Frauen und Jungen: Eine pädagogische Herausforderung 9783666701320, 9783525701324, 9783647701325

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Frauen und Jungen: Eine pädagogische Herausforderung
 9783666701320, 9783525701324, 9783647701325

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■ FRÜHE BILDUNG UND ERZIEHUNG ■

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Ilka Weigand

Frauen und Jungen

Eine pädagogische Herausforderung

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Mit 5 Fotos, 3 Abbildungen und 7 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-70132-4 ISBN 978-3-647-70132-5 (E-Book) Umschlagabbildung: Christine-Langer-Püschel / Digitalstock.de Fotomodelle: Benedikt und Elisabeth Lohner Fotograf: Lukas Loske © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen . . . . . . 15 1.1 Junge oder Mädchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das biologische Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das soziologische Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Bindung als Grundlage für Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 Jungen sind das schwächere Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bindung in der frühen Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Männer und Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Frauen und Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Triade Mutter – Vater – Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 52 56 62 84 86

3. Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.1 Gesetzliche Grundlagen aus dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Empfehlungen aus dem Bayerischen Erziehungs- und Bildungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gender Mainstreaming in der Kindertagesstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Erzieherinnen und Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Geschlechtsspezifische Jungenarbeit als Grundlage für Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 93 95 98 117 121

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Zur Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

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Vorwort

In den letzten zehn Jahren hat sich die Wissenschaft immer stärker der Fragestellung zugewandt, wie es zu einer immer deutlicher werdenden Krise der Jungen kommen konnte, die auf vielen Ebenen beobachtbar ist  – beispielsweise im vielfältigen Ausdrucksverhalten sowie in gezeigten Schulleistungen. Gleichzeitig wurde der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten ins Auge zu fassen sind, um Jungen dabei zu helfen, Krisen zu meistern, zu minimieren bzw. Krisen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Vielfältige Artikel in (über-)regionalen Zeitungen sowie unterschiedliche Beiträge in Zeitschriften thematisieren die Jungenkatastrophe. Vereinzelt rüttelten diese Beiträge zur Jungenproblematik Eltern sowie pädagogische Fachkräfte auf und sensibilisierten sie für diesen bedeutsamen Schwerpunkt.1 Die breite Öffentlichkeit  – gemeint sind hier vor allem Eltern von Jungen sowie Fachkräfte im elementar- / schulpädagogischen Arbeitsfeld – scheint sich jedoch nicht besonders für diese Fragestellung zu interessieren, gemessen an der Anzahl der Fachtagungen, Kongresse oder Fortbildungsangebote. Es bleibt im Unterschied zu anderen Aspekten ein Nischenthema. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern fachlich auch nicht nachvollziehbar! Selbst das engagierte Plädoyer von Rohrmann & Thoma (1998), eine viel deutlichere geschlechtsbezogene Pädagogik zu beachten und gleichzeitig zu realisieren, blieb so gut wie ungehört, schaut man sich selbst die Realität der pädagogischen Praxis in Kindertagesstätten an: Jungen geraten im Vergleich zu Mädchen in ihren Schulleistungen signifikant ins Hintertreffen. Gleiches gilt für den Schulerfolg. Schon Wassilios E. Fthenakis konstatierte im Jahre 2007, dass diese Unterschiede vor allem Folge einer systematischen Benachteiligung zu den Mitschülerinnen ist. Und Matzner / Tischner (2008, S.  9) sprechen gar davon, »dass das Männliche in

1 Vgl. zum Beispiel Petra Focks: Starke Mädchen, starke Jungs. 2002; Melitta Walter: Jungen sind anders, Mädchen auch. 2005; Allan Guggenbühl: Kleine Machos in der Krise. 2006; Frank Beuster: Die Jungenkatastrophe. 4. Aufl. 2007; Leonhard Sax: Jungs im Abseits. 2007; Andreas Gössling: Die Männlichkeitslücke. 2008; Thomas Rhyner/Bea Zumwald: Coole Mädchen – starke Jungs. 2008; Frank Dammasch [Hrsg]: Jungen in der Krise. 2008.

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Vorwort

den letzten Jahrzehnten eine historisch bislang beispiellose Abwertung erfahren hat und erfährt«. Die Amerikanerin Christina Hoff Sommers spricht von einem »war against boys« (Krieg gegen Jungen) (2001), weil in weiblich dominierten Schulen jungentypisches Verhalten nicht akzeptiert, sondern sanktioniert, unterdrückt und in stärkster Ausprägung sogar pathologisiert wird. Dasselbe trifft auch für viele Kindertageseinrichtungen in Deutschland zu, wo eher gebastelt wird, wo Tätigkeiten an weiblichen Interessen ausgerichtet werden und wo Jungeninteressen damit auf dramatische Weise auf der Strecke bleiben müssen. »Jungen brauchen eine geschlechtsbewusste Pädagogik, Pädagogen und Pädagoginnen mit einem differenzierten Blick auf geschlechtsbezogene Entwicklungsaufgaben, Erwartungen und Zumutungen« (Rohrmann 2007, S. 148) auch wenn Kritiker der Ausgangssituation sich vielleicht fragen, ob es denn wirklich notwendig sei, Jungen so stark in den Fokus zu setzen und ob es nicht einer »Dramatisierung von Geschlecht« (Faulstich-Wieland 1998) gleichkommt, dieses Thema mit einer so hohen Wertigkeit zu versehen. Fakt ist: Jungen und Mädchen brauchen auf der bestehenden Grundlage ihrer jeweils geschlechtsindividuellen Dispositionen unterschiedliche Herausforderungen, unterschiedliche Ausdrucksschwerpunkte und unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten, um ihren besonderen personalen und geschlechtsidentischen Wert zu entdecken und zu stabilisieren. Nur dadurch wird es gelingen, dispositionale und soziokulturelle Besonderheiten zusammenzuführen. Neurobiologische  /  biowissenschaftliche Erkenntnisse fordern verständlicherweise einen interdisziplinären Zugang zu diesem spannenden Thema, bei dem dogmatische Meinungen oder vehemente Abgrenzungsversuche einzelner Wissenschaftsbereiche keine Rolle spielen dürfen (Forster 2004; 2007 / Krebs, 2007). Der Austausch des »Geschlechts als biologische Tatsache« durch den Begriff des »sozialen Geschlechts« – wie es in der derzeitig viel beachteten Gendertheorie geschieht – ist als höchst problematisch anzusehen, weil damit eine neue Tatsache implantiert werden soll, die bestehende Fakten außer Acht lässt und wissenschaftliche Erkenntnisse ins Abseits drängt. Es ist notwendiger denn je, eine fachlich tiefer gehende Betrachtung vorzunehmen, um bestimmte Bedürfnisse, Eigenarten sowie spezifische Interessen von Jungen zu erkennen und die elterliche / institutionalisierte Pädagogik darauf abzustimmen. Sarah Ebertz (in: Kinder, 12 / 2010, S. 9) formuliert es so:

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Vorwort

Jungen sind anders als Mädchen. Keine Frage. Aber müssen sie auch anders erzogen werden? Eindeutig: ja! Jungen zeigen meist andere Interessen und Verhaltensweisen als Mädchen. Diesem ›kleinen Unterschied‹ zwischen den Geschlechtern wird man nur gerecht, indem man ihn auch bei der Erziehung berücksichtigt.

Jungen haben ein Recht darauf, nicht immer wieder bzw. immer stärker in Identitätskrisen hinein manövriert zu werden. Diese wirken sich nicht nur entwicklungshinderlich auf die Jungen selbst aus, sondern verunsichern auch Eltern und professionelle Fachkräfte. Beziehungsorientierte Machtkämpfe sind somit vorprogrammiert. Ilka Weigand, die Autorin dieses Buches, hat sich aus drei Perspektiven dem Thema zugewandt: als Mutter dreier Söhne, als wissenschaftlich arbeitende Person und als Pädagogin, die den Wunsch hat, dass Menschen, die mit Jungen umgehen, ihren Blick für jungenspezifische Besonderheiten schärfen. Die Verbindung dieser drei Aspekte macht das Buch ganz besonders spannend, interessant, informativ und lesenswert. Armin Krenz (Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik – IFAP – Kiel. www.ifap-kiel.de)

Kiel, September 2011

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Einführung

Von den Kindern Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen. Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern (Khalil Gibran 1999, S. 16 f.).

Die intensive theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Jungen und ihrer Sozialisation ist seit langem ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben und somit ursächlich für mein Verständnis und meine Erfahrung auf diesem Gebiet. Aus großem Respekt vor den Herausforderungen, welche Jungen im Rahmen ihrer Sozialisation meistern müssen, möchte ich folgende Erklärung vorausschicken: Ich schreibe aus dem Blickwinkel einer Frau und mir ist bewusst, dass meine Annahmen durch meine weibliche Geschlechtsidentität gefärbt sind. Meine eigene Biografie ist mit prägnanten Stereotypen belegt. Wenn ich über Jungen und ihre besondere Beziehung zu Frauen schreibe, bin ich folglich persönlich involviert und werde authentische, lebensnahe Aussagen treffen. Als Mutter von drei Söhnen, als Pädagogin und als (Ehe-)Frau werte ich meine direkte Betroffenheit als positiven Aspekt, welcher mir eine auf Fakten und Erfahrungen basierende Analyse dieses komplexen Beziehungs- und Entwicklungsgeflechts erst ermöglicht. Mein Ziel ist es, durch die Verknüpfung meiner persönlichen Erfahrungen mit entscheidenden Basisinformationen über Jungensozialisation,

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Einführung

anderen Mut zu machen, das Privileg der Beziehung zwischen Frauen und Jungen als ein besonderes Geschenk zu erleben. Besonderen Wert lege ich auch darauf, dass mit diesem Buch keine Gebrauchsanweisung für Jungen entstehen soll. Das Gegenteil ist der Fall. Jeder Junge, jedes Mädchen ist genau wie jeder Mann und jede Frau eine einzigartige, individuelle Persönlichkeit. Den Blick zu schärfen für die jeweiligen Besonderheiten, die Jungen ausmachen können, ist das Ziel dieser Literatur. Wenn es gelingt, Jungen feinfühlig zu verstehen, und ihre Entwicklung sicher deuten zu können, dann bedarf es eigentlich nur noch einer klaren Ausdrucksweise, gepaart mit dem Wissen darum, dass auch harte Auseinandersetzungen positive Beziehungsarbeit sind. Ich möchte Männer explizit dazu auffordern, dieses Buch für sich als Informationsgeber zu nutzen. Jungen orientieren sich im Allgemeinen mental und körperlich an ihrer Wesensverwandtschaft zu Männern. Ich werde aufschlussreiche Einblicke in das Beziehungsgeflecht zwischen Jungen und ihren männlichen und weiblichen Bezugspersonen aufzeigen, die unter anderem dazu auffordern, den Teamgedanken zwischen Mann und Frau im Rahmen der Jungensozialisation weiterzuentwickeln. Die Realisierung einer Win-win-Situation zwischen Frauen und Männern in der Gestaltung der Beziehung zu Jungen unterstützt eine positive Entfaltung für die Kinder auf dem Weg ins Erwachsenenleben und gleichzeitig die Entwicklung der Geschlechtergerechtigkeit. Ich werde die Vielfalt und Ungewissheit der Lebenswelt von Jungen und Männern beleuchten, die innerhalb der Emanzipationsbewegung der Frauen bisher kein eigenes Profil entwickelt hat. Sich dieser Lebenswelt innerhalb des eigenen Sozialisationsprozesses zu stellen, verlangt großen Respekt. Der Anteil, welchen die Frauen und Mütter an dieser Vielfalt und Unsicherheit verantworten, ist groß. Bis heute befinden sich Frauen in der absurden Situation, die Entwicklung von Jungen aufmerksam und liebevoll zu begleiten und gleichzeitig zu ahnen, dass sie die Schlüsselkompetenzen für ein glückliches Mann werden nicht ausreichend weitergeben können. Jungen und Männer sind in unserer Zeit ohne Vorbilder und wissen – im Gegensatz zu den emanzipierten Frauen – nicht sicher, welche Rolle sie im Leben ausfüllen sollen und werden. Die Gestaltung der Beziehung ist somit für die Frau in zweifacher Hinsicht äußerst schwierig. Zum einen ist es nicht ausreichend und sogar schädlich für die Sozialisation der Jungen, wenn sie ihr feminines Lebenskonzept unreflektiert an das an-

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Einführung

dere Geschlecht weitergibt. Zum anderen ist es schwierig für die Frau, die Beziehung zu den Jungen über den entscheidenden Zeitpunkt hinaus aufrecht zu erhalten. Der Zeitpunkt, an dem die Jungen erkennen: »Ich bin nicht die Mama!«

Dank Mit Dank an meine Söhne: Julian-Lennart, Marian und Jannis, an meine Eltern, die sich mit Respekt als Mann und Frau begegnen und an die Männer, die mich durch ihr individuelles Mann sein beeindruckt haben: Thomas Klocke, Christian Sperl und Dr. Michael Frick. Ebenso danke ich Dr. Armin Krenz, der mich mental unterstützt hat dieses Buch zu schreiben.

Methodik Zum Thema des Buches hat jede Leserin und jeder Leser einen besonderen Bezug, eine persönliche Betroffenheit. Darum erscheint es mir wichtig, theoretische und wissenschaftliche Bezüge aufzuzeigen, welche mit Praxisbeispielen untermauert werden. Der Blick aus der Metaperspektive stellt eine Möglichkeit dar, einen sicheren eigenen Standpunkt zu entwickeln. Das Buch soll den Leser darin bestärken, sich auf den Prozess einzulassen, an der geschlechtergerechten Gesellschaft mitzuwirken. Jedes neutrale Verhalten wird die tradierten Rollen unweigerlich verstärken.

Anmerkung Im Buch werden  – auch wenn nicht ausdrücklich aufgeführt  – immer Männer und Frauen angesprochen. Als nomen generale steht dafür in der Regel nicht zusätzlich die weibliche und männliche Form. Das entspricht meinem Verständnis, sich nicht an Punkten festzubeißen oder aufzuhalten, die die Fronten nur verhärten.

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DER ERWERB VON IDENTITÄT UND GESCHLECHTSIDENTITÄT BEI JUNGEN

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GESCHLECHTSIDENTITÄT BEI JUNGEN

1. DER ERWERB VON IDENTITÄT UND

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Junge oder Mädchen?

1.1 Junge oder Mädchen?



Abbildung 1: Dieses Symbol soll das Schild und den Speer eines Kriegers nach dem Vorbild des Kriegsgottes Mars symbolisieren.

»Es ist ein Junge!« oder »Es ist ein Mädchen!«

Jeweils eine dieser beiden Aussagen wird freudig getroffen, wenn ein Kind geboren wird. In den meisten Ländern der Welt verbinden die Menschen damit die Vorstellung von einem kleinen Erdenbürger, der mit äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, welche ihn als Jungen und sie als Mädchen auszeichnen. Es scheint den Menschen ein inneres Bedürfnis zu sein, diese Einordnung vornehmen zu können. Nicht vorstellbar, dass die Geburt eines Babys allein mit der beruhigenden Aussage begleitet wird: »Es ist ein gesundes Kind.« Die schwangere Mutter, der Vater, die Eltern, die Omas, die Opas und Freunde (nicht so Geschwister – hier liegt meist der konkrete Wunsch nach Bruder oder Schwester vor) sagen häufig vorab: »Hauptsache gesund – egal, was es wird!« Dennoch ist es unerlässlich, sogleich zu wissen, ob es sich um eine Tochter oder einen Sohn handelt. Warum? Nur weil sowohl die eine als auch die andere Möglichkeit zur Verfügung steht? Nein! Mit dieser Kategorisierung erhalten die Menschen, die Kontakt zueinander aufnehmen wollen, (emotionale) Sicherheit. Immer wenn wir in Verbindung zu einem anderen Menschen treten, ist unser erstes Anliegen die Suche danach, festlegen zu können, ob es sich bei unserem Gegenüber um einen Mann oder eine Frau handelt. Es gibt kaum Situationen, die zu größerer Verwirrung führen als die, nicht eindeutig feststellen zu können, ob unser Gesprächspartner Mann oder Frau ist. Die Tatsache, dass wir beispielsweise aufgrund von Sprach-

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

unterschieden mit einem Menschen nicht kommunizieren können, irritiert uns dagegen deutlich weniger. Hier reagieren wir in der Regel nicht verunsichert und beunruhigt, sondern versuchen mit Kreativität und Freude eine Brücke zu bauen. Wir gestikulieren, malen oder versuchen über andere Sprachstämme einen Kontakt herzustellen. Dieses positive Miteinander wird sich jedoch nicht entwickeln, wenn wir uns in einer Unterhaltung mit jemandem befinden, dessen Geschlecht nicht definiert ist. Intuitiv werden wir immer versuchen, Merkmale an unserem Gegenüber zu entdecken, durch die eine Zuschreibung abgeleitet werden kann. Auch im Falle einer persönlichen Ansprache mit einem eindeutig geschlechtszuschreibenden Namen, wird sich kein freudig unbeschwertes Gespräch einstellen, wenn der optische Beweis fehlt. Es werden männliche und weibliche Eigenschaften gesucht, denn mit diesen verbinden wir die geschlechtliche Identität eines Individuums. Dazu zwei Beispiele: 1. Beispiel aus der Familie: In einem Kinderwagen wird stolz ein kleines Kind von der Oma oder dem Opa präsentiert. Es lacht freundlich und gestikuliert mit den Händchen. Die Gratulation zum Baby wird immer von der heimlichen (oder offenen) Frage begleitet: »Ist das ein Junge oder ein Mädchen?« 2. Beispiel aus dem gesellschaftlichen Bereich: Im Stundenplan vom Fitnesscenter ist Yoga mit Maxi angeschrieben. Der Name Maxi lässt alles offen. Kurz darauf kommt Maxi in die Stunde und stellt sich vor. Kurze lockige Haare und ein ansehnlich durchtrainierter Körper zeichnet sich in der Sportkleidung ab. Ein überaus schöner Mensch mit angenehm sanfter und doch tiefer Stimme. Maxi muss nochmals in einen anderen Raum, um Equipment zu holen. Leichtes Raunen und eine nicht gestellte Frage bleiben zurück. Ein Mann formuliert nach einer kleinen Pause seine Unsicherheit: »Was ist denn das für ein harter Knochen?«

Welcher Form der Verunsicherung stehen wir hier gegenüber? Wir werden Antworten in den wissenschaftlichen Theorien suchen, indem wir die Ansätze der Wissenschaft zur Klärung des Sachverhaltes heranziehen. Dadurch wird deutlich, dass wir uns mit der Fixierung auf Geschlechtszuschreibungen in einem Teufelskreis bewegen. In diesem

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Junge oder Mädchen?

Teufelskreis sind die Frauen leider unverkennbar involviert, was nachfolgend eindrücklich klar werden wird. Zum verständlichen Herleiten wird immer wieder  – entsprechend der sozialpädagogischen Tradition  – ein breit gefächerter Bezug gewählt, der eine systemische Sichtweise ermöglicht und gleichfalls eine Metaperspektive anbietet. Mit Bedacht werden an dieser einführenden Stelle zunächst zwei Ansätze (pädagogisch und soziologisch) gewählt, um eine Verbindung zum Thema aufzubauen, um dann  – im weiteren Verlauf des Buches  – vertiefende Kapitel anzubieten. Diese beiden grundverschiedenen Ansätze aus der Wissenschaft beschreiben den Sachverhalt mit wenigen Worten und stehen gleichzeitig für die Ambivalenz im Umgang mit dem Thema Geschlecht. Aus der Sicht der Soziologie beschreibt Stein-Hilbers (2000, S. 36): Der Erwerb einer Geschlechtsidentität kann als interaktiver Aushandlungsprozess verstanden werden, in dem Individuen auf bewährte Symbolsysteme zurückgreifen und sich gleichzeitig als einmalig und unverwechselbar präsentieren. Sie tun dies in den Strukturen von Zweigeschlechtlichkeit und sie gestalten damit auch das System Zweigeschlechtlichkeit: Sie verkörpern und realisieren Eigenschaften und Verhaltensweisen, die in einer jeweiligen Kultur als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ definiert werden. […] Identitätskonstruktionen sind ein Kernbereich menschlicher Persönlichkeitsentwicklung. Menschen sind darauf angewiesen, sich als kontinuierlich gleichartige und kohärente Person zu erleben und auch von anderen so wahrgenommen zu werden.

Ein Beispiel … … für stabile (im Sinne von beständige) und gleichzeitig individuell auftretende Menschen sind Jungen in Lederhosen und Trachtenhemd sowie Mädels im Dirndl: Ein bewusstes Ausstrahlen von Geschlecht und traditionsoffener Kultur – in Verbindung mit entsprechender Kleidung.

Wichtig in dieser Darstellung ist die Aussage, dass wir uns in unserem Geschlecht als einmalige Persönlichkeit präsentieren und auch so unverwechselbar wahrgenommen werden wollen. Somit bekräftigt sie das Bedürfnis von Menschen, als stabile Persönlichkeiten zu erscheinen. Gleichzeitig spiegeln wir mit unserem Geschlecht aber auch unsere Individualität.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

In Abweichung dazu definiert Sielert (2002, S.  26) den Begriff Geschlechtsidentität an sich als Einschränkung hinter dem sich Polarität verbirgt. […] es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in der Postmoderne alle Menschen zur Herausbildung einer Geschlechtsidentität veranlasst sind, um handlungsfähig zu werden, ohne dass diese Identität in bestimmter Weise inhaltlich genau vorgegeben sei.

Sielert stellt damit Geschlechtsidentität überhaupt infrage und hebt hervor, dass keine entsprechende Übereinkunft zu inhaltlichen Verbindlichkeiten getroffen worden ist. Seine Annahme ist demzufolge, dass Geschlecht letztlich nicht wichtiger wäre als zum Beispiel Herkunft, Alter o. Ä. Interessant ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der männliche Autor den Verzicht von Geschlechtsidentität einfordert. – Bravo! Leider ist das nicht die Realität. Die Unsicherheit in der Yogagruppe in Bezug auf das nicht zu identifizierende Geschlecht von Maxi hätte nicht zu dem Bedürfnis geführt, eine Klassifizierung als harter Knochen vorzunehmen. Die beiden Beispiele der Wissenschaft, in der eine Richtung darlegt, dass die Persönlichkeit durch Geschlecht geprägt würde und die andere Aussage gegenteilig lautet, nämlich Geschlecht sei nur ein gesellschaftliches Konstrukt, reflektieren die Situation sehr gut. Bis heute kann man sich letztlich nur auf Folgendes einigen: Geschlechtliche Identität von Menschen entwickelt sich entlang der Zuschreibung von Geschlecht in Zusammenhang mit den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen und gleichfalls in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, um als eine harmonische Persönlichkeit inmitten der Gesellschaft leben zu können. Sich zu einer harmonischen Persönlichkeit entwickeln zu können, ist für Kinder ein oberstes Bedürfnis. Für Eltern, für Mütter und Väter bedeutet das an dieser Stelle zunächst, einen Raum zum Aufwachsen zur Verfügung zu stellen, der Geschlechtlichkeit darstellt, aber nicht vollends zuschreibt. Diese Aufgabe darf jedoch nicht unreflektiert angenommen werden. Wichtig ist es demzufolge sehr früh – möglichst lange vor der Entscheidung für ein Kind – eine Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen:

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Junge oder Mädchen? ◆◆ ◆◆ ◆◆

Welche Vorstellungen habe ich von Geschlecht? Welchen Mustern folge ich? Was kann ich davon mit einem veränderten Blickwinkel betrachten?

Sich gewissenhaft mit Geschlecht und der Einstellung zu Geschlecht auseinanderzusetzen, heißt vor allem auch, zu den eigenen Erkenntnissen zu stehen und diese zu leben. Auch traditionelle Werte sind richtig, wenn sie offen gelebt werden. Im Zusammenleben mit Kindern bedeutet es hier nur das klare Signal: »Ich habe traditionell orientierte Werte, dass sind die Wurzeln meiner Sozialisation / Kindheit. Ich fühle mich unsicher, wenn mein Freund oder Mann auffallend stark geschminkt mit mir ins Kino geht. Das heißt aber nicht, dass meine Verunsicherung auch deine sein muss, denn auch bei mir kann sich das noch ändern. Auch andere Menschen können negativ reagieren, wenn ein Mann sich gern bunte Röcke anzieht. Aber du musst nur für dich wissen, dass das ihrer Sozialisation, Einstellung und Unsicherheit entspricht, welche sie in unserer Kultur und Gesellschaft erlebt haben. Doch bedenke: Alles ist dem schnellen Wandel der heutigen Zeit unterworfen. Was für dich richtig ist, wird wieder etwas anderes und Neues sein und du wirst es in Auseinandersetzung mit deiner Umwelt und Kindheit erfahren.« Eltern sollten sich bewusst machen, dass es nicht möglich ist, sich hier neutral zu verhalten oder vermeidende Kommunikation einzusetzen. Jedes Kind hat, entsprechend seinem Entwicklungsstand und seinem Verständnis, ausreichend Antennen diese Botschaften zu empfangen. Sozialisation passiert Kindern nicht einfach als programmatischer Vorgang, aus dem sich Eltern und Bezugspersonen mehr oder weniger heraushalten können. In der Pädagogik gibt es heute eine breite Verständigung darüber, dass sich jedes Kind als sozialer Akteur und Konstrukteur der eigenen Persönlichkeit entwickelt. Das geschieht im Wechselspiel mit den Bezugspersonen und der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Ein Kind, das aktiv seine Lebenswelt konstruiert, ist auch aktiv in seiner Identitätsbildung ausgebildet. Hurrelmann u. a. (2003, S.  49) wählt einen interdisziplinären Zugang: Kinder bringen schon mit der Geburt elementare Fähigkeiten mit, um Impulse aus der sozialen und physikalischen Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie müssen im Laufe der ersten Lebensjahre aber noch Strukturen und Pro-

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

gramme für die Verarbeitung dieser Lebensweltimpulse erstellen, mit denen sie den von außen und von innen kommenden Informationen Bedeutung und Sinn zuschreiben und sich in der Gemeinschaft anpassungsfähig machen können. In diesem Sinne ist der Prozess der Sozialisation auch immer ein Vorgang des produktiven Wahrnehmens und Denkens, um zu einem Bild der Realität zu kommen, dass im Einklang mit den eigenen Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten steht.

Im Folgenden werden die angesprochenen Grundannahmen aufgeführt: ◆◆

◆◆

Über biologische Verankerungen von menschlichen Merkmalen (bereits im Mutterleib relevant) wird das Kind in seinem gesamten Lebenslauf auf bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten festgelegt sein. Die genetische Ausstattung stellt dabei einen Rahmen der Möglichkeiten dar, der durch die Umwelt aktiviert wird. Ein Beispiel dazu: Die äußeren Geschlechtsorgane wie Penis und Vagina bilden sich entsprechend der Genetik (Geschlechtshormone und Geschlechtschromosomen) heraus. Diese werden dann von der Umwelt und Gesellschaft als männlich und weiblich, als Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit, aktiviert und festgeschrieben.

Die Art und Weise, wie ein Kind seine Ressourcen nutzt und als Rahmenbedingungen ausschöpft, zeigt eine Kompetenz auf, eine innere Anlage. Diese Kompetenz wiederum stellt die Grundlage dar, immerfort die innere und äußere Realität auszubalancieren. Die Kompetenz des Ausbalancierens besteht aus den Komponenten der inneren Realität, wie zum Beispiel genetische Veranlagung, körperliche Konstitution, Intelligenz, psychisches Temperament sind Grundstrukturen der Persönlichkeit. Mit diesen Grundstrukturen der inneren Realität trifft das Kind jetzt auf die äußere Realität in der Familie, im Freundeskreis, im Kindergarten, in der Schule, im Schwimmbad, im Sportverein, genauso wie im Bereich von Massenmedien und Wohnbedingungen usw. In der Praxis lässt sich das folgendermaßen verbildlichen: Kinder sind bewegungshungrig und müssen ihren Körper ausprobieren; sie möchten sich ausgiebig und temperamentvoll erproben. Den ganzen Tag über strotzen sie nur so vor Aktionismus, Tatendrang und Entdeckungslust – das entspricht den Kom-

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Junge oder Mädchen?

ponenten ihrer inneren Realität. Jetzt wird die äußere Realität, die evtl. in Form einer engen Wohnung und wenig Spielaußenfläche dagegensteht, eine enorme Kompetenz erfordern, diese Anlage und Umweltpotenziale aufeinander abzustimmen. Ein Beispiel aus dem Freundeskreis meines mittleren Sohnes: Eine Kindergartenfreundin von ihm, genannt Kati, wollte mit ca. fünf Jahren mit ihren Freunden in den Fußballverein eintreten. Bis dahin war sie auf dem Spielplatz eine sehr gute Spielerin und wurde sehr gern und auch bevorzugt von den Kindern in ihre Mannschaft genommen. Auch die beste Freundin von Kati spielte richtig gut Fußball. Der Verein, in den nun auch die Jungen regelmäßig an einem Nachmittag in der Woche gingen, nahm Mädchen und Jungen auf. Auch in den Freundschaftsspielen wurden, bis zu einem gewissen Alter, gemischte Matches ausgetragen. Die Eltern von Kati waren aber nicht erfreut über den Wunsch ihrer Tochter, Fußballspielerin in der Mannschaft zu werden. Es folgten ausgiebige Diskussionen, denn Kati sollte den Ballettunterricht besuchen – genau wie ihre Schwester. Kati hat sich durchgesetzt – mit einer fantastischen Komponente ihrer Ausbalancierens-Kompetenz: Sie hat einen Handel erwirkt. Ihr Vorschlag bestand darin, dass sie zum Fußball gehe und zum Ballett. Ein paar Jahre musste sie das durchhalten – dann haben ihre Eltern eingesehen, wie außergewöhnlich begabt ihre Tochter im Fußball ist. Ballettstunden wurden ihr erlassen. Dafür schaffte sie es sogar bis in die deutsche FußballNationalmannschaft der Frauen.

Die zentrale Kompetenz der Persönlichkeitsentwicklung ist die Möglichkeit, die innere und die äußere Realität auszubalancieren – und zwar ein Leben lang.

Abbildung 2: Die Kompetenz des Ausbalancierens stellt dar, in welchem Spannungsverhältnis sich Kinder befinden (nach Hurrelmann 2003, S. 18)

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Der Persönlichkeitsentwicklungsprozess ist den Kindern, je nach der Entwicklungsstufe, in der sie sich befinden, nicht immer bewusst. Der Grafik entsprechend kann gut erschlossen werden, dass die Entwicklung der Persönlichkeit ein Prozess ist, der in der Kinderzeit mehr denn je an die Interaktionen mit den Bezugspersonen gekoppelt ist. Die äußere Realität von Kindern findet an ihren Lebensorten statt. Dabei sind sehr viele Beteiligte zu benennen – die Familie sowie der Freundeskreis und alle diejenigen, die mit den Kindern in Kontakt kommen (in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen in Form von Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Hort, Mittagsbetreuung, Sportverein und anderen Nachmittagsaktivitäten). Sowohl Jungen als auch Mädchen treffen an diesen Orten überwiegend auf weibliche Bezugspersonen. Auch in Bezug auf die innere Realität (Persönlichkeitsstrukturen, Temperament usw.), welche sich wiederum in Abhängigkeit zu guten Entwicklungsbedingungen entfalten kann, werden vorrangig Frauen diese Entwicklungsentfaltung der Sprösslinge begleiten. Frauen sind also eng verzahnt mit der Ausbildung der zentralen Kompetenz der Persönlichkeitsentwicklung – und somit auch mit der Möglichkeit, die innere und äußere Realität auszubalancieren. Hurrelmann (2003, S. 18) spricht an dieser Stelle von Frauen als Vermittlern der äußeren Realität. Die Frauen, Mütter oder auch Erzieherinnen und Lehreinnen werden den Prozess der Passungssuche aktiv unterstützen. Dabei werden sie Wahrnehmungs- und Problemlösungsstrategien zur Verfügung stellen und fungieren somit als Sozialisationsinstanz und damit gleichzeitig als Entwicklungsbegleiterin der inneren Ressourcen. Der Teufelskreis ist also ein weiblich dominierter Teufelinnenkreis. Sielert (2002, S. 28) formuliert es so: »›Mann sein‹ ist angesichts der existierenden Geschlechterverhältnisse polarisierend zu ›Frau sein‹ und kann damit nicht Geschlechtsidentität bedeuten.« Damit wird die eingangs getroffene Feststellung von Jungen, die zu der Aussage führte: »Ich bin nicht die Mama!« von ihrer humorvollen Tendenz gelöst und in eine nüchterne Tatsache verpackt. Geschlechtsidentität entwickelt sich erst, wenn die Kinder hier befähigt werden, unterschiedliche Modelle für sich zu erfahren und mit Bedeutungen zu belegen. Mädchen haben den deutlichen Vorteil, zumindest ein Modell zu erfahren  – nämlich das ihrer Mutter. Die weibliche Geschlechtsidentität kann zumindest als ein infrage kommender Entwurf wahrgenommen werden. Eine Möglichkeit zur Identifikation steht zur Verfügung.

