»Für Dein Alter siehst Du gut aus!«: Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven [1. Aufl.] 9783839413210

»Für Dein Alter siehst Du gut aus!« - Diese Alltagsfloskel bezeugt die instabile Korrelation von Alter und körperlicher

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»Für Dein Alter siehst Du gut aus!«: Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven [1. Aufl.]
 9783839413210

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ Körpernormierungen zwischen Temporalität und Medialität
Körpernormierungen und Praktiken der Arbeit gegen das Altern
Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativ produzierten Hinfälligkeit des Körpers
‚Konsumklassizismus‘: Körperrasuren zwischen Pornographie und Zeitlosigkeit
Natürlich künstlich glatte Haut. Demi Moore, Brigitte Nielsen und ihre Körpertechnologien in den Massenmedien
Alte Liebe rostet nicht. Alterssexualität in der Ratgeberliteratur der 1980er und 1990er Jahre
(Ent-)Pathologisierungen des Alter(n)s
Zur medialen Repräsentation alter behinderter Körper in der Gegenwart
Fremde im Spiegel: Körperwahrnehmung und Demenz
Die Schwächung des Körpers im Lauf der Zeit – zur Bedeutung der Temporalität in den Körperkonzepten pflegebedürftiger Personen
Einsprüche und Perspektiven kritischer Invention
Zum Verhältnis von Körperlichkeit und Körpernormen: ethische Überlegungen
„Man sieht Dir die Cyborg gar nicht an!“ Über Altern und ‚Cyborgisierungen‘
„Un/an/geeignete Andere“ Temporalität als ‚Altern‘ in der Gegenwartskunst
Undoing Age. Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text
„Wie spielt man Altsein?“ Darstellungen des Alter(n)s im zeitgenössischen Theater
Arbeit am Generationengefüge. Die fotografischen Körper der Annegret Soltau
Autorinnen und Autoren

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Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!«

2010-05-10 11-27-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cc241272276178|(S.

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Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.)

»Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven

2010-05-10 11-27-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cc241272276178|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby und Franziska Gilbrich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1321-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Vorwort Einleitung: „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ Körpernormierungen zwischen Temporalität und Medialität SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

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Körpernormierungen und Praktiken der Arbeit gegen das Altern Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativ produzierten Hinfälligkeit des Körpers HANNELORE BUBLITZ

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‚Konsumklassizismus‘: Körperrasuren zwischen Pornographie und Zeitlosigkeit JÖRG SCHELLER

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Natürlich künstlich glatte Haut. Demi Moore, Brigitte Nielsen und ihre Körpertechnologien in den Massenmedien THOMAS KÜPPER

69

Alte Liebe rostet nicht. Alterssexualität in der Ratgeberliteratur der 1980er und 1990er Jahre ANNIKA WELLMANN

89

(Ent-)Pathologisierungen des Alter(n)s Zur medialen Repräsentation alter behinderter Körper in der Gegenwart MARKUS DEDERICH

107

Fremde im Spiegel: Körperwahrnehmung und Demenz HEIKE HARTUNG

123

Die Schwächung des Körpers im Lauf der Zeit – zur Bedeutung der Temporalität in den Körperkonzepten pflegebedürftiger Personen ULRIKE MANZ

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Einsprüche und Perspektiven kritischer Invention Zum Verhältnis von Körperlichkeit und Körpernormen: ethische Überlegungen UTA MÜLLER

155

„Man sieht Dir die Cyborg gar nicht an!“ Über Altern und ‚Cyborgisierungen‘ STEFANIE SCHÄFER-BOSSERT

177

„Un/an/geeignete Andere“ Temporalität als ‚Altern‘ in der Gegenwartskunst BARBARA PAUL

197

Undoing Age. Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text MIRIAM HALLER

215

„Wie spielt man Altsein?“ Darstellungen des Alter(n)s im zeitgenössischen Theater MIRIAM DREYSSE

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Arbeit am Generationengefüge. Die fotografischen Körper der Annegret Soltau SABINE KAMPMANN

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Autorinnen und Autoren

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Vorw ort SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY Die vorliegende Publikation basiert auf Beiträgen einer multidisziplinären Tagung mit dem Titel „‚Für Dein Alter siehst Du gut aus!‘. Körpernormierungen zwischen Temporalität und Medialität“, die am 12. und 13. Dezember 2008 an der Justus-Liebig-Universität Gießen von der Arbeitsstelle Gender Studies in Kooperation mit dem Institut für Kunstgeschichte und der Frauenbeauftragten der Universität veranstaltet wurde. Die Idee zur Tagung ist im Kontext des Interdisziplinären Forschungskolloquiums der Arbeitsstelle Gender Studies im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Thema „Biopolitik“ entstanden. Ausgehend von der Frage nach den geschlechterpolitischen Implikationen biotechnologischer Zugriffsmöglichkeiten auf den Körper und nach den Möglichkeiten von Kritik und Subversion aus der Perspektive feministischer Theorie, hat sich das Themenfeld Körpernormierungen und Alter(n) als ein zentraler Forschungsgegenstand herauskristallisiert, an dem zugleich die Potentiale und Herausforderungen interdisziplinärer Zusammenarbeit im Sinne der Reflektion der jeweils ‚eigenen‘ Zugänge und Logiken der Gegenstandskonstitution und ihrer ‚Übersetzung‘ bzw. ihrer ‚Übersetzbarkeit‘ für ‚andere‘ Disziplinen deutlich wurden. Im Verlauf der Tagung, zu deren konzeptioneller Entwicklung die Gespräche mit der Theologin Uta Schmidt wesentlich beitrugen, sind diese produktiven Herausforderungen vor allem in der Diskussion der Vorträge sichtbar geworden, die wir – quer zu den beteiligten Disziplinen – thematisch gebündelt hatten. Die vorliegende, um einige weitere Beiträge ergänzte Publikation behält diese thematische Fokussierung bei. Leider ist es nicht möglich, die inspirierenden Diskussionen der Tagung, die sich auch den Moderatorinnen Miriam Dreysse und Uta Schmidt verdanken, in einem Buch festzuhalten. Wir hoffen jedoch, dass die hier versammelten Zugänge und Perspektiven zum Thema Alter(n) und Körpernormierungen in den Köpfen der LeserInnen eine produktive Spannung erzeugen, die zum Weiter- und Querdenken anregt.

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SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

Für die organisatorische und finanzielle Unterstützung der Tagung möchten wir uns an dieser Stelle vor allem bei der Arbeitsstelle Gender Studies der Justus-Liebig-Universität Gießen herzlich bedanken. Wir danken ausdrücklich der Leiterin der Arbeitsstelle, Frau Prof. Dr. Barbara Holland-Cunz, für die großzügige Bereitstellung finanzieller Mittel zur Durchführung der Veranstaltung. Für finanzielle Unterstützung der Tagung haben wir uns weiterhin beim Institut für Kunstgeschichte und hier vor allem bei Frau Prof. Dr. Silke Tammen zu bedanken. Unser besonderer Dank gilt zudem der Frauenbeauftragten der Justus-Liebig-Universität, Frau Marion Oberschelp, die die Veranstaltung mit einer größeren Geldsumme gefördert hat. Bei der Planung, Organisation und Durchführung der Tagung waren Marta Krajinovic und Franziska Gilbrich eine große Hilfe. Ihnen sowie Diana Hammes, Katharina Volk und Torsten Wöllmann sei an dieser Stelle mit Nachdruck gedankt. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses haben wir ein weiteres Mal der Arbeitsstelle Gender Studies herzlich zu danken. Bedanken möchten wir uns auch bei der Gießener Hochschulgesellschaft e.V., die freundlicherweise Personalmittel für die Fertigstellung der Publikation bereit stellte. Franziska Gilbrich, die uns bei der Endredaktion des Bandes unterstützt hat, sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Dank gebührt schließlich auch den Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge – für Ihr Engagement und die gute Zusammenarbeit. Gießen, im April 2010

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Sabine Mehlmann und Sigrid Ruby

Einleitung:„ Für Dein Alte r s ie hst Du gut a us !“ Körpernormierunge n zw isc he n Te mpora lität und Me dialitä t SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

„Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ – sagen wir zu einer Freundin, einem Freund, zum eigenen Spiegelbild oder auch, dann indirekt formuliert, über eine dritte Person. Es ist ein nett gemeintes Kompliment, das vermutlich die meisten gerne hören. Doch die mittlerweile zu einer Alltagsfloskel geronnene Schmeichelei ist nicht so arglos, wie sie vorgetragen zu werden scheint. „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“, das ist ein Kompliment mit Vorbehalt und Platzanweisung gleichermaßen. Es positioniert die angeblich gutaussehende Person in einem fortgeschrittenen Lebensabschnitt, in einem gehobenen Alter, in dem der Anspruch auf ein perfektes körperliches Erscheinungsbild – so wird impliziert – verwirkt ist. Ungeachtet dieser vermeintlichen Einschränkung gelingt es der oder dem Gemeinten, gut und das heißt jünger auszusehen als er oder sie ist, das ‚wahre‘ Alter also zu unterlaufen, es zu kaschieren oder gar unsichtbar zu machen. Und das gilt als eine persönliche Leistung, die Anerkennung verdient und Bewunderung hervorruft. Die Plakat- und Illustrierten-Werbung spielt mit diesem Effekt, wenn sie prominente Frauen höheren Alters mehr oder minder erotisch inszeniert und deren erstaunlich jugendliches Erscheinungsbild in eine sinnfällige Verbindung mit den angepriesenen Produkten bringt (Abb.1).1

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S.a. die Inszenierung der US-amerikanischen Schauspielerinnen Sharon Stone und Jane Fonda in neueren Werbeanzeigen für Kosmetik-Produkte von Dior bzw. L’Oréal. 9

SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

Abbildung 1: Werbeanzeige der deutschen Wäschefirma Mey, Herbstkampagne 2009 „Me, MYseLf aNd MeY“, mit Uschi Obermaier

Bei genauerem Hinsehen erscheint die Alltagsfloskel „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ als eine doppelbödige Formulierung mit Aufforderungscharakter: Sie basiert auf dem herkömmlichen Gegensatz von alt und jung. Das als allgemeiner Konsens vorausgesetzte Schönheitsideal gehört (zu) der Jugend, während der ältere oder alte Körper als eine Abweichung von dieser Norm betrachtet und implizit als ein mangelhafter bzw. minderwertiger markiert wird. Das ‚freiwillige‘ Streben nach Jugendlichkeit, also nach ästhetischer Normerfüllung, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als ein strenges Gebot: Jede/r ist aufgefordert, am eigenen Körper zu arbeiten, um die sichtbaren Zeichen des Alter(n)s zu mildern oder gar zu eliminieren, so dass man ihm/ihr „das Alter (gar) nicht ansieht“. Aber welche Zeichen sind das? Und anhand welcher Zeichen wird die Diskrepanz zwischen dem – nunmehr unsichtbaren – ‚wahren‘ Alter und dem körperlichem Erscheinungsbild sichtbar gemacht? Woran, anhand welcher Vergleichsmomente bzw. -bilder, können wir erkennen, dass jemand „für sein/ihr Alter gut aussieht“? Die Doppelbödigkeit der Floskel, die mit dem ‚Lob‘ der Abweichung zugleich das ‚Lob‘ der Normerfüllung aufruft und zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Alter(n)s oszilliert, verweist auf eine weitere Paradoxie: Einerseits wird eine stabile Korrelation von Alter und Körperbild suggeriert. Der mit der Zeit fortschreitende Prozess des Alterns materialisiert sich am Körper, formt diesen Körper, scheint sich als unausweichlicher physischer Verfall in ihn einzuschreiben. Das ‚erfolgreiche‘ Unterlaufen eben dieses Prozesses setzt aber – andererseits – eine Entkopplung dieser vermeintlich festen 10

EINLEITUNG

Beziehung voraus: Hier ist es umgekehrt gerade die Instabilität der Relation von Körper und Alter bzw. Altern, die das ‚Versprechen‘ auf Umkehrung oder zumindest Verlangsamung jenes ‚natürlichen‘ Verfallsprozesses birgt und zugleich die Voraussetzung für die anempfohlene Selbstoptimierung durch entsprechende Technologien und Praktiken der Arbeit am eigenen Körper(-bild), das heißt der „Arbeit gegen das Altern“2 bildet. „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ erweist sich somit gerade in ihrer Alltäglichkeit und vordergründigen Harmlosigkeit als eine höchst aufschlussreiche Formulierung, deren Implikationen hier als Ausgangspunkt für eine multidisziplinär angelegte Analyse von altersbezogenen Körpernormierungen und -politiken dienen sollen. Mit Blick auf das komplexe Zusammenspiel der auf das Alter(n) bezogenen Körpernormen und der Praktiken der Arbeit am (eigenen) Körper(-bild) werden kultur-, medien-, sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Un/Sichtbarkeit alter(nder) Körper zusammengeführt. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei vor allem die im Horizont der Debatten über den demographischen Wandel und den damit verbundenen alarmistischen Krisenszenarien einer drohenden Überalterung (spät-) moderner westlicher Gesellschaften3 sich abzeichnenden Prozesse einer Neuverhandlung der „Natur des Alter(n)s“, die das Verhältnis von Natur und Kultur, Individuum und Körper, Materialität und Repräsentation, Norm und Abweichung neu figurieren und Fragen nach den Möglichkeiten kritischer Inter-

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Nina Degele: „Schöner Altern. Altershandeln zwischen Verdrängung, Resonanzen und Solidaritäten“, in: Sylvia Buchen/Maja S. Maier (Hg.), Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 165-180, hier S. 171f. Zum alarmistischen Charakter der Debatten und ihren bevölkerungspolitischen Implikationen in Bezug auf die Steigerung der Geburtenraten, vgl. Diana Auth/ Barbara Holland-Cunz (Hg.): Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen: Budrich 2007. Zur „Demografisierung sozialer Probleme“ im Kontext der Krisenszenarien einer ‚alternden Gesellschaft‘, deren ‚Lösung‘ die „Entdeckung älterer Menschen als Humankapitalressource“ bildet, vgl. Sylvia Buchen/Maja S. Maier: „Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel“, in: dies. (Hg.), Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 727, hier S. 8f. Zur Entwicklung des demographischen Diskurses seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart, in dessen Verlauf – ausgehend von der Problematisierung des Geburtenrückgangs – in zunehmenden Maße das ‚Problem‘ des Alter(n)s in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, vgl. Hans-Joachim von Kondratowitz: „Alter(n) in Ost und West. Der Wandel normativer Modellierungen des Alter(n)s in historisch vergleichender Perspektive“, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 256-278, hier S. 257-262. 11

SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

vention aus der Perspektive (de-)konstruktivistisch orientierter Ansätze zu Körper, Alter(n) und Geschlecht aufwerfen.4

N e u - D e f i n i t i o n e n d e s Al t e r ( n ) s : theoretische Verortungen und historische Kontexte Seit Luce Irigaray und Julia Kristeva, spätestens aber seit Michel Foucault und Judith Butler wissen wir, dass Körper – weibliche wie männliche – diskursiv und performativ hervorgebrachte Körper sind. Unsere Wahrnehmung und die (Re-)Produktion von Körpern werden durch Diskurse und Praktiken vielfältigster Art strukturiert und geformt. Wenn somit Körper und Körperbilder im Horizont historisch und kulturell variabler (Geschlechter-) Normen immer wieder neu hervorgebracht werden, dann bildet das Alter(n) – auch aufgrund seines inhärent transitorischen, auf Veränderung zielenden Moments – ein sowohl methodisch-theoretisch wie auch kulturhistorisch besonders interessantes Diskursfeld für das Nachdenken über den Körper und Körpernormierungen. Dass auch das Alter(n) – analog zur Kategorie Geschlecht – als eine kulturelle und soziale Konstruktion zu betrachten ist, gilt in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Altersforschung mittlerweile als unbestritten.5 Gegenüber einer Sichtweise auf das Altern als einen universal gültigen biologischen Prozess, der mit der Unausweichlichkeit körperlichen Verfalls assoziiert ist6, wird der kontingente und historisch veränderliche Charakter gesellschaftlicher Konstruktionen des Alter(n)s hervorgehoben. Dies gilt für chronologische, auf 4

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Vgl. Mone Spindler: „Natürlich alt? Zur Neuerfindung der Natur des Alter(n)s in der Anti-Ageing-Medizin und der Sozialgerontologie“, in: Silke van Dyk/ Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 380-402; Silke van Dyk/Stephan Lessenich: „‚Junge Alte‘: Vom Aufstieg und Wandel einer Sozialfigur“, in: dies. (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 11-48. Vgl. hierzu v.a. Rüdiger Kunow: „‚Ins Graue‘: Zur kulturellen Konstruktion von Alter und Altern“, in: Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 21-43; S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘; Klaus R. Schroeter: „Die Normierung alternder Körper – gouvernementale Aspekte des doing age“, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 359-379. Zur Verfallsanalogie vgl. Simon Biggs/Jason L. Powell: „Eine foucauldianische Analyse des Alters und der Macht wohlfahrtstaatlicher Politik“ (orig. 2001), in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 186-205, hier S. 187. Zur traditionsreichen Verknüpfung von Altern und Krankheit vgl. R. Kunow: ‚Ins Graue‘, S. 30ff.

EINLEITUNG

den Lebenslauf bezogene Definitionen des Alters7 ebenso wie für die kulturelle Produktion von Normen und Bildern des Alter(n)s, die sich im zeichentheoretischen bzw. symbolischen Sinne (an) dem Körper einschreiben und einem geschlechtsbezogenen „double standard of aging“ folgen.8 Dies gilt aber auch für Definitionen des vermeintlich ‚natürlichen‘ (und unausweichlichen) körperlichen Alterungsprozesses, die im Horizont des demographischen Wandels (ebenfalls) neu gefasst werden.9 Und schließlich ist Alter(n) wie die Kategorie Geschlecht „auch ein Ergebnis kommunikativer Interaktionen, in denen wir entsprechend – eben als ‚alt‘ – handeln oder behandelt werden und so die Kategorie im Sinne eines ‚doing old‘“ – beziehungsweise eines ‚doing age‘10 – „sozial erst herstellen und wirksam werden lassen.“11 Ausgangspunkt für eine genauere Betrachtung der gegenwärtig zu beobachtenden Tendenzen einer Neuverhandlung des Alter(n)s ist die Überlegung, dass altersbezogene Normierungen von Körpern und Körperbildern in historisch spezifische Körpertechnologien und Zeitkonzepte wie auch mediale Kontexte und Möglichkeiten eingebunden sind. Unter dem Aspekt der Körpertechnologien sind vielfältige Praktiken der „Arbeit am Körper“ gebündelt, z.B. Sport, Diät, Kosmetik, aber auch physische Eingriffe in den Körper, wie sie gegenwärtig durch die plastische Chirurgie sowie durch die Gen- und Reproduktionsmedizin eröffnet werden. Der Körper post- bzw. spätmoderner Gesellschaften erscheint dabei nicht länger als ein ‚objektives Faktum‘ bzw. als ‚natürliche Gegebenheit‘. Vielmehr wird er zu einem „Gegenstand kultureller Modellierung“12, für dessen Zustand die 7

Die „Entstehung einer strukturell einheitlichen, kollektiv erfahrbaren Lebensphase ‚Alter‘“ erscheint dabei zuallererst als ein „Produkt der Industrialisierung“, wobei der „Übergang ins Alter wesentlich durch die Ausgliederung aus der Erwerbsphase bestimmt wird.“ (S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘, S. 25) 8 Susan Sontag: „The Double Standard of Aging“, in: Saturday Review 55 (1972), S. 29-38. Vgl. Heike Hartung: „Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s“, in: dies. (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 7-18, hier S. 10-12; R. Kunow, ‚Ins Graue‘, v.a. S. 34-35. Siehe auch Regine Gildemeister: „Was wird aus der Geschlechterdifferenz im Alter? Über die Angleichung von Lebensformen und das Ringen um biografische Kontinuität“, in: Sylvia Buchen/Maja S. Maier (Hg.), Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 197-215. 9 Vgl. M. Spindler: Natürlich alt?, S. 387-392. 10 K.R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper. 11 R. Gildemeister: Was wird aus der Geschlechterdifferenz im Alter?, S. 200. 12 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006. Siehe auch Hubert Knoblauch: „Kulturkörper. Die Bedeutung des Körpers in der so13

SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

Individuen nunmehr selbst verantwortlich gemacht werden bzw. den sie selbst zu verantworten haben.13 Mit den Möglichkeiten der Gestaltbarkeit des Körpers geht einerseits „die Pflicht einher, den Körper gemäß der gesellschaftlichen Normvorstellungen zu modellieren“14. Andererseits sind die ‚Investitionen‘ in den Körper und das Köperbild mit dem ‚Versprechen‘ auf sozialen (beruflichen und privaten) Erfolg verbunden: Der „schöne, kräftige, makellose, gepflegte, gesunde, funktionstüchtige Körper“ erweist sich in dieser Perspektive als „korporales Kapital“, das „für eine sichtbar gemachte, distinktive Form der aktiven Lebensführung“ steht und als Medium sozialer Positionierung und Bezugspunkt sozialer Bewertungen fungiert“15. Parallel hierzu zeichnet sich im Kontext der Debatten zum demographischen Wandel ein Zugleich divergierender Zeitkonzepte ab, die mit einer Dynamisierung und Ausdifferenzierung der Begriffe Alter bzw. Altern einhergehen. So wird im Rahmen der Anti-Ageing-Diskurse16 zwischen dem „Lebensalter in Jahren“, wahlweise auch „tatsächliches“, „mathematisches“ oder „kalendarisches Alter“ genannt, und dem „biologischem Alter“ unterschieden17 – eine Unterscheidung, die den individuellen körperlichen Alterungsprozess als Variable setzt und damit wiederum die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Investitionen in den Körper bzw. in das Körperbild unterstreicht. Des weiteren zeichnet sich mit Blick auf die Definitionen des Alters als Lebens-

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zialkonstruktivistischen Wissenssoziologie“, in: Markus Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 92-113. Vgl. hierzu u.a. Sabine Maasen: „Schönheitschirurgie. Schnittflächen flexiblen Selbstmanagements“, in: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich: Chronos 2005, S. 239-260; Zygmunt Baumann: „Politischer Körper und Staatskörper in der flüssig-modernen Konsumentengesellschaft“, in: Markus Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 189213. Siehe auch Matthias Kettner (Hg.): Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009. K.R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper, S. 367. Ebd., S. 368 und 369. Siehe auch N. Degele: Schöner Altern, S. 166ff. Vgl. hierzu K. R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper; M. Spindler: Natürlich alt? Das Lebensalter in Jahren wird nach dem urkundlich dokumentierten und bevölkerungsstatistisch erfassten Tag der Geburt mathematisch berechnet (vgl. BGB § 187, Abs. 2 Satz 2, und § 188, Abs. 2 Alt. 2). Das „biologische Alter“ lässt sich, laut Präambel der Stiftung Biologisches Alter, „nach dem jeweiligen Zustand des Organismus und damit unabhängig von, in Zeit bemessenem, Alter bestimmen.“ (www.stiftung-biologisches-alter.de; Zugriff am 5. März 2008). Auf der aktualisierten Website der Stiftung heißt es: „Die Definition des biologischen Alters kann zur Zeit nur auf einer rein subjektiven Ebene erfolgen. Dabei stehen vor allem die Funktionalität aller Organbereiche des Menschen und insbesondere sein äußere[s] Erscheinungsbild im Vordergrund.“ (Ebd.; Zugriff am 17.2.2010).

EINLEITUNG

phase eine Binnendifferenzierung ab18: Die als ‚Ruhestand‘ definierte Lebensphase des Alters „hat sich nun im Zuge steigender Lebenserwartung bei gleichzeitiger ‚Entberuflichung‘ und ‚Verjüngung‘ des Alters […] – u.a. durch den Trend zu Frühverrentung – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich ausgedehnt. Vor diesem Hintergrund hat sich sowohl politisch als auch in der gerontologischen Forschung […] eine analytische Zweiteilung der Altersphase in ein drittes, junges und gesundes Alter sowie ein viertes Alter der stärker durch Krankheit, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit geprägten Hochaltrigkeit durchgesetzt“19, das gleichwohl sowohl hinsichtlich seiner chronologischen Einordnung als auch in Hinblick auf die Bestimmung des Übergangs vom dritten zum vierten Lebensalter „in hohem Maße diffus“20 bleibt. Möglicherweise ist es wiederum gerade dieses Diffuse, diese Unbestimmtheit, die den Ansatzpunkt für das Gebot der Arbeit am alternden Körper bildet: Das ‚dritte‘, ‚junge‘ und ‚gesunde‘ Alter lässt sich in dieser Perspektive mit dem Konzept des „erfolgreichen Alterns“ in Zusammenhang bringen, das „1. die Vermeidung von Krankheit und Behinderungen, 2. die Aufrechterhaltung hoher physischer und kognitiver Fähigkeiten“ sowie „3. ‚aktive Teilhabe am Leben‘“ als Resultat eines ‚verantwortlichen‘ Umgangs mit dem eigenen Körper umfasst.21 Im Zuge der (massen-)medialen Popularisierung der Konzepte des ‚antiageing‘ und des ‚erfolgreichen Alterns‘ wird der Imperativ der ‚Selbstoptimierung‘ in Bezug auf den eigenen Körper bzw. das eigene Körperbild mit altersbezogenen Idealvorstellungen verknüpft, in denen sich ästhetisch kodierte Ideale von Jugendlichkeit und Schönheit mit Gesundheitsnormen in Gestalt körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit kreuzen.22 Im Zusammenhang mit der Tendenz zur Individualisierung gesellschaftlicher Risiken im Sinne der Selbstverantwortung für den Zustand des eigenen Körpers, die wiederum im Kontext wohlfahrtstaatlichen Umbaus und des Aufstiegs neoliberaler Re-

18 Vgl. hierzu Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen: Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 421 ff.; S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘, S. 25ff.; K. R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper, S. 363ff. 19 S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘, S. 26. 20 Ebd. 21 Vgl. Marta B. Holstein/Meredith Minkler: „Das Selbst, die Gesellschaft und die ‚neue Gerontologie‘“, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 207-232, hier S. 212. Vgl. hierzu ebenfalls K.R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper, S. 363. 22 Vgl. Matthias Kettner/Iris Junker: „Beautiful Enhancements. Über wunscherfüllende Medizin“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 52/2 (2007), S. 185-196, insb. S. 191 ff. 15

SABINE MEHLMANN/SIGRID RUBY

gulierungstechniken23 steht, können beide Konzepte (bei unterschiedlicher ‚Herkunft‘)24 als Elemente einer „gesamtgesellschaftlichen ‚anti-ageing‘Strategie“ betrachtet werden, insofern die Individuen zugleich „für den kollektiven Kampf gegen die ‚alternde Gesellschaft‘“25 mobilisiert und ‚moralisch verpflichtet‘26 werden.

