbst ausdrücklich zu beantworten.397 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sicherlich noch Diskussionsund Forschungsbedarf im Hinblick darauf besteht, ob es sich bei der im Enaktivismus diskutierten Form von Abwärtskausalität tatsächlich um starke Emergenz handelt, wie genau diese Kausalität wirkt und ob sie kohärent gedacht werden kann. Auf Grund der bis hierher erfolgten Erörterungen ist es jedoch legitim sie einstweilen als eine zwar umstrittene, ebenso aber gut begründete und bisher nicht widerlegte Hypothese anzusehen.

9.5

Enaktivismus, Naturwissenschaft, Naturalismus (und Habermas) – Diskussion

Während im vorhergehenden Kapitel die Annahmen des Enaktivismus vor einem physikalistischen Hintergrund diskutiert wurden, soll nun herausgearbeitet werden, in welchem Verhältnis der Enaktivismus und seine Hypothesen zu Naturalismen der Variante I (vgl. Kapitel 4.7) stehen. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich beim Enaktivismus nicht um einen Naturalismus der Variante I handelt. Denn in methodischer Hinsicht erachtet der Enaktivismus neben der naturwissenschaftlichen Herangehensweise auch die Teilnehmer:innenperspektive, die sich der phänomenologischen Analyse erschließt, als erkenntnistheoretisch relevant. Auch in ontologischer Hinsicht behauptet der Enaktivismus dementsprechend nicht, dass nur das existiert, was Gegenstand der Naturwissenschaften ist. Vielmehr betrachtet der Enaktivismus Bewusstsein als ein Merkmal von Lebewesen, das sich nicht aus der naturwissenschaftlichen, wohl aber aus der Teilnehmer:innenperspektive erkennen lässt. Der Begriff des ‚Lebewesens‘ meint dabei die den beiden Perspektiven zu Grunde liegende ontologische Entität. Mit dem Naturalismus I teilt der Enaktivismus das Bestreben, die Erklärungskraft bzw. -möglichkeiten der Naturwissenschaften auf so viele Phänomene wie möglich auszuweiten und so durch die Naturwissenschaften ein möglichst einheitliches Weltbild zu produzieren. Um dabei die Teilnehmer:innenperspektive nicht als illusorisch entlarven zu müssen, verfolgt der Enaktivismus jedoch anders als die Naturalismen der Variante Ib die Strategie, Teleologie und Intentionalität (über die

397 Vgl. Thompson: Mind, 440.

Enaktivismus, Naturwissenschaft, Naturalismus (und Habermas) – Diskussion

Idee adaptiver Autonomie) in die naturwissenschaftliche Perspektive zu integrieren. Anders als Naturalismen der Variante Ia muss der Enaktivismus zudem, wie bereits erwähnt, davon ausgehen, dass im Fall von Willensfreiheit die Abwärtskausalität, durch die ein menschlicher Organismus im Modus der causa formalis determiniert, welche Handlungsimpulse im Modus der causa efficiens wirksam werden, nicht durch vorhergehende Makrozustände des Gesamtsystems, welches der menschliche Organismus darstellt, und Naturgesetze determiniert ist (vgl. Kapitel 4.7.2). Der Enaktivismus widerspricht also gerade der naturalistischen Annahme, dass das gemeinsame methodische Proprium der Naturwissenschaften im Ausschluss von Teleologie (Naturalismus Ib) bzw. im Ausschluss von nicht durch Naturgesetze determinierten Prozessen (Naturalismus Ia) besteht. Auf diese Art und Weise gelingt es ihm die naturwissenschaftliche Perspektive der Teilnehmer:innenperspektive deutlich anzunähern. Die ‚naturwissenschaftliche‘ Beschreibung eines von Willensfreiheit bestimmten Prozesses sieht dann folgendermaßen aus: Menschen können als biologische, adaptive, autonome Systeme durch Abwärtskausalität ihre Entscheidungen und ihr Verhalten (innerhalb eines begrenzten Spielraums) determinieren. Dabei spielen Zweckgerichtetheit (Teleologie) und Intentionalität, die sich aus der Identität des Systems ergeben, eine Rolle. Wie die durch Aufwärtskausalität vorgegebene Attraktorlandschaft durch das Gesamtsystem Mensch modifiziert wird, ist aus naturwissenschaftlicher Perspektive nicht determiniert und darf es auch nicht sein, wenn libertarische Willensfreiheit möglich sein soll, bei der die entscheidende Person den Ausschlag gibt, welche von mehreren Entscheidungsoptionen realisiert wird. Aus der Teilnehmer:innenperspektive muss die Beschreibung des Geschehens um folgende Aspekte ergänzt werden: Die entsprechenden Prozesse sind von Bewusstsein begleitet und Bewusstsein ist für den Verlauf dieser Prozesse nicht verzichtbar. Naturalist:innen der Variante I müssten den Enaktivismus also ablehnen, wenn sie nicht ihren Naturalismus und die mit ihm verbundene Idee vom methodischen Proprium der Naturwissenschaften aufgeben wollen. Aber nicht nur Naturalist:innen der Variante I sondern auch Habermas würde den Lösungsansatz des Enaktivismus wohl ablehnen. Zwar fordert er, zur Klärung der Fragen, wie der menschliche Geist aus der Natur emergieren konnte und wie er auf sie zurückwirkt, beide Perspektiven – Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive – mit einzubeziehen. Aber er will die beiden Perspektiven ausdrücklich getrennt halten und das methodische Proprium der Naturwissenschaften nicht verändert wissen. Was dieses methodische Proprium seines Erachtens ausmacht, definiert er nicht genau. Dass er der (subhumanen) Natur keine „Subjektivität“398 zugestehen möchte

398 Habermas: Technik, 57.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

bzw. ihm eine „Natur, die die Augen aufschlägt“399 suspekt ist, lässt vermuten, dass die Naturwissenschaften seines Erachtens unter Ausschluss von Intentionalität und Teleologie arbeiten (sollten). Die Naturwissenschaften begegnen der Natur seines Erachtens zudem im Modus der Zweckrationalität bzw. des instrumentalen Handelns.400 Dies setzt aber voraus, dass die zu erforschenden Prozesse prognostizierbar und reproduzierbar sind, also Naturgesetzen folgen. Habermas fasst das methodische Proprium der Naturwissenschaften also ganz ähnlich auf wie der Naturalismus I, ohne sich dabei allzu genau festzulegen. Dass die Naturwissenschaften mit ihrem methodischen Proprium bisher überaus erfolgreich waren und die Fähigkeit der Menschen zur Selbstbestimmung dadurch enorm erweitert haben, rechtfertigt in Habermas Augen diese Vorgehensweise derart, dass er zu ihr keine Alternative sieht, die sich weiterhin Naturwissenschaft nennen könnte.401 Während der Enaktivismus ein einheitlicheres Weltbild anstrebt, indem er durch eine Veränderung der naturwissenschaftlichen Perspektive die beiden Perspektiven einander annähert, will Habermas die beiden Perspektiven in sich unverändert lassen und versucht sie auf der Ebene einer metaphysischen Metanarration zusammenzudenken bzw. miteinander zu versöhnen. Während Habermas sich damit (entgegen seiner eigenen Behauptungen) relativ eindeutig auf eine metaphysische Ebene begibt, für die er einen ontologischen Monismus unterstellt, enthält der Enaktivismus sich so weit wie möglich der Metaphysik und versucht sich stattdessen an einer erweiterten Naturwissenschaft. Ob das entsprechende Forschungsparadigma tatsächlich Früchte tragen wird, muss sich größtenteils wohl erst noch erweisen.

9.6

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

Zwischen den Thesen des Enaktivismus und transzendentalphilosophischen Überlegungen von Fichte, Krings und den Theolog:innen, die Krings rezipieren, (vgl. Kapitel 8) bestehen erstaunliche Konvergenzen, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen.402 Besonders deutlich werden diese Konvergenzen, wenn man die Thesen des Enaktivismus, wie Thompson in einem seiner Kapitel,403 durch die Brille der

399 400 401 402

Habermas: Technik, 57. Vgl. Habermas: Technik, 55f. Vgl. Habermas: Technik, 55 und 58. Auf Konvergenzen zwischen Fichte und dem Enaktivismus weist auch Tewes hin (vgl. Tewes: Libertarismus, 360–364). 403 Vgl. Thompson: Mind, 149–165.

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

Lebensphilosophie von Hans Jonas liest. Diese Brille wird auch in der folgenden Darstellung des Öfteren hilfreich sein. Die Art und Weise, wie das transzendentale Ich Fichtes sowie das Fundamentum innerhalb der Krings’schen Überlegungen beschrieben wird, weist deutliche Ähnlichkeiten zu der Beschreibung der adaptiven autonomen Systemen des Enaktivismus auf. Krings erläutert, damit das Fundamentum (das Erkennende) eine Einheit zwischen sich und dem Terminus (das Erkannte) stiften könne, die das Erkennen möglich mache, müsse es selbst eine besondere Form von Einheit aufweisen (vgl. Kapitel 8.2.1). Es müsse selbstursprüngliche Einheit404 bzw. „Einheit durch sich selbst“405 sein: „Ihr Ursprung liegt nirgendwo anders als in ihr selbst; sie ist selbst Ursprung.“406 Im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie beschrieben wird, wird die adaptive Autonomie lebender Organismen dieser Anforderung gerecht. Zwar hat eine lebende Zelle sich nicht selbst erschaffen und ist in diesem Sinne nicht Ursprung ihrer selbst, denn sie stammt von anderen lebenden Zellen ab. Ist eine lebende Zelle aber einmal vorhanden, so erhält sie ihre Identität durch beständige Eigenaktivität aufrecht, so dass man sagen kann, dass sie Einheit durch sich selbst ist. Di Paolo betont für die lebende Zelle sogar: „Identity does not precede the possibility of interaction [with the environment], as we would be tempted to postulate; they are co-dependent pairs.“407 Eine Existenz der Zelle unabhängig von ihrer eigenen Aktivität ist demnach nicht möglich. Die Aktivität der Zelle zur Aufrechterhaltung ihrer Identität kann außerdem nicht auf die Wirkung der Einzelkomponenten der Zelle zurückgeführt werden und wird nicht durch diese determiniert (vgl. Kapitel 9.1.3). Das emergente Gesamtsystem Zelle übt diese Abwärtskausalität aus. Insofern könnte man in den Worten, mit denen Fichte eigentlich das transzendentale Ich beschreibt, tatsächlich davon sprechen, dass das adaptive autonome System sich durch eine Aktivität bzw. Handlung selbst setzt (vgl. Kapitel 6.2). Die Art und Weise, wie adaptive autonome Systeme ihre eigene Identität aufrechterhalten, entspricht der Krings’schen Formulierung, dass „was immer als nicht hinterfragbare Einheit gedacht wird, als ein freier Prozess zu denken ist, durch welchen diese Einheit sich selbst begründet.“408 Zieht man als Vergleichspunkt nicht die lebende Zelle heran, sondern die Abwärtskausalität bei der Bénard-Konvektion, und geht zudem (anders als Mutschler (vgl. Kapitel 9.4.2)) davon aus, dass auch bei der Etablierung (und nicht nur zur Aufrechterhaltung) der entsprechenden emergenten Strömungsmuster nicht nur Zufallsschwankungen,

404 405 406 407 408

Vgl. Krings: Logik, 63. Krings: Logik, 62. Krings: Logik, 63. Di Paolo/Buhrmann/Barandiaran: Life, 134. Krings: Handbuchartikel, 116.

405

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

sondern auch Abwärtskausalität eine Rolle spielt, trifft die Krings’sche Formulierung den Sachverhalt noch eindeutiger. Denn in diesem Fall erzeugt das System sich tatsächlich durch Abwärtskausalität selbst. Der Vorstellung Fichtes und Krings, dass das Ich sich durch eine Handlung selbst setzt, haftet der Vorwurf der Zirkularität an (vgl. Kapitel 6.2 und 8.3). Wie soll etwas, das noch nicht existiert, eine Handlung vollziehen, durch die es sich selbst hervorbringt? Inwiefern hat eine Handlung, die bereits vollzogen wird, also existiert, es nötig, sich selbst hervorzubringen? Die Theorie adaptiver, autonomer Systeme ist von dem Vorwurf der Zirkularität deutlich weniger betroffen: Die Wirksamkeit bzw. die Handlung, durch die das System die eigene Identität selbst setzt bzw. aufrechterhält, entsteht nicht – wie es bei Fichte und Krings den Anschein hat – aus dem Nichts heraus. Sie ist vielmehr abhängig davon, dass die Systemkomponenten vorhanden sind, dass sie auf eine spezifische Weise angeordnet sind und eine dementsprechende Aufwärtskausalität ausüben, die das System in Dienst nehmen kann. Und sie ist abhängig von der Umwelt des Systems, denn es muss dem System möglich sein, seine Kopplung mit der Umwelt so zu beeinflussen, dass es seine Identität aufrechterhalten kann. Und doch wird die Aktivität des Systems von diesen Faktoren nicht determiniert, so dass weiterhin von einer Selbstsetzung gesprochen werden kann. Ein Rest des Zirkularitätsvorwurfs findet sich in der Kritik Kims an starker Emergenz mit synchroner Abwärtskausalität (vgl. Kapitel 9.4.3). Liest man, wie Thompson,409 die enaktive Idee adaptiver Autonomie durch die Brille der Lebensphilosophie von Jonas, werden die Parallelen zur transzendentalen Subjektphilosophie noch deutlicher. Jonas meint, die Fortgesetztheit des organischen Seins könne als Selbstfortsetzung begriffen werden.410 Der Organismus sei eine Identität, „die von Augenblick zu Augenblick sich macht […].“411 Lebendige Organismen seien – anders als alle anderen Dinge in der Welt, die nur dank einer synthetischen Anschauung Einheit seien – Einheit „kraft ihrer selbst, um ihrer selbst willen und von ihnen selbst stetig unterhalten.“412 Während bei leblosen Dingen ihr Fortbestehen als bloßes Bleiben („remaining“) verstanden werden müsse, sei das Fortbestehen lebendiger Organismen als Bejahung („reaffirmation“) zu verstehen.413 Dementsprechend meint Thompson in Bezug auf den lebenden

409 410 411 412 413

Vgl. Thompson: Mind, 149–165. Vgl. Jonas: Organismus, 130. Jonas: Organismus, 130. Jonas: Organismus, 125. Jonas: Phenomenon, 81. In der deutschen Übersetzung ist – weniger prägnant – die Rede von „Bleiben“ vs. „Neubestätigung“ (Beide Zitate Jonas: Prinzip, 154).

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

Organismus: „its identity has to be enacted in the very process of living […].“414 Es handele sich um ein Selbst, „whose being is its own doing.“415 9.6.1

Konvergenzen zum Thema Freiheit

Krings versucht, wie in Kapitel 8.2.2 ausgeführt, eine Erklärung für das Unbedingtheitsmoment innerhalb der menschlichen Freiheit zu finden. Er geht – Fichte rezipierend – davon aus, dass das transzendentale Subjekt deshalb unbedingt frei ist, weil es sich als Freiheit in einer freien Handlung überhaupt erst selbst konstituiert. Freiheit entsteht durch die freie Selbstaffirmation einer Instanz, die zur Freiheit fähig ist. Freiheit wird wirklich, weil sie sich selbst wählt. Diese Erklärung wurde in Kapitel 8.3 als zirkulär kritisiert. Eine Erklärung des Unbedingtheitsmomentes von Freiheit wurde in der Konsequenz als unmöglich erachtet. Bestimmte Überlegungen innerhalb des Enaktivismus können in diesem Zusammenhang jedoch so interpretiert werden, dass sie, wenn auch vielleicht keine vollständige, so doch zumindest eine Teilerklärung für das Unbedingtheitsmoment am autonomen System liefern. Denn die durch die Systembestandteile nicht determinierte Abwärtskausalität eines adaptiven autonomen Systems ermöglicht dem System Unbedingtheit in dem Sinne, dass seine Aktivität nicht durch die Systembestandteile, sondern durch es selbst determiniert wird. Diese Unbedingtheit ist aber nicht voraussetzungslos; es liegt keine absolute Freiheit vor, denn die Abwärtskausalität tritt nur auf, wenn die Bestandteile des Systems in einer operational geschlossenen Form organisiert sind und ‚aufwärts‘ wirken, die Bestandteile des Systems für ihr Weiterbestehen das System benötigen (precariousness) und das System über Adaptivität verfügt (vgl. Kapitel 9.1.2). Freiheit und (eine spezifische) Identität sind also eng miteinander verknüpft: „It is the individuality or selfhood of the organism that links freedom […] in the living world […]“416 , meint Thompson. Auch diese enge Verknüpfung von Identität und Freiheit ist eine erstaunliche Gemeinsamkeit von Enaktivismus und transzendentaler Subjektphilosophie. In Bezug gesetzt zu enaktiven Überlegungen zu adaptiver Autonomie gewinnt nun auch die Krings’sche Idee, dass Freiheit durch ihre Selbstwahl wirklich wird, neue Plausibilität. Zwar gilt auch hier wiederum, dass die lebende Zelle sich nicht selbst erschaffen hat und in diesem Sinne deshalb nicht Ursprung ihrer selbst ist. Aber sie erhält durch ihre eigene Aktivität die Aktivität ihrer Teilprozesse und damit ihre eigene Identität beständig aufrecht, was wiederum dazu führt, dass ihr selbstdeterminiertes (also unbedingtes im Sinne von nicht durch ihre Bestandteile