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Junge oder Mädchen?

Anders ist es hier mit Jungen, die erst einmal nur wahrnehmen, dass sie die Geschlechtsidentität der Mutter, vor allem äußerlich betrachtet, nicht haben. Ein großes Ungleichgewicht besteht demnach in der Entwicklung von Geschlechtsidentität von Jungen und Mädchen, denn diese sollte gleichermaßen von Frauen als auch von den Männern verantwortet werden. In Wahrheit jedoch sind es die Frauen, die einen Großteil der Beziehungsarbeit leisten – sowohl mit Jungen als auch mit Mädchen. Die Beziehung zu Jungen ist im Teufelskreis verblieben, da Männer häufig noch nicht in ihrer Aufgabe als verlässliche Bezugsperson angekommen sind. Die Beziehung von Jungen zu Frauen ist weiterhin von der Tatsache geprägt, dass der Junge feststellt: »Ich bin nicht die Mama!« Darüber, wie sich Geschlechtsidentität von Kindern entwickelt (Vorgabe der Genetik oder Zuschreibung durch die Umwelt), besteht bis heute von Seiten der Wissenschaften keine Einigung. In den nachfolgenden Kapiteln werden die gegenwärtigen Theorien vertieft, um einen eigenen Blick und Standpunkt herauszuarbeiten. Die Kindheitsforschung Hurrelmanns (2003) und seine Entwicklungsund Sozialisationstheorien sind interdisziplinär angelegt und ergeben somit einen relevanten und ganzheitlichen Blick, der für das Prinzip »Kopf-, Herz- und Hand-Geschöpfe« in Verbindung mit dem Wesen eines Menschen auch sinngebend ist. Mit dem Blick auf die Frühe Kindheit und die Beziehung von Jungen und Frauen lässt sich daraus eine gute Handlungstheorie ableiten: Jungen und Mädchen sind bereits vor der Geburt in ihren Genen festgelegt, die für sie eine Ausstattung der äußeren Geschlechtsmerkmale initiieren. Ausgehend von der Geschlechtsidentität entwickelt sich die individuelle Persönlichkeit jedes Menschen. Dazu bedarf es der Kompetenz, die angeborenen Anlagen mit den Vorgaben der Umwelt auszubalancieren und diese für sich als relevant / zutreffend bzw. nicht zutreffend zu verorten. Genau an dieser Schnittstelle wird jede Bezugsperson und insbesondere jede Mutter herausgefordert, in einer reflektierten Beziehung mit dem Kind zu leben. Mit dieser Hilfestellung kann es dem Kind gut gelingen, seine Balance­ kompetenz ein Leben lang sicher zu nutzen, um sich zu einem glücklichen Menschen entwickeln zu können, der authentisch sein Leben gestalten kann.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Fazit In diesem Einführungskapitel wurde zunächst herausgearbeitet, dass der Kontakt zwischen Menschen davon geprägt ist, die geschlechtliche Identität des anderen sicher wahrnehmen zu können. Anhand zweier verschiedener Blickrichtungen wurde die Beziehung zur Wissenschaft hergestellt und damit gleichzeitig untermauert, dass auch im Vergleich von nur zwei Bezugswissenschaften die kontrovers geführte Sachlage mit der Frage bestehen bleibt: »Ist der Mensch mehr Anlage oder mehr Umwelt?« Einzig wichtig dabei ist, was das wiederum für das Kind bedeutet. Mit einem Erklärungsmodell von Hurrelmann wurde abschließend herausgearbeitet, dass das Kind darauf angewiesen ist, eine Kompetenz herauszubilden, die es ihm ermöglicht, immerfort seine Wahrnehmung zu Anlage und Umwelt auszubalancieren, um sich somit zu einer individuellen und glücklichen Persönlichkeit zu entwickeln.

1.2 Das biologische Geschlecht Zur Abrundung vom vorangegangenen Themenbereich zur Geschlechtsidentität wird nun das biologische Geschlecht angeführt. In Verbindung mit dem Thema Geschlecht werden in der Regel zwei Begriffe verwendet: Gender für das soziologisch / kulturell geprägte Geschlecht und Sex für das biologische Geschlecht. In Zusammenhang mit einem ungetrübten Blick muss jedoch angemerkt werden, dass bereits eine stillschweigende Anerkennung darin besteht, Geschlechter zu kategorisieren und zwar in Mann und Frau. Das biologische Geschlecht ist ein wirklich interessanter Bereich, denn hier wird deutlich, dass das, was wir mit den Augen wahrnehmen, keine ausreichende Beobachtung darstellt, um ganzheitliche Rückschlüsse zu ziehen. Wir legen in unserer Kultur das Geschlecht morphologisch fest, d. h. die inneren und äußeren Geschlechtsunterschiede und der Körperbau stehen für eine konkrete Zuweisung von: a. Mann und b. Frau

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Das biologische Geschlecht

Im Folgenden wird sich sehr schnell erschließen, dass zusätzlich zu dieser morphologisch konnotierten Eingruppierung diverse andere Möglichkeiten vorkommen. Meines Erachtens verschuldet das lebendige Leugnen dieser Tatsache einen Teil der fortwährenden Unsicherheit in Zusammenhang mit der eigenen Geschlechtsidentität und in zwischenmenschlichen Beziehungen (angeführtes Beispiel von Maxi als harter Knochen, vgl. Kapitel 1). Der Fortpflanzungsprozess beginnt mit dem Eisprung der Eizelle aus einem Eierstock der Frau. Diese Eizelle ist interessanterweise der größte Zelltyp des menschlichen Körpers, während das Spermium hingegen zu den kleinsten Zellen gehört. Dieses Spermium ist jedoch ebenfalls (wie auch die Eizelle) mit den 23 Chromosomen versehen, die als Gene mit den Erbinformationen des Vaters zur weiblichen Eizelle gebracht werden sollen. Schon an dieser Stelle haben es die Boten der männlichen Gene mit ihrem Erbgut schwer. Es findet eine große Dezimierung der Anzahl statt und nur die wirklich Starken gelangen bis zur Eizelle. Mit der Verschmelzung der beiden Zellkerne ist die Befruchtung vollzogen. Diese sogenannte Zygote besteht nun aus einem vollständigen Satz von Genmaterial des Menschen  – und zwar zur einen Hälfte aus dem der Mutter und zur anderen Hälfte aus dem des Vaters. Zusätzlich ist die Zygote von einem Spermium befruchtet, welches ein X- oder andernfalls ein Y-Chromosom besitzt. Von der Befruchtung bis zur Einnistung in der Gebärmutterwand vergehen etwa zwei Wochen, die durch eine schnelle Zellteilung gekennzeichnet sind. Nun sprechen wir von einem Embryo. In diesem Zeitraum  – in etwa bis zur achten Woche  – werden alle Organe und auch Körpersysteme angelegt. In Bezug auf die geschlechtliche Entwicklung wird den Hormonen eine große Rolle zuteil. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Weiterentwicklung vom Embryo auf Weiblichkeit ausgelegt. Etwa ab der achten Lebenswoche beginnt bei dem mit Y-Spermium befruchteten Embryo die Geschlechtsentwicklung und zwar die männliche. Dieses winzige Gen initiiert die Herausbildung der Hoden und damit die Produktion des Hormons Testosteron. Dieses männliche Hormon Testosteron ist ursächlich dafür, dass sich männliche Geschlechtsmerkmale ausbilden. Das Fehlen von Testosteron ist wiederum der Anlass, dass alles bleibt wie bereits angelegt und die Entwicklung der weiblichen Geschlechtsorgane beginnt. Hiermit erfolgt also die Entfaltung der Geschlechtsmerkmale für Mann und Frau und eine morphologische Geschlechtsbenennung. In diesem Zusammenhang wird gern eine weitere Form zur Geschlechtsbestimmung mitgedacht und zwar jene, die anhand

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der Geschlechtschromosomen vorgenommen wird: Das weibliche Chromosom XX steht für Frau sein und das männliche Chromosom XY steht für Mann sein. Bischof-Köhler (2002, S. 195) erklärt dazu: Wenn ein Embryo die XX-Chromosomen aufweist, werden sich die Eierstöcke entwickeln, welche die weiblichen Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron produzieren. Beide Geschlechter produzieren jedoch auch geringe Mengen der jeweils anderen Gattung an Hormonen.

Wirklich spannend ist die Tatsache, dass wir bereits wissen, dass ein morphologisch festgelegtes Geschlecht nicht immer übereinstimmend mit dem Chromosomengeschlecht ist. Demzufolge ist wichtig, dass wir jeden neuen Erdenbürger mit wachen Augen begrüßen und möglichst nicht gleich mit Geschlechtszuschreibung belegen. Wir sehen das neugeborene Kind und können sicher festlegen, dass es mit einem Penis oder einer Vagina auf die Welt gekommen ist – genau wie meist mit blauen Augen. Diese können sich jedoch in grüne oder braune Augen verändern. Die äußeren Geschlechtsmerkmale weisen zwar darauf hin, dass sich ein Junge oder ein Mädchen entwickeln wird. Wenn jedoch im Kreißsaal bei einem Zellabstrich die Chromosomen (beispielsweise XY oder XX) angeschaut werden, muss das nicht unbedingt auf dasselbe hinweisen, was die äußeren Geschlechtsmerkmalen (Penis oder Vagina) vorgeben. Ein Beispiel aus dem Bereich des Profileistungssport benennen Petermann, Niebank und Scheithauer (2004, S. 28): Das Geschlecht der Profisportlerin Maria Patino wird dabei exemplarisch in den Mittelpunkt gestellt. Es wird angeführt, dass seit 1966 in internationalen Sportwettkämpfen Frauen von Gynäkologen »nackt beschaut« wurden, damit ihr Geschlecht bestimmt werden kann. Anschließend setzte sich jedoch die Maßnahme durch, bei den Frauen aus der Wangenschleimhaut einen Zellabstrich zu entnehmen, um die Festlegung entsprechend den Chromosomen vornehmen zu können. Genetische Frauen, also XX-Frauen, haben ein inaktives X-Chromosom, welches im Zellkern als dunkler Punkt zu erkennen ist. Das X-Chromosom der Männer stellt sich als »aktives Chromosom« ohne dunklen Punkt im Zellkern dar. Bei Maria Patino, die sich eindeutig weiblich fühlte und auch in keiner Weise transsexuell zu sein schien, wurde 1985 in einer Zellprobe festgestellt, dass sie ein genetischer Mann mit einem Y-Chromosom sei. Ihr fehlte also der

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Das biologische Geschlecht

dunkle Punkt im Zellkern, der dort als das zweite und folglich »inaktive Chromosom« hätte gefunden werden müssen.

Weitere Chromosomenanomalien werden von Siegler, DeLoache und Eisenberg benannt: Andere Störungen entstehen wegen überzähliger oder fehlender Geschlechtschromosomen. Beim Klinefelter-Syndrom beispielsweise, das bei Männern auftritt, liegt ein zusätzliches X-Chromosom vor (XXY), das bei Frauen auftretende Turner-Syndrom tritt bei nur einem vorhandenen X-Chromosom auf (X0). Das Turner-Syndrom (mit einer Auftretensrate von 1:2500 Geburten) ist durch Kleinwuchs und eine eingeschränkte Sexualentwicklung in der Pubertät gekennzeichnet […] (Siegler / DeLoache / Eisenberg 2002, S. 195) Ein Defekt des Regulatorgens, das die Entwicklung des Mannes initiiert, kann die normale Ereigniskette unterbrechen, was gelegentlich in einem Neugeborenen resultiert, das weibliche Genitalien besitzt, aber genetisch männlich ist (einem XY-Weibchen). Solche Fälle werden häufig bemerkt, wenn bei einem Mädchen die Menstruation nicht einsetzt oder wenn sich bei einer Fruchtbarkeitsbehandlung herausstellt, dass der Grund, warum ein Paar kein Kind bekommt, darin liegt, dass die Person, die schwanger werden will, genetisch ein Mann ist (Siegler / DeLoache / Eisenberg 2002, S. 126).

Abschließen möchte ich dieses Kapitel über das biologische Geschlecht mit der Anmerkung, dass die moderne Industriegesellschaft vermutlich keine Polarisierung der Geschlechter mehr benötigt, die (evolutions-)biologisch begründet ist. Evolution ist ein sehr träge verlaufender Prozess und die Natur einer Spezies, auch der menschlichen, ändert sich nicht schon deshalb, weil da und dort ein paar Jahrhunderte lang gewisse zuvor erdgeschichtliche Zeiträume hinweg wirksame Selektionswirkungen aufgehoben oder geschwächt worden sind (Bischof-Köhler 2002, S. 372).

Bischof-Köhler deutet damit an, dass sich die Lebenswelt und das äußerliche Verhalten schneller verändern, als das innerlich zugrunde gelegte und zu einem ansehnlichen Teil instinktive Verhalten, Veränderung zulässt. Kurz gesagt: Das Tun ist dem Sein voraus.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Fazit Diese Beispiele wurden genutzt, um eine Möglichkeit zu schaffen, den Blickwinkel dafür zu öffnen, dass äußere Geschlecht nicht gleichgesetzt werden darf mit Geschlechtsidentität. Allein aus der Wissenschaft der Biologie heraus werden diverse Auffassungen von Geschlecht möglich, zum Beispiel chromosomal, hormonell, morphologisch usw. Zudem werden auch Unterscheidungen vorgenommen, die zum Beispiel auf dem Hormonniveau oder der Gehirnentwicklung basieren.

1.3 Das soziologische Geschlecht Nachdem wir auf der Suche nach den Ursachen für unsere Unsicherheiten im Umgang mit nicht eindeutigem Geschlecht aus der biologischen Theorie noch mehr Unklarheit erhalten haben, werden wir jetzt die Soziologie heranziehen, die, wie bereits vorab kurz zitiert, einen anderen Fokus aufweist. Die Wissenschaft der Biologie zeigt im Bereich von Geschlechtsentwicklung die Anlagenseite (Sex) auf. Die Umweltseite wird folgend mithilfe des soziologischen Geschlechts (Gender) vertiefend zum Einführungskapitel bearbeitet. Eine Verfechterin der traditionellen Soziologie ist Carol HagemannWhite. Im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Zuschreibungs- und Darstellungsprozessen von Weiblichkeit und Männlichkeit untersucht sie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hierfür. Sie vertritt die Auffassung, dass zuerst die Maßgabe der Geschlechtszugehörigkeit steht und dann die Zuweisungen der Erwartungen aus der Umwelt, die erfüllt werden, folgen. Die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit (an sich) wird dabei von ihr zugrunde gelegt. Das Geschlecht wird jedoch dem Verhalten zugewiesen und ist explizit nicht den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen zuzuordnen. (Das Kind hat keinen Penis und ist also ein Mädchen!) In ihrem Buch Sozialisation: weiblich-männlich? (1984) stellt Hagemann-White heraus, dass das Verhalten nicht biologisch verursacht wird und zweifelt dementsprechend die diesbezüglichen Studien an: Thesen über die biologische Verursachung von Verhalten sind häufig eine verwirrende Mischung aus legitimer wissenschaftlicher Hypothesenbildung und altbackenem Vorurteil.

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Das soziologische Geschlecht

[…] Viele Teilnehmer an der Debatte über Ursachen von Geschlechtsunterschieden scheinen nicht zu begreifen, dass statistisch signifikante Unterschiede keineswegs eine klare Aussage über Realität beinhalten (ebd. 1984, S. 29 f.).

Im Ergebnis will sie die Möglichkeit für sich beanspruchen, Menschen verschiedenen Geschlechts so einzuordnen, dass es für ihr Verhalten von Bedeutung ist (also eine andere Form der Geschlechtszuordnung – soziologisch orientiert – nicht biologisch). Die Vielfalt der Bestimmungsmöglichkeiten führt sie nachfolgend an und unterstreicht damit ihre Auffassung darüber, dass es für die Festlegung eines biologischen Geschlechts zu viel Auslegungsspielraum und mannigfaltige Möglichkeiten gibt: ◆◆

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Das Keimdrüsengeschlecht (Hormonsteuerung als Grundlage für Geschlechterdifferenz; Eierstöcke / Hoden usw.) Das morphologische Geschlecht (innere und äußere Geschlechtsunterschiede, Körperbau usw.) Das Hormongeschlecht (Konzentration der Geschlechtshormone) Das Chromosomengeschlecht (Gene im Erbgut, zum Beispiel XX für weiblich)

Diesen bereits bekannten Darlegungen fügt sie noch hinzu, dass ungefähr ein Viertel der Männer und Frauen nach oben genannten Merkmalen keinem Geschlecht zuzuordnen sind und dass nach ihrer Ansicht, keine streng biologische und eindeutige Geschlechtsdefinition getroffen werden kann. In Anbetracht des Vorhandenseins unterschiedlicher Hormone lenkt sie die Gedanken in eine andere Richtung. Es wird kein direkter Zusammenhang mit der rohen Natur (also dem Beleg für das biologische Geschlecht, unterteilt in Mann und Frau) hergestellt. Hormone sind ihrer Meinung nach vorwiegend für die Steuerung von Gefühlen und Antriebskräften verantwortlich. Außerdem sind sie für emotionale Zustände wie Trauer und Wut zuständig, die nicht nur vom Gehirn übermittelt werden, sondern auch körperlich zu spüren sind. Darüber hinaus lassen Hormone nicht auf männlich und weiblich schließen, weil sie im Fluss sind. So ist es nicht sicher, wie der Ausgangswert im Hormonspiegel festzulegen ist. (Frauen haben einen täglich veränderten Hormonspiegel. Hierbei stellt sich die Frage, welcher Basiswert soll der jeweiligen Frau zuerkannt werden?) Beispielsweise gibt es bei Hormonen in Verbindung mit Aggressionen – laut Hagemann-White –

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keinen bewiesenen Zusammenhang zwischen einer Anhäufung von Androgenen (männlich zugeschriebene Hormone) und Aggressivität. Sie untermauert kontinuierlich die These, dass das soziologische Geschlecht gleichzusetzen ist mit dem kulturellen Geschlecht und kritisiert zusätzlich, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen nicht logisch sind und die Testergebnisse zu oft einen Status wiedergeben, der das widerspiegelt, was die Befragten über sich selbst aussagen (ein Umstand, der auch schon rollenspezifisch geprägt sein kann) (vgl. ebd. 1984, S. 26). In diesem Punkt führt sie eine amerikanische Universitätsstudie aus dem Jahre 1978 an, deren Ergebnisse sich dadurch auszeichnen, dass die Wertungsskala ausschließen sollte, dass geschlechtstypische Eigenschaften bewertet und dann eingesetzt wurden. Bemerkenswert sind jedoch die Rückschlüsse, die aus den Ergebnissen gezogen werden, denn diese weisen auf ein modernes Bild von Jungen und Mädchen – von Mann und Frau: Mädchen und Frauen sehen sich selbst weniger geschlechtstypisch geprägt als Jungen und Männer das von sich behaupten. Die Ausprägung ihres eigenen Selbstwertgefühls ist insgesamt etwas stärker als das von Jungen, allerdings nur in Verbindung mit den weiblichen Eigenschaften, die auch von Männern geschätzt werden. Männliche Eigenschaften stärken das Selbstwertgefühl von Männern und Frauen gleichermaßen, dabei ist unerheblich, ob es sich um missbilligende oder wünschenswerte Eigenschaften handelt (ebd. 1984, S. 28). Insgesamt weisen die Resultate darauf hin, dass das, was der normativen Vorstellung von Frauen (kinderlieb und harmoniebedürftig) entspricht, zwar immer noch hochgehalten wird, in der Realität aber bereits ganz anders von Frauen gelebt wird und zwar in besserer Übereinstimmung mit ihrem Selbstwertgefühl. Trotz allem: Diese Studienergebnisse basieren auf Daten von 1978. Wie weit haben wir uns bereits seitdem weiterentwickelt? Vorteilhaft für beide Geschlechter sei ein großer Anteil der sogenannten männlichen Eigenschaften (pragmatisch sein oder beispielsweise nicht so schnell weinen; negative Konnotation gibt es durch beide Geschlechter.) und Weiblichkeit (sogenannte!) sei auch von Vorteil, denn Soft Skills sind unerlässlich auf dem Weg der positiven Lebensweltaneignung (vgl. Hagemann-White 1984). Grundsätzlich erscheint es logisch, dass Menschen beiderlei Geschlechtes sich am nächsten und mit sich am meisten im Reinen sind, wenn sie sich mit den Eigenschaften von beiden Geschlechtern ausstatten. Bezeichnet wird diese Identifikation als androgyn.

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

[…] wenn es also zutrifft, dass »androgyne« Menschen gesünder und realitätstüchtiger sind, so ist man versucht zu sagen: Ein hohes Maß an Männlichkeit ist dafür unverzichtbar, eine Portion Weiblichkeit dazu kann nicht schaden – so lange die Männlichkeit nicht darunter leidet (Hagemann-White 1984, S. 29).

Nun haben wir also erkannt und auch vorsichtig zur Kenntnis genommen, dass ein neugeborenes Kind nicht unbedingt ein Junge sein muss, wenn es mit einem Penis zur Welt kommt, da es zum Beispiel vom Generbgut abgeleitet, ein XX-Chromosom aufweisen kann. Der zweite Gesichtspunkt leitet uns gleich zu der beruhigenden Analyse unserer Erkenntnis: Es ist nicht wichtig, was wir äußerlich an einem Baby für Geschlechtsmerkmale entdecken. Es ist wichtig, diese nur als einen Teil der Individualität anzunehmen. Der Gedanke, dass ein Mensch sich androgyn, d. h. mit männlichen und weiblichen Eigenschaften ausgestattet, am wohlsten fühlen könnte, soll die Betrachtung jedes neuen Babys begleiten. Diesen Erfahrungsraum des wie auch immer gearteten Sich-Wohlfühlens werden in erster Verantwortung alle Eltern eröffnen. Fazit In den vorangegangenen Kapiteln wurde mit einer Kurzeinführung die von uns gelebte Welt der Zweigeschlechtlichkeit hinterfragt. Die Sichtweisen der Biologie und der Soziologie wurden herangezogen, um zu verdeutlichen, dass auch in den Wissenschaften sehr kontroverse Thesen zum Thema Geschlechtsidentität vorherrschen. Unsicherheiten bestehen also nicht nur in der gelebten praktischen Welt, sondern auch in der wissenschaftlichen Welt.

1.4 Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität Es wurde herausgearbeitet, wie wichtig es ist, dass die Eltern, Frau und Mann, jedem Neugeborenen einen Erfahrungsraum öffnen, in dem es sich mit größtmöglicher Gelassenheit und vorzugsweise mit geringen Geschlechtszuschreibungen entwickeln kann. Es ist ein Baby – ihr Kind!

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Gut wäre es, wenn ein Neugeborenes nicht gleich gedanklich als Sohn oder Tochter verpackt würde: Was bedeutet das nun für das Kind? Wie vollzieht sich überhaupt Sozialisation und Entfaltung der Geschlechtsidentität? Jeder Aspekt eines Menschen – von der körperlichen Gestalt, der intellektuellen Fähigkeit und den Persönlichkeitseigenschaften bis zu den bevorzugten Hobbys und Nahrungsmitteln – ist eine gemeinsame Folge des von den Eltern geerbten genetischen Materials und der Umwelt, die man von der Befruchtung bis zum jeweiligen Moment erfahren hat. Diese beiden Faktoren – Anlage und Umwelt – prägen gemeinsam sowohl die Art und Weise, in der man anderen Menschen gleicht, als auch die Art und Weise, in der man einzigartig ist (Siegler, Robert u. a. 2005, S. 117).

In dieser Definition ist der Bezug von Anlage und Umwelt noch einmal aufgenommen. Dabei handelt es sich um eine Auslegung aus der Entwicklungspsychologie, die im Zusammenhang mit der Sozialisation und Geschlechtsidentität noch zur Vervollständigung herangezogen werden soll. Mit dem komplexen Zusammenspiel von Anlage und Umwelt verknüpft diese Wissenschaft erstens die Interaktion mit dem Genotyp, welcher für das genetische Material, das ein Individuum erbt, steht, und zweitens mit dem Phänotyp. Der Phänotyp ist der beobachtbare Ausdruck des Genotyps, der einerseits die körperlichen Merkmale und andererseits das Verhalten eines Menschen in seinem Erscheinungsbild widerspiegelt. Die im Genotyp grundgelegten Gene werden im Phänotyp nicht unbedingt zum Vorschein kommen, was vielen unterschiedlichen Aspekten zuzuschreiben ist. Unser Genom ist nur unser Genetisches Startprogramm, um uns durch die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt als einzigartiges Wesen zu entfalten. Etwa zu 50 Prozent bestimmt dieser Bausatz, wie Studien von Verhaltensgenetikern zeigen, unsere Intelligenz und Persönlichkeit. Wir sind als keine komplett ›leere Tafel‹, die von Eltern und Umwelt unbegrenzt beschrieben werden kann, sondern ein genetisch vorformulierter Lückentext, der auf sein Ausfüllen und weiteres Ausschmücken wartet. Doch gerade darin stecken Chancen (Bentheim 2007, S. 23 f.)!

Für den Prozess der Sozialisation und der kulturell bestimmten Entfaltung wurden damit die Grundvorgänge genannt. Jedes Kind wird im Ver-

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

lauf seiner Entwicklung in die Gemeinschaft, in der es lebt, integriert, und zwar als einzigartige Persönlichkeit. Innerhalb dieser Integration vollziehen sich demzufolge zwei Prozesse gleichzeitig  – die Sozialisation und die Persönlichkeitsbildung. Mit Sozialisation ist dabei der lebenslange Vorgang gemeint, in dem Menschen Glaubenssysteme, Verhaltensregeln und Einstellungen erwerben, die es ihnen möglich machen innerhalb der Gemeinschaft einen wirksamen Platz einzunehmen. Persönlichkeitsbildung ist eher auf Konsistenz ausgelegt, zum Beispiel in Zusammenhang mit dem eigenen Denken und Fühlen. Es beruht auf Temperament, Emotionen und intellektuellen Fähigkeiten. Diese werden wiederum in sozialen Bezügen herausgebildet, die jeweils mit Gruppen oder in der Familie bestehen. Aber: Damit Biologie sich entfalten und Soziologie eine Verortung in der Lebenswelt befördern kann, muss das Kind für die Kompetenz des Ausbalancierens eine Entwicklungsstufe erreicht haben. Es muss vorausgesetzt werden, dass sich für jedes Kind eine gewisse soziale und kognitive Entwicklung vollzogen hat. Die Theorien dazu werden von der Pädagogik benannt. Es ist an dieser Stelle wichtig, die Theorien der kognitiven Entwicklung zu Hilfe zu nehmen, da sich damit ein vollständigeres Bild ergibt. Tabelle 1: Theorien der kognitiven Entwicklung (vgl. Siegler, Robert u. a. 2005, S. 180) Theorie der kognitiven Entwicklung

Zentrale Fragestellung der Theorie

Piaget

Anlage-Umwelt

Kontinuität / Diskontinuität, das aktive Kind

Informationsverarbeitungs­ ansatz

Anlage-Umwelt

Mechanismen der Veränderung

Domänenspezifisches Kernwissen

Anlage-Umwelt

Kontinuität / Diskontinuität

Sozio-Kulturelle Perspektive

Anlage-Umwelt

Einfluss des sozio-kulturellen Kontexts, Mechanismen der Veränderung

Die Vorstellung der kognitiven Theorien ist ein wichtiger Verstehens-Baustein der Pädagogik. Meines Erachtens ist das die Wissenschaft, die am ehesten in der Lage ist vom Kind aus zu denken, was ja für den weiteren Verständnisprozess (Welche Möglichkeiten stehen dem Kind zur Verfügung, Anlage und Umwelt auszubalancieren?) besondere Bedeutung erhält. Jede der Theorien geht auf die Grundfragen der Entwicklung ein: Der

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Informationsverarbeitungsansatz zum Beispiel fokussiert die Mechanismen, mit denen Kinder ihre Ziele als aktive Lerner erreichen. Die Theorie des domänenspezifischen Kernwissens bezieht sich darauf, dass es Kindern gelingt, Rückschlüsse und Lernfortschritte zu vollziehen, indem sie ihr Kernwissen über das jeweilige Thema einbeziehen. Piagets hat einerseits sehr differenzierte Angaben zu den unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Kindern gemacht hat, andererseits aber auch neben der Anerkennung von Kontinuität und Diskontinuität im Entwicklungs­ verlauf die Kernaussage getroffen, dass das Kind einen aktiven Beitrag zu seiner eigenen Entwicklung leistet. Ihm zufolge wird das Kind als alleiniger Entscheidungsträger für Eigenaktivismus angesehen. Im Rahmen dieses Buches werde ich die sozio-kulturellen Theorien hervorheben, da sie gut an die Aussagen zu Anlage und Umwelt sowie Geno- / bzw. Phänotyp anknüpfen. Statt Kinder als Individuen zu betrachten, die sich durch ihre eigenen Bemühungen einen Reim auf die Welt machen, betrachten sozio-kulturelle Theorien Kinder als soziale Wesen, deren Leben verwoben ist mit den Leben anderer Menschen, die ihnen dabei helfen wollen, die Fähigkeit und Kenntnisse zu erwerben, die in ihrer Kultur einen Wert besitzen (vgl. Siegler, Robert u. a. 2005, S. 225).

So lernen Kinder – im Sinne der sozio-kulturellen Theorien – im zwischenmenschlichen Kontext mit der Umwelt. Um das inhaltliche Gedankengut dieser Hypothesen zu verdeutlichen, ist die Festlegung darauf notwendig, dass sich Kinder in einem kulturellen Kontext entwickeln, der andere Menschen und deren Empfindungen einschließt. Im logischen Umkehrschluss werden die Kinder diese Kontexte dann auch wiederum selbst formen. Die Relevanz dieser Theorie bestätigt sich für jeden Menschen, der Kontakt zu Jungen hat: Was sende ich als eigenes geschlechtliches Wesen an das Kind aus? Wie werden Männer und Frauen behandelt  – welche Chancengerechtigkeit herrscht vor? Insbesondere auch in Bezug auf den kulturellen Kontext ist zu beachten, dass allein die einer Kultur zugehörigen Symbole sind, so sinngebend sind, dass von ihnen schon Prägung / Sozialisation ausgeht. Wir finden uns in einer doppelten Verantwortung wieder: Selbstreflexiv mit Anerkennung der eigenen Außenwirkung umzugehen sowie Sorge dafür zu tragen, dass auch die Umwelt eine wertfreie, positive Lebenswelt darstellt.

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

In Verbindung mit dem wissenschaftlichen Diskurs zu Sex und Gender, der uns über das biologische und soziologische Geschlecht und über die Entwicklungspsychologie mit ihrem Hinweis auf die Kompetenz, diese Einflüsse auszubalancieren, zu den pädagogischen Theorien und den Blick aufs Kind geführt hat, ist es jetzt möglich, eine Zuordnung vorzunehmen: ◆◆

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Der Eigenaktivismus als vorherrschende Entwicklungsausrichtung des Kindes (wie zum Beispiel bei Piaget) entspricht der Biologie (eher naturhaft vorgegebener Entwicklungsablauf, der durch Kontinuität und Diskontinuität in der Wissensaneignung unterstützt wird). Die kontextgebundene Lebensweltaneignung entspricht der Soziologie (Entwicklung in Verbindung zur Umwelt – in Ko-Konstruktion).

Der Vorgang des Ausbalancierens von äußerer Realität (zum Beispiel Familie, Kita, etc.) und innerer Realität (zum Beispiel körperliche und psychische Vorgaben etc.; vgl. Abbildung 2) führt zum Erwerb der Identität / Persönlichkeit. Der Erwerb von sozialer und persönlicher Identität setzt voraus, dass ein Kind einen Sinn für sich selbst entwickelt und auch für soziale Kategorien, wie wir sie zum Beispiel als »männlich« und »weiblich« festhalten können. Geschlechterrollenentwicklung ist demnach eng mit Selbstentwicklung verbunden. Petermann u. a. (2004, S.  181) fassen die wesentlichen Aspekte im Vorgang des Ausbalancierens wie folgt zusammen: […] die Beobachtung und die Imitation anderer und die Belohnung, die durch angemessenes Verhalten verdient wird.

Sie erläutern weiter, wie sich Kinder in die Geschlechtsidentität hineinentwickeln und welche Entwicklungsstufen dazu notwendig sind: […] die kognitiven Fähigkeiten, sich selbst als ein Mitglied einer sozialen Kategorie zu erkennen und der Wunsch, wie andere Mitglieder dieser Kategorie zu sein.

Diese Begriffsbestimmung zum Erwerb der eigenen Persönlichkeit und Identität unterstützt, dass Kinder einerseits in kulturellen Kontexten geformt werden und diese auch andererseits als ein Mitglied innerhalb der jeweiligen Kultur mitkonstruieren (vgl. Abbildung 2).