V i s u a l i s i e r u n g e n u n d M e d i e n d e s Al t e r ( n ) s Mit dem Problem der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers, das in der Floskel „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ anklingt und durch tendenziell diffuse Alterskonzepte einerseits und das Gebot der „Arbeit gegen das Altern“ andererseits verkompliziert wird, rücken auch mediale Aspekte in das Zentrum des Interesses. In je spezifischer Weise und abhängig von den historischsituativen Kontexten ihrer Hervorbringung und Wahrnehmung beeinflussen die Konstruktionsweisen und -merkmale medial generierter Körper die Praktiken der Arbeit am (eigenen) Körper(-bild)27 – und vice versa. (Multi-)medial verbreitete Bilder lehren uns Sichtweisen, zwingen uns Perspektiven auf den Körper regelrecht auf. Vor allem die bildenden, performativen und literari23 Vgl. S. Buchen/M. S. Maier: Älter werden neu denken; S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘; K. R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper. 24 Während das aus dem US-amerikanischen stammende Konzept des ‚antiageing‘ in der (Sport-)Medizin bzw. Biomedizin wurzelt und – ausgehend von einem Verständnis des Alter(n)s als „behandelbare, molekularbiologische Metakrankheit“ – (zunächst) als „medizinisches Programm zur ‚Maximierung der Physiologie‘ alternder Körper“ (M. Spindler: Natürlich alt?, S. 382) entworfen wurde, entsteht das – ebenfalls aus dem US-amerikanischen stammende – Konzept des „successful ageing“ im Kontext einer ‚neuen Gerontologie‘. Diese wendet sich gegen das ‚alte‘ Paradigma von Abbau und Verfall, in dem Alter(n) „als Folge individueller Beeinträchtigungen und Verlust“ betrachtet wurde, „denen sich die alten Menschen als auch die Gesellschaft anzupassen und anzugleichen hatten“ und betont demgegenüber „die Wahrscheinlichkeit und das Potenzial für ein gesundes und aktives Alter“ durch gezielte Gesundheitsförderung und Prävention (M.B. Holstein/M. Minkler: Das Selbst, die Gesellschaft und die ‚neue Gerontologie‘, S. 205). 25 S. van Dyk/S. Lessenich: ‚Junge Alte‘, S. 24. 26 Vgl. M.B. Holstein/M. Minkler: Das Selbst, die Gesellschaft und die ‚neue Gerontologie‘, S. 211, vgl. hierzu ebenfalls Stephan Lessenich: „Lohn und Leistung, Schuld und Verantwortung: Das Alter in der Aktivgesellschaft“, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.), Die jungen Alten. Analysen eine neuen Sozialfigur, Frankfurt a.M., New York: Campus 2009, S. 279-295. 27 Besonders eindringlich hat die französische Künstlerin Orlan dieses Zusammenspiel vorgeführt, indem sie ihren eigenen Körper und insbesondere ihr Gesicht seitens der Künste hervorgebrachten Schönheitsidealen (wie z.B. der BotticelliVenus) mit Rückgriff auf die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie nachbilden ließ. 16

EINLEITUNG

schen Künste können aber auch Medien der Erkenntnis und der Subversion sein, wenn sie Normen hinterfragen, Stereotype kenntlich machen oder kraft ihrer jeweiligen ästhetischen Möglichkeiten die Macht des Diskurses und seiner epistemischen Strukturen offen legen. Darstellungen des Alters wie auch des Alterns haben in den Bildkünsten eine lange und vielfältige Tradition, die seitens der kunstgeschichtlichen Forschung bislang nur punktuell herausgearbeitet wurde.28 Jenseits des Porträtfachs, wo das veristisch oder idealisierend zu Sehen gegebene Alter ein besonderes Kennzeichen des porträtierten Individuums sein kann, hat die Kunstgeschichte vor allem allegorische und dann zumeist geschlechtsspezifisch argumentierende Bilder des Alter(n)s hervorgebracht, die es mit Vergänglichkeit und Hässlichkeit, aber auch mit Weisheit und Würde verknüpfen. In den seit der Frühen Neuzeit bekannten Lebensalter-Darstellungen wird Altern als ein sich in der Zeit wandelndes Körperbild imaginiert.29 Die differenziert ge(kenn)zeichneten Männer- und Frauenkörper repräsentieren unterschiedliche Lebensphasen, die mit geschlechtsspezifischen sozialen Rollen verknüpft werden. Die zumeist von links nach rechts und in chronologischer Abfolge angeordneten Lebensalter-Allegorien fordern den Betrachter zum Vergleich der Körper auf. Mit dem Nachvollzug der ihnen eingeschriebenen, die Vergänglichkeit der menschlichen Physis betonenden Metamorphosen werden der Lauf der Zeit und das transitorische Moment des Alterns erfahrbar. Das noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert prominente Bildformular der (v.a. weiblichen) Lebensalter30 scheint eine Fortsetzung zu haben in neueren,

28 Vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Literatur bei Caroline Schuster Cordone: Le crépuscule du corps. Images de la vieillesse féminine, Gollion: infolio 2009, S. 241f. Siehe auch Mike Featherstone/Andrew Wernick (Hg.): Images of Aging. Cultural Representations of Later Life, London, New York: Routledge 1995. Das Kunsthistorische Institut in Florenz ist seit kurzem mit Forschungsprojekten im „Max Planck International Research Network on Aging“ (MaxnetAging; www.maxnetaging.mpg.de) engagiert. 29 Vgl. insb. Kristina Bake: „Geschlechtsspezifisches Altern in einem LebensalterZyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart“, in: Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 113-133; Meike-Marie Thiele: Lebensalterdarstellung in der Renaissance: ein neuer Bildtypus in der Malerei, Saarbrücken: Müller 2007; Stefanie Knöll: „Frauen, Körper, Alter: die weiblichen Lebensalter in der Kunst des 16. Jahrhunderts“, in: Andrea von HülsenEsch/Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.), Zum Sterben schön: Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Regensburg: Schnell & Steiner 2006, S. 43-51. 30 Vgl. Ellen Spickernagel: „Zur Beharrlichkeit von Frauenbildern: ‚Weibliche Lebensalter‘ im späten 19. Jahrhundert“, in: Cordula Bischoff (Hg.), Frauen Kunst Geschichte: zur Korrektur des herrschenden Blicks, Gießen: Anabas 1984, S. 17

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auch in der kommerziellen Werbung genutzten Darstellungen der Generationen (Abb. 2). Analogien sind sowohl in kompositorisch-motivischer Hinsicht als auch bezüglich der Inszenierung von Temporalität gegeben. Abbildung 2: Werbeanzeige des Schweizer Uhrenfabrikanten Patek Philippe, 2009, aus der Serie „Timeless Portraits“

Wie schon an den frühen Lebensalter-Darstellungen deutlich wird, ist das auf (körperliche) Veränderung zielende Moment des Alterns eine besondere Herausforderung vor allem für die statischen Bildmedien. Seit den 1960er Jahren lässt sich in den visuellen und performativen Künsten eine intensivierte Beschäftigung zum einen mit Prozessualität und Zeitphänomenen und zum anderen mit Körpern und Körperbildern verzeichnen, letzteres zum Teil in enger Auseinandersetzung mit bzw. partizipierend an der feministischen Theoriebil124-129; Suse Barth: Lebensalter-Darstellungen im 19. und 20. Jahrhundert: ikonographische Studien, Bamberg: Aku-Fotodruck 1974. 18

EINLEITUNG

dung.31 Das Thema ‚Altern‘ stellt somit eine interessante Schnittstelle dieser künstlerischen Tendenzen dar und kann als Chiffre oder Metapher für Strategien der Inszenierung von Temporalität und Wandelbarkeit fungieren. Neue Medien, Techniken und Materialien, insbesondere die bewegten Bilder (Film, Video, digitale Bilder), befördern die Destabilisierung und Verflüssigung von Körperbildern, deren geschlechtlicher, ethnischer und auch altersbezogener Identität sowohl in den Künsten wie auch in den Massen- oder Populärmedien. Diese Entwicklungen scheinen der Pluralisierung von Lebensläufen und -altern, wie sie vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Industriegesellschaften zu beobachten sind, Rechnung zu tragen – oder aber doch damit einherzugehen. Für Konstruktionen des alten bzw. alternden Körpers und das Paradoxon seiner gegenwärtigen, (multi-)medial generierten Un/Sichtbarkeit sind aber auch die ästhetisch kodierten Normen von Jugendlichkeit und Schönheit relevant. Deren ungebrochene Idealisierung scheint einer Art neuem Klassizismus Vorschub zu leisten, der, während er Alterslosigkeit propagiert, Körpervielfalt nicht mehr zulässt.

Fragestellungen und Zugänge Die angedeuteten Tendenzen einer Neuverhandlung des Alter(n)s werfen eine Reihe von Fragen bezüglich der Verfahren der altersbezogenen Normierung von Körpern bzw. Körperbildern, der damit verknüpften Praktiken der „Arbeit am Körper“ und den Möglichkeiten ihrer Kritik auf, die in den hier versammelten Beiträgen in je spezifischer Akzentuierung aufgegriffen und aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven betrachtet werden. Bezogen auf die diskursive Hervorbringung altersbezogener Körpernormierungen ist genauer zu beleuchten, in welcher Weise diese an Texte, Bilder und Performanzen, also an Strategien der Erzählung, Symbolisierung, 31 Zur kunsthistorischen und bildtheoretischen Auseinandersetzung mit Zeit und Zeitlichkeit vgl. u.a. Karin Gludovatz/Martin Peschken (Hg.): Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin: Reimer 2004; Dieter Mersch: „Ästhetischer Augenblick und Gedächtnis der Kunst: Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Bild“, in: ders. (Hg.), Die Medien der Künste: Beiträge zur Theorie des Darstellens. München: Fink 2003, S. 151-176. Siehe auch Katrin Greiser/Gerhard Schweppenhäuser/Fakultät Gestaltung der FH Würzburg-Schweinfurt (Hg.): Zeit der Bilder – Bilder der Zeit, Weimar: Max Stein Verlag 2007. – Für kunsthistorische Überlegungen zu Körpern/ Körperbildern vgl. Sigrid Schade/Silke Wenk: „Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz“, in: Hadumod Bußman/Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 340-407, insb. S. 371 ff.; Sigrid Schade: „Körper und Körpertheorien in der Kunstgeschichte“, in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 61-72. 19

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Visualisierung und Inszenierung gebunden sind. Welche Rolle spielen medial vermittelte Ideale von Schönheit, Jugendlichkeit und ‚Fitness‘ bei der Normierung eines ‚altersgerechten‘ Körperbildes? Welche Medien bzw. Diskursformationen sind beteiligt, und wie ‚wirkmächtig‘ sind sie im Einzelnen? Mit Blick auf die Kategorie Geschlecht ist auch danach zu fragen, ob und inwiefern sich gegenwärtig eine Angleichung der Geschlechter in Bezug auf die altersbezogene Normierung des Körper(-bildes) abzeichnet oder ob eher Prozesse der Verfestigung der ‚Natur‘ der Geschlechterdifferenz zu beobachten sind. Im Anschluss an die aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussionen zum Thema Körpertechnologien und -manipulationen, in denen das Gebot der „Arbeit am (alternden) Körper“ als eine neue Form biopolitischer Regulierung und Normalisierung betrachtet wird, die sich auf die ‚Autonomie‘ der Individuen stützt und zwischen Freiheit und Zwang zur Selbstgestaltung changiert32, stellt sich die Frage, in welcher Weise Normierungen, die auf die regulierende Kontrolle des Bevölkerungskörpers, und Normierungen, die auf die Disziplinierung des individuellen Körpers zielen, in den Konzepten des ‚anti-ageing‘ und des ‚erfolgreichen Alterns‘ miteinander verknüpft werden. Welches sind die ‚Anreize‘ für die Individuen, sich diesen Normierungen – womöglich aktiv – zu unterwerfen und sie damit zu bekräftigen? Welche neuen Grenzziehungen zwischen Norm und Abweichung werden im Zuge der Flexibilisierung und Ausdifferenzierung der Definitionen des Alter(n)s und den damit verknüpften Imperativen der „Arbeit gegen das Altern“ hervorgebracht? Welche Strategien und Verfahren der Un/Sichtbarmachung alter(nd)er Körper sind mit diesen Grenzziehungen verbunden? Welche Funktion kommt hierbei den so genannten Massenmedien auf der einen und den „nicht mehr schönen Künsten“ auf der anderen Seite zu? Und schließlich: Wie können Kritik und Widerständigkeit in Bezug auf die gegenwärtigen altersbezogenen Normierungen des Körpers bzw. Körperbildes (neu) gedacht werden? Wie leistungsfähig sind die (künstlerischen) Medien sowohl hinsichtlich der Un/Sichtbarmachung von „alternden Körpern“ wie auch für Strategien der Subversion oder Negation altersbezogener Körpernormen? Ist der Verweis auf den Konstruktionscharakter der Norm/des ‚Natürlichen‘ angesichts neuer Körpertechnologien, die direkt und materiell 32 Für den Bereich der v.a. an ästhetischen Normen orientierten Praktiken der „Arbeit am Körper“, vgl. exemplarisch die Beiträge in Paula-Irene Villa (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript 2008. Sabine Maasen spricht dort mit Blick auf die Verschränkung von wissens- und technologiebasierten Herrschaftstechniken mit ‚Praktiken des Selbst‘ von einer „bio-ästhetischen Gouvernementalität“. Zur Analyse des ‚Anti-Ageing‘-Programms als neue Form der Gouvernementalität, die sich im Horizont eines ‚Gesundheitsdispositivs‘ entfaltet, vgl. K. R. Schroeter: Die Normierung alternder Körper. 20

EINLEITUNG

am Körper ansetzen und eine weitgehende Angleichung an die Norm in Aussicht stellen, noch ‚subversiv‘?

Zur Struktur und zu den Beiträgen des Bandes Entlang der skizzierten Fragenkomplexe wurden drei thematische Blöcke mit insgesamt dreizehn Beiträgen aus sozial-, erziehungs- und gesundheitswissenschaftlichen, kultur- und medienwissenschaftlichen, kunst- und gesellschaftsgeschichtlichen Disziplinen sowie aus Theologie und Philosophie zusammengestellt.

Körpernormierungen und Praktiken der Arbeit gegen das Altern Die Beiträge im ersten Themenblock gehen der Frage nach, welche neuen Normierungen durch die gegenwärtigen ‚Verheißungen‘ eines technologisch herstellbaren und zu gestaltenden Körpers bzw. Körperbildes (multi-)medial hervorgebracht werden. Gefragt wird unter anderem, wie oder auf welche Weise diese Normierungen mit spezifischen Praktiken der „Arbeit am Körper“ verbunden werden, die die Grenzziehungen zwischen ‚Natürlichem‘ und ‚Künstlichem‘ unterlaufen. Ausgangspunkt des Beitrages der Soziologin Hannelore Bublitz ist die Problematisierung des Körpers als eine scheinbar natürliche Ressource, der in mehr als einer Hinsicht als ‚hinfällig‘ markiert ist: zum einen als ein lebendiger, vergänglicher, sterblicher Körper, zum anderen als ein ‚Körper nach Maß‘, der maßlosen Optimierungsmaßnahmen und damit einer ständig neu produzierten technologisch und medienästhetisch induzierten Hinfälligkeit unterworfen wird. Im Fokus der Betrachtung stehen gouvernementale (Selbst)Technologien eines natürlichkünstlichen Körpers, die sich zwischen eher ‚freiwilligen‘ Maßnahmen einer verantwortungsbewussten − die Gesundheitsrisiken minimierenden und die ästhetisch-erotisch-sexuelle Attraktivität maximierenden − Subjektivität und ihrer forcierten Regulierung und Überwachung durch Formen staatlich und privat organisierter Gesundheitspolitik bewegen. Als Kehrseite eines gesellschaftlichen Körperkultes, in dem Aufstieg, sozialer Erfolg, Karriere, Ansehen und Anerkennung an technisch-medial ermittelte Körperproportionen und -standards gebunden werden, werden Abweichungen von der Norm als Mangel an Selbstbeherrschung und Zeichen von Willensschwäche, als persönlicher Makel und inakzeptable Belastung des ‚Gesellschaftkörpers‘ stigmatisiert. Die Schematisierung und Norm(alis)ierung eines ‚perfekten Körpers‘ ist damit – so wird gezeigt – unmittelbar mit der Vorenthaltung sozialer Anerkennung und Integration und dem Verlust 21

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von Selbstwertgefühl verbunden. Im Horiont bioästhetischer Gestaltungsversprechen, die ‚ewige‘ Jugend und Schönheit in Aussicht stellen, wird der alternde und sterbliche Körper zum Ausnahmezustand, während der asketische ebenso wie der technisch (auf)gerüstete – der Zeit und Endlichkeit scheinbar enthobene – Körper quasi-religiöse Züge annimmt. Der Beitrag des Kunst- und Medienwissenschaftlers Jörg Scheller gilt dem seit den 1990er Jahren zu beobachtenden Trend zur Ganzkörperrasur. Als ‚Konsumklassizismus‘ charakterisiert Scheller eine Gegenwart, in der ein auf Dauer gestellter Konsumismus zum Lebensstil avanciert und mittels einer auch und gerade am Körper manifesten klassizistischen Ästhetik als überzeitlich gültig bzw. nachgeschichtlich ausgegeben wird. Die geschlechter- und generationenübergreifend praktizierte Haarrasur drängt das ‚Natürliche‘ zurück zugunsten eines klar konturierten, glatten Körpers, der das tradierte Ideal der klassischen Skulptur aufruft. Ein solcherart zur Schau gestellter, also auch der Vermarktung dienender nackter „Konsumkörper“ scheint sowohl physische Alterungsprozesse als auch temporäre Moden zu negieren, um sich kraft seiner klassizistischen Anmutung als ein außerhalb der Zeit stehendes und daraus Kapital schlagendes Kunstwerk zu behaupten. Am Beispiel der Ganzkörperrasur kann Scheller somit eine Überkreuzung der Diskurse über eine vermeintliche Posthistoire einerseits und Anti-Ageing andererseits aufzeigen. Nicht so sehr die Relation von jung und alt wird hier verhandelt, sondern das klassizistische Gebot der Zeitlosigkeit, was wiederum das Problem der Un/Sichtbarkeit alternder Körper in einem anderen Licht erscheinen lässt. Eine Art Zeitlosigkeit kennzeichnet auch die in den modernen Massenmedien verbreiteten makellosen Körperbilder. Wie der Literaturwissenschaftler Thomas Küpper aufzeigt, wird zumindest auf diesem Diskursfeld die herkömmliche Unterscheidung zwischen ‚natürlichem‘ Altern und ‚künstlicher‘ Verjüngung problematisch. In seinem Beitrag untersucht Küpper anhand von Medienbeiträgen über Schönheitsoperationen von Demi Moore und Brigitte Nielsen, wie jeweils und unter aktiver Beteiligung der beiden Schauspielerinnen Schein und Sein gegeneinander ausgespielt werden, um ambivalente ‚Wahrheiten‘ des Alter(n)s und des (nicht) alternden Körpers zu inszenieren. Die Gestaltbarkeit des Körpers erweist sich hier als Motor der Berichterstattung und Publikumsbindung, entfaltet aber auch ein emanzipatives Potenzial, weil sie den Protagonistinnen erlaubt, die normative Kraft des vermeintlich ‚Natürlichen‘, dem Lebensalter und Geschlecht Gemäßen in Frage zu stellen. Die Historikerin Annika Wellmann beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Aufwertung der Alterssexualität im Kontext des Anti-Aging-Diskurses. Am Beispiel der Sexratgeberliteratur der 1980er und 1990er Jahre rekonstruiert Wellmann die Genese und Normierung des Alterssexes als optimierbare wie optimierende Praktik zur Tüchtigerhaltung von Körper und Geist, die mit dem Versprechen einhergeht, einem einsamen und von Krankheit gekennzeichne22

EINLEITUNG

ten Alterungsprozess zu entgehen und auf diese Weise als begehrenswerte Körpertechnik fixiert wird. Eingespannt in eine doppelte Logik von ‚Mangel‘ und ‚Zugewinn‘ wird im Zuge der Diskursivierung des Alterssexes einerseits eine Ordnung reproduziert, die eine sozial wirksame Grenze zwischen alten und jungen Körpern zieht, dabei die jungen, reproduktionsfähigen Körper privilegiert und den Sex älterer Menschen einer ökonomischen Logik unterwirft, die den Individuen die Verantwortung für den Zustand des eigenen Körpers zuschreibt und damit die Individualisierung sozialer Risiken vorantreibt. Andererseits trägt der Alterssexdiskurs zu einer Erweiterung von Möglichkeitsfeldern und Handlungsspielräumen bei, insofern Sexualität im Alter nunmehr als denk- und praktizierbar ‚normalisiert‘ wird. Wellmanns Befunde zeigen darüber hinaus, dass in Bezug auf die ratgebermediale Popularisierung von Alterssexualität als Praktik des ‚anti-ageing‘ und Modell für ein ‚erfolgreiches Altern‘ eher eine Dramatisierung und Re-Naturalisierung als eine Nivellierung oder Relativierung von Geschlechterdifferenzen zu beobachten sind.

(Ent-)Pathologisierungen des Alter(n)s Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Neuverhandlung der „Natur des Alter(n)s“ fokussiert der zweite Themenblock Prozesse der Neujustierung der Grenzziehungen zwischen Norm und Abweichung, die implizit oder explizit an die traditionsreiche Verknüpfung von Alter und Krankheit bzw. an das Bild von Alter(n) als Krankheit anschließen. Aus der Perspektive der „Disability Studies“ problematisiert Markus Dederich die Tendenz zu einer verstärkten Pathologisierung des vierten ‚hohen Alters‘ im bzw. als Kontrast zur Gruppe der ‚jungen Alten‘, die dem dritten – positiv besetzten – ‚gesunden‘ Lebensalter zugerechnet werden. Anknüpfend an die repräsentationstheoretischen Überlegungen des Phänomenologen Bernhard Waldenfels wirft Dederich die Frage nach der medialen Präsenz ‚gebrechlicher‘ Menschen auf, die aufgrund ihres Alters, durch Behinderungen oder chronische Erkrankungen als ‚verkörperte Negationen‘ der Normen physischer und psychischer ‚Fitness‘, Jugendlichkeit und Schönheit erscheinen. Mit Blick auf die Funktion ‚außerordentlicher Körper‘ für die Produktion und Reproduktion des Sozialen zeigt Dederich, dass alte behinderte Körper gegenwärtig vor allem als Repräsentationen gesellschaftlicher Ängste ‚sichtbar‘ (gemacht) werden, die das moderne Verständnis von Subjektivität und die damit verbundenen Ideale von Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Vertragsfähigkeit, Selbstkontrolle und Autonomie untergraben und Bewältigungsversuche im Spannungsfeld von verantwortlicher Sorge, Reparaturbedürfnis, Verleugnung, Abschiebungstendenzen und gelegentlich auch Vernichtungsimpulsen auf den Plan rufen. Diese Form der beunruhigenden ‚Sichtbarmachmachung‘ des ‚vierten‘ Lebensalters ist zugleich mit Strategien 23

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der ‚Unsichtbarmachung‘ durch die – auch räumliche – Ausgrenzung und institutionelle Separierung alter behinderter Körper verknüpft. Angesichts der Grenzen der Repräsentation, die auf einen ‚in der Sache selbst‘ liegenden Überschuss verweisen, plädiert Dederich – jenseits der Festlegung des Lebens alter behinderter Menschen auf ein belastendes und belastetes Leben – für eine Erweiterung der Perspektive, die es ermöglicht, sie als Fremde wahrzunehmen, die wir uns nur um den Preis der Verdinglichung ganz aneignen können. Mit „Fremde im Spiegel“ ist wiederum der an Dederich anschließende Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Heike Hartung überschrieben. Hartung untersucht literarische Repräsentationsformen von Alzheimer, die eine differenziertere Perspektive auf die Verknüpfung von Alter und Krankheit ermöglichen. Die vorgestellten Erzählungen von Ulrike Draesner einerseits und Alice Munro andererseits verwenden unterschiedliche narrative Strategien, um die Erfahrung von Alzheimer innerhalb einer heterosexuellen Paarbeziehung zu schildern. Hartung kann unter anderem und mit Verweis auf das Motiv der Spiegelung zeigen, wie die in den Texten evozierten Körper- und Altersbilder der an Alzheimer erkrankten Frauen aus der Beziehung zum Partner und deren zeitlicher Ausdehnung heraus entwickelt werden und dadurch Vollständigkeit bzw. Gestalt erlangen. Den tendenziell zersetzenden Prozessen des Alterns und der Krankheit werden somit integrative Momente und auch positive Entwicklungsmöglichkeiten gegenübergestellt. Der Beitrag von Ulrike Manz lotet aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Grenzen der Optimierung bzw. Optimierbarkeit von Körper(bilder)n aus. Im Zentrum der Analyse stehen Diskrepanzerfahrungen zwischen den Normen körperlicher Leistungsfähigkeit und den Veränderungen bzw. dem Verfall des eigenen Körpers, die individuell verarbeitet werden müssen. Anhand von Ergebnissen einer empirischen Studie zu Körperkonzepten, (körperbezogenen) Zeiterfahrungen und Bewältigungsstrategien von MS-Patientinnen, die mit der Unausweichlichkeit eines fortschreitenden körperlichen ‚Verfalls‘ konfrontiert sind, zeigt Manz, dass in der Aneignung von Alterszuschreibungen auch ein positives Potential liegt, das eine subjektive Bewältigung chronischer Krankheitsverläufe im Sinne einer Entpathologisierung der ‚Schwächung des Körpers im Laufe der Zeit‘ ermöglicht.

Einsprüche und Perspektiven kritischer Invention Die Beiträge des dritten thematischen Blocks beschäftigen sich mit den Bezugspunkten für die Kritik altersbezogener Normierungen von Körpern bzw. Körperbildern ‚im Zeitalter ihrer technologischen Herstellbarkeit‘. Dabei werden zum einen konstruktivistische Gender-Theorien und Körperkonzepte auf ihre Kritikpotentiale und Visionen von Widerständigkeit angesichts 24

EINLEITUNG

erodierender ‚Grenzen der Verfügbarkeit‘33 über den Körper befragt. Des Weiteren und damit einhergehend werden ausgewählte Arbeiten aus den bildenden und den theatralen Künsten auf ihre je spezifische Leistungsfähigkeit bezüglich der Zurschaustellung alternativer Bilder des Alter(n)s hin untersucht. Aus philosophischer Perspektive reflektiert Uta Müller in ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen Konzeptionen von Körperlichkeit und Alter(n) hinsichtlich normativer Bezugspunkte für ethische Probleme, die sich aus den technologischen Möglichkeiten des Zugriffs auf bzw. des Eingriffs in den Körper (auch) im Kontext der ‚Anti-Ageing-Medizin‘ ergeben. Sie geht dabei von der These aus, dass die verschiedenen Sichtweisen des Körpers für normative Bewertungen von Handlungen, die den menschlichen Körper betreffen, letztlich nicht entscheidend sein können. Denn was Menschen mit ihrem Körper tun dürfen oder nicht tun dürfen, hängt wesentlich von normativethischen Einstellungen und deren Rechtfertigung ab. Vor dem Hintergrund ‚normativer Leerstellen‘, die Müller in konstruktivistischen Körperkonzeptionen ausmacht, werden, ausgehend von einer phänomenologischen Sicht des Menschen als ein leibliches Wesen, die philosophischen Konzepte ‚Autonomie und Selbstbestimmung‘, ‚Glück und gutes Leben‘ und ‚Gerechtigkeit‘ in Bezug auf deren Potentiale für eine ethische Begründung von Handlungsentscheidungen diskutiert. Der Beitrag der Theologin Stefanie Schäfer-Bossert fragt noch den Bedingungen des Alter(n)s in einer technisierten Umwelt, in die der biologische Körper, der zwangsläufig Alterserscheinungen zeige, eingebettet und von der er auch durchdrungen ist. Sie schließt dabei an den materiell-konstruktivistischen Ansatz der Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway an und greift die Figur des/der Cyborg auf, um die Denkfigur des MenschMaschine-Mischwesens als Deutungshorizont gegenwärtiger Körpernormierungen in Bezug auf das Alter(n) zu entfalten und hinsichtlich seines kritischen Potentials auszuloten. Mit Blick auf den Umstand, dass im industrialisierten Westen heute kaum jemand ohne Implantate oder andere Hilfen der Technosciences altert, lässt sich anhand der Figur des/der Cyborg – so Schäfer-Bossert – nicht nur zeigen, dass sich Kultur und Natur in unseren Körpern (immer schon) mischen. Vielmehr können auch die Ambivalenzen jener ‚Cyborgisierung des Alter(n)s‘ ausgeleuchtet werden, welche einerseits die ‚Natur‘ als Normlieferant für menschliche Körper und Identitätszuschreibungen, einschließlich der Norm eines ‚ständig aktiven Jungseins‘, aushebelt und andererseits neue Normen der Funktionsfähigkeit hervorbringt, indem das Bild eines ewig leistungs- und konsumfähigen Körpers und das Versprechen auf 33 Vgl. Paula Villa: Sexy Bodies, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 18. 25

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eine Revision der Depotenzierungen des Alter(n)s (re)produziert werden. Vor dem Hintergrund fortschreitender technologischer Entwicklungen, plädiert Schäfer-Bossert – mit Haraway – für einen verantwortlichen Umgang mit der zunehmenden ‚Cyborgisierung des Alter(n)s‘, der sich an der Qualität sozialer Beziehungen und Verteilungsgerechtigkeit orientiert und zugleich zu einer Entdämonisierung von Schwäche, Versehrtheit und Sterblichkeit beiträgt. Auch die Kunsthistorikerin Barbara Paul bezieht sich auf Donna Haraway, wenn sie aus feministisch-politischer Perspektive den diskursiv-medial herbeigeführten Kurzschluss von Alter und Alterität und die damit einhergehenden diskriminierenden und machtpolitisch funktionalisierten (Körper-) Vorstellungen problematisiert, die Alter(n) als hässliche und/oder abjekte Deformation beschreiben. Pauls Ansatzpunkt ist die grundsätzliche Relativität des Alters, die sich aus der Zeitlichkeit und dem transitorischen Moment des Alterns ergibt und in der Gegenwartskunst auf ganz unterschiedliche Weise vor Augen geführt wird. In ihrem Beitrag stellt sie neuere Arbeiten von fünf Künstlerinnen (Ines Doujak, Cindy Sherman, Cherry Sunkist alias Karin Fisslthaler, Inez van Lamsweerde, Susanne Weirich) vor, die mit Rekurs auf das Alter(n) kontingente, im ständigen Wandel begriffene Identitäten vorstellen und sich somit der Konstruktion von Alter als Differenzkategorie und der tendenziell hierarchisierenden Markierung von Alteritäten verweigern. Diese künstlerischen Formen der Un/Sichtbarmachung alternder Körper erscheinen hier als mitunter sehr effektive Strategien, um auch stereotype Verknüpfungen von Alter und Geschlecht aufzuzeigen bzw. in Frage zu stellen. Auf die stereotype, die ‚Natur‘ der Geschlechterdifferenz bekräftigende Diskursivierung des Alter(n)s verwies Susan Sontag schon 1972 in ihrem seither vielfach rezipierten Text The Double Standard of Aging. Die Literaturwissenschaftlerin Miriam Haller untersucht vergleichend Sontags Essay und Silvia Bovenschens 2006 erschienenes Buch Älter werden. Notizen. Das besondere Augenmerk gilt dabei den in diesen beiden autobiographischen Texten verwandten Schreibweisen in ihrem Bezug zu und Auswirkungen auf Konstruktionen des ‚alternden Ich‘ bzw. des alternden Körpers. Mit Rückgriff auf das von Klaus R. Schroeter formulierte Konzept des „doing age“ und angelehnt an den Performativitätsbegriff von Judith Butler arbeitet Haller in ihrer Analyse der Texte unterschiedliche narrative Strategien von „un/doing age“ heraus, die hinsichtlich ihrer ‚Widerständigkeit‘ gegenüber Alter(n)snormierungen beleuchtet werden. Während Sontag (von Frauen) eine affirmative Identitätspolitik einfordert, dieses Postulat aber durch ihre eigene Schreibweise performativ unterläuft, leistet Bovenschen durch die enge Verschränkung von Schreibweise und Ich-Konstitution einer permanenten Resignifikation des alten bzw. alternden Körpers Vorschub. Das Sprechtheater als ein in und mit der realen Zeit sich entfaltendes künstlerisches Medium bietet besondere Möglichkeiten für ‚un/doing‘ bzw. 26

EINLEITUNG

‚playing age‘. In ihrem Beitrag „Wie spielt man Altsein?“ stellt die Theaterwissenschaftlerin Miriam Dreysse einige Inszenierungen seit den 1980er Jahren vor, die auf ganz unterschiedliche Weise das Spannungsverhältnis zwischen Realität und Repräsentation thematisieren und für Vergegenwärtigungen des Alter(n)s fruchtbar machen. So wird zum einen der von Darsteller/inne/n und Publikum geteilte Zeit-Raum der Aufführung genutzt, um die Prozesshaftigkeit des Alter(n)s als eine gemeinsame Erfahrung zu markieren, die Zuschauer und Zuschauerinnen also aus ihrer passiven Rolle heraus zu einer, mitunter auch somatisch wirksamen, aktiven Teilhabe am Theatergeschehen zu bringen. Zum anderen werden die Modi des Dokumentarischen und des Fiktionalen gegeneinander ausgespielt, wenn tatsächlich alte (Laien-) Darsteller/innen die Bühne besetzen und Alt-Sein vorführen. Ihre konkreten, zugleich in das Schau-Spiel oder den Tanz eingebundenen Körper lassen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Stereotype Wahrnehmungsgewohnheiten und darin eingeschlossene Normierungen des Alter(n)s werden so erfahrbar. Solches leisten auch die Arbeiten der Künstlerin Annegret Soltau. Sabine Kampmann betrachtet in ihrem Beitrag eine von Soltaus so genannten ‚Fotovernähungen‘, die eine weibliche Generationenfolge voller körperlicher, über die Collage des fotografischen Materials herbeigeführter Risse und Brüche zeigt. In ihrer Analyse der zum Teil heftigen Abwehrreaktionen auf Soltaus Arbeit kann die Kunstwissenschaftlerin Kampmann unter anderem die anhaltende Wirksamkeit der historischen Verschränkung von Misogynie und Alter(n) nachweisen. Der Vergleich der 1994 entstandenen ‚Fotovernähung‘ mit frühneuzeitlichen Lebensalter-Darstellungen macht zudem deutlich, wie Soltau das tradierte Bildformular nutzt, um den ‚normalen‘ Lebenslauf, wie er üblicherweise über das mit der Zeit kontinuierlich sich wandelnde Körper(bild) zu sehen gegeben wird, in Frage zu stellen. Stattdessen zeigt die Künstlerin eine Verschränkung nicht nur der Körper selbst, sondern auch der an ihnen kraft herkömmlicher Zeichen ablesbaren Alterszustände, so dass jegliche auf das Alter(n) bezogene Regelhaftigkeit aufgehoben scheint.