414 Thompson: Mind, 150. 415 Thompson: Mind, 152. 416 Thompson: Mind, 152.

407

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

determiniertes) Handeln auch in Zukunft möglich ist. Man kann diesen Vorgang durchaus so umschreiben, dass eine freie Instanz sich selbst als eine Instanz, die zur Freiheit fähig ist, affirmiert oder, verkürzt, dass Freiheit sich selbst wählt (vgl. Krings in Kapitel 8.2.2). Dem entspricht, dass nach Jonas mit dem Leben selbstursprüngliche Identität und Freiheit in die Welt kam.417 Unter Freiheit „im Primärmodus organischer Freiheit“418 versteht er die Fähigkeit zum Stoffwechsel, d. h. die Fähigkeit, den ‚Stoff ‘ zu wechseln und dabei die Form beizubehalten. Die Form, nicht seine stoffliche Substanz bzw. die ihm zu Grunde liegende Materie, ist es nach Jonas, die die Identität eines Organismus ausmacht. Der Organismus falle zwar im Augenblick mit der faktischen Ansammlung seiner Materialien zusammen, sei aber in der Folge der Augenblicke an keine einzelne dieser Ansammlungen gebunden, sondern nur an deren Form, „die er selber ist: abhängig von ihrer Verfügbarkeit als Material, ist er unabhängig von ihrer Selbigkeit als diese; seine eigene funktionale Identität fällt nicht mit ihrer substanzialen Identität zusammen.“419 Die Grundfreiheit des Organismus besteht deshalb in einer gewissen Unabhängigkeit der Form von ihrem eigenen Stoff. Die Form sei, so Jonas, „zum Wesen und der Stoff zum Akzidens geworden.“420 Die Eigenständigkeit der lebendigen Form zeige sich, so Jonas, primär darin, „daß sie ihren stofflichen Bestand nicht ein für alle mal hat, sondern ihn in ständigem Aufnehmen und Ausscheiden mit der umgebenden Welt austauscht – und dabei sie selbst bleibt.“421 Thompson bekräftigt diese Sichtweise auch für den Enaktivismus: „Yet its [the organisms] identity cannot be based on the constancy of matter because its material composition is constantly renewed […]. Only at the level of form or pattern can we find constancy in the flux.“422 Auf diese Grundfreiheit des Organismus können nach Jonas höhere Stufen der Freiheit aufbauen, sie bildet den Keim für weitere Freiheitsgrade.423 Der Rede von der ‚Form‘ bei Jonas entspricht im Enaktivismus die Idee der operationalen Geschlossenheit und auch die Annahme, dass die Abwärtskausalität im Modus der causa formalis wirkt. Und auch der Enaktivismus kennt die Idee, dass oberhalb der Ebene der zellulären Autopoiesis weitere Ebenen von Autonomie entstehen, die die untergeordneten Ebenen integrieren (vgl. Kapitel 9.1.4).

417 418 419 420 421 422 423

Vgl. zum ganzen Absatz: Jonas: Organismus, 124–134. Jonas: Organismus, 132. Jonas: Organismus, 125. Jonas: Organismus, 125. Jonas: Organismus, 127. Thompson: Mind, 151. Vgl. Jonas: Organismus, 131.

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

In der beschriebene Vorstellung, dass die Grundfreiheit des Organismus in einer gewissen Unabhängigkeit der Form von der Materie besteht, zeigt sich eine weitere bemerkenswerte Parallele zu den transzendentallogischen Überlegungen von Krings. Denn Krings definiert die menschliche Freiheit als zugleich material bedingt und formal unbedingt, wobei er die formale Unbedingtheit dem transzendentalen Ich, d. h. dem Fundamentum, zuschreibt (vgl. Kapitel 8.2.2). Die materiale Bedingtheit führt er darauf zurück, dass das Fundamentum, um wirklich zu sein, materialer Gehalte bedarf, auf die als Terminus hin es sich öffnen kann (vgl. Kapitel 8.2.2). Die Definition als material bedingt und formal unbedingt passt allerdings ebenso gut auch auf den Begriff organismischer Freiheit von Jonas, der seinerseits von Thompson zur Interpretation der Autonomie im Enaktivismus herangezogen wird. Die Vorstellung der materialen Bedingtheit ist in den Ansätzen von Krings und Jonas zwar inhaltlich unterschiedlich gefüllt, hinsichtlich dessen, was beide mit der Formulierung formal unbedingt meinen, besteht aber eine hohe Übereinstimmung: eine freie Entität, die ihre eigene Identität in gewisser Unabhängigkeit von der materiellen Grundlage als freie Entität stets aufs neue affirmiert und aufrechterhält (s. o.). Und noch eine bemerkenswerte Parallele fällt auf: Nach der Auffassung des Enaktivismus erschließt sich die Welt dem Organismus nur in Relation zu seiner eigenen Identität und sie erschließt sich ihm nur durch seine eigene selbstdeterminierte (Abwärtskausalität beinhaltende) Aktivität. Denn Kognition ist die aktive Kopplung des Organismus mit seiner Umwelt zum Zweck der Aufrechterhaltung seiner Identität (vgl. Kapitel 9.1.2). Kognition ist wahrnehmungsgeleitetes Handeln. Zur Umwelt des Organismus wird etwas nur, wenn es eine Relevanz für das Bestreben des Organismus hat, seine Identität aufrechtzuerhalten, und er deshalb entsprechende Handlungen vollzieht. Thompson erläutert: „In establishing a pole of internal identity in relation to the environment, the autopoietic process brings forth, in the same stroke, what counts as other, the organism’s world.“424 Mit Jonas kann man diesen Zusammenhang so deuten, dass die spezifische Art von selbstursächlicher Identität, die lebendigen Organismen eignet, der Grund dafür ist, dass der Organismus in der Lage (aber auch darauf angewiesen) ist, sich selbst auf die Welt hin zu transzendieren.425 Dadurch sei das Leben „zur Welt hingewandt in einem besonderen Bezug von Angewiesenheit und Vermögen.“426 In der „Selbsttätigung der Stoffzufuhr“, so Jonas, stifte das Leben „von sich aus ständig Begegnung, aktualisiert es die Möglichkeit der Erfahrung […].“427 „Das Welt-Haben, also die

424 425 426 427

Thompson: Mind, 153. Vgl. Jonas: Organismus, 133. Jonas: Organismus, 133. Beide Zitate: Jonas: Organismus, 133.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Transzendenz des Lebens“, so Jonas, „[…] ist tendenziell schon mit seiner organischen Stoff-Bedürftigkeit gegeben, die ihrerseits in seiner formhaften Stoff-Freiheit gründet.“428 Die Parallele zu Krings, der erläutert, dass Erkennen nur dadurch möglich wird, dass das Fundamentum sich aktiv für einen Gehalt öffnet, der dieses sich Öffnen als Transzendenz bezeichnet und ihm ein Unbedingtheitsmoment zuschreibt, ist offensichtlich. Die freie Aktivität des Subjekts ist also sowohl nach Krings als auch nach Auffassung des Enaktivismus konstitutiv für das Erkennen. Zweifel an der Annahme, dass die Existenz eines adaptiven autonomen Systems tatsächlich eine basale Form von Freiheit ermöglicht, könnten allerdings durch die Frage danach aufkommen, in welchem Verhältnis die Identität des adaptiven autonomen Systems zu seiner Aktivität steht. Wird die Aktivität des Systems nicht durch seine mikrophysikalischen Bestandteile sondern von seiner Identität als Makrosystem determiniert, so enthält diese basale Form von Freiheit jedenfalls keine alternativen Entscheidungsmöglichkeiten. Von Willensfreiheit in einem starken libertarischen Sinn kann auf der Ebene eines solchen Systems also (noch) keine Rede sein. 9.6.2

Konvergenzen zum Thema Bewusstsein

Bei der Auseinandersetzung mit Krings und den ihn rezipierenden Theolog:innen stellte sich in Kapitel 8 die Frage nach dem Verhältnis von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit innerhalb der entsprechenden Theorien. Dieselbe Frage stellt sich auch im Hinblick auf den Enaktivismus. Denn dieser geht interessanterweise ebenso wie die transzendentale Freiheitsphilosophie im Anschluss an Krings davon aus, dass die endogene (adaptive, autonome) Aktivität (= eine basale Form von Freiheit), (die bei bestimmten komplexen dynamischen Systemen, nämlich bei vielzelligen Organismen mit Nervensystem, auftritt,) in engem Zusammenhang zu präreflexivem Selbstbewusstsein steht (vgl. Kapitel 9.2). Wie dieser Zusammenhang im Enaktivismus genau zu bestimmen ist, soll im Folgenden rekapituliert und in Bezug dazu gesetzt werden, wie die transzendentale Freiheitsphilosophie denselben Zusammenhang bestimmt. Es wird sich dabei zeigen, dass dieselben Probleme, welche die Transzendentalphilosophie mit der Erklärung von Bewusstsein hat, auch beim Enaktivismus auftreten. Wie das Kapitel 9.2 gezeigt hat, sind die Enaktivist:innen sich nicht einig hinsichtlich der Frage, wie Bewusstsein entsteht. Gemäß der Theorie des Vergleichsmechanismus geht die Aktivität des Organismus dem präreflexiven Selbstbewusstsein voraus und ruft es hervor. Das gilt zumindest für die Vergleichsmechanismen, bei

428 Beide Zitate: Jonas: Organismus, 133.

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

denen die nach der Aktivität eingehenden sensorischen Signale mit den vorhergehenden motorischen Signalen oder den daraus vorhergesagten sensorischen Inputs verglichen werden. Eine vergleichbare These findet man in der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins (vgl. Kapitel 6.1), gemäß der ein sich seiner selbst nicht bewusstes Subjekt durch Reflexion auf sich selbst ein Bewusstsein von sich erlangen soll. Wie sich bei Krings (und Fichte) der Zirkel der Reflexionstheorie aber auf transzendentaler Ebene wiederholt (vgl. Kapitel 6.2 und 8.3), wiederholt sich bei dem postulieren Vergleichsmechanismus der Zirkel der Reflexionstheorie auf neuronaler Ebene. Ist die mit der Motorik verbundene neuronale Aktivität nicht schon von vornherein von Bewusstsein begleitet, warum sollte sie dann dadurch bewusst werden, dass eine anderen nicht bewusste neuronale Aktivität (hervorgerufen durch sensorische Reize) zu ihr in Beziehung gesetzt wird? Warum sollte aus dem nicht bewussten Verhältnis zweier neuronaler Zustände zueinander Bewusstsein entstehen? Diese Frage wird dadurch nicht leichter zu beantworten, dass man davon ausgeht, dass der eine neuronale Zustand durch den anderen hervorgerufen wurde. Darüber hinaus betreffen die genannten Fragen auch den Vergleichsmechanismus, bei dem vor der motorischen Aktivität der intendierte sensorische Zustand mit dem auf Grund der motorischen Befehle vorausberechneten sensorischen Zustand verglichen wird. Welche Parallelen zur transzendentalen Subjektphilosophie finden sich in der Hypothese von Di Paolo zur Entstehung von Bewusstsein? Di Paolo geht davon aus, dass Prozesse der Auswahl, Initiierung und Kontrolle von sensomotorischen Schemata in sensomotorisch autonomen Systemen mit einem präreflexiven Bewusstsein des Organismus von sich als Akteur einhergehen bzw. damit verbunden sind (vgl. Kapitel 9.2). Er geht außerdem davon aus, dass die genannten Prozesse deshalb mit Bewusstsein verbunden sind, weil im System sensomotorische adaptive Autonomie vorliegt, d. h. das Vorliegen von Bewusstsein hat mit der spezifischen Identität des Systems zu tun. Es liegt nahe, dies so zu interpretieren, dass die Aktivität des Systems (zur Aufrechterhaltung der Identität) Bewusstsein verursacht und deshalb mit Bewusstsein einhergeht. Di Paolo würde damit in gewisser Weise die These Fichtes und Krings‘ von der Selbstsetzung des (bewussten) Ich teilen. Üblicherweise könnte man eine solche Übereinstimmung unterschiedlicher Perspektiven als ein Indiz für die Richtigkeit der entsprechenden These ansehen. Leider richten sich die Argumente, die gegen Fichtes und Krings‘ These Gültigkeit haben, aber auch gegen Di Paolos Hypothese. Di Paolos Annahme, dass ein sensomotorisch adaptiv autonomes System ein bewusstes Subjekt ist, weil alles, was es tut, eine Relevanz für das Weiterbestehen der eigenen Identität hat, übt intuitiv betrachtet eine große Anziehungskraft aus und wirkt plausibel. Andererseits trifft der Zirkeleinwand Di Paolos Hypothese ebenso wie die Theorien Fichtes und Krings. Zielgerichtetheit und Intentionalität mag die Theorie der adaptiven Autonomie noch erklären, aber für die Erlebnisperspektive, also für die Phänomenalität von

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Bewusstsein gelingt ihr dies nicht: Ist Bewusstsein nicht ursprünglich vorhanden, könnte man Di Paolo entgegen halten, vermag auch noch so viel selbstreferenzielle Aktivität es nicht zu erzeugen. Der umgekehrte Vorschlag Striets, davon auszugehen, dass das präreflexive Selbstbewusstsein Bedingung der immanent reflexen Transzendenz, also Bedingung der Aktivität ist, weil die Aktivität sich an der Vertrautheit mit sich selbst entzündet (vgl. Kapitel 8.4), findet im Enaktivismus keine Parallele. Aus der Perspektive des Enaktivismus ist der Vorschlag wenig plausibel, weil die Theorie der adaptiven Autonomie (Aktivität) ohne die Annahme von Bewusstsein im Sinne einer Erlebnisperspektive auskommt. Die Möglichkeit einer alternativen Deutung der Überlegungen Di Paolos ergibt sich, wenn man Di Paolo durch die Brille von Lerch liest. Die Ausführungen Lerchs lassen zwei mögliche Interpretationen offen (vgl. Kapitel 8.5). Gemäß der ersten Interpretation sind immanent reflexe Transzendenz (= Aktivität) und präreflexives Selbstbewusstseins gleichursprünglich in dem Sinne, dass es sich um zwei inkommensurable Perspektiven auf ein und dieselbe zu Grunde liegende ontologische Entität handelt, die sich aus diesen beiden Perspektiven wie in einem Vexierbild zeigt. Eine Wechselwirkung zwischen beiden Perspektiven findet logischerweise nicht statt, denn Perspektiven wechselwirken nicht miteinander. Davon, dass die immanent reflexe Transzendenz in die Struktur des präreflexiven Selbstbewusstseins eingesetzt ist, wie Lerch meint, kann man dann allerdings maximal in einem metaphorischen Sinne sprechen. Insofern hier eine Wechselwirkung zwischen zwei unterschiedlichen Entitäten suggeriert wird, gibt diese Formulierung aber eher Anlass zu Missverständnissen. Von Gleichursprünglichkeit kann man dann nicht in dem Sinne sprechen, dass zwei Entitäten sich wechselseitig verursachen. Gleichursprünglich sind immanent reflexe Transzendenz und präreflexives Selbstbewusstsein hier in dem Sinne, dass wenn die eine Perspektive möglich ist, weil die zu Grunde liegende Entität vorliegt, logischerweise auch die andere Perspektive möglich sein muss. Gemäß der zweiten Interpretation (vgl. Kapitel 8.5) sind die immanent reflexe Transzendenz und das präreflexive Selbstbewusstsein zwei voneinander unterschiedene, aus unterschiedlichen Perspektiven zugängliche Entitäten, von denen die eine jeweils die andere als Ursache voraussetzt und die zusammen das präreflexive Ich bilden. D. h. es findet eine Wechselwirkung zwischen beiden Entitäten statt. Gleichursprünglich sind die beiden Entitäten, weil die eine Ursache der anderen ist und umgekehrt. Di Paolos Hypothese zur Entstehung von Bewusstsein lässt sich am ehesten mit der ersten Interpretation der Ausführungen Lerchs in Übereinstimmung bringen. Di Paolos Hypothese liefert demnach letztlich deshalb keine befriedigende Erklärung für die Entstehung von Bewusstsein, weil es sich bei der Perspektive, aus der sich sensomotorische adaptive Autonomie zeigt, und der Perspektive, aus