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Wenn die Darstellung zur Unterstützung genommen wird, können wir uns beispielsweise gut einen Jungen im Kindergarten vorstellen, der dort ein Teil einer Gruppe wird. Aus sich heraus – also seiner inneren Realität entsprechend – wird er herausfinden wollen, was es denn nun bedeutet, ein Junge zu sein und kein Mädchen. Entsprechend der Sichtweise vom Kind als aktivem Gestalter seiner eigenen Umwelt und gleichfalls in Ko-Konstruktion dazu (sich wechselseitig bedingenden Lern- und Erfahrungsraum eröffnen und beleben) wird er zunächst nach Bestätigung für seine eigenen Vorstellungen suchen. Ein Beispiel: Ich habe heute mit den anderen Kindern die Rutsche im Garten ganz lang blockiert. Die Mädchen konnten nicht hochklettern und von oben runterrutschen. Da sind sie zur Erzieherin gelaufen und haben uns verpetzt – sie haben gesagt, dass die Jungs immer ärgern.

In Ausweitung zu den Theorien der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung werden im Folgenden die vier Haupttypen zur sozialen Entwicklung aus dem Blickwinkel der Geschlechtsidentität gegenübergestellt. Tabelle 2: Persönlichkeitstheorien und deren Auswirkung auf die Geschlechtsidentität (vgl. Siegler, Robert u. a. 2005, S. 525) Theorie der Persönlichkeitsund Identitätsentwicklung

Kernaussage in Bezug auf Geschlechtsidentität

Tiefenpsychologie (Freud)

Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil

Lerntheorien

Nachahmung, direkte Verstärkung und Beobachtungslernen

Sozial-kognitive Theorien

Selbstsozialisation: Kinder übernehmen, was für das eigene Geschlecht passt

Ökologische Theorien

Sozialisation im ausgedehnten Kontext zur Geschlechterentwicklung (zum Beispiel soziale Einflüsse)

In Bezug auf die Ausprägung der Geschlechtsidentität durch Anlage und Umwelt finden wir die Wirksamkeit insbesondere in den ökologischen Theorien. Im Unterschied zu den sozial-kognitiven Theorien der Geschlechterentwicklung, bei denen die Selbstsozialisation (Eigenakti-

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

vismus) im Vordergrund steht, wird in den ökologischen Theorien ein breiter Kontext der Geschlechterentwicklung berücksichtigt. Bonfenbrenners (in: Siegler, Robert u. a., 2005, S. 525) bio-ökologisches Modell konzipiert die Umwelt als eine Menge von ineinander geschachtelten Kontexten, in deren Zentrum sich das Kind befindet. Diese Kontexte reichen vom Mikrosystem, welches die Aktivitäten, Rollen und Beziehungen umfasst, an denen ein Kind regelmäßig teilnimmt, bis zum Makrosystem, dem allgemeinen kulturellen Kontext, in dem das Kind lebt. Hier fließt ein, dass das Geschlecht sowohl biologisch als auch soziologisch geprägt ist. Tabelle 3: Verbindung der bisher verwandten Entwicklungstheorien mit den Theorien die Aussagen zur Geschlechtsidentität betreffen. Theorien mit Aussagen zur kognitiven Entwicklung

Theorien mit Aussagen zur Geschlechtsidentität

zum Beispiel Piaget Eigenaktivität

Selbstsozialisation: Wissen über das eigene Geschlecht beeinflusst das zu übernehmen, was für das eigene Geschlecht als angemessen erscheint

zum Beispiel Wygotski Sozio-Kulturelle Perspektive Kind als Ko-Konstrukteur in und mit seiner Lebens- und Lernwelt

(Bio)-ökologische Theorien: Breiter Kontext der Geschlechtsentwicklung; soziale Einflüsse auf unzähligen Ebenen spielen eine Rolle

Wenn wir uns jetzt das Kind als Ko-Konstrukteur seiner in viele Kontexte eingebundenen Lebenswelt vorstellen, stellt sich uns direkt die Frage: Wann und in welcher Art und Weise ist das Kind an seiner kognitiv-sozialen Entfaltung aktiv beteiligt? An dieser Stelle ist es wichtig, die Entwicklungsstadien, welche der Ge­ schlechts­identität zuzuordnen sind, genauer zu betrachten. Dazu definiert Rohrmann (in: Leu u. a. 2010, S. 94): Mit Geschlechtsidentität wird im engeren Sinne die Erkenntnis und zunehmende Sicherheit über die eigene Geschlechtlichkeit und die eindeutige und unveränderbare Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe bezeichnet (Geschlechtskonstanz), im weiteren Sinne aber auch das Verwobensein des eigenen Frau-Mann Seins mit der lebenslangen Entwicklung von Identität. Nicht gemeint ist die sexuelle Orientierung: Hetero-, Homo,- oder Bisexualität. Über diese besteht frühestens in der Pubertät Sicherheit. Sie kann sich im gesamten Lebenslauf noch verändern.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Voraussetzung dafür ist, dass das Kind zwischen sich selbst als eigener Person und der es umgebenden Welt unterscheiden kann. Diese Kompetenz wird das Kind grundsätzlich bis zum Ende des ersten Lebensjahres erreicht haben. Ein wichtiges Merkmal für die Entwicklung dieser Kompetenz ist die visuelle Wahrnehmung des eigenen Körpers. Zur Entwicklung der Geschlechtsidentität benennt Blank-Mathieu (2002, S. 24) folgende Stadien: ◆◆

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0–5 Monate: Die symbiotische Phase, in der unbewusste geschlechtsspezifische Erfahrungen gemacht werden. 6–12 Monate: Die Differenzierungsphase, in der das Kind erste Erfahrungen damit macht, dass es eine losgelöste Persönlichkeit ist und nicht eins mit der Mutter. Im Unterbewusstsein werden männlich und weiblich als erste Abgrenzungen festgeschrieben. 12–18 Monate: Die Übungsphase ist g,ennzeichnet durch räumliche Trennungen zu den Bezugspersonen und Nachahmen, was zu ersten Verfestigungen von Geschlechtsidentifikationen führt. Ca. 18 Monate: In der Phase der Wiederannäherungskrise ist die räumliche Trennung mit Angst belegt und somit die Verfügbarkeit einer Bezugsperson sehr wichtig. 18–24 Monate: Die Entdeckung der Geschlechtsunterschiede geht mit der Wahrnehmung der eigenen körperlichen Geschlechtsmerkmale und der Wahrnehmung der Bedeutung von Geschlechtszugehörigkeit einher.

Rohrmann (in: Leu u. a. 2010, S. 94) macht außerdem darauf aufmerksam, dass die Geschlechtsidentität bis zum sechsten Lebensjahr in grundsätzlichen Ausprägungen auch mit Geschlechtsunterschieden festgelegt wird. Er ergänzt zusätzlich die Unterscheidung, dass im Alter von drei bis sechs Monaten die Stimmen von Männern und Frauen differenziert werden können und dann zwischen neun und zwölf Monaten die Abgrenzung auch anhand von Gesichtern vollzogen werden kann. Es kann davon ausgegangen werden, dass Kinder gegen Ende des ersten Lebensjahres recht gut in der Lage sind, zwischen Frauen und Männern zu differenzieren. Die Unterscheidung zwischen Mädchen und Jungen gelingt Kindern erst später. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass bereits Säuglinge auf gleichgeschlechtliche Kinder anders reagieren als auf Kinder des anderen Geschlechts. Eine konkrete Zuordnung von Kinderfotos gelingt ihnen aber frühestens gegen Ende des zweiten Lebensjahres (Rohrmann in: Leu u. a. 2010, S. 95).

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

In der folgenden Tabelle werden die Entwicklungsstufen noch einmal aufgeführt und mit geschlechtlich ausgerichteten Eigenschaften benannt. Tabelle 4: Entwicklungsstufen und die jeweiligen Entwicklungen der Geschlechtsidentität (vgl. Rohrmann in: Leu u. a. 2010) Entwicklungsstufen

Geschlechtsidentische Entwicklungseigenschaften

0–5 Monate Die Handlungen des Säuglings sind überwiegend reflexgebunden. Immer wieder werden Objekte zum Mund geführt.

Eine Phase, in der die Zentrierung auf den eigenen Körper vorliegt. Der Säugling erlebt sich als Einheit mit der pflegenden Bezugsperson. Es kann zwischen weiblichen und männlichen Stimmen unterscheiden werden.

6–12 Monate Die Handlungen des Säuglings sind auf Wiederholung ausgelegt. Das Interesse an Gegenständen, zum Beispiel Spielzeugen, entwickelt sich.

Das Interesse geht von der Zentriertheit auf den eigenen Körper über zu dem Interesse an der Welt. Das Kind entdeckt langsam, dass es nicht eins ist mit der Bezugsperson. Die erste Abgrenzung von weiblich und männlich wird im Unterbewusstsein festgeschrieben. Der Säugling kann anhand von Gesichtern Unterscheidungen vornehmen – jedoch nur bei Erwachsenen. Kinder können in dieser Zeit nicht als Junge und Mädchen erkannt werden. Gegen Ende des ersten Lebensjahres wird auch das eigene Geschlecht benannt.

12–18 Monate Die Phase des Ausprobierens hat begonnen. Alle möglichen Funktionen von Gegenständen werden erkundet und endlos wiederholt.

In dieser Phase beginnt das Kind, körperlich aktiv die Umwelt zu erkunden. Durch Nachahmung werden jetzt insbesondere die gleichgeschlechtlichen Bezugspersonen imitiert. Eine erste Geschlechtsidentifikation wird also zugrunde gelegt.

18–24 Monate Die Entwicklungsstufe ist geprägt durch Übungsverhalten in Form von Nachahmung, die auch zeitverzögert stattfindet. Das bedeutet auch, dass es möglich geworden ist, sich an etwas zu erinnern, was nicht aktuell sichtbar ist.

Jungen und Mädchen entdecken Geschlechtsunterschiede. Mit der Entdeckung der äußeren Geschlechtsmerkmale wird in der Regel auch eine gewisse körperliche Bewusstheit initiiert. Kinder verbinden auch Zuschreibungen von Geschlecht zunehmend mit der eigenen Identität. Anhand von Fotos, auf denen Jungen und Mädchen mit kulturell zugeschriebener Kleidung wie Rock und Hose zu sehen sind, werden jetzt auch dem Geschlecht Junge und Mädchen zugeordnet.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Entwicklungsstufen

Geschlechtsidentische Entwicklungseigenschaften

2–3 Jahre Diese Entwicklungsphase ist geprägt von anhaltender Neigung zum Egozentrismus und weiter zunehmender Exploration.

Die Kinder sind noch nicht festgelegt darauf, ein Mann oder eine Frau zu sein. Sie können im Rollenspiel alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten übernehmen: Baby, Junge, Mädchen, Mutter und Vater. Jungen sind auch nicht grundsätzlich einsichtig, wenn man ihnen darlegt, dass sie keine Mutter werden. Sie können richtig streiten und auch behaupten, dass sie bestimmt einmal ein Baby im Bauch haben werden.

3–6 Jahre In der Entwicklungsstufe der Kindergartenzeit werden alle Sinne auf Dauerempfang gestellt und die Lebensweltaneignung ist mit Kopf, Herz und Hand möglich; es liegt die Tendenz vor, nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zu kategorisieren.

Jungen und Mädchen haben erste gefestigte Bilder von männlichen und weiblichen Bezugspersonen und können sich selbst sicher als Junge oder Mädchen benennen. Die Erkenntnis, dass das Geschlecht sich wohl nicht mehr ändern wird, nimmt zu – also gewinnt die Geschlechtskonstanz an Gewissheit. Das Rollenspiel erlaubt aber immer wieder in der Als-ob-Perspektive auch andere Geschlechtsrollen einzunehmen, was Erleichterung verschaffen kann in Bezug darauf die Geschlechtskonstanz und gleichzeitig ja auch zunehmende Geschlechtszuschreibung als akzeptabel zu erfahren. Die Anerkennung, dass das eigene Geschlecht auch eine Geschlechtszugehörigkeit mit sich bringt, wird sich auch auf die Spielpartnerwahl auswirken. Genitale Unterschiede werden bei der Benennung von Geschlecht einbezogen.

Grundschulzeit

Im Laufe des Grundschulalters werden anhand von Gesichtszügen oder Gesichtsausdrücken Zuordnungen zu Mann und Frau vollzogen. Bei etwa neunjährigen Kindern ist das auch für Jungen und Mädchen möglich. Geschlechtertrennung, Geschlechter-Stereotypen und Kategorien sind allgegenwärtig.

Oerter (1978) beschreibt, dass das Erlangen von Geschlechtsidentität einen bestimmten Entwicklungsstand voraussetzt, der auch vom Intelligenzniveau abhängt. Aber schon vor Erfassung der Geschlechtsidentität baut sich das Kind sein Bild von der Geschlechtsrolle auf. Dabei sind die physikalischen Merkmale wie Größe und physische Merkmale wie Stärke sowie einfache psychologische Kriterien wie soziale Macht im Vordergrund. Das Männliche wird mit Größe, Kraft und Macht verbunden, das Weibliche mit Güte und Freundlichkeit […] (ebd., S. 126).

Logisch ist demzufolge auch, dass Kinder dann jeweils das Geschlecht, dem sie sich zuordnen, als positiv bewerten.

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Sozial-kognitive Entwicklung in Verbindung mit Geschlechtsidentität

Natürlich sind Mädchen auch mal sauer auf Mädchen – aber in der Regel dauert es ca. bis zur Grundschulzeit, bis eine Negativeinstellung auch wirklich auf die Gruppe Mädchen übertragen würde. Von der Warte der Jungen aus betrachtet erscheint es noch unwahrscheinlicher, dass eine Negativsicht auf die Gesamtgruppe Junge formuliert werden könnte. Selbst wenn ein Junge der Liebling der Mädchen ist, wird er doch die Jungengruppe positiv bewerten. Das gilt auch, wenn er vielleicht lieber nur mit den Mädchen spielt und die Spiele der Jungen doof findet. In der Regel kommen hier die Spielinteressen des Jungen zum Tragen und die Tatsache, dass er mit den Mädchen kreativer sein kann. Oerter fügt auch noch einen weiteren Bereich der Persönlichkeitsbildung und Sozialisation hinzu – das Lernen als Leistung und insbesondere: ◆◆

◆◆

Die Nachahmung zum Erwerb von Alltagsverhaltensweisen wie dem Anziehen, Zähneputzen, Telefonieren usw. Die Identifikation in Form von Nachahmung eines beobachteten Verhaltens der Bezugspersonen und der damit verbundenen Reproduktion von Kultur.

Da diese Punkte in direktem Zusammenhang mit den Bezugspersonen der frühen Kindheit stehen, werden sie im dritten Kapitel genauer aufgeführt. Die wichtigsten Entwicklungsschritte in Bezug auf das Herausbilden einer geschlechtlichen Identität werden hier noch einmal benannt: Eine wesentliche Grundvoraussetzung stellt die Kompetenz dar, sich selbst als Ich erkennen können (Ich-Bewusstsein) zu können. 1. Die richtige Zuordnung von Geschlecht muss gelingen. Ein Beispiel: Ein kleines Kind wurde von einer anderen Person auf den Arm genommen und beide stehen vor dem Spiegel. Nun werden die Augen, die Nase und Ohren benannt. Wenn das kleine Kind sich an die eigene Nase fasst, statt das bei dem Spiegelbildkind zu tun, dann dürfte das als Hinweis gewertet werden, dass sich das Ichbewusstsein vom Kind entwickelt hat.

2. Die Anerkennung von Geschlechtspermanenz ist zusätzlich eine wichtige Komponente.

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Der Erwerb von Identität und Geschlechtsidentität bei Jungen

Ein Beispiel: Die Zuordnung von Katzen, Hunden, Omas, Opas, Blumen, Bäumen usw. ist eine Kompetenzstufe. Die Zuordnung von Oma entspricht Frau und Opa entspricht Mann ist eine weitere Kompetenzstufe.

3. Die Anerkennung, dass sich ihr Geschlecht nicht durch äußere Veränderung wie Kleidung, Frisur oder Ähnliches ändern lässt, nennt man Geschlechtskonsistenz. Ein Beispiel: Viele Kinder können sehr lange in Als-ob-Vorstellungen das Geschlecht wechseln – davor jedoch liegt noch die Zeit, in der sie davon überzeugt sind, dass ihr Geschlecht sich noch ändern kann. Ein Junge kann richtig sauer werden, wenn jemand behauptet, dass er nicht schwanger werden kann. Die Geschlechtspermanenz hat sich schon in der Als-ob-Phase eingestellt (im Rollenspiel wird zwar grundsätzlich jede Rolle angenommen – aber hier ist es eindeutig, dass sie nur spielen). Dann geht es über in die Phase, in der illusionslos die eigene Unveränderbarkeit des Geschlechts anerkannt wird. Die Kinder wissen, dass sie, wenn sie zur Schule gehen, immer noch ein Junge oder ein Mädchen sein werden. Kurz: Das Geschlecht wird auch zu einem späteren Zeitpunkt noch so sein, wie sie es zu diesem Zeitpunkt zugeordnet haben.

Fünfjährige wissen, dass sie Jungen oder Mädchen sind, und verhalten sich dementsprechend. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern wird immer größer, geschlechtstypische Verhaltensweisen treten auf (Haug-Schnabel / Bensel 2005, S. 127).

Das heißt im Klartext: Mit der Akzeptanz des eigenen Geschlechts nehmen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu.

1.5 Zusammenfassung Das erste Kapitel näherte sich dem Thema Geschlecht und versuchte zu erklären, was das eigentlich ist. Wie stark sind die Einflüsse von Anlagen und Umwelt?

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Zusammenfassung

Mit unterschiedlichen Theorien der sozial-kognitiven Entwicklung und deren Kernaussagen in Bezug auf den Prozess Geschlechtsidentität wurde der Blickwinkel der Kinder eröffnet. Weiterhin wurde die Geschlechtsidentität in den Zusammenhang mit den jeweiligen Entwicklungsstufen und -stadien gebracht. Schließlich wurde der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsbildung und Entwicklung von Geschlechtsidentität herausgearbeitet. Das schafft die Basis, um im nächsten Kapitel die Bedeutung von Beziehungen und Bindungen als Sozialisationsinstanz zu betrachten.

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BINDUNG ALS GRUNDLAGE FÜR BEZIEHUNG

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FÜR BEZIEHUNG

2. BINDUNG ALS GRUNDLAGE

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Jungen sind das schwächere Geschlecht

2.1 Jungen sind das schwächere Geschlecht Beginnend mit der Entwicklung des Säuglings lassen sich diverse Bestätigungen für die These Jungen sind nicht das starke Geschlecht (vgl. Schnack / Neutzling 2003) manifestieren. Es werden zwar mehr Jungen (106) als Mädchen (100) geboren, jedoch wird dieses Ergebnis durch die erhöhte Säuglingssterblichkeitsrate der Jungen bereits in den ersten Lebenswochen zu ihren Ungunsten revidiert (vgl. Hurrelmann 2003, S. 190). Auch der Neugeborenen-APGAR-Wert (Atembewegungsintensität, Pulsschlag, Grundtonus der Muskeln, das Aussehen und die Reflexerregbarkeit), ist bei den Jungen im Durchschnitt schlechter. Mädchen haben bei der Geburt einen Reifevorsprung von ca. drei Wochen. Des Weiteren zeigt sich im Rahmen der U-Untersuchungen (Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt), dass Jungen bei deutlich mehr Krankheitsbildern negativ auffallen (vgl. Schnack / Neutzling, 2003, S. 120 f.; Bentheim u. a. 2007, S. 44). Fest steht, dass Jungen offensichtlich weniger gut als Mädchen in der Lage sind, sich der Umwelt außerhalb des Mutterleibes anzupassen. Die zum Teil enormen Unterschiede blieben auch in den weiteren Jahren bestehen. Zumindest bis zum Jugendalter verfügen Jungen über eine deutlich schwächere körperliche und labilere seelische Konstitution (ebd.).

Die Daten, die entsprechend der U-Untersuchungen gesammelt wurden, beweisen, dass Jungen von den meisten Krankheitsbildern der Kindheit betroffen sind – im Gegensatz zu den Mädchen. Zum Zeitpunkt der U9 (dem 60.–64. Monat) sind es 25 Krankheitsbilder, von denen sie leicht bis signifikant mehr betroffen sind als Mädchen. Tabelle 5: Krankheitsbilder je Jungen und Mädchen (vgl. Gesetzliche Krankheits-Früherkennungsmaßnahmen. Dokumentation der Untersuchungsergebnisse 1996 – Kinder. Herausgegeben von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkasse 1999; eigene Umrechnung; Schnack / Neutzling 2003, S. 122). Krankheitsbilder und Störungen





Blutkrankheiten

1,7

1

Cerebrale Bewegungsstörungen

1,4

1

Erkrankungen des Nervensystems

1,2

1

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Bindung als Grundlage für Beziehung

Krankheitsbilder und Störungen





Fehlbildung / Erkrankung der Atemorgane

1,9

1

Fehlbildung / Erkrankung der Verdauungsorgane

1,3

1

Fehlbildung / Erkrankung der Geschlechtsorgane

10,8

1

Hüftgelenksanomalien

1,2

4

Andere Fehlbildungen / Erkrankungen des Skeletts

1,4

1

Intellektuelle Minderentwicklung*

1,6

1

Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung*

1,6

1

Anfallsleiden*

1,2

1

Fehlbildung / Erkrankung der Ohren*

1,6

1

Sprach- und Sprechstörung*

1,7

1

Motorische Entwicklungsstörungen**

2,5

1

*U5 bis U8 **U7 und U8 U3 = 4.–6. Woche; U4 = 3.–4. Monat; U5 = 6.–7. Monat; U6 = 10.–12. Monat; U7 = 21.–24. Monat; U8 = 43.–48. Monat, U9 = 60.–64. Monat

Die Verhältniszahlen ergeben sich aus dem Durchschnittswert der diagnostizierten Fälle pro 10 000 untersuchter Kinder aller angegebenen Untersuchungsstufen. Eine zweite Auflistung zeigt sehr eindrücklich, dass Jungen bis zum Alter von 15 Jahren auch häufiger im Krankenhaus liegen. Tabelle 6: Krankenhausaufenthalte (1997) je Jungen und Mädchen bis zum Alter von 15 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt, Jahrbuch 1999, eigene Umrechnung; Schnack / Neutzling 2003, S. 123). Jungen (406 684)

Mädchen (335 186)

Verletzungen

25 %

19 %

Krankheiten der Atmungsorgane

17 %

19 %

Krankheiten der Verdauungsorgane

13 %

17 %

Jungen sind nicht nur krankheitsanfälliger, sondern auch im Alltag gefährdeter. Ihr geschlechtsspezifisches Risikoverhalten (man könnte auch sagen: ihr Leichtsinn bzw. ihr Unvermögen, gefährliche Situationen angemessen einzuschätzen) kostet zahlreiche Jungen und junge Männer das Leben (ebd. 2003, S. 123).

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Jungen sind das schwächere Geschlecht

Ein Beispiel: Jannis und Emily sitzen auf der Treppe vor dem Haus und Langeweile breitet sich aus. Emily steht auf und springt von der zweiten Stufe nach unten auf den Treppenabsatz. Sie sagt: »Mach mal nach!« Jannis steht auf und hüpft auch herunter. Emily geht auf die dritte Stufe und hüpft runter: »Mach nach!« Jannis hüpft wieder hinterher. Jetzt ist die vierte Stufe dran und Emily guckt vorsichtig, den Abstand einschätzend nach unten: Sie springt und landet nicht mehr ganz so sicher. Jannis springt wieder hinterher. Jetzt sind beide auf der fünften Stufe. Emily schaut runter, fasst sich kurz an ihren Fuß, mit dem sie gerade umgeknickt ist und sagt: »Du zuerst!« Jannis denkt nur eine ganz kurze Sekunde nach – wahrscheinlich auch eher darüber, ob das nun okay ist, dass er jetzt auf Kommando zuerst springen soll. Die Höhe des Sprunges schätzt er nicht ab, er hopst runter – und zwar mit begleitendem Tarzangebrüll. Er schafft es gerade so und landet vornüber auf den Knien. Emily geht wieder eine Stufe tiefer und springt von dort und setzt sich neben Jannis. »Von ganz oben ist zu hoch für mich«, verkündet sie.

Gilbert (2001) schildert in diesem Zusammenhang, dass Jungen weniger potenzielle Gefahren als Mädchen sehen, dass sie weiterhin bei gefährlichen Situationen die Verletzungsgefahr falsch einstufen und, um das Ganze noch mehr ad absurdum zu führen, es auch nicht für möglich halten, dass ausgerechnet sie sich verletzen. Auch Guggenbühl (2006) beschreibt, dass Jungen das Risiko suchen und es für sie deutlich vergnüglicher ist als für Mädchen, sich brenzligen Situationen auszusetzen. Sie lassen sich eher selten von Gefahren abschrecken und sie empfinden es sogar als belebend, wenn sie sich in gefährliche Situationen begeben können. Diese Risikobereitschaft spiegelt sich in der Unfallstatistik wider. Viele Jungen werden durch Risiken an die elementaren Herausforderungen unseres Daseins erinnert. Es geht um die Begrenztheit und die Brutalität unseres Lebens. Nähern sie sich einem Risiko, dann steigen in ihnen nicht nur Angst, sondern auch Wonneschauer auf. Man kommt mit dem Schrecklichen in Kontakt und nähert sich den Abgründen unseres Seins. Viele Jungen sind darum ganz wild auf Unfälle. […] Unfälle sind für sie der Beweis, dass Leben nicht bestimmbar ist (Guggenbühl 2006, S. 86).

Jungen suchen Herausforderungen nicht nur, ja sie verlangen sogar danach, um sich körperlich auszuagieren, auszuprobieren und zu spüren.

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Bindung als Grundlage für Beziehung

Neben dem wesentlich höheren Verletzungspotenzial, zum Beispiel durch Verbrennungen, Vergiftungen und Unfälle, sind Jungen auch beim Thema Selbstmord stärker betroffen. Die Selbstmordrate von Jungen ist fast viermal so hoch wie die von Mädchen (wobei der Versuch, sich selbst umzubringen, bei Mädchen doppelt so häufig vorkommt wie bei Jungen, was der Rettungsquote geschuldet ist). Im Falle von psychischen und psychosomatischen Störungen sind die Jungen bei nachfolgend aufgeführten Krankheiten stärker beteiligt: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

Aggressives Verhalten (dreimal mehr), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (drei- bis neunmal mehr), Autismus (drei- bis sechsmal mehr), Bewegungsstörungen (dreimal mehr), Einkoten (drei- bis viermal mehr), Lese- und Rechtschreibschwäche (drei- bis viermal mehr), Psychosen (dreimal mehr), Sprachentwicklungsverzögerung (zwei- bis dreimal mehr), Stottern (zwei- bis zehnmal mehr), Zwangsstörungen (drei- bis sechsmal mehr) (vgl. Schnack / Neutzling 2003, S. 126).

Fazit Jungen sind nicht das starke Geschlecht. Sie sind häufiger von Säuglingssterblichkeit bedroht, müssen vermehrt ins Krankenhaus, haben mehr Unfälle und leiden unter vielfältigeren Krankheitssymptomen. Jedoch ist diese etwas schwächere körperliche Konstitution im Vergleich zu den Mädchen nur in den ersten Lebensjahren – bis hin zur Pubertät als signifikant anzuführen. Die Lebenserwartung von Frauen ist wiederum sechs bis sieben Jahre höher als die von Männern. Das wird darauf zurückgeführt, dass Mädchen bessere Bewältigungsstrategien in körperlichen, psychischen und sozialen Belangen haben.

2.2 Bindung in der frühen Kindheit Der Schwerpunkt Bindung innerhalb des Themenbereichs Jungensozialisation wird nachstehend in Beziehung zu den Qualitäten der kindli-

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Bindung in der frühen Kindheit

chen Bewältigungsstrategien gesetzt. Diese sind im vorherigen Kapitel als Risikokomponenten der Jungen genannt worden und stehen für deren schlechtere Ausgangslage beim Aufwachsen. Primäre Bindungsbeziehungen zeichnen sich durch emotionale Sicherheit und Vertrautheit aus und werden zunächst im unmittelbaren Kreis der Familie erworben (Ahnert / Gappa u. a. 2010, S. 110).

Was bedeutet das für das Kind? Der Säugling wird in eine Situation hinein geboren, in der er schutzlos unerfahren und unreif ist. Wilhelm Rotthaus (2007, S. 136) erklärt: Hierfür [Menschen sind nicht allein als Individuum zu denken, Anmerkung der Autorin] gibt es eine Fülle von Belegen: Der offensichtlichste liegt in der harten Wirklichkeit der biologischen Struktur des Menschen, in der Tatsache, daß das Überleben des Säuglings davon abhängt, ob ihn jemand versorgt, der versteht, was er braucht. Zudem kann das Ich erst im Unterschied zu einem Du entstehen. Ich und Du erwachsen erst in der sozialen Begegnung und sind existentiell aufeinander angewiesen, sind erst im Wir existenzfähig.

Der Säugling ist infolgedessen auf ein Schutzsystem angewiesen und versucht dieses auf seine ihm eigene Weise einzufordern. Er kommuniziert durch Schreien, um Hilfe und Unterstützung einzuholen und ist somit im systemischen Bezug zum Du (Betrachtung von Außen) und zur Umwelt. Insbesondere der Blickkontakt zwischen dem Säugling und einer Bezugsperson verschafft ihm die Grundlage zur Entwicklung einer qualitativen Beziehungsanbahnung. Daraus folgend entwickelt sich dann im zweiten Schritt seine stabile Persönlichkeit, die wiederum durch ein sicheres Bindungsverhalten gefestigt wird. Dabei wird der Grad der Bindungsqualität daran gemessen, wie sicher sich ein Kind im Kontakt-Erhalten und Nähe-Suchen verhält. Eine unsichere Bindung bedeutet, Stress und Bewältigungs- sowie Regulationsversuchen ausgeliefert zu sein, die sich in einem weiten Kreis auf etliche Bereiche  – bis in die kindliche Wissensaneignung hinein  – auswirken. Liselotte Ahnert bekräftigt, dass die Verfügbarkeit einer Sicherheitsbasis und die Erfahrung von Bindungssicherheit, die das Kind gegenüber einer Bezugsperson ausgebildet hat, eine positive Nachhaltigkeit für seine Entwicklung gewährleisten. Gleichzeitig wird die jeweils individuelle

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Sicht auf sich selbst und die Welt langfristig geprägt. Kinder erfahren sich selbst als liebens- und beschützenswert. Die nachfolgende Auflistung von Entwicklungsvorteilen führt detailliert auf, welche positiven Gesamtauswirkungen sich beim Kind herausbilden, wenn es sich sicher gebunden fühlt. ◆◆

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Die Kommunikationsentwicklung wird unterstützt: Das Kind erlebt, dass es Erlebnisse mit Bezugspersonen teilen und darüber Unterhaltungen führen kann. Die eigenen Empfindungen werden besser verstanden und auch durch das gespiegelt, was die Umwelt dazu sagt. Die eigenen Emotionen können besser ausgehalten werden – zunächst indem die Bezugspersonen beispielsweise das Kind darin unterstützen, ungute Gefühle durchzuhalten. Die Möglichkeit der emotionalen Eigenregulation stellt wichtige Aspekte der Entwicklung des Sozialverhaltens zur Verfügung; zum Beispiel Anpassungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Frustrationstoleranz. Ein Beispiel: Christian sitzt mit seiner größeren Schwester Clara im Kinderzimmer und es gibt Streit um ein Bilderbuch. Christian ist ganz außer sich und tobt, weil seine Schwester das Buch einfach weggenommen hat, während er gerade die Bilder angeschaut hat. Da kommt die älteste Schwester Franziska herein und beruhigt zunächst Christian, indem sie ihm mitteilt, dass sie versteht, dass er wütend ist. Sie lässt sich noch einmal von ihm erzählen, warum er die Bilder unbedingt allein angucken wollte und tröstet ihn, sodass er sich beruhigen und zuhören kann. Dann bittet sie die kleine Schwester den Streit um das Bilderbuch zu erzählen und erklärt auch Christian noch einmal, warum Clara das Buch anschauen wollte. Sie schlägt vor, dass die drei jetzt gemeinsam das Bilderbuch lesen und bittet Christian und Clara, sich gegenseitig zu entschuldigen. Christian hat sich wieder beruhigt und bietet seiner Schwester Clara sofort ein »Tschuldigung« an.

Ein Kind mit unsicheren Beziehungserfahrungen hat im Umgang mit seinen Bezugspersonen die oben genannten Sicherheiten nicht ausreichend erlebt. Es wird hier eigene Bewältigungsstrategien anwenden müssen und kann sich nur auf die individuellen emotionalen Regulationsfähigkeiten verlassen.