Literatur Auth, Diana/Holland-Cunz, Barbara (Hg.): Grenzen der Bevölkerungspolitik. Strategien und Diskurse demographischer Steuerung, Opladen: Budrich 2007. Bake, Kristina: „Geschlechtsspezifisches Altern in einem Lebensalter-Zyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart“, in: Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht (2005), S. 113-133.

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EINLEITUNG

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Himmlisc he Körper oder w enn der Körper de n Geis t a ufgibt. Zur performa tiv produzierte n Hinfälligkeit des Körpers 1 HANNELORE BUBLITZ „Burn After Reading“ oder „Ich habe es lange genug ausgehalten mit diesem Körper“

Chad und Linda arbeiten im Fitnessstudio. Mit ihrem Wunsch zur Schönheitsoperation bringt die Fitnessangestellte Linda Litzke die Geschichte ins Rollen. Als Single-Frau über 40 will sie sich restaurieren, ein bisschen Speck an Bauch, Oberschenkeln und Oberarmen weg, die Augenfältchen gleich mit, und auch der Schwerkraft des Busens will sie entgegenwirken. Nur das nötige Kleingeld fehlt. Wie praktisch, dass Kollege Chad im Umkleideraum über eine CD mit offensichtlich brisantem Geheimmaterial stolpert und auf die glorreiche Idee kommt, den Besitzer, einen ehemaligen CIA-Experten, zu erpressen. Die Sache läuft aus dem Ruder, und durch das amüsante Bäumchenwechsel-dich-Spiel gibt es am Ende einige Tote, mehrere kaputte Beziehungen, aufgeregte Geheimdienstmänner, brummige Russen und – schließlich – auch die gewünschte Rundum-Erneuerung. Neben der witzigen Handlung ist der US-amerikanische Spielfilm Burn after Reading2 für mich und mein Thema interessant, weil er zeigt, dass Körperpraktiken als Technologien des Selbst zwar ein „Element einer bioästhetisch orientierten Gouvernementalität“ bilden, aber „im Namen von Selbstbestim1

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Unter dem Titel „Das Maß aller Dinge. Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-) Körpers“ ist auf der Grundlage dieses Beitrags, der um Aspekte der Evidenz und der Materialität des Geschlechtskörpers sowie der körperreflexiven Praxen erweitert wurde, eine veränderte und stark gekürzte Fassung veröffentlicht worden in: Ästhetik und Kommunikation, 144/145, 40 (2009), S. 151-160. Burn After Reading (dt.: Burn After Reading – Wer verbrennt sich hier die Finger?), USA 2008, Drehbuch und Regie: Ethan und Joel Coen. 33

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mung, Wahlfreiheit und Authentizität […] auf eine Sozialität ab(zielen), deren Kosten überwiegend dem Individuum entstehen“3, materiell und immateriell also in ‚Selbstsorge‘ aufgebracht werden müssen. Diese ‚Selbstsorge‘ bildet gewissermaßen den roten Faden des Films. Und ein zweiter Aspekt ist interessant: Im Gespräch mit dem Schönheitschirurgen sagt die über 40jährige Linda Litzke: „Ich habe aus meinem Körper rausgeholt, was möglich war“, und „Ich habe es lange genug ausgehalten mit diesem Körper“. Diese Feststellungen lenken die Aufmerksamkeit auf ein Selbstverhältnis, das den Körper als – nutzbringende und veränderbare – Humanressource ausweist. Der alternde Körper erscheint als ein im doppelten Wortsinn hinfälliger Körper, der wie eine überlebte Beziehung, die man lange genug ertragen hat, abgelegt wird. Der Körper erscheint hier als Äußerlichkeit, als Verhüllung, aber auch als unmodernes abgetragenes Kleid, das man wechselt, um ein neues überzuhängen. Was zum Vorschein kommt, ist nicht der ‚wirkliche‘, ‚authentische’ Körper, sondern wieder ein Gewand, ein anderes Körperkleid – ein Gedanke, der übrigens nicht ganz neu ist, sondern sich schon lange im theologischen Kontext findet.4 Hier deutet sich bereits an, dass der Körper, so paradox es klingt, zum Symbol der Zeitlosigkeit und des ewigen Lebens wird. Im Folgenden geht es zunächst um den Körper als scheinbar natürliche Ressource, der in mehr als einer Hinsicht als ‚hinfällig‘ markiert ist, nämlich zum einen als lebendiger, vergänglicher, sterblicher Körper, zum anderen als Körper nach Maß, der maßlosen Optimierungsmaßnahmen unterworfen wird – und damit einer ständig neu produzierten Hinfälligkeit unterliegt. Der zweite Abschnitt thematisiert den natürlichkünstlichen Körper als Technologie und verortet ihn in Praktiken der Fremd- und Selbstführung: Im Vordergrund der Betrachtung stehen gouvernementale Technologien des Körpers, die im Zeichen bioästhetischer Selbstformungsexperimente stehen; sie produzieren ‚Körper nach Maß‘. Zugleich wird deutlich, dass diese ‚maßgeschneiderten‘ Körper, die gesellschaftlich als maßlos schöne Körper zirkulieren, einem 3

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Sabine Maasen: „Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik“, in: Paula-Irene Villa (Hg.), Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript 2008, S. 99-118, hier S. 102. So zitieren Bernhard Lang und Colleen McDanell den Apostel Paulus, der über die „Natur des Auferstehungsleibes“ ausführt: „Der physische Leib im Gegensatz zum Auferstehungsleib gleicht einem Zelt oder Gewand, in dem das Ich oder die Seele wohnt. Gott wird der Seele nach dem Tod des Leibes ein neues Heim oder Kleid bereitstellen. Der Übergang von einem Gewand zum anderen ist mit einer gefährlichen Reise verbunden – dem Tod.“ (Bernhard Lang/Colleen McDanell: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1996, S. 59). Dies gilt ganz sicher auch für eine Reihe von ‚Baumaßnahmen‘, die den Körper auf eine biotechnisch angeleitete Reise schicken oder gar eine Reise durch den Körper machen.

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‚Verfallsdatum’ unterliegen. Damit sind sie einer technisch produzierten Hinfälligkeit ausgesetzt, die eine ständige Umformung erforderlich macht. Der ästhetisch geformte und durchgestylte Körper bildet das Maß aller Dinge. Im vierten Abschnitt geht es um den Körper als zentrales Element einer medialen Infrastruktur von Selbst- und Sozialtechnologien. Als ästhetisches Zeichen ewiger Jugend und ewiger Schönheit, das Unsterblichkeit und Zeitlosigkeit signalisiert, erscheint der Körper als Zeichen eines imaginären Raums, in den sich sexuelle Phantasien einschreiben. In der „verewigte(n) Schönheit des Leibes“5 wird der Körper schließlich – im sechsten Abschnitt – als Utensil irdischer Wunschterritorien präsentiert, wo er, mithilfe von Technologien, vollständig ‚vergeistigt‘, den ‚Geist aufgibt‘.

Der in mehrfacher Hinsicht hinfällige natürliche Körper Als organisches Gesamt(kunst)werk ist der Körper keine unhintergehbare Natur, die es lediglich freizulegen gilt und die von sich aus zu uns spricht. Der natürliche Körper ist vielmehr in mehr als einer Hinsicht hinfällig. Als „ein scheinbares Zeichen der Natur, tatsächlich aber gänzlich kulturell“6, steht er im Zentrum der Gesellschaft. Selbst die elementaren (Bewegungs-)Formen des Körpers folgen kulturellen Mustern, die durch Nachahmung und Verinnerlichung weitergegeben werden. Was den Körper bewegt, erschließt sich einer ‚Archäologie der körperlichen Gewohnheiten‘7: Eine kulturspezifische Gangart, eingeübte Körperhaltungen, die Art der Bewegung und Stellung einzelner Körperteile beim Gehen weisen ihn als kulturell geformten Körper aus. Ohne das System der Zeichen ist der Körper nicht zu denken und nie anders denn als immer schon ‚gesprochener‘ Körper zu haben. Wie eine Landkarte ist der Körper historisch und kulturell kartographiert.8 Seine Gestalt erhält er durch soziale Codes, Narrative, Diskurse und Praktiken, Körpernormen und Normalisierungsmaßnahmen (wie dominante Schönheitsideale, Diäten, Fitnesspraktiken, Schlankheitsoperationen etc.). Dadurch lösen sich nicht nur die Grenzziehungen zwischen Natur(geschichte) und Kultur(geschichte), sondern auch die zwischen der ‚Ordnung der Dinge‘ (Michel Foucault) und der Ordnung der Zeichen auf. Auch die 5 6 7 8

B. Lang/C. McDanell: Der Himmel, S. 91. François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 57. Vgl. Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 197-220. Philipp Sarasin: „‚Mapping the body‘? Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus und ‚Erfahrung’“, in: Historische Anthropologie 7, 3 (1999), S. 437-451. 35

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Haut hat nicht nur „ihre Funktion als Grenze zwischen innen und außen und als Grenze zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verloren, seit bildgebende Verfahren Repräsentationen des Körperinneren aus allen Perspektiven ermöglichen“; darüber hinaus „verwischen sich“ auch „die Unterschiede zwischen biologischen und informationsverarbeitenden Systemen“9. Der Körper ist selbst Zeichen und Medium. Er erscheint als ‚Text‘, der sich fortwährend schreibt und verändert, während er gelesen wird.10 Die Spuren, die historische Ereignisse am Körper hinterlassen, können nur ‚archäologisch‘ rekonstruiert werden.11 Der Körper ist selbst eine Technologie, die sich fortwährend form(ier)t und modifiziert. Zugleich unterliegt auch der technisch-medial geformte Körper einem ‚Verfallsdatum‘, das sich, angekoppelt an modische Rhythmen, stetig verkürzt. Hinfälligkeit ist also ein Markenzeichen des natürlichkünstlichen Körpers.

Der Körper als Technologie Am Körper scheiden sich die Geister. Im Zuge der – poststrukturalistisch inspirierten – Debatte um den Körper wird dieser zu einer historischen Kategorie, die eine neue, körperbasierte Perspektive auf Formen der Subjektivierung und der Sozialität eröffnet. Seitdem bildet der Körper den Schauplatz diskursiver Kämpfe. Erscheint der Körper einerseits als Effekt sozialer (Bezeichnungs-)Praktiken, so provoziert dies andererseits den Vorwurf seiner Entmaterialisierung.12 Über allem schweben der Vorwurf der ‚Entkörperung‘ und die These vom ‚Verschwinden des Körpers‘. Im Grunde läuft es auf die visionäre Befürchtung hinaus, dass der Geist nun endgültig den Körper aufgibt oder sich zumindest aus seiner körperlichen Verankerung löst.

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P. Sarasin: ‚Mapping the body‘?, S. 437ff.; vgl. auch Evelyn Fox-Keller: Das Leben neu denken, München: Kunstmann 1998, und dies.: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt a.M.: Campus 2001. 10 Vgl. dazu Lily E. Kay: Who wrote the book of life? A History of the Genetic Code, Stanford: Stanford University Press 2000. 11 Vgl. Dieter Schmidt: „Fossilien. Das Insistieren der Körper im Diskurs der Kulturwissenschaften“, in: Annette Barkhaus/Anne Fleig (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München: Fink 2002, S. 65-82. 12 Vgl. dazu ausführlicher P. Sarasin: ‚Mapping the body‘?; Heiko Stoff: „Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre“, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 14 (1999), S. 142-160; Dagmar Ellerbrock: „Körper-Moden – Körper-Grenzen“, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 52-84, sowie Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers, Bielefeld: transcript 2004, und ders. (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: transcript 2006. 36

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Ich gehe im Folgenden davon aus, dass der Körper eingebunden ist in biopolitische Praktiken der Fremd- und Selbstführung, die ihn ankoppeln an bio-ästhetische und bio-medikalisierte Technologien der Subjektivierung und neue Formen der Sozialität. Die Annahme ist ferner, dass der Körper zum Einsatz eines Dispositivs wird, das Formen eines körperbasierten Selbstmanagements in ein neoliberales Programm der permanenten Optimierung integriert. Der Körper und seine Gestaltung erscheinen nun als veränderungsfähig, vor allem aber als veränderungsbedürftig. Dabei stellt das Optimierungsmotiv, also das „frei gewählte Schönheitshandeln[,] auf die individuelle Maximierung von Lebenschancen ab und dies unter Einsatz aller verfügbaren Technologien“. Es folgt dabei gewissermaßen einem „Imperativ zur ‚dermatologischen Selbstvermarktung‘“13, die am marktförmigen Einsatz aller persönlichen Ressourcen und am Gemeinwohlgebot ausgerichtet ist.

Körper nach Maß: Praktiken bioästhetischer Selbstformung Phantasien des biologisch und technisch aufgerüsteten Körpers bevölkern nachdrücklich die Köpfe. Digitale Schönheiten (der Kulturindustrie) repräsentieren perfekte Körper nach Maß. Dabei ist der Körper nicht mehr nur Anhängsel produktionssteigernder Maschinen. Vielmehr hat sich die Physiologie des Körpers so verändert, dass die Technik selbst zum Teil des Körpers wird. Der Körper ist im wörtlichen Sinne zum Instrument alltäglicher Selbstinszenierung geworden. Diese betrifft nicht nur die Oberfläche des Körpers und dessen Ver- oder Enthüllung. Die Inszenierung reicht vielmehr unter die Haut. Technologische Körperpraktiken können den Körper wie ein zu weites Kleid enger machen oder mit Polstern unterlegen. Fortwährend wird der Körper stimulierenden Kontrollen unterworfen. Dabei mutiert er zu einer „Schnittstelle“ im doppelten Sinne: „Einerseits der prothetisch erweiterte und zurecht geschnittene menschliche Körper, andererseits die mit menschlichen Zügen und lebendigem Material versehene Maschine.“14 Aber: „no body is perfect“15. „Körper von Gewicht“16 sind in diesem Falle im wahrsten Sinne des Wortes nicht diejenigen, die regulierenden Idealen fol-

13 S. Maasen: Bio-ästhetische Gouvernementalität; vgl. auch Arnd Pollmann: „Hart an der Grenze. Skizze einer Anamnese spätmodernen Körperkults“, in: Johann Ach/Arnd Pollmann (Hg.), no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld: transcript 2008, S. 307-324. 14 Annette Barkhaus/Anne Fleig: „Körperdimensionen oder die Unmögliche Rede von Unverfügbarem“, in: dies. (Hg.), Grenzverläufe (2002), S. 9-25, hier S. 10. 15 Vgl. J. Ach/A. Pollmann (Hg.): no body is perfect (2006). 37

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gen und diese materialisieren. Vielmehr bilden sie diejenigen Extreme eines körperlichen Kontinuums, die in ihrer „schweren, bedrohlichen Materialität“17 einem gesellschaftlichen und individuellen (Seelen-)Tribunal unterstellt sind, das sie als zu (schwer-)gewichtig, als unbeweglich und gesundheitsgefährdend befindet. Es sind als ‚faltig‘ und ‚schlapp‘ apostrophierte, als unattraktiv und unerotisch etikettierte und als solche verworfene Körper, denen der Subjektstatus verweigert wird. Sie werden Körper-Bau-Maßnahmen wie dem Body Shaping oder aber weit reichenden chirurgischen Eingriffen wie dem Magenband oder der Magenverkleinerung unterstellt. Kathrin Morgan zeigt die gouvernementalen Strategien auf, denen diese Körper unterworfen werden; sie reichen von Stereotypisierungen über Formen der Pathologisierung bis zu ökonomischer Diskriminierung, Marginalisierung und Ausbeutung, offenen Ressentiments und sozialer Exklusion.18 Strategien der „biomedikalisierte[n] techno-ästhetische[n] Subjektivität“19 bewegen sich zwischen eher ‚freiwilligen’ Maßnahmen einer verantwortungsbewussten − die Gesundheitsrisiken minimierenden und die ästhetisch-erotisch-sexuelle Attraktivität maximierenden − Subjektivität und ihrer forcierten Regulierung und Überwachung durch Formen staatlich und privat organisierter Gesundheitspolitik.20 „‚Dicksein‘, dieses ‚Plus an Fett‘ gilt – wie Alter und Behinderung – als Belastung, als Virus, als Mangel an Selbstbeherrschung und Zeichen von Willensschwäche, als persönlicher Makel und inakzeptable Belastung der Konsumgesellschaft, der nur mit rigider Körper- und Bedürfniskontrolle beizukommen ist.“21 Hier geht es nicht nur um die Auslöschung individualisierender Körperspuren, wie Altersfältchen, hormonelle Veränderungen oder Speckröllchen, die, gemessen an einer kanonischen Körpernorm, unattraktiv erscheinen. Die Schematisierung und Norm(alis)ierung eines kosmetischen Körperselbst steht vielmehr in engem Zusammenhang mit der Vorenthaltung sozialer Anerkennung und Integration und dem Verlust von Selbstwertgefühl. Nur wer permanent an der Verbesserung, ja, Optimierung seines Körpers

16 Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995. 17 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, München: Carl Hanser 1971. 18 Vgl. Kathrin Pauly Morgan: „Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fetthass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika“, in: Villa (Hg.), Schön normal (2008), S. 143-172, hier S. 154f. 19 Ebd., S. 155. 20 Vgl. ebd., S. 165f. 21 Nicole Wilk: Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung, Frankfurt a.M.: Campus 2002, S. 225. 38

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arbeitet, verdient Wertschätzung; „nur unternehmerisch agierende Subjekte sind es noch wert, als Subjekte anerkannt zu werden.“22 Die bio-ästhetische Steigerung des Körpers ist nur durch permanente Aufmerksamkeit, durch Vollbeschäftigung des Körpers zu haben, der als – gewinnbringendes – Unternehmen immer ein unabgeschlossenes Projekt bleibt.23 Diesem Unternehmen, das alle Lebensäußerungen begleitet, entspricht der gesellschaftlich ausgeprägte, systematische ‚Fett-Hass‘. Offensichtlich ist jetzt ein Regierungshandeln, eine Form der Gouvernementalität gefordert, die dem ungebremsten Konsum Einhalt gebietet und sowohl auf institutionelle Kontrollpraktiken als auch auf selbstkontrollierte Individuen setzt.

Zur Infrastruktur von Körper-, Selbst- und Sozialtechnologien ‚Manipulationen‘ am Körper sind Technologien des Selbst, die, eingebettet in eine komplexe Matrix von Mikropolitiken, eine qualitativ neue Form von Sozialität stiften.24 Inspiriert von Heldengeschichten der Medien, in denen der Körper durch Magen- und Schönheitsoperationen künstlich gezügelt und modelliert wird, ermöglichen medizinische Eingriffe und ästhetische Operationen, die den Körper umformen, eine Befreiung aus dem Gefängnis des ‚fetten’ und verhassten Körpers (mit seinem ungezügelten Appetit, seiner ‚Gefräßigkeit‘) – mit dem Ziel einer „selbstdisziplinierte[n] Wiedergeburt“25. Durch Anwendung von Technologien des Selbst, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper […] vorzunehmen“, rückt der „Zustand des Glücks, der Reinheit […] oder der Unsterblichkeit“26 in greifbare Nähe. Mit Hilfe „biographischer Operationen“27 optimiert, erscheint der Körper so als ‚Baustelle‘. Sein Profil wird nicht bewahrt, sondern einer ständigen Umformung unterzogen. 22 Paula-Irene Villa: „Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen“, in: dies. (Hg.), Schön normal (2008), S. 7-20, hier S. 12; vgl. dazu auch Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Subjekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 23 Vgl. S. Maasen: Bio-ästhetische Gouvernementalität, S. 112. 24 Ebd., S. 102f. 25 K. P. Morgan: Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne, S. 156. 26 Michel Foucault: „Technologien des Selbst“, in: Michel Foucault/Martin Rux u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 24-62, hier S. 26. 27 Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München: Fink 1996. Runte bezieht sich auf „biographische Operationen“ Transsexueller, die angeben, im falschen Körper zu wohnen und daher sowohl technisch-operative als auch sozio-biographische Modifikationen an ihm vornehmen. 39

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Der unentwegt hinfällige und erneuerte Körper wird zum Halt einer schweifenden Subjektivität, die, flexibel und dynamisch, aber eben auch atem- und orientierungslos, im doppelten Wortsinn dem ‚Schwindel‘ einer ständigen Selbsttransformation ausgesetzt ist. Dabei verwandelt sich der maßgeschneiderte Körper in eine ‚prothetische Apparatur‘, die dem realen Körper das Bild seiner misslungenen Verkörperung, aber auch seiner möglichen technischen Perfektionierung spiegeln. Die Wiedereinführung des mangelhaften, in einzelne Körperelemente ‚zerstückelten Körpers‘28, auf den sich der optimierende Blick richtet, führt dazu, dass der reale Körper unablässig so lange umgeformt wird, bis er medialen Körperanatomien und Körperbildern zu gleichen scheint. In einer Gesellschaft, die sich dem Körperkult verschreibt und in der das unternehmerische Selbst zugleich eines ist, das sich, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, auch ästhetisch gefällig im Sinne der Marktökonomie präsentiert, geht es um fortwährende Selbstkontrolle, die aus freiem Willen zu erfolgen scheint. Sich auf dem Markt zu präsentieren, der alles, die Gesellschaft, die Ökonomie, das Privatleben, kurz, das gesamte Netzwerk gesellschaftlicher Anschlüsse umfasst29, wird zum Bestandteil flexibler Technologien des ‚unternehmerischen Selbst‘.30 Sie erfordern einen ‚gelehrigen Körper‘, der sich hinsichtlich seiner Konstitution und Gestalt nicht nur fortlaufender Verhaltenssteuerung und Produktivität, sondern vor allem technisch-operativen und ästhetisch-stilistischen Optimierungsmaßnahmen unterwirft. Das Modell ist der „autoplastische ‚Prothesengott‘ (Sigmund Freud), der keine Grenzen des Verbiegens mehr kennt und sich schon jetzt als humantechnologische Schnittstelle für weitere Umbaumaßnahmen anbietet“31. Aber der Körper ist nicht nur die Schnittstelle, in der sich Fremd- und Selbstführung, mediale Applikationsfolien und der nach innen gewendete, imaginierte Blick der Anderen mit Selbststeuerung verbinden. Er ist auch ein immer wieder neu aufgelegtes Schnittmuster desjenigen Schönen, das ‚ankommt‘. Nur so ist gewährleistet, dass er bereits in seiner physischen Konstitution und Morphologie in ein ästhetisches und soziales Normalitätsspektrum eingeordnet werden kann. Körper(maße) und Körper nach Maß werden zum Maß aller Dinge: Aufstieg, sozialer Erfolg, Karriere, Ansehen und Anerkennung sind an technisch-medial ermittelte Körperproportionen und -standards gebunden. Wer Schönheit ausstrahlt, ist der (Lotto-)Gewinner der Gesellschaft; ihm oder ihr stehen Aufmerksamkeit und Status zu. So wirken die rea28 Vgl. Jaques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion“, in: ders., Schriften, ausgew. und hg. von Norbert Haas, Bd. 1, Berlin: Quadriga 1996, S. 61-70. 29 Vgl. A. Pollmann: Hart an der Grenze, S. 320. 30 Vgl. U. Bröckling: Das unternehmerische Subjekt. 31 A. Pollmann: Hart an der Grenze, S. 321 [Hervorhebung im Original]. 40

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len Körper(-subjekte) wie die Angestellten gesellschaftlich-technisch-medial produzierter (Körper-)Bilder und durch sie generierter Modelle, die, nur um den Preis des sozialen Ausschlusses, aufkündbar sind. Dabei führen die Maßlosigkeit und scheinbare Grenzenlosigkeit des technisch Möglichen Regie, die den Körper immer wieder neu modellieren. Wer nicht bereit ist, ‚Hand an sich zu legen‘, hat auf dem Markt der Aufmerksamkeit das Nachsehen. Aus dem schicksalhaften Körper, aus ‚gottgewollter‘ Natur, wird so das Schicksal des Körpers – und mit ihm seines ‚Inhabers‘: Wer nicht modelliert und modifiziert, wird aussortiert. Die Mittel heiligen den Zweck, nämlich die Inkarnation des – himmlischen – Glücks, der Unsterblichkeit. Entsagung und Askese, sichtbar am schlanken, besser noch, mageren Körper, wird als Schönheit, aber auch als gesellschaftliche Macht und Teilhabe (um)gedeutet. Über die Lust des Auges (am Sehen der Nahrungsmittel und des Essens) triumphiert der Blick (der anderen, des Spiegels, der Norm).