Enaktivismus und transzendentale Subjektphilosophie nach Fichte und Krings: Konvergenzen

der sich Bewusstsein zeigt, um inkommensurable Perspektiven handelt. Sensomotorische adaptive Autonomie und Bewusstsein sind nicht zwei voneinander unterschiedene Entitäten, sondern zwei Wissensperspektiven auf ein und dieselbe zu Grunde liegende ontologische Entität. Weder verursacht die sensomotorische adaptive Autonomie Bewusstsein noch verursacht präreflexives Selbstbewusstsein sensomotorische adaptive Autonomie. Gleichursprünglich sind beide Wissensperspektiven insofern als dass präreflexives Selbstbewusstsein gegeben ist, immer wenn sensomotorische adaptive Autonomie vorliegt, und umgekehrt. Wenn das sensomotorische Subjekt durch seine eigene Aktivität seine Identität aufrechterhält, hält es deshalb auch sein Bewusstsein aufrecht, das mit dieser Aktivität einhergeht. Mit Tewes kann man diesen Vorgang, anders als Fichte, der ihn als Selbstsetzung des Ich und damit als ontologische Selbsterzeugung des Ich deutet,429 als „Aktualisierung eines (egologisch verfassten) Mit-Bewusstseins einer Tätigkeit“430 verstehen. Bewusstsein erschließt sich auch unter enaktiven Denkvoraussetzungen der naturwissenschaftlichen Perspektive nicht, Kognition, Zielgerichtetheit und Intentionalität allerdings schon. Einen Fortschritt gegenüber dem von Habermas postulierten Perspektivendualismus stellt die auf diese Weise gedeutete Hypothese Di Paolos deshalb durchaus dar. Sie erklärt aus naturwissenschaftlicher Perspektive, wie eine sehr basale Form von Freiheit, Zielgerichtetheit und Intentionalität möglich wird und sie definiert klar, welche Bedingungen auf organismischer Ebene vorliegen müssen, damit Bewusstsein auftritt. Dass die Hypothese Di Paolos, dass die adaptive sensomotorische Autonomie Bewusstsein erklärt, intuitiv plausibel erscheint, obwohl es aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich keine zufriedenstellende Erklärung ist, kann daran liegen, dass der Mensch Bewusstsein aus der Innenperspektive bzw. der eigenen Erfahrung kennt und dies sein Urteil aus der naturwissenschaftlichen Außenperspektive beeinflusst. Dass die Organisationsform von Organismen geeignet ist, Bewusstsein hervorzubringen, ist dementsprechend, wie Jonas meint, „offenkundig […] nur für einen Geist, der selber organisches Dasein genießt, oder für ein körperliches Subjekt, und ist gänzlich unsichtbar für einen körperlosen Intellekt, wenn konfrontiert mit einer res extensa, die (nach dualistischer Prämisse) nichts als diese ist.“431 Die von Pröpper, Striet und Lerch unternommenen argumentativen Anstrengungen (vgl. Kapitel 8) dienen letztlich dem Ziel, weiterhin an der Annahme von der menschlichen Freiheit festhalten zu können, indem diese vor einer Reduktion bewahrt wird. Die Bewusstseinsphilosophie Henrichs droht, die menschliche Freiheit auf die Heteronomie durch ein anonymes überindividuelles Bewusstsein

429 Vgl. Tewes: Libertarismus, 361. 430 Tewes: Libertarismus, 361. 431 Jonas: Organismus, 141.

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

zu reduzieren (vgl. Kapitel 8.4.2). Naturwissenschaftliche Versuche, Bewusstsein zu erklären, in Kombination mit einem reduktionistischen Naturalismus drohen, die menschliche Freiheit auf die Heteronomie durch anonyme deterministische Naturzusammenhänge zu reduzieren. Gegen beide Tendenzen wenden sich die drei Theologen mit ihren Überlegungen im Anschluss an Krings. Die Enaktivist:innen verfolgen mit einer sehr ähnlichen, wenn auch nicht transzendentalen Denkfigur dasselbe Anliegen. Möglicherweise kann so gerade der Enaktivismus als ein Ansatz, der sich als (auch) naturwissenschaftlich versteht, die Freiheitsphilosophie davon entlasten bzw. eine Alternative dazu darstellen, der naturalistischen Reduktion die Freiheit über transzendentale Winkelzüge abtrotzen zu müssen. Denn völlig unabhängig davon, welche Rolle das Bewusstsein dabei spielt, verankert der Enaktivismus Freiheit (oder zumindest eine sehr basale Form davon) innerhalb einer (auch) naturwissenschaftlichen Theorie. Aus Sicht der theologischen Freiheitsphilosoph:innen hatte es den Anschein, als stünde eine naturalistische Reduktion des Bewusstseins kurz bevor, so dass das Freiheitmoment letztlich einer Rechtfertigung unabhängig von einer eventuellen reduktionistischen Erklärung von Bewusstsein bedurfte. Durch das Einbeziehen der Überlegungen des Enaktivismus hat sich die argumentative Lage umgekehrt: Für die Entstehung des Bewusstseins gibt es auch im Enaktivismus keine vollständig zufriedenstellende naturwissenschaftliche Erklärung. Stattdessen liefert der Enaktivismus aber (in Ansätzen) eine solche Erklärung für die menschliche Freiheit – ohne die Freiheit dadurch auf Heteronomie zu reduzieren. Der Terminus ‚Erklärung‘ meint allerdings in diesem Zusammenhang keine reduktive Erklärung, denn diese würde das Phänomen Freiheit eliminieren. Mit Erklärung ist hier gemeint, dass konkrete empirische Bedingungen angegeben werden können, unter denen Freiheit möglich wird. Der heuristische Wert transzendentallogischer Analysen wird durch die Suche nach den empirischen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit nicht geschmälert. Vielmehr zeigen sie erst an, wonach zu suchen ist. Zugleich überschreitet natürlich der Versuch, empirische Ermöglichungsbedingungen von Freiheit zu finden, die Grenzen der transzendentallogischen Methode. Wenn man aber mit Habermas davon ausgeht, dass die menschliche Freiheit nicht ‚vom transzendentalen Himmel gefallen‘ oder der Mensch ein ‚Bürger zweier Welten‘ ist – einer transzendentalen und einer empirischen –, sondern im Laufe einer Naturgeschichte, die die Biologie als Evolution beschreibt, entstanden ist, führt an dem Versuch der Detranszendentalisierung der transzendentallogisch gefundenen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit kein Weg vorbei. Keineswegs bestritten werden soll damit allerdings, dass zwischen der basalen Form von Freiheit, für die der Enaktivismus eine Erklärung anbietet bzw. dafür konkrete Bedingungen beschreibt, und der libertarischen Vorstellung von Willensfreiheit, zu der auch alternative Entscheidungsmöglichkeiten unter gleichen

Enaktivismus vs. Quantenphysik: zwei Varianten von Willensfreiheit durch starke Emergenz

Bedingungen gehören, doch ein recht großer Unterschied besteht. Die basale Form von Freiheit, von der der Enaktivismus spricht, ist also tatsächlich nur eine Bedingung der Möglichkeit von Willensfreiheit, aber nicht schon mit dieser identisch.

9.7

Enaktivismus vs. Quantenphysik: zwei Varianten von Willensfreiheit durch starke Emergenz

Innerhalb der vorliegenden Arbeit wurden zwei Möglichkeiten diskutiert, Willensfreiheit auf eine Art und Weise zu denken, die nicht im Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen steht und keinen ontologischen Dualismus voraussetzt. Zu beiden Varianten gehören die Annahmen von starker Emergenz und Abwärtskausalität, wobei starke Emergenz, wie in Kapitel 5.7.3 erläutert, als ein epistemisches und nicht als ein ontologisches Konzept (also in dem Sinne, dass die emergenten Eigenschaften prinzipiell epistemisch irreduzibel sind und hinsichtlich der ontologischen Reduzibilität keine Festlegung erfolgt) verstanden werden muss. Beide Varianten sind mit einem physikalischen Determinismus im Sinne eines Mikrodeterminismus nicht vereinbar. Bei beiden Varianten bietet es sich an, (mit Habermas) von einem Perspektivendualismus auszugehen, der plausibilisiert, warum es aus naturwissenschaftlicher Perspektive weder eine vollständige Erklärung für das Emergieren von Bewusstsein aus seiner biologischen Basis gibt noch mentale Einwirkungen auf Gehirnprozesse nachweisbar sind. Die erste, in Kapitel 4.6 beschriebene Variante setzt darauf, dass es im Gehirn indeterminierte quantenphysikalische Prozesse gibt, auf die der aus den Gehirnprozessen emergierte Geist durch Abwärtskausalität einwirken und so Entscheidungen determinieren kann. Diese Einwirkung ist naturwissenschaftlich nicht nachweisbar. Naturwissenschaftlich erscheinen die entsprechenden quantenphysikalischen Vorgänge im Gehirn vom Zufall bestimmt zu sein. Auch wenn über den genauen Modus, wie der Geist auf Quantenereignisse im Gehirn wirkt, wegen des Perspektivendualismus eigentlich gar nichts gesagt werden kann, scheint es doch so, dass die Vorstellung einer lokalen Einwirkung im Modus der causa efficiens hier Modell steht. Diese Variante, Willensfreiheit zu denken, ist durch ein weitreichendes Zugeständnis an den Physikalismus gekennzeichnet: Man geht davon aus, dass annähernd überall in der Natur (wie sie sich der Beobachter:innenperspektive erschließt) ausschließlich Kausalität wirksam ist, die letztlich stets auf ihre physikalische Basis reduzierbar ist, weil Wirkungen allein von der mikrophysikalischen Basis ausgehen. Einzig im Fall des menschlichen Gehirns emergiert aus diesem komplexen physikalischen Makrosystem Bewusstsein als Eigenschaft dieses Systems, die durch Abwärtskausalität mikrophysikalische Ereignisse ihre Basis beeinflussen kann. Was genau auf der physikalischen Seite die Bedingungen dafür sind, dass Bewusstsein emergiert, wird über die Aussage hinaus, dass ein komplexes physikalisches System

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

vorliegen muss, für welches das menschliche Gehirn ein Beispiel ist, nicht genauer spezifiziert. Zwischen der Organisationsebene des komplexen physikalischen Makrosystems Gehirn und der Ebene der Quantenereignisse im Gehirn dürften zudem diverse organisatorische Zwischenebenen zu verorten sein. Diese muss das Bewusstsein als Eigenschaft eines physikalischen Makrosystems bei der Einwirkung auf seine mikrophysikalische Basis schlicht überspringen: Das Makrosystem Mensch muss mittels seines Bewusstsein, das eine Eigenschaft seines Makrosystems Gehirn ist, lokal auf mikrophysikalische Quantenereignisse im Gehirn einwirken, damit Willensfreiheit möglich wird. Der Perspektivendualismus ermöglicht es zwar, dies ohne Widerspruch zu denken, die beiden Perspektiven klaffen hier aber sehr stark auseinander. In der enaktiven Variante zur Plausibilisierung von Willensfreiheit (vgl. Kapitel 9.3) divergieren die beiden Perspektiven viel weniger auseinander. Irreduzible Abwärtskausalität von Makroobjekten im Modus der causa formalis, Teleologie und Intentionalität werden in die naturwissenschaftliche Perspektive integriert. Sie treten zudem überall in der belebten Natur auf und zwar unter der Bedingung, dass ein adaptives autonomes System vorliegt. Dass ein solches biologisches Makrophänomen (wie z. B. der Mensch) seine Systembestandteile zielorientiert, irreduzibel steuert, ist demnach eine Sichtweise, für die es keines Perspektivendualismus bedarf, sondern eine naturwissenschaftliche Hypothese.432 Organismen können naturwis-

432 Dass zwischen der Ebene der anorganischen und der organischen Natur ein Verhältnis starker Emergenz herrscht, in dem Sinne, dass die Abwärtskausalität des autonomen, zellulären Gesamtsystems nicht auf seine mikrophysikalischen Komponenten reduzibel ist, wird allerdings nur zum Teil durch den habermas’schen Perspektivendualismus plausibilisiert. Zum Teil plausibilisiert der habermas’sche Perspektivendualismus die ‚Erklärungslücke‘ dieser Emergenzstufe dadurch, dass die Physik die Natur auch nur perspektivisch beschreibt, aber nicht wie sie ‚an sich‘ ist: Weil die Emergenzbasis nicht ausschließlich physikalisch ist, können die emergenten Eigenschaften auch nicht auf eine physikalische Basis reduziert werden. Die ‚Erklärungslücke‘ beim Emergieren des Bewusstseins kann mit Habermas aber zusätzlich dadurch plausibilisiert werden, dass zum Bewusstsein auch die Teilnehmer:innenperspektive gehört, die aber ihrerseits Voraussetzung dafür ist, dass die Beobachter:innenperspektive überhaupt möglich ist, was wiederum dazu führt, dass Bewusstsein (und sein Wirken) nicht vollständig auf die Objektseite der Beobachter:innenperspektive gebracht werden kann. Diese Erklärung funktioniert im Hinblick auf die starke Emergenz, durch welche die organismische Freiheit entsteht, nicht, weil es auf der Ebene der organismischen Freiheit noch keine Teilnehmer an Kommunikationsprozessen und entsprechend auch keine Teilnehmer:innenperspektive gibt. In Analogie zur Plausibilisierung der ‚Erklärungslücke‘ bei der Emergenz von Bewusstsein könnte man aber Folgendes mutmaßen: Vielleicht könnte man die ‚Erklärungslücke‘ auf der Ebene der Emergenz organismischer Freiheit dadurch plausibilisieren, dass auch diese basale Form von Freiheit eine Voraussetzung bzw. Bedingungen der Möglichkeit der Beobachter:innenperspektive ist, so dass auch diese Form von Freiheit nicht vollständig auf die Objektseite der Beobachter:innenperspektive gebracht werden kann.

Enaktivismus vs. Quantenphysik: zwei Varianten von Willensfreiheit durch starke Emergenz

senschaftlich als zielgerichtet handelnde Akteure beschrieben werden. Auch eine basale Form von Freiheit (die sicherlich nicht mit menschlicher Willensfreiheit, die die Fähigkeit zum Abwägen von Gründen voraussetzt, gleichzusetzen ist), nämlich die Fähigkeit adaptiver, autonomer Systeme, durch zweckorientiertes Handeln die eigene Identität aktiv aufrechtzuerhalten, ist aus der naturwissenschaftlichen Perspektive zugänglich. Das Vorhandensein eines adaptiven autonomen Systems ist auch die Bedingung – wenn auch keine vollständige naturwissenschaftliche Erklärung – dafür, dass Bewusstsein entsteht. Die naturwissenschaftlichen Bedingungen dafür, dass Willensfreiheit möglich ist, werden also wesentlich konkreter definiert als in der quantenphysikalischen Variante zur Plausibilisierung von Willensfreiheit. Wie das Bewusstsein Einfluss auf die empirisch erforschbaren Prozesse hat, kann wegen des Perspektivendualismus naturwissenschaftlich nicht erkannt werden. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive hat das Bewusstsein schlicht keinen Einfluss sondern das Geschehen zeigt sich als weder mikrophysikalisch noch als makrophysikalisch vollständig determiniert. Das Geschehen wird aus naturwissenschaftlicher Sicht von Naturgesetzen und dem Zufall bestimmt. Gesteht man aber auch der Teilnehmer:innenperspektive zu, die Wirklichkeit in irgendeiner (nicht repräsentationalen) Weise realistisch zu erfassen, dann muss man davon ausgehen, dass irgendetwas in bzw. an dem den Perspektiven auf metaphysischer Ebene zu Grunde liegenden Lebewesen dafür sorgt, dass das, was uns aus der Teilnehmer:innenperspektive als Bewusstsein erscheint, einen Einfluss auf das Lebewesens hat, wie es sich der Beobachter:innenperspektive erschließt. Will man das Wissen aus Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive in einer Metanarration zusammenführen, bleibt einem, weil unser Denken dennoch an die Logik der Perspektiven gebunden bleibt, schlicht nichts anderes übrig als entsprechend der Logik der Beobachter:innenperspektive davon zu sprechen, dass das Bewusstsein auf das biologische System einwirkt. Man muss das Bewusstsein und das biologische System also konzeptuell wie metaphysische Entitäten behandeln, die aufeinander einwirken, obwohl weder das Bewusstsein noch das biologische System Entitäten sind, die in dieser Weise auf der metaphysischen Ebene existieren, denn es handelt sich ja nur um unterschiedliche Beschreibungsweisen derselben metaphysischen Entität. Das Problem dieses nur scheinbaren ontologischen Dualismus, der sich zwangsläufig bei dem Versuch ergibt, nach der Einheit hinter dem Perspektivendualismus zu fragen, tritt auch bei der quantenphysikalischen Variante zur Plausibilisierung von Willensfreiheit auf. Die Kluft zwischen den beiden Perspektiven ist bei der enaktiven Variante allerdings auch noch aus einem weiteren Grund wesentlich schmaler: Wie auch immer man sich die Einwirkung des Bewusstseins auf die physischen Prozesse vorstellen mag, man ist nicht gezwungen anzunehmen, dass das Bewusstsein als Eigenschaft eines physischen Makrosystems über alle Komplexitätsebenen dieses Systems hinweg direkt auf seine mikrophysikalischen Bestandteile bzw. quantenphysikalischen

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Enaktivismus, präreflexives Selbstbewusstsein und Willensfreiheit 

Prozesse einwirkt. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass das Bewusstsein unmittelbar auf der Systemebene wirkt, zu der es korreliert ist, nämlich der Ebene des makrophysikalischen Gesamtsystems. In Analogie dazu, wie das Gesamtsystem auf seine Komponenten wirkt, nämlich global im Modus der causa formalis, könnte man eine solche – empirisch nicht erkennbare – Wirkweise auch für das Bewusstsein postulieren. Vermittelt über diese zu postulierende Wechselwirkung mit dem Gesamtsystem kann das Bewusstsein seine Wirkung per Abwärtskausalität auf allen Systemebenen bis hinab zu den mikrophysikalischen Komponenten entfalten. Alle diese Wechselwirkungsebenen mit Ausnahme der obersten zwischen Bewusstsein und biologischem Gesamtsystem sind nach enaktiver Vorstellung der empirischen Erforschung zugänglich. Dass über die Wirkweise des Bewusstseins auf das Gesamtsystem nur in Analogie gesprochen werden kann, liegt daran, dass es sich bei dem Bewusstsein und dem autonomen adaptiven System eigentlich gar nicht um separate Entitäten handelt, sondern nur um unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Lebewesen. Die Redeweise davon, dass das Bewusstsein auf das biologische System einwirkt, ist also mehr der Begrenztheit und Perspektivität unserer Denk- und Sprechweise geschuldet als metaphysischen Tatsachen und sagt doch etwas über die Wirklichkeit auf dieser metaphysischen Ebene aus. Unsere Denk- und Sprechweise ist für die Synthese beider Perspektiven aber eigentlich nicht geeignet. Wegen der größeren Nähe zwischen den beiden Perspektiven auf die Wirklichkeit kommt der enaktiven Modellvariante größere Plausibilität zu als der quantenphysikalischen Modellvariante. Denn je kleiner die Kluft zwischen beiden Perspektiven ist, desto einleuchtender ist die These, dass es sich bei Bewusstsein und Neurobiologie ‚nur‘ um zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit handelt und nicht um zwei unterschiedliche ontologische Entitäten oder um eine einzige Entität, die aus der naturwissenschaftlichen Perspektive vollständig und unmittelbar erschlossen wird, so dass die Teilnehmer:innenperspektive zur Illusion erklärt werden müsste. Beide Modellvarianten können den Anschein eines ontologischen Dualismus nicht ganz abstreifen, was aber gewissermaßen nur eine Nebenwirkung bzw. ein Artefakt des epistemischen Dualismus ist. Tatsächlich wird durch den epistemischen Dualismus der ontologische aber gerade vermieden. Beide Variante sind durchaus damit vereinbar, dass es für den Verlauf neurobiologischer Prozesse ein Geflecht von Wirkursachen gibt, die von den Neurowissenschaften erforscht werden können. Nach enaktiver Auffassung ist das autonome Gesamtsystem auf diese Aufwärtskausalität seiner Komponenten sogar zwingend angewiesen, um sie durch Abwärtskausalität in Dienst nehmen zu können. Auch bei der quantenphysikalischen Variante ergeben sich die neurobiologischen Prozesse nur aus dem Zusammenwirken ‚normaler‘ Wirkursachen mit der Abwärtskausalität des Bewusstseins. Beide Modellvarianten sind einzig nicht damit vereinbar, dass die Wirkursachen die neurobiologischen Prozesse determinieren.