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Bindung in der frühen Kindheit

Im Kleinkindalter sind eigene emotionale Regulationsfähigkeiten noch nicht ausreichend günstig entwickelt und das bedeutet die Konfrontation mit dem persönlichen Unvermögen sowie gleichzeitig mit einem negativen Selbstwertgefühl. Insgesamt sind die Erwartungen von unsicher gebundenen Kindern an den Support durch ihre Umwelt eher gering und sie gehen auch seltener auf soziale Kontaktsuche und weniger auf die Außenwelt zu. Die sichere Bindungsempfindung wiederum begleitet das Kind durch die gesamte Kindheit und stellt insofern eine positive Komponente in der Zeit des Aufwachsens dar. Entdeckerfreude und Explorationslust werden ausschlaggebend davon begleitet, wie gut ein Kind seine Sicherheitsbasis empfindet, von der aus es die Welt erkundet. Ein Beispiel: Eine Gruppe von Eltern mit Kleinkindern trifft sich regelmäßig einmal in der Woche zu einem sogenannten Spielkreis in einer Familienbildungsstätte. Zunächst sitzen alle im Stuhlkreis und machen mit den Kindern Fingerspiele und singen Lieder. Anschließend ist Freispielzeit geplant. Jetzt entwickeln sich sehr unterschiedliche Szenarien. Manche Kinder können nicht schnell genug von den Eltern wegkommen, um ein Auto zu ergattern oder sich an andere Eroberungen im Raum heranzuwagen. Andere Kinder wiederum brauchen zunächst die Hand der Bezugsperson, die festgehalten und benötigt wird, um zum Beispiel gemeinsam auf den Bauteppich zu gehen und ein Spielzeug in Beschlag zu nehmen. In der Regel ist es überhaupt kein Problem, wenn die Mutter oder der Vater sich dann nach einer Weile zurückzieht und woanders hinsetzt. Es ist gut zu beobachten, dass im vertieften Spiel immer wieder Blickkontakt hergestellt wird und das Kind dann in Ruhe weiter spielt. Manchmal wird vielleicht auch ein kleiner Gang zum Vater / zur Mutter eingeschoben und ein kurzer Körperkontakt abgeholt. Danach geht es weiter auf Entdeckungstour.

Gerade in einer Gruppe von Kindern unter drei Jahren lassen sich die Unterschiede in der Bindungserfahrung gut erkennen. Auch zu der damit in Verbindung bringenden Explorationslust und Entdeckerfreude lassen sich gute Beobachtungen festhalten. Ahnert (2010, S. 113) bekräftigt diese Beobachtungen:

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Im Kontrast dazu werden Entdeckerfreude und Explorationslust infolge einer eingeschränkten Verfügbarkeit oder gar einer fehlenden Sicherheitsbasis bei Kindern mit unsicheren Bindungserfahrungen frustriert. Selbstbildungsprozesse werden folglich ausgebremst, und die motivationalen Grundlagen für Erkunden und Lernen werden nur ungenügend ausgebildet. […] Demnach müssen Lernmöglichkeiten für Kinder über soziale Kontakte mit vertrauten Menschen auf den Weg gebracht werden, um effektive mentale Kompetenzen entstehen lassen zu können.

Ahnert hat nach Both et al. (2003) das Fünf-Komponenten-Modell vorgeschlagen, welches sicherheitsgebende Komponenten zur Verfügung stellt: 1. Zuwendung: gemeinsam Zeit verbringen und aufeinander bezogen kommunizieren, 2. Sicherheit: Verlässlichkeit ausstrahlen, 3. Stressreduktion: Nähe, Trost, Beruhigung usw., 4. Explorationsunterstützung: Ermutigen und für Sicherheit sorgen, 5. Assistenz: immer wieder dazu ermuntern, auch mal mutig Neues auszuprobieren. Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der frühkindlichen Entwicklung einer guten Bindung an Bezugspersonen eine sehr wichtige Schlüsselfunktion zukommt. Wenn es sich beispielsweise, wie in den meisten Fällen, um eine positive Eltern-Kind-Beziehung handelt, ist damit eine generelle, entwicklungsförderliche Grundbedingung sichergestellt.

2.3 Männer und Jungen Es wird befürchtet, geforscht, geschrieben, gesendet, getalkt, dass das Spannungsverhältnis zwischen den Geschlechtern allmählich verloren geht: Ebenso der für Männer angeblich so wichtige Wettbewerb unter ihresgleichen am Arbeits- und Fußballplatz. Verloren geht somit ein Teil der männlichen Identität (Herriger 2011, S. 32).

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Männer und Jungen

Herriger (2011) verweist auf die Aussage von Bolz, der behauptet, dass die aktuelle Welt Weiblichkeit als absolut wichtig herausstellt und gegenüber Männlichkeit priorisiert. Engeln (2008) stellt zur Diskussion, dass heute wohl kein positives oder klares Bild vom Mann sein vorhanden – insbesondere in der deutschen Gesellschaft. Er vervollständigt weiterhin, dass typisch männlich heute als negatives Etikett wahrgenommen wird. Dafür würde es sehr unterschiedliche Erklärungen geben – letztlich bleibe die Sehnsucht der Jungen nach männlichen Vorbildern im Sinne von: »So will ich sein«, zurück. Hurrelmann (2008) beschreibt, dass die Männer sich noch immer als Haupternährer sehen und sich an traditionellen Rollenbildern orientieren, die es nicht vorsehen, gleichwertige Verantwortung in Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Insgesamt falle es Männern schwer, ihre soziale Repräsentanz in der heutigen Gesellschaft zu beschreiben, anzunehmen und auszufüllen. Paulsen (2008) schildert demgegenüber diffizile Einblicke, die deutlich darauf aufmerksam machen, in welcher empathischen Art und Weise Männer an ihrer Mann-Vater-Rolle beteiligt sind. Dafür nutzt sie Auszüge aus einem Online-Forum, in dem sehr eindrücklich klar wird, dass Männer ähnliche Gedanken begleiten wie Frauen. Frisch gebackene Väter beschäftigen beispielsweise durchaus auch Fragen wie: ◆◆ ◆◆

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Liebe ich mein Kind ausreichend? Warum weine ich jetzt, wo mein Kind endlich auf der Welt ist und bei uns zu Hause in seinem Bett liegt? Warum leide ich jetzt an Antriebslosigkeit und an Depressionen?

Aus einer amerikanischen Studie mit 28 000 Probanden wird zitiert, dass von dieser postnatalen Depression 10,4 Prozent der Männer betroffen sind. Es ist eine neue Vätergeneration nachgewachsen; inzwischen sehen sich zwei Drittel der Väter in neuen sozialen Rollen, nur ein Drittel verharrt im klassischen Verständnis des nur Brotverdieners. […] mit der Geburt des Kindes rekonstruiere sich die ganze Welt (Fthenakis 2008, S. 32).

Der US Psychologe Ross Park (2008) fand heraus, dass auch im Körper des werdenden Vaters biologische Veränderungen nachzuweisen sind.

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Männer sind nicht unbedingt auf die Ernährer- und Beschützerrolle festgelegt und viel androgyner als früher angenommen. Spektakulär erscheinen in diesem Zusammenhang die hormonellen Ausschüttungen von Östrogen bei werdenden Vätern, welche die kanadische Psychologin Anne Storey (2008) bei Männern entdeckt hat, die mit den werdenden Müttern die Geburtsvorbereitungskurse besucht haben. Sie bewies darüber hinaus, dass der männliche Testosteronspiegel abnimmt, sobald Männer eine Anreicherung von Prolaktin erfahren – jeweils in Zusammenhang mit der Geburt des Kindes. Inzwischen ist die Gewichtszunahme der werdenden Väter, qua Sympathie mit der schwangeren Frau und vermutlich durch Hormonausschüttung über die Haut übertragen, als Couvade-Syndrom bekannt. Viele weitere biologische Vorgehen befähigen Männer sich engagiert, verantwortungsvoll und emphatisch um das Kind zu kümmern, zu versorgen und es zu beaufsichtigen. Vatersein hieß lange Zeit, von außerhalb der Familie aus für sie zu sorgen, vor allem das Einkommen zu sichern, und das gab es woanders: Der Vater war für die Familie da, indem er weg war. Heute kommt es dagegen beim Vatersein mehr auf den unmittelbaren Kontakt an: Die Rückkehr der Väter in die Familie ist wohl das Wichtigste am Wandel des Vaterseins. Mit dieser Vater-Rückkehr verbunden ist auch eine neue Entdeckung der Qualitäten und der Bedeutung der Väter. Vatersein ist seither Tun und Nähe: Es entsteht im direkten Handeln mit dem Sohn (Winter 2011, S. 56).

Diese Erklärung Winters bezüglich des gesellschaftlichen Wandels für die Aufgabe von Vätern geht konform mit den männlich-hormonellen Nachweisen in Verbindung mit der Vaterschaft. Die Qualitäten der Vater-Kind- oder insbesondere der Vater-SohnBeziehung werden sehr deutlich formuliert: Es wird gefordert, väterliche Wärme zu zeigen und dem Kind deutlich zu offenbaren, dass man es liebt, das Kind zu herzen und zu küssen (italienische Väter dienen hier als bildhaftes Beispiel), über Emotionen Gefühle auszudrücken und über Gefühle zu berichten. Gerade Jungen, die einen sehr engen körperlichen Kontakt mit ihrem Vater genießen können, werden als Jugendliche und Erwachsene davon profitieren. Emotionale Väter sind für Kinder  – insbesondere für Jungen  – von großer Bedeutung. Jedoch besteht auch ein großer Unterschied in und eine Vorrangstellung zu der weiblich-mütterlichen Erziehung.

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Männer und Jungen

Väter sind einfach anders als Mütter, und das ist gut so. Studien aus der Väterforschung haben gezeigt, dass Papas mit den Kindern auch anders umgehen als Mamas – schon vom ersten Lebenstag an. Dieses Anderssein kommt vor allem ihren Söhnen zugute, besonders in den für die Entwicklung sensiblen Jahren (Bentheim u. a. 2007, S. 77).

Laut Bentheim spielen Väter beispielsweise mehr mit dem Nachwuchs, und zwar in allen möglichen Situationen wie auch in pflegerischen Angelegenheiten. Männer legen größeren Wert auf Freizeitaktivitäten, verbunden mit viel Bewegung, und unterscheiden dabei auch früher als Mütter zwischen Söhnen und Töchtern. Jungen wird beispielweise mehr zugetraut und die Väter gewähren ihnen mehr Unabhängigkeit. So kann schon ein ein- bis zweijähriger Junge, der erste Schritte in Richtung Selbstständigkeit macht und beginnt, sich aus der engen Beziehung zu Mama zu lösen, bei einem einfühlsamen Vater eine stabile Alternativ-Beziehung finden und davon profitieren. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren ist Papa dann die größte männliche Identifikationsfigur überhaupt für Sohnemann. Diese Zeit ist besonders prägend für die sexuelle Identität eines Jungen (Bent­ heim u. a. 2008, S. 77).

Das findet parallel zu dem Zeitraum statt, in dem sich der Junge in seinem Geschlecht als gefestigt entdeckt. Erleichtert kann er den Vater als Gleichen einordnen. Oftmals ergibt sich daraus der Wunsch so wie der Vater zu sein oder auch die Möglichkeit, die Außenwelt aus männlichem Blickwinkel wahrnehmen zu wollen und immer mehr begreifen zu können. Hohe Priorität haben ebenso männliche Rituale, welche Jungen mit Vätern oder in Männerrunden generell erfahren(vgl. Bentheim 2008). Etwas kritischere Anmerkungen in Bezug auf den Aktivitätsdrang von Vätern und Söhnen führt Paulsen (2008) an und folgt damit Fthenakis (2008), der in Bezug auf die Väter-Domäne, etwa das wilde körperorientierte Spiel wie Toben, Jagen, Kitzeln, in die Luft werfen usw., erläutert: Sogenannte emotionsauslösende Aktivitäten werden von Vätern vermutlich wahrgenommen, weil die Rolle der fürsorgenden, ruhigen, verlässlichen Mutter besetzt ist. Entwickeln kann sich das bereits während der Stillzeit in Zusammenhang mit dem Gefühl der Männer, ausgeschlossen zu sein. Evtl. kann sich ein Gefühl, nutzlos zu sein in genau diesen Augenblicken einschleichen.

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Ein Beispiel: Die Familie Fuchs hat gerade ihr erstes Kind bekommen. Es ist ein Junge. Der Vater hat sich mit seiner Frau sehr intensiv mit dem Wunsch nach einem Kind beschäftigt und beide haben sich dafür entschieden, das Kind gemeinsam betreuen zu wollen. Der Vater, Christian, hat sich sehr genau mit seiner Rolle als aktiver Vater auseinandergesetzt und auch mit der verantwortlichen Vorbereitung auf die Geburt des Kindes. Bald schon können sich die Eltern damit vertraut machen, einen Jungen zu erwarten. Christian ist ein verlässlicher Partner während der Geburt und hat das Baby gleich als Erster auf seinen nackten Oberkörper gelegt, seine Haut gespürt und seinen Geruch aufgesogen. Die Geburt ist komplikationslos verlaufen und somit gehen die Eltern mit dem Neugeborenen nach Hause und bleiben nicht in der Klinik. Die Pflege des neugeborenen Sohnes Jonas übernimmt Christian. Er hat ein sicheres Gefühl beim Baden von seinem Sohn und das Wickeln klappt gut. Seine Frau ist noch etwas geschwächt und liegt gern mit dem Baby im Bett zum Stillen. In der Zeit legt sich Christian erst auf die andere Seite, sodass Jonas in der Mitte zwischen ihnen liegt. Das ist ein Anblick, der ihm zeigt, wie seine Frau in Zweisamkeit mit dem gemeinsamen Kind verbunden ist, zu der er keinen Zutritt besitzt. Nach einem kurzen Verharren legt er sich an den Rücken seiner Frau und fühlt sich auch in dieser Löffelchenstellung überflüssig. Die Stillzeit empfindet er als sehr ambivalentes Gefühlserlebnis, und kann sich auch nicht des Eindrucks verschließen, diese Situation als Ungleichgewicht zu empfinden.

Diese geschilderte Szene stellt eine erste Unsicherheit dar und wird sich in Vater-Sohn-Zeit noch um weitere Spannungsmomente erweitern. Zu den Ambivalenzen in der Vaterrolle ergeben sich bedeutsame Fragen (vgl. Winter 2011, S. 62 ff.) wie zum Beispiel: Was wird der Vater dem Sohn als männlich aufzeigen? Oder: Welches Rollenbild kann er seinem Sohn überhaupt übermitteln? Die jetzige Zeit hält  – im Gegensatz zu Zeiten, in denen beispielsweise die Großväter aufgewachsen sind – keine Rollenvorbilder bereit. Diese werden als wandelnder Prozess immer wieder neu ausgehandelt und spiegeln insofern eher Unsicherheit wider. Jeder Vater ist gleichzeitig auch Sohn und bringt dementsprechend vielleicht sehr viel weniger emotionale Zuwendungserfahrung mit, als er seinem Sohn weitergeben möchte. Winter (ebd.) empfiehlt sehr genau darauf zu achten, was von der eigenen Sohn-Erfahrung in die Vaterrolle übernommen werden soll. Wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen und zu bewältigen, was in die eigene Vergangenheit gehört und was wie-

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Männer und Jungen

derum von der eigenen Vergangenheit als Modell für die Zukunft zwischen Vater und Sohn dienen soll. Es könnte sich in der neuen emotionalen Nähe, die gerade auch heutzutage zwischen Söhnen und Vätern gelebt werden soll, eine Schwierigkeit mit den eigenen Werten des Vaters ergeben. Damit einhergehend scheint es von immenser Bedeutung zu sein, die auftretende Fragestellung »Was kann ich als Mann alles zulassen, ohne Grenzen zu überschreiten?« zu berücksichtigen. Interessant ist die Phase, in der der Sohn die Mutter heiraten möchte und darum den Vater wegwünscht. Eine Scheidung steht vielleicht zur Debatte, damit der Sohn freie Bahn hat. Ein weiterer Konkurrenzkampf kann sich auch in sportlichen Bereichen entwickeln. Vater und Sohn spielen beispielsweise gemeinsam Tennis. Der Sohn ist schneller und bekommt alle Bälle vom Vater – sind sie auch noch so weit in die Ecken platziert. Nun entsteht ein unausgeglichenes Machtverhältnis. Der Vater hätte die Möglichkeit, die Bälle mit solcher Härte zu spielen, dass es dem Sohn nicht gelingen würde zu returnieren. Das darf nicht passieren! Der Vater darf sich aufgrund seiner physischen und vielleicht auch psychischen Überlegenheit nicht auf diesen provozierten Machtkampf einlassen. Wenn dem Vater an dem Sohn Seiten begegnen, die er an sich selbst nicht leiden kann oder auch nicht akzeptieren möchte, dann liegt darin eine Chance. Der Vater kann sich evtl. damit versöhnen, sich unzulänglich vorzukommen, wenn er Spinnen ausweicht und den Raum zum Schlafen nicht mehr betreten kann, bis die Spinne entfernt wurde – gerade dann, wenn der Sohn das auch eklig findet. In dieser Angelegenheit können beide ihre Grenzen ertasten und herausfinden, ob sie zukünftig vielleicht gemeinsam Spinnen aus dem Haus jagen werden. Andererseits besteht auch die Möglichkeit, Spinnenphobie als Tatsache zu akzeptieren. Grundsätzlich gilt, dass das aktive Sohn-Vatersein auch für Väter selbst reichlich Entwicklungspotenziale bereithält: Sie werden mit der Nase auf eigene Männerthemen gestoßen, bekommen die Chance sich mit der wichtigen Seite ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen – nämlich mit ihrem eigenen Sohnsein. Dazu lernen sie nebenbei, viele Jobs gleichzeitig zu managen, können ihre männlich-fürsorgliche Seite gegenüber einem männlichen Mitmenschen entwickeln, wachsen in neue Verantwortungsbereiche hinein, erfahren und erkennen die Bedeutung von Zuverlässigkeit und Selbstsorge an – ein bunter Strauß der Kompetenz- und Erlebnisräume, der harten Phasen und Probleme mehr als ausgleicht (Winter 2011, S. 65).

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Paulsen (2010, S. 43) fasst die Möglichkeiten positiver Vaterschaft zusammen und erweitert die Auswirkungen dieser Beziehung: Er praktiziert »emotionales Coaching«: hilft dem Kind, seine Gefühle zu benennen. Akzeptiert und würdigt sie. Nutzt sie als Anlass, Grenzen zu setzen und Werte zu vermitteln. Dieses Verhalten fördert nachweislich die Sozialkompetenz des Kindes, die eigenständige Problembewältigung, es dient der Gefühlsregulation und dem Verstand.

Darüber hinaus rekonstruiert sich für Väter, im Gegensatz zu Männern, die keine Kinder aufziehen, die eigene Welt völlig neu. Fazit Die Beziehung zwischen Männern und Jungen wird begleitet von der Unsicherheit, die sich einerseits in der Notwendigkeit und dem Wunsch der Väter widerspiegelt, emotionaler Coach für die Söhne zu sein und andererseits in der Tatsache, ein unerlässliches männliches Vorbild darstellen zu müssen. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zu der eigenen Sozialisation als Mann und Sohn in Verbindung mit der Unsicherheit, nicht genau zu wissen, welches gesellschaftlich relevante Mann-sein-Vorbild dem Sohn vorgelebt werden soll.

2.4 Frauen und Jungen Jungen und Mädchen haben einige wenige geschlechtsbedingte Unterschiede, die im Folgenden aus psychologischer Sicht entwickelt werden. Anschließend wird daran angeknüpft und hervorgehoben, was Söhne eigentlich in ihrem Sich-Präsentieren, in ihrer Sprache, in ihren Emotionen und in ihrer Bewegung von den Müttern unterscheiden könnte und somit genauerer Betrachtung bedarf. Folgende psychologische Geschlechtsunterschiede sind festzuhalten:

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Frauen und Jungen

Tabelle 7: Psychologische Geschlechtsunterschiede (vgl. Siegler u. a. 2005, S. 499) Anfälligkeit / Resistenz

Ab der Befruchtung sind Jungen für ein breites Spektrum von Entwicklungsproblemen anfälliger.

Aktivitätsniveau

Jungen sind von Geburt an körperlich aktiver als Mädchen.

Aggression

Schon sehr früh im Leben sind männliche Kinder aggressiver als weibliche; als Jugendliche und Erwachsene sind sie bedeutend häufiger an Gewaltverbrechen beteiligt.

Emotionaler Ausdruck

Schon sehr früh im Leben sind Mädchen emotional ausdrucksfähiger als Jungen.

Angst, Zaghaftigkeit, Risikobereitschaft

Ab dem ersten Lebensjahr sind Jungen weniger ängstlich und weniger vorsichtig als Mädchen, auch sind sie risikobereiter.

Fügsamkeit

Ab dem Kindergartenalter sind Mädchen gegenüber Wünschen und Anforderungen von Erwachsenen fügsamer als Jungen.

Verbale Fähigkeiten

Mädchen entwickeln verbale Fähigkeiten früher und behalten während der Kindheit und dem Jugendalter einen leichten Vorsprung.

Räumlich-visuelle Fähigkeiten

Ab der mittleren Kindheit erbringen Jungen bei räumlichen Tests zu mentaler Rotation und räumlichen Schlussfolgerungen etwas bessere Leistungen.

Mathematische Fähigkeiten

Ab der Adoleszenz sind Jungen bei mathematischen Schlüssen (nicht aber beim Rechnen) gegenüber Mädchen leicht im Vorteil. Ein größerer Vorteil zugunsten der Männer wird bei mathematisch Hochbegabten erkennbar.

Es gibt also einige wenige nennenswerte Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Diese sind vor allem im Gebiet der Aggressivität, beim Bewegungsbedarf und der emotional-verbalen Ausdrucksfähigkeit zu finden. Die emotionale Ausdrucksfähigkeit wurde bereits im Kapitel über Väter und Jungen (vgl. Kapitel 2.3) thematisiert. Väter sind gefordert, hier eine große Entwicklung zuzulassen oder auch den Weg zu sogenannten weiblichen Anteilen in sich selbst weiter zu bejahen und den Söhnen als Wert vorzuleben und zu vermitteln. Es bleibt jedoch auch anzunehmen, dass Mütter ihren Söhnen in diesem Bereich noch exaltierter begegnen müssen. Nicht nur bei Töchtern ist der weibliche, sensible Anteil wünschenswert und bedarf einer empathischen Bestätigung. Mütter müssen Jungen gleichfalls mit Wärme und Respekt begegnen. Soziales und fürsorgliches Verhalten zu leben und in den Alltag zu in-

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tegrieren, ist eine Selbstverständlichkeit für beide Eltern. Wichtig ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, was dem Sohn in der Öffentlichkeit (im Gegensatz zur häuslichen Atmosphäre) angenehm ist. Ein Beispiel: Julian ist jetzt fünf Jahre alt und das zweite Jahr im Kindergarten. Bisher war die Abschiedsszene zwischen Mutter und Sohn mit einem Ritual festgelegt: Ankommen in der Gruppe, ein kurzes Bilderbuch gemeinsam auf dem Schoß anschauen und dann begleitet Julian die Mutter zur Tür. Ein bis zwei Abschiedsküsschen und ein Winken, bis die Mutter nicht mehr zu sehen ist. Dieser gemeinsame Abschied war intensiv und sehr liebevoll. Das ist jetzt anders – Julian möchte lieber sehr schnell mit seinen Freunden spielen und verabschiedet sich nur kurz mit einem Küsschen, welches die Mama ihm geben darf. Dann ist er im Spiel vertieft. Die Mutter ist etwas irritiert und fragt mehrmals nach, ob sie nicht wieder gemeinsam ein Bilderbuch anschauen wollen und ob sie denn kein Abschiedsküsschen mehr bekommen könne.

Damit wird Julian in seiner Entwicklung behindert. Die Mutter missversteht die Situation, da sie ihre eigenen Bedürfnisse nach einem ritualisierten Abschied nicht mit Julian abspricht. Die beiden leben ein enges, emotional feinfühliges Miteinander, aber die Erwartungshaltung der Mutter sollte eine sensible Einschätzung zur richtigen Art und Weise bedenken. Beispielsweise könnte sie hier mit Julian eine Absprache treffen, die vielleicht ein Abschiedsküsschen und Umarmen vor der Tür oder im Auto (also nicht vor den Augen der Freunde) vorsieht. Damit wird es möglich bleiben, eine körperlich enge Beziehung bestehen zu lassen und zu pflegen – auch bei einem Jungen, der größer wird –, die für beide gut und passend ist. Emotionale Ausdrucksfähigkeit wird durch warmes und fürsorgliches Verhalten und Miteinander entwickelt – das ist eine Prägung, die Jungen von Müttern und Vätern gleichermaßen entgegengebracht werden sollte. An dieser Stelle wird eine weitere Facette für emotionale Entfaltung angesprochen, die im Zusammensein mit Jungen eine besondere Bedeutung erhält – das Mitgefühl. Winter (2011, S. 105) beschreibt: Verantwortlich für Einfühlung und Mitgefühl sind die Spiegelneuronen im Gehirn. Es ist angeboren, dass diese Nervenzellen funktionieren, dass also

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Frauen und Jungen

Menschen Mitgefühl empfinden können. Aber wie andere Fähigkeiten auch muss diese angeborene Kompetenz geübt und weiterentwickelt werden. Alle Kinder brauchen es deshalb, dass andere sich in sie einfühlen; sie benötigen das Gefühl, selbst verstanden zu werden. In dieser Hinsicht werden Jungen wahrscheinlich schlechter versorgt als Mädchen.

Damit ist eine zusätzliche konkrete Aufforderung an Frauen und Mütter gerichtet, hier sensibel vorzugehen. Jungen dürfen einerseits nicht mit Missbilligung bewertet (Bist du etwa schadenfroh?) und andererseits auch nicht mit Vorwürfen belastet werden. Mitgefühl ist eine Emotion, deren Fortschritt viel Entwicklungsbedarf hat und ständig trainiert werden muss. Ein Beispiel: Julian hat zwei Kinder eingeladen, um am Nachmittag mit ihnen bei sich zu Hause im Garten zu spielen. Es sind sein Freund Hannes und seine Freundin Esther. Nach dem wilden und anstrengenden Versteckspiel erholen sich die Kinder beim Schaukeln. Hannes setzt sich als Erster auf die Schaukel und will Schwung nehmen. Dabei verliert er die Balance, fällt rückwärts herunter und landet auf dem Po. Das sieht ziemlich komisch aus und ruft zunächst Lachen bei Julian und Esther hervor. Esther erkundigt sich aber auch gleichzeitig, ob Hannes sich verletzt hat und ob es weh tut. Julian tut dies nicht; er muss immer noch lachen und hält erst inne, als er über die besorgte Frage von Esther an Hannes auf den Umstand aufmerksam gemacht wird, dass ihm vielleicht nicht zum Lachen zumute ist.

Immer wieder werden sich Mütter in Situationen mit den Jungen wiederfinden, in denen sie schlucken müssen, weil ihnen das fehlende Einfühlungsvermögen der Söhne Widerwillen entlockt. »Wieso lachst du jetzt eigentlich? Mir ist gerade der Zuckertopf heruntergefallen und alles hat sich in der Küche verteilt.« Diese Sätze können Mütter denken – aber nicht so aussprechen. Stattdessen könnten sie etwas formulieren wie: »Ich bin jetzt gerade ziemlich genervt, weil ich die ganzen Küche ausfegen und putzen muss. Wenn jetzt jemand lacht, dann fühle ich mich noch schlechter!« Im weiteren Aufwachsen von Jungen wird sich das Thema des schlecht bis mittelmäßig ausgebildeten Mitgefühls immer wieder als auszubauendes Anliegen erweisen. Frauen müssen sich damit vertraut machen, dass ihnen das bei ihren Söhnen und bei Jungen und Männern insgesamt wei-

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terhin auffallen wird. Es gibt vereinzelt Hypothesen zur Erklärung, dass das Mitgefühl kontraproduktiv für die Freude am Konkurrenzkampf ist. In jeder Form des Wettkampfs, in jedem Konkurrenzkampf hemmt Mitgefühl den Erfolg; wo Wettbewerb fürs Männlichsein eine hohe Bedeutung hat, steht Mitgefühl dem Männlichen im Weg (Winter 2011, S. 106).

Wettbewerbe und Konkurrenzsituationen sind für Jungen wichtig. Zunächst aber unterstützende Informationen zum Themenbereich Emotionen. Söhne, die immer wieder sensibel mit Gefühlen konfrontiert werden und sich dadurch in andere einfühlen können – also Mitgefühl empfinden –, haben eine gute Grundlage, Gefühlskompetenz zu entwickeln. Sie werden sich dadurch mit Gefühlslagen auskennen und dafür in Mimik, Gestik, Körperhaltung, Stimmlage und Lautstärke ihren Ausdruck finden. Das heißt im Umkehrschluss, dass ihr Sich-Präsentieren als Junge und Mann mit immer weniger Imponiergehabe angereichert sein wird. Um das (gezielt) zu trainieren, können Frauen immer wieder den Gefühlsaspekt in Ereignissen herausstellen und diesen benennen. Ein Beispiel: Johann ist im letzten Kindergartenjahr und kommt nach einem ereignisreichen Kindergartentag nach Hause. Seine Freunde haben sich heute sehr blöd verhalten und ihn, weil er zu spät im Kindergarten angekommen ist, nicht mehr mitspielen lassen. Er war den ganzen Vormittag sauer und hat sich gelangweilt. Anschließend ist er beim Turnen im Kindergarten von der Bank gefallen und hat sich weh getan. Zu allem Überfluss konnte er in seiner Brottasche nicht mal sein Lieblingsgetränk finden. Er hat Apfelsaft mitbekommen und mag Kirschsaft doch viel lieber. Als Johann abgeholt wird, ist er seiner Mutter gegenüber ziemlich aggressiv. Zu Hause, als es dann auch noch Gemüse zum Mittagessen gibt, reicht es ihm. Er meckert seine Mutter lautstark an und wirft ihr wutentbrannt vor, dass er schon das falsche Getränk dabei hatte und dass sie sich wirklich mal mehr anstrengen kann, ihm nicht immer das Falsche mitzugeben. Seine Mutter ist erstaunt, was sie da alles zu hören bekommt und wie sauer ihr Sohn ist.

An dieser Stelle ist es überaus hilfreich, sich darüber im Klaren zu sein, dass der Sohn über das Ausagieren in Wut oder auch Toben seinen

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Frauen und Jungen

schlechten Gefühlen Luft verschafft. Es liegt ihm näher, zunächst seine Gefühle in Handlung umzumünzen und erst dann ist es evtl. möglich, darüber zu sprechen. Gut ist es, wenn es der Mutter gelingt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der ein darauf ausgerichtetes Gespräch unbemerkt initiiert wird: »Du bist ja ganz schön sauer und wütend auf mich. Das kann ich zum Teil gut verstehen, denn ein falsches Getränk dabei zu haben, ist ärgerlich. Ich habe das aber nicht absichtlich gemacht, sondern wir hatten einfach deine Lieblingssorte nicht mehr. Nicht böse sein! Da kann der Tag ja aber gar nicht so richtig gut für dich gewesen sein; gestoßen hast du dich ja auch noch beim Turnen. Wie ist es denn sonst so gewesen heute?« Im Umgang mit Jungen muss jede Mutter auf jegliche Form der Wut und Aggression damit reagieren einen Schritt zurückzutreten, tief Luft zu holen und eine Pause zu machen. Jungen sind leichter frustriert und weniger gut in der Lage, sich erstmal ruhig und gelassen abzuarbeiten. Missstimmungen, Ärger mit Freunden und Erwachsenen empfinden sie in erster Linie als Stress und Überforderung. Ihre Reaktion ist dementsprechend eher als hilflos zu bezeichnen. Ganz langsam wird sich eine Weiterentwicklung parallel zu ihren positiven Erfahrungen im Bereich emotionaler Ausdrucksfähigkeit zeigen. Es ist ganz wichtig für Erziehende und gerade für Frauen – nicht dem ersten Impuls zu folgen und zurück zu meckern (wenn es unberechtigten Ärger gibt). Auch dann nicht wenn eigene Wut hochkocht, weil unverständlich ist, wofür jetzt das Anmeckern genau steht. Zusätzlich ist es in der Regel so, dass Frauen im Erfahren von Wut, Lautstärke und aggressivem Verhalten verunsichert werden und sich zunächst für einen kurzen Augenblick ducken. Sie reagieren dann oftmals unangemessen, weil sie ungeübt sind, sich in diesen Sachlagen ruhig zu verhalten und nicht zu kneifen oder sich sonst wie aus der Situation zu winden. Dabei kann aus der eigenen Ruhe heraus ein inneres Aufbauen und Aufrichten dazu führen, die eigene Würde zu wahren. Bei sehr kleinen Kindern bedeutet es natürlich, nur ein verbales Spiegeln der Gefühle zuzulassen, um das Gleichgewicht zu erhalten: »Du bist aber ganz schön wütend!« Bei größeren Jungen kann auch schon mal eine Aufforderung zu einem kleinen Gerangel folgen: »Kleines Kämpfchen gefällig, der Herr?« In die Kissen zu boxen und ihnen dabei Namen zu geben, kann sich auch bewähren, um schlechte Gefühle loszuwerden. Im Anschluss daran ist es meist leichter, den Jungen zum Reden zu

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bringen und somit auch die Gründe für die schlechten Gefühle in verbalen Formulierungen zu erhalten. Weitere Formen der aktiven emotionalen Beziehungsunterstützung sind alle Momente, in denen der Junge von der Mutter viel positives persönlichkeitsbezogenes Feedback bekommt. Anerkennung ist beispielsweise ein Lebenselixier – gerade für Jungen. Natürlich wird es dabei nicht darum gehen Honig um den Bart zu schmieren. Söhnen Anerkennung zu zeigen bedeutet, sie respektvoll so anzunehmen, wie sie sind und gleichfalls positiv zu verstärken. Lob und Hochachtung verstärkt geäußert werden. Jungen lieben Applaus und Anhimmeln. Frauen können das lernen und ein fröhliches Prozedere daraus entwickeln. Es ist ein Spiel – auch für den Jungen. Ähnlich wie die Als-ob-Situation in Rollenspielen. Das Bewundern von Muskeln und schnellen Beinen oder super Leistungen im Sport sowie in anderen Lebensbereichen gehört dazu. Das gilt gerade und insbesondere auch dann, wenn das Benehmen des Jungen nicht dem Idealbild der Frau entspricht, wenn der Sohn in der Ausprägung seines Mannseins laut und rüpelhaft ist und vielleicht nicht so leise und zart, wie die Mutter es bevorzugt. Damit die Beziehung zu ihrem Sohn gut ist, auch wenn er sich anders entfaltet, als es der Mutter sympathisch erscheint, muss sie möglichst viel von ihm erfahren. Um ihn in all seinen Facetten wahrnehmen zu können und zu begreifen, wie er eigentlich tickt, ist es notwendig, ausgesprochen neugierig auf ihn zu reagieren. Ein Beispiel: Julius ist seit Neuestem mit einem besonderen Kartenspiel beschäftigt. Er nimmt all sein Taschengeld und kauft immer wieder neue Karten. Seine gesamte Freizeit verbringt er damit, diese Spielkarten dann mit anderen Kindern auszutauschen oder im Spiel wieder zu verlieren. Mehrmals beobachtet seine Mutter das Spiel und versteht es doch nicht. Auch kurze abgehackte Erklärungen von Julius, die von lautstarkem Unverständnis begleitet werden, führen nicht dazu, dass seine Mutter sich ausmalen kann, was dazu führt, dass sich all das Taschengeld von Julius im Besitz und Verlust dieser Karten verflüchtigt.