Der Körper als ästhetisches Zeichen eines imaginären Raums Es scheint, als würde der Körper, entgegen der tausendjährigen Geschichte seiner Unterwerfung unter den Geist, heilig gesprochen. Aber es ist nicht der lebendige Leib, sondern der übernatürliche Körper, der „Körper des Königs“32, der als der „unberührbare Träger“33 und Repräsentant von Macht die Zeit überdauert und niemals stirbt. Der himmlische Körper, der allem entsagt, über allem steht – und nie vergeht. Dieser übernatürliche Körper, der sich sozial und medial präsentiert und regiert, feiert seine Wiederkehr als Zeichen einer Überhöhung und geradezu als Heiligsprechung des Individuums und seines individuellen Körpers. Eingebettet in einen biopolitischen Körperkult, wird der alternde, hinfällige und sterbliche Körper zum Ausnahmezustand, während der asketische ebenso wie der technisch (auf)gerüstete Körper quasi-religiöse Züge annimmt. Es ist die Wiederkehr des erotisch wirkenden unschuldig kindlichen Körpers, der sich, als Zeichen der Reinheit und der Askese, dem Verzicht und dem Leiden unterwirft. Die gesellschaftlichen Verstrickungen und Sünden eines luxurierenden materiellen Lebens konterkarierend, lässt dieser als ‚unschuldig‘ inszenierte Körper ein pädophiles Begehren im Gewand eines (ver)geistig(t)en Leibs auferstehen. 32 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart: Klett Cotta 2000. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 40f. 33 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 40. 41

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Mit dieser Heiligsprechung des Verzichts und der Askese wird der Körper zum ästhetischen Zeichen eines imaginären Raums, der widersprüchlich strukturiert ist: Zum einen überschreitet er mit dem Anspruch auf ‚ewige Jugend‘, Schönheit und fortdauernde sexuelle Attraktivität den begrenzten irdischen Raum des vergänglichen Lebens. Zum anderen aber verschreibt er sich genau damit irdischen Begierden. Der perfekte, maßgeschneiderte Körper ist der, der beides verkörpert: Irdisches Begehren und überirdisches Entrücktsein. In ihm verschränken sich „[...] die Abwehr der Gebärfähigkeit […] mit technomorphen Bezwingungsphantasien“34. Aufschluss und Sicherheit geben die Messgeräte, nicht der Mensch, gibt die Produktpalette, nicht das, was in einem Produkt steckt. Erfahrungen. Spuren einzigartiger, aber vergänglicher Körperlichkeit müssen getilgt werden; Zeitlosigkeit und ewige Dauer sind die Devise: So lautet der Text einer Werbebroschüre der Firma Diesel 2001/02, die unter dem Motto „Staying young forever“ und „Save yourself“ nach eigenen Worten „lebensrettende Ratschläge [for successful living]“ (Diesel-Slogan), also für ein erfolgreiches Leben enthält: „With this handy guide to eternal youth, you can be young, beautiful and sexy for ever.“35 Oder, ein anderes Beispiel: „I have enough breathe left to last for another 12 decades of teenage beauty. Imagine that - I’ll look this good for another 120 years! Come and get me, boys!“36 (Abb. 1) Selbst Ausdruck eines berechenbaren Glücks, das sich in Maß und Zahl ausdrückt, zeigt sich hier nicht nur jugendliche Schönheit, die ‚ewig’ andauert, sondern auch Formen der Sexualisierung, die Effekt ästhetischer, biotechnologischer und medialer ‚Baumaßnahmen‘ sind, die den (Geschlechts-)Körper Vorstellungen von ewiger Jugend, Schönheit und damit verknüpfte Normen sexueller Attraktivität unterwerfen. Körpertechniken im Bereich von Fitness- und AntiAging-Praktiken setzen ebenso wie chirurgische Implantate oder biotechnisch manipulierte Gendesigns auf den extensiven Wunsch nach ewiger Schönheit und Jugend, Unsterblichkeit und ewigem Leben. Gleichzeitig unterwerfen sie den biotechnisch und medienästhetisch gestylten Körper einem immer schnelleren Verfallsdatum, obwohl sie doch gleichzeitig eine Steigerung und Verlängerung seines ‚Haltbarkeitsdatums‘ versprechen.

34 N. Wilk: Körpercodes, S. 275. 35 „Staying young forever“ von Jean-Pierre Khazem, 2001, http://jozworld. club.fr/ diesel_00.htm 36 http://jozworld.club.fr/imageview.php?x=imagesHD/Diesel/diesel-save-yourself _002.jpg 42

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Abbildung 1: Werbeanzeigen von Diesel, 2001/02, „Save yourself/ Breathe less“, aus der Serie „Staying young forever“ von Jean-Pierre Khazem

Es entsteht eine Paradoxie: Der natürliche Verfall des Körpers wird durch ein technisch-industriell produziertes Verfahren abgelöst, das den Körper einem warenökonomisch beschleunigten Verfallsdatum unterwirft. Hier werden die begrenzten Maße des organischen Körpers einer Maßlosigkeit des Begehrens unterworfen, die das begehrte Objekt, den perfekten Körper, in dem Moment entwerten, in dem er sich der Wunscherfüllung nähert. Denn die Vervielfältigung der Wünsche ist ebenso wie die immer wieder behauptete Mangelhaftigkeit des Körpers der Motor einer Konsumlogik, in der sich das Verlangen nach ewiger Schönheit und Jugend ebenso wie das Begehren, einen perfekten Körper zu besitzen, endlos aufrechterhalten und erneuern, gefangen in einem zirkulären Teufelskreis des Begehrens. Tausch- und Libido-Ökonomie greifen ineinander und geben sich einen Körper, dessen Tod und Verschwinden durch seinen ständig aufs Neue reproduzierten Mangel – und das Begehren nach ‚Mehr‘ – verhindert werden.37 Gleichzeitig entrückt der durch Gewichtsmanagement techno-ästhetisch durchgestylte Körper dem Leben immer weiter; er hat sich – und seine Kontrolle – einer ‚inneren Polizei‘ übergeben, die schon im Magen dafür sorgt, dass der Körper nicht mehr vom Terror des Hungers überfallen wird und Heißhunger-Attacken abwehrt.38

37 Vgl. dazu auch Hannelore Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur, Bielefeld: transcript 2005, S. 119f. 38 Vgl. K. P. Morgan: Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne, S. 156f. 43

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D e r ‚ h i m m l i s c h e K ö r p e r , d i e „ v e r ew i g t e S c h ö n h e i t des Leibes“ als modisches Utensil irdischer Wunschterritorien Am Ende erstrahlt der ewig jugendliche Körper in himmlischer Schönheit und signalisiert so das Ende aller Begehrlichkeiten. Technologisch produziert gibt der so präsentierte Körper gewissermaßen ‚den Geist auf‘, indem er, betont künstlich arrangiert, wie ein Zombie erscheint, der als geschlechts- und lebloses Phantasma des Körpers zugleich so täuschend natürlich wie eine Puppe erscheint, die Lebendigkeit bloß simuliert und zugleich erotisch aufgeladen ist. Die Werbung macht das augenfällig (Abb. 2). Abbildung 2: Werbeanzeige von Jil Sander, GQ Männermagazin 2005

Jeglicher Materialität entrückt, gibt der Körper sich als Repräsentant des ewigen Lebens aus, dem der Tod – und damit das ‚ewige Leben‘ – bereits auf die Stirn geschrieben sind, der aber gleichzeitig zum Objekt einer optimierten Vermarktung und Verwertung geworden ist. Auf diese Weise ästhetisiert und 44

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stilisiert, wird der Körper zum signifikanten Symbol des endlos-endlichen Lebens, das sich seines Verfalls(-datums) scheinbar entledigt hat. Gerade in der Annäherung des Körpers an ein technisches Optimum aber ‚verfällt‘ die Materialität des Körpers in immer kürzeren Zyklen, wodurch seine ‚Sterblichkeit‘ zugleich beschleunigt wird. Als Inkarnation medienästhetischer Körperbilder wird der Körper zum ästhetischen Symbol des ‚ewigen Lebens‘, das den lebendigen, hinfälligen Leib hinter sich lässt, zugleich aber auch ‚den Geist aufgibt‘. Der ‚Auferstehungsleib‘, der den physischen Leib wie ein Gewand, das gewechselt wird, hinter sich lässt, kehrt als modisches Utensil himmlischen Glücks in irdische Wunschterritorien zurück. Damit rückt die „verewigte Schönheit des Leibes“39 in greifbare Nähe. Und das Leiden erzeugt in der Wiedergeburt „weltliche ‚Heilige des disziplinierten Fleisches‘“40 und himmlische Körper. Denn darin besteht der Ausgleich für das Martyrium der Enthaltsamkeit: Es stellt die „Auferstehung des Fleisches“41 und dessen himmlische Schönheit in Aussicht, über die Lang und McDanell in ihrer Kulturgeschichte des ewigen Lebens mit Bezug auf Augustinus‘ Vorliebe für die „Göttlichkeit des Schönen“42 und „die kirchliche Verheißung“ der „verewigte[n] Schönheit des Leibes“43 schreiben: „Im ewigen Leben wird menschliche Schönheit durch nichts mehr beeinträchtigt. Da ‚fehlendes Ebenmaß Missfallen bedeutet‘, wird bei der Auferstehung ‚die Körpergröße so bemessen sein, wie es der dem Leibe eines jeden Menschen eingepflanzten Idee vollendeter [...] Jugendkraft entspricht, wobei die einzelnen Glieder in schicklichem Verhältnis zueinander stehen werden.‘“44

Und weiter bei Augustinus heißt es, dass man auch „‚um die Mageren und Fettleibigen nicht besorgt zu sein [braucht], sie möchten etwa auch drüben so sein, wie sie hier ungern genug waren‘“45. Auch wird eine „ansprechende Farbe“ der Haut nicht fehlen. Im Himmel wird es also nicht nur menschliche Leiber geben, sie werden alle auch nur denkbare Schönheit und jedes Ebenmaß besitzen.46 Denn Augustinus ist sich sicher: „Im Himmel herrscht Schönheit.“47 Unsicherheit besteht zunächst lediglich darüber, ob die „auferstandenen Frauen die Merkmale ihres Geschlechts verlieren“. Schließlich aber 39 40 41 42 43 44 45 46 47

B. Lang/C. McDanell: Der Himmel, S. 91. K. P. Morgan: Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne, S. 156. B. Lang/C. McDanell: Der Himmel, S. 77. Ebd., S. 94. Ebd., S. 91. Ebd., S. 94. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 95. 45

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geht Augustinus davon aus, dass das nicht nötig sein wird: „[B]eide Geschlechter werden auferstehen“ und auf diese Weise die „vollkommene Schönheit des Körpers bewundern können, dessen paradiesische Nacktheit wiederhergestellt sein wird. Die erotische Anziehungskraft wird frei sein von aller Begehrlichkeit […]. Im anderen Leben wird es kein Interesse am Geschlechtsverkehr geben, denn jede Begierde hört überhaupt auf.“48

Schluss Erscheint der Körper einerseits, ungeachtet seiner historischen Formierung, als Garant einer fraglosen physischen Realität, so wird er andererseits als Effekt historischer Körperpolitiken konturiert und damit als – soziohistorischen Normierungspraxen vorgängige – Naturkategorie dementiert. Fraglos ist der Körper lediglich in der Doppelung als natürlichkünstlicher Körper. Natürlich ist der Körper künstlich – beides ist aufeinander bezogen. Denn was als Natur erscheint, ist immer schon soziohistorisch bezeichnet, kategorisiert und damit kulturell-künstlich. Das setzt allerdings voraus, dass sich Bezeichnungspraxen körperlich materialisieren.49 Aber nicht nur die Bezeichnungspraxen, auch der Verfall und die Hinfälligkeit des – realen, lebendigen und sterblichen – Körpers verweisen auf die Materialität des Körpers.50 Dass er sterblich ist und real stirbt, entzieht ihn in gewisser Weise soziohistorischen Formierungs- und Norm(alis)ierungspraktiken und zeigt, dass er nicht vollständig beherrschbar ist, wenngleich auch noch sein Tod Normalitäten und Normierungen unterworfen ist. Zugleich überantwortet das scheinbar schrankenlose Streben nach ewiger Schönheit und Unsterblichkeit den Körper der Vorherrschaft des Geistes, der ihn, so scheint es, der Unsterblichkeit ein Stück näher bringt. In Wirklichkeit verkürzen Maßnahmen zur Perfektionierung des natürlich-künstlichen 48 Ebd. 49 Der Körper besitzt aus dieser Perspektive nicht von sich aus Ausdruck und Form, sondern er steht als Objekt von Bezeichnung, Lenkung und Manipulation zur Verfügung; vgl. dazu Werner Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ‚inneren‘ Natur in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 36. 50 Der Körper bildet die materiale Dimension des Leibes, die Objekt von Formungsprozessen ist, während der Leib als Synonym des Lebens und Daseins gelten kann. Am Körper vollziehen sich in der Moderne eine Reihe von Trennungen, so u.a. auch die von Körper und Leib, Leib und Seele, Mensch und Natur. Mit der ‚Entdeckung des Menschen‘ und seiner Endlichkeit, die Foucault in die Humanwissenschaften des 18./19. Jahrhunderts einordnet, kommt auch der Körper zu Bewusstsein, womit zugleich seine Endlichkeit ins Bewusstsein dringt; vgl. dazu Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 367ff; und W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper, S. 32ff. 46

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Körpers seine Lebensdauer; dadurch wird die Sterblichkeit – des realen, lebendigen Körpers – erhöht, nicht verkürzt oder gar abgeschafft. Der unsterbliche Körper aber kennt den leiblichen, sterblichen Körper nur noch als Erinnerung, die allerdings nicht mehr ins Bewusstsein tritt. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Der unsterbliche Körper zirkuliert, von der Körperindustrie in Umlauf gebracht, als Zeichen eines imaginären Raums, eines Begehrens nach ewiger Jugend, Schönheit und sexueller Attraktivität. Er verweist darauf, dass der Körper, technisch (ent)materialisiert, paradoxerweise ‚den Geist aufgibt‘, um ewig zu leben. Und die „verewigte Schönheit des Leibes“51, Wunschvorstellung irdischen Glücks, realisiert sich nun in der bioästhetischen, technik- und medieninduzierten Artifizialisierung des Körpers. An die Stelle des ‚realen‘ Körpers, die in der industriellen Produktion des „zerstückelten Körpers“52 in rasendem Tempo voranschreitet, tritt nun der ‚künstliche und imaginäre‘ Körper, dessen Materialität sich, als modisches Utensil irdischer Wunschterritorien nunmehr ausschließlich als Verkörperung eines künstlich produzierten Körperideals darstellt. Aber der Tod (des zerstückelten und des idealen Spiegelkörpers) ist nah. Der reale Körper, der über die bloße Spiegelung des kulturellen Körperideals hinausweist, stirbt. Aber nur, um den hinfälligen Körper – schon im irdischen Leben – nun ganz hinter sich zu lassen und das „freie Gleiten zwischen verschiedenen Verkörperungen, die wahre Geburt des Menschen“53 zu ermöglichen.

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Zizek, Slavoj: „Der Mensch auf dem Weg zum reinen Geist. Vorüberlegungen zum Umgang mit spirituellen Maschinen“, in: Literaturen 1 (2001), S. 70-75.

Ab b i l d u n g e n Abb. 1: Werbeanzeigen von Diesel, 2001, „Save yourself/ Breathe less“, aus der Serie „Staying young forever“ von Jean-Pierre Khazem, Quelle: http://jozworld.club.fr Abb. 2: Werbeanzeige von Jil Sander, 2005, Quelle: GQ Männermagazin 2005

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‚Kons umklas sizis mus ‘: Körperra s ure n zw ische n Pornogra phie und Zeitlosigke it JÖRG SCHELLER

„Ikonosomatik“ Spezifische Kulturen bedingen spezifische Körperbilder. Der Körper ist ein historisch relatives, labiles, wandel- und ergo formbares Subjekt-Objekt. Wie aber ‚schreiben‘ sich die Zeit, die Geschichte, die Kultur bildhaft in die Körper ein – und wie schreibt der Körper selbst Geschichte? Wie sähe eine Ikonologie des Körpers aus, welche nicht die Existenz von ‚Ähnlichkeiten‘ zwischen dem ‚Geist der Zeit‘ und den Körperbildern voraus setzte, die an den äußeren Körperformen selbst ablesbar sind? Man könnte naiv davon ausgehen, dass eine unmittelbare, eindeutige, ja transhistorische Beziehung zwischen Körperbild und Kultur bestünde. Die Kultur Spartas, um ein historisch fernes, aber gleichwohl nahe liegendes Beispiel zu verwenden, züchtete demzufolge ‚spartanische Körper‘ heran, in denen die Wertbegriffe des Volkes eine Art somatisch-ästhetische Evidenz erlangten: Mentale Härte spiegelte sich in körperlicher Härte, geistige Askese erzeugte asketische Leiber. Das klingt zunächst einleuchtend. Doch beim Umkehrschluss stoßen wir auf Probleme: Ist der gedrillte Körper also unweigerlich an eine spartanistische Ideologie geknüpft? Anders gefragt: Wenn hard bodies das logische Pendant zu hard minds sind, wie ließe sich dann die eher gallertartig wirkende Konsistenz des ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney erklären? Es scheint, als seien die skulpturalen Qualitäten des Körpers selbst eine nur mögliche, nicht aber eine hinreichende Bedingung für eine noch zu entwickelnde Methodik, die ich „Ikonosomatik“ nennen möchte: eine kontextuell operierende Ikonologie des Körpers.

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Diese ginge nicht von der vulgärsemiotischen Annahme aus, dass der Körper als Zeichen so eindeutig lesbar sei wie die Hinweise ♀ ♂ an einer abendländischen Standardtoilette. „Ikonosomatik“, wie ich sie verstehe, definiert den Körper als ein „offenes Kunstwerk“1, das eine Fülle nichtintentionaler, latenter und habitueller Bedeutungen birgt. Entgegen den Absichten ihrer Schöpfer entwickeln selbst vordergründig unzweideutige Körperdesigns ein Eigenleben in der Wahrnehmung unterschiedlicher Betrachter. Ein muskulöser Körper etwa mag viele Menschen an Skulpturen von Arno Breker oder Josef Thorak erinnern, doch er kann in einem gänzlich anderen ideologischen respektive postideologischen Zusammenhang stehen. Ein totalrasierter Körper wiederum kann von Hardcore-Porno-Stars wie Sasha Grey, Brandon Iron oder Jenna Jameson inspiriert sein und zugleich eine klassizistische Anmutung haben. Insbesondere für den zeitgenössischen Körper gilt, was Arnold Gehlen über die moderne Kunst gesagt hat: Er ist „kommentarbedürftig“ weil seine Form nicht zwingend an eine weltanschauliche Norm gebunden ist.2 So propagierte beispielsweise Leni Riefenstahl hegemoniale Körperideale und -normen, die vermeintlich identisch sind mit denen heutiger Fitness-Freaks oder mit „neoliberalen Körperbildern“3. Aber nicht jeder Zeitgenosse, dessen Körper Riefenstahl gefallen hätte, muss deshalb ihre Weltanschauung teilen. Solange der „perfectible body“4 Anteilseigner einer liberaldemokratischen Gesellschaft ist, mündet Körpernormierung nicht in allumfassende, sondern allenfalls in partikulare, temporäre Körperhomogenisierung. Bislang verhindert das Gesetz der Konsumkultur „Nur das Außergewöhnliche beeindruckt“5, dass eine einzige Form zur Norm wird. Der Grad der Normierung, den profitgetriebene Agenten des kosmetischchirurgischen Totalitarismus anstreben, ist allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. Man muss nur an einem Sommerabend eine europäische oder amerikanische Fußgängerzone durchqueren und das Defilee der Körper mit den 1 2

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Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, übersetzt von Günter Memmert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Vgl. Arnold Gehlen: Zeitbilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M.: Athenäum 1965, S. 162ff. Das beste Beispiel ist Arnold Schwarzenegger. In seiner Zeit als Bodybuilder sorgt sein megalomanischer Körper nicht nur für Bewunderung, sondern auch für Irritation. Ist er nicht Ausdruck einer zutiefst autoritären Persönlichkeit? Als Politiker aber vertritt Schwarzenegger, in der allgemeinen Einschätzung, eine vergleichsweise liberale Linie. Vgl. Eva Kreisky: „Neoliberalismus und Körperdiskurse“, http://evakreisky.at/2004/se_koerper/material.php (Zugriff am 19.08.2009) Vgl. Kenneth Dutton: The Perfectible Body: The Western Ideal of Male Physical Development, London: Continuum International Publishing Group 1995. Annette Spohn: Andy Warhol: Leben und Wirkung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 24.

KONSUMKLASSIZISMUS

Körperbeständen früherer Zeiten vergleichen, um zu erkennen: Die Diktatur eines einheitlichen, normativen Körperbildes mag allenfalls in den Medien und in den Köpfen existieren, nicht jedoch in physisch-faktischer Hinsicht. Wir leben in Zeiten real existierender Simultaneitäten und paradoxer Gleichzeitigkeiten. Exzessive Body Modification und exzessives Anti-Aging werden von auffälligen Minderheiten betrieben, die man beispielsweise bei der Eröffnung der Kunstmesse „Art Basel“ bestaunen kann, wo die avantgardistisch aufgespritzten Lippen saturierter Sammlerinnen oftmals interessanter sind als die feilgebotenen Kunstwerke. Moderate Body Modification und Anpassungsdruck an soziale Körpernormen hingegen hat es zu allen Zeiten gegeben, insbesondere im negativen Imperativ: Du sollst so, darfst so, kannst so nicht sein! In der modernen Konsumgesellschaft stehen der Körpermodellierung schlichtweg bessere Rahmenbedingungen zur Verfügung, sowohl hinsichtlich der biozentrischen Geisteshaltung als auch der technischen Möglichkeiten. Nun gilt der positive Imperativ: Es gibt nichts Körperliches, außer man formt es! Unterhalb der schillernden Oberfläche des medialen Mainstreams sind die Körpermodifikationen und -applikationen mittlerweile stark ausdifferenziert: Brathähnchen-Brutalismus für Bodybuilder, klirrende Fetish-Accessoires für Schwarzromantiker, sanftes Body Shaping für unauffällige Ikeaner, dauerhafte Haarentfernung für Antiseptiker, usf. Die real existierende Körpervielfalt und Vieldeutigkeit, nicht zuletzt die Ausdifferenzierung der textilen Ikonographien, sind augenscheinlich, zumindest was die postnatal willentlich herbeigeführten Differenzen betrifft. Am Beispiel eines jüngeren Trends der Körperkultur möchte ich deren Ambivalenzen, Doppeldeutigkeiten und inneren Widersprüche verdeutlichen. Die Rede ist von Körperrasuren, die zu einem generationen- und geschlechterübergreifenden Stilmittel des Selbst-Designs avanciert sind. Der Hang zum Nacktmull ist nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsschicht begrenzt. Er erfasst sowohl die adoleszente Youporn-Konsumentin als auch den im doppelten Sinne stromlinienförmigen Yuppie wie auch den älteren Herrn in der Sauna eines Mineralbads. Meine Argumentation mündet dabei in die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit, die der Soma-Ästhetik der Ganzkörperrodung inne wohnt. Diese Zeitlichkeit möchte ich mit dem paradox klingenden Begriff ‚Konsumklassizismus‘ umschreiben und vor dem Hintergrund des nachgeschichtlichen Zeitalters analysieren, das Michel Foucault die „Epoche des Raumes“6 genannt hat. 6

Vgl. Jan Füchtjohann: „Die Epoche des Raumes: Das Archiv und das Lager“, in: Marc Jongen (Hg.), Philosophie des Raumes: Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie, München: Fink 2007, S. 173: „Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault hat Ende der sechziger Jahre in einem 53

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Im Folgenden werde ich zunächst die Begriffe Konsum, Klassizismus und Körper explizieren, um in einem zweiten Schritt ihre Synthese als ‚Konsumklassizismus‘ zu erproben.

Konsum Konsum als Lebensstil ist Konsumismus. Dieser sei wertneutral definiert als das postmetaphysische Versprechen auf ein ‚gutes Leben‘. Konsumismus ist sowohl Bedingung als auch Konsequenz der ungeduldig gewordenen westlichen Moderne, die nicht länger auf postmortale Zugewinne setzt. Während die einen auf saftige Dividenden im Jenseits spekulieren und ihr Leben als qualvolle Investition für die Ewigkeit betrachten, setzt der moderne Konsumist auf real existierende Renditen ad hoc, welche im besten Falle minimum effort erfordern und maximum gain erzielen. Zwar kann der Konsumist durchaus gläubig sein, zumeist im synkretistischen Sinne. Geschmeidig wechselt er zwischen Buddha-Lounge und PapstPop. Wenn es die Zeit erlaubt, geht er zur After-Work-Meditation und genehmigt sich eine Stunde transzendentale Entschlackung. Doch sein ‚Glaube‘ ist gewissen Einschränkungen unterworfen. Selbstgeißelungsfreudige Eremiten und Asketen taugen nicht zu Konsumisten. Wenn der Konsumist von Askese spricht, meint er Diätdrinks. Wenn er die Entsagung lobt, trägt er oder sie Nikotinpflaster. Wenn er Entrückung preist, bucht er ein Wochenende im Kloster. Wenn er das lebenslange Lernen lobt, so akzeptiert er lebenslange Kursgebühren, Glückstrainerhonorare und Ratgeberkäufe. Kurzum: Spirituelle Zuwächse sind unter konsumistischen Auspizien stets an sinnliche Bonuszahlungen und den stimulierenden Erwerb von Lifestyle-Accessoires gekoppelt. Konsumismus und sein Motor, der Kapitalismus, sind nicht gleichbedeutend mit Negativ-Phänomenen wie Oberflächlichkeit, Materialismus, Korruption, Verblendung, Spektakel, rasender Stillstand. Amüsanterweise kursieren diese dystopischen Zuschreibungen gerade im Innern der Komfortzellen. „Rundumvertrüffelt“7 fällt Selbstkritik nicht schwer. Der evolutionäre Kapita-

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Vortrag nahe gelegt, die Gegenwart als Epoche des Raumes zu betrachten. Ganz anders als im von der Geschichte besessenen 19. Jahrhundert sei die Zeit heute zunehmend aus der Mode gekommen. […] Tatsächlich ist es heute kaum noch die Geschichte, die uns umtreibt. Eher interessieren wir uns für den Nahen Osten, für China oder Indien – d.h. für den Raum, für wenig bekannte Orte und uneroberte Märkte. Zeit scheint nur insofern von Belang, als man die Dauer aller Prozesse immer weiter verkürzen und tendenziell sogar ganz zum Verschwinden bringen möchte.“ Matthias Politycki: In 180 Tagen um die Welt: Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl, Hamburg: Mare 2008, S. 48.