10.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Im Folgenden werden zentrale Erkenntnisse und Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und zueinander in Bezug gesetzt, so dass sich ein Gesamtbild ergibt, das in eine Antwort auf die Frage mündet, wie libertarische Willensfreiheit unter Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gedacht werden kann. Zu Beginn dieser Arbeit (Kapitel 2) ist ein Modell von (libertarischer) Willensfreiheit erarbeitet worden, das bestimmte Prinzipien enthält, die mit dem, was sonst von der Welt gewusst wird, vereinbar sein müssen, damit man davon ausgehen kann, dass es sich bei der Willensfreiheit nicht um eine Täuschung, sondern um eine Realität handelt. Zu diesen Prinzipien gehört die Urheberschaft, d. h. die Vorstellung, dass es letztlich an der Initiative der entscheidenden Person liegt, wie sie sich entscheidet. Logisch ist mit der Urheberschaft das Prinzip des Andersentscheidenkönnens unter gleichen Bedingungen verbunden, das voraussetzt, dass tatsächlich Alternativen offen stehen und die Entscheidung nicht determiniert ist. Nicht zuletzt gehört zu dem Modell von Willensfreiheit auch das Prinzip der Selbstbestimmung, welches besagt, dass Personen ihre Entscheidungen auf der Basis von Gründen treffen, die ihre eigenen sind, insofern sie aus ihren Wünschen, Überzeugungen, Zielen und Werten erwachsen. Gründe müssen dabei einerseits von Ursachen unterschieden werden, weil sonst ein Widerspruch zur Urheberschaft und zum Andersentscheidenkönnen entsteht. Andererseits ist es auch klar, dass die Gründe selbst bedingt sein können und müssen, weil Selbstbestimmung nur dann vorliegen kann, wenn das, was eine Person zu einer Entscheidung motiviert, auch tatsächlich mit dieser konkreten Person, ihrer Biographie und Leiblichkeit zu tun hat. Bedingtheiten können deshalb zugleich als ermöglichende Bedingungen von Willensfreiheit verstanden werden. Weil Gründe nur im Zuge bewusster Überlegungen auftreten, kann es außerdem Willensfreiheit nur geben, wenn der Willensbildungsprozess bewusste Überlegungen beinhaltet. Damit eine Entscheidung als (willens-)frei angesehen werden kann, muss zuvor eine bewusste Überlegung stattgefunden haben oder es muss zumindest die bewusste Entscheidung getroffen worden sein, in diesem Fall keine Überlegungen anzustellen.1 Nachfolgend wurden (in Kapitel 3) die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Experimente der Hirnforschung bezüglich der neuronalen Grundlagen des Bewusstseins, des Ich, der Willensbildung und der Handlungsinitiierung erläutert, auf deren Basis die Hirnforscher Gerhard Roth, Wolf Singer und Wolfgang Prinz zu der Schlussfolgerung kommen, dass Willensfreiheit, die dem beschriebenen Modell

1 Vgl. Habermas: Freiheit, 160.

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

entspricht, nur eine Illusion sein kann. Die drei Hirnforscher gehen davon aus, dass sich sämtliche geistigen Phänomene zukünftig naturwissenschaftlich erklären lassen werden. Die Schlussfolgerung bezüglich der Willensfreiheit stützt sich im Wesentlichen auf zwei Argumente: (1) Zum einen gelten die Forschungsergebnisse den Hirnforschern als ausreichende Belege dafür, dass das Wollen und Handeln des Menschen vollständig durch naturgesetzliche Kausalzusammenhänge determiniert sei, unabhängig davon, ob es auf bewusste Abwägungsprozesse zurückgeht oder durch unbewusste Gehirnvorgänge verursacht wird. Weil die Hirnforschung, so das Argument, anhand vielfältiger Experimente zeigen kann, dass Entscheidungen auf der Basis neuronaler Prozesse zu Stande kommen, die (angeblich) wie alle anderen Prozesse in der Natur auch nach deterministischen Naturgesetzen verlaufen, kann es Willensfreiheit nicht geben (vgl. Kapitel 3.3). (2) Zum anderen wird besonders von Roth auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse die Auffassung vertreten, dass der Wille überwiegend von unbewussten Hirnprozessen bestimmt werde, selbst dann, wenn die entscheidenden Personen den Eindruck haben, sich bewusst für etwas entschieden zu haben. Der Wille sei in erster Linie das Resultat unbewusster Hirnprozesse, nicht das Ergebnis bewusster Abwägungen. Der Wille werde von unbewussten Hirnzentren kontrolliert, das bewusste Ich entscheide nichts. (vgl. Kapitel 3.3). Geht man davon aus, dass wenigstens eine dieser Annahmen in adäquater Weise die Wirklichkeit beschreibt wie sie tatsächlich ist, ist es in der Tat nicht möglich, an der Realität der Willensfreiheit festzuhalten, denn die Argumente widersprechen den Prinzipien der Urheberschaft und des Andersentscheidenkönnens. Legen Naturgesetze eine Entscheidung schon im Vorhinein fest, gibt es keine Entscheidungsalternativen und das Ich hat schlicht nichts zu entscheiden. Auch die Unterscheidung von Ursachen und Gründen wird unmöglich, denn Gründe sind nichts anderes als neuronale Zustände. Unterliegt der Wille nicht der bewussten Kontrolle, so mag es zwar Gründe geben, aber der Wille ist nicht durch Gründe, sondern durch Ursachen bestimmt, denn Gründe kann es nur im Bereich bewusster Überlegungen geben. Die einzige mit Willensfreiheit vereinbare Bestimmtheit des Willens ist aber die durch Gründe (vgl. Kapitel 2.2). Weil die Theorie die Praxis nicht unberührt lassen kann, müsste diese Erkenntnis einschneidende Veränderungen im Bereich des Strafrechts wie auch im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen nach sich ziehen. Nicht zuletzt hätte auch die christliche Theologie erhebliche Schwierigkeiten, angesichts der Leugnung der Willensfreiheit zentrale Grundbegriffe des christlichen Glaubens überhaupt noch denken zu können. Eine kritische Sichtung der empirischen Ergebnisse zeigte, dass das erste Argument, welches sich auf die naturgesetzliche Determiniertheit des neuronalen Geschehens beruft, sich nicht auf naturwissenschaftliche, empirische Erkenntnisse stützen kann. Die empirischen Ergebnisse der Hirnforschung sind nicht geeignet,

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

die Beweislast für eine durchgängige Determination des Willens durch neuronale Prozesse zu tragen. Vielmehr erklärt die Hirnforschung diese Prozesse durch ein „patchwork von deterministischen und indeterministischen Gesetzen“2 , retrospektiv mechanistischen Erklärungen und Analogien, aus denen sich auch in der Summe kein Determinismus ableiten lässt. Was das zweite Argument angeht, wurde deutlich, dass die empirischen Ergebnisse nicht so eindeutig sind wie zunächst angenommen, sondern dass die Vermutung, der Wille sei überwiegend von unbewussten Faktoren bestimmt, auf einer Über- oder Fehlinterpretation der vorliegenden empirischen Ergebnisse beruht. Nichtsdestoweniger ließ sich die Vermutung auf Grund einiger experimenteller Indizien nicht vollständig von der Hand weisen. Einstweilen kann sie allerdings nicht als empirisch bewährt betrachtet werden, zumal es auch evolutionstheoretisch wenig plausibel ist, dem Bewusstsein Wirksamkeit abzusprechen. In Kapitel 4 wurde u. a. deutlich, dass bei der These des neuronalen Determinismus nicht die empirischen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bestreitung von Willensfreiheit führen, sondern deren Deutung und entsprechende Extrapolationen vor dem Hintergrund bestimmter erkenntnistheoretischer und metaphysischer Prämissen. Die Vorstellung des neuronalen Determinismus erwächst aus dem metaphysischen, empirisch nicht belegbaren Postulat eines generellen physikalischen Determinismus. Während dieser seine Plausibilität aus den Erkenntnissen der klassischen neuzeitlichen Physik (Newton’sche Mechanik und Gravitationstheorie) bezog, die ihre Gegenstände deterministisch beschrieb und damit erfolgreich war, entzieht die moderne Quantenphysik dem physikalistischdeterministischen Weltbild diese Plausibilität, weil einzelne Quantenereignisse sich nicht deterministisch prognostizieren lassen. Unabhängig von der Quantenphysik sprechen wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Bedeutung von Naturgesetzen und zum Thema Kausalität gegen den physikalischen Determinismus. Aber auch mit einem Physikalismus, der auf die Determinismusthese verzichtet, ist libertarische Willensfreiheit nicht vereinbar, weil alle Wirkungen in der Welt theoretisch auf mikrophysikalische Ursachen zurückgeführt werden können. Weder ein ontologisch von der physikalischen Welt unterschiedener Geist (à la Descartes) noch ein komplexes makrophysikalisches System wie das menschliche Gehirn, noch ein als emergente Eigenschaft dieses Gehirns definierter Geist können auf das Weltgeschehen eine irreduzible Wirkung ausüben. Der Physikalismus ist nicht deckungsgleich mit dem Naturalismus, denn es gibt auch einen Naturalismus, der sich nicht an eine einzelne Naturwissenschaft, sondern an die Naturwissenschaften im Ganzen bindet. Zwar können gemäß dem in Kapitel 4.7 skizzierten nicht-physikalistischen Naturalismus (der Variante I)

2 Falkenburg: Mythos, 289.

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irreduzible Wirkungen nicht nur von mikrophysikalischen Ursachen ausgehen, sondern auch von den Gegenständen anderer Naturwissenschaften wie der Biologie oder der Geographie. Im Hinblick auf libertarische Willensfreiheit hilft dies aber nicht weiter, weil gemäß der (nicht-physikalistisch verstandenen) naturalistischen These von der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt alle Zustände der Welt die ausschließliche Folge aus früheren Weltzuständen und Naturgesetzen (und evtl. dem Zufall) sind (Variante Ia) und/oder Teleologie für die Abfolge von Weltzuständen irrelevant ist (Variante Ib). Für den Physikalismus spricht, dass Reduktionsversuche gemäß dem explanatorischen Reduktionsmodell schon häufig gelungen sind. Gegen den Physikalismus spricht, dass sich das wissenschaftliche Programm einer Reduktion aller naturwissenschaftlicher Theorien auf physikalische Theorien als nicht erfolgreich erwiesen hat und dass sich insbesondere die Merkmale des Geistigen (Privatheit, phänomenaler Charakter, Intentionalität) auf ganz besonders hartnäckige Weise der (explanatorischen) Reduktion auf die Neurobiologie widersetzen. Für den nicht-physikalistischen Naturalismus spricht der anhaltende Erfolg der Naturwissenschaften. Gegen den nicht-physikalistischen Naturalismus sprechen zahlreiche Argumente – u. a. die inhaltliche Vagheit, mit der Bekenntnisse zu dieser Position oft einhergehen, der performative Selbstwiderspruch bei ihrer Begründung und die Tatsache, dass es sehr umstritten ist, ob es überhaupt ein gemeinsames methodisches Proprium der Naturwissenschaften gibt. Weiterhin wurde deutlich (Kapitel 4.3), dass mit der Bestreitung des Determinismus bei gleichzeitigem Festhalten am Physikalismus oder nicht-physikalistischen Naturalismus für die Willensfreiheit noch nichts gewonnen ist, weil sich unter diesen Voraussetzungen das ‚Zufallsproblem‘ stellt. Denn die Annahme von Kausallücken lässt ein Kriterium vermissen, anhand dessen man selbstbestimmtes Handeln von zufälligem Verhalten unterscheiden kann. Deshalb wurden im Folgenden verschiedene kompatibilistische Konzepte der Willensfreiheit innerhalb der Philosophie des Geistes diskutiert, die davon ausgehen, dass der Determinismus mit Willensfreiheit vereinbar ist, ja dass er sogar eine Voraussetzung der Willensfreiheit ist, weil ansonsten das Prinzip der Selbstbestimmung nicht gewahrt werden könne. Die beschriebenen kompatibilistischen Konzepte geben das Prinzip des Andersentscheidenkönnens auf und meinen gleichzeitig am Prinzip der Urheberschaft festhalten zu können. Es genügt aber nicht, die Widersprüche zwischen dem Selbstverständnis handelnder Personen und dem deterministischen Weltbild dadurch auszuräumen, dass man annimmt, dass die Möglichkeit des Andersentscheidenkönnens nur aus der Perspektive von Beteiligten besteht, die auf Grund ihres begrenzten Wissenshorizonts die tatsächliche Determiniertheit ihrer Ent-

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scheidungen nicht erkennen können.3 Was die erkennende Person über die Welt weiß, kann die handelnde nicht ignorieren, denn als handelnde Person weiß sie sich als Teil der Welt.4 Libertarische Willensfreiheit ist unter diesen Voraussetzungen eine Illusion. Der kompatibilistische Ansatz stellt also keine Lösung des Problems dar. Ohne die Möglichkeit des Andersentscheidenkönnens kann es Urheberschaft nicht geben. Will man an der Willensfreiheit festhalten und zugleich das Zufallsproblem vermeiden, führt kein Weg an der rationalen Handlungstheorie vorbei, die, indem sie Gründe von Ursachen unterscheidet, Raum schafft für Urheber:innen und zugleich eine Unterscheidung zwischen zufälligen und willentlichen Ereignissen zulässt (vgl. Kapitel 5.2). Die aus der rationalen Handlungstheorie erwachsende Frage nach dem ontologischen Status von Gründen (im Gegensatz zu Ursachen) sowie von Urheber:innen und danach, wie beide in der physischen Welt wirken können, führte mitten hinein in das Leib-Seele-Problem bzw. in die metaphysische Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie. Die Frage nach der ‚mentalen Verursachung‘ lenkt „den Blick geradewegs auf die Struktur des Seienden im Ganzen“5 , und zeigte, dass die Beantwortung der Frage nach der Willensfreiheit nicht von der Aufgabe zu trennen ist, die Natur des menschlichen Geistes im Ganzen zu verstehen.6 Neben dem Physikalismus und dem nicht-physikalistischen Naturalismus werden im Bereich dessen, was man als ‚klassische analytische Philosophie des Geistes‘ bezeichnen könnte, u. a. der ontologische Dualismus, Supervenienztheorien und Emergenztheorien diskutiert. Supervenienztheorien helfen im Hinblick auf libertarische Willensfreiheit nicht weiter, weil sie dem Geistigen keine eigene kausale Wirksamkeit zugestehen. Das klassische metaphysische Konzept eines ontologischen Dualismus zwischen physischen und geistigen Entitäten erlaubt eine Unterscheidung von Ursachen und Gründen und stellt eine klassische Argumentationsform dar, Willensfreiheit zu begründen. Es wird ihm aber heutzutage von den meisten Zeitgenoss:innen wie auch von mir eine geringe Plausibilität attestiert. Unter den genannten Positionen erwies sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Quantenphysik die Theorie starker Emergenz (mit Abwärtskausalität) als stärkste Theorie zur Plausibilisierung von libertarischer Willensfreiheit. Auf der Ebene des aus seiner neurobiologischen Grundlage (nämlich aus dem menschlichen Gehirn) emergierten, bewussten Geistes werden demnach mentale Gehalte nach eigenen, nicht auf Naturgesetze reduzierbaren Regeln verarbeitet und bewusste Entscheidungen getroffen. Per Abwärtskausalität wirkt das emergierte Bewusstsein auf physikalisch indeterminierte Vorgänge an Synapsen ein und beeinflusst so seine 3 4 5 6

Vgl. Habermas: Sprachspiel, 311f. Vgl. Habermas: Sprachspiel, 312. Habermas: Sprachspiel, 271f. Vgl. Seel: Freiheit, 5.