Es wird insofern auch keine weitere Kommunikation in Bezug auf das Kartenspiel stattfinden, weil die Mutter aufgrund ihrer verminderten Nachvollziehbarkeit nicht als Gesprächspartnerin infrage kommt. Wenn

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es jetzt aber von Interesse bleibt zu erfahren, was eigentlich das Reizvolle an diesem Spiel mit den nichtssagenden Karten ist, wird es beispielsweise notwendig sein, im Internet nach weiteren Informationen zu suchen. Auch andere Eltern können kontaktiert werden, um sich auszutauschen. Wichtig erscheint die Aufforderung an Frauen, Zeit zu investieren, um zu verstehen, was in der Jungenwelt vorgeht. Einen Jungen zu begleiten ist für Frauen in den ersten Jahren zeitaufwendiger als Mädchen zu begleiten (das dreht sich in der Pubertät). Das begründet sich in der Tatsache, dass Nähe und Verständnis aufzubauen, eine größere Kraftanstrengung bedeutet als bei Mädchen. Es wird nicht qua Geschlecht (Mutter zu Tochter) mitgeliefert. Um Jungen zu verstehen, müssen Mütter sehr nah verknüpft sein mit seiner Lebenswelt und zwar sehr unauffällig und vor allem unaufdringlich. Das fordert Anstrengung und Zeit. Zusätzlich müssen Mütter mit Jungen immer wieder an die Grenzen ihrer eigenen Sozialisation gehen und diese mutig überwinden. Ein Beispiel: Stefan ist ein sehr bewegungshungriges Kind. Viele Stunden verbringen seine Eltern mit dem Sohn auf dem Spielplatz. Stefan klettert sehr gern auf Bäume und neuerdings ist der höchste Punkt das größte Ziel für ihn. Seine Mutter Marlene hat manchmal das Gefühl, es handele sich dabei um ein Spiel, mit dem Stefan ein Machtverhältnis zwischen ihnen beiden aufbauen will, denn immer wenn der Vater nicht dabei ist, verschwindet Stefan in irgendeinem sehr hohen Baum und ruft sie. Er teilt etwas schelmisch (oder vielleicht doch ängstlich?) mit, dass er nicht mehr runter klettern kann. Marlene ist sich sicher, dass es hier um Macht geht, denn ihrem Sohn ist bewusst, wie sehr sie sich um ihn ängstigt und er rechnet sicherlich auch schon mit ein, dass er Marlene noch nie auf einem Baum gesehen hat. Stefan kennt seine Mutter genau und weiß, dass sie ihm nun unterlegen ist. In dieser Situation ist er mutiger als sie. Wenn er wirklich darauf besteht nicht mehr herunter klettern zu können, hat Marlene ein Problem. Sie ist darauf angewiesen, dass er allein zurückkommt. Stefan hat damit eine Situation hervorgerufen, in der er mächtiger ist als seine Mutter.

Es besteht nun die Möglichkeit, deutlich darüber Auskunft zu erteilen, wie sehr sich die Mutter unwohl fühlt – mit dem Kind auf dem höchsten Ast. Der Inhalt der Botschaft ist: »Ich habe Angst um dich, weil es ganz schön hoch ist und ich mir nicht vorstellen mag, wie es wäre, wenn du

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von da oben stürzt. Ich habe aber auch großen Respekt vor deiner Leistung und deinem Mut. Was denkst du, soll ich mich mal überwinden und auch versuchen auf den Baum zu klettern?« Das Machtspiel wird dadurch einerseits unterbrochen, andererseits ist es für die Mutter auch eine mögliche Übung, ihre eigenen Grenzen auszuweiten und zu tun, was sie als Kind wahrscheinlich auch mit Freude bewerkstelligt hat. Gespräche auf Bäumen zwischen Müttern und Söhnen – mit baumelnden Beinen und von oben auf die Erde schauend – können ganz besonders wertvoll sein und dienen auf jeden Fall für besondere gemeinsame Erinnerungen. Die Frau muss ihren Mann stehen, genauso wie von Männern, in dem Fall Vätern, gefordert wird, Sensibilität und Empathie zu zeigen. Jungen lieben Bewegung und raumgreifende Spiele, Jungen lieben das Risiko und Herausforderungen: Spiel ist für sie mit anderen Komponenten belegt als für Mädchen (wenn sie auf den Baum klettern, sind sie als Spiderman unterwegs, wenn sie Fußball spielen, sind sie Fußballhelden wie Schweinsteiger und Co.). Damit müssen Mütter sich anfreunden und es auch für sich entdecken. Das heißt sicherlich nicht, dass sie ihren Söhnen nun alles nachmachen müssen  – aber Mütter müssen sich auf die Suche machen Aktivitäten zu finden, bei denen es ihnen gelingt, gemeinsame Zeit spannend zu verbringen. Das kann zum Beispiel bei einer Sportart stattfinden wie dem Schwimmen. Oder man entdeckt als Mutter, dass man im Hochseilgarten zuerst richtig Angst hat und dann mit viel Freude drei- bis viermal im Jahr mit dem Sohn die kleine Tour klettert. Wichtig ist, dass die Mutter sich der traditionellen Rolle entzieht und sich den vorwiegend männlich geprägten und dementsprechend mit Stereotypen behafteten Anforderungen und Aufgaben stellt (vgl. Kapitel 1). Neben den gemeinsamen Aktivitäten ist es wichtig, dass jede Mutter eine stetige Lauerposition einnimmt, welche Ich-Botschaften und Vorschläge vom Sohn ausgesprochen werden. Sicher ist: Jungs lieben Konkurrenz und Wettbewerbssituationen. Konkurrenz ist für viele Jungen Anreiz und Ansporn. Sichmessen und Vergleichen interessieren sie und feuern sie an. Kämpfen erleben sie als eine Form des Kontakts. Hier erarbeiten und erfahren sie in verschiedenen Disziplinen ihren Status, ihre Position in der Gruppe der anderen Jungen. Ein Reiz des Kampfes liegt in der unmittelbaren Erfahrung und im Sichmessen mit Gleichaltrigen und mit Erwachsenen.

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Auf gute Art konkurrieren und kämpfen zu können ist eine elementare männliche Kompetenz. Sie hilft Jungen in Auseinandersetzungen und in Konflikten, bei der Selbstbehauptung, beim entschiedenen Einsatz für sich oder für eigene Positionen und Meinungen, also für die Sache, hinter der Jungen stehen (Winter 2011, S. 205).

Es erscheinen in diesem Zusammenhang einerseits sehr gleichbleibende Begründungen für o. g. Verhalten von Jungen, zum Beispiel erhöhter Testosteronspiegel, der ein aggressives Potenzial unterstützt und andererseits werden weiterhin evolutionsbiologische Begründungen genannt – in Zusammenhang mit der Aufgabe des Mannes, die Familie zu verteidigen. So erleben Jungen eine weitere Komponente in der Konkurrenz zum Vater um die Gunst der Mutter. Festzuhalten bleibt insbesondere die Tatsache, dass Frauen Konkurrenz nicht so klar favorisieren. Es werden zwar Schönheitswettbewerbe veranstaltet und von Millionen von Frauen begleitet – aber Konkurrenz an sich ist nicht positiv konnotiert (vielleicht aufgrund der negativen Gefühle von Frauen, die damit einhergehen). Im Berufsleben fällt das gerade in Zusammenhang mit der fehlenden weiblichen Besetzung in Vorstandsebenen auf. Wenn Frauen Konkurrenz ausleben, dann wird die eher sportlich ausgerichtete Art und Weise bevorzugt (in ungeübter Ausführung ist weibliche Konkurrenz jedoch immer subtil vorhanden). Jungen brauchen die Erfahrung von sportlich gelebter (positiver) Konkurrenz. Dieses Feld bietet Müttern die Möglichkeit sich damit anzufreunden, den Jungen möglichst häufig einen Schutzraum zu sichern, der dafür sorgt, dass sich ihre Söhne in Konkurrenz und Wettbewerb ausprobieren können. Dabei werden gerade Situationen von Vorteil sein, in denen sich die Jungen spüren und erleben können. Kräfte zu messen bedeutet zu lernen, was man sich zutrauen kann und auch zu erfahren, in welchen Bereichen man sich überschätzt. Konkurrenzdisziplinen sind naturgemäß Raufen und Balgen  – aber das muss nicht unbedingt jeden Jungen ansprechen. Gerade wenn die Möglichkeit Aggressionen und Wut zu kontrollieren noch nicht geübt ist, werden Kinder nicht so gern in Kämpfe verwickelt. Sie könnten sehr leicht weinen müssen oder sie mögen es grundsätzlich nicht, wenn sie sich wehtun oder auch schmutzig machen. Mütter können mit Kindern unzählige Disziplinen ausprobieren, die positives Konkurrenzerleben ermöglichen und erproben:

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Um die Wette laufen Sackhüpfen Eierlaufen Alle Arten von Ballspielen Wettessen Schnellreden Ich sehe was, was du nicht siehst Mauseschritte gehen Leise reden Kofferpacken Pantomime Topfschlagen Seilspringen Jonglieren Nudeln mit der Gabel aufdrehen usw.

Daraus entsteht eine wunderbare Aktivitätsgeschichte – ganz individuell für jede Familie anders. Es bleibt am Ende die Aufgabe, die Konkurrenzsituation offiziell zu beenden, das Kind bewusst daraus zu entlassen und in die Alltagswelt zurück zu begleiten. Eine Siegerehrung kann beispielsweise einen runden Abschluss darstellen. Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Tatsache beschrieben, dass Mädchen anpassungsfähiger sind, wenn es um an sie gestellte Anforderungen geht (vgl. Tabelle 6). Die Klassifizierung dafür war Fügsamkeit. Jungen sind nicht sofort und schon gar nicht mit vorauseilendem Gehorsam bereit, sich auf Anforderungen einzulassen. Frauen können sich darauf einstellen, dass die Ohren von Jungen zunächst nicht immer auf Empfang ausgerichtet sind. Es ist insofern günstig, auf Söhne zuzugehen und mit Augenkontakt ein Anliegen in einem kurzen, klaren Satz zu formulieren. Die Tendenz alles aushandeln zu wollen, ist eine Grundeigenschaft der Jungen. Oft pochen sie auf unmittelbaren Handlungswert ihrer Tätigkeiten. Sie denken in Transaktionen, die nach Regeln und Codes der jeweiligen Ordnungen ablaufen. »Bitte! Mach das für mich!«, prallt bei Jungen ab. »Wenn du dies für mich machst, dann darfst du eine halbe Stunde fernsehen«, überzeugt schon mehr (Guggenbühl 2006, S. 104).

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Frauen werden sich damit anfreunden müssen, dass sie den Söhnen gegenüber Anliegen und Aufforderungen begründen. Oftmals entsteht ein zäher Kampf um die Begründung, warum die richtige Zeit dafür ist, jetzt aufzuräumen und nicht erst am Wochenende, wenn ein Ausflug geplant ist. Das ist mühsam und erfordert Standhaftigkeit. Es wirkt oftmals wie ein Konkurrenzkampf (Wer hält es länger aus, ohne wütend zu werden?) und ein Wettbewerb, um die besseren Argumente zugleich. Nur Durchhalten erleichtert diese Situation auf lange Sicht. Hilfreich ist das Wissen darum, dass Sie als Frau immer wieder herausgefordert werden, in klaren Verhaltensstrukturen Sicherheit und Verlässlichkeit zu beweisen. Gleichfalls erlebt das Kind auch, dass die Liebe zu ihm nicht von seinem Wohlverhalten abhängt. Verhandeln, argumentieren, Grenzen aufstellen und das Einhalten abfordern: Das regelt das Verhältnis zwischen Jungen und Frauen im Besonderen. Wenn klare Regeln aufgestellt sind, darf es für die Mutter keine Schwierigkeit darstellen, diese mit Nachdruck und ohne Wut oder Verletzung zu zeigen, zu erwirken. Ein Beispiel: Benedikt fährt seit ein paar Wochen allein mit dem Fahrrad auf den Kinderspielplatz, der ganz in der Nähe der Wohnung liegt. Die Mutter hat überprüft, ob er auf dem Fußweg fährt und wie sicher er auch den direkten Weg wählt. Dabei stellt sie fest, dass er alles wunderbar erledigt, jedoch den Helm nicht aufsetzt. Sie erinnert ihn an die mehrfach geführten Gespräche diesbezüglich und weist ihn darauf hin, dass sie kein weiteres Missachten dieser Vorgabe dulden wird.

Fahren ohne Fahrradhelm ist für Kinder lebensbedrohlich und diese Begründungen ist ausreichend. Bei Nichtbeachtung zieht das die Konsequenz nach sich, dass das Fahrradfahren unterbunden wird. Selbst wenn die Söhne noch so charmant ein »Mach ich nicht wieder!« anbieten, ist es unabänderlich, die Konsequenzen auch durchzuhalten. Grenzen setzen und deren Umsetzung auch auszuhalten, bedeutet nicht in die autoritäre Erziehung zu verfallen. Es bedeutet nur: »Ich liebe dich und halte sehr viel aus und auch durch, damit du für deine Lebenswelt einen glücklichen Weg vermittelt bekommst.« In diesem Zusammenhang soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass es den Müttern zuzuschreiben ist, wenn Jungen nicht so gut mitein-

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ander reden können wie die Mädchen. Söhne und Töchter werden nach Untersuchungen von Rohrmann (2008) von Müttern unterschiedlich angesprochen. Mütter sprechen mit Töchtern elaborierter und außerdem auch differenzierter über Gefühle. Jungen unterscheiden sich im Kommunizieren (sie reden erst nach überstandenen Problemen darüber) von Mädchen – aber es ist nicht zu akzeptieren, dass sie weniger gut und ausdrucksfähig sind. Frauen können mit ihren Jungen ständig und vielfältig kommunizieren  – die folgende Auflistung bietet einen Überblick: ◆◆

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Mit Jungen muss man vom ersten Augenblick an reden – jedes Lächeln, jeder Sonnenstrahl, der Teddy, die Katze, die blaue Schmusedecke, das Licht, das Weinen, das gute Gefühl ohne Windel zu sein usw. Babys können definitiv nicht zu viel an sprachlicher Berieselung durch Erwachsene erhalten. Jungen werden (genau wie Mädchen) nicht in Babysprache angesprochen, sondern in vollständigen Sätzen. Philosophieren mit Jungen über wichtige Themen, wie beispielsweise über die Tatsache, dass Schneeflocken ja Kristalle sind und ob sie sich wohl alle aneinander haken, wenn sie zur Erde fallen, ist absolut spannend. Es endet oft in naturwissenschaftlichen, technischen oder geografischen Fragestellungen. Nicht immer ist eine Antwort parat. Aber glücklicherweise sind im Internet innerhalb ganz kurzer Zeit Antworten oder viele Denkansätze zu recherchieren. Es ist wichtig, spätestens abends danach zu suchen und dem Kind das auch mitzuteilen. Eine Antwort kann immer nachgereicht werden – Fragen sollten aber nicht zu häufig unbeantwortet bleiben. Verboten ist die Aussage: »Da fragen wir Papa heute Abend, der weiß das bestimmt!« Diskussionen können Jungen schnell nerven – sie sollten strikt geführt werden. Es ist wichtig für das Kind, Diskussionsgrundlagen einzuüben, vielleicht Lust auf unterschiedliche Standpunkte zu bekommen und somit Argumentationsfähigkeiten zu erlangen. Bilderbücher lieben fast alle Kinder – genauso wie Geschichten und Märchen. Was auch immer die Priorität des Sohnes ist – das gilt herauszufinden und so oft wie möglich anzufüttern. Fernsehfilme anzuschauen bietet auch immer eine gute Grundlage für einen Austausch und somit zum Training von Kommunikationsfähigkeit. Mit Jungen in Form von: »Erzähl doch mal« zu reden, weist darauf hin, dass der Sohn noch besser wahrgenommen werden muss. Jungen reden, wenn sie etwas zu sagen haben und wollen ansonsten auf gar keinen Fall ausge-

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fragt werden. Kein Junge wird hier dem anderen gleichen. Denn manche Jungen hingegen sind mit einem ausgeprägten Redefluss ausgestattet und es kann schwerfallen, schnell genug alles zu erfassen, was der Mutter an wichtigen Informationen zugerufen wird. Jungen reden mehrheitlich eher nicht so ausschweifend. In diesem Punkt sind Jungen und Mädchen sehr verschieden. Jedoch ist es absolut schwer für Mütter Jungen Informationen zu entlocken, die auch direkt angewendet werden müssen – beispielsweise, welche Verabredungen denn im Kindergarten getroffen wurden. Mütter haben die große Chance auch hier in einer Lauerposition zu verharren oder den günstigen Augenblick zu arrangieren (beispielsweise nach dem Essen). Wenn Jungen gerade in Redestimmung sind, ist es gut möglich, nacheinander verschiedene Themen abzuarbeiten und sich darüber auszutauschen. Gute Ratschläge kommen bei Jungen noch weniger an als bei Mädchen.

Frauen haben mit Jungen eine besondere Beziehung, wenn sie mit dem notwendigen Abstand und in sicherer Erreichbarkeit deren Wunsch nach Nähe und Vertrautheit entgegenkommen sowie das eingefordert wird. Ansonsten muss abgewartet werden. Dabei ist es von großem Vorteil, wenn sie besonders aufmerksam sind, um im richtigen Augenblick nichts zu verpassen. Auch wenn Söhne sich zeitweise von der Mutter zurückziehen und ihre eigenen Grenzen sehr eng abstecken, entspricht das einer natürlichen Bindung, die von Nähe suchen und Entfernung zulassen geprägt wird.

Sensible Kommunikation für emotionale Ausdrucksfähigkeit Etwas provokativ – aber auf einen sehr knappen Satz reduziert – könnte die Zauberformel lauten: »Um ein Kind gut zu verstehen, ist es am besten ihm zuzuhören!« Einem Kind zuzuhören bedeutet gleichzeitig auch, es anzuschauen – in den meisten Fällen ist es ratsam, den direkten Blickkontakt zu suchen. Wunderbarerweise gelingt es Kindern nicht, uns Erwachsenen etwas vorzuspielen. Kinder sind authentisch! Alles, was sich in einem Kind abspielt, jegliche Gefühlsregung ist dem Kind anzusehen. Beim Beobachten eines Kindes gelingt es beinahe ihre Gedanken zu erkennen, insbesondere wenn sie sich gerade in eine Spielsituation vertieft haben.

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Wenn wir uns den Jungen auf dem Foto ansehen, können wir direkt seine anstrengenden Gedanken zu der Fragestellung lesen, wie es wohl gelingen kann, die Äpfel alle in die Kiepe des Fahrzeugs zu legen, ohne dass immer welche runterfallen? Noch einfacher sind die Gedankenvorgänge von ganz kleinen Kindern zu erkennen. Oft sind sie zu beobachten, wenn sie ihre Gedanken sammeln und gezielt einsetzen, um beispielweise ihre Strümpfe allein wieder an die Füße zu ziehen. Da müssen sie sich hinsetzen und Balance halten – auf dem Popo mit dem dicken Windelpaket. Dann sind die Arme irgendwie zu kurz, um bis an die Füße zu reichen und die Beine müssen

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gebeugt werden, um den Armen näherzukommen. Als nächster Schritt müssen die kleinen Finger auch die Strümpfe aufhalten können, damit die Füße mal die grobe Richtung zu den Strümpfen einschlagen können. Die nächste Hürde bildet das Zusammenfinden des Fußes mit dem Strumpf. Was für ein Schauspiel! Keine einzige Gemütsregung können Kinder dabei verbergen. Und das gilt eben für jegliche Handlungen und Aussagen von kleinen Kindern. Die Persönlichkeit eines Kindes kann man sehen. Wie wunderbar und hilfreich. Bevor wir einem Kind aktiv und zugewandt zuhören, ist es durchaus günstig eine Zeit darauf verwendet zu haben, es intensiv zu beobachten. Die große Chance besteht darin, sich vorab ein Bild von der Gefühlslage zu verschaffen. Damit ist eine wichtige Grundlage für das aktive Zuhören geschaffen. Die Energiereserve des Kindes ist zu erkennen und ebenso seine Stimmung. Wenn festzustellen ist, dass das Mädchen oder der Junge eigentlich müde sind, heißt es »Zähne zusammenbeißen«. Hier ist es kaum möglich, der nahenden schlechten Stimmung auszuweichen. Müdigkeit wird in der Regel bei den Erwachsenen abgeladen – mit zickig sein und auf Konfrontation gehen. Die Gesprächsinhalte, Vorwürfe, Klagen oder Wutausbrüche können getrost als »sieht nach dem Schlafen wieder viel besser aus« kommentarlos gehört werden. Wenn sich das Kind aber schon mit hängenden Schultern, langsamen Schritt oder traurigem Blick nähert, bedeutet das für jede Bezugsperson sich Zeit zu nehmen und die eigene Handlung zu unterbrechen. Hier findet bereits auf einem nonverbalen Kanal, durch Mimik, Gestik, Körperhaltung usw., Kommunikation statt. Eltern und alle Erwachsenen, die nonverbal mit Kindern kommunizieren, können viele Varianten nutzen: ◆◆ ◆◆ ◆◆

ihre Schritte den Schritten der Kinder anpassen, den Blickkontakt suchen, anlächeln und Mut machend zunicken.

Dem Kind zum Abschied und zur Begrüßung die Hand zu reichen oder Hallo entgegenzurufen (womöglich aus einem anderen Stockwerk, wenn das Kind allein heimkommt) ist nicht erlaubt. Eltern gehen den Kindern entgegen und begrüßen sie persönlich und mit dem Ausdruck von Freude darüber, das Kind wieder bei sich zu haben.

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Es ist eine Selbstverständlichkeit im Gespräch mit kleinen Kindern, die Augenhöhe der Kinder zu suchen, indem sich der Erwachsene zum Kind herunter begibt. Setzen sie es auf ihre Knie oder hocken sie sich hin. Das Kind hat nicht die Möglichkeit, die Augenhöhe der Erwachsenen einzunehmen, um auf einer Ebene kommunizieren zu können. Ein Gespräch, das geführt wird, indem der Erwachsene von oben auf das Kind herunterschaut und das Kind zusätzlich den Kopf in den Nacken legen muss, um hochzuschauen, stellt keine gute Basis dar. Das Kind wird sich in einem Gespräch, das auf diese Weise geführt wird, nicht angenommen und wertgeschätzt fühlen. Neben der nonverbalen Kommunikation steht die Variante der verbalen, also der sprachlichen Kommunikation. Diese beiden Kommunikationsstile dürfen nicht widersprüchlich sein. Besonders Kinder fühlen sehr genau, wenn der Erwachsene nicht echt ist. Ein Beispiel: Till wurde gerade von seiner Mutter Tanja aus dem Kindergarten abgeholt. Beide gehen zum Auto und fahren gemeinsam heim. Till hat ganz wichtige Informationen zu dem Tag mit seiner neuen Freundin Lea: Lea und Till waren im Waschraum und haben ganz viel Seife an die Arme geschmiert und immer wieder abgewaschen und neu eingeschmiert. Der Boden im Waschraum war erst nass und dann rutschig. Lea und er haben eine super lustige Rutschbahn daraus gemacht und Jonas durfte auch rutschen. Der ist aber hingefallen und hat geheult, der Blöde. Annika, die Erzieherin, war dann richtig sauer auf Lea und Till. Das ist doch aber ungerecht, der Jonas hätte doch nicht so blöd rutschen müssen. Da können die beiden doch wirklich nichts dafür.

Obwohl Tanja Till aufgefordert hatte, vom Kindergartentag zu erzählen, ist sie eigentlich im Kopf bei ihrer Einkaufsliste, die sie gleich abrufen muss, weil sie noch schnell einen Abstecher zum Einkaufscenter machen müssen. Sie antwortet nur halbherzig und als Till geendet hat mit seinen Ausführungen, hat sie es nicht mal bemerkt. Till erlebt eine Doppelbotschaft, denn er nimmt wahr, dass die Aussagen der Mutter widersprüchlich sind. Einerseits hat sie ihn sprachlich aufgefordert vom Tag zu erzählen und andererseits nimmt er nonverbal, durch ihre Stimme oder ihren körperlichen Ausdruck, wahr, dass sie gar nicht zuhört.

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Kinder reagieren dann entweder wütend: »Mama! Nie hörst du zu!« Oder schlimmer noch, sie ziehen sich einfach zurück. Das kann weitreichende Konsequenzen für das Kind haben. Es ist für Tanja allerdings gar nicht so schwer, hier ihre eigene Gefühlslage ins Spiel zu bringen: »Till, ich würde dir jetzt wirklich gern zuhören, quäle mich aber gerade damit, die Einkaufsliste im Kopf zu erstellen. Ich mach dir einen Vorschlag: Lass uns, wenn wir am Parkplatz vom Einkaufscenter angekommen sind, darüber sprechen und erst dann gehen wir einkaufen.« Es ist wichtig, den anderen erzählen zu lassen. Das Kind kommt wahrscheinlich eigenständig ins Erzählen, wenn spürbar wird, dass der Erwachsenen ihm wahrhaftig zugewandt ist. Grundlegend für das sich entwickelnde Gespräch im Sinne von aktivem Zuhören der Mutter oder anderen Personen ist: Das Kind erzählen lassen und sich selbst zurückzuhalten und sich Zeit zu nehmen. Im Gespräch sollte das Kind erfahren: »Du bist mit deinen Gefühlen, wie Wut, Aggression oder auch Trauer und Tränen ok.« (Signalisieren Sie dem Kind so Ihre Annahme.) Als weitere Erfahrung ist es wichtig, dass das Kind Verständnis spürt: »Wie du dich jetzt fühlst, kann ich mir gut vorstellen.« Die letzte Botschaft lautet dann: »Ich habe verstanden, dass du total sauer bist, weil du heute im Kindergarten ausgeschimpft worden bist.« (Erfragen Sie, ob sie die Mitteilungen des Kindes auch richtig gedeutet haben.) Nachfolgend werden die Grundzüge einer positiven Gesprächsführung mit Kindern nach Christina Deibler (2007, S. 96) aufgeführt: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

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Augenhöhe des Kindes einnehmen (partnerschaftlicher Blickkontakt), Kinder zum Erzählen ermutigen, respektvolle Haltung gegenüber dem Kind als Gesprächspartner, Übereinstimmung der Worte mit den nonverbalen Signalen, Gespräch förderndes Zuhören, kindgerechtes Feedback durch Ich-Botschaften, Gesprächsregeln und Sprachvorbildfunktion einnehmen, Gesprächsregeln mit dem Kind vereinbaren, Gesprächsziele verdeutlichen, offene Fragen, die zum Nachdenken anregen, anstatt geschlossene Fragen stellen, Wortwahl und Sprachniveau dem Kind anpassen, keine Babysprache verwenden, deutlich und langsam sprechen,

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Sprachmodulation beachten, fehlerhaft gesprochene Sätze unauffällig in richtiger Form wiederholen, Gesprächsende rechtzeitig ankündigen.

Gerade Jungen erleben es als unterstützend und entlastend, wenn Frauen (und Männer) in Gesprächssituationen zusätzlichen Grundregeln folgen: ◆◆

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Aktuelle Interessen der Kinder sollten als Ausgangspunkt für ein Gespräch genutzt werden. Anliegen der Eltern sollten einem realen Augenblick zugeordnet werden können. Anliegen / Aufforderungen und sonstige Aussagen werden nie mit schon wieder / endlich mal / wusste ich doch / siehst du / Kind / Mein Gott / Seufzer / Augendrehen oder Ähnlichem verbunden. Wenn Kinder sich zwischen Dingen entscheiden sollen, müssen sie auch eine Wahl haben.

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Ich-Botschaften zu formulieren stellt einen weiteren wichtigen Baustein in der Gesprächsführung dar. Gerade Kinder erfahren und erleben auf diese Weise eine gute Erweiterung ihrer Gefühlswelt. Gefühlsäußerungen durch Ich-Botschaften erlauben zunächst eine neutrale Beschreibung eines Anliegens. Durch Ich-Botschaften verbleibt die Verantwortung für die Veränderung von Situationen bei dem Kind und es wird ihm nicht die Chance genommen, eigenständig nach Lösungen zu suchen Ich-Botschaften stellen eine Brücke dar, gerade auch bei negativen Gefühlen, ein Gespräch neutral halten zu können. Damit werden Appelle oder moralische Vorhaltungen sowie Verbote usw. vermieden. Ein Beispiel: Till, der Sohn von Tanja, hat am nächsten Tag im Kindergarten erneut mit Lea im Waschraum gespielt und es entwickelte sich auch wieder eine Seifenlauge auf der Erde, die zum Rutschen genutzt wurde. An diesem Tag fiel ein anderes Kind im Waschraum hin und verletzte sich am Arm. Als Tanja in den Kindergarten kommt, erzählt ihr die Mutter des verletzten Kindes das Vorkommnis. Auch die Erzieherin berichtet, dass Till gegen ihr Verbot den Waschraum ein weiteres Mal mit Seife und Wasser zur Rutschbahn umfunktioniert hat. Das Resultat war, dass sich Hannah den Arm gebrochen hat. Nun müssen Unfallprotokolle geschrieben werden usw. Tanja fühlt sich sofort unwohl. Gestern hat sie noch mit Till vor dem Einkaufscenter darüber geredet, wie gefährlich so etwas werden kann und dass er es bitte respektieren soll, dass die Erzieherin das nicht möchte. Jetzt ist die Erzieherin zu Recht sauer und die Mutter von Hannah hat auch noch sehr unfreundlich auf sie eingeredet. Mit einer Ich-Botschaft auf Till zuzugehen ist ein guter Weg: »Till, ich wurde gerade von Hannahs Mutter über den Unfall informiert und deine Erzieherin hat mir mitgeteilt, dass sie ganz schön verärgert ist. Du hast ihre Regel missachtet, dass im Waschraum keine Rutschbahn entstehen darf. Ich fühle mich überhaupt nicht gut bei dem Gedanken, dass die Hannah sich so sehr weh getan hat und bin enttäuscht, weil wir gestern doch ein Gespräch darüber geführt haben, dass das wirklich gefährlich sein kann. Ich muss sagen, dass ich traurig und enttäuscht bin und mir wünsche, dass du ein paar gute Vorschläge machst, wie wir da jetzt der Hannah helfen können.«

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Innerhalb dieser Ich-Botschaft behält Till die Verantwortung für seine Handlung und wird befähigt, diese auch zu tragen. Ich Botschaften haben drei Merkmale: ◆◆ ◆◆ ◆◆

teilen Gefühle mit, beschreiben die Situation, und beschreiben den Veränderungswunsch.