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lismus aber ist ein Joker und hat viele Gesichter. Seinen globalen Erfolg verdankt er nicht Exklusivität, Arroganz, Einseitigkeit, sondern Wandelbarkeit, Anpassungsfähigkeit und dem Drang zu Inklusion.8 Gleichwohl ist unübersehbar, dass sich nach dem Fall der Sowjetunion der Kapitalismus in einen enthemmten „Superkapitalismus“9 transformiert hat, dessen Machtrausch einen schweren Kater zur Folge haben wird – wenn nicht schon hat. Auch die Infantilisierung der Konsumkultur, die Benjamin R. Barber kritisiert, ist evident.10 Der hohe Stellenwert des Konsums als letzter Universalismus nach dem ‚Ende der großen Erzählungen‘ beruht aber auf dem durchaus luziden und historisch gereiften Fatalismus, dass es nicht immer Gott, Ehre und Freude schöner Götterfunken sein müssen, sondern gerne auch Guns'n'Roses und Tischfeuerwerk. Im Idealfall unterwandert Konsumismus das meist blutig endende Streben nach Wahrheit und Essenz. In liberaldemokratischen Konsumgesellschaften gilt eine nicht-deklarative Losung, welche sich trefflich mit einem Zitat aus einem Song von The Notwist beschreiben lässt: „Remember the good lies win.“11 Da prononcierter Konsumismus fortwährend sein Reizangebot erneuern muss, ist er auf den raschen Wechsel der Moden angewiesen. Deshalb neigt er allenfalls zu Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winter-Diktaturen. Deren Propaganda als Panta rhei der Nichtigkeiten schmerzt zwar den Intellektuellen, zeitigt aber keine unmittelbar körperlichen Folgen. Das ist nicht selbstverständlich. Unter Chiang Kai-Shek wurde noch im turbokapitalisierten Taiwan der 1970er Jahre eine Haar-Polizei eingesetzt, welche unbotmäßige Hauptwucherungen durch prompten Zugriff unterband.12 Auch der autoritäre

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Zu den Typologien des Kapitalismus vgl. z.B. die Beiträge in Marc Jongen (Hg.): Der Göttliche Kapitalismus. Ein Gespräch über Geld, Konsum, Kunst und Zerstörung mit Boris Groys, Jochen Hörisch, Thomas Macho, Peter Sloterdijk und Peter Weibel, München: Fink 2007. 9 Vgl. Robert Reich: Supercapitalism. The Transformation of Business, Democracy, and Everyday Life, New York: Alfred A. Knopf 2007, S. 211: „The intrusion of supercapitalism into every facet of democracy – the dominance of corporate lobbyists, lawyers, and public relations professionals over the entire political process [...].“ 10 Vgl. Benjamin R. Barber: Consumed. How markets corrupt children, infantilize adults and swallow citizens whole, New York: W.W. Norton 2007, S. 35: „In the pathological culture of consumer economics, consumer behavior turns out to be remarkably unaccommodating to civilizing tendencies. It mimics infantile aggressiveness in striking ways.“ 11 The Notwist; „Good Lies“, The Devil, You and Me, City Slang (Universal), 2008. 12 Vgl. Denny Roy: Taiwan. A Political History, New York: Cornell University Press 2003, S. 90. 55

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Kapitalist Lee Kuan Yew regelte in Singapur die Haarlänge der Bevölkerung per Dekret.13 Das ist unmittelbare Körpernormierung und -disziplinierung. Zwar ist Konsumismus nicht gleichbedeutend mit Frieden, wie der kapitalistische Hofphilosoph Norbert Bolz behauptet.14 Sein Konsumistisches Manifest ist und bleibt ein frommer Wunsch. Dennoch gibt es einen Zusammenhang zwischen Frieden und Konsum, den vielleicht keiner klarer erfasst hat als der antike Satiriker Aristophanes in seiner Komödie Der Frieden (Eirene), uraufgeführt 421 v. Chr. in Athen. Auf einem Mistkäfer reitet da der Winzer Trygaios zum Olymp, um Zeus zu überreden, endlich den athenischspartanischen Krieg zu beenden. Nicht, weil Trygaios ein moralisches Problem mit dem Krieg hat. Er trägt keine elaborierte pazifistische Theorie vor. Den Verfechter friedliebender Dekadenz stört vielmehr, dass der Krieg unmöglich macht, was immer dann am schönsten erscheint, wenn es verloren ist: die Früchte des Lebens genüsslich konsumieren können. Genau diese basale Lust am Stoffwechsel und an der Fortpflanzung preist Trygaios als Alternative zur Schlachten-Narretei. Dafür müssen Schwerter in Konsumgüter verwandelt werden:15 „Erst wenn wir sie [die Göttin des Friedens; JS] wirklich haben, könnt ihr euch von Herzen freuen – und rufen und lachen und fahren und bleiben und vögeln und schlafen und festen und gaffen und saufen und spielen, das könnt ihr dann tun, dann schreit auch hurra!“16

Was Aristophanes hier beschwört, ist nichts anderes als eine Frühform der Posthistoire. Seine Komödie ist eine Ode an den Konsum als Ausdruck befriedeter nachgeschichtlicher Existenz, nicht als deren Bedingung der Möglichkeit. Exzessiver Ding- und Selbstgenuss erscheinen hier nicht als verwerflich, sondern implizieren vielmehr eine subkutane Ethik. „Süß wie Parfüm“17 ist die Demobilisierung, nach „Saurezwiebelnrülpsen“18 aber riecht der Krieg; 13 Vgl. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York u.a.: Free Press 2006, S. 241: „In addition, the Singaporian government interferes in the private lives of its citizens to a degree that would be completely unacceptable in the West, for example, by mandating how long boys can grow their hair [...].“ 14 Vgl. Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest, München: Fink 2002. 15 Vgl. Aristophanes: Der Frieden, Stuttgart: Reclam 1989, S. 75. 16 Ebd., S. 25. 17 Ebd., S. 36. 18 Ebd. 56

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der Frieden bringt „Arien des Sophokles und Hähnchen“19, der Krieg trägt nur eine „Notration“20 im Tornister. Heute sind derart empathische Oden an den Konsum selten. Konsumismus und Kapitalismus stellen heute nur noch Formalien dar. Wir leben nicht nur in der Postdemokratie, wie Colin Crouch treffend festgestellt hat,21 sondern paradoxerweise auch in postkonsumistischen und postkapitalistischen Zeiten. So wie in der Postdemokratie alle demokratischen Institutionen besser funktionieren denn je, Demokratie aber nur noch eine Worthülse ist, so sind auch die konsumistisch-kapitalistischen Mechanismen intakt, während sich ihr Sinnhorizont verdunkelt hat.

Klassizismus So wenig Konsum gleichbedeutend ist mit Frieden, so wenig ist Klassizismus gleichbedeutend mit Klassik. Vielmehr impliziert der Ismus eine bestimmte, verbindliche Haltung zur Klassik. Diese Haltung kann als genuin modernes Phänomen bezeichnet werden. Zwar wurde bereits in der Renaissance die griechische Antike wiederentdeckt und mit dem christlichen Humanismus verknüpft, doch daraus entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert eine systematische, theoretisch begründete Lehrmeinung mit Auswirkungen auf Literatur, Kunst, Architektur und nicht zuletzt Politik. Der Klassizismus ist ein unübersichtliches und heterogenes Feld, unterteilt in Früh-, Spät- und Neoklassizismus, vereinnahmt sowohl von republikanisch-demokratischen, als auch faschistischen Bewegungen, Inspiration für einen philantrophischen Humanismus, aber auch für projektive Antikensehnsucht. Nichtsdestotrotz lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen zwischen unterschiedlichen Theoretikern und Praktikern.22 Der Klassizismus weist normbildende kulturelle Hochphasen aus, etwa die griechisch-römische Antike oder die Weimarer Klassik. Als Ästhetik sieht er seine Bestimmung nicht in der Wiedergabe der äußeren Umwelt, geschweige denn der Alltagswelt. Vielmehr zielt er darauf ab, letztere im Rückgriff auf ältere Ideale zu transformieren und zu vervollkommnen. Klassizismus ist daher weder modern noch antimodern, sondern verschränkt die Vergangenheit mit der Gegenwart unter den Vorzeichen eines puristischen Ideals überzeitlicher Vollkommenheit. Das eindrucksvollste Beispiel dafür liefert die Welt19 20 21 22

Ebd. Ebd. Vgl. Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Der kennerschaftliche Leser möge mir den propädeutischen Charakter der nachfolgenden Passagen verzeihen – es geht ja gerade um den kleinsten gemeinsamen Nenner. 57

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ausstellung bzw. „World’s Columbian Exposition“ von 1893 in Chicago. Einerseits war die Architektur der Ausstellungsgebäude klassizistisch geprägt und demonstrativ weiß gehalten, also in der Farbe des Reinen und Vornehmen. Andererseits wurden dort die neuesten Errungenschaften von Technik und Kunst gezeigt. Deshalb eignet dem Klassizismus, so reaktionär er den Romantikern des 18. und 19. Jahrhunderts auch erschienen sein mag, tatsächlich eine progressivistische Komponente. Das gilt nicht nur für einen Maler wie Jacques-Louis David, der seine Kunst in den Dienst der Französischen Revolution stellte. Bereits bei Johann Joachim Winckelmann, einer der maßgeblichen Begründer des Klassizismus in Deutschland, dient der Rekurs auf die Klassik als Mittel zur Vervollkommnung des Hier und Jetzt. 1755 schreibt Winckelmann in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst23, dass ästhetische Praxis sich nicht vom Ist-Zustand der eigenen Zeit leiten lassen solle, da dieser ungenügend sei. Warum etwa den Körper eines Dresdners des 18. Jahrhunderts abzeichnen, wenn mit den idealschönen Statuen der alten Griechen Vorbilder bereit stehen, die zu kopieren ungleich vielversprechender ist? Warum hinter einen kulturellen Höhepunkt zurückfallen? Der vermeintliche Rückschritt wird also als Katalysator des Fortschritts verstanden. Für Winckelmann gilt: „Schönheit ist ideal repräsentiert bei den Alten. Die Natur nachahmen im höheren Sinne des Ideals, also ihrer ausgewählten, vom Häßlichen, Zufälligen, Hinfälligen befreiten schönen, dem Göttlichen, Unsterblichen nahen Erscheinung, heißt, die Griechen nachahmen. Denn in ihren Werken ist diese Steigerung der Natur vorbildlich und unübertrefflich gegenwärtig.“24

Wie bereits angedeutet, ist ein weiteres bestimmendes Merkmal aller klassizistischen Ausprägungen die Privilegierung der Zeitlosigkeit. Man kann sich das Kapitol in Washington schwerlich mit einem lustigen Blümchenmuster vorstellen, ebenso wenig den Parnaß (1760/61) von Anton Raphael Mengs als zeitgenössisches Picknick. In formalästhetischer Perspektive dient die Konturlinie als bevorzugtes Gestaltungsmittel des Klassizismus, um ebenjenen Eindruck idealistisch-zeitloser Entrücktheit zu erzielen. Das hat seinen historischen Grund. Seit Giorgio Vasari gilt das disegno als dasjenige Stilelement, dem die höchste geistige Kraft zugesprochen wird:

23 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart: Reclam 1986. 24 Helmut Pfotenhauer/Markus Bernauer/Norbert Miller (Hg.): Frühklassizismus, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 369. 58

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„Das Zeichnen (disegno) wird nun als die jedem Werk vorausgehende Entwurfstätigkeit verstanden, die als materielles Verfahren und geistiges Prinzip die ‚Künste des disegno‘ adelt und ihnen ihr eigentliches Gepräge gibt. […] Über die Zeichnung gewinnt der Künstler Zugang zur Idee (idea) und Form (forma) aller natürlichen Dinge; sie gibt der künstlerischen Tätigkeit philosophische Weihen.“25

Idea und forma wiederum stehen für die Ewigkeit, der Stoff hingegen für irdische Vergänglichkeit. Aus dem disegno Vasaris entwickelt sich bei Winckelmann eine wahre Ode an den „Contour“, die Umrisslinie, die als Antidot zur flimmernden Ästhetik des Barock gehandelt wird: „Mit ‚Contour‘ ist also mehr als bloße Umrißzeichnung gemeint; er gewährleistet die Einheit in der Mannigfaltigkeit der menschlichen Gestalt, er ist das synthetisierende, vergeistigende, das gemeine Sinnliche veredelnde Prinzip.“26

Dieses Prinzip kann nicht beschränkt werden auf ein ‚Was‘, etwa auf antike Götter, Nymphen oder Faune. Vielmehr komplettiert erst das ‚Wie‘ des jeweiligen Gegenstands den klassizistischen Gestus. Der Klassizismus favorisiert somit in allgemeiner Hinsicht die Erhebung über die gemeine Natur. Zu dieser Natur gehören insbesondere auch das Altern und der Verfall. In der Aufwertung der – ewigen – Form gegenüber der – flüchtigen – Erscheinung kehrt als ästhetisches Prinzip die platonische Ideenlehre wieder, eines der ersten groß angelegten Anti-Aging-Programme der Geistesgeschichte. Denn was ist die platonische idea anderes als das metaphysische Pendant zu den Körpern der Moderne und Postmoderne, die niemals altern sollen? Insbesondere die westliche Moderne kann als Versuch gedeutet werden, abstrakte Ideen in konkrete, realpräsentische Fleischlichkeit zu übersetzen. Das ewige Paradies, die ewige Hölle, der ewige Körper – man ersehnt und fürchtet sie im Hier und Jetzt. In einem dialektischen Prozess aber konterkariert der Konsumismus diesen Traum. Wie schon kursorisch erörtert, basiert Konsumismus auf dem Prinzip des Stoff-Wechsels und der Erotisierung. Er ist dahingehend anti-platonisch, als er mit seinem Primat des materiellen Genusses, des beschleunigten Reizangebots und der Aufwertung der Erscheinungen (Design) einen Gegenentwurf zum Ideal der erhabenen Ruhe und Ewigkeit darstellt. In konsumistischen Zeiten ist nichts ewig außer dem Konsum selbst.

25 Matteo Burioni: „Gattungen, Medien, Techniken: Vasaris Einführung in die drei Künste des Disegno“, in: Alessandro Nova/Sabine Feser/Matteo Burioni/Katja Lemelsen (Hg.), Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, Berlin: Wagenbach 2006, S. 10. 26 H. Pfotenhauer/M. Bernauer/N. Miller: Frühklassizismus, S. 370. 59

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Was diese beiden gegensätzlichen Pole mit Körperrasuren zu tun haben, wird im letzten Kapitel gezeigt. Ein Hinweis sei voraus geschickt: Ist es nicht so, dass gerade das Körperhaar die Konturlinie des Körpers stört, ihn gleichsam in ein barockes Flimmern hüllt und in die Welt der Erscheinungen zurück stößt? Der Wuchs des Körperhaars ist ein Indikator des Alterns. Wo aber kein Haar sprießt, so die latente Hoffnung, da überdauert ein kleines bisschen Ewigkeit auch in Zeiten permanenter Evolution. Damit vollzieht sich jedoch nicht einfach die Wiederkehr Leni Riefenstahls unter dem Deckmantel der Duschgelwerbung, da – „ikonosomatisch“ gedacht – die gegenwärtigen Körper in einem veränderten systemischen, epistemischen und mentalitätsgeschichtlichen Umfeld angesiedelt sind. Der Körper existiert nicht außerhalb des Diskurses.

Körper Seit geraumer Zeit hält er der Körper die Höhen unserer Aufmerksamkeit besetzt. Abhandlungen über sein Wesen und seine Wandelbarkeit füllen die Regale der Bibliotheken und die Server der Provider in so hohen Zahlen, dass der Versuch, sich einen seriösen Überblick zu verschaffen, eine SisyphusAufgabe darstellt. Wer heute die Geschichte des Körpers liest, liest de facto eine unendliche Geschichte. Wer sie schreibt, dem bleibt nur ein offenes Ende. Dabei wird der Körper wahlweise definiert als Bio-Masse, als Metapher, als Objekt, als Subjekt, als Sitz des Geschlechts, als Fiktion, als Ort der Bilder, als Ware, als ontologischer Fixpunkt, als konstruktivistische Knetmasse, usf. Zwar hatte der Körper schon immer einen privilegierten Platz in unseren Archiven, in unserem Denken und in unserer Sprache. Selbst im vermeintlich physiophoben Mittelalter spricht man unablässig von ihm, und sei es als „abscheuliches Gewand der Seele“27. Gerade die rhetorischen Kreuzzüge gegen den Körper resultieren aus seiner Diskursivierung und tragen so zu seiner Omnipräsenz ex negativo bei. Doch dass der Körper selbst zum zentralen Bezugspunkt der Existenz wird, dass die (gegebene) Beschaffenheit und (aktive) Formung des Körpers als conditio sine qua non gelingenden Lebens gedeutet wird, dass eine gigantische Industrie des Körperdesigns heranwächst, dass eine well formed body language entsteht – diese Wende ist im Übergang von der Neuzeit zur Moderne angelegt. Sie nimmt ihren Anfang im noch zögerlichen Immanenzdenken der Renaissance, schreitet fort mit der zunehmend biopolitisch orientierten Bevölkerungspolitik des Barock, kulminiert in der

27 Papst Gregor d.Gr., zitiert nach: Jacques Le Goff/Nicolas Truong (Hg.): Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart: Klett Cotta 2007, S. 2. 60

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„Entspiritualisierung der Askesen“28 der Moderne und mündet in die avancierten Körpertechnologien und Körperskulpturen der Postmoderne. Es ist offensichtlich, dass der Körper den Klimax seiner Karriere als privilegierter diskursiver und anthropoplastischer Organismus genau in jenem Moment erreicht, da seine Kraft und seine Leistung, überspitzt ausgedrückt, überflüssig zu werden beginnen, nämlich mit dem industriellen und dem darauf aufbauenden post-industriellen Zeitalter. Die Konjunktur des modernen und postmodernen Körpers ist eine Konjunktur seines Verschwindens in der endlosen Hervorbringung. Wie also verhält sich der Körper in (post-)konsumistischen Zeiten? Was zeichnet seine Kultivierung aus? Wie oben angedeutet, existieren zwar normative Körperideale in den Medien, gegen deren virale Verbreitung noch kein Impfstoff gefunden ist. Das gegenwärtige Körperdesign ist dabei nicht länger nur applikativer, sondern zunehmend auch invasiver Natur.29 Während diese Entwicklung durchaus tragikomische Klone wie die Teilnehmer der MTVReality-Soap I want a famous face (2004/05) hervorbringt, entstehen zugleich postessentialistische, postethnische, postrassische, postgenerationale, postideologische Hybridisierungen – hier Asiatinnen mit geweiteten Augen und wogenden Brüsten, da schwäbische Dorfbewohner mit Tribal-Tattoos, dort ein afroamerikanischer Popstar mit bleached skin und slawisierten Wangenknochen, nicht zuletzt ‚entalterte Gealterte‘ wie der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der sich Face-Liftings und einer Haartransplantation unterzog.30 Dahinter verbirgt sich nicht nur ein Schönheitsideal. Vielmehr ist auch Berlusconi ein Hybrid, in welchem sich die Synthese und die Harmonisierung verschiedener Lebensalter in einer Person vollzieht. 28 Vgl. Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 29 Vgl. Franz Wetz: „Körperkult, Gesundheitswahn und Abenteuersucht“, www.hospitalkirche-stuttgart.de/texte/03texte_text04_ethisches.html (Zugriff am 16.08.2009): „Die Jahre, in denen Schönheit vorrangig von Kleidung, Haarschnitt und Make-up abhing, sind inzwischen längst vorbei. [...] Der Blick, der sich kaum noch irreführen lässt, zielt heute direkt unter die Kleider auf den nackten Leib. [...] In dem Maße, wie der nackte Körper allgemeiner Ausstellungsgegenstand geworden ist, beschäftigen sich viele Zeitgenossen damit, ihr ‚Outfit‘ ständig zu überarbeiten, um bei anderen als schön zu gelten.“ 30 Vgl. G. Klein: Der schöne Körper, S. 65: „Die Körperideale der Schönen [im 20. Jh., JS] sind vielfältig und wechseln – ähnlich wie die Moden – in immer schnelleren Abständen, von der ‚femme fatale‘ einer Greta Garbo, Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot, der Üppigkeit einer Mae West oder Anita Ekberg, über die bulimische Schönheit einer Twiggy oder Kate Moss, der Hausfrauenschönheit einer Doris Day, der ‚Kumpel-Mädchen-Schönheit‘ einer Julia Roberts oder Cameron Diaz, der nordischen Schönheit von Claudia Schiffer bis zur exotischen Schönheit einer Naomi Campbell oder von Johnny Weissmüller, Marlon Brando über James Dean, Jim Morrison bis zu David Beckham und George Clooney.“ 61

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Falls das zu sehr nach froher Botschaft tönt, so könnte man diese dahingehend relativieren, dass die Kultivierung des Körpers sich verlagert hat: von moderner Makronormierung ganzer Völker hin zu postmoderner Mikronormierung selbstreferenzieller fan bases; vom dekretistischem Druck ex cathedra hin zu einem mediatisierten, verführerischen, in seiner überwältigenden Sichtbarkeit klandestinen Anpassungsdruck. Der Zyniker würde hinzufügen, dass die mitunter übereifrigen Versuche der konsumistischen Polis, ihren medialen Vorbildern zu entsprechen, ohnehin scheitern. Nachahmung erzeugt Abweichung. Fehlgespritzte Lippen hier, asymmetrisch entfettete Hintern da, body-gebuildete Schultern über anorektischen Waden, Schmink-Collagen auf früh verkrebster Solariumhaut – Vielfalt entsteht gerade dort, wo Identifikation und Integration fieberhaft angestrebt werden, da immer dann die Unterschiede umso deutlicher zu Tage treten. Wenn die heutige Körperkultur eine Kultur der Körpernormierung ist, so ist die Norm ein Surrealismus nolens volens. Was den Alterungsprozess des Körpers in einer urbanen Wohlstandsgesellschaft anbelangt, so gelte: er altert primär ästhetisch. In der postindustriellen Ära ist der Körper nur noch selten eine Maschine, deren physische Kräfte im Steinbruch oder in der Fabrik benötigt werden. Häufiger ist er ein ästhetisches Subjekt-Objekt, das in einem Wettbewerb der Zeichen bestehen muss. Der Wettkampf der Körper findet heute also nicht nur im Sport statt, sondern erneut – Ironie der Geschichte – auf einer ‚meta-physischen‘ Ebene, die jedoch ohne Transzendenz auskommt. Der im materiellen Überfluss lebende, keiner unmittelbaren körperlichen Gefahr ausgesetzte Mensch ist nicht länger nur ein Hersteller seiner selbst, sondern in erster Linie ein Designer seiner selbst. Dies führt einerseits zu einem mal latenten, mal manifesten sozialen Anpassungsdruck, den soma-semiotische Premiumprodukte wie Heidi Klum stetig erhöhen. Neben der üblichen weltlichen Knappheit an den Ressourcen Geld, Zeit und Rohstoffe ist das Altern das wohl größte Hindernis, im gegenwärtigen Wettbewerb der Körper zu bestehen. Andererseits kann der alternde Mensch durch seine Teilnahme an Verjüngungsprogrammen zwischen Fitness und Wellness zumindest seine trotzexistentialistische Entschlossenheit beweisen – mag sein, dass ich altern und sterben muss, doch wie und wie schnell, das bestimme ich selbst.

‚Konsumklassizismus‘ Ich möchte nun abschließend versuchen, die dargelegten Stränge zusammenzuführen. Was haben Konsum und Klassizismus mit Körperrasuren gemein? Der Konsumismus steckt das systemische Feld ab, über welches sich die heutigen Körper bewegen. Dieses Feld ist nicht total, wie Horkheimer und Ador62

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no annahmen, aber es ist dominant. In einem dialektischen Prozess, so meine These, bedingt der schnelle Wechsel der Moden in konsumistischen Zeiten körperliche Gegenreaktionen und Kompensationshandlungen. Als eine dieser Reaktionen lässt sich die Ganzkörperrasur interpretieren, wenngleich ich als Geisteswissenschaftler einen ‚Beweis‘ schuldig bleiben muss. Mehr als eine Hypothese, empirisch untermauert durch meine langjährige Beschäftigung mit der Körperkultur des 20. und 21. Jahrhunderts, kann ich nicht bieten. Wenn diese Hypothese dahingehend anregend wirken kann, in den schmirgelglatten Körpern der Jetztzeit mehr als einen Reflex der Pornoästhetik aus dem San Fernando Valley zu erkennen, ist schon viel gewonnen. Insbesondere in den mittleren Körperregionen genoss unser Haar zumindest hierzulande lange Zeit eine fast klösterliche Ruhe. Seit den 1990er Jahren ist das anders. Auch außerhalb der Porno-Szene, die in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle spielte, wurde das menschliche Restfell mit scharfer Klinge aus seinem Dornröschenschlaf geschreckt und steht nun im grellen Licht des Interesses. Kaum ein Medium zwischen Boulevard und Feuilleton, das nicht über Laserbehandlungen, Schamhaardesign, Brazilian Waxing oder David Beckhams epilierte Hühnerbrust berichtet. Charlotte Roches Erfolgsroman Feuchtgebiete31 stellt den vorläufigen Gipfel dieser Entwicklung dar und trug wesentlich dazu bei, die Diskussion über Rodung oder Aufforstung der westlichen Haarbestände unter feministischen Gesichtspunkten zu führen. Körperrasuren, so der Tenor der ‚Rochianer‘, beleben das schwüle Altmännerideal der Lolita wieder. Dagegen führte Roche das Bekenntnis zum Körperhaar ins Feld. Das erscheint zunächst plausibel – und ist doch nicht auf der Höhe der Zeit. Die Rodung der abendländischen Körper ist längst kein Gender-Phänomen mehr. Vielmehr tritt die körperliche Ästhetisierung derzeit in ihre nachgeschlechtliche Phase. Man lasse im Freibad unauffällig das Auge schweifen, schaue sich in der Sauna um oder rufe eine der unzähligen Amateur-Porno-Seiten auf. Man wird feststellen: Auch und gerade die Männer nehmen die Sisyphusarbeit auf sich, in regelmäßigen Abständen ihren Körper zu depilieren. So präsentierten bei den olympischen Sommerspielen in Beijing 2008 die männlichen Athleten nicht nur sportliche, sondern auch rasurtechnische Höchstleistungen. Vom 10Meter-Turm aus glitten schimmernde Brustkörbe ins Wasser, nur selten rauschte das Achselhaar beim Anlauf des Speerwerfers. Heute ist es mitnichten dem weiblichen Geschlecht vorbehalten, wie die Lysistrate in Aristophanes’ gleichnamiger Komödie für libidinöse Erregung zu sorgen: „Wir sitzen hübsch geputzt daheim, wir gehn im Florkleid von Amorgos, halbentblößt, mit glattgerupftem Schoß vorbei an ihnen.“32 In der Postmoderne hat 31 Charlotte Roche: Feuchtgebiete, Köln: DuMont 2008. 32 Aristophanes: Lysistrate, Stuttgart: Reclam 2006, S. 10. 63

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sich die Bikini-Zone ausgedehnt und auch die Enklaven der Männlichkeit erfasst. Metrosexuelle Eroberer entstruppen ihr Gemächt wie einst Berthel Thorvaldsen seine Statuen; selbst der martialische „Eisenhans“ entblößt im Fitnesscenter beim Bankdrücken jugendlich-blanke Achselhöhlen. Es liegt nahe, dass eine Erotik, die den Betrachter durch einen verhüllenden Charakter lockt, in einer Kultur beständiger Selbstentblößung zwischen Facebook, Youporn und Reality-TV fast zwangsläufig verschwindet. Mit Gender hat das nur noch bedingt zu tun. Der Trend zur Körperrasur kann genauso gut gedeutet werden als eine Fortsetzung des kollektiven Exhibitionismus mit kosmetischen Mitteln. Alles muss raus! Alles muss sichtbar sein! Nackter als nackt sollen wir alle werden, die dunklen Nischen des Körpers sollen nicht nur einer brachialen Erotik, sondern auch einer Ästhetik der zeitlosen Transparenz weichen. Schließlich haben wir nichts zu verbergen. Verführerisch und unbefleckt wie die schillernden Waren in den Schaufenstern der Shopping Malls entpuppt sich der haarlose Körper als Konsumkörper: Sorgfältig designt, scheinbar unbenutzt, jungfräulich und zugleich verrucht. Der Firnis der alten Meister, der mit den Jahren eine würdige, geheimnisvolle Aura annimmt, ist dem Konsumkörper fremd. Entweder Jugend und Erotik oder Tod – die Phase dazwischen ist nur mehr ein lästiger Wurmfortsatz der Geschichte. Der gerodete Körper wird nicht geschaffen, um nach und nach verschlissen zu werden. Deshalb ist er nicht nur pornographischkonsumistisch, sondern auf paradoxe Weise konsumistisch-klassizistisch, insofern er vorgibt, außerhalb der Zeit zu stehen und sich zugleich wie eine Ware und wie ein zeitgenössisches Designobjekt verhält. Rasierte Körper sind zuallererst konturierte, scharf umrissene Körper ohne sfumato. Wie klassizistische Statuen vollziehen sie die Konversion von der Empirie zum Ideal, von der Natur zur Kultur, vom der Erscheinung zur Idee. Vorläufer dieser Tendenz, gerade im Bereich der maskulinen Depilation, finden wir bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals präsentierte sich etwa der preußische Kraftathlet Eugen Sandow, der Erfinder des modernen Bodybuilding, bei seinen weltweiten Tourneen säuberlich rasiert und überdies sanft bepudert. Wie Marmor sollte sein Athletenleib schimmern. Sandows Körper bewältigte zwar noch schwere Lasten, stemmte Pferde und zerriss Ketten in den Varieté-Theatern und Zirkusmanegen. Doch es ist offensichtlich, dass die Ästhetik bereits über die Kraft dominierte. Das Körperhaar galt ihm als Signatur der Zeit und des langsamen Verfalls, als Residuum des Barbarischen und Außerkulturellen. Aber Kunstwerke überdauern die Zeiten. An der Statue des Herkules Farnese im Nationalmuseum in Neapel sprießt kein Haar. Ergo muss der Körper Kunst werden. Und weil die Kunst in der Moderne den Ruf besitzt, das Außergewöhnliche, Stimulierende, Anregende und Exklusive zu verkörpern, kann sich der Körper für seinen Besitzer bei kluger Inszenierung und Vermarktung in barer Münze auszahlen. Heute sind Sand64

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ows Erben die „athletischen, neo-liberalen, modellschönen“33 Fitness-Sportler. Sie inszenieren ihre schlanken, ausdauernden Körper einerseits als persönliche Kunstwerke und setzen sie andererseits als Verkaufsargumente im ökonomischen Wettbewerb ein. Vielleicht aber empfinden manche Zeitgenossen den klassizistischen Konsumkörper ja gerade deshalb so anziehend und erotisch, weil er so anorganisch, so kühl, so antiseptisch und zeitlos wirkt wie eine Statue von Thorvaldsen. Das Wesen der Erotik, schreibt der Philosoph Georges Bataille, sei die Beschmutzung – und je größer die Schönheit, „die in ihrer Vollendung das Animalische ausschließt [...], desto größer die Beschmutzung“34. Da verwundert es nicht, dass wir im Nachmittagsprogramm des Privatfernsehens gestandene Mannsbilder sehen, die ihren verwuschelten Brustkorb einer schmerzhaften Wachsbehandlung unterziehen; dass wir in Internetforen Jungs mit Pseudonymen wie „Würstchen, der passionierte Epilierer“, begegnen, die sich über ihren letzten Feinschliff des Unterleibs austauschen. Alle scheinen sie von einer Erotik und Ästhetik zu träumen, die das Animalische und das Geschichtliche hinter sich gelassen hat – und gerade deshalb animalische Reize im Sinne einer Lust auf Beschmutzung entfaltet. Die Industrie hat die Entstehung dieser neuen Zielgruppe nicht verschlafen. Im März 2006 etwa kam der körperregionenübergreifend einsetzbare Rasierapparat Bodygroom auf den Markt, denn laut Hersteller gilt: „Berühmte Sportstars und die Hollywood-Beaus machen es vor: Auch bei Männern steht ein glatt rasierter Körper hoch im Kurs.“35 Das war bis vor kurzem nicht so selbstverständlich. In den 1990er Jahren noch wogte David Hasselhoffs Brusthaar am Strand von Kalifornien im pazifischen Wind, im Pornofilm der 1970er und 80er Jahre tummelten sich virile Waldschrate wie Ron Jeremy oder John Holmes – Typen, deren beachtlicher Pelzbesatz ihre Potenz betonte: Das wilde Tier im Mann gab sich äußerlich im Fell zu erkennen. Nun wird James Bond von einem austrainierten und verhältnismäßig haarlosen Daniel Craig verkörpert, im Geschäft mit der Lust sind Filmproduzenten wie der US-Amerikaner Jules Jordan tonangebend. Ihren radikalenthaarten Aktricen stellen sie den Typus des gecremten, gegelten Sadisten mit Ganzkörperglatze zur Seite. Sein Glied ist poliert wie ein Kanonenrohr auf einer Waffenmesse, sein Brustmuskel tanzt stramm unter einer ölglänzenden Haut. Nexus statt Sexus – mehr und mehr verbindet die blanke Haut die Geschlechter, statt sie zu trennen.