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neurobiologische Basis. Leider erwies sich die Theorie als schwach in zweierlei Hinsicht: In epistemischer Hinsicht wird keine Begründung dafür angegeben, warum es in einer ontologisch einheitlich verfassten Welt, die in weiten Teilen von den Naturwissenschaften sehr gut verstanden wird, bei der Entstehung des Bewusstseins eine Erklärungslücke geben soll und warum die Einwirkung des Geistes auf das Gehirn empirisch nicht feststellbar sein soll. In ontologischer Hinsicht ist die Theorie (so wie sie vom Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes rezipiert wird) inkonsistent, weil sich wegen der physikalistischen Emergenzbasis hinter der vermeintlich starken Emergenz logischerweise eigentlich schwache Emergenz verbergen muss, die wir Menschen nur nicht erkennen (können). Ausgehend von zwei Aufsätzen von Jürgen Habermas zur naturalistisch bzw. physikalistisch begründeten Bestreitung von Willensfreiheit konnte eine veränderte Sichtweise auf das Problem gewonnen werden (Kapitel 5). Sprachpragmatische Analysen von Habermas zeigen die performativen und begrifflichen Grenzen des Versuchs auf, geistige Phänomene auf physische Phänomene zu reduzieren. Diese Grenzen entstehen dadurch, dass Menschen, indem sie miteinander sprachlich kommunizieren, implizit und notwendig verschiedene Voraussetzungen (Präsuppositionen) dieser Kommunikation, zu denen u. a. Willensfreiheit gehört, als gegeben annehmen. Entscheidender für die Plausibilisierung von Willensfreiheit unter Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist jedoch die Erkenntnistheorie, die Habermas ausgehend von der Sprachpragmatik entwickelt. Was die Naturwissenschaften über die Welt wissen, verdanken sie demnach einer besonderen Perspektive auf die Welt, zu der auch schon alltägliches, vorwissenschaftliches Bezugnehmen auf die Welt gehört – die Beobachter:innenperspektive. Diese Perspektive eröffnet sich Menschen aber nur, indem sie zugleich die Perspektive von Teilnehmer:innen an kommunikativen Handlungen einnehmen. Schon in ursprünglicher gestischer Kommunikation können sich diese beiden Perspektiven verschränken und in der Sprachpragmatik sind sie gleichursprünglich verankert. Im sprachlichen Handeln nimmt der Mensch deshalb automatisch, performativ zugleich die Rolle des Teilnehmers und des Beobachters ein. Das Erlernen des Sprachgebrauchs prägt nach Habermas‘ Ansicht das Bewusstsein von Kleinkindern in einer Weise, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, zu Teilnehmer und Beobachter zu werden. Erst die Verschränkung beider Perspektiven ermöglicht deshalb dem Menschen einen bewussten Zugang zur intentional vergegenständlichten Welt, mit dem sich Wahrheitsansprüche verbinden können. Erst das Erlernen einer Sprache ermöglicht also mentale Intentionalität in der Form, wie sie beim Menschen auftritt. Auch der immense theoretische Wissenszuwachs der Naturwissenschaften ist auf diese Verschränkung angewiesen. Mit beiden Perspektiven ist ein implizites, lebensweltliches, teils notwendiges, teils kontingentes Wissen verbunden, das Teilnehmer:innen an sprachlichem Han-

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

deln automatisch über die Sprachpragmatik vermittelt wird und Philosoph:innen über die Methode der rationalen Rekonstruktion zu explizitem Wissen werden kann. Zur Teilnehmer:innenperspektive gehören die bereits erwähnte implizite und notwendige Präsupposition der Willensfreiheit, die Präsupposition von Rationalität und damit verbunden die Unterscheidung von Gründen und Ursachen. Es gehört dazu die Annahme, dass der Mensch Urheber seiner Entscheidungen ist, der auf der Basis von Gründen selbstbestimmt entscheidet und sich unter den gleichen Umständen auch anders entscheiden kann. Zur Beobachter:innenperspektive dagegen gehört es, zu jedem Phänomen nach Wirkursachen zu fragen, die für das Auftreten des Phänomens hinreichend sind (unabhängig davon, ob sich solche Wirkursachen auch tatsächlich finden lassen) und es entsprechend möglich machen sollen, das Phänomen handelnd zu reproduzieren. Weil beide Perspektiven nur zusammen bzw. verschränkt ein Erkennen der Welt ermöglichen, gibt es keinen Grund, dem Wissen der Beobachter:innenperspektive Vorrang gegenüber dem Wissen der Teilnehmer:innenperspektive einzuräumen. In welchem Verhältnis das Wissen der verschiedenen Perspektiven zur Wirklichkeit steht, präzisiert Habermas durch sein Konzept eines ‚Realismus ohne Repräsentation‘, das sprachpragmatische Einsichten mit erkenntnistheoretischen Ideen des Pragmatismus verknüpft. Erkenntnis ergibt sich demnach aus einem Zusammenspiel von Erfahrungen, die der Mensch im Zuge seines problemlösenden Handelns mit der Welt bzw. der Wirklichkeit macht, und der intersubjektiven Verständigung über diese Erfahrungen. Der Habermas’sche Perspektivendualismus erhält entsprechend klarere Konturen: Die Perspektiven bieten Zugänge zur Realität, zu einer Wirklichkeit, die unabhängig von den Erkenntnisleistungen des Subjekts besteht. Habermas grenzt sich so von bestimmten konstruktivistischen und idealistischen Ansätzen ab. Zugleich zeigt sich die Wirklichkeit nur perspektivisch und nicht wie sie ‚an sich‘ ist. Erkenntnis liefert – anders als Physikalist:innen und Naturalist:innen (der Variante I) meinen – kein Abbild der Wirklichkeit. Daran, dass die beiden Perspektiven sich auf eine einzige, monistisch verfasste Wirklichkeit beziehen, will Habermas festhalten, weil auch diese Einheit der Wirklichkeit seines Erachtens zu den Präsuppositionen der Lebenswelt gehört. Die monistisch verfasste Wirklichkeit ‚hinter‘ den Perspektiven nennt Habermas ‚Natur‘. Sie decke sich – so schlussfolgert er aus dem ‚Realismus ohne Repräsentation‘ – nicht mit der ‚Natur der Naturwissenschaften‘. Um gleichzeitig an einem realistischen Erkenntnisanspruch der Perspektiven und der Einheit der zu Grunde liegenden Wirklichkeit festhalten zu können, muss Habermas allerdings plausibel machen, wie der menschliche Geist einschließlich seiner Fähigkeit sowohl zur Teilnehmer:innen- als auch zur Beobachter:innenperspektive im Laufe einer ‚Naturgeschichte‘, die aus der Beobachter:innenperspektive als Evolution beschrieben wird, entstanden ist. Diese Aufgabe nennt Habermas ‚Detranszendentalisierung der Erkenntnisbedingungen‘. Der Ursprung der Erkennt-

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nisbedingungen darf nicht, wie bei Kant, in einer intelligiblen, transzendentalen Welt liegen, die unabhängig von der naturwissenschaftlich erforschbaren Welt existiert.7 Sie müssen derselben Welt entspringen, welche die Naturwissenschaften beschreiben. Um herauszufinden, wie dies geschehen sein könnte, kann man sich aber wiederum nur auf das stützen, was von der ‚Natur‘ aus den beiden Perspektiven heraus erkennbar wird, denn ein nicht-perspektivischer, direkter Zugriff auf die Wirklichkeit ist nicht möglich. Hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Perspektive stützt Habermas sich hier vor allem auf Michael Tomasellos Erkenntnisse aus Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie. Tomasello geht davon aus, dass die Kognition des Menschen sich von der Kognition seiner evolutionären Vorfahren dadurch unterscheidet, dass sich durch eine genetisch bedingte Fähigkeit zur intersubjektiven Perspektivübernahme zwischen Individuen gemeinsames Wissen (geteilte Intentionalität) übereinander und über die Welt entwickeln konnte. Habermas kann daran anknüpfend davon ausgehen, dass sich durch fortgesetztes und stetig weiter ausdifferenziertes kommunikatives Handeln aus diesem gemeinsamen Wissen übereinander die ‚heutige‘ Teilnehmer:innenperspektive mit ihren Präsuppositionen und aus dem gemeinsamen Wissen über die Welt die ‚heutige‘ Beobachter:innenperspektive entwickeln konnten. Weil die beiden Perspektiven letztlich aber inkompatibel sind, in konkurrierende Beschreibungen münden und nicht miteinander harmonisiert werden können,8 kann die Rekonstruktion der Naturgeschichte unter Einbezug beider Perspektiven keine vollständige Theorie sondern nur eine Art von metaphysischer Erzählung ergeben. Die Annahme einer Kontinuität von Natur und Kultur lässt sich aus den Perspektiven heraus nicht durch eine vollständig kohärente Theorie untermauern. Es gelingt Habermas dementsprechend nicht überzeugend, den durch den epistemischen Dualismus entstandenen Hiatus ontologisch zu überwinden. Er postuliert die Einheit der Wirklichkeit nicht, weil er dafür eine vollständige Theorie aufweisen könnte, sondern auf Grund lebensweltlicher Plausibilitäten. Sein Konzept ist dennoch so überzeugend, dass es, wie in Kapitel 5.7.3 deutlich wurde, im Rahmen der vorliegenden Arbeit herangezogen werden konnte, um das Konzept starker Emergenz mit Abwärtskausalität, das in Kapitel 4.6 zur Plausibilisierung von Willensfreiheit favorisiert wurde, zu ergänzen und zu verbessern. Denn seine Erkenntnistheorie liefert erstens eine Erklärung für das Bestehen der Erklärungslücken, für die der Ausdruck ‚Emergenz‘ steht. D. h. sie gibt eine Antwort auf die epistemische Frage, warum es keine vollständige naturwissenschaftliche Erklärung für das Hervorgehen des Geistes aus der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ gibt und warum die Einwirkung des Geistes auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘

7 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 312. 8 Vgl. Habermas: Sprachspiel, 334.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

empirisch nicht nachweisbar ist. Die Antwort lautet erstens, dass die Naturwissenschaften die Natur nicht erfassen, wie sie ‚an sich‘ ist, sondern perspektivisch. Sie erzeugen gewissermaßen ein Modell der Wirklichkeit, das nur bestimmte Aspekte dieser Wirklichkeit zueinander in Bezug setzt. Die Antwort lautet zweitens, dass der menschliche Geist (einschließlich des epistemischen Dualismus von Teilnehmer:innen- und Beobachter:innenperspektive) sich zum Teil der Objektivierung aus der Beobachter:innenperspektive entzieht, weil die Beobachter:innenperspektive nur dadurch möglich wird, dass Beobachter:innen zugleich Teilnehmer:innen an kommunikativem Handeln sind, und die Teilnehmer:innenperspektive sich der Beobachter:innenperspektive deshalb nicht unterordnen lässt. Die spezifischen Faktoren bzw. Bedingungen, die die menschliche Erkenntnisfähigkeit (bzw. den menschlichen Geist) ermöglichen, verschließen zugleich die Möglichkeit, lückenlos zu wissen, wie diese Fähigkeit aus der subhumanen Natur entstanden ist und wie sie in der Natur wirkt. Zweitens lässt sich die ontologische Inkonsistenz, die darin besteht, dass es sich bei der vermeintlich starken Emergenz (so wie sie vom Mainstream der analytischen Philosophie des Geistes verstanden wird) eigentlich um unerkannte schwache Emergenz handeln muss, dadurch lösen, dass Emergenz als ein epistemisches (und nicht ontologisches bzw. metaphysisches) Konzept aufgefasst wird, das nur im Rahmen der naturwissenschaftlichen Perspektive Sinn ergibt. Niemand, auch nicht ein allwissendes Wesen, könnte demnach Bewusstsein auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ reduzieren, weshalb man es sicher mit starker und nicht mit schwacher Emergenz zu tun hat. Auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ kann Bewusstsein nicht reduziert werden, weil es bzw. das, was uns aus der Teilnehmer:innenperspektive als Bewusstsein erscheint, eben nicht aus der ‚Natur der Naturwissenschaften‘ sondern aus der ‚Natur im Ganzen‘ hervorgeht, die uns allerdings, zumindest was die subhumane Natur betrifft, nur aus der Perspektive der Naturwissenschaften (bzw. der Beobachter:innenperspektive) zugänglich ist. Es wird also auf eine physikalistische Basisontologie verzichtet. Weil wir die subhumane ‚Natur im Ganzen‘ nur soweit erkennen können, wie sie sich der Perspektive der Naturwissenschaften erschließt, können wir die Frage, ob die humane ‚Natur‘ auf die ‚Natur im Ganzen‘ ontologisch reduziert werden kann oder ob sie gegenüber der ‚Natur im Ganzen‘ ontologisch stark emergent ist, prinzipiell nicht beantworten, denn für eine Antwort auf diese Frage würde es eines ‚Gottesstandpunktes‘ bedürfen. In den Kapiteln 6 und 8 wurde deutlich, dass Habermas zwar die intersubjektiven und kommunikativen Bedingungen der Genese von Bewusstsein, Erkenntnisfähigkeit und Willensfreiheit sehr überzeugend analysiert, aber die Voraussetzungen, die dafür auf der Seite des Subjektes gegeben sein müssen, vernachlässigt. Unter der Vorannahme, dass die Genese von Bewusstsein die Genese von Selbstbewusstsein notwendig miteinschließt, wurde untersucht, ob der Habermas’sche Ansatz die Genese von Selbstbewusstsein erklären kann. Es stellte sich heraus, dass Habermas,

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

der nur das reflexive Selbstbewusstsein kennt, dessen Genese durch intersubjektive Perspektivübernahme nicht (vollständig) erklären kann, weil dabei ein präreflexives Selbstbewusstsein der beteiligten Subjekte vorausgesetzt werden muss. Habermas steht hier kommunikationstheoretisch vor derselben Schwierigkeit, an der auch schon die neuzeitliche Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins scheiterte. Er ist selbst allerdings der Auffassung, die Schwierigkeiten überwunden zu haben. Weiterhin setzt das Habermas’sche Konzept kommunikativer Rationalität Willensfreiheit der beteiligten Subjekte voraus (vgl. Kapitel 8). Es setzt sie in dem Sinne voraus, dass Willensfreiheit zwar nach Habermas nur bei Subjekten auftritt, die sprachlich und kommunikativ sozialisiert sind, sie aber nicht (alleine) durch die kommunikative Praxis erzeugt, sondern vom Subjekt hervorgebracht wird. Willensfreiheit muss ein Moment von Unbedingtheit in dem Sinne enthalten, dass es von dem entscheidenden Subjekt abhängt (und nicht vom Zufall oder ausschließlich von früheren Weltzuständen einschließlich der inneren Zustände des Subjekts vor Beginn des Entscheidungsprozesses oder von der Sozialisierung oder von rationalen Gründen), für welche von mehreren (tatsächlich möglichen) Optionen es sich entscheidet oder ob es einen intersubjektiv erhobenen Geltungsanspruch anerkennt oder nicht. Willensfreiheit impliziert also, dass das Subjekt über eine endogene Aktivität verfügt, die es kontrollieren kann und die es ihm ermöglicht, zwischen verschiedenen Entscheidungs- bzw. Handlungsalternativen zu wählen. Habermas scheint sich dessen zwar prinzipiell bewusst zu sein, aber weder thematisiert er es, noch stellt er Überlegungen dazu an, welche Voraussetzungen auf der Subjektseite gegeben sein müssen, damit dieses Unbedingtheitsmoment möglich wird. Analysen aus dem Bereich der klassischen (Husserl, Sartre, Merleau-Ponty) und zeitgenössischen (Zahavi, Legrand) philosophischen Phänomenologie sprechen dafür, dass jegliches gegenständliche Bewusstsein (einschließlich des reflexiven Selbstbewusstseins) stets mit dem erwähnten präreflexiven (Selbst-)Bewusstsein einhergeht und einhergehen muss (vgl. Kapitel 6.5). Dieses (Selbst-)Bewusstsein wird als vorreflexiv, implizit, unmittelbar, nicht begrifflich vermittelt (d. h. vorkommunikativ) und als eine notwendige Komponente innerhalb des Gegenstandsbewusstseins beschrieben. Das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein ist aber nicht das Objekt des Bewusstseins, denn dann hätte man es mit reflexivem Selbstbewusstsein zu tun. Vielmehr taucht es in der Erfahrung als das Subjekt des Gegenstandsbewusstseins auf. Deshalb enthält es in sich keine Subjekt-Objekt-Relation, sondern ist relationslose Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst. Das Subjekt erfährt sich in jeder seiner Objekterfahrungen implizit stets auch selbst. Man kann präreflexives (Selbst-)Bewusstsein auch als die erstpersonale bzw. subjektive Gegebenheitsweise von bewussten (Gegenstands-)Erfahrungen beschreiben. Viele Phänomenolog:innen, insbesondere Merleau-Ponty, gehen zudem davon aus, dass das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit einschließt, ja dass das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein in erster Linie