Die Berücksichtigung der Mitteilung über Ich-Botschaften korrespondiert auch zusätzlich mit der Trennung der Sach- und Beziehungsebene in Gesprächen: Die Sachebene informiert über das Was in einem Gespräch. Die Beziehungsebene spiegelt die Art und Weise, wie ein Gesprächsinhalt weitergegeben wird, und das impliziert auch, wie er von Gesprächspartner angenommen werden könnte. Beispiel: Till guckt montagabends immer eine Zeichentrickserie im Fernsehen. Er hat mit seiner Mutter vereinbart, dass er den Fernseher eigenständig anstellen kann, wenn er daran denkt und wenn die Küchenuhr die Sechs anzeigt. Samstagmorgens kommt die Wiederholung der Serie und dafür gilt diese Regelung auch. Es ist Montagabend ca. fünf Minuten vor sechs Uhr und Till hat den Fernseher angestellt. Tanja kommt in das Wohnzimmer und sagt zu Till: »Ach, du guckst Fernsehen, Till?« Till guckt seine Mutter an, ist einen Moment verunsichert und poltert dann los: »Ja, genau! Es ist ja doch heute Montag oder hast du vergessen, dass gleich meine Zeichentrickfilmserie kommt?«

Diese Situation eskaliert nur, weil Tanjas Aussage nicht eindeutig war. Sie hat eine Sachaussage getroffen, die offen lässt, was eigentlich damit gesagt werden soll: Ist es einfach die Feststellung, dass sich Till vor dem Fernseher befindet? Oder ist es perplexes Erstaunen, dass schon wieder Montag ist? Oder impliziert die Frage die Aussage, dass noch gar keine Fernsehzeit ist? Till weiß es auch nicht und ist insofern zunächst irritiert: Er versucht sich zwischen den möglichen Aussagen zu entscheiden und kann es nicht. Das beschert ihm ein ungutes Gefühl und so regiert er mit Poltern. Tanja ist nun ihrerseits auch erstaunt. Was ist denn mit Till? Hätte sie ihrer Aussage: »Ach, du sitzt ja vor dem Fernseher«, hinzuge-

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Frauen und Jungen

fügt: »Ich wollte eigentlich gerade Abendbrot mit dir essen und wundere mich jetzt gerade über mich selbst. Ich habe völlig vergessen, dass heute dein Fernsehtag ist«, dann hätte diese Situation nicht zu einem Missverständnis geführt. Der nachhaltige Einfluss auf Gefühle, Selbst -und Fremdwahrnehmung, auf Erfahrungen und Erkenntnisse ist gerade für Jungen sehr wertvoll. Eine einfühlende Gesprächsführung ermöglicht dem Kind sich selbst gut zu verstehen und auch bei anderen Menschen zu verdeutlichen, was ihm wichtig ist und was es braucht. Jungen und Mädchen können auf diese Weise sehr gut erleben, dass andere Menschen ihnen gegenüber auch Wünsche äußern, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen und die sie berücksichtigen sollten. Der Erwachsene ist nicht nur durch die verbale und nonverbale Kommunikation, nicht nur durch die Formulierung von Ich-Botschaften und nicht nur durch Einsatz von Sach- und Beziehungsaspekten Vorbild für die Kinder. Kinder und Erwachsene schaffen durch Kommunikation auch Regeln für das Leben miteinander. Kommunikation ist lebendige Beziehung. Jungen und Mädchen gehen mit ihren Eltern und ihrer Lebenswelt durch Kommunikation in Beziehung zueinander und erfahren sich als ein Teil der Welt. Fazit Frauen und Jungen sowie die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Müttern und Söhnen wurden in diesem Kapitel detailliert beschrieben. Die Fähigkeit, eine gute Beziehung und enge Bindung zum Sohn zu leben, hängt davon ab, wie respektvoll die Mutter auf den Sohn eingeht und wie viel Zeit sie in die Beziehung zu ihm investiert. Nachweisbare Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen sind marginal – es gibt deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede – darum kann es jeder Mutter auch gut gelingen, die Beziehung zu ihrem Sohn als besonderes Geschenk zu gestalten. Jungen fordern sensible Begleitung und besondere Aufmerksamkeit in den Bereichen: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

Habitus und Mannsein Aktivität und Wettbewerb emotionale Ausdrucksfähigkeit verlässliche Kommunikation und klare Aussprachen

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Bindung als Grundlage für Beziehung

Abbildung 3: Vier Bereiche in denen Jungen (besondere) oder spezielle Aufmerksamkeit einfordern.

2.5 Die Triade Mutter – Vater – Sohn An dieser Stelle wird vorausgeschickt, dass die in diesem Kapitel folgende Thematik nur in Ansätzen präsentiert werden kann, da das Thema Vater – Sohn – Mutter dem Gesamtbereich System Familie entspringt und insofern ein Gebiet darstellt, das in sich ausreichend Substanz für mindestens ein weiteres Buch bietet. Hier kann nur noch einmal zusammengefasst werden, dass für die Entwicklung von Jungen sowohl männliche als auch weibliche Anteile wichtig sind. Dazu kann ihm beispielsweise das Elternpaar dienen. Wenn der Junge mit beiden Eltern lebt, besteht die Grundvoraussetzung darin, dass die Eltern ihm ein positives Bild von Mann und Frau vermitteln. Die Geschlechterdynamik zwischen den Eltern muss der Junge positiv empfinden, um sich selbst gleichfalls als positiv wahrzunehmen.

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Die Triade Mutter – Vater – Sohn

Eine bedeutsame Aufgabe des Vaters ist es dabei, die Mutter wieder zur Frau werden zu lassen und seinen Beitrag dazu zu leisten, die Frau Mutter und die Mutter Frau sein zu lassen (Winter 2011, S. 70).

Kleine Jungen werden sich etwas schwerer als kleine Mädchen damit anfreunden können, dass Mama einerseits den Sohn liebt und andererseits auch eine Liebesbeziehung mit dem Vater hat. Gleichfalls erlebt der Sohn die Tatsache, dass auch der Vater ihm nicht allein gehört, sondern parallel eine Liebesbeziehung zur Mutter hat. Der Junge kann viele Details wahrnehmen, die auf ein Ungleichgewicht im System Familie hinweisen und die Triade stören. Dabei könnten nachfolgend genannte Punkte eine Rolle spielen: ◆◆

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Eifersucht der Mutter, wenn der Vater mit dem Sohn spannende Abenteuer bei Aktivitäten erlebt, an denen sie kein Interesse hat. Eifersucht des Vaters, wenn die Mutter zu Hause ist und deutlich mehr Zeit mit dem Kind verbringen kann. Eifersucht der Mutter, wenn sie aus männlich belegten Zeiten herausgehalten wird und Männerzeit ausgerufen wird. Unsicherheit der Mutter, wenn Jungen sie ausgrenzen und Vaterzeit mit Monopolstellung leben wollen. Unsicherheit in der Familie, wenn die Lebensmodelle ohne Vorbilder neu konstruiert werden, beispielsweise ist der Vater in Elternzeit und im Kreis der anderen Mütter unterwegs. Unsicherheit der Mutter, wenn der Vater mit dem Sohn intimere Gespräche führt. Eifersucht des Vaters aus der Stillzeit ausgegrenzt zu sein. …

Aus Unsicherheiten erwachsen auch Sicherheiten und neue Wege werden sichtbar. Eine klischeefreie Auflistung von Beschreibungen zum Männlichsein liefert Winter (2011 S. 173 / 174): Hier ein paar Angebote – keine Stereotype, aber positive männliche Eigenschaften und Kompetenzen, die nicht dem traditionellen Dominanzbezug anhaften: Verlässlichkeit – man kann sich auf ihn verlassen; Fürsorge – er kümmert sich um andere und um mich; Humor – er kann lachen, mag Spaß, er nimmt sich selbst nicht zu ernst, sondern lacht auch mal über sich;

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Bindung als Grundlage für Beziehung

Ernsthaftigkeit – er spürt und weiß, wann es wichtig ist, Dinge ernst zu nehmen, auch eigene Konflikte und Probleme oder Sorgen seiner Mitmenschen; Durchsetzungsfähigkeit und -willigkeit – er weiß, was er will, und setzt sich dafür ein; Herzlichkeit – er ist mit dem Herzen dabei, er liebt, er empfindet Mitgefühl; Forschergeist – er interessiert sich, geht den Dingen auf den Grund; Pioniergeist – er geht voran, wenn es Neues zu entdecken oder zu erproben gibt; Kontaktfähigkeit – er geht in Beziehung, er nimmt und gibt dabei etwas; […]

Fazit Für die Mutter stellt es eine weitaus größere Anstrengung dar, mit dem Sohn eine geborgene und gefühlsmäßig ausbalancierte Beziehung genießen zu können. Die positive Beziehung zum Vater stellt die Grundtendenz für eine gute Entwicklung des Sohnes dar. Die gesunde Mischung ist die Grundlage für ein gutes Verhältnis.

2.6 Zusammenfassung Frauen und Jungen sowie Männer und Jungen wurden im vorausgehenden Kapitel in unterschiedlichen Facetten betrachtet. Männer wurden als diejenige Generation erkannt, die schon einen großen Schritt auf dem Weg zur aktiven Vaterschaft gegangen ist. Männer stellen sich immer häufiger – gerade auch in ihrem Bezug als Vater – ihrer weiblichen Seite und bieten dem Sohn damit ein wichtiges Vorbild. Die Förderungsschwerpunkte wurden in folgenden Themen besprochen: Emotionale Ausdrucksfähigkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen wie Kommunikationsfähigkeit, Umgang mit Wut und Aggression, Konkurrenzkämpfen und Wettbewerben sowie der Aufgabe, einen gemeinsamen Aktivitätsradius aufzubauen. In der kurzen Ausführung zur Triade Mutter  – Vater  – Sohn wurde deutlich, dass jeder Junge sich nur so positiv entwickeln kann, wie seine Eltern ihm Männlichsein (unter Einbezug weiblicher Aspekte) als positiv spiegeln.

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DIE SITUATION VON JUNGEN IN DER KINDERTAGESSTÄTTE

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IN DER KINDERTAGESSTÄTTE

3. DIE SITUATION VON JUNGEN

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Gesetzliche Grundlagen aus dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz)

3.1 Gesetzliche Grundlagen aus dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) Gesetzliche Vorgaben bilden für die pädagogische Arbeit mit Kindern eine wichtige Rahmenbedingung und einen klar ausgelegten Handlungsspielraum. Im Folgenden wird die Vorgabe auf Bundesebene richtungsweisend angeführt. Zunächst wird diese auf geschlechtsbezogene Arbeit mit Kindern im Allgemeinen fokussiert und dann insbesondere mit Blick auf die Jungenarbeit innerhalb des Kinder- und Jugendhilfegesetztes beleuchtet. Die Kinder und Jugendhilfe nahm sich im Jahr 1990 des Themas an, Jungen und Mädchen eine geschlechtsbezogene Förderung zu bieten. Dabei wurde im § 9.3 im VIII. Sozialgesetzbuch die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Lebenssituationen und der Abbau von Benachteiligungen vorgeschrieben. Kasüschke (2004, S.  193) erklärt, dass erst 1998 im 10.  Kinder- und Jugendbericht: […] die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für das Subjekt unter systemischer Weise hervorgehoben wird.

Dabei bezieht sie sich auf die Aussage, in der über Jungen und Mädchen gesagt wird, dass sie bereits in der frühen Kindheit ihr Geschlecht zuordnen können. Zusätzlich bemerken sie aber bereits an dieser Stelle – unabhängig davon wie bemüht die Umwelt versucht, gerechte Entwicklungsmöglichkeiten beiden Geschlechtern zukommen zu lassen  – die unterschiedliche Stellung von Mann und Frau. Kasüschke (2004, S. 193) vertritt im Hinblick auf die Umsetzung des Paragraphen die Ansicht: Trotz der Sensibilisierung für eine geschlechtsbezogene Perspektive auf sozialpolitischer Ebene besteht in der pädagogischen Arbeit im Kindertageseinrichtungsalltag kein adäquates Problembewusstsein.

Das korrespondiert nicht mit der Tatsache, dass sich im sozialpädagogischen Berufsfeld sogar ein Teilbereich der Jugendarbeitentwickelt hat. Bentheim, May, Sturzenhecker, Winter (2004) führen in Zusammenhang mit der pädagogischen Jungenarbeit aus, dass Entwicklungs- und

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

Lernprozesse von Jungen begleitet werden sollen, die ihnen ein positives geschlechtliches Selbstverständnis und Unterstützung in ihrem Handeln als Junge anbieten. Sie benennen kritisch, dass im Kinder- und Jugendhilfegesetz nach § 11, § 1 (SGBVIII) für die aktuelle Sozialpädagogik im Wesentlichen formale Kriterien benannt werden: […] gefördert werden soll die auch selbsttätige Entwicklung zu einer selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen, gesellschaftlich mitverantwortlichen Persönlichkeit (Bentheim / May / Sturzenhecker / Winter 2004, S. 9).

Damit ist aber keine inhaltliche Verankerung der Jungenpädagogik im SGB erfolgt – es wird eher eine allgemeinverbindliche Grundvoraussetzung aufgezählt. Jungenarbeit wird bis heute vorwiegend mit Jugendarbeit gleichgesetzt (verwechselt). Eine Ausdifferenzierung der einzelnen Altersgruppen steht noch aus. Jungenarbeit ist insofern ein noch zu sensibilisierendes Feld, in dem bis dato weder eine fachliche Etablierung noch eine praktische Umsetzung stabil erfolgt ist. Im folgenden Kapitel über die Praxis in Kindertagesstätten – auch mit der Verankerung in Bildungsund Erziehungsplänen  – wird sich dieser Verdacht noch verhärten. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Beirat der Jungen im Bundesfamilienministerium ein Meilenstein für den Paradigmenwechsel entstehen kann. Über Gender Mainstreaming (Gleichstellungsvorgänge auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen und in allen Kontexten) lassen sich jedoch andere Wege eröffnen, die sich mittlerweile auch stetig ausweiten. In der Kinder- und Jugendhilfe ist Gender Mainstreaming ein fachliches, prozess- und zielorientiertes Konzept mit zunehmend verbindlichem Charakter. Dabei setzt Gender Mainstreaming an den Eigeninteressen der Träger, Institutionen und Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter an: Gender Mainstreaming ist keine Verwaltungsvorschrift, die erledigt oder abgehakt werden kann, sondern viel mehr als Prozess zu realisieren, der eine möglichst breite Beteiligung in den Organisationen und Institutionen der Jugendhilfe benötigt. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Umsetzung von Gender Mainstreaming dabei auch auf andere Themen in der Einrichtung ausstrahlt (etwa Leitbild, fachliche Zuständigkeiten, Zielgruppenorientierung) (Bentheim u. a. 2004, S. 16).

In Bezug auf die Auswirkungen von Gender Mainstreaming heben Bentheim u. a. weiterhin hervor, dass in der Jungenarbeit das Ziel von mehr

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Gesetzliche Grundlagen aus dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz)

Selbstverwirklichung für Jungen in Verbindung mit weniger geschlechtsbezogenen Verengungen zu verwirklichen ist. Geschlechterbezogene Pädagogik muss Standard im Bereich der Qualitätsentwicklung von Institutionen sein und ist nicht als Methode zu sehen, wie es zum Beispiel in der Politik immer wieder versucht wird. In der Jungenarbeit geht es vorwiegend nur darum, die Lebenslage Junge zu sein zu verbessern, u. a. indem die Qualität von sozialpädagogischen Institutionen gesichert wird, und auch um Gender Mainstreaming überhaupt umzusetzen zu können. In Zusammenhang mit Gender Mainstreaming wurde bei den Jungen bisher nicht mitgedacht, dass Benachteiligungen abzubauen sind und Selbstbestimmung eröffnet werden muss, um auch für Jungen Chancengleichheit herzustellen (vgl. Bentheim u. a., 2004). Somit bleibt festzustellen, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz in seinen Vorgaben für weitgehend wirkungslos gehalten werden kann, wenn es um geschlechtsbezogene Pädagogik geht. Insbesondere aber die Erfahrungen aus der Jugendarbeit haben für die besondere Lebenslage von Jungen sensibilisiert. Das politische Instrument, dass Gender Mainstreaming bietet, kann richtungsweisend  – im Sinne eines prozessorientierten Konzepts  – greifen und geschlechtsbezogene Pädagogik als Querschnittsaufgabe umsetzen. Damit verbunden wird an dieser Stelle auf fünf neuere politische Instrumente auf Bundesund Landesebene verwiesen: ◆◆

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Es gibt das Projekt des Bundesfamilienministerium: Mehr Männer in Kitas, wodurch der Männeranteil in der institutionellen Erziehung erhöht werden soll (und gleichzeitig dem Mangel an Fachpersonal begegnet wird). Im Zusammenhang mit der Arbeit in Kindertagesstätten soll auch angefügt werden, dass in einigen (im Bayerischen und Hessischen Erziehungs- und Bildungsplan beispielsweise) die Geschlechtergerechtigkeit als durchgängiges Konzept mitgedacht wird. Es gibt die jährlich stattfindenden Boys- und Girls Days, die Schülern berufliche Entwicklungen aufzeigen und zwar explizit losgelöst von geschlechtlichen Konnotationen (Fachkräftemangel und Mangel an High Potentials). Es gibt Gender- und Diversity-Management-Studiengänge und den Schwer­punkt Geschlechterforschung an Universitäten, wie zum Beispiel in Bielefeld. Im engen Zusammenhang dazu ist auch das Förderprogramm im MINT Bereich zu sehen, welches sich auf die Förderung der naturwissenschaftlichen

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

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Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) spezialisiert hat. Insbesondere die Verankerung des Jungenrates (Beirat für Jungenpolitik im Bundesfamilienministerium) ist ein herausragendes Instrument. Ein Gender Mainstreaming-Konzept, welches dem Prinzip der Inklusion folgt und Geschlechtergerechtigkeit befördert, kann daraus resultieren. Dieser Beirat für Jungenpolitik besteht aus sechs Experten der forschungsrelevanten Bereiche und sechs Jungen zwischen 14 und 17 Jahren. Ende 2013 soll seine Arbeit beendet sein und eine Handlungsempfehlung vorliegen. Inhaltlich befasst sich der Beirat damit, Vorstellungen und Erkenntnisse von Jungen zu ihren Lebensmodellen zu sammeln und zu evaluieren.

Der parlamentarische Staatssekretär, Herman Kues, formulierte zur Auftaktveranstaltung in Berlin in diesem Jahr folgende Ziele: Jungen und Mädchen wollen ihren Weg finden  – frei von Stereotypen und Vorurteilen. Die Politik muss für die faire Chance sorgen, dass sich diese Vorstellungen auch umsetzen lassen. Die Ergebnisse des Jungenbeirats werden uns zeigen, ob wir mit unseren Vorhaben für mehr faire Chancen für Jungen und Mädchen richtig liegen (Pressemitteilung Nr.  39 / 2011, Thema: Kinder und Jugend, 26.05.2011).

Die oben diskutierte Bewegung inklusive der angeführten Vorhaben resultiert aus vielschichtigen Motiven – auch aus solchen, die zum Beispiel auf unseren demografischen Wandel zurückzuführen sind. Damit verbunden wird nicht nur der Fachkräftemangel, sondern die Tatsache, dass es zu teuer ist, Frauen an die Familienarbeit zu verlieren. Auch der Tatsache, dass wir mit einer Kultur, die familienfreundlich und chancengerecht ist, dem Geburtenrückgang begegnen können, wird sicherlich eine entscheidende Rolle beizumessen sein. Fazit Was auch immer die Motive für Vorwärtsbewegungen sind: Ausschlaggebend ist, dass sich diese Bewegung weiter fortsetzt. Letztendlich wird es auch zu gesetzlichen Veränderungen an den Stellen führen, an denen Benachteiligungen gesetzlichen Regelungsbedarf nach sich ziehen müssen.

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Empfehlungen aus dem Bayerischen Erziehungs- und Bildungsplan

3.2 Empfehlungen aus dem Bayerischen Erziehungs- und Bildungsplan Jungen im Kindergarten stehen im Fokus des folgenden Kapitels, denn in der jetzigen Zeit machen Kinderkrippen, Kindergarten und Kindertagesstätten immer noch die erste große außerfamiliäre Sozialisationsinstanz aus. Der Rahmen dieses Buches würde nur eine unzureichende Integration der Kinderkrippe zulassen, sodass an dieser Stelle darauf verzichtet wird. Stillschweigend wird aber mitgedacht, dass bald ein Drittel aller Kinder eine Krippe, Tagesmutter oder die Großtagespflege besucht haben werden, bevor sie in den Kindergarten kommen. Der Einfluss dieser ersten Peergroup ist vermutlich sogar weitaus weitreichender als der Sozialisationseinfluss der Eltern, da die Gruppenidentität und Zugehörigkeit von den Kindern sogar vor ihre individuellen Vorlieben gestellt wird. Rigos (2006, S. 104) schreibt: Da können Mütter noch so fleißig das Familienauto reparieren, während der Vater Gemüse putzt  – gegen den Einfluss der Peergroup haben die Eltern keine Chance.

Beeindruckend, oder? Im weiteren Textverlauf führt sie zum Beispiel zusätzlich eine Kibbuzstudie aus dem Jahre 1950 an, die auch darauf hinweist, dass sich spätestens mit den Peergroups die feinen Geschlechterunterschiede verfestigen – offenbar wird in Gleichaltrigengruppen bestimmtes soziales Verhalten verstärkt. Damit wird der Auftrag deutlich, nicht zu versuchen, Kinder geschlechtsneutral zu erziehen  – auch und gerade in Kindertagesstätten nicht. Im Zusammenhang mit den vorangestellten gesetzlichen Grundlagen der geschlechtsbezogenen Arbeit mit Kindern und dem differenzierten Blick auf die Vorgaben der Jungenpädagogik auf Bundesebene wird nun die Landesebene mit den Empfehlungen zur praktischen Umsetzung innerhalb der Ausführungen verknüpft. Dazu wird der Bayerische Bildungsund Erziehungsplan (folgend BEP) beleuchtet. Bildungs- und Erziehungspläne entsprechen unserem föderalen Bildungssystem und spiegeln die Vorgaben und Inhalte der einzelnen Bundesländer wider. Anzumerken ist jedoch, dass es nicht in allen Bildungsplänen den Blickwinkel für geschlechtergerechte Pädagogik gibt  – ganz im Gegenteil nimmt der BEP hier sogar eine Vorzeigeposition ein.

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

Für die Entwicklung von Geschlechtsidentität sind die Jahre in der Kinder­ tageseinrichtung von besonderer Bedeutung. Kinder setzen sich intensiv damit auseinander, was es ausmacht, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, und welche Rolle sie als Mädchen bzw. Jungen einnehmen können […] Kinder­ tageseinrichtungen sind wichtige Erfahrungsfelder für Interaktionen und Kommunikation in gleich- und gemischtgeschlechtlichen Gruppen sowie in Gruppen, in denen sich Kinder selbst organisiert zusammenfinden und solche, die von Frauen – seltener Männern – moderiert werden (BEP 2006, S. 134 f.).

Im Hinblick auf die Umsetzung der Bildungs- und Erziehungsziele in der geschlechtssensiblen Erziehung wird deutlich formuliert, dass es sich um eine Querschnittsaufgabe handelt. Hier sind also alle Lernbereiche betroffen und in jedem einzelnen Lernangebot, streng genommen in jeder Handlung, soll sich die Verantwortlichkeit widerspiegeln, geschlechtsreflektiert zu agieren. Damit wird das Thema geschlechtsbezogen zu arbeiten, eröffnet, und zwar mit der einhergehenden Forderung an eine geschlechtergerechte pädagogische Grundhaltung. Diese pädagogische Grundhaltung ist mit den nachstehenden Prinzipien eng verknüpft: Die Gemeinsamkeiten zwischen den gleichwertigen und gleichberechtigten Geschlechtern sind höher als die Unterschiede. Die Wertschätzung für etwaige Unterschiede erfordert geschlechtsdifferenzierte Ansätze bei der Umsetzung der Bildungsziele (vgl. Kapitel  3). Die Entwicklungspotenziale von Kindern sind optimal auszuschöpfen  – gerade auch im Hinblick darauf, dass das soziale Geschlecht kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist (vgl. Kapitel 3). Die Selbstreflexion der Fachkräfte muss sich anschließen an eine Aneignung von Fachwissen im Bereich von Entwicklungspsychologie und den Konzepten der sozialkognitiven Geschlechteridentität (vgl. Kapitel 2). Das Berufsbild und die damit verbundenen Stereotype müssen Mittelpunkt der Auseinandersetzung werden. Der Erzieherinnenberuf ist noch immer stark frauendominiert, hier hat sich bislang nichts verändert. Im qualitativen und quantitativen Bereich sind die Anforderungen jedoch angestiegen. Die Erzieherin als omnipotentes Vorbild der Kinder unterliegt damit einer fortlaufenden Eigenreflexion. Das kulturell geprägte Geschlecht wird in Verbindung mit Veränderungen in der Abhängigkeit im sozialen und wirtschaftlichen Bereich immer wieder neu konstruiert. Im Umkehrschluss verändern sich auch die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern (vgl. Kapitel 2 und 3).

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Gender Mainstreaming in der Kindertagesstätte

Fazit Die Erzieherin versteht sich demnach als eine selbstreflexive Bildungsbegleiterin der Kinder, die sich bewusst als Vorbild wahrnimmt und es sich zur Aufgabe macht, die Kinder in all ihren Facetten zu erfassen. Das Geschlecht des Kindes ist eine von vielen Facetten, die berücksichtigt werden muss. Eine bestmögliche Entwicklungsförderung ergibt sich erst dann, wenn das Kind in der Gesamtheit seines Potenzials gefördert wird. Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan hebt sehr deutlich hervor, dass geschlechtergerechte Erziehung eine Querschnittsaufgabe für die Arbeit in Kindertagesstätten darstellt. Diese Querschnittsaufgabe mündet in einem Gesamtkonzept für Gender Mainstreaming.

3.3 Gender Mainstreaming in der Kindertagesstätte Böhnisch u. a. (2002) äußern sich sehr kritisch dazu, in welch misslichem Zustand sich die Selbstreflexion von Erzieherinnen immer noch befindet. Es wird hervorgehoben, dass der Kindergarten ein extrem wichtiger Ort ist, an dem Kinder viel Zeit verbringen. Erzieherinnen seien von ihrer Sozialisation und Schulbildung eher traditionell veranlagt. Zusätzlich sind Erzieherinnen in der Regel auch sehr harmoniebedürftig. Sie leben oftmals in traditionellen Familien und verändern sich nicht unbedingt. Eine Karriereleiter bietet der Beruf kaum. Damit Erzieherinnen geschlechtsreflexiv arbeiten können, ist noch enorm viel Biografiearbeit zu leisten. Es wird weiterhin erklärt, dass Erzieherinnen eher mütterlich seien und wirtschaftliches Denken lange verpönt war (vgl. Böhnisch u. a. 2002). Der Kindergarten ist dementsprechend eine Traditionsschmiede, in der sich traditionelle Rollenbilder verfestigen können. Rabe-Kleberg (2003, S. 62 f.) formuliert es so: Das fehlende oder nur gering ausgebildete Selbst-Verständnis als Professional führt auch dazu, dass Erzieherinnen in ihrer Mehrheit nicht in der Lage sind, zu erklären und zu legitimieren, was sie warum tun, oder dies dokumentarisch festzuhalten. Sie sind daher weitgehend hilflos gegenüber immer neuen

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

tendenziell maßlosen und unangemessenen Erwartungen von außen, sowie Kontrollen durch andere Berufsgruppen (zum Beispiel Pfarrer in den Kirchengemeinden) und fachlich nicht einschlägige Bürokratievertreter.

In den letzten Jahren haben sich viele Veränderungen im Bereich der Professionalisierung der Erzieherinnen ergeben und insofern sind diese sehr harten Ausführungen so nicht mehr zutreffend. Gerade auch die Einführung der Erziehungs- und Bildungspläne haben in der Selbstwahrnehmung und Außendarstellung der Berufsgruppe sehr große Fortschritte initiiert. Grundsätzlich gilt aber trotzdem, dass die nachfolgend aufgeführten Annahmen immer mitgedacht werden müssen. In Institutionen für Kinder sind vorwiegend Frauen tätig – es handelt sich um einen weiblichen Schauplatz. Frauen wird die Eignung zur Kindererziehung qua Geschlecht zugesprochen  – eine allumfassende Eignung dafür sozusagen. Im Umkehrschluss ist damit verbunden, dass die Nachteile von typischen Frauenberufen (ungünstige Bezahlung, schlechtes Ansehen usw.) absolut zutreffend sind. Rabe-Kleberg (2003, S.  64) bringt die Gefahr, die damit zusammenhängt, auf den Punkt und verfestigt die Ansichten von Böhnisch u. a. (2002): Der Kindergarten als Institution ist trotz einiger männlicher Akteure seit Beginn eine weitgehend homogene weibliche Arena, ein Milieu, in dem traditionelle Muster der gesellschaftlichen Konstruktion von Weiblichkeit in Strukturen, Regeln und professionellem Habitus wirksam sind und durch das tägliche Handeln aller beteiligten Akteurinnen immer wieder neu reproduziert wird.

Weitergehend schildert Rabe-Kleberg (2003) die falsche Vorstellung von Erzieherinnen darüber, dass Chancengleichheit herzustellen bedeuten könnte, die Kinder gleich zu behandeln. Deutlich stellt sie in diesem Zusammenhang dar, dass die Kinder in ihrem Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur einem Prozess ausgesetzt sind, der zunächst zur Entfremdung zwischen den Geschlechtern und dann zu einer erneuten Annäherung führt. Kinder, die sich voneinander differenzieren müssen, um sich mit ihrem Geschlecht als Jungen und Mädchen zu identifizieren, sind nicht gleich. Beobachtungen in der Kindergartenpraxis zeigen demgegenüber, dass sich Erzieherinnen bemühen, den Kindern, wie sie oft sagen, »geschlechtsneutral«

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Gender Mainstreaming in der Kindertagesstätte

zu begegnen. So als würden die oben skizzierten höchst eindrucksvollen Prozesse nicht stattfinden, als hätten Kinder kein Geschlecht […], bzw. gehörten zu keinem! Diese beobachtbare Verhaltensweise muss zunächst als ein professionelles Missverständnis verstanden werden, das aus der Norm erwächst, alle Kinder gleich behandeln zu müssen. Es ist zurückzuführen auf fehlende professionelle Reflexion und Qualifikation, aber auch auf eine durchgängige Verweigerung, sich mit dem Thema überhaupt auseinanderzusetzen (ebd. 2003, S. 65 f.).

Das ist eine sehr harte Kritik, die jedoch in ihrer Klarheit unerlässlich erscheint, denn die Folge einer Gleichbehandlung ist wiederum die Verfestigung von gesellschaftlichen Rollenbildern. Die Verleugnung der Genderdebatte wird weitestgehend dazu führen, dass Mädchen weiterhin auf traditionell weibliches Verhalten zurückgreifen und Jungen immer noch nicht gestärkt werden, sich in Bezug auf die Vorgaben für männliches Verhalten ein eigenes Bild zu verschaffen. Frauen treten tendenziell konfliktvermeidend auf, was zusätzlich eine zeitweise Unterdrückungstendenz den Jungen gegenüber (zum Beispiel bei lautstarken, verbalen Auseinandersetzungen) bewirkt. Bevor die herrschende Praxis in Kindertagesstätten und die dortigen Rahmenbedingungen für geschlechtergerechte Pädagogik als Querschnittsaufgabe im nächsten Kapitel betrachtet werden wird, müssen zunächst verschiedene Definitionen angeführt werden. Rohrmann (2010, S. 100) schreibt: Mit geschlechterbewusst, geschlechtssensibel, geschlechtsreflektierend u. ä. wird eine Haltung der Aufmerksamkeit und des bewussten Umgangs mit geschlechterbezogenen Zusammenhängen sowohl bei Kindern als auch bei Pädagogen selbst bezeichnet. Der Begriff geschlechtergerecht betont mehr den Aspekt der Chancengerechtigkeit, bedeutet in der Praxis aber oft nichts grundlegend anderes. Zu unterscheiden davon sind Ansätze, die ausdrücklich »geschlechtsspezifisch« arbeiten, zum Beispiel unterschiedliche Angebote für Mädchen und Jungen vorsehen. Eine geschlechterbewusste Reflexion kann zu geschlechtsgetrennten Angeboten führen; im Kitaalltag ist dies aber nicht die Regel.

Es geht entsprechend darum, eine Haltung zu entwickeln, die Geschlechtergerechtigkeit im Blick behält. Und dabei sind die Prioritäten analog

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zum Schwerpunkt zu legen, eine Form der Gleichwertigkeit zu erzeugen, die aber von einem tiefen Respekt für Andersartigkeit geprägt ist. In einer Erklärung zu Gender führt Rabe-Kleberg (2003, S. 39 f.) die Theorie an, welche die Handlungsebene gut eröffnen kann: Gender ist demnach das Ergebnis von sozialen Aushandlungsprozessen zwischen Akteursgruppierungen mit unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten, der Kindergarten kann in seiner quantitativen Form als ein Indikator für den jeweiligen historisch erreichten Stand betrachtet werden.