33 Peter Sloterdijk: Der starke Grund zusammen zu sein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 43. 34 Georges Bataille: Die Erotik, München: Matthes & Seitz 1994, S. 140. 35 http://medienservice.philips.de/apps/n_dir/e1231501.nsf/alle/357D04CE655B63 5941257123004F31F2?opendocument (Zugriff am 11.12.2009) 65

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Man schnippelt, schneidet, rasiert, depiliert, epiliert, glättet und wachst somit weniger im Dienste sexueller Differenzierung, als vielmehr im Sinne einer allgemeinen Ästhetisierung und Erotisierung des Körpers unter konsumklassizistischen Vorzeichen. Auf diese Weise sind hybride Bilder-Körper und Körper-Bilder entstanden, aerodynamische, geschmeidige, glatte Lustleiber im Zeitalter von Teflon. Wie in der klassizistischen Kunst soll alles an ihnen abperlen, die Zeit, das Alter, der Tod. Zurück bleiben die Erotik, die Ästhetik, die Kunst, die Lust, der Traum, kurzum: die utopischen Verheißungen des Konsumismus. Francis Fukuyamas hoffnungsvolle These vom „Ende der Geschichte“ und vom endgültigen Sieg der liberalen Konsumkulturen findet hier ihr körperliches Äquivalent. Auch wenn die frivole Thorvaldisierung der Gegenwartskörper vom Individuum überwiegend unreflektiert betrieben wird, ist sie doch ein habitueller Gegenentwurf zu den „Revolutionen der Geschwindigkeit“36. Flüchtige Ware und überzeitliches Kunstwerk müssen heute nicht mehr explizit durch antike Ideale harmonisiert werden wie 1893 bei der Weltausstellung in Chicago. Sehr viel effektiver und unkomplizierter ist ein Epiliergerät oder der bodycruZer, das von Til Schweiger beworbene Ganzkörperrasiergerät für den Mann. Der Konsumismus erzeugt seine eigene Klassik ad hoc über die viral operierenden Massenmedien, die auf keine „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“37 mehr angewiesen sind. Der so gewonnene Kunstkörper ist ein Amalgam aus Trägermedium, Kunstwerk und dem Künstler selbst; die Konsumkulturen bilden sein Museum der Existenz. Wurde in kulturkonservativen, kulturkritischen Kreisen um 1900 oftmals die „Wiederherstellung einer einheitlichen ‚Weltanschauung‘ angestrebt, durch die die ‚Zerrissenheit‘ der modernen Zivilisation überwunden“38 und die durch neoklassizistische Körperideale versinnbildlicht werden sollte, so gilt für die konsumistische Postmoderne: Auch ohne weltanschauliches Dogma und ohne kulturkritischen Eifer formt und diszipliniert man das Fleisch im ‚Gym‘, kontrolliert man die Nahrungszufuhr, überwacht man die Körper mit Ultraschall oder Pulsmessern. Unabhängig vom biologischen Geschlecht und Alter partizipiert der postmoderne Körper an der umfassenden ästhetischen Transformation der Existenz, die liberaldemokratische Systeme stets begünstigt haben und welche

36 Vgl. Paul Virilio: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin: Merve 1993. 37 Vgl. Arthur Jung (Hg.): Schiller’s Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Leipzig: Teubner 1875. 38 Kai Kaufmann: „Ästhetischer Konservatismus, revisited“, in: Jan Andres/ Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hg.), Nichts als die Schönheit: Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 360. 66

KONSUMKLASSIZISMUS

derzeit in eine komplexe Collage „transikonischer Bilder“39 im Menschenmuseum der Posthistoire mündet. Dass diese Entwicklung nicht dem kausalen Prinzip von Ursache und Wirkung folgt, habe ich mit dem theoretischen Konzept der „Ikonosomatik“ zu verdeutlichen versucht. Konsumklassizistische Körperrasuren sind nicht das einzige, sondern nur ein mögliches Ventil der Sehnsucht nach Zeitlosigkeit in postmetaphysischen, liberaldemokratischen Gesellschaften. „Ikonosomatik“ analysiert Körper in jenen Kontexten, die dem Subjekt-Objekt der Analyse selbst nicht bewusst sind, sie setzt keine prästabilierten Bezüge zwischen Signifikat und Signifikant voraus. Damit ist sie keine Methodik für Sicherheitsliebende. Sie vermag nichts weiter, als Gleichzeitigkeiten, Paradoxien, Ambivalenzen und unfreiwillige Ironie aufzudecken – etwa, dass sogar einem pornographischen Konsumkörper ein Quantum klassizistischer Zeitlosigkeit eignet.

Literatur Aristophanes: Der Frieden, Stuttgart: Reclam 1989. Aristophanes: Lysistrate, Stuttgart: Reclam 2006. Barber, Benjamin R.: Consumed. How markets corrupt children, infantilize adults and swallow citizens whole, New York: W.W. Norton 2007. Bataille, Georges: Die Erotik, München: Matthes & Seitz 1994. Bolz, Norbert: Das konsumistische Manifest, München: Fink 2002. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, übersetzt von Günter Memmert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. (orig.: Opera aperta, 1962) Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York, London, Toronto, Sydney: Free Press 2006. Füchtjohann, Jan: „Die Epoche des Raumes: Das Archiv und das Lager“, in: Marc Jongen (Hg.), Philosophie des Raumes: Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie, München: Fink 2007, S. 173-196. http://medienservice.philips.de/apps/n_dir/e1231501.nsf/alle/357D04CE655B 635941257123004F31F2?opendocument (Zugriff 11.12.2009) Jongen, Marc (Hg.): Der Göttliche Kapitalismus. Ein Gespräch über Geld, Konsum, Kunst und Zerstörung mit Boris Groys, Jochen Hörisch, Thomas Macho, Peter Sloterdijk und Peter Weibel [Schriftenreihe der HfG Karlsruhe, Neue Folge Bd. 1], München: Fink 2007.

39 Vgl. Christiane Kruse: „Nach den Bildern: Das Phantasma des ‚lebendigen‘ Bildes in Zeiten des Iconic Turn“, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen: Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink 2007, S. 165-180, hier S. 165. 67

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Jung, Arthur (Hg.): Schiller’s Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Leipzig: Teubner 1875. Kaufmann, Kai: „Ästhetischer Konservatismus, revisited“, in: Jan Andres/ Wolfgang Braungart/Kai Kauffmann (Hg.), Nichts als die Schönheit: Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt a.M., New York: Campus, 2007, S. 357-365. Klein, Gabriele: „Der schöne Körper“, in: der blaue reiter, Ausgabe 26 (2/2008), S. 61-68. Kreisky, Eva: „Neoliberalismus und Körperdiskurse“, auf: http://evakreisky. at/2004/se_koerper/material.php (Zugriff 19.08.2009) Kruse, Christiane: „Nach den Bildern: Das Phantasma des ‚lebendigen‘ Bildes in Zeiten des Iconic Turn“, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen: Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink 2007, S. 165–180. Le Goff, Jacques/Truong, Nicolas (Hg.): Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart: Klett Cotta 2007. Nova, Alessandro/Feser, Sabine/Burioni, Matteo/Lemelsen, Katja (Hg.): Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, Berlin: Wagenbach 2006. Pfotenhauer, Helmut/Bernauer, Markus/Miller, Norbert (Hg.): Frühklassizismus, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1995. Politycki, Matthias: In 180 Tagen um die Welt: Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl, Hamburg: Mare 2008. Reich, Robert: Supercapitalism. The Transformation of Business, Democracy, and Everyday Life, New York: Alfred A. Knopf 2007. Roche, Charlotte: Feuchtgebiete, Köln: DuMont 2008. Roy, Denny: Taiwan. A Political History, New York: Cornell University Press 2003. Sloterdijk, Peter: Der starke Grund zusammen zu sein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Spohn, Annette: Andy Warhol: Leben und Wirkung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Virilio, Paul: Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin: Merve 1993. Wetz, Franz: „Körperkult, Gesundheitswahn und Abenteuersucht“, auf: www. hospitalkirche-stuttgart.de/texte/03texte_text04_ethisches.html. (Zugriff 16.08.2009) Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart: Reclam 1986. (orig. 1755)

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Natürlich künstlich glatte Haut. De mi Moore , Brigitte Niels en und ihre Körperte c hnologie n in de n Mass e nme dien THOMAS KÜPPER

Dass Schauspielerinnen und Schauspieler Körpertechnologien wie Kosmetik und plastische Chirurgie nutzen, um in den Massenmedien schön auszusehen, ist selbst Thema dieser Medien. Insofern bleibt Kosmetik nicht verborgen, um eine makellose Oberfläche zu erzeugen, sondern gehört zur allgemein sichtbaren Oberfläche. Die Arbeit am Körper, die dazu dient, ihn zu verjüngen, ist ihrerseits vorzeigbar und bildet wie selbstverständlich einen Bestandteil des Alterns. In diesem Zusammenhang werden Unterscheidungen zwischen ‚natürlichem‘ Altern und ‚künstlicher‘ Verjüngung problematisch, wie am Beispiel von Medienbeiträgen über Demi Moore und Brigitte Nielsen gezeigt werden soll.

Die Schminke der Demi Moore Die Presse berichtet, dass Demi Moore über Altersdiskriminierung in Hollywood klage. Die Filmemacher, so wird Moore im Jahr 2006 zitiert, böten „nur wenig gute Rollen für Frauen jenseits der 40“. Viele ältere Darstellerinnen würden darauf festgelegt, immer die gleichen Rollen zu übernehmen – etwa eine Ehefrau oder eine Mutter zu spielen –, obwohl sie auch anderes könnten.1 Auch von Sharon Stone ist zu lesen, ihrer Meinung nach mangele es an interessanten Rollen für Frauen über vierzig; so könnte fast der Eindruck entstehen, als wären Frauen von diesem Alter an „ein blinder Fleck vor der Kame-

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Birgitta Ronge: „Ab 40 zu alt für Hollywood“, in: Rheinische Post, 28.11.2006, S. B8. 69

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ra“2. Birgit Roschy erklärt, im Filmgeschäft gelte mit wenigen Ausnahmen die Regel: „Trau keiner über 40.“3 Aus dieser Sicht ist es allein das kalendarische Alter, was zählt: Angeblich kommt es auf die bloße Zahl der Jahre an und nicht darauf, welche Fähigkeiten und welche Attraktivität eine Schauspielerin über vierzig auszeichnen können. Insbesondere Moore wird als Beispiel für dieses Prinzip vorgeführt. Ihre Kritik an den unzureichenden Spielräumen für Frauen jenseits der vierzig in Hollywood sagt dann scheinbar etwas über die Schauspielerin selbst aus. Einige Berichte stellen Moore so dar, als sei sie gescheitert. Sie habe mit Schönheitsoperationen versucht, jünger auszusehen, doch – wie an Moores Bemerkung abgelesen wird – ohne den erwünschten Erfolg in der Filmbranche. „Bruststraffung, Lifting und Fettabsaugen haben wenig genutzt: Hollywood-Star Demi Moore (44) klagt über schlechte Rollenangebote für Über40-Jährige“, titelt etwa die Rheinische Post.4 Indem Moores Aussage über „schlechte Rollenangebote“ als Selbstbekenntnis gedeutet wird, erscheint sie in solchen Berichten als Verliererin, die ihre Niederlage eingesteht – als seien die aufwändigen Schönheitsoperationen letztendlich vergeblich gewesen. Die Schönheitsoperationen, die Moore unterstellt werden, gelten somit als verzweifelter und zugleich zweifelhafter Versuch, die Zahl der Jahre zu entkräften. Die vermuteten chirurgischen Eingriffe werden in den Massenmedien auch beziffert: Die britische Daily Mail zum Beispiel rechnet aus, Moore müsse 226.500 Pfund für solche Operationen ausgegeben haben; eine Abbildung zeigt Moores Körper mit Angabe der Kosten für die einzelnen Teile: „Liposuction to hips, thighs and stomach £16,000“ und so weiter (Abb. 1).5 Solche Darstellungen erinnern an Kaufhauskataloge oder auch an die Generalüberholung von Autos, bei der sich der Preis pro Ersatzteil genau angeben lässt. Es wird der Eindruck erweckt, Moore könnte buchstäblich demontiert werden: Vermeintlich setzt sie sich aus käuflichen Dingen zusammen, um sich im Filmgeschäft verkaufen zu können.

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Birgit Roschy: „Sharon, Meg und die anderen. Kaum noch Rollen: Frauen über 40 im Hollywoodfilm“, in: epd Film 2004, H. 9, S. 8f. Ebd., S. 8. B. Ronge: „Ab 40 zu alt für Hollywood“. Lucretia Munro: „She’s spent £226k on plastic surgery but ‚I still can’t get a Hollywood part‘, says Demi“, Mail Online vom 13.9.2007, http://www. dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-481455/Shes-spent-226k-plastic-surgery-IHollywood-says-Demi.html (Zugriff am 20.8.2009)

NATÜRLICH KÜNSTLICH GLATTE HAUT

Abbildung 1: „She’s spent £ 226k on plastic surgery but ,I still can’t get a Hollywood part‘, says Demi” (Daily Mail Online, 13.9.2007)

In den Berichten der Massenmedien richtet sich auf diese Weise eine Unterscheidung zwischen ‚wahrem Sein‘ und ‚bloßem Schein‘ ein. Das kalendarische Alter wird auf der Seite des ‚wahren Seins‘ angesiedelt, der mutmaßlich chirurgisch verschönerte Körper hingegen auf der Seite des ‚bloßen Scheins‘. Die Bemühungen, das kalendarische Alter ‚künstlich‘ zu überspielen, führten gemäß den Berichten nicht zum Ziel; damit bekräftigen die Medienbeiträge, dass es auf das kalendarische Alter ankomme. Es lässt sich festschreiben und wird wie eine unhintergehbare Tatsache gehandelt, während das Aussehen der Schauspielerin als eine Art Blendwerk gilt, von dem man sich nicht täuschen lassen dürfe. Dadurch kommt in den Medien ein geradezu ontologischer Verdacht auf: Wenn das kalendarische Alter sich letztendlich gegen die äußere, oberflächliche Erscheinung durchsetzte, dann ließe sich diese abwerten wie ein Bluff, der zu entlarven wäre. Die Massenmedien machen sich auf diese Weise die Faszination von ‚Demaskierungen‘ zunutze. Anhand der genannten Unterscheidung von ‚wahrem Sein‘ und ‚bloßem Schein‘, ‚Echtem‘ und ‚Unechtem‘, ‚Natürlichem‘ und ‚Künstlichem‘ wird Moore auf den Prüfstand gestellt – als wäre gleichsam unter der Oberfläche des Bildes vom strahlenden Star eine tiefere, verborgene Wahrheit auszumachen, Moores ‚eigentliches Wesen‘, das vor Augen geführt werden könnte. Abschätzend oder auch abschätzig wird aufgelistet, welche optischen Reize sich Moore sozusagen ‚abschminken‘ müsste, wenn ihr die Kosmetik nicht zur Verfügung stände.

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Die Vorstellung, unter die Oberfläche oder hinter die Kulisse der StarInszenierung schauen zu können, ist vielversprechend – ist mit ihr doch die Verheißung verbunden, man könne die Wahrheit entdecken. Richard Dyer erklärt hierzu: „The processes of manufacturing an appearance are often thought to be more real than the appearance itself – appearance is mere illusion, is surface.“6 Dagegen gibt Dyer zu bedenken: „How we appear is no less real than how we have manufactured that appearance, or than the ‚we‘ that is doing the manufacturing. Appearances are a kind of reality, just as manufacture and individual persons are.“7 Dergestalt lässt sich die in den Medienberichten über Stars verwendete Unterscheidung von ‚wahrem Sein‘ und ‚bloßem Schein‘ hinterfragen – doch sie hat zunächst eine besondere Wirkungsmacht. In der Daily Mail wird der Eindruck erweckt, als könnte man ‚wahre‘ und ‚vorgegaukelte‘ Jugend auseinanderhalten und als wäre das kalendarische Alter eine unumstößliche Vorgabe: An der Zahl der Jahre könnte nicht gerüttelt werden, aber es wäre möglich, dass das Aussehen des Körpers tröge – nämlich dass dieser nur einen ‚jugendlichen Anstrich‘ hätte, der nicht ‚hielte‘. Allerdings ist die Geltung kalendarischer Altersbestimmungen nicht ungebrochen. Längst rufen sie Unbehagen und Unruhe hervor – man verwahrt sich dagegen, nach Jahreszahlen geradezu in Schubladen gesteckt zu werden. Miriam Haller spricht in diesem Zusammenhang von „Ageing Trouble“.8 Damit weist sie auf Parallelen zum „Gender Trouble“9 hin: In weiten Teilen der Gesellschaft wird das vermeintlich natürliche Geschlecht (sex) wie etwas fraglos Vorgegebenes betrachtet, nach dem sich die soziale Geschlechtsidentität (gender) zu richten hat. Die Zuordnung zum anatomischen Geschlecht entscheidet darüber, inwiefern jemand männlich oder weiblich auftreten darf. Vergleichbar mit dieser Setzung des Geschlechts als einer für ursprünglich gehaltenen, scheinbar unhintergehbaren Naturgegebenheit, dient im Hinblick auf das Alter der Kalender als Maßstab: Die gesellschaftliche Vorschrift, dass man sich ‚dem Alter entsprechend‘ zu verhalten hat, setzt das 6 7 8

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Richard Dyer: Heavenly Bodies. Film Stars and Society, London, New York: Routledge 2004, S. 1. Ebd., S. 2. Miriam Haller: „‚Ageing trouble‘. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung“, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.), Altern ist anders, Münster: Lit 2004, S. 170-188; dies.: „‚Unwürdige Greisinnen‘. ‚Ageing trouble‘ im literarischen Text“, in: Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 45-63. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; ferner dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Vgl. auch Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur, Essen: Die Blaue Eule 2003, insbes. S. 26.

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kalendarische Alter als gegeben voraus und verlangt, dass das soziale Erscheinungsbild zu ihm passen muss. Solche Mechanismen kommen zum Tragen, wenn zum Beispiel von einer ‚Frau über 40‘ verlangt wird, bestimmte Rollen (im Film oder in der Gesellschaft) einzunehmen: Die Zuneigung zu einem ‚über 15 Jahre jüngeren‘ Mann etwa dürfe fürsorglich sein, nach dem verbreiteten Vorbild einer Mutter; doch wenn die kalendarisch ‚Ältere‘ einen ‚um so viele Jahre Jüngeren‘ sinnlich begehrt, drohen ihr spöttische Blicke. Auch Schönheitsoperationen, mit denen sich eine ‚Frau über 40‘ das Aussehen einer ‚Frau unter 30‘ verschafft, werden zum Teil (freilich nicht immer) als absurd gehandelt und abgetan, da sie die Ordnung des kalendarischen Alters in Frage stellen.10 Die Medienfigur Demi Moore aber macht solchen Maßgaben die Vorherrschaft streitig: zum einen durch die Schönheitsoperationen, die man der Schauspielerin zuschreibt, ohne ihr endgültig einen bestimmten Platz (oder gar ‚Nicht-Platz‘, ‚Fehl-Platz‘) in der ‚Ordnung des kalendarischen Alters‘ anweisen zu können; zum anderen auch und vor allem durch Moores Ehe mit dem ‚um 15 Jahre jüngeren‘ Ashton Kutcher. Entscheidend ist, dass Moore in einigen Beiträgen als Vorbild betrachtet wird, und zwar was das Aussehen und was die Ehe betrifft. Markus Frind, Gründer einer Internet-Kontaktseite, erklärt: Die Ehe von Moore und Kutcher sei vor einigen Jahren noch eine Ausnahme gewesen, doch angesichts des guten Verlaufs dieser Partnerschaft sähen sich mehr Frauen denn je nach einem jüngeren Mann um; so ist bereits vom „Demi Moore Effect“ die Rede.11 Auf diese Weise werden überkommene Vorstellungen davon, welche Bindungen ‚altersgemäß‘ seien, zurückgewiesen und verkehrt. Auch Moores Schönheitspflege entzieht sich starren Vorgaben. In einem Interview mit der Zeitschrift Gala aus dem Jahr 2007 zum Beispiel streitet die Schauspielerin ab, ihre Schönheit Operationen zu verdanken: „Ich [Moore, TK] würde niemals plastische Chirurgie verurteilen, ich kann aber nur betonen, dass die Gerüchte um meine angebliche Rundumerneuerung lächerlich sind. Aber wer weiß, wie ich über dieses Thema denke, wenn ich eines Morgens aufwache, in den Spiegel sehe und einfach nur denke: ‚Puh...‘ Hoffentlich gibt es, wenn ich ernsthaft etwas brauche, eine neue, skalpell-freie Me-

10 Vgl. dazu etwa Sander L. Gilman: „Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie“, in: Angelika Taschen (Hg.), Schönheitschirurgie, Köln: Taschen 2005, S. 60-109, insbes. S. 107f. 11 „Study of 50,000 Female Online Daters Reveals the Demi Moore Effect“, http://www.prnewswire.com/cgi-bin/stories.pl?ACCT=104&STORY=/www/ story/04-30-2007/0004576382&EDATE; „Forever young – Demi Moore Effect“, http://www.huliq.com/20215/forever-young; „MILFs Gone Wild”, http://www.thebachelorguy.com/milfs-gone-wild.html? (Zugriff am 10.5.2009) 73

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thode.“12 Damit lässt sich Moore nicht in das Schema ‚schön durch Operationen‘ zwängen, doch sie stellt sich gleichsam vor die plastische Chirurgie und weigert sich, diese zu verwerfen. Eingriffe mit dem Skalpell werden auf diese Weise nicht als Tatsachen bestätigt, aber denkbar; insofern nähert sich das ‚Künstliche‘ dem, was als ‚ganz natürlich‘ gilt, an: dem Anerkannten und Verständlichen. Im Mittelpunkt des Gala-Interviews steht die Frage, wie sehr Moore sich gequält hat, um sogenannte „Idealmaße“ zu erreichen, bis die Schauspielerin schließlich „den Körperwahn überwand“.13 Die Darstellerin erzählt, sie habe jahrelang in Fitnessstudios gelitten, um ihren Körper in Form zu bringen, und mit seinem Gewicht gehadert: „Wie oft wurde mir von Produzenten befohlen, abzunehmen, wie lange hatte ich Komplexe, litt unter mangelndem Selbstwertgefühl. Ich machte ständig Diäten, trieb extrem viel Sport und manipulierte meinen Körper, wo es nur ging.“14 Von diesen Zwängen hat sich Moore nach eigener Aussage befreit und dann eine neue Zufriedenheit erlangt: „Als ich endlich aufhörte, verbissen für mein Traumgewicht zu kämpfen, war mein Körper bald näher an meinem Schönheitsideal, als er es je in meinen Kampfphasen voller verrückter Diäten und irrsinnige[r] Sporteinheiten gewesen ist.“15 So räumt Moore zwar ein, früher hart an ihrem Körper gearbeitet zu haben; später aber sei es gerade der Verzicht auf Übertreibungen beim Training und bei Diäten gewesen, der sie zum Ziel geführt habe. Dass man, was Schönheitsideale angeht, nicht übermäßig streng gegenüber sich selbst sein sollte, ist ein Grundsatz, den Moore Leserinnen des Magazins ausdrücklich nahebringen will; sie fährt fort: „Ich hoffe sehr, dass ich mit diesen Worten Frauen ermutige, schön zu finden, wer sie sind[,] und nicht, wer sie nicht sind.“16 Dergestalt wird Moore in dem Heft als Sympathiefigur präsentiert. Dazu genügt es nicht, dass sie ein Schönheitsideal verkörpert – wie etwa eine Unterschrift zu Bildern von Moore hervorhebt: „Männerherzen“ schlügen „bei diesem Anblick höher“.17 Weibliche Attraktivität wird somit von „Männerherzen“ abhängig gemacht, die als ‚schlagende‘, ausschlaggebende Instanzen in Betracht kommen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit eingeräumt wird, sich in der Haltung gegenüber Schönheitsidealen an der Schauspielerin zu orientieren – das heißt indessen, sich nicht zu sehr selbst quälen zu müssen.