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Erfahrung des eigenen Leibes in seiner Interaktion mit der Welt ist. Das Subjekt der Erfahrung bzw. des Bewusstseins ist also demnach der Leib, wobei dem LeibSein das Körper-Haben des Subjekts entspricht. ‚Leib‘ meint demnach den Körper insofern er Subjekt ist. Dem Leib-Sein muss aus der Sichtweise der zitierten Phänomenolog:innen ein Körper-Haben entsprechen, weil die Erfahrung beinhaltet, dass das Subjekt Teil der gegenständlichen Welt ist. Das Subjekt dieser Phänomenologie ist kein transzendentales sondern ein innerweltliches. Ebenso wenig befürwortet die Phänomenologie eine Hypostasierung von ‚Leib‘ und ‚Körper‘ zu ontologisch getrennten Entitäten – dafür ist der Zusammenhang von beiden innerhalb der Erfahrung viel zu eng. Leib-Sein und Körper-Haben werden entsprechend der Erfahrung unterschieden, ohne dass Leib und Körper ontologisch getrennt werden. Phänomenolog:innen sind sich uneinig hinsichtlich der Frage, ob das präreflexive (Selbst-)Bewusstsein als ich-haft, also egologisch, oder als anonym, d. h. nicht egologisch, zu beschreiben ist. Neben der impliziten Referenz auf das Subjekt, die in präreflexivem (Selbst-)Bewusstsein enthalten ist, wurde in Kapitel 6.5.2 seine individuelle Leiblichkeit als überzeugender Grund bewertet, das präreflexive Selbstbewusstsein als egologisch zu beschreiben. Krings und die Theolog:innen, die an seine Philosophie anknüpfen (vgl. Kapitel 8), widmen sich auf transzendentalphilosophische Weise und ihrerseits anknüpfend an Fichte der Fragestellung, wie präreflexives Selbstbewusstsein des Subjektes und das Unbedingtheitsmoment an der (Willens-)Freiheit des Subjektes zu Stande kommen bzw. was beide jeweils als Bedingung ihrer Möglichkeit (logisch, wenn auch nicht unbedingt zeitlich) vorgängig zur kommunikativen Sozialisierung auf Seiten des Subjektes voraussetzen. Freiheit bzw. ihr Unbedingtheitsmoment entsteht demnach durch einen transzendentalen Prozess ‚immanent reflexer Transzendenz‘, d. h. dadurch, dass eine Aktivität sich immanent selbst als freie setzt bzw. affirmiert. Das Subjekt ist frei, weil es sich als Freiheit in einer freien Handlung erst selbst konstituiert – so beschreibt Krings diesen Prozess. Weil diese transzendentale Setzung (als transzendentale) auf nichts jenseits ihrer selbst angewiesen ist, ist sie unbedingt. Im realen, bedingten Wählen bzw. zugleich mit dem realen, bedingten Wählen zwischen verschiedenen (material bedingten Alternativen) affirmiert und konstituiert das wählende Subjekt sich nach Krings transzendental als wählendes und somit als freies (d. h. als formal unbedingt). Bei genauerem Hinsehen erwies sich diese Erklärung für das Unbedingtheitsmoment der menschlichen Freiheit aber als zirkulär (vgl. Kapitel 8.3). In der Konsequenz wurde vorgeschlagen, auf eine Erklärung des Unbedingtheitsmoments der Freiheit zu verzichten (wie Habermas es tut) und es als eine kommunikationstheoretisch und begriffsanalytisch gut begründete Hypothese anzusehen. Zwischen dem Unbedingtheitsmoment der menschlichen Freiheit (für das nunmehr nur noch symbolisch der Prozess immanent reflexer Transzendenz stehen kann, weil der Prozess die Unbedingtheit nicht begründet) und dem präreflexiven

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Selbstbewusstsein des Subjekts besteht nach Auffassung von Krings und den ihn rezipierenden Theolog:innen ein enger Zusammenhang. Uneinigkeit besteht dahingehend, wie das Verhältnis zwischen Freiheit und präreflexivem Selbstbewusstsein genau zu bestimmen ist. Nach Krings erzeugt der transzendentale Prozess immanent reflexer Transzendenz die präreflexive Vertrautheit des Ich mit sich selbst – Letzteres geht aus dem zuerst Genannten hervor. Ein transzendentales, freies Handeln erzeugt demnach die präreflexive Vertrautheit. Auch diese Erklärung erwies sich bei genauerem Hinsehen jedoch als zirkulär (vgl. Kapitel 8.3). Eine umgekehrte Verhältnisbestimmung, gemäß der das präreflexive Selbstbewusstsein nicht als Produkt, sondern als Bedingung von Freiheit zu bestimmen ist, schlägt Striet vor, dessen Vorschlag dadurch Ähnlichkeit mit dem Konzept Henrichs aufweist. Im Anschluss an einige Überlegungen von Pröpper schlägt Lerch vor – und ich halte dies für die plausibelste Lösung des Problems –, von der Gleichursprünglichkeit von präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit auszugehen. Es zeigte sich, dass es zwei Möglichkeiten gibt, diesen Vorschlag zu deuten. Erstens könnte Gleichursprünglichkeit bedeuten, dass es sich bei präreflexivem Selbstbewusstsein und immanent reflexer Transzendenz um zwei Entitäten handelt, die sich jeweils unterschiedlichen theoretischen Perspektiven erschließen, die sich wechselseitig bedingen (dadurch dass sie Wechselwirkungen aufeinander ausüben) und die zusammen das Ich bilden. Entsprechend könnte man dann definieren, dass das Ich sowohl Handlung als auch Ereignis, sowohl Aktivität als auch passives Geschehen ist. Zweitens könnte Gleichursprünglichkeit bedeuten, dass präreflexives Selbstbewusstsein und immanent reflexe Transzendenz nur unterschiedliche Weisen sind, wie ein und dieselbe Entität – nämlich das Ich – erscheint, dass es sich um unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Entität handelt. Entsprechend müsste man dann sagen, dass das Ich sowohl als Handlung als auch als Ereignis, sowohl als Aktivität als auch als passives Geschehen erscheint. Beide Perspektiven sind dann logisch gleichursprünglich, weil sie gleichermaßen von der Existenz der zu Grunde liegenden Entität abhängen. Ein Verursachungsverhältnis zwischen präreflexivem Selbstbewusstsein und Freiheit kann in diesem Fall allerdings nicht bestehen, denn Perspektiven wechselwirken nicht miteinander. Es wurde vorgeschlagen, den Habermas’sche Ansatz zur Willensfreiheit entsprechend der geschilderten transzendentalphilosophischen Überlegungen und phänomenologischen Einsichten folgendermaßen zu ergänzen (vgl. Kapitel 8.7): Willensfreiheit (und reflexives (Selbst-)Bewusstsein) hat (bzw. haben) neben der sprachlichen Sozialisierung des menschlichen Geistes auf der Seite des Subjektes logisch betrachtet zwei weitere Voraussetzungen, ohne die die sprachliche Sozialisierung nicht möglich wäre. Diese Voraussetzungen sind präreflexives Selbstbewusstsein und transzendentale Freiheit (im Sinne einer Fähigkeit des Subjekts, eine endogene, d. h. selbstursprüngliche, Aktivität, die nicht von äußeren oder inneren Faktoren determiniert ist, hervorzubringen und zu steuern), die zusammen das

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Subjekt konstituieren bzw. aus zwei unterschiedlichen methodischen Perspektiven am Subjekt erkennbar werden. Mit der Frage, wie sich präreflexives Selbstbewusstsein naturwissenschaftlich erklären lässt bzw. welche empirischen Bedingungen für präreflexives Selbstbewusstsein es gibt, beschäftigen sich der Neurobiologe Damasio (vgl. Kapitel 7) und Vertreter:innen des Enaktivismus (vgl. Kapitel 9). Die phänomenologische (und transzendentalphilosophische) These, dass Objektbewusstsein immer mit präreflexivem Selbstbewusstsein einhergeht, teilen beide. Beide gehen außerdem davon aus, dass für das Entstehen von Bewusstsein das Vorhandensein bestimmter Hirnaktivitäten nicht ausreichend ist. Vielmehr entsteht Bewusstsein deshalb, weil es dem jeweiligen Gesamtorganismus dabei hilft, in der Interaktion mit seiner Umwelt seine Bedürfnisse zu befriedigen und so seine Identität aufrechtzuerhalten. Die Integration des Gehirns in einen Körper ist also für Bewusstsein notwendig; Bewusstsein ist an einen Körper gebunden. Auch dahingehend besteht Übereinstimmung zwischen vielen Phänomenolog:innen, Damasio und dem Enaktivismus. Während Damasio allerdings annimmt, dass Aktivitäten des Gehirns Zustände des Körpers, der Außenwelt und Zustandsveränderungen des Körpers repräsentieren und präreflexives Selbstbewusstsein (=Kernbewusstsein) im Gehirn entsteht, wenn diese Repräsentationen auf eine spezielle Art und Weise miteinander verknüpft und zueinander in Bezug gesetzt werden, verabschiedet sich der Enaktivismus von der Vorstellung, dass Aktivitäten des Gehirns irgendetwas repräsentieren. Der Enaktivismus definiert nicht bestimmte Aktivitäten des Gehirns sondern die ‚Beziehung des Gesamtorganismus‘ zu seiner Umwelt (einschließlich seiner Interaktion mit der Umwelt) als das Korrelat des Bewusstseins. D. h. dass aus Sicht des Enaktivismus der Gesamtorganismus einschließlich seiner Umwelt zur naturwissenschaftlichen Erklärung von Bewusstsein herangezogen werden muss. Allerdings verfällt der Enaktivismus nicht der Illusion, dass sich eine vollständige naturwissenschaftliche Erklärung für präreflexives Selbstbewusstsein finden lassen könnte. Vielmehr geht er – ähnlich wie Habermas – davon aus, dass subjektive, bewusste Erfahrungen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zwei zueinander komplementäre Perspektiven (Erlebnisperspektive vs. Beobachter:innenperspektive) auf ein und dasselbe ontologisch zu Grunde liegende Lebewesen sind. Weil die Perspektiven komplementär sind, lässt sich die eine aus der anderen nicht ableiten und umgekehrt. Die beiden Perspektiven lassen sich einander nur annähern. Dementsprechend können auch die zwei unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Erklärungen des Enaktivismus für die Entstehung von präreflexivem Selbstbewusstsein (vgl. Kapitel 9.2) nicht restlos überzeugen. Die erste von Enaktivist:innen vertretene Hypothese zur Entstehung präreflexiven Selbstbewusstseins weist große Ähnlichkeit zur Hypothese Damasios auf. Sie wurde jedoch – aus dem gleichen Grund wie letztere und unabhängig von der soeben erwähnten Idee des Perspektivendualismus – als nicht zufriedenstellend

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen

beurteilt (vgl. Kapitel 9.2), weil es nicht plausibel ist, dass aus dem Verhältnis zweier nicht bewusster neuronaler Zustände zueinander Bewusstsein entstehen soll. Die zweite von dem Enaktivisten Di Paolo vertretene naturwissenschaftliche Hypothese zur Entstehung präreflexiven Selbstbewusstseins (vgl. Kapitel 9.2) erwies sich als plausibler. Kognition und Bewusstsein entstehen demnach in komplexen dynamischen Systemen, wenn diese über Autonomie verfügen, was der Fall ist, wenn ein System operational closure und Fragilität aufweist. Damit ist gemeint, dass die einzelnen Prozesse, welche die Komponenten des Gesamtsystems bilden, wechselseitig aufeinander angewiesen sind, sodass die dauerhafte Existenz jeder Komponente der Existenz des Gesamtsystems bedarf und umgekehrt.9 Darüber hinaus muss das System über Adaptivität verfügen, d. h. es muss erstens in der Lage sein, graduell zwischen Umweltbedingungen, die für sein Weiterbestehen besser sind, und Umweltbedingungen, die für sein Weiterbestehen schlechter sind, zu unterscheiden, und es muss zweitens in der Lage sein, aktiv auf diese Umweltbedingungen zur reagieren, um die Bedingungen für sein Weiterbestehen zu verbessern. Daraus ergibt sich, dass Dinge in der Umwelt des Systems für dieses System und aus der Perspektive dieses Systems eine Bedeutung haben und dass das System auf eine bestimmte Weise agiert, um ein Ziel zu erreichen. Adaptive Autonomie impliziert also Intentionalität und immanente Teleologie. Das Paradigma des Enaktivismus für adaptive Autonomie ist die lebende Zelle. Zugleich geht der Enaktivismus aber davon aus, dass es adaptive Autonomie auch noch auf anderen Organisationsebenen von Organismen (z. B. der Ebene sensomotorischer Autonomie), die die jeweils untergeordneten Autonomieebenen integrieren, und über die Organisationsebene einzelner Organismen hinaus gibt. Zur adaptiven Autonomie eines dynamischen Systems gehört es nach Auffassung der Enaktivist:innen, dass dieses in der Lage ist, das Verhalten seiner Komponenten durch irreduzible Abwärtskausalität zu beeinflussen. Diese Abwärtskausalität wirkt nicht im Modus der causa efficiens sondern im Modus der causa formalis, d. h. indem sie die Wirkmöglichkeiten der Systemkomponenten, die im Modus der causa efficiens wirken, so einschränkt, dass daraus eine koordinierte Aktivität des Gesamtsystems hervorgehen kann. Die Entstehung präreflexiven Selbstbewusstseins stellt sich Di Paolo in diesem Zusammenhang so vor, dass die Aktivität eines Organismus als sensomotorisches, adaptives, autonomes Gesamtsystem mit Bewusstsein einhergeht. Konkret meint er damit, dass die Prozesse von Auf- und Abwärtskausalität, die in diesem System stattfinden und zur Auswahl, Initiierung und Kontrolle bestimmter, zur aktuellen Situation passender, sensomotorischer Schemata (d. h. zur Ausführung bestimmter

9 Der Begriff der Autonomie ist im Kontext des Enaktivismus also ein terminus technicus, dessen Bedeutung nicht gleichzusetzen ist mit der Bedeutung des Begriffs der Autonomie, wie sie Menschen zugeschrieben wird, wenn sie ihre Fähigkeit zur Willensfreiheit ausüben.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Bewegungen als Antwort auf bestimmte innere und/oder äußere Ereignisse) führen, mit Bewusstsein einhergehen. Dass Bewusstsein auftritt, hat dabei damit zu tun, dass Dinge oder Ereignisse in der Umgebung des Systems für dieses System eine Bedeutung haben. In anderen Worten: Weil das System ein autonomer Akteur ist, hat es auch ein entsprechendes Bewusstsein. Obwohl dieser Vorschlag zur Genese präreflexiven Selbstbewusstseins als der beste unter den diskutierten Vorschlägen beurteilt wurde (vgl. Kapitel 9.2), erklärt auch er Bewusstsein naturwissenschaftlich nicht vollständig. Die enaktive Idee eines Perspektivendualismus zwischen subjektiver Erfahrungs- und komplementärer naturwissenschaftlicher Beobachtungsperspektive auf ein und denselben Gegenstand (das Lebewesen) entschärft jedoch diese Problematik. Di Paolos Vorschlag plausibilisiert sinnvoll, wie die beiden Perspektiven einander angenähert werden können. Eine Reduktion der einen auf die andere Perspektive ist dagegen gemäß dem Enaktivismus prinzipiell nicht möglich. Nicht nur zur Genese präreflexiven Selbstbewusstseins bietet der Enaktivismus Theorien. Darüber hinaus konnte aufbauend auf der enaktiven Idee adaptiver Autonomie eine Hypothese dazu formuliert werden, wie Willensfreiheit möglich wird (vgl. Kapitel 9.3.2). Die Fähigkeit eines adaptiven autonomen Systems, die eigene strukturelle Identität aktiv durch Abwärtskausalität aufrechtzuerhalten, stellt demnach eine basale Form organismischer Freiheit dar, die die Grundlage für die Ausbildung von Willensfreiheit darstellt (die gegenüber der organismischen Freiheit dennoch wiederum eine neue Qualität aufweist). Auf dem ‚Weg‘ zur Willensfreiheit bilden sich oberhalb der Ebene organismischer Autonomie und sensomotorischer Autonomie weitere Ebenen von Autonomie im enaktiven Sinne aus. Dadurch bildet das biologische Individuum als Ganzes ein adaptives autonomes System, das durch irreduzible Abwärtskausalität die Aktivität seiner Komponenten und so seine Gesamtaktivität steuert. Die sprachliche Sozialisierung verändert (beim Menschen) die Komponenten des Systems wiederum auf eine einschneidende Weise, die es möglich macht, dass diese Komponenten als ‚Trägermedium‘ für das Abwägen von Gründen fungieren. Das menschliche Subjekt als Gesamtsystem kann durch Abwärtskausalität auch Einfluss darauf nehmen, von welchen Gründen es sich letztendlich bestimmen lässt, so dass die Kriterien für Willensfreiheit ‚Urheberschaft‘ und ‚Andersentscheidenkönnen‘ erfüllt ist. Der qualitative Unterschied zwischen Autonomie im enaktiven Sinne und Autonomie, wie sie dem Menschen mit Kant zugesprochen wird, entsteht durch oder wenigstens zugleich mit der sprachlichen Sozialisierung. Alle diese genannten Prozesse werden von (entweder präreflexivem oder reflexivem) Bewusstsein begleitet. Aus der naturwissenschaftlichen Perspektive ist Bewusstsein dann ein Epiphänomen, weil es die Prozesse eben nur begleitet, aber nicht beeinflusst. Versucht man aber, die beiden eigentlich inkompatiblen Perspektiven zu einem Gesamtbild zu integrieren, spricht, wenn man die Thesen des