Ziel ist dabei, das traditionelle gesellschaftlich kodierte Verhältnis zwischen den Geschlechtern (gender) mit dem Ziel des Abbaus von Chancenungleichheit in politische Analysen und Auseinandersetzungen, in Entscheidungen und Maßnahmen zur Realisierung eben dieser Entscheidungen einfließen zu lassen (mainstreaming) (ebd., S. 9.). Fazit Zusammenfassend wurde in diesem Kapitel herausgestellt, dass die Kindertagesstätten prinzipiell dazu neigen Traditionsschmieden für Geschlechterrollen zu sein. Eindringlich wurde darauf verwiesen, dass es auch für die Fachkräfte in Tagesstätten nicht möglich ist, eine neutrale Position einzunehmen. Eine professionelle Erziehungsbegleitung für eine geschlechtergerechte Erziehung ist eindeutig nicht auf Gleichbehandlung ausgelegt. Gender Mainstreaming ist kein politisches Konzept, um Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu kompensieren, sondern ein aktiver Aushandlungsprozess zwischen den beteiligten Männern / Jungen und Frauen / Mädchen.

3.4 Erzieherinnen und Jungen Angesichts der Tatsache, dass es noch immer Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern gibt und die Kindertagesstätte dem Risiko unterliegt, Geschlechterstereotype zu verfestigen, wird es nun insbesondere darum gehen, die weiblich geprägten Institutionen mit Praxiswissen zu versorgen. Dabei wird der Fokus auf der Beziehung zu den Jungen liegen.

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Erzieherinnen und Jungen

Immer wieder werden sowohl die Jungen als auch die Mädchen während des Kindergartentages Situationen erleben, die von der Frage bestimmt sind, wer sie sind, wie sie sein wollen und dürfen. Einige alltägliche Beispiele aus der Praxis: »Warum darf ich den Tim nicht ganz doll verhauen und in die Eier treten? Ich bin richtig wütend«, schimpft Franziska. »Alle Sachen aus der Verkleidungskiste werden immer von den Mädchen weggeschnappt. Ich will heute mal die Königin sein«, beschwert sich Josef. Oder Gökan meckert wütend die Gruppenleitung an, weil er den Tischdienst ordentlich machen soll: »Zu Hause muss ich auch nicht den Tisch abwischen oder meinen Teller selber wegräumen, das machen meine Schwestern.«

Die Frage des Selbstbewusstwerdens in Bezug auf ihre Geschlechtsrolle und de enge Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung wurde bereits im Kapitel 2 und 3 angeführt. Insbesondere das Beispiel von Gökan zeigt den Prozess des Ausbalancierens noch einmal sehr deutlich. Bei ihm kommt erschwerend hinzu, dass er zwei Kulturen ausbalancieren muss, die der Herkunft seiner Familie und die der Gesellschaft, in der er lebt und die ihn umgibt. Das Selbstbild als Junge und Mädchen konstruieren sich die Kinder nach ihren individuellen Anteilen und den jeweiligen Erfahrungen mit der Außenwelt. Grundsätzlich gilt, dass im Kindergarten eine Einübung der Geschlechterrollen stattfindet, in Form einer Verfestigung. Fünfjährige wissen, dass sie Jungen oder Mädchen sind, und verhalten sich dementsprechend. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern wird immer größer, geschlechtstypische Verhaltensweisen treten auf (Haug-Schnabel 2005, S. 27).

Für Jungen entsteht in dieser Zeit erstmalig die wichtige Situation ein Teil einer Jungengruppe zu sein. Die Gruppe an sich spielt für Jungen eine wichtige Rolle (was später genauer ausformuliert wird). Zunächst wendet sich der Junge ganz aktiv seiner Kindergartenaußenwelt zu und erfährt in der Regel, dass ihm Mut, Aktivität und körperliche Leistungsfähigkeit zugedacht werden und er darin sogar Unterstützung durch die Erwachsenen erhält. Er erfährt und verinnerlicht, dass seine Handlungen etwas in der Welt bewirken können. Allein schon die Er-

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kenntnis, die in Märchen oder auch zahlreichen Bilderbüchern vermittelt wird, ist da klar: Der Mann ist aktiv und muss in der Außenwelt einen Auftrag haben oder schwere Aufgaben bewältigen. Positiv wirkt es sich in jedem Fall aus, wenn sich Jungen und Mädchen in möglichst vielfältigen Situationen ausprobieren können. Kinder empfinden den Kontrast zum anderen Geschlecht beispielsweise als enorme Erleichterung für die eigene Zuordnung zu ihrem individuellen Geschlecht. »Wenn ich schon nicht genau weiß, was ein Junge ist, so bin ich doch wenigstens sicher, dass es das Gegenteil von Mädchen sein bedeutet.« Die Lern- und Spielwelt im Kindergarten bietet wunderbare Möglichkeiten sich vielfältig auszuprobieren. Jungen und Mädchen inszenieren sich gern und schauspielern in allen Lebenslagen. Das Zusammensein mit Kindergartenkindern ist dadurch geprägt, dass wir sie häufig als Selbstdarsteller erleben, vom Rollenspiel über Theateraufführungen bis zu einer überschwänglichen Darbietung von Clownerie und Vorstellungen von eingeübten Spielszenen einer Zirkusdarbietung. Insbesondere das Rollenspiel bietet einen adäquat geschützten Raum. Die Kinder können erleben, welche der gesellschaftlich bereitgestellten Verhaltensweisen ihren Interessen und Fähigkeiten entgegenkommen. Zusätzlich werden die Kinder an dieser Stelle erleben, dass die Umwelt auf sie in ihrer Rolle reagiert. Ein Beispiel: Gökan, der bereits dadurch bekannt ist, dass bei ihm zu Hause ausschließlich die Schwestern den Tisch abräumen, stellt sich sehr gern als Mutter in der Puppenecke zur Verfügung. Er kocht ganz ausgezeichnet und verpflegt auch gleichzeitig alle Katzenkinder mit Katzenmilch und endlosem Kopfkraulen. Er hört es absolut gern, was für eine tolle Mutter er sei und wie fürsorglich und liebevoll er die Katzen betreue. Die Mädchen und die Jungen loben ihn und er fühlt sich sichtlich wohl in seiner umsorgenden Rolle.

Diese Reaktionen der Außenwelt auf das Ausprobieren von Rollen bekommen Jungen grundsätzlich (die wenigen Erzieher bleiben hier ungenannt) auf der Erwachsenenebene von Frauen gespiegelt. Also nicht vom männlichen Geschlecht, welches ihnen in der Wahrnehmung ihrer geschlechtlichen Identität mehr Stabilisierung für ihr Selbstgefühl bieten könnte. Für Jungen ist eines sicher: Mann sein ist nicht Frau sein und darum

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Erzieherinnen und Jungen

liegt es nah, sich Jungengruppen anzuschließen. Damit verbunden ist eine erste Abgrenzung zu Frauen – also auch zu den Erzieherinnen. RabeKleberg (2003, S. 89) führt diesen Sachverhalt wie folgt aus: Konzentrieren wir uns auf den Trennungs- und Abspaltungsprozess von der Person der Mutter, aber auch der Erzieherin und der Lehrerin, dem Weiblichen insgesamt. Der Junge begreift sehr schnell, dass er ein anderes Geschlecht hat als seine Mutter und andere – u. U. geliebte – Frauen, und dass er auf keinen Fall weiblich sein oder werden darf, aber auch nicht nicht weiblich. Die Entwicklung männlicher Identität entwickelt sich also aus einer doppelten Negation!

Was ist das überhaupt für ein Dilemma? Ein weiteres Beispiel: Julius ist bereits seit einem Jahr in der Kindergartengruppe von Petra. Er ist sehr zurückhaltend und eher schüchtern und angepasst. Seine Bindung zu seiner Mutter scheint sehr eng zu sein. Die Mutter trägt ihn sogar immer auf dem Arm in die Gruppe und bleibt lange Zeit, bis sie sich verabschiedet und viele Handküsse für Julius von der Gruppentür aus schickt. Julius ist ein sehr großes und absolut zartes Kind und wirkt unbeholfen in seinen Bewegungen. Mit den Jungen zu toben liegt ihm gar nicht. Eigentlich ist er einkleiner Schöngeist, malt wunderschöne Bilder am Maltisch und unterhält alle mit Geschichten von seinen Brüdern. Seine Geschlechtsidentität entwickelt sich entlang sehr vieler widersprüchlicher Komponenten: Er fühlt sich in der Peergroup der Jungen nur selten wohl: Sie sind ihm zu laut, zu schnell und er hat keine Lust zu raufen. Oftmals scheut er die blauen Flecken und er weint häufig, weil er sich im Spiel mit den Jungen immer wieder Verletzungen holt. Die Situation zu Hause mit seinen Brüdern ist nicht besser. Der einzige Vorteil ist darin zu sehen, dass die Brüder bereits viel größer sind und ihn darum meist nett behandeln. Weder mit den Brüdern noch mit den Jungen der Kindergartengruppe kann Julius sich identifizieren. Ihm fehlt in dieser Hinsicht eine konstante und eindeutig männliche Identifikationsfigur. Seine Brüder nennen ihn häufig Muttersöhnchen – das ist ein Schimpfwort. Ein Muttersöhnchen will er nicht sein. Und er will nicht wie eine Frau sein. Das scheint ja auch die Tatsache zu bestätigen, dass ein Muttersöhnchen (also dem Weiblichen zugewandt) nicht positiv wahrgenommen wird. Seine Erzieherin Petra findet er toll. Die ist lustig und spielt immer auf dem Bauteppich mit den Jungen. Wenn sie dabei ist, werden die Türme am höchsten. Die Ratterbahn fällt auch erst um, wenn sie angeschubst wird und nicht immer schon während der Bauarbeiten. Petra

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baut super lange Eisenbahnen im Gruppenraum und alle Kinder steigen ein und fahren mit ihr nach Indien. Julius gruselt sich zwar immer, wenn die Krokodile und Elefanten zu dicht am Zug vorbeikommen, aber das ist in diesem Moment egal. Er liebt Petra – seine Erzieherin ist einfach so nett und er bewundert sie für ihre Ideen und dafür, dass sie so toll bauen kann. Gern wäre er wie Petra. Aber: Petra ist weiblich und so kann er ja gar nicht sein, weil er ja ein Junge und somit männlich ist.

Chaotisch wird es dann, wenn Julius spürt, dass Petra weibliches Verhalten belohnt. Denn dann erfährt er, dass er weder weiblich noch nicht weiblich sein darf. Im Umkehrschluss wird deutlich, dass es untragbar ist, wenn Erzieherinnen weibliches Verhalten positiv bewerten und männliches negativ. Ein weiteres Beispiel: In der Gruppe wurde am Vormittag ein sehr intensives Freispiel gelebt. Nun muss aufgeräumt werden. Dabei wird mehrmals den Jungen zugewandt die Aufforderung laut, dass die Mädchen schon fertig sind mit Aufräumen und die Jungen sich ein Beispiel daran nehmen sollen, weil die Mädels auch viel ordentlicher aufgeräumt haben. Dafür dürfen sie jetzt zuerst in den Garten und die Jungen bleiben solange drinnen, bis sie es so schön wie die Mädels erledigen.

Das besagt sehr eindeutig: Nicht weiblich zu sein, ist nicht positiv. Erzieherinnen müssen Räume schaffen, in denen die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein von Jungen und Mädchen gestärkt wird, in denen Erlebnisse von Macht und Ohnmacht erfahrbar werden, die eigene Geschlechterrolle positiv bewertet und unterstützt wird ohne ein Rollenklischee zu verfestigen. Nachlebbare Vorbilder von Männern und Frauen müssen Kindern für ihre Phantasien und die Ausbildung ihrer Geschlechtsidentität zur Verfügung stehen. Erzieherinnen können dies nicht alleine leisten, sie können aber nach Möglichkeiten suchen, die Kindern Vorbilder zu einer gelingenden Geschlechterrolle geben (Blank-Mathieu 2002, S. 95 / 96).

Dazu gehört auch das Bewusstsein darüber, dass es für Jungen nicht gut ist zu erfahren, dass ihr Verhalten nicht so oft wie das der Mädchen ge-

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Erzieherinnen und Jungen

lobt wird. Es ist auch eine doppelt schlechte Erfahrung, wenn ihr oftmals lauteres Toben zusätzlich (zum nicht so häufigen Gelobtwerden) Ermahnungen zur Folge hat. Ein stabiles Selbstgefühl / Selbstbewusstsein zu entwickeln, ist insbesondere für Jungen sehr wichtig. Aus dieser Sicherheit heraus können sich auch Veränderungen in den Rollenbildern – und Klischees – ergeben. Gerade bei ihnen besteht die Gefahr eine zum Schutz aufgebaute Fassade zu erleben. Rohrmann u. a. (1998, S. 137) fassen zusammen: ◆◆

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Wenn Jungen unsicher sind, wird das oft nicht wahrgenommen, falsch interpretiert oder auch kritisiert. Jungen wird damit übermittelt, dass es nicht männlich ist, hilflos oder ängstlich zu sein. Im Bereich der Förderung von sozialen Fähigkeiten werden Jungen oft zu wenig gefordert und lernen infolgedessen nicht für sich selbst Verantwortung zu tragen. Unangenehme Gefühle werden von Jungen nicht gern ausgehalten, was zum Überspringen der Gefühle führt. Damit bleibt es ihnen versagt, innere Sicherheit zu entwickeln. Rücksichtnahme auf sich und andere wird von Jungen nicht in letzter Konsequenz erwartet. Entsprechend entwickeln sie auch einen lockeren Umgang damit, Grenzen für sich selbst und andere wahrzunehmen und einzuhalten. Konflikte zu lösen kann bedeuten das Recht des Stärkeren einzusetzen. Demütigungen, die zum Beispiel auch daraus resultieren können, dass sich Jungen als Verlierer von etwaigen Auseinandersetzungen fühlen, können sehr schnell als Niederlage verstanden werden.

Gilbert (2001, S. 89) vertieft diese Aspekte: […], dass rivalisieren ein typisch männliches Verhalten zu sein scheint. Es werden sehr oft Begriffe eingesetzt, wie: Das Meiste, das Schlechteste, gewonnen, verloren usw. Dabei praktizieren Kindergartenkinder schon eine Form von »Punkte sammeln« Aussprüche wie: »Wetten, dass du das nicht kannst, … schau, was ich kann« gehören auch dazu.

Leider besteht die große Gefahr, dass all diese angeführten Punkte – die aus nicht gelebter Unsicherheit entspringen  – ein Verhalten erzeugen, dass wiederum kanalisiert wird in der Gewalt gegenüber Schwächeren.

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Jungen, die sich in der Jungenwelt nicht behaupten können, haben schlechte Chancen. Sie sind unsicher, können sich nicht wehren und ziehen sich schnell zurück. Damit machen sie zwar den Erwachsenen weniger Probleme, aber geraten in der Jungengruppe in eine Außenseiterposition (Gilbert 1998, S. 138).

Im weiteren Verlauf wird noch genauer auf das Konfliktverhalten von Jungen eingegangen werden, weil es im Zusammenhang mit der Bildungsbegleitung von Erzieherinnen einen sehr wichtigen Schwerpunkt enthält. Diese Situation der Unsicherheit mündet häufig in ablehnendes Verhalten und eine Zuweisung der Rolle des Außenseiters, der leider gerade Jungen in der Kindergartengruppe stark ausgesetzt sind. Ein Beispiel: Jannis kommt mit zweieinhalb Jahren in den Kindergarten, nachdem er vorher zweimal in der Woche in einen Spielkreis gegangen ist und sich somit schon gut in die Situation: Trennung von Bezugspersonen, Kindergruppe, fremde Umgebung, Lautstärke usw. eingewöhnt hat. Er kommt mit seiner Freundin Emily in eine Gruppe. Die beiden sind schon lange befreundet und haben auch den Spielkreis gemeinsam besucht. Sie verbringen häufig die Nachmittage zusammen oder spielen am Wochenende gemeinsam. Ein großer Vorteil der engen Freundschaft dieses Pärchens ist, dass sie einfach alles zusammen spielen können. Stundenlang verschwinden sie in ihrer Traumwelt und bauen Höhlen, die sie dann mit allen zur Verfügung stehenden Gegenständen bewohnen. Bezeichnend ist, dass sie immer die Gegenstände danach aussuchen, dass sie möglichst in der Nähe liegen und es wenig Aufwand darstellt, diese zu organisieren. Nie ist ein Spielobjekt das, was es eigentlich ist und geschlechtlich sind weder Teddys, noch Puppen oder andere, an sich mit Geschlecht belegte Utensilien. Die beiden zeichnen sich auch ansonsten dadurch aus, dass sie sehr selten Rollen ausfüllen. Sie sind immer darin verbunden, das auszuschmücken, was das Spiel gerade so verlangt. Selten gibt es Streit – sehr häufig kann man in Phasen der Erschöpfung beobachten, dass der eine beim anderen den Kopf auflegt und das ganze Fantasieren im Liegen weitergeht. Auch wenn die Energie dann wieder da ist und dies in aktivem Toben ausgelebt wird, sind beide gleich lautstark. Alles, was der eine erklettert, kann der andere auch. Der einzige Unterschied ist darin zu erkennen, dass das Mädchen sich vor Lachen ausschütten kann und der Junge geduldig wartet, wann es weitergehen kann. Eine Freundschaft also, die davon geprägt ist, dass beide sehr intensiv das ausleben und spielen können, was sie wollen und worauf sie Lust haben.

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Erzieherinnen und Jungen

Unabhängig von ihrer Rolle verstehen sie sich bestens und harmonieren so ohne Rivalität. Nun sind also beide die erste Woche im Kindergarten in einer Gruppe. Sie machen zunächst gespannt alles mit, was so passiert und schauen sich alles genau an. Die Erzieherinnen müssen sie auch erstmal kennenlernen. Wenn es in den Garten geht, sind die beiden schnell verschwunden und spielen miteinander. Emily wird sehr schnell in eine kleine Gruppe von vier Mädchen aufgenommen, die sind schon ein Jahr länger im Kindergarten und somit gehört sie ein wenig zu den Großen, wenn sie da mitspielen darf. Emily findet sich auch schnell zurecht im Rollenspiel mit den großen Mädchen. Nur soll sie immer das kleine Pferdchen sein oder die Mutter spielen, die auf die Kinder aufpasst. Sie bekommt jetzt geschlechtsbezogene Rollen zugewiesen, die sie nicht so richtig ansprechen und ihr auch langweilig erscheinen. Ihre bisherige Spielerfahrung war ja daran geknüpft, Freude und Spieltrieb zu entwickeln, durch die Vielfalt der Möglichkeiten an sich. Die Vielfalt der Fantasie zu entspinnen, entsprach bisher ihrer Freude am Spiel. Jetzt geht es mehr darum, dass sie eine Rolle annimmt und diese entsprechend ausfüllt. Eng verknüpft ist damit natürlich auch der Nachahmungsprozess. Sie findet das alles etwas öde – aber nun gut – sie hat mitgespielt und auch hier kann man oft ihr herzliches Lachen hören. Jannis ergeht es da nicht so gut. In die Jungengruppe hat er sich zunächst gut eingefunden, denn die spielen in der Bauecke. Autos werden von einer Rampe runtergelassen und damit die am Ende stehenden Autos weggerammt. Das ist zunächst okay – aber Jannis hat schnell andere Ideen. Die Rampe soll weg – mitsamt den Autos – und dann kann man doch mal verschiedene Baueckenkisten zusammenschütten und so einen richtig tollen Spielzeugsalat machen. Manche kleine Bausteine kann man dann auch mal in der Gruppe irgendwo verstecken oder einfach mal im Waschraum auf dem Wasser schwimmen lassen. Die anderen Jungen wollen das aber nicht. Die wollen immer wieder ihre Autos rammen. Die Freude daran scheint gar nicht abzubrechen. Sie werden immer lauter. Jannis findet das Spiel nicht so richtig toll. Er verliert die Freude und nimmt sich ein paar Autos zum Verstecken. Sicherlich suchen die Jungen die dann doch – oder die Mädchen. Damit hat er sich aber in einen Streit begeben. Die Jungengruppe will, dass er das macht, was sie vorgegeben. Sie wurden sauer, weil er Spielobjekte entführt hat, die zweckgebunden waren und nicht zu ersetzen. Jannis wird aus der Gruppe ausgeschlossen, weil er sich einerseits nicht konform einfügen kann und andererseits das Spielzeug immer zweckentfremdet einsetzt.

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Für ihn sind die Probleme, sich in die Jungengruppe einzufinden, größer – er wird schnell zum Außenseiter und orientiert sich dann an den Mädchen.

Die Erzieherin hatte in dieser Phase der Eingewöhnung sieben neue Kinder und es war nicht möglich, hier – genau am Anfang – darauf zu achten, mit welchen Interessen und Ausprägungen Jannis und Emily in die Gruppe gekommen sind. Das ist leider eine stressige Zeit – für Erzieher und Kinder. Gerade aber zu diesem Zeitpunkt sind die Kinder noch ganz offen und eigentlich ist es unerlässlich, hier zu beobachten und auch festzuhalten, welche Persönlichkeit da gerade angekommen ist. Die Beobachtung stellt das Basisinstrument dar im methodischen Erfüllen der Querschnittsaufgabe geschlechtergerechte pädagogische Grundhaltung. Jedes neu ankommende Kind muss in der Form der freien Beobachtung eine Persönlichkeitserfassung und eine dementsprechende Dokumentation erhalten. Folgende Beobachtungskriterien können dabei eine Rolle spielen: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

Mit wem spielt das Kind häufig? Übernimmt es die über- oder untergeordnete Rolle? Spielt es lieber eine weibliche oder eine männliche Rolle? Wie füllt es diese aus? Auf welche Weise übt es Macht über die anderen Kinder aus? Wie äußert es seine Gefühle? Kümmert es sich um schwache oder traurige Kinder? Hat es Freunde?

(vgl. Blank-Mathieu 2002, S. 36). Das Team muss sich dazu mit Denkansätzen zur Teamarbeit auseinandersetzen, die auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinen und auf Abwehr stoßen könnten. Es ordnet sich außerhalb seiner angestammten Kindergruppe in Projektgruppen; d. h., dass die Erzieherinnen sich nicht zwangsläufig in ihrer eigenen Gruppe zu dem Aufgabenfeld aufhalten, sondern sich eher gruppenübergreifend neu sortieren. Ausgangspunkt ist, dass sich jede Mitarbeiterin einem Schwerpunkt zuordnet und diesen dann in ihrem neuen Projektteam erfüllt – gruppenübergreifend. Es wäre zum Beispiel möglich, die Mitarbeiterinnen des Kindertagesstättenteams,

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Erzieherinnen und Jungen

die sich in Beobachtungsvorgängen sicher fühlen, in der ersten Woche genau mit dieser Arbeit zu beauftragen. Dieses Aufgabengebiet nehmen sie dann bei allen Kindern des Kindergartens wahr (ausdrücklich nicht nur bei den Kindern ihrer eigenen Gruppe). Bei ca. fünf bis zehn neuen Kindern pro Gruppe dürfte das mit je zwei Kindern am Vormittag und ein bis zwei Kindern am Nachmittag sehr gut umsetzbar sein. Dieser Vorgang muss alle zwei – spätestens alle vier – Wochen nach Kindergarteneintritt wiederholt werden. In der Zeit muss die Berufspraktikantin als Springer dort eingesetzt werden, wo die beobachtende Mitarbeiterin fehlt. Auch die Mütter, deren Kinder in der Eingewöhnung sind, können stärker einbezogen werden und mit Zuarbeiten betraut werden. Das zweite Beobachtungsverfahren muss dann die konkrete Beobachtung der vorab genannten Fragen erneut absichern. Im Anschluss an diese erste Sequenz und die dazugehörende Dokumentation sollte die Evaluierung im Gruppenteam (oder Gesamtteam) mit bestimmten Handlungsabsichten versehen werden. Diese beinhalten als einen Part die Seite der geschlechtsgerechten Förderung. Wenn wir Jannis und Emily rückblickend betrachten, bedeutet das ein Augenmerk darauf zu haben, dass sich für beide Kinder adäquate Spielpartner vermitteln lassen. Für die Erzieherin bedeutet dies, Kinder mit ähnlichen Spielausprägungen zu suchen und deren Annäherung (Freundschaft schließen) zu unterstützen, zu begleiten und zu forcieren. Diese Beobachtungen sind dann ein Teil von den zwei prägnanten Formen der Portfolioarbeit: Dem Entwicklungsportfolio und dem pädagogischen Portfolio. Der Beitrag im Entwicklungsportfolio ist zuerst zu bedenken, denn er lebt auch von den Aussagen der Kinder selbst. Die Ebenen des Entwicklungsportfolios sind nach Fthenakis u. a. (2009, S. 43): Produkte und Werke des Kindes, Kommentare des Kindes und Gesprächsdokumentation sowie die offene Beobachtung. Die vierte Ebene der strukturierten Beobachtung ist in Kindertageseinrichtungen ebenfalls zu unterstützen, um besondere Bedürfnisse feststellen zu können; die Ergebnisse aus den oben genannten Gründen [darf keine Bewertungen enthalten  – Anmerkung Autorin] werden außerhalb des Portfolios aufbewahrt (ebd).

Hier kann also die Chance genutzt werden, dass das Selbstbild vom Kind, welches durch sein aktives Mitwirken erstellt wird, bedachtsam erfasst wird.

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Gerade auch anhand der Auswahl der Werke oder indem die Erzieherin gemeinsam mit dem Kind Werke für die Portfoliomappe auswählt, ergibt sich eine wunderbare Situation für sensible Aussagen. Ein Beispiel: Jannis hat an einem Vormittag im Kindergarten viel Zeit damit verbracht, ein Bild zu malen. Er war dabei zeitweise in das Ausmalen seines Werkes vertieft und auch immer wieder lebhaft an den Gesprächen am Maltisch beteiligt. So verging eine gute halbe Stunde. Die Erzieherin bemerkte, dass er mit den Kindern am Tisch über das Bild gesprochen hat. Er erklärte, dass da die Küche von ihrem Haus zu sehen sei und dass seine Mutter und sein Vater in der Küche sind und sich unterhalten. Als er mit dem fertigen Bild aufsteht, fragt die Erzieherin, ob er das Bild nicht mit ihr in die Portfoliomappe legen möchte. Sie gehen gemeinsam hin und das Gespräch vom Tisch zur Erklärung des Bildes wird wieder aufgenommen: »Das ist ja eine große in Küche in eurem Haus. Den Herd mit dem Topf, in dem deine Mutter das Essen kocht, hast du super gemalt.« Jannis guckt die Erzieherin etwas fragend an und sagt dann ganz erstaunt und etwas wütend: »Aber das ist doch mein Papa da am Herd – meine Mutter steht doch dahinten in der Küche.«

Dieses Gespräch wurde souverän weitergeführt, indem die Erzieherin geantwortet hat, dass sie nicht richtig nachgedacht habe. Bei ihr zu Hause koche sie meist selber, weil sie allein wohnt. Aber bei ihrer Freundin sei es auch so, dass der Vater kocht, weil er immer der Erste ist, der von der Arbeit heimkommt. Sie fragte Jannis dann, ob er denn auch gern in der Küche beim Kochen mithelfe? Die Information dieses Gespräches über das Bild war von unschätzbarem Wert und soll stellvertretend für die vielen Chancen, die im Erstellen eines Entwicklungsportfolios zu finden sind, stehen. Das Ergebnis dieses Gespräches wurde als Notiz ins pädagogische Portfolio aufgenommen. Das Pädagogische Portfolio ist eine ausgewählte Sammlung, mit deren Hilfe die Fachkraft pädagogische Arbeit und pädagogisches Handeln reflektieren kann. Die elementarpädagogische Fachkraft selbst legt das Portfolio an und nutzt es für die Gestaltung von Bildungsprozessen […] Das pädagogische Portfolio ist besonders gut geeignet, die Fachkraft darin zu unterstützen, Kinder gemäß ihrer individuellen Bedürfnisse zu stärken und

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Erzieherinnen und Jungen

Bildungsaktivitäten gezielt einzusetzen. Außerdem kann es genutzt werden, um die eigene Rolle als pädagogische Fachkraft zu reflektieren (Fthenakis u. a. 2009, S. 50).

Die Ausrichtung der Portfolioarbeit liegt im Erkennen des Kindes als Gesamtpersönlichkeit. Damit werden optimale Möglichkeiten zur Bildungsbegleitung geschaffen. Die Geschlechtsidentität und Rollenvorstellung des Kindes wahrzunehmen, stellt gleichfalls eine große Chance dar. Es bietet eine weitere Möglichkeit, eigene Biografiearbeit in Bezug auf Geschlechtsidentität zu leisten. Dieses Zusammenspiel ist die Grundlage für einen achtungsvollen, wertbewussten Umgang zwischen Kind, Eltern und Erzieher. Die Entwicklungspsychologie in Bezug auf die sozio-kulturelle Theorie bekräftigt dies: Statt Kinder als Individuen zu betrachten, die sich durch ihre eigenen Bemühungen einen Reim auf die Welt machen, betrachten sozio-kulturelle Theorien Kinder als soziale Wesen, deren Leben verwoben ist mit dem Leben anderer Menschen, die ihnen dabei helfen wollen, die Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die in der eigenen Kultur einen Wert besitzen (vgl. Siegler u. a. 2005, S. 225).

Zu diesem Thema haben Böhnisch / Funke (2001) treffend formuliert, dass es die Aufgabe von Fachkräften sei, Zwänge und Widersprüche zu durschauen und daraus Hilfen für den Einzelnen zu erarbeiten und anzubieten. Genau hier ist die Umsetzung in die Praxis ausgesprochen wirksam. Es gilt zu erkennen, in welchen Widersprüchen sich ein Kind befindet (in Bezug auf Jannis erfolgte der Ausschluss aus der Jungengruppe, weil er sich in den Rollenvorgaben nicht wohlfühlte, weil er andere kreative Ideen einsetzen wollte, weil er experimentieren wollte, weil er nicht immer das gleiche spielen wollte usw.). Die Erzieherin kann hier im Sinne der Sozialisationstheorien (vgl. Kapitel 2) von Hurrelmann (2003) als Vermittlerin der äußeren Realität eintreten und Problemlösungsstrategien anbieten. Auch im Abschnitt zu den gesetzlichen Grundlagen (vgl. Kapitel 3.1) wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine selbsttätige Entwicklung angestrebt werden muss und Jungen zu einer selbstbestimmten und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert werden sollen. Wichtig für die Jungenarbeit, so Boristowski (1996, S. 21), sei es, auch Jungen ihren eigenen Schutzraum anzubieten, in dem sie sich frei von

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Bewegungs- und Rollenkorsetts aufhalten können. Dieser Raum biete ausdrücklich einen Bereich für geschützte Gespräche. Die Sensibilisierung für eigenes Verhalten würde gefördert und Verhaltensalternativen würden angeboten. Den spezifischen Bedürfnissen der Freizeitgestaltung wird ein adäquates Angebot (Sport, Technik usw.) gegenübergestellt. Die besonderen Bedürfnisse von Jungen werden insgesamt nicht nur wahrgenommen, sondern es wird auch bewusst darauf eingegangen. Jungenarbeit soll ein Schonraum vor gesellschaftlichem Erwartungsdruck sein (Entlastungsfunktion). Die oben genannten Punkte zu Jungenarbeit zeigen wiederum deutlich, dass sehr viel Handlungsbedarf besteht – auch und gerade in Kindertagesstätten. Darum rechtfertigt sich jedes noch so aufwendige Umdenken, Umorganisieren und Umgestalten von Kindergartenpraxis, um den Prozess zu geschlechtergerechten Erziehungsbegleitung zu initiieren. Neben den geschilderten Beobachtungsmethoden, die einen wichtigen Grundstein für die Förderung von Kindern und insbesondere Jungen legen, sind für die Portfolioarbeit Gespräche mit den Kindern ein wichtiges Detail. Erzieherinnen, die geschlechtsspezifische Aspekte wahrnehmen wollen, müssen sich mit verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung beschäftigen. Es geht nicht nur darum, zu sehen, welche Kleidung ein Kind trägt und welches Spielzeug es in den Kindergarten mitbringt. Die Bedeutung, die das Kind selbst diesen Dingen gibt, ist entscheidend (Blank-Mathieu 2002, S. 29).

Die Bedeutung, die ein Kind einem Erlebnis, einer Erfahrung oder auch Gegenständen zuweist, können Erzieherinnen im aktiven Zuhören wahrnehmen. Dazu stellen einerseits Stuhlkreisgespräche eine gute Möglichkeit dar und sollten dementsprechend auch regelmäßig mit Gesprächs-Protokollen und Notizen verbunden werden. Ebenso wichtig ist es jedoch, als Mitglied in Gesprächsgruppen der Kinder einzutauchen. Dabei ist es möglich, als Mitglied im Rollenspiel beteiligt zu sein und eine Funktion innezuhaben, zum Beispiel bekommt man von den Spielern immer wieder gern die Rolle der großen Schwester angeraten oder die von der Oma. Damit ist die erwachsene Mitspielerin direkt ein Teil der Familie und kann gleichzeitig hören und sehen, mit welchen inneren Bildern die Kinder umgehen.