12 Sarah Lau: „Demi Moore. ‚Jedes Mal, wenn ich zunahm, war ich am Boden zerstört‘“, in: Gala. Die Leute der Woche, Nr. 12/2007, 15.3.2007, S. 16-20, hier S. 19. 13 Ebd., S. 17. 14 Ebd., S. 19. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 74

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Gleich zu Beginn des Beitrags steht im Blickpunkt, dass Moore sich nicht (mehr) alle Annehmlichkeiten versagt, um den Körper in Form zu bringen: „Noch vor wenigen Jahren hätte sich Demi Moore nie und nimmer gestattet, zum GALA-Interview in Beverly Hills mit einem leckeren Milchkaffee aufzulaufen. ‚Sünde!‘ hätte ihr kalorienzählendes Gewissen schon beim bloßen Gedanken daran geschrien. Und rein prophylaktisch das nächste Hanteltraining eingeläutet.“18 Heute aber sei die Schauspielerin „im Umgang mit Kalorientabellen und Körperkult sehr viel reflektierter und kritischer“19 geworden. Insbesondere wenn es heißt, dass sich Moore einen „leckeren Milchkaffee“ gönnt – ein auch für viele andere erreichbarer, alltäglicher Genuss –, und wenn im Weiteren von ihren ehemaligen Selbstzweifeln und Komplexen erzählt wird, bieten sich Möglichkeiten, die Vorgestellte als menschlich zu betrachten und mit ihr zu sympathisieren. Indem der Gala-Beitrag ein Mitfühlen, eine Art Komplizenschaft mit Moore nahelegt, zielt er nicht darauf ab, die Schauspielerin in jedem Sinne des Wortes zu ‚demaskieren‘. Zum Mitfühlen ist verlangt, sich auf die Darstellung Moores einzulassen, statt sich über sie nur auszulassen. Der Artikel handelt zwar davon, was sich sozusagen ‚hinter‘ Moores Schönheit verbirgt, doch dieses ‚Dahinter‘ ist selbst wiederum eine Welt des schönen Scheins, mit einem Milchkaffee in Beverly Hills – insofern eröffnet sich ‚hinter‘ den Kulissen der Filme eine zweite reizvolle Szenerie – die „Gala“ setzt sich auf anderer Ebene fort. Auf dieser Ebene des Scheins befindet sich Moore, wenn sie der Leserschaft Schönheitsrezepte verrät, nach denen im ‚Äußeren‘ ‚Inneres‘ zum Ausdruck kommt, so dass die ‚Oberfläche‘ im Verhältnis zur ‚Tiefe‘ nicht als bloße Täuschung abgetan werden kann, und nach denen Schönheit mit einfachen, gewöhnlichen Handgriffen erreichbar, also buchstäblich zuhanden ist. Moore erklärt: „Zum einen habe ich wirklich gelernt, dass innere Freude nach außen strahlt, und ich kann nur sagen: Ich bin unglaublich glücklich. Von meiner Mutter habe ich darüber hinaus die wohl wichtigste Grundlage gelernt: Egal was dein Abend so gebracht hat, wie lang er war und wo er endet – abschminken und eincremen sind oberste Pflicht. Und wir reden hier von einer Frau aus einer kleinen Stadt im Westen, wo die Leute nicht gerade viel Ahnung von Hautpflege hatten. Abschminken und eincremen – das Credo habe ich von ihr übernommen und auch schon an meine Kinder weitergegeben.“20

18 Ebd., S. 17. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 19. 75

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Das (Ab-)Schminken scheint sogar in der Familie aus der „kleinen Stadt im Westen“, fernab raffinierter ‚Künstlichkeit‘, verankert und somit geradezu ‚natürlich‘ zu sein.21 Im Unterschied zu dem Beitrag aus Daily Mail stellt Gala die Schauspielerin so vor, dass das angebliche ‚Sein‘ nicht gegen den ‚Schein‘ ausgespielt wird; stattdessen spielt beides ineinander. Dadurch eröffnen sich eigene SpielRäume für die Thematisierung von Alterskosmetik: Die Schönheitspflege dient nicht nur zur Inszenierung des Körpers, sondern lässt sich auch ihrerseits inszenieren, sie kann sich sehen lassen. Indem der Artikel von „Abschminken“ und „Eincremen“ handelt als vorzeigbaren Behandlungen des ‚Äußerlichen‘, verzichtet er darauf, das ‚Äußerliche‘ zu entwerten. Vielmehr folgt er geradezu einem Motto aus Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray: „Nur einfältige Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren.“22 Entsprechend geht es im Gala-Beitrag nicht darum, ‚Oberflächen‘ durch den Anspruch auf ‚Tieferes‘ so zu (durch)brechen, dass ihre Faszination zunichte gemacht würde. Susan Sontag setzt sich in ihrem Aufsatz The Double Standard of Aging mit solcher Schönheitspflege kritisch auseinander: Von früher Kindheit an, so Sontag, werden Mädchen dazu angehalten, auf ihr Aussehen zu achten und sich als attraktive Objekte zu präsentieren. Dem Text nach erwartet man von Frauen, dass sie sich an einem Abend, etwa im Restaurant oder während eines Festes, mehrmals zurückziehen, um ihr Aussehen zu überprüfen und zu schauen, ob das Make-up und die Frisur noch in Ordnung sind. „It is even acceptable to perform this activity in public. At the table in a restaurant, over coffee, a woman opens a compact mirror and touches up her make-up and hair without embarrassment in front of her husband or her friends.“23 Wenn Demi Moore ihr (Ab-)Schminken nicht leugnet, scheint sie dem von Sontag beschriebenen Verhaltensmuster zu entsprechen. Insbesondere das Wort „perform“ bei Sontag lässt sich auf die Medienperson Moore übertragen: Die Her21 Christian Janecke weist darauf hin, dass dezentes Schminken die Grenze zwischen dem ‚Natürlichen‘ und dem ‚Künstlichen‘ insofern verwischen kann, als eine „für Dritte schwer durchschaubare und wohl kaum auffallende Verschmelzung natürlicher mit artifiziell ‚überschriebenen‘ Partien“ des Gesichts stattfindet. Christian Janecke: „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken, Marburg: Jonas 2006, S. 9-43, hier S. 12. 22 Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, Stuttgart: Reclam 1992, S. 35. Vgl. zu Wildes Roman im Kontext von Altersdiskussionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts Sabine Kampmann: „Das alternde Bild. Oscar Wildes ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘“, in: Beat Wyss/Martin Schulz (Hg.), Techniken des Bildes, München: Fink 2010 (im Druck). 23 Susan Sontag: „The Double Standard of Aging“, in: Lawrence R. Allman/ Dennis T. Jaffe (Hg.), Readings in Adult Psychology, New York: Harper & Row 1977, S. 285–294, hier S. 289. 76

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stellung eines jugendlichen ‚Äußeren‘ durch Kosmetik gehört, wie sich am Beispiel des Gala-Interviews zeigt, zu Moores öffentlicher Aufführung. Sontag betrachtet Schminke als ein Mittel von Frauen, das Alter zu kaschieren und jünger auszusehen, als sie sind. Damit lässt sich Kosmetik aus Sontags Sicht zu den Lügen über das Alter zählen, die Frauen gestattet werden, so dass Männer die Möglichkeit erhalten, sich als überlegen zu beweisen: „A man who lies about his age is thought to be weak, ‚unmanly‘. A woman who lies about her age is behaving in a quite acceptable, ‚feminine‘ way. Petty lying is viewed by men with indulgence, one of a number of patronizing allowances made for women.“24 Weiter heißt es, Frauen betrügen sich um ihre Mündigkeit, wenn sie ihr Alter mit Schminke verdecken, um, wie ihnen auferlegt wird, mädchenhaft jung auszusehen. Demgegenüber betont Sontag, dass Frauen eine andere Wahl haben. Anstatt so lange wie möglich wie Mädchen zu erscheinen, können Frauen ihren Gesichtern erlauben, vom gelebten Leben zu zeugen: „Women should tell the truth.“25 Dabei unterschlägt Sontag allerdings, wie Miriam Haller bemerkt, „dass auch Authentizität inszeniert sein will, um wahrgenommen werden zu können“26. Ist nicht „die gelungene Darstellung von Authentizität eine der größten Künste der Inszenierung“?27 Und worin soll die ‚Wahrheit des Alter(n)s‘ bestehen – sind die Zahlen im Kalender zum Beispiel glaubwürdiger als das Sprichwort „Man ist so alt, wie man sich fühlt“? Wenn aber jedes zur Schau gestellte Alter(n) ein inszeniertes ist, lässt sich ohnehin bezweifeln, ob gegen diese Inszenierungen eine ‚Wahrheit des Alter(n)s‘, die jenseits von ihnen bestünde, in Anschlag gebracht werden kann. Der Beitrag zur sich (ab)schminkenden Demi Moore in Gala setzt beim Publikum die Bereitschaft voraus, einer Inszenierung zu folgen; hingegen verlangt er nicht unbedingt, eine ‚Wahrheit‘ jenseits aller Inszenierung anzunehmen. Insofern wird die Diskussion über das Alter(n) von Ansprüchen auf ‚Wahrheit‘ entlastet. Es mag kritisiert werden, dass die Darstellung in Gala weibliche Schönheit einem als männlich bezeichneten Blick unterwirft und wirkungsmächtige, verbreitete Vorgaben für das Aussehen von Frauen bekräftigt. Zugleich aber schwächt der Artikel Vorgaben für das Alter(n) ab – verzichtet er doch darauf, das Alter festzuschreiben und ‚Alt-Sein‘ gegen ‚Jung-Scheinen‘ zu setzen.

24 Ebd., S. 294. 25 Ebd. Vgl. dazu auch Miriam Haller: „Undoing Age. Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text“ (in diesem Band). 26 Miriam Haller: „‚Double Standards of Ageing‘. Que(e)rungen von Gender Studies und Ageing Studies“, Typoskript, S. 6. Haller bezieht sich an dieser Stelle auf: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen: Francke 2007. 27 M. Haller: „‚Double Standards of Ageing‘“, S. 6. 77

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„ Au s a l t m a c h n e u “ : B r i g i t t e N i e l s e n Im Vorigen zeigte sich, wie Susan Sontags Satz „Women should tell the truth“ hinfällig wird: Gala inszeniert, dass das Alter inszeniert wird. Demi Moore kann sich beim Publikum damit sehen lassen, wie sie sicherstellt, dass sie sich sehen lassen kann. Die Schauspielerin bestätigt allerdings nicht die Gerüchte, dass sie sich Schönheitsoperationen unterzogen habe, um jugendlich auszusehen. Doch selbst solche chirurgischen Eingriffe lassen sich eigens vorführen. Ein Beispiel dafür ist Aus alt mach neu – Brigitte Nielsen in der Promi-Beauty-Klinik, eine Doku-Soap, die 2008 im deutschen Fernsehen auf RTL lief.28 Vergleichbar mit anderen Ausläufern des Transformationsfernsehens, wie Pimp My Wife und The Swan29, schildert die vierteilige Serie, ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ gegenüberstellend, wie Brigitte Nielsen an ihrem Körper Schönheitsoperationen durchführen lässt. Dazu gehören unter anderem Vorgespräche mit den Ärzten, die Nielsens Körper prüfend beäugen und betasten (Abb. 2); er wird als korrekturbedürftig auch dem Fernsehpublikum präsentiert. Abermals sind es Männer, die einen weiblichen Körper begutachten, in diesem Fall sogar, in Gestalt der Ärzte, geradezu wie ‚Schöpfer‘ (oder zumindest ‚Verbesserer der Natur‘) formen sollen. Aus alt mach neu handelt somit von Männern, die durch chirurgische Eingriffe die Attraktivität einer Frau zu steigern vorgeben, in dem Sinne, dass die Frau als Objekt wiederum für Männer begehrenswert werden soll. Im Weiteren können die Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgen, wie Nielsen auf dem Operationstisch liegt, welche Wunden und Verbände sie daraufhin hat und schließlich: wie sie mit ihrem erneuerten Körper posiert. Nielsens Körper steht im Mittelpunkt der Doku-Soap: Unter anderem wird, nicht anders als in der Moore-Darstellung von Daily Mail, der Preis für jeden Eingriff genau beziffert, in diesem Fall auch mit den benötigten OPStunden: „Brust gestrafft“, „Dekolleté gelasert“, „Oberarme abgesaugt“, „Dauer: 6 Stunden“; der Preis wird mit „9.000 Euro“ angegeben und so weiter. Ein Kommentator aus dem Off bemerkt, „die Rundumerneuerung der Nielsen“ habe insgesamt 66.000 Euro gekostet, so viel wie „eine kleine Eigentumswohnung in mittlerer Lage“. Mit diesem Vergleich ruft er die Vorstellung auf, Nielsen sei ein renovierungsbedürftiges altes Gebäude gewesen.

28 Die erste Folge wurde am Sonntag, 6.7.2008, um 19.05 Uhr ausgestrahlt, die weiteren Folgen an den nächsten Sonntagen (13.7., 20.7. u. 27.7.2008). 29 Vgl. dazu Andrea Seier/Hanna Surma: „Schnitt-Stellen. Mediale Subjektivierungsprozesse in ‚The Swan‘“, in: Paula-Irene Villa (Hg.): Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript 2008, S. 173-198. 78

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Abbildung 2: „Die 2. OP: Facelifting!“ von ‚Aus alt mach neu‘, Screenshot aus der Folge, gesendet am 13.7.2008 auf RTL

Die Serie stößt zum Teil auf harsche Kritik: „Schäbig“, „zynisch“, „frauenverachtend“ und „abgrundtief sexistisch“, ist etwa im Urteil von FocusRedakteur Josef Seitz zu lesen.30 Allerdings handelt es sich bei den Reaktionen in den Feuilletons nicht ausschließlich um Verrisse. Antje Hildebrandt zum Beispiel bezieht zu der Doku-Soap wie folgt Stellung: „Man kann das würdelos finden. Doch so alt ist Brigitte Nielsen nun auch wieder nicht, dass sie einen Intensivpfleger oder einen amtlich bestellten Vormund bräuchte. Sie wird schon wissen, warum sie sich [...] mit freundlicher Unterstützung von RTL unters Messer legt, um ihren Wunschzettel einzulösen: 2 Mal Fettabsaugen, 1 Mal Brustverkleinerung, 1 Mal neues Gesicht.“31

30 Josef Seitz: „‚Aus alt mach neu – Brigitte Nielsen‘. Fernsehen vollfett“, FOCUS ONLINE, 7.7.2008, http://www.focus.de/kultur/kino_tv/focus-fernsehclub/ausalt-mach-neu-brigitte-nielsen-fernsehen-vollfett_aid_315979.html (Zugriff am 22.6. 2009) 31 Antje Hildebrandt: „Brigitte Nielsen auf dem Weg zur Schlachtbank“, WELT ONLINE, 7.7.2008, http://www.welt.de/fernsehen/article2185716/Brigitte_ Nielsen_auf_dem_Weg_zur_Schlachtbank.html (Zugriff am 22.6.2009) 79

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Damit wird deutlich, dass Aus alt mach neu verschiedene Sichtweisen zulässt: Einerseits ist es möglich, das Augenmerk darauf zu richten, inwiefern der Mensch Nielsen zu einer Sache wird, deren Einzelteile genau bemessen und in Geld aufgerechnet werden. Andererseits aber rückt Nielsen nicht zwangsläufig nur als Objekt in den Blick; vielmehr kann sie auch als Subjekt erscheinen, das aus eigenem Entschluss handelt. Inwiefern die Serie beide Perspektiven erlaubt, zeigt sich, wenn man das Genre näher in die Überlegungen einbezieht. Dadurch, dass Aus alt mach neu ausdrücklich als „Doku-Soap“ angekündigt wird, lassen die Sendungen so genannte leichte Unterhaltung erwarten. Zwar beanspruchen sie mit dieser Angabe, auf Tatsachen zu beruhen und (möglicherweise voyeuristische) Einblicke in ‚wirkliches‘ Geschehen zu geben, also gewissermaßen „dokumentarisch“ zu sein. Aber es ist zugleich markiert, dass nicht im Ernst schwerwiegende Probleme der Gesellschaft behandelt werden, sondern ein überschaubares Ensemble von Figuren in ein Spiel, eine Art „Seifenoper“, eingebunden ist.32 Aus alt mach neu beginnt wie eine Komödie: Die computergenerierten Bilder der Anfangssequenz stellen mit einer Art Stop-Motion-Technik die Hauptfiguren in Bewegung vor und erinnern an Comics. Dabei lassen die Bilder ihr ‚Gemachtsein‘ erkennen, sie erscheinen collageartig – so, als wären sie mit einer einfachen Schneide- und Klebetechnik hergestellt. Auf diese Weise werden bereits spaßhaft die Schnitte und das ‚Gemachtsein‘ auf dem Operationstisch vorweggenommen. Zudem illustrieren die für den Titel gewählten Schriften das Thema der Serie: Das „Aus alt“ ist in einer Quasi-Handschrift zu lesen, das „mach neu“ in einer Grotesk-Schrift. Während die QuasiHandschrift für das Alte und Überholte steht, repräsentiert die konstruiert wirkende serifenlose Schrift das Neue und Moderne. Die für die Sendung wesentliche Spannung zwischen dem ‚Vorher‘ und dem ‚Nachher‘ wird durch das Spielerische der Schriften ins Scherzhafte gewendet. Auch die fröhlichbeschwingte Eingangsmusik signalisiert, dass im Weiteren gelacht werden darf. Über wen oder was aber darf dann gelacht werden? Henri Bergson weist darauf hin, dass das Lachen allgemein eine „soziale Geste“ ist: „Durch die Furcht, die es einflößt, korrigiert es das Ausgefallene [...].“33 Das Lachen hat demnach die Funktion, Abweichungen in der Gesellschaft zu ahnden und für ein Verhalten, das nicht der Norm gemäß ist, zu strafen. Geht man von diesen Überlegungen aus, scheint zunächst klar zu sein, dass Nielsen als Objekt des Lachens herhalten muss. Mit dem Wunsch, sich ein jugendlicheres Aussehen zu verschaffen und sich nicht an die ‚Ordnung 32 Vgl. Richard Kilborn: „The docu-soap: A critical assessment“, in: John Izod/ Richard Kilborn (Hg.), From Grierson to the Docu-Soap. Breaking the Boundaries, Luton: University of Luton 2000, S. 111-119. 33 Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Zürich: Die Arche 1972, S. 22. 80

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des kalendarischen Alters‘ zu halten, entfernt sich Nielsen von dem, was in weiten Teilen der Gesellschaft als vernünftig, nachvollziehbar und akzeptabel gilt. Darauf lässt sich zurückführen, dass die Schauspielerin zu einer Zielscheibe des Spotts wird. In der Anfangssequenz ist zu sehen, wie Nielsen die Pose der sich im Spiegel betrachtenden Frau aus dem Märchen „S[ch]neewittchen“ einnimmt und die bekannten Verse rezitiert: „Spieglein, Spieglein an der Wand. Wer ist die [S]chönste im ganzen Land?“34 Die traditionelle Kritik am selbstgefälligen Betrachten im Spiegel35 kommt insofern ins Spiel, und es wird möglich, Nielsen als scheinbar eitle Frau zu verlachen. Insbesondere auch die Behandlung von Nielsens Körper, als wäre er eine Sache und als setzte er sich aus austauschbaren Teilen zusammen, kann Gelächter hervorrufen. Bergson erklärt: „Wir lachen immer dann, wenn eine Person uns an ein Ding erinnert.“36 Vor allem ist es nach Bergson komisch, das ‚Natürliche‘ des Lebens ‚künstlich‘ überbieten und verdrängen zu wollen.37 Bergson nennt als Beispiel dafür ein Gespräch aus Molières Der Arzt wider Willen, das von der Medizin handelt: „Was sagt Sganarelle, nachdem Géronte ihm erklärt hat, das Herz befinde sich links und die Leber rechts? ‚Ja, das war früher so, aber wir haben alles geändert und üben jetzt die Medizin nach einer ganz neuen Methode aus‘.“38 Gerade Schönheitsoperationen lassen sich aus einer solchen Perspektive als Versuche betrachten, die ‚Natur‘ zu überwinden und ‚alles zu ändern‘, so dass das Lachen an ihnen Anstoß nehmen kann. Das Lachen über Nielsen wäre dann im Sinne Bergsons züchtigend und wiese auf das Verbot hin, sich um eine ‚künstliche‘ Verbesserung der so genannten ‚Natur‘ zu bemühen. Nielsen erschiene buchstäblich ver-rückt, der Ordnung entrückt. „Brigitte im Beauty-Wahn“, lautet ein Voice-over-Kommentar. Allerdings kann die zur Schau gestellte Verrücktheit auch zu einem anderen Lachen anregen: eines, das sich von der ‚schrillen‘ Aufführung der Darstellerin gleichsam anstecken lässt. Dieses baut sich, wie man Michail Bachtins Worte über mittelalterliches Lachen abwandeln könnte, eine „Gegenwelt gegen die offizielle Welt“39. Dabei kehrt sich die von Bergson beschriebene 34 Vgl. Brüder Grimm: „Sneewittchen“, in: dies., Kinder- und Hausmärchen, München: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, Bd. 1, S. 261-272, hier S. 262. Spieglein, Spieglein ist zudem der Titel einer Doku-Soap über Kosmetik und Schönheitschirurgie (seit März 2008 auf VOX). 35 Zur Diffamierung des Spiegelgebrauchs in der Geschichte vgl. Rolf Haubl: „Unter lauter Spiegelbildern ...“ Zur Kulturgeschichte des Spiegels, Frankfurt a.M.: Nexus 1991, Bd. 2, S. 532ff. 36 H. Bergson: Das Lachen, S. 44. 37 Ebd., S. 39. 38 Ebd., S. 38. Vgl. Molière: Der Arzt wider Willen. Komödie in drei Akten, in: ders.: Komödien 3, Zürich: Diogenes 1975, S. 115-159, hier S. 143f. (2. Akt, 4. Szene). 39 Michail Bachtin: „Grundzüge der Lachkultur“, in: ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1985, 81

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Perspektive um: Es geht nicht darum, die Ordnung (der ‚Natur‘ oder des Alters) zu akzeptieren und Nielsen herabzusetzen; eher wird Nielsen mit ihrem Verhalten akzeptiert und die Ordnung (her)abgesetzt. Mithin kommt in dem anderen Lachen das Vergnügen zum Ausdruck, Grenzen des Anerkannten zu überschreiten. Nielsens Aus-der-Ordnung-Fallen ist möglicherweise nicht nur abschreckend, sondern auch mitreißend. Aus alt mach neu schließt nicht aus, dass sie die Lacher auf ihrer Seite hat. Entscheidend ist, dass Nielsen nicht bloß passiv als etwaige Spottfigur in den Blick gerät, sondern in einer aktivitätsbestimmten Rolle als ‚Spaßmacherin‘ auftritt. Nielsen spielt bei den Vorführungen mit, statt nur vorgeführt zu werden. Wenn sie zum Beispiel eine eitle Frau mit einem Spiegel in der Hand mimt, ist ein Augenzwinkern mitzusehen, so dass komplizenhaft gelacht werden kann. In einer anderen Szene greift die Darstellerin an ihren Busen und erklärt, Gold in den Händen zu halten. Auf diese Weise misst sie ihrem Busen einen Sachwert zu, ohne darin aufzugehen, eine Sache zu sein – schließlich spricht Nielsen über den dinglichen Wert ihres Körpers, so dass sich zwangsläufig eine Distanz zwischen ihr und dem Gegenstand ihrer Aussage ergibt. Dergestalt tritt die Schauspielerin als eigenständig Handelnde auf – doch fügt sie sich nicht letztlich bloß Vorgaben für ihr Aussehen, die im Voraus feststehen?40 Zunächst könnte es so scheinen, als unterläge Nielsen nur dem Zwang, denjenigen Vorstellungen vom Attraktivsein noch einmal zu entsprechen, denen sie in früheren Jahren genügte: Nach den Schönheitsoperationen nimmt sie von neuem eine Pose ein, mit der sie 1986, das heißt über zwanzig Jahre zuvor, in Playboy zu sehen war. Erschöpfen sich die in der Doku-Soap vollzogenen körperlichen Veränderungen darin, einen früheren, von Normen der Pornographie geprägten und vermarktbaren Zustand wiederherzustellen, ihn nachzustellen und – in der Hinsicht, dass eine identische Wiederholung unmöglich ist, – ihn zu entstellen? Geht Nielsen, sei es erfolgreich oder verzweifelt, allein darauf aus, sich einem von dem Herrenmagazin bestimmten Weiblichkeitsbild einzupassen (als Akt der Mimikry41)? In der Orientierung an einem einheitlichen und fixen Schema dieser Art läge zum Beispiel ein Unterschied zu der Künstlerin Orlan, die mit chirurgiS. 32-46, hier S. 32. Vgl. auch Gabriele Leupolds Bachtin-Übersetzung: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, insbes. S. 53. 40 Zum Doppelgesicht der Schönheitschirurgie als Technik der freien Selbstwahl und zugleich der Unterwerfung unter geltende Normen vgl. Sabine Maasen: „Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik“, in: Paula-Irene Villa (Hg.), Schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript 2008, S. 99-118, insbes. S. 113f. 41 Vgl. zur Mimikry als Versuch, Teil eines bestimmten ‚Bildes‘ zu werden, Kaja Silverman: „Dem Blickregime begegnen“, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: ID 1997, S. 41-64. 82

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schen Eingriffen an ihrem Körper Vorgaben für weibliche Schönheit unterläuft und, wie eine Cyborg im Sinne Donna Haraways, den Mythos des ‚ganzen‘, ‚unteilbaren‘ Menschen in Frage stellt.42 Doch auch Nielsen bestätigt kein bruchloses Ideal für das Aussehen von Frauen. Das von ihr verkörperte Weiblichkeitskonzept ist doppelbödig: Nur scheinbar wird ein ‚Urbild‘ von Weiblichkeit beschworen. In Aus alt mach neu ist eine Sequenz aus Richard Fleischers Barbaren-Film Red Sonja43 zu sehen, in dem Nielsen die Titelrolle spielt. Das Bild mythischer, in der Vorzeit angesiedelter Weiblichkeit ist so überzeichnet, dass es nicht ernsthaft eine Norm bekräftigt. Als der Kommentator aus dem Off den Zuschauerinnen und Zuschauern der Doku-Soap erklärt, den in diesem Film gezeigten „Urzustand“ ihrer Brüste wolle Nielsen nicht mehr, folgt ein Zitat von Red Sonja, das in diesem Zusammenhang einen neuen Sinn ergibt: „Nein! Ich stehe unter einem Eid.“ Durch den Schnitt wird die Vorstellung von Ursprünglichkeit karnevalesk verkehrt. Auch Nielsens Auftreten vor, bei und nach den Schönheitsoperationen hat karnevaleske Züge. Das Hervorheben des Busens etwa spielt nicht nur mit pornographischen, sondern auch mit grotesken Motiven. Bachtin beschreibt das Groteske in historischer Perspektive als etwas Positives. Er erklärt, dass beim grotesken Körper die Öffnungen und die Wölbungen, die Verzweigungen und die Auswüchse betont sind, so etwa die Brüste oder der Phallus. Der groteske Körper ist nicht individualisiert, „von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen.“44 Entsprechend gehören der Geburtsvorgang, das Alter, der Zerfall und die Zerstückelung des Körpers zu den Grundbestandteilen grotesker Motive. Diese stehen in Gegensatz zu „den klassischen Motiven des vollendeten, fertigen, reifen menschlichen Körpers, der von allen Geburts- und Entwicklungsschlacken befreit ist“45. Das Groteske zeigt „das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit [...], nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns“46. In solchem Maß wandlungsbereit erscheint Nielsens Körper in Aus alt mach neu. Selbst nach den Operationen ist er nicht abgeschlossen, fertig und 42 Vgl. Kate Ince: Orlan. Millennial Female, Oxford: Berg 2000, S. 77 u. 90ff.; Verena Kuni: „Cyborg_Configurationen als Formationen der (Selbst-)Schöpfung im Imaginationsraum technologischer Kreation (II): Monströse Versprechen und posthumane Anthropomorphismen“, http://www.mediaartnet. org/ themen/cyborg_bodies/mythische-koerper_II/ (Zugriff am 20.8.2009); Donna Haraway: „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York: Campus 1995, S. 33-72. 43 NL, USA 1985. 44 M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 76. 45 Ebd., S. 75f. 46 Ebd., S. 76. 83

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vollendet, sondern weist noch immer „Entwicklungsschlacken“ auf, unter anderem schmerzhafte Schwellungen an den Beinen. Dergestalt bringt das Transformationsfernsehen groteske Motive mit sich. Dabei handelt es sich um Phänomene „in der Metamorphose“, gekennzeichnet von einer Ambivalenz: Groteske Motive stellen jeweils „beide Pole der Veränderung, das Alte und das Neue, das Sterbende und das Entstehende, den Beginn und das Ende der Metamorphose dar“47. Wenn aber Nielsens Transformationen in solchem Sinne grotesk wirken können, müssen sie nicht unbedingt ein ablehnendes Lachen hervorrufen; vielmehr ist ein „ambivalentes Lachen“ möglich, das sich auf die im Werden begriffene Welt bezieht.48 Ebenso verschieden sind die Lesarten, zu denen sich andere Beiträge über Nielsen anbieten. Nielsen stellt zum Beispiel Alters- und Geschlechterklischees dadurch in Frage, dass sie, wie Demi Moore, einen „15 Jahre jüngeren“ Mann heiratet: Nielsen schließt die Ehe mit „dem einen halben Kopf kleineren“ Mattia Dessi, heißt es etwa in der Süddeutschen Zeitung.49 Wenn man von überkommenen Beziehungsmustern ausgeht, irritieren sowohl der Alters- als auch der Größenunterschied; diese werden daher in den Medien eigens herausgestellt. Auch Nielsens aktives Verhalten, das zum Teil eher den Rollenerwartungen an einen Mann denn an eine Frau entspricht, findet Erwähnung in den Medien. Unter dem Titel BILD-Reporter darf ihren neuen Körper fühlen berichtet zum Beispiel Mark Pittelkau, wie er Nielsen in Berlin besucht habe und „prompt von ihr aufs Kreuz gelegt“ worden sei: „Brigitte streckt ihre 1,85 Meter pralle Lebenslust. Dann wirft sie mich spontan auf die Couch [...].“50 Nielsens Verhalten steht als kurios, sonderbar, abweichend von der Norm im Blickfeld der Medien. Damit ist die Schauspielerin, wie auch in der Doku-Soap Aus alt mach neu, zum einen möglichem Spott preisgegeben: Das ungewöhnliche Verhalten kann lachend bestraft werden. Zum anderen aber lässt sich Nielsen als buchstäblich umwerfende Vorkämpferin einer anderen Ordnung, einer Gegen-Ordnung betrachten, eine eigene Faszinationskraft ausübend. In jedem Fall wirbelt sie eingefahrene Vorstellungen von ‚Ursprünglichkeit‘, ‚Natürlichkeit‘, ‚Altersgemäßem‘ und ‚Reife‘ durcheinander. Die Schauspielerin im offenen Operationssaal treibt Susan Sontags Devise „Women should tell the truth“ auf die Spitze: Das ‚wahre Alter‘, das von

47 Ebd., S. 74f. 48 Vgl. ebd., S. 61. 49 Oliver Das Gupta: „Brigitte Nielsens fünfte Hochzeit. Zweiter Versuch, diesmal juristisch einwandfrei“, sueddeutsche.de, 10.7.2006, http://www.sueddeutsche. de/panorama/724/372536/text/ (Zugriff am 20.8.2009) 50 Mark Pittelkau: „Brigitte Nielsen. BILD-Reporter darf ihren neuen Körper fühlen“, bild.de, 6.8.2009, http://www.bild.de/BILD/unterhaltung/leute/2008/08/ 09/brigitte-nielsen/laesst-bild-reporter-ihren-neuen-k_C3_B6rper-f_C3_BChlen. html (Zugriff am 20.8.2009) 84

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Nielsen zur Schau gestellt wird, kann kein ‚natürliches‘ sein, sondern natürlich allein ein ‚künstliches‘.