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Enaktivismus weiterdenkt, Vieles dafür, daran festzuhalten, dass (1) das, was an dem zu Grunde liegenden Lebewesen als Bewusstsein erscheint, einen Einfluss auf das hat, was die Naturwissenschaften an dem zu Grunde liegenden Lebewesen erkennen, dass (2) dieser Einfluss nicht unmittelbar auf irgendwelche Mikrokomponenten des Systems wirkt, sondern auf der Ebene des Gesamtsystems und zwar (3) in einer Weise, die analog ist zum Modus der causa formalis, in dem adaptive autonome Systeme abwärts auf ihre Komponenten wirken. Diese Variante libertarische Willensfreiheit unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu plausibilisieren wurde gegenüber der alleine auf quantenphysikalische Indeterminismen (und Abwärtskausalität) setzenden Variante aus Kapitel 4.6 für besser befunden (vgl. Kapitel 9.7). Ob die enaktive Variante im Gegensatz zur zuletzt genannten allerdings ohne quantenphysikalische Indeterminismen auskommt, ist ein offene Frage, die von Enaktivist:innen nicht beantwortet wird. Beide Varianten sind jedenfalls nicht mit einem Mikrodeterminismus vereinbar. Für den Enaktivismus könnte ggf. aber auch ein von der Quantenphysik unabhängiger Mikro-Indeterminismus (vgl. Kapitel 4.5.2) ausreichen. Im Falle der enaktiven Variante darf die Identität des Gesamtsystems zu Beginn des Entscheidungsprozesses aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht determinieren, wie das Gesamtsystem seine Komponenten beeinflusst (Makrodetermination). Wäre letzteres der Fall, gäbe es (sofern man außerdem den Naturwissenschaften einen realistischen Erkenntnisanspruch zuerkennt) keine alternativen Entscheidungsmöglichkeiten und ein Einfluss dessen, was aus der Erfahrungsperspektive als Bewusstsein erscheint, müsste ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass in beiden Varianten zur Plausibilisierung von Willensfreiheit starke Emergenz mit Abwärtskausalität vorausgesetzt wird. Eine Nebenwirkung des Versuchs, die beiden eigentlich unvereinbaren Perspektiven in eine Metaperspektive zu integrieren, besteht darin, dass Bewusstsein und biologischer Organismus wie zwei unterschiedliche Entitäten erscheinen, die aufeinander einwirken, obwohl es sich nach Auffassung des Enaktivismus eigentlich nur um das Ergebnis unterschiedlicher Perspektiven auf ein und dasselbe ontologisch zu Grunde liegende Lebewesen handelt. Dazu gibt es aber keine Alternative, will man nicht vollständig darauf verzichten, Aussagen über das zu Grunde liegende Lebewesen zu treffen. Man sollte sich aber bewusst sein, dass der Eindruck, es handele sich um zwei Entitäten, trügt und nur der Tatsache geschuldet ist, dass wir den Perspektivendualismus nicht umgehen können – auch nicht bei dem Versuch, die Einheit der Wirklichkeit hinter den inkommensurablen Perspektiven zu erkennen. Ein Vergleich zwischen den transzendentalphilosophischen Überlegungen im Anschluss an Krings und den Hypothesen des Enaktivismus förderte erstaunliche Gemeinsamkeiten zu Tage. Freiheit und präreflexives Selbstbewusstsein, zwischen denen die herangezogenen transzendentalphilosophischen Ansätze eine enge Verbindung sehen, hängen auch gemäß der Hypothesen des Enaktivismus eng zusam-

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men. Dasselbe gilt für den Zusammenhang von Identität und (freier) Aktivität: Beide bedingen sich gegenseitig. Das freie und präreflexiv selbstbewusste Subjekt ist (sowohl transzendentalphilosophisch als auch in der Sicht des Enaktivismus) im Kern ein aktiver Prozess, der sich auf sich selbst richtet, also selbstbezüglich ist. Seine selbstbezügliche Organisationsform ermöglicht seine selbstursprüngliche, freie Aktivität und seine freie Aktivität ermöglicht seine selbstbezügliche Organisationsform. Die Welt erschließt sich außerdem dem Subjekt gemäß beider Ansätze nur in Relation zur eigenen Identität und nur durch seine (freie) Aktivität. Der Enaktivismus meint allerdings, Freiheit zumindest in einer sehr basalen Form naturwissenschaftlich (durch adaptive Autonomie) erklären zu können. Für Bewusstsein wird dagegen nur der Anspruch erhoben, angeben zu können, was aus naturwissenschaftlicher Sicht gegeben sein muss (nämlich sensomotorische, adaptive Autonomie), damit es auftritt. Eine vollständige Erklärung von Bewusstsein gelingt dem Enaktivismus nicht. Die Gemeinsamkeiten von Enaktivismus und transzendentaler Subjektphilosophie deuten darauf hin, dass es sich auch hier wiederum um zwei methodisch unterschiedliche Perspektiven auf denselben Gegenstand handelt. Zusammenfassend ergibt sich als Ergebnis der vorliegenden Arbeit, dass es vier verschiedene Perspektiven auf das Problem bzw. vier verschiedene methodische Zugänge zum Problem der Willensfreiheit im Kontext der Bewusstseinsfrage gibt, die sich wie folgt zueinander verhalten. Es gibt, wie Habermas feststellt, erstens die zur Perspektive der Naturwissenschaften weiterentwickelte Beobachter:innenperspektive und zweitens die Perspektive von Teilnehmer:innen an kommunikativen Handlungen (Teilnehmer:innenperspektive). Nach Habermas differenziert sich die Teilnehmer:innenperspektive in sich noch einmal auf folgende Weise: Sie erschließt dem Individuum sowohl ein explizit bewusstes Wissen hinsichtlich der eigenen inneren Zustände (=bewusstes Selbstverhältnis bzw. reflexives Selbstbewusstsein) als auch ein explizit bewusstes Wissen hinsichtlich der normativen Richtigkeit seiner Handlungen (reflexives Bewusstsein davon, was in der sozialen Welt der Fall ist). Zu beiden Wissensaspekten der Teilnehmer:innenperspektive gehört außerdem ebenso wie zur Beobachter:innenperspektive jeweils implizites lebensweltliches Wissen. Beide Perspektiven kann ein menschliches Individuum nur einnehmen, wenn es den kommunikativen Gebrauch einer Sprache erlernt hat. Außerdem sind die beiden Perspektiven wechselseitig voneinander abhängig, weil sie in der Sprachpragmatik gleichursprünglich verankert sind und sich miteinander verschränken müssen. Im Rahmen der Erörterungen zur Genese des reflexiven Selbstbewusstseins wird jedoch deutlich, dass die Genese sowohl der reflexiv bewussten Beobachter:innenals auch der gesamten reflexiv bewussten Teilnehmer:innenperspektive entgegen der Habermas’schen Auffassung logisch ein präreflexives Selbstbewusstsein des Subjekts voraussetzt, das nicht kommunikativ erzeugt ist. Die phänomenologische

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Analyse des Bewusstseins ergibt, dass dieses präreflexive Selbstbewusstsein auch der Erfahrung zugänglich ist. Sie zeigt, dass es sich bei der Beobachter:innen- und der Teilnehmer:innenperspektive um eine durch die kommunikative Sozialisierung transformierte, zuvor präreflexive Erlebnisperspektive von Subjekten handelt. Aus der phänomenologischen Analyse folgt also, dass es drittens eine vorkommunikative Erlebnis- bzw. Erfahrungsperspektive von Subjekten auf sich selbst und auf die Welt gibt. Die transzendentalphilosophischen Analysen von Krings und den ihn rezipierenden Theolog:innen bilden die vierte Perspektive bzw. den vierten methodischen Zugang. Methodisch wird hier so vorgegangen, dass transzendentallogisch analysiert wird, was als Bedingung der Möglichkeit von Willensfreiheit (und reflexivem Bewusstsein) notwendig gedacht werden muss. Bezüglich der libertarischen Willensfreiheit besteht das Verdienst der transzendentallogischen Analyse darin, auf besonders nachdrückliche Weise darauf hinzuweisen, dass solche Freiheit ein Unbedingtheitsmomentin dem Sinne impliziert, dass es letztlich vom Subjekt (und nicht von äußeren oder inneren Determinanten) abhängen muss, von welchen Gründen es sich bestimmen lässt und welche Entscheidungsalternative es entsprechend auswählt. Das Subjekt muss der Urheber bzw. der Ursprung der Entscheidung sein. Allerdings bedarf es eigentlich keiner speziellen transzendentallogischen Methodik, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Denn das genannte Unbedingtheitsmoment ist ein Implikat des Begriffs libertarischer Willensfreiheit und ergibt sich somit aus einer Analyse der alltagssprachlichen Bedeutung dieses Begriffs (vgl. das Merkmal der Urheberschaft in Kapitel 2). Diese Analyse erfolgt aus der sprachpragmatisch konstituierten Teilnehmer:innenperspektive heraus, denn sie erfordert das Wissen dieser Perspektive. Auch Habermas setzt dieses im Begriff libertarischer Willensfreiheit implizierte Unbedingtheitsmoment voraus, allerdings ohne dies explizit zu thematisieren. Der transzendentallogische Versuch, das Unbedingtheitsmoment wiederum durch eine transzendentale Handlung des transzendentalen Ichs bzw. durch eine Selbstsetzung des transzendentalen Ichs zu erklären, hat sich als zirkulär und somit misslungen erwiesen (vgl. Kapitel 6.2 und 8.3). Dasselbe gilt für den Versuch, das präreflexive Selbstbewusstsein auf diese Weise zu erklären (vgl. Kapitel 8.3). Bemerkenswert ist allerdings die transzendentalphilosophische Ansicht, dass präreflexives Selbstbewusstsein und Freiheit eng miteinander zusammenhängen, ja möglicherweise sogar zwei unterschiedliche Perspektiven (eine phänomenologische und eine begriffslogische) auf ein und denselben Gegenstand sind. Diese Einsicht ist umso bemerkenswerter, als sie aus der Perspektive des Enaktivismus bestätigt wird. Der Enaktivismus stellt keine weitere (fünfte) Perspektive dar, sondern eine veränderte naturwissenschaftliche Perspektive, die in der Lage ist, Intentionalität, Teleologie und eine basale Form von Freiheit zu integrieren. Die Veränderung der

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naturwissenschaftlichen Perspektive wird dadurch möglich, dass Kognitionswissenschaftler:innen diese unter Einbezug phänomenologischer Analysen modifizieren. Unter Einbezug der vier verschiedenen Perspektiven auf das Problem einschließlich der Hypothesen des Enaktivismus sowie der verhaltensbiologischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse von Michael Tomasello (vgl. Kapitel 5.5.1) ergibt sich folgendes Fazit dazu, wie libertarische Willensfreiheit unter Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse denkmöglich wird. Es handelt sich wohlgemerkt um eine metaphysische Hypothese, für die es notwendig ist, zum Teil inkommensurable epistemische Perspektiven zu einer Gesamtsicht zu verbinden, die dementsprechend notwendigerweise mehr den Charakter einer Metanarration als einer vollständigen und zufriedenstellenden Theorie hat: Mit der Entstehung lebender Zellen traten in der Naturgeschichte erstmals adaptive autonome Systeme in Erscheinung, die über eine basale Form von Freiheit verfügten, und zwar über die Freiheit, die eigene strukturelle Identität bei wechselnder materieller Zusammensetzung aktiv durch Interaktion mit der Umgebung und durch Einwirkung auf ihre Komponenten aufrechtzuerhalten (= Autonomie im enaktiven Sinne). Dinge in der Umgebung dieser Zellen hatten in Relation zu ihrer Identität eine Bedeutung für die Zellen, d. h. durch die Entstehung des Lebens kamen Intentionalität, Teleologie und Kognition in die Welt. Auf der Basis der Autopoiesis lebender Zellen konnten sich in komplexen Organismen oberhalb der Ebene organismischer Autonomie weitere Ebenen adaptiver autonomer Systeme entwickeln, z. B. sensomotorische Autonomie und die Autonomie sozialer Interaktionen. Die übergeordneten Autonomieebenen integrieren dabei die untergeordneten und nehmen sie durch Abwärtskausalität zur Aufrechterhaltung der eigenen Identität in Dienst. Beispielsweise kann der Organismus als sensomotorischer Akteur und zum Zwecke der Aufrechterhaltung seiner Identität als sensomotorischer Akteur, d. h. in Abhängigkeit von seiner Identität, beeinflussen, welche sensomotorischen Schemata als Reaktion auf bestimmte Umweltreize aktiviert werden. Die bisher genannten Hypothesen sind Hypothesen, die der Enaktivismus aus der Beobachter:innenperspektive der Naturwissenschaften formuliert. Insofern es sich um eine Perspektive handelt, kann man mit Habermas davon ausgehen, dass es sich um eine realistische Beschreibung der Wirklichkeit handelt, die aber die Natur deshalb dennoch nicht beschreibt wie sie ‚an sich‘ ist (‚Realismus ohne Repräsentation‘). Schon die basale Form von Freiheit, die auf der Ebene organismischer Autonomie entsteht, muss als epistemisch stark emergent bezeichnet werden, denn die auftretende Abwärtskausalität des Systems kann epistemisch nicht auf das naturwissenschaftliche Wissen über die Komponenten des Systems reduziert werden. Das Bestehen der ‚Erklärungslücke‘ auf dieser ersten Emergenzstufe wird durch den Habermas’schen Perspektivendualismus nur zum Teil plausibilisiert (vgl. Kapitel 9, Anmerkung 432), weil Kommunikation für die Emergenz dieser basalen Form von Freiheit keine Rolle spielt. Zumindest aber kann die ‚Erklärungslücke‘ mit

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Habermas insofern plausibel gemacht werden als der epistemische Perspektivendualismus dagegen spricht, dass die Naturwissenschaften die Natur vollständig erfassen, wie sie ‚an sich‘ ist. Dann ist es nicht verwunderlich, wenn auf dieser ‚reduzierten‘ Wissensbasis keine vollständige Erklärung für die Emergenz basaler Freiheit möglich ist. Der epistemisch begründete Verzicht auf eine physikalistische Basisontologie plausibilisiert also die Erklärungslücke zumindest teilweise (vgl. Kapitel 5.7.3). Spätestens auf der Ebene der sensomotorischen Autonomie, d. h. wenn auf der sensomotorischen Ebene ein adaptives autonomes System entsteht, ist die Aktivität (aufwärts und abwärts), durch die das System in Interaktion mit seiner Umwelt seine Identität aufrechterhält, mit präreflexivem Selbstbewusstsein (und einem entsprechenden präreflexiven Objektbewusstsein) verbunden bzw. sie geht damit einher. Zu dieser Hypothese kommt der Enaktivismus (hier in erster Linie vertreten durch Di Paolo), indem er versucht, die bisher genannten Einsichten der naturwissenschaftlichen Perspektive mit dem Wissen der Erlebnisperspektive von Subjekten (in diesem Fall Menschen), welche die Phänomenologie analysiert, zu verbinden. Da es sich nicht um eine vollständige, d. h. reduktive, naturwissenschaftliche Erklärung für Bewusstsein handelt, muss (auch) (präreflexives) Bewusstsein aus der naturwissenschaftlichen Perspektive als ein epistemisch stark emergentes Phänomen klassifiziert werden. Aus den sprachpragmatischen Analysen von Habermas, die er nur aus der Perspektive eines Teilnehmers an kommunikativen Handlungen vornehmen kann, und seiner daraus entwickelten Erkenntnistheorie in Kombination mit naturwissenschaftlichen (genauer gesagt evolutionstheoretischen) Erkenntnissen (Beobachter:innenperspektive) lässt sich die weitere Entwicklung der Naturgeschichte rekonstruieren. Denn man kann daraus schlussfolgern, dass sich die menschliche Kognition und das menschliche Bewusstsein durch kommunikative, erst gestische, dann sprachliche Sozialisierung im Vergleich zur vormenschlichen Kognition und vormenschlichem Bewusstsein entscheidend gewandelt haben. Unterstützt wird diese These durch verhaltensbiologische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse Tomasellos, der davon ausgeht, dass die menschliche Fähigkeit zu geteilter Intentionalität als Voraussetzung für die sprachliche Sozialisierung ihrerseits auf einem genetischen Unterschied zwischen Menschen und Menschenaffen beruht. Das Auftreten der entsprechenden Mutation kann man also als das entscheidende evolutionäre Initialereignis für die Entstehung des Menschen begreifen. Alle weitere Entwicklung des menschlichen Denkens und seiner Erkenntnisfähigkeit beruht danach auf der Entstehung von Sprache, die eine kulturelle Evolution ermöglichte. Aus der Erlebnisperspektive des präreflexiven Selbstbewusstseins konnten sich so – durch sprachliche Sozialisierung – die Teilnehmer:innen- und die Beobachter:innenperspektive und die zugehörige intersubjektiv geteilte Lebenswelt entwickeln. Vor dem Hintergrund dieser intersubjektiv geteilten Lebenswelt können