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Erzieherinnen und Jungen

Andererseits sind Gespräche am Maltisch eine wunderbare Erfahrung in Bezug auf die Einstellungen der Malenden. Die Maltischgespräche finden in der Regel in einer sehr entspannten Atmosphäre statt und bieten unerschöpflichen Reichtum – nicht nur in Zusammenhang damit, dass die Kinder über das Gemalte Auskunft geben. Besondere Qualität besitzt natürlich auch das persönliche Zweiergespräch: Die Jungen lieben körperliche Nähe und die Möglichkeit, zu einem Plausch auf dem Schoß. Vielleicht gibt es eine einfache einleitende Frage, wie: »Bist du heute auch etwas müde?« oder aber Gespräche über eine Spielsituation, die sehr lustig war. Leider sind diese Schoßkuschelgespräche eher der Fall, wenn Kinder sich weh getan haben oder traurig sind. Das ist schade, weil es dann vorzugsweise um Trost geht und demzufolge gar keine Möglichkeit besteht, Deutungen vorzunehmen oder Einstellungen zu erfragen. Die geschlechtsspezifisch relevanten Fragestellungen sollten Einsichten in folgende Themen erlauben: ◆◆

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In welcher Art und Weise erzählt das Kind über seine Familie (Mutter, Vater, Geschwister usw.) und in welcher Häufigkeit werden Personen benannt? Erzählt das Kind auch von Aktivitäten mit den Bezugspersonen und wie oft erlebt das Kind was? Was scheint besonders wichtig zu sein? Sind in der Familie und in der Umgebung regelmäßige Kontakte mit anderen Kindern möglich? Kennt das Kind die Berufe der Eltern? Kann es die Berufsbezeichnungen benennen oder auch Tätigkeiten erklären? Hat es bereits eigene Vorstellungen von Vorlieben für bestimmte Berufe? Wie erzählt das Kind über männliche oder weibliche Freunde? Wie beschreibt das Kind männliche und weibliche Bezugspersonen oder andere Jungen und Mädchen?

Was sich durch diese Gespräche mit aktivem Zuhören zusätzlich ermöglichen lässt, ist, konkrete Fragen zu stellen, die Eindrücke der Erzieherin widerspiegeln: »Ich habe den Eindruck, dass du dich im Moment besonders wohl in der Gruppe der Jungen fühlst und gar keine Mädchen bei euch haben möchtest? Stimmt das und gibt es dafür einen Grund?« Solche Fragen können auch gut aus den Ergebnissen der Beobachtungen resultieren und zum besseren Verstehen gezielt eingesetzt werden. Das Portfolio wird mit den Beobachtungen und Gesprächen einen

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

systematischen Zugang zum Gender Mainstreaming für die Kindertagesstätte initiieren. Da es sich um eine Querschnittsaufgabe handelt, wird folgend ein Gesamtkonzept vorgeschlagen: Jedes Kind wird entsprechend seiner Entwicklung mit Kopf, Herz und Hand begleitet und daraus ergibt sich auch die Schwerpunktsetzung der Aufgabenverteilung im Team. Die Mitarbeiterinnen können sich entsprechend ihrer eigenen Vorlieben in das Team einordnen. Das Team entwickelt somit ein Konzept, welches den jeweiligen Persönlichkeiten angepasst wird. Damit spiegelt es gleichzeitig die Werte jeder einzelnen Erzieherin wider sowie die konzeptionellen Leitziele der Einrichtung. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die Kindertagesstätte dem Gedanken und der Haltung gegenüber verantwortlich fühlt, einen fortlaufenden Prozess für geschlechtergerechte Erziehung zu leben und ausdrücklich kein Thema abzuarbeiten. Die inhaltliche Struktur zum Kopf-, Herz- und Hand-Konzept gliedert sich folgendermaßen: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

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Kopf entspricht dem Bereich Wissen und Wissenschaft. Herz entspricht dem Bereich Portfolioarbeit (Dokumentation). Hand entspricht dem Bereich praktische Umsetzung mit den Kindern. Die Erzieherinnen, die sich dem Bereich Wissen und Wissenschaft zuordnen möchten, können sehr gut mit den Informationen dieses Buches umgehen und alle wichtigen Erklärungen herausarbeiten, um sie im Team vorzustellen. Der Wissensbereich wird daher Basisinformation für das weitere professionelle Handeln sein. Die Gruppierung mit diesem Aufgabenfeld wird, neben der Einführung in die Theorien, auch noch einen zweiten Schwerpunkt verantworten, nämlich das Projektmanagement insgesamt. Es wird von diesem Team erwartet, dass sie der Gesamtgruppe einen Rahmen zur Verfügung stellen, in dem sie arbeiten können. Sie verantworten zusätzlich auch die Prozesssteuerung von Gender Mainstreaming und befähigen somit alle, ihre Aufgaben möglichst gut ausführen zu können. Damit sind sowohl die passenden Vorabanalysen zur Ausgangssituation, die Arbeitszeitmodelle und Personaleinsatzpläne verbunden als auch die Außendarstellung und die Trägerinformation.

Es muss ein Grobraster für die Ziele erstellt werden: Wann welches Ziel umgesetzt werden soll und wie der Erfolg definiert wird.

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Erzieherinnen und Jungen

Ein Beispiel: Es entwickelt sich ein Schwerpunkt Raumgestaltung. Die Mitarbeiterinnen haben die Raumsituation genau angeschaut und festgestellt, dass deutlich zu viele niedliche Dekorationen in den Räumen vorhanden sind und die Kinder auch wenig Rückzugsecken haben, in denen sie sich unbeobachtet aufhalten können. Nun wird eine genaue Prioritätenliste für die Umgestaltung erstellt, die Kosten werden ermittelt, die Aufgaben werden verteilt, die Zeitschiene wird festgesetzt und schlussendlich wird die Deadline festgelegt. Damit ist das Team, welches sich für den Bereich Kopf verantwortlich fühlt, gut ausgelastet. Die Gruppe, die den Aufgabenbereich Herz bewerkstelligt, fühlt sich für den aufwendigen Bereich der Portfolioarbeit zuständig, der bereits vorab ausgeführt wurde. Dann haben wir noch die Gruppierung mit dem Themenbereich Hand. Diese Praktikerinnen werden: die Raumgestaltungen verändern und darauf achten, dass kompetenzerweiternde Aktivitäten angeregt werden, dass Körpererfahrungsräume geöffnet werden durch Bewegungsbaustellen, Boxsäcke und vor allem durch Spielmöglichkeiten, die unbeaufsichtigt genutzt werden können. Die Spielmaterialien müssen gemustert werden und sind evtl. auszutauschen. Die didaktischen Materialien, die Erfahrungen im MINTBereich eröffnen, müssen angeschafft werden, die Spielaußenflächen müssen auf ihre Tauglichkeit zum sich Zurückziehen, zum Matschen und Ausagieren geprüft werden usw.

Mit diesem Kopf- Herz- und Hand-Konzept setzt sich jede Erzieherin für den Bereich ein, der ihr am meisten entspricht und fühlt sich anschließend verantwortlich, diese Aufgabe gruppenübergreifend in die Wege zu leiten. Damit wird das Potenzial jeder einzelnen Mitarbeiterin als Ressource begriffen und zur professionellen Umsetzung in der Kindertagesstättenarbeit herangezogen. Daraus resultiert wiederum die Anerkennung, das Gender Mainstreaming in der Kindertagesstätte als Querschnittsaufgabe zu verstehen und sowohl kontinuierlich als auch prozessorientiert umzusetzen. Der Anteil der Selbstreflexion der pädagogischen Fachkräfte stellt eine

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

Voraussetzung für die eigenen Möglichkeiten dar, geschlechtsreflexiv arbeiten zu können. Bevor dieses sensible Thema in einem Unterpunkt ausgeführt wird, bleibt festzuhalten: Fazit Wichtig für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Mädchen ist es, den inneren, heimlichen Bauplan in Bezug auf die Geschlechterrollen der Kinder zu erfahren. Es stellt für Erzieherinnen eine große Chance dar, über Beobachtung (Dokumentation) und Gespräche einen geschlechtergerechten Prozess zu initiieren, der von Fachwissen und Selbstreflexion getragen wird.

Selbstreflexion von Erzieherinnen Gerade in Gesprächen und in der Beobachtung von Jungen werden sehr viele Facetten ihres heimlichen Bauplans in Erscheinung treten und die vielen Seiten, die ein Junge in sich vereint – die empfindliche, verletzliche und die des Draufgängers – werden sichtbar. Es ist wichtig, alle Anteile im Jungen zu akzeptieren und diese zu unterstützen. Viele Erzieherinnen fühlen sich jedoch zwiespältig in ihren eigenen Gefühlen in Zusammenhang mit Rowdytum, Lautstärke, Schimpfwörtern und Aggression  – gerade wenn es von den Jungen kommt. Darum ist es unerlässlich für die Bildungsbegleitung von Jungen, eine genderbezogene Selbstkompetenz zu erhalten. Wesentliche Themen für das Erlangen geschlechtsbezogener Kompetenz sind nach Kunert-Zier (2005, S. 291): ◆◆

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Selbstreflexion zum Umgang mit dem eigenen Geschlecht, bewusstes Wahrnehmen eigener Ambivalenzen, Ängste und Vorstellungen von den Geschlechtern. Akzeptanz von Verunsicherung über Geschlechter als Voraussetzung für eine begleitende Offenheit gegenüber den Adressatinnen im Prozess des Doing Gender. Erkennen und Ausloten eigener Grenzen und Möglichkeiten im Umgang mit den Geschlechtern.

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Bewusste Qualifizierung eigener Fähigkeiten für die geschlechtsbezogene Pädagogik (vgl. Kapitel 3.4). Entwicklung kommunikativer Kompetenzen, Konflikt- und Dialogfähigkeit (vgl. Kapitel 3).

Jegliches Professionalisieren wird nur dann mit Erfolg abgeschlossen, wenn es mit größtmöglicher Authentizität, im persönlichen Tempo und auch innerhalb der eigenen Tradierungsgrenzen jeder einzelnen Erzieherin geleistet werden kann. Eigene Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren und dem Team sowie den Kindern gegenüber zu vertreten, ist ein bedeutsamer Beitrag. Von da aus ist fortwährend Bewegung möglich und insofern stellt es einen positiven Aspekt in der Selbstreflexion dar. »Hier stehe ich heute und in einem Monat möchte ich da sein!« Erweiternd dazu ist es notwendig, sich mit Erfahrungen, Ängsten und sonstigen Blockaden auseinanderzusetzen, zum Beispiel: »Ich bin in einer von Frauen dominierten Herkunftsfamilie aufgewachsen und habe mich bewusst dafür entschieden, nur mit Frauen zu arbeiten, weil ich männlichen Hierarchien nicht ausgesetzt sein möchte.« Schlussendlich wird sich daraus ein Bild ergeben, das der Verunsicherung zu dem Themenfeld der Genderthematik mit etwas mehr Gelassenheit begegnet werden kann – nicht zuletzt durch den bewussten Erkenntnisgewinn. Kunert-Zier (2005, S. 292) betont in diesem Zusammenhang: Um die Gefahr einer persönlichen Überforderung in der Geschlechterpädagogik vorzubeugen, erscheint es mir besonders wichtig, Ambivalenz und Unsicherheiten hinsichtlich der Geschlechter offenzulegen und diskutierbar zu machen. Dies ist notwendig, weil das Auskommen ohne klare Identitätskonzepte grundsätzlich Verunsicherung beinhaltet. Deshalb sind Reflexionszusammenhänge, die diese Prozesse bearbeiten und unterstützend begleiten, unverzichtbar. Die Akzeptanz der eigenen Verunsicherung über Geschlechterkonstruktion scheint eine wesentliche Voraussetzung dafür zu sein, den Mädchen und Jungen im Prozess des Doing Gender offen und begleitend zur Seite stehen zu können. Für die SozialpädagogInnen heißt dies, Sicherheit und Klarheit darin zu finden, dass es keine eindeutigen Geschlechterzuordnungen gibt und den Mädchen und Jungen dennoch zu vermitteln, dass sie so »wie sie sind« akzeptiert und angenommen werden.

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In diesem Zitat wird bereits Genanntes zusammengefasst und um die Erkenntnis erweitert, dass es auch als selbstverständliche Botschaft an die Kinder weiterzuleiten ist, dass sie als Individuum wahrgenommen werden und nicht in erster Hinsicht als Junge oder Mädchen. Blank-Mathieu (2002, S.  105 f.) schildert in diesem Zusammenhang, dass infolge einer ausgiebigen Reflexion auch ein geringeres Risiko besteht, Jungen oder Mädchen geschlechtsspezifisch zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Sie schlägt folgende Fragen zur Selbstreflexion vor: ◆◆ ◆◆ ◆◆ ◆◆

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Welche Gefühle habe ich in Bezug auf meine Geschwister? Wie haben sich meine Eltern uns gegenüber verhalten? Wie habe ich Brüder und Schwestern erlebt? Welche Aufgaben habe ich zugeteilt bekommen, weil ich ein Mädchen war, oder welche Aufgaben haben meine Brüder übernommen? Welches Verhalten wurde bei mir getadelt? Wofür wurde ich belohnt? Was wurde mir nicht zugestanden? Welche Personen außerhalb der Familie nahmen mich als Mädchen anders wahr, als dies bei einem Jungen der Fall gewesen wäre? Wer versucht auch heute noch auf welche Weise mich als Frau »festzulegen«? Bin ich gern eine Frau – und warum (nicht)? Welche der vorstehenden Fragen löst ein besonders starkes positives oder negatives Gefühl in mir aus?

Dieser ausführliche Fragenkatalog dient innerhalb der Selbstreflexion der Erzieherinnen dazu, sich in die eigene Kindheit zurückzuversetzen. Es können Gefühle aktiviert werden, die in Zusammenhang mit den eigenen Erfahrungen in der geschlechtlichen Sozialisation erlebt wurden. Dadurch wird es möglich, sich von außen als erwachsene Frau zu betrachten, was wiederum eine isolierte Betrachtung der eigenen geschlechtlichen Sozialisation erlaubt. Die eigenen Sozialisationsvorgänge und -merkmale als Fachfrau betrachten zu können, ist eine unerlässliche Vorgabe und gleichermaßen ein besonderer Schatz im Umgang mit den Kindern. Es ist nicht zuletzt dadurch möglich, sich in die Kinder hineinzuversetzen und ihnen emphatisch zu begegnen. Mit den vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass es von der professionellen geschlechtsreflexiven Persönlichkeit der Erzieherin

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Geschlechtsspezifische Jungenarbeit als Grundlage für Chancengleichheit

abhängt, ob sich das Gender Mainstreaming-Konzept in der Kindertagesstätte durch geschlechtergerechte Erziehung ausweist. Letztendlich geht es auch darum, sich für den gesellschaftlichen Auftrag einzusetzen, Chancengleichheit zu initiieren und nicht stillschweigend zu akzeptieren, dass Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern bestehen bleiben können.

3.5 Geschlechtsspezifische Jungenarbeit als Grundlage für Chancengleichheit In dem vorangegangenen Kapitel wurde bereits ausführlich in die geschlechtergerechte Bildungsarbeit in Kindertagesstätten eingeführt. Diesen Prozess wirkungsvoll zu verantworten bedeutet, sich für Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft zu engagieren. Entsprechend den Ausführungen im Schwerpunkt zu den Empfehlungen des BEPs (vgl. Kapitel 3.2) wird nun vervollständigend noch einmal darauf verwiesen, dass zum Beispiel der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan in seinem Kapitel zur geschlechtssensiblen Erziehung aussagt, dass die Kinder in erster Linie als Persönlichkeiten mit individuellen Stärken zu betrachten sind und nicht als Mitglied einer Geschlechtergruppe. Zugleich wird aber ein geschärfter Blick für die Lebenswelten von Jungen und Mädchen erwartet. Erzieherinnen betonen auf der einen Seite, dass jedes Kind »anders ist« und individuell behandelt werden muss, auf der anderen Seite haben sie sich selbst zur Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen verdonnert – vermutlich weil ihnen dieses Vorgehen zur Lösung des Problems am praktikabelsten erscheint oder weil sie glauben, dass sie auf diese Weise beide Geschlechter gleich gerecht behandeln. Die Einstellung der Fachkräfte für die Notwendigkeit eines veränderten Handelns ist vorhanden und im Bewusstsein verankert. Die Umsetzung ist derzeit aber noch zu oft in der »vermeintlichen Gleichbehandlung der Geschlechter« geparkt. Kinder haben unterschiedliche Anlagen, die insbesondere im Bereich Geschlecht viel Aufmerksamkeit, aber keiner Gleichbehandlung bedürfen. Die Bedürfnisse von Jungen und Mädchen weichen voneinander ab und somit

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Die Situation von Jungen in der Kindertagesstätte

sind die angemessenen pädagogischen Konzepte auch unterschiedlich (zum Beispiel das Bewegungsareal für Jungen ist zu vergrößern). Gleichwertigkeit anzustreben heißt auch, »untypisches« Rollenverhalten und ungewöhnliche Interessen zu ermöglichen (Haug-Schnabel 2005, S. 129).

Die Verantwortung der Erzieherin erschließt sich nicht nur darin, die Kinder nicht geschlechtsneutral zu betrachten, sondern sie erstreckt sich auch in den Bereich der eigenen Wahrnehmung in ihrer persönlichen Frauenrolle (vgl. Schwerpunkt zur Selbstreflexion). Das Bewusstsein dafür muss entwickelt werden, dass jedes pädagogische Handeln zuerst durch das eigene Geschlecht bestimmt wird, mit dem immer eine Wirkung auf die Kinder vollzogen wird. Das bedeutet im Umkehrschluss für die Kinder, dass sie alles Handeln als Handlung einer Frau (eines Mannes) einordnen. Damit ist jede Erzieherin, jeder Mann und jede Frau eine dingliche Sozialisationsinstanz und gleichzeitig ein Rollenvorbild und somit Identifikationsfigur: »Frauen sind meist nett und haben eine liebe Stimme, genau wie meine Erzieherin Petra und meine Mama.« Andererseits wird gleichzeitig auch der persönliche Lebensentwurf in Zusammenhang mit dem Ausfüllen der Rolle Frau (Mann) widergespiegelt: »Bei uns zu Hause kocht Papa. Bei Petra nicht, die wohnt allein und muss auch allein kochen!« Das ausdrückliche Auseinandersetzen mit der eigenen Biografie ermöglicht es, das persönliche Anliegen in der Geschlechterfrage zu klären. Zusätzlich gestattet es, sich darüber bewusst zu werden, welche eigenen Sichtweisen und Haltungen das pädagogische Handeln prägen: »Handele ich als Erzieherin (und fortschrittliche Frau) zu häufig als Mutter und Fürsorgerin?« Über die biografische Reflexion hinaus ist die Fachkraft in Kindertagesstätten der Aufgabe verpflichtet, sich für die gesellschaftliche Teilhabe der Kinder starkzumachen. In diesem Zusammenhang wird der Verweis auf den bereits genannten § 9.3 relevant, dessen Umsetzung eng damit verbunden werden kann, geschlechtsspezifische Forschungsfragen in die Kindergartenpraxis zu befördern, um auf diese Weise eine Stärkung der Teilhabe der Kinder zu erwirken (sozusagen eine den wissenschaftlichen Ergebnissen entsprechend initiierte Teilhabe). Beispielsweise könnte der geschlechterdifferente Zugang zu Bildungschancen diskutiert werden und inwieweit das Lernen, dem jeweiligen Individuum gemäß, anschlussfähig ist. Einfluss nimmt gewissermaßen auch

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Geschlechtsspezifische Jungenarbeit als Grundlage für Chancengleichheit

die Förderung gesellschaftsrelevanter Kompetenzen – etwa kommunikative Fähigkeiten und Körperbewusstsein speziell für Jungen. Als zweiter Punkt könnte die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen von Kindertagesstätten ein Garant für die geschlechtergerechte Einstellung der Mitarbeiter und ihre professionelle Absicherung sein, sich verpflichtend in den Belangen für ihre Chancengleichheit einzusetzen. Dazu sollten folgende Themenbereiche einer deutlichen Aufklärung unterworfen und mit entsprechenden fortlaufenden Handlungskonzepten abgesichert werden. ◆◆

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Werden den jeweiligen Geschlechtern Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsbereichen sowie Lern- und Spielmöglichkeiten innerhalb der institutionellen Bedingungen verwehrt? Welche Ideologien sind im Fachpersonal der Erzieherinnen verankert – sowohl als Frau an sich – als auch im beruflichen Selbstverständnis? Welche eigene Lernbiografie versteckt sich zum Beispiel in den Handlungsanweisungen der Kinderpädagoginnen (Reflexion der Erzieherinnenausbildung). Chancengleichheit kann nur entstehen, wenn ich Kinder mit ihrem jeweiligen Geschlecht wahrnehme und erfasse, in welcher Art und Weise sich das Kind selbst in seiner geschlechtlichen Identität wahrnimmt. Jede Erzieherin muss das Kind in seiner eigenen Rolle entdecken und einschätzen können. Das ist die Grundlage, um den Jungen oder das Mädchen, den Möglichkeiten entsprechend, zu fördern. Dann entsteht Chancengleichheit im Sinne von Chancengerechtigkeit.

Verhältnisse zwischen den Geschlechtern sind veränderbar und werden immer wieder neu konstruiert. Dies geschieht in Abhängigkeit zu sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen (vgl. BEP, 2006). Geschlechtergerechte Erziehung als Querschnittsaufgabe muss infolgedessen als Prozess gesehen und auch durchgehalten werden. Rohrmann (1998) formuliert sehr konkret weitere hinterhältige Fallen, die den fortlaufenden Prozess behindern oder sogar unterbrechen können: Erzieherinnen sollen im Umgang mit dem Thema Jungensozialisation und insbesondere durch Biografie-Arbeit folgende Ziele erreichen: ◆◆

Sensibel werden für die eigene Einstellung in Bezug zu der Aufgabe Jungensozialisation und parallel den eigenen Blickwinkel und die persönlichen Grenzen wahrnehmen.

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Die Möglichkeiten erweitern, sich in Jungen einzufühlen und in diesem Zuge auch die eigenen Kompetenzen erweitern. Individuelle, aggressive Anteile sollen ausdrücklich gelebt werden, genauso wie sogenannte unweibliche Aktionen (toben, Fußball spielen, raufen usw.). Eventuelle Widerstände, die von den Kindern, den Eltern, dem Team und oder den Vorgesetzten prozessbehindernd auftreten, sind nicht das Ende der konzeptionellen Veränderung. Sie stellen lediglich eine kurzzeitige Hürde im Gesamtprozess dar. Auch der eigene Wunsch zur Veränderung wird von immer neuen Fragen bestimmt und beinhaltet somit, ein Geschehen mit fortwährender Neubewertung zu sein. Die Kindertagesstätte ist ein weiblicher Ort, die Gestaltung und das Team sind dadurch bestimmt. Jedoch wird dieser weibliche Ort oft von Männern geleitet oder bezahlt (Träger). Geduld, Aufopferungsbereitschaft, Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit sind Tugenden, die Frauen zugeschrieben werden. Diese werden in der Arbeit mit den Kindern von Erzieherinnen ungefragt erwartet. Macht und Verantwortung in der Tagesstätte unterliegen einer bestimmten Verteilung und einem stillverschweigenden Abkommen. Erziehen wird nicht als richtige Arbeit geachtet und könnte immer noch als schlecht bezahlte Mütterlichkeit missachtet und schlimmstenfalls auch so empfunden werden. Erleben die Kinder die Erzieherin als Mutterersatz oder als eine Fachfrau die ihren Beruf ausübt?

Mit diesen Ausführungen wird deutlich, dass sich geschlechtsbezogene Jungenarbeit in Tagesstätten aus dem Anspruch der Kinder speist, aber auch den Bedarf (Leidensdruck) bei den Fachkräften direkt bedient. Die Einstellung zur geschlechtsbezogenen Jungenarbeit als eine Querschnittsaufgabe in den Kindertagesstätten sichert insofern Chancengerechtigkeit für die Kinder und gleichzeitig für die Erzieherinnen. Nicht zuletzt ist auch die Gesellschaft an sich Nutznießerin dieser Aufgabe.

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Zusammenfassung

Fazit Geschlechtsspezifische Jungenarbeit heißt definitiv nicht, Jungen und Mädchen gleich zu behandeln. Von Erzieherinnen wird erwartet einen geschärften Blick auf die beiden unterschiedlichen Lebenswelten zu haben. Das bedeutet zunächst Biografiearbeit, Selbstreflektion und dann aktive Positionierung. Damit vollzieht sich der Prozess von Gender Mainstreaming in der Kita als Grundlage für Chancengerechtigkeit.

3.6 Zusammenfassung Gender Mainstreaming in Kindertagesstätten ist eine prozessorientierte Querschnittsaufgabe für das Gesamtteam. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert keine umfassenden rechtlichen Grundlagen für den Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit. In den Erziehungs- und Bildungsplänen der verschiedenen Bundesländer wird weder die geschlechtssensible Erziehung noch das Thema Chancengerechtigkeit mit vergleichbarer Wichtigkeit bearbeitet. Der Bayerische Erziehungs- und Bildungsplan enthält eine gute Stellungnahme und die Empfehlungen sind praxisgerecht. Jede Kindertagesstätte muss sich ein auf das jeweilige Team zugeschnittene Konzept erarbeiten  – dessen Schwerpunkte basieren einerseits auf fachlichem Wissen und Selbstreflexion und andererseits auf Beobachtung und Dokumentation zum Beispiel als Portfolioarbeit. Geschlechtsspezifische Jungenarbeit ist ein Recht der Jungen, welches aus Versäumnissen resultiert, die auch aus der Art und Weise des Vorgehens in der Emanzipationsbewegung hervorgehen. Geschlechtergerechte Erziehung ist ein aktiver Teil unseres gesellschaftlichen Veränderungsprozesses und hat ihren Ursprung in dem Streben nach Chancengleichheit zwischen Mann und Frau.

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Ausblick

Ich fühle mich oft von Menschen und Büchern unverhofft angesprochen. In diese Kategorie fällt auch die Begegnung mit einem Wandergesellen, von der ich berichten möchte. In dem Moment, als ich ihn sah, wusste ich schon, dass es sich um eine besondere Begegnung handelt. Eine glückliche Fügung sozusagen. Ich kam gerade aus Lindau, wo ich ein wunderschönes Geburtstagswochenende erlebt hatte und mich im Anschluss daran auf einen wichtigen Arbeitstermin vorbereiten musste. Auf dem Weg zu dem Termin verkündete der Verkehrsbericht, dass alle Autobahnen sehr stark befahren seien und noch mehrere Staus vor mir liegen. Ich musste zunächst tanken und fuhr zur Tankstelle, an der der besagte Wandergeselle stand und mir sogleich auffiel. Entgegen meiner sonstigen Vorsicht gegenüber Anhaltern siegte meine Neugier und ich erklärte mich nach kurzem Nachdenken bereit, ihn ein Stück in Richtung Norden mitzunehmen. Wir legten seinen Stanz (Wanderstab) und seine in Charlottenburger (Halstücher) eingewickelten Habseligkeiten in den Kofferraum. Ich hatte unterschätzt, wie ungewöhnlich mir der »Duft der großen weiten Welt« aus der traditionellen Handwerkerkleidung, dann doch in meinem Auto vorkommen würde. Felix erklärte mir, dass er sich auf den Winter freue, weil er dann nicht mehr so schwitzen muss in seiner Kleidung. Dann brach meine endlose Flut von Fragen über den Schreiner auf Wanderschaft herein. Ich erfuhr, dass die Vereinigungen Schacht heißen und die Kleidung oder der Ohrring darauf schließen lassen, wozu man jeweils gehört. Ich hörte von Bannmeilen (Gebiete, die nicht betreten werden dürfen), vom Reisen ohne Handy und ohne überhaupt für die Reise zu bezahlen, von Sommerlagerarbeiten für einen sozialen Zweck, von der ursprünglichen Kultur der Wandergesellen und von unzähligen Traditionen und Ritualen. Gerade war er unterwegs nach Lübeck, weil dort eine Losgehparty anstand. Ein neuer Wandergeselle ging auf Reisen. Wenn sich ein wandernder Handwerker entscheidet heimzugehen, was sehr häufig nach fünf Jahren Wanderschaft der Fall ist, dann wird er eine Woche lang auf seinem Heimweg begleitet.

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Ausblick

Ich hätte ewig so weiter fragen können nach den Traditionen und Beweggründen, die das Leben eines Handwerkers auf Wanderschaft erfüllen. Mein berufliches Interesse an dieser Spezies der Männerkultur konnte kaum gestillt werden. Ich musste mir eingestehen, dass ich gern mitgereist wäre. Dann würde ich vielleicht mal ein bisschen mehr verstehen von der Magie der männlichen Bedürfnisse, was Rituale und Traditionen betrifft, so dachte ich mir. Gerade formulierte ich im Kopf alle dementsprechend sensiblen Fragestellungen, als ich erfuhr, warum er sich für seinen Schacht entschieden hatte: Er hatte sich für eine junge Vereinigung entschieden und zwar, weil da Frauen aufgenommen werden. Er könne sich nicht mit einem Schacht identifizieren, der reisende Handwerkerinnen ausschließe. Das sei doch eine Selbstverständlichkeit! Das überraschte mich. An dieser Stelle sprachen wir nicht weiter über mögliche Ausführungen zur Chancengleichheit, Diskriminierung von Frauen oder Männern, Gender oder sonstigen Schwerpunkten. Seine Aussage war als gelebt und verinnerlicht gesetzt. Diese Begegnung hatte mir einen Mann gezeigt, bei dem ich erkennen konnte, dass er am anderen Ende von Gender-Mainstreaming angekommen ist. Er dokumentiert und evaluiert dieses Anliegen nicht mehr, er lebt es. Und das – um es ganz deutlich zu machen – innerhalb einer Gemeinschaft, die sich aus traditionellen, männlichen Ritualen und Verpflichtungen speist. Meine Theorien zu Doing Gender für eine wertschätzende und chancengerechte Partnerschaft zwischen Frauen und Männern erweiterten sich zu dem Interesse, die Forschungen auf neue Bereichen zu lenken. Der Kern des Problems scheint mir noch immer in der Tatsache beheimatet, dass es bisher nicht gelungen ist, eine Beziehungsebene zu schaffen, in der beide Partner authentisch sein und bleiben können. Wenn sich das Paar durch die Geburt eines Kindes zu einer Familie entwickelt, ist es den beiden möglich auf unterschiedliche Rollenmodelle zurückzugreifen und zusätzlich auf Unterstützungsprojekte, die beispielsweise auch von der Wirtschaft und Politik gefördert werden, zu setzen. (vgl. Kapitel 2.5). Was sind aber die wahren Hebel für einen Paradigmenwechsel in Bezug auf gelebte Chancengerechtigkeit zwischen den Geschlechtern? Der Schlüssel dazu wird meiner Einschätzung nach darin zu finden sein, dass der männlichen Lebenslage jetzt Priorität eingeräumt wird. In

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diesem Gedankengut und Interesse unterstützt mich das Buch Die Wandervögler der Psychologin Catherine Herriger. Sie vertritt die These, dass viele Männer zum Teil unreif bleiben, weil sie einseitig und schmalspurig er- oder verzogen wurden und dass der emotionale Aspekt bei der Erziehung eines Jungen entweder zu kurz gekommen sei oder ganz im Gegenteil, der Junge derart verwöhnt und bevorzugt wurde, dass er nie wirklich lernen musste, an andere zu denken oder Rücksicht zu üben (vgl. Herriger 2011, S. 187 f.). Meggy, eine Interviewpartnerin von Catherine Herriger, erwiderte daraufhin, dass sie einen andere Blickwinkel hat: Männer seien eigentlich auch als Erwachsene nur große Kinder mit Bedürfnissen, die eher einfach strukturiert sind. Das eigentliche Problem sei, dass sie dazu nicht stehen können (vgl. Herriger 2011). Interessant ist, wie Frauen und Männer den Paradigmenwechsel der wertschätzenden, chancengerechten und authentisch geprägten Partnerschaft und Lebenswelt gemeinsam vollziehen werden.

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Zur Autorin

Ilka Weigand, Erzieherin und Dipl. Sozialpädagogin, war viele Jahre in der Krippe, Hort und Kindertagesstätte sowie einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbehinderung tätig. Sie übernahm die Konzeption vom KIGA-Kongress, den Aufbau der ersten Fachmesse für ErzieherInnen, der nach fünf Jahren ein Teil der didacta – die Bildungsmesse wurde.

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Literatur

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701324 — ISBN E-Book: 9783647701325