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Kommunikationsteilnehmer:innen Gründe (für erhobene Geltungsansprüche oder zu treffende Entscheidungen) verstehen und auf ihre Plausibilität hin beurteilen. Aus der basalen Form von Freiheit, über die auch einfachere Organismen als adaptive autonome Systeme bereits verfügen, konnten so die Willensfreiheit und die Rationalität des Menschen emergieren. Auch hier muss von starker Emergenz im epistemisch verstandenen Sinn ausgegangen werden, denn es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen Autonomie im enaktiven Sinn und Autonomie im Kant’schen Sinn. Willensfreiheit meint hier, dass ein Subjekt zu erhobenen Geltungsansprüchen Stellung beziehen kann oder eine Entscheidung treffen kann, ohne dass die Stellungnahme oder die Entscheidung durch äußere oder innere Bedingungen determiniert wäre. Das Subjekt ist Urheber der Stellungnahme bzw. der Entscheidung. Deshalb und wegen des intersubjektiven, lebensweltlichen und perspektivischen Kontextes, dem Gründe entstammen, folgt die bewusste Auseinandersetzung mit Gründen nicht Naturgesetzen, auch wenn die korrelierenden neuronalen Prozesse (nicht deterministischen) Naturgesetzen unterliegen. Vielmehr beeinflussen das Bewusstsein und die bewussten Entscheidungen des Subjekts die korrelierenden neuronalen Prozesse. Die Art und Weise, wie dies geschieht, kann man sich als analog dazu vorstellen, wie ein adaptives, autonomes System seine Komponenten beeinflusst, nämlich durch irreduzible Abwärtskausalität im Modus der causa formalis und außerdem nicht, indem es seine untersten mikrophysikalischen Komponenten direkt beeinflusst, sondern indem es die Aktivität zwischengeschalteter mittlerer Systemebenen beeinflusst, die ihrerseits wiederum die ihnen untergeordneten Systemebenen beeinflussen. Das Emergieren von Willensfreiheit und reflexivem Bewusstsein aus präreflexivem Bewusstsein und organismischer Freiheit durch die kommunikative Sozialisierung muss, wie bereits erwähnt, aus der naturwissenschaftlichen Perspektive wiederum als ein Prozess starker Emergenz verstanden werden. Das Vorhandensein von Erklärungslücken, die darin bestehen, dass es erstens keine vollständige, rein naturwissenschaftliche Erklärung für die Genese von Bewusstsein und Willensfreiheit gibt und dass zweitens empirisch keine Einwirkungen des Bewusstseins auf seine neurobiologische Basis feststellbar sind (obwohl die Welt im Ganzen monistisch verfasst ist), ist deshalb kein Argument gegen eine solche Theorie starker Emergenz, weil es sich durch den Habermas’schen Perspektivendualismus vollständig plausibilisieren lässt. Vergleichbares gilt für den ontologischen Einwand gegen Theorien starker Emergenz, gemäß dem Bewusstsein und Willensfreiheit wenigstens durch ein allwissendes Wesen auf die ‚Natur der Naturwissenschaften‘ reduzierbar sein müssen, vermeintliche starke Emergenz also nur schwache Emergenz sein kann, denn schließlich sind Bewusstsein und Willensfreiheit (angeblich) aus dieser ‚Natur der Naturwissenschaften‘ hervorgegangen. Dieser ontologische Einwand ist nur unter der Voraussetzung einer physikalistischen Basisontologie berechtigt, d. h. unter der Voraussetzung, dass die ‚Natur an sich‘ sich in der ‚Natur

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der Naturwissenschaften‘ erschöpft. Teilt man jedoch, wie die Autorin dieser Arbeit, die Habermas’sche Konzeption des Perspektivendualismus, muss man (wie es auch manche andere Vertreter:innen von Emergenztheorien tun) auch die physikalistische Basisontologie verabschieden, so dass der ontologische Einwand gegen starke Emergenz sich erübrigt. Starke Emergenz wird unter dieser Voraussetzung allerdings zu einem epistemischen Konzept, das nur aus der naturwissenschaftlichen Perspektive heraus Sinn ergibt. Die Rede davon, dass das Bewusstsein die neurobiologischen Prozesse im Gehirn bzw. den biologischen Organismus als adaptives autonomes Gesamtsystem beeinflusst, ergibt sich aus dem Versuch, das Wissen der Beobachter:innenperspektive mit dem Wissen der Teilnehmer:innen- bzw. phänomenologisch erschlossenen Erlebnisperspektive zu einem Gesamtbild der Wirklichkeit zusammenzusetzen. Da es sich bei Bewusstsein und biologischem Organismus aber nicht um zwei voneinander unterschiedene Entitäten handelt, sondern um zwei unterschiedliche Aspekte, unter denen eine einzige ontologisch zu Grunde liegende, ‚an sich‘ unerkennbare Entität aus unterschiedlichen Perspektiven erscheint, können diese gar nicht miteinander wechselwirken. Wenn man aber mit Habermas erstens davon ausgehen, dass beide Perspektiven uns auf ihre Weise ein realistisches, zutreffendes Erkennen der Wirklichkeit ermöglichen und man zweitens jenseits dieser Perspektiven keine Möglichkeit hat, etwas von der Wirklichkeit zu erkennen, bleibt einem, wenn man nicht auf Aussagen über die Wirklichkeit als Ganze verzichten will, nichts anderes übrig als der Versuch, die beiden Perspektiven zu verbinden. Weil unser Denken jedoch an die jeweilige Logik der Perspektiven gebunden bleibt, lässt es sich dabei nicht vermeiden, der kausalen Logik der Beobachter:innenperspektive entsprechend davon zu sprechen, dass das Bewusstsein auf das biologische System einwirkt, und die beiden Aspekte sprachlich als unterschiedliche Entitäten zu behandeln. Diese Redeweise ist der Begrenztheit und Perspektivität unserer Denk- und Sprechweise geschuldet. Sie sollte nicht als ein ontologischer Dualismus fehlinterpretiert werden. Diesen will das Konzept des epistemischen Dualismus gerade vermeiden. Mit Habermas einen epistemischen Dualismus (oder Pluralismus) zugleich mit einem ontologischen Monismus zu vertreten, ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass man Abstriche hinsichtlich des Erkenntnisrealismus der Perspektiven macht. Dementsprechend vertritt Habermas keine Korrespondenztheorie der Wahrheit sondern einen ‚Realismus ohne Repräsentation‘. Unter Voraussetzung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit ist es dagegen ausgeschlossen, dass mehrere sich widersprechende Aussagen über die Wirklichkeit zugleich wahr sein können. Der abgeschwächte Realismus ermöglicht zugleich eine im Vergleich zu Physikalismus und Naturalismus (der Variante I), die sich auf eine Minimalmetaphysik beschränken wollen, anspruchsvollere (und damit natürlich auch voraussetzungsreichere) Metaphysik, wie Habermas sie faktisch betreibt (ohne sich dies

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einzugestehen) und wie sie auch im Rahmen dieser Arbeit vorgeschlagen wurde. Diese Metaphysik ist in der Lage, sowohl naturwissenschaftliche Erkenntnisse als auch die Intuition libertarischer Willensfreiheit zu integrieren. Gegenüber einer physikalistischen oder naturalistischen (Variante I) Metaphysik hat sie den Nachteil, komplizierter zu sein, mit einer komplexeren Erkenntnistheorie einherzugehen und an den Übergängen zwischen den Perspektiven Erklärungslücken in Kauf nehmen zu müssen. Ihre Stärke besteht darin, dass sie einer lebensweltlichen Intuition gerecht wird, auf die wir aus sprachpragmatischen Gründen nicht verzichten können und auf die ich für meinen Teil nicht verzichten will.

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Personenverzeichnis

A Adorno, Theodor W. 254 Albert, Hans 250, 328, 329 Apel, Karl-Otto 310, 311, 329 Aristoteles 360 Audretsch, Jürgen 129 Augustinus von Hippo 16 Austin, John L. 194

C Campbell, Donald T. 357 Cartwright, Nancy 148 Chalmers, David 263 Chrisholm, Roderick M. 114 Clayton, Philip 128, 258, 394, 397 Cramer, Konrad 272 Crone, Katja 303

B Baker, Lynne 303 Barandiaran, Xabier E. 351, 359, 363 Bartels, Andreas 148 Bauberger, Stefan 136, 137 Beck, Friedrich 128, 157–159 Becker, Patrick 119, 127, 128, 142, 157, 161–163, 166, 167, 259, 263 Beckermann, Ansgar 112, 119, 250 Bell, John Stewart 139 Bénard, Henri 358, 397, 398, 400, 405 Bieri, Peter 29, 38, 104, 105, 124, 125, 288 Bird, Alexander 148 Bishop, Robert 400, 401 Blakemore, Sarah-J. 373 Bohm, David 130, 139–143, 166 Bohr, Niels 130, 135–138, 161 Boltzmann, Ludwig 122 Boost, Maximilian 259–262, 264 Borner, Marc 303 Brentano, Franz 112 Broad, Charlie D. 393 Broglie, Louis de 131, 132 Brüntrup, Godehard 116–120, 126, 128, 150, 151, 154, 165, 175, 263 Buhrmann, Thomas 350, 359 Butterfield, Jeremy 98

D Damasio, Antonio 26, 303–308, 340, 346, 350, 362, 366, 368, 375, 431 Darwin, Charles 170 Deecke, Lüder 56 Descartes, René 123, 156, 178, 268, 296, 347, 421 Di Paolo, Ezequiel A. 350–356, 359, 363–368, 373, 375–378, 380–384, 387, 405, 411–413, 432, 433, 438 Dretske, Fred 114 Duns Scotus, Johannes 18 Dupré, John 101, 147–149 Düsing, Edith 341 E Eccles, John 128, 157, 167 Eimer, Martin 57, 58, 83–87 Einstein, Albert 130, 139 Essen, Georg 20, 310 Everett, Hugh 130 F Falkenburg, Brigitte 91, 92, 144–146, 153, 155, 157, 162, 175, 181, 182 Fichte, Johann Gottlieb 267, 269–272, 274, 275, 316, 317, 322, 324, 340–342, 404–407, 411, 413, 429

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Personenverzeichnis

Fodor, Jerry 114 Frank, Manfred 267–270, 272, 274, 284–286, 288, 289, 298, 301 Freeman, Walter J. 358, 360, 371, 380–382, 386, 387 Frith, Chris D. 373 Fuchs, Thomas 261, 294, 296, 297, 348, 360–362, 366, 368, 370–372, 379, 387–390 G Galilei, Galileo 155 Gall, Franz Joseph 14 Gallagher, Shaun 290, 293, 373, 375, 376, 379 Gibson, James Jeromes 347 Ginet, Carl 188 Gurwitsch, Aron 297, 299 H Habermas, Jürgen 24–26, 30, 32–34, 74, 82, 85, 106, 115, 116, 137, 166, 167, 189, 191–231, 237, 240–270, 272, 274–282, 284, 286–288, 307, 309–313, 329, 336, 340–343, 349, 369, 383, 391, 403, 404, 413–415, 424–431, 435–440 Haggard, Patrick 57, 58, 83–87 Haken, Hermann 357, 358, 395–398 Hamilton, William Rowan 98 Hartmann, Dirk 125, 170 Heidegger, Martin 289, 347 Heisenberg, Werner 130–133, 135, 136, 141 Hempel, Carl Gustav 165, 171 Henrich, Dieter 267, 268, 270–274, 284, 298, 301, 308, 322–324, 330–332, 335, 338, 340, 343, 413, 430 Henry, Michel 295, 298, 299 Herz, Andreas 145, 146, 157 Holst, Erich von 372 Horkheimer, Max 254

Hoyningen-Huene, Paul 109, 393 Hubert, Martin 72 Hume, David 122, 153 Husserl, Edmund 112, 211, 227, 289, 290, 292, 294, 296–299, 347, 428 Hüttemann, Andreas 148 Hutto, Daniel 351 I Inwagen, Peter von

152

J Jäckels, Gerhard 159, 161 Jonas, Hans 347, 405, 406, 408–410, 413 Juarrero, Alicia 358 K Kane, Robert 167, 188 Kant, Immanuel 15, 27, 122, 137, 215, 223, 227, 267–269, 311, 426, 433, 439 Keil, Geert 84–87, 91, 148, 149, 168, 169, 174, 181 Kelso, J. A. Scott 358 Kim, Jaegwon 399–401, 406 Klein, Andreas 148 Klemens von Alexandrien 18 Koch, Christof 52, 67 Kornhuber, Hans 56 Krings, Hermann 25, 26, 274, 307, 310–327, 329–332, 339, 341–344, 350, 404–407, 409–411, 414, 429, 430, 434, 436 Kuhlmann, Meinard 116, 117, 123, 396–398 Kyselo, Miriam 348, 354 L Lange, Rainer 170 Laplace, Pierre-Simon 14, 97, 101, 189 Legrand, Dorothée 291–293, 295, 298–300, 372–376, 380, 428

Personenverzeichnis

Lerch, Magnus 269, 310, 320–322, 326, 329, 331, 333–343, 412, 413, 430 Lewis, David 154 Libet, Benjamin 55–58, 63, 77, 83–87 Lorenz, Konrad 393 Luther, Martin 17 M Mach, Ernst 263 Marcuse, Herbert 254 Maturana, Humberto 347, 351, 355 Mauersberg, Barbara 287 Mead, Georg Herbert 231, 275–279, 282, 283, 285, 289 Merleau-Ponty, Maurice 289, 292, 294, 297, 299, 347, 369, 428 Mittelstaedt, Horst 372 Mittelstraß, Jürgen 230 Mumford, Stephen 148 Musholt, Kristina 303 Mutschler, Hans-Dieter 121, 122, 125, 147, 153–155, 163, 165, 170, 175, 394, 395, 398, 405 Myin, Erik 351 N Nagel, Thomas 111, 263, 288 Newton, Isaac 98, 140, 147, 148, 155, 421 Nida-Rümelin, Julian 152 Nitsche, Bernhard 310, 312, 321–323, 326, 331, 335 Noë, Alva 351 O Ockham, Wilhelm von 18, 163 Oppenheim, Paul 108, 165, 171 Origenes 18 O’Connor, Timothy 188 O’Regan, J. Kevin 351

P Pauen, Michael 29, 41, 73, 82, 85, 86, 89, 103–105, 114 Paulus, Apostel 16, 18 Peirce, Charles Sanders 223 Piaget, Jean 347 Planck, Max 130 Popper, Karl 170–173 Pothast, Ulrich 272 Prigogine, Ilya 397, 398 Prinz, Wolfgang 41–43, 59, 73–75, 82, 83, 88, 89, 91–95, 173, 246, 247, 419 Pröpper, Thomas 20, 25, 310, 323, 333–335, 413, 430 Putnam, Hilary 109 Pylkkänen, Paavo 128, 157 Q Quine, Willard Van Orman

170

R Rahner, Karl 20 Rhode, Marieke 346 Rorty, Richard 218, 221 Rosch, Eleonor 347 Rösler, Frank 86 Roth, Gerhard 13, 21, 23, 29, 34, 41–47, 49, 50, 55, 58–63, 65–67, 69–79, 81–83, 88–91, 93–96, 103, 104, 110, 111, 182–187, 308, 419, 420 Russel, Bertrand A. W. 153, 263 S Sartre, Jean-Paul 289, 290, 296–300, 428 Scherer, Siegfried 172 Schmidt, Winfried 128, 157–160 Schmitz, Hermann 291–293, 298–300 Schockenhoff, Eberhard 18, 19 Schrödinger, Erwin 132–141 Schwelger, Helmut 109, 110 Searle, John R. 113, 194 Seel, Martin 189, 215, 217

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Personenverzeichnis

Sellars, Wilfrid 169 Simon, Walter Emanuel 213, 254 Singer, Wolf 13, 21, 23, 41–43, 48, 49, 51, 64, 69, 70, 72–74, 76, 78, 80–83, 91, 95, 103, 308, 419 Spaemann, Robert 170 Sperry, Roger 393, 394 Stadler, Michael 358 Stein, Edith 293 Stephan, Achim 397 Strasser, Anna 303, 379 Striet, Magnus 310, 322, 324–327, 330, 332, 337–340, 343, 412, 413, 430 T Tetens, Holm 170 Tewes, Christian 188, 189, 350, 382, 384–387, 413 Thomas von Aquin 18 Thompson, Evan 347, 348, 350–354, 356–358, 360–362, 364, 368, 369, 371, 372, 379, 393–395, 400, 401, 404, 406–409

Tomasello, Michael 231–245, 282, 283, 289, 426, 437, 438 Tugendhat, Ernst 274, 275, 281, 284, 288 V Varela, Francisco 362, 393

347, 351, 354–356, 360,

W Walde, Bettina 29, 34, 83, 104–106 Weber, Andreas 354, 356 Wegner, Daniel 73 Weizsäcker, Carl Friedrich von 137 Wendel, Saskia 293, 331 Whitebook, Joel 250 Wingert, Lutz 211 Wittgenstein, Ludwig 175, 252 Wolpert, Daniel M. 373 Wright, Georg Henrik von 223 Z Zahavi, Dan 290, 291, 293, 295, 297–300, 428 Zunke, Christine 165, 166, 263