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Munro, Lucretia: „She’s spent £226k on plastic surgery but ‚I still can’t get a Hollywood part‘, says Demi“, Mail Online, 13.9.2007, http://www. dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-481455/Shes-spent-226k-plasticsurgery-I-Hollywood-says-Demi.html (Zugriff 20.8.2009). Pittelkau, Mark: „Brigitte Nielsen. BILD-Reporter darf ihren neuen Körper fühlen“, bild.de, 6.8.2009, http://www.bild.de/BILD/unterhaltung/leute/ 2008/08/09/brigitte-nielsen/laesst-bild-reporter-ihren-neuen-k_C3_B6rper -f_C3_BChlen.html (Zugriff 20.8.2009). Ronge, Birgitta: „Ab 40 zu alt für Hollywood“, in: Rheinische Post, 28.11. 2006, S. B8. Roschy, Birgit: „Sharon, Meg und die anderen. Kaum noch Rollen: Frauen über 40 im Hollywoodfilm“, in: epd Film 2004, H. 9, S. 8-9. Seier, Andrea/Hanna Surma: „Schnitt-Stellen. Mediale Subjektivierungsprozesse in ‚The Swan‘“, in: Villa (Hg.), Schön normal (2008), S. 173-198. Seitz, Josef: „‚Aus alt mach neu – Brigitte Nielsen‘. Fernsehen vollfett“, FOCUS ONLINE, 7.7.2008, http://www.focus.de/kultur/kino_tv/focus-fern sehclub/aus-alt-mach-neu-brigitte-nielsen-fernsehen-vollfett_aid_ 315979. html (Zugriff 22.6.2009). Silverman, Kaja: „Dem Blickregime begegnen“, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: ID 1997, S. 41-64. Sontag, Susan: „The Double Standard of Aging“, in: Lawrence R. Allman/ Dennis T. Jaffe (Hg.): Readings in Adult Psychology, New York: Harper & Row 1977, S. 285–294. (orig. 1972) „Study of 50,000 Female Online Daters Reveals the Demi Moore Effect“, http://www.prnewswire.com/cgi-bin/stories.pl?ACCT=104&STORY=/ www/story/04-30-2007/0004576382&EDATE (Zugriff 10.5.2009). Villa, Paula-Irene (Hg.): Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld: transcript 2008. Wilde, Oscar: Das Bildnis des Dorian Gray. Übers. u. Anm. von Ingrid Rein. Nachw. von Ulrich Horstmann, Stuttgart: Reclam 1992. (orig.: The Picture of Dorian Gray, 1890)

Ab b i l d u n g e n Abb. 1: Lucretia Munro, Mail Online vom 13.9.2007, http://www.dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-481455/Shes-spent-226kplastic-surgery-I-Hollywood-says-Demi.html (Zugriff 20.8.2009) Abb. 2: „Die 2. OP: Facelifting!“ von Aus alt mach neu, Screenshot aus der Folge gesendet am 13.7.2008 auf RTL

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Al te Liebe rostet nicht. Al ters sex ua lität in der Ratgeberliteratur de r 19 80er und 1990e r Ja hre ANNIKA WELLMANN „Eine faszinierende Wechselbeziehung: Befriedigende Sexualität verleiht uns mehr Vitalität auch in späteren Jahren, ist also Anti-Aging pur. Umgekehrt sorgen weitere Anti-Aging-Maßnahmen dafür, dass auch ältere Semester leichter zu einem erfüllten Liebesleben finden.“

So preist der 2004 erschienene Ratgeber Anti-Aging. Die Kraft der Sexualität seinen Inhalt an. Einem ganzheitlichen Ansatz folgend, verspricht er Auskunft rund um das Sexleben, das durch richtige Ernährung, Schönheitspflege und „Bewegung nach Maß und Wellness für Gehirn und Geist!“ optimiert werden könne.1 Ratgeber wie dieser drängen seit der Jahrtausendwende auf den Sachbuchmarkt. Sie halten ihre Leserschaft dazu an, durch gezielte Praktiken den individuellen Alterungsprozess zu verlangsamen. Als zentral erscheint dabei der Sex, der als vielfältige Investition in den Körper dargestellt wird. Die Aufwertung des Sexes im Anti-Aging-Diskurs ist indes nicht neu. Bereits in der Sexratgeberliteratur der 1980er und 1990er Jahre wurde Alterssex als eine ebenso optimierbare wie optimierende Technik zur Tüchtigerhaltung von Körper und Geist beschrieben. Mein Beitrag lotet die Genese und Normierung des Alterssexes in der Sexratgeberliteratur der 1980er und 1990er Jahre aus.2 Zunächst werde ich darstellen, auf welche Weise das Thema Alter in das Genre Einzug hielt, um dann auf die zentralen Elemente des ratgeber1 2

Michael Klentze: Anti-Aging. Die Kraft der Sexualität, München: SüdwestVerlag 2004, S. 4, 6. Für Anmerkungen und Kritik danke ich Carsten Stühring und Torsten Wöllmann. 89

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medialen Alterssexdiskurses einzugehen. Dabei werde ich zeigen, wie betagte Menschen als eigenständige Gruppe konstruiert wurden und welche Rolle dabei die Geschlechterdifferenz spielte; wie das Alter durch die Rede von Mangel und Zugewinn als konkret bestimmbares und annehmbares Identitätsmerkmal konstituiert wurde; und wie Alterssex als optimierbare und zugleich optimierende Körpertechnologie installiert wurde. Abschließend werde ich Überlegungen zur historischen Verortung dieses Diskurses anstellen.

M e d i a l i s i e r u n g v o n Al t e r s s e x u a l i t ä t in der Ratgeberliteratur Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erschienen seit Ende der 1970er Jahre zahlreiche Sexratgeber, die zuvor in den USA erfolgreich gewesen waren und nun in deutscher Übersetzung verlegt wurden. Sie popularisierten sexualtherapeutisches Wissen und gaben praktische Ratschläge zur Optimierung des Sexes, der als Sphäre der Vergnügens und der Selbstentfaltung konstruiert wurde. Die Ratgeber lenkten die Aufmerksamkeit auf den Körper und die sexuellen Techniken. Es galt, die Praktiken auszuweiten und verschiedene Körperpartien in die Akte einzubeziehen, um einen befriedigenden Sex zu erreichen. Die Beziehungsformen der ausschließlich heterosexuell imaginierten Paare wurden dabei nicht bewertet. Als maßgeblich galt lediglich, dass der Sex in gegenseitigem Einvernehmen und Respekt praktiziert wurde.3 Alterssex war in diesen Sexratgebern randständig. Die Sexualtherapeutin Lonnie G. Barbach etwa behandelte ihn in ihrem an Frauen adressierten Buch For Yourself im Kapitel „Sex und Schwangerschaft, Klimakterium und Altern“.4 Der Sex älterer Frauen erschien hier als dem Reproduktionsbereich zugeordnet. Sowohl der Bestseller Joy of Sex als auch der auf männliche Sexualität abstellende Ratgeber Happy Sex für Ihn rubrizierten Alterssex unter dem Schlagwort „Probleme“.5 Alter wurde also in Bezug auf Sex von vornherein als problematischer Faktor und nicht als eigenständiges Beratungsfeld dargestellt. Auf Alterssex spezialisierte Ratgeber kamen erst in den 1990er Jahren auf den Markt. Sie legten den Schwerpunkt auf körperliche Veränderungen, altersbedingte Probleme und Krankheiten. Die AutorInnen gaben praktische 3 4 5

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Vgl. Steven Seidman: Romantic longings. Love in America, 1830-1980, New York, London: Routledge 1991, S. 126-133. Vgl. Lonnie Garfield Barbach: For Yourself. Die Erfüllung weiblicher Sexualität, Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein 1988, S. 185-193. Vgl. Alex Comfort: Joy of Sex. Freude am Sex, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1981, S. 215f.; Maurice Yaffé/Elizabeth Fenwick: Happy Sex für Ihn. Das Handbuch der Liebe und der Liebestechniken für den Mann, München: Wilhelm Heyne Verlag 1991, S. 58f.

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Ratschläge, wie mit diesen Schwierigkeiten umzugehen sei. Ähnlich verfuhr auch die Kolumnistin Marta Emmenegger, die 1980 bis 1995 in der schweizerischen Boulevardzeitung Blick die Ratgeberspalte Liebe Marta publizierte.6 Sie schrieb dort zwar über ein breites Spektrum sexueller und Beziehungsprobleme, doch thematisierte sie den Sex älterer Menschen von Beginn an regelmäßig.7 Die schweizerische Kolumnistin agierte damit gewissermaßen als Pionierin in der Sichtbarmachung von Alterssex. Die RatgeberInnen verfolgten verschiedene Strategien, um Alterssex als Beratungsgegenstand zu legitimieren. Sie stellten etwa Bezüge zu sozial anerkanntem Wissen her, indem sie auf ihre eigene medizinische oder therapeutische Qualifikation verwiesen oder den Wert ihrer Publikation im Vorwort von Ärzten beglaubigen ließen. Auch in der Rubrik Liebe Marta, deren Kolumnistin nicht über eine einschlägige akademische Ausbildung verfügte, wurde immer wieder in ratgebertypischer Weise auf wissenschaftliches Wissen verwiesen.8 Diese Bezüge auf akkreditierte Autoritäten konnotierten den Alterssex mit sozial gültigem Wissen. Zur Legitimierung ihrer Rede über Alterssexualität gaben die RatgeberInnen zudem stets an, sich für einen neuen Umgang mit dem Thema einzusetzen. Bisher seien älteren Menschen sexuelle Bedürfnisse abgesprochen worden, doch habe, wie etwa die GerontologInnen Robert N. Butler und Myrna I. Lewis schrieben, die „klinische und wissenschaftliche Arbeit“ gezeigt, dass ältere Menschen durchaus entsprechende Wünsche hätten.9 Die AutorInnen reproduzierten damit gleich zu Beginn ihrer Publikationen auf spezifische Weise den Diskurs über die moderne Unterdrückung des Sexes. Indem sie selbst das Schweigen über den Sex Älterer ostentativ brachen, umgaben sie sich mit einem „Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter eines anderen Gesetzes“.10

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Siehe dazu auch Annika Wellmann: Wie der Sex in die Zeitung kam. Mediale Ratgeberkommunikation in der Schweiz 1980-1995, Dissertation der Universität Zürich, Zürich 2009. 7 Nach ihrer Pensionierung 1996 widmete sich Emmenegger sogar intensiv dem Thema Alter, indem sie etwa eine von Krankenkassen subventionierte Vortragsreihe über Alterssex durchführte und sich in der kommunalen Alterspolitik engagierte. Vgl. Christian Rentsch: „Maschinchen und Tröpfchen gegen Frust mit der Lust. Die Sexberaterin Marta Emmenegger sprach in Zürich über Sex nach 50“, in: SonntagsZeitung vom 16.6.1996, S. 13; Fritz P. Schaller: „Die Chnuschtis sterben aus“, in: Schweizer Familie vom 15.10.1998, S. 16; Claudia Banz: „Alt und trotzdem noch aktiv“, in: Tages-Anzeiger vom 29.9.1998. 8 Zum ratgebermedialen Engagement wissenschaftlichen Wissens siehe Stefanie Duttweiler: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz: UVK 2007, S. 128-135. 9 Robert N. Butler/Myrna I. Lewis: Alte Liebe rostet nicht. Über den Umgang mit Sexualität im Alter, Bern, Göttingen,Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber 1996, S. 10. 10 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 14. 91

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Damit schufen sich die AutorInnen der neuen Ratgeber zugleich eine Position, von der aus sie legitimiert waren, den Alterssex zu normieren. Trotz des revolutionär anmutenden Gestus waren die Darstellungen des Sexuellen in den Alterssexratgebern beschränkter als in anderen Sexratgebern. Das betrifft vor allem die Bildstrategien. In der Regel waren Sexratgeber illustriert. Alex Comforts Joy of Sex warb sogar auf dem Cover mit dem Hinweis, dass es „vierundachtzig Illustrationen“ beinhalte.11 Dabei handelte es sich um Zeichnungen von Stellungen und Genitalien. Die Bebilderungspraxis zielte sowohl auf Veranschaulichung als auch auf Erotisierung des Dargestellten. Alterssexratgeber hingegen verzichteten in der Regel auf Illustrationen. Nur eines der von mir untersuchten Bücher war reich an Fotos eines älteren heterosexuellen Paares. Wurde dieses nackt abgebildet, war allerdings stets nur ein Teil der Körper zu sehen. Wurden aber etwa bei der Illustration von Stellungen die gesamten Körper präsentiert, dann waren die abgebildeten Personen bekleidet.12 Die Körper älterer Menschen wurden folglich in Sexratgebern zwar besprochen, aber eingeschränkt oder gar nicht visualisiert.

Z e n t r a l e E l e m e n t e d e s Al t e r s s e x d i s k u r s e s Die Ratgeber produzierten Wissen über Alterssex, das diesen als eine sozial strukturierte und ebenso problemanfällige wie wünschenswerte Körperpraktik erscheinen ließ. Die AutorInnen erörterten Schwierigkeiten und gaben Tipps, wie sie zu lösen und der Sex zu verbessern sei. Dabei griffen sie überkommene Deutungsmuster auf, reproduzierten Normen und führten etablierte Zuschreibungen fort, die ratgeberspezifisch arrangiert wurden. Durch wiederkehrende Denkfiguren und Argumentationsmuster erhielt die Alterssexualität Konturen, die sie identifizierbar machten.

Differenz: Geschlecht und Alter Alterssexualität wurde unter dem Vorzeichen der Differenz verhandelt. Zentral war dabei die Geschlechterdifferenz, die ein grundlegendes Strukturprinzip des Alterssexdiskurses darstellte. So adressierten einige Ratgeber ausschließlich Männer. Sie erörterten Probleme rund um den Sexualkörper, die eindeutig als männerspezifisch klassifiziert werden konnten. Dazu zählten et-

11 A. Comfort: Joy of Sex, Umschlag. 12 Vgl. Wolfgang Rost/Angelika Schulz: Zärtlichkeit und Sexualität. Lustvolles Genießen und erfüllte Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte, München: Südwest Verlag 1993. 92

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wa Potenzprobleme und Prostataerkrankungen.13 Ratgeber, die sich nur mit der Sexualität älterer Frauen auseinandersetzen, wurden meines Wissens nicht veröffentlicht. Doch auch jene Publikationen, die sich sowohl an Männer als auch an Frauen richteten, prägten eine Geschlechterdifferenz, denn sie unterschieden stets zwischen Problemen von Frauen und Männern und enthielten entsprechend separate Kapitel. Dabei transportierten sie Geschlechterstereotype. So schrieben etwa Wolfgang Cyran und Max Halhuber einerseits über „Die sexuelle Reaktionsfähigkeit der älteren Frau“ und andererseits über „Die sexuellen Möglichkeiten des älteren Mannes“14 und reproduzierten auf diese Weise die klassische „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“, wonach Frauen passiv und Männer aktiv sind.15 Diese Polarisierung schrieb auch die Kolumnistin Marta Emmenegger fort, als sie das Problem der Impotenz geschlechtsspezifisch erklärte: „Für die meisten Männer ist Potenz gleich Leben. Nichts schlägt ihnen so aufs Gemüt, als wenn’s eines Tages nicht mehr geht. Frauen können das schlecht nachempfinden. Ob erregt oder nicht, für sie ist Liebe machen kein Problem. Einlassen kann man immer (notfalls mit Gleithilfe), eindringen setzt voraus, dass der Mann voll da ist.“16

Mit dem Gegensatz von aktivem „Eindringen“ und passivem „Einlassen“ legte Emmenegger den altersspezifischen Sexualproblemen die Geschlechterdifferenz zugrunde. Mit dem Hinweis auf Gleitcreme, die das passive Einlassen ermöglichen und das aktive Eindringen erleichtern sollte, leistete sie sogar der Aufrechterhaltung dieser Differenz Vorschub. Zudem wird hier deutlich, dass der als aktiv gedachte Männerkörper im Alter zum Problem wurde, während der weibliche Köper aufgrund der ihm zugeschriebenen zeitlos möglichen Passivität als weniger problembehaftet erschien. 13 Edwin Flatto: Aktiv l(i)eben in jedem Alter. Lebenslang sexuelle Spannkraft, Ritterhude: Waldthausen 1994; Elizabeth D. McCarter/Robert W. McCarter: Die Sexualität des Mannes. Potent bis ins hohe Alter, Ritterhude: Waldthausen 1995. 14 Wolfgang Cyran/Max Halhuber: Erotik und Sexualität im Alter, Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer Verlag 1992, S. 41, 49. 15 Vgl. Karin Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Klett 1976, S. 363-393. 16 „Liebe Marta“, in: Blick vom 9.10.1984, DNr. 12444. Marta Emmeneggers Kolumnen und Korrespondenzen wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes an den Universitäten Zürich und Basel archiviert. Siehe dazu Peter-Paul Bänziger: „Liebe Marta. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im ‚Blick‘ (1980–1995) und in aktuellen Internetforen“, in: Zeitenblicke 7 (2008), Nr. 3, http://www.zeitenblicke.de/2008/3/baenziger (Zugriff am 24.06.2009). 93

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Ebenso ausgeprägt wie die Geschlechterdifferenz war die Altersdifferenz. Diese wird sowohl historisch als auch auf verschiedenen sozialen Feldern unterschiedlich markiert. So wurde der Beginn des Alters seit der Einführung von Rentensystemen landläufig mit dem Eintritt ins Rentenalter gleichgesetzt; es begann demnach zwischen 60 und 65 Jahren.17 Ob ein Mensch alt sei, wurde mithin anhand seines jahresmäßigen Alters und des damit verbundenen Sozialstatus bestimmt. Auch in der Sexratgeberliteratur bildete der Rückzug aus der Erwerbsarbeit mitunter einen Referenzpunkt zur Abgrenzung des Alters – jedoch nur in Bezug auf Männer. So konstatierten etwa Cyran und Halhuber, man bekomme als Mann „durch das Ende der beruflichen Tätigkeit“ und „als Frau durch das Aufhören der Menstruation und dadurch, dass die Kinder das Haus verlassen“, „zu spüren, daß jetzt ein neuer Lebensabschnitt beginnt“18. Hier wurde der Beginn des Alters von Männern in überkommener Weise über den Renteneintritt, der von Frauen über das Ende der Reproduktionstätigkeit festgelegt. Vorwiegend wurde das Alter in der Sexratgeberliteratur aber, und zwar für Frauen und Männer gleichermaßen, über die Sexualorgane und die sexuellen Empfindungen definiert. Der Sex jener, deren Alter an Jahren geringer war, wurde dabei als Vergleichsgröße herangezogen. So schrieb Emmenegger, ohne dabei nach Geschlecht zu differenzieren: „Mit den Jährchen schlägt das Zuckerpapier überall ein bisschen ab. Man wird ‚zahmer‘ und erlebt nichts mehr so intensiv wie mit 20 […].“19 Ob man alt sei, wurde also vom Empfinden abhängig gemacht. Dabei wurde das Empfinden Älterer nicht radikal von dem Jüngerer getrennt, sondern vielmehr dazu in Relation gesetzt. Die über den Geschlechtskörper etablierte Grenze zwischen jung und alt war damit weniger scharf als jene, die der Renteneintritt konstituierte. Alter wurde zudem nicht wie bei landläufigen Zuschreibungen von sozialen Veränderungen, sondern von Selbstbeobachtungen abhängig gemacht. Allerdings wurde die persönliche Definitionsmacht eingeschränkt, indem das Klimakterium als definitive Wendephase gesetzt wurde. So definierten Butler und Lewis die Wechseljahre als „physiologische[n] Prozeß, der sich über mehrere Jahre erstreckt und irgendwann zwischen dem fünfundvierzigsten und dem fünfundfünfzigsten Lebensjahr einsetzt“20. Damit folgten sie wie auch andere RatgeberInnen einer Standarddefinition, die 1976 auf dem ersten internationalen Kongress zur Menopause ausgearbeitet worden war. Demnach charakterisiere die Menopause den Übergang von der Repro17 Vgl. Pat Thane: „Grenzen und Perspektiven. Das 20. Jahrhundert“, in: dies. (Hg.), Das Alter. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 263-300, hier S. 267f. 18 W. Cyran/M. Halhuber: Erotik und Sexualität im Alter, S. 19. 19 „Liebe Marta“, in: Blick vom 29.11.1991, DNr. 14030. 20 R.N. Butler/M.I. Lewis: Alte Liebe rostet nicht, S. 21. 94

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duktionsfähigkeit zur Reproduktionsunfähigkeit.21 Die Unmöglichkeit der Empfängnis markierte folglich das Alter der Frau. Wie Hans-Georg Hofer gezeigt hat, war zwar auch das Climacterium virile im frühen 20. Jahrhundert Gegenstand naturwissenschaftlich-medizinischer Forschung gewesen, doch wurde der Fokus dort bald auf das Klimakterium von Frauen verengt.22 Emmenegger bezog aber Männer in das Konzept des Übergangs ein, indem sie zeigte, dass sie zeitgleich mit den Frauen von einschneidenden Veränderungen betroffen seien: „[D]ie Wechseljahre [fallen] in eine Phase, in der auch der Mann gewöhnlich gegen erste Altersängste zu kämpfen hat. Und um seine Potenz!“23 So würden sich die Transformationen zwar mit geschlechtlichen Vorzeichen, aber bei Frauen und Männern annähernd gleichzeitig vollziehen. Ähnliche Parallelisierungen vollzogen auch andere Ratgeber. Damit wurde die Geschlechterdifferenz leicht eingeebnet. Die Transformationen zum Alter hatten ihren gemeinsamen Bezugspunkt in der Fortpflanzungsunfähigkeit, entlang derer folglich eine markante Grenze verlief. Die Möglichkeit oder der Wunsch, in fortgeschrittenem Alter Kinder zu bekommen, wurde in den Sexratgebern nicht erörtert. Das entspricht zwar dem Bemühen der AutorInnen, die Lust von der Fortpflanzungspflicht zu entkoppeln. Dennoch kam dabei ein Ausschluss zum Tragen. So beruhigte Emmenegger eine 53jährige Ratsuchende, die befürchtete, schwanger zu werden, dass eine Schwangerschaft in ihrem Alter eine „monströse Möglichkeit“ sei.24 Sie wurde auch nicht müde zu erwähnen, dass bei älteren Frauen Schwangerschaften abgebrochen würden. Entlang der Reproduktionsfähigkeit, die Frauen ab einem individuell bestimmten Alter kategorisch abgesprochen wurde, wurden also zwei eigenständige Altersgruppen konstituiert: Den jungen Frauen und Männern standen nun deren gealterte Geschlechtsgenossinnen und -genossen gegenüber.

Produktive Zuschreibungen: Mangel und Zugewinn Altsein wurde als konkret bestimmbares und annehmbares Identitätsmerkmal konstruiert. Dabei lassen sich Zuschreibungen an Körper und Beziehungen aufzeigen, die diese auf bestimmte Art denken ließen. Schrieben die AutorIn21 Vgl. Anne Fausto-Sterling: Myths of Gender. Biological Theories about Women and Men, New York: Basic Books 1992, S. 113f. 22 Erst in den 1990er Jahren setzten erneut Debatten um die „Wechseljahre“ von Männern ein. Vgl. Hans-Georg Hofer: „Climacterium virile, Andropause, PADAM. Zur Geschichte der Wechseljahre im 20. Jahrhundert“, in: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800ca. 2000, Stuttgart: Steiner 2007, S. 123-138. 23 „Liebe Marta“, in: Blick vom 22.4.1988, DNr. 7888. 24 „Liebe Marta“, in: Blick vom 11.4.1983, DNr. 11388. 95

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nen über Körper, dann nahmen sie insbesondere die Sexualorgane und -empfindungen in den Blick. Veränderungen der Schleimhaut, der Hormonproduktion, der sexuellen Erregbarkeit – auf verschiedenen Ebenen sei das Alter erkennbar. Am Körper manifestierten sich entsprechende verräterische Zeichen, und die RatgeberInnen zeigten, wie sie zu lesen seien. Dabei verwendeten sie Metaphern des Mangels und der Auflösung. So war über die Sexualorgane betagter Frauen zu lesen: „Die Scheidenwände, in jungen Jahren gerunzelt, dick und rötlich purpurn, werden schließlich papierdünn, glatt und blaß rosa bis durchsichtig.“25 Diese Entwicklung wurde auch als „Schrumpfung der Scheidenhaut“26 beschrieben. Solche Darstellungen sind nur in Bezug auf Frauenkörper zu finden, für Männerkörper wurde kein organisch manifester Schwund konstatiert. Lediglich der gealterte Frauenkörper schien augenfällig im Vergehen begriffen. Die Ratgeber produzierten zudem Bilder abnehmender Vitalität, die sie sowohl Frauen als auch Männern zuschrieben. So seien im sexuellen Erleben beide Geschlechter von Einbußen betroffen. Bei Frauen sei, den PsychologInnen Wolfgang Rost und Angelika Schulz zufolge, der Orgasmus „weniger vehement, die Kontraktionen sind sanfter und ihre Zahl nimmt ab“27. Analog dazu sei er bei Männern „weniger kraftvoll“28. Eine paradigmatische Metaphorik war die des Feuchtigkeitsmangels. So meinte Emmenegger, „dass die Säfte nicht mehr so reichlich sprudeln“29. Entsprechend hätten Männer einen „dünnen Erguss“, „statt zu spritzen, sickert die Samenflüssigkeit oftmals heraus“30. Frauen hingegen verfügten über eine „zu trockene Vagina“31. Der Feuchtigkeitsmangel treffe also Frauen wie Männer gleichermaßen. Folglich war eine Kolumne der Lieben Marta betitelt: „35 Jahre klappte unser Sexleben – jetzt kommt plötzlich die Dürrezeit!“32 Diese negativen Effekte des Alterns wendeten die RatgeberInnen ins Positive. Sie zeigten zum einen auf, dass mit der Reproduktionsunfähigkeit ein Zugewinn an sexueller Lust einsetzen könne. Dies illustrierten Butler und Lewis durch die Fallgeschichte einer Klientin, die seit der Menopause ein

25 Bruno Herr: Liebe bis in den späten Herbst. Partnerschaft und Sexualität im Alter, Steyr: Ennsthaler 1996, S. 50f. 26 Hans-Joachim von Schumann: Liebe und Sexualität in der zweiten Lebenshälfte. Problemlösungen und Behandlungen, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 1990, S. 44. 27 W. Rost/A. Schulz: Zärtlichkeit und Sexualität, S. 37. 28 Ebd., S. 36. 29 „Liebe Marta“, in: Blick vom 17.9.1992, DNr. 14188. 30 „Liebe Marta“, in: Blick vom 3.5.1988, DNr. 6854; „Liebe Marta“, in: Blick vom 17.9.1992, DNr. 14188; W. Rost/A. Schulz: Zärtlichkeit und Sexualität, S. 36. 31 R.N. Butler/M.I. Lewis: Alte Liebe rostet nicht, S. 24. 32 „Liebe Marta“, in: Blick vom 30.5.1986, DNr. 3750. 96

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„Gefühl der Befreiung“ spürte, da sie sich nun nicht mehr um die Schwangerschaftsverhütung sorgen brauchte.33 Zum anderen wurden den Darstellungen körperlichen Mangels stets Bilder emotionalen Wachstums gegenübergestellt. So leitete Emmenegger aus den körperlichen Einbußen einen sozialen und emotionalen Zugewinn ab. Sie prophezeite „Alois“, der über „altersbedingte Schwierigkeiten infolge Härte- und Säftemangel“ und seine Abneigung gegen Gleitcreme klagte: „[…] Du wirst bald erkennen, dass nicht das Hantieren mit der Gleitcreme Dich stört, sondern die Tatsache, dass es sie auf einmal braucht […]. Natürlich, so kommt man nicht mehr so schnell zur Sache – dafür zu mehr intimer, zärtlicher Zweisamkeit.“34 Ähnlich resümierte auch Barbach in ihrem 1977 auf Deutsch erschienen Ratgeber über die Erfüllung weiblicher Sexualität: „Es scheint durchaus ein langsames, entspanntes Genießen des Sex einer der Vorteile des Älterwerdens zu sein.“35 Alterssexualität sei also eine spezifische sinnliche Erfahrung, die das Leben bereichere. Mit solchen Aussagen schrieben sich die RatgeberInnen in eine Neubewertung des Alters ein, die Margaret Lock zeitgleich auch im medizinischen Diskurs nachgewiesen hat: Das Alter wurde nun verstärkt als Wachstumsphase angesehen.36 In Bezug auf Sex bedeutete dies vor allem sinnlichen Zugewinn. Dieser wurde auf die Lebenserfahrung und Muße betagter Menschen zurückgeführt. Butler und Lewis machten dabei eine „zweite Sprache der Sexualität“ aus, die sich mit zunehmendem Alter in voller Qualität einstelle. In einem entsprechenden Kapitel versuchten sie, die Vorteile des solchermaßen als eigenständige Entwicklungsphase der Sexualität konstruierten Alterssexes zu systematisieren. Sie hoben hervor, dass Alterssexualität „kreativ und voller Phantasie“ sei und „unzählige Möglichkeiten neuer emotionaler Erfahrungen“ berge, dass ältere Menschen eine „besonders große Chance“ hätten, „ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der Liebe und Sexualität weiterzuentwickeln, weil sie einen reichen Erfahrungsschatz besitzen“, dass die „Konzentration auf das Einfache und Wesentliche“ nun „leichter möglich“ sei und bejahrte Menschen schlichtweg „Zeit für die Liebe“ hätten.37 Das Alter wurde damit als viel versprechender Lebensabschnitt gedeutet. In den Ratgebern wurde also eine Unterscheidung zwischen der körperlichen und der Beziehungsebene des Alterssexes getroffen. Die Verkopplung von Mangelmetaphorik und der Rede vom Zugewinn hatte dabei einen starken Effekt: Die Mängel machten das Alter bestimmbar; es wurde zu einem 33 34 35 36

Vgl. R.N. Butler/M.I. Lewis: Alte Liebe rostet nicht, S. 22f. „Liebe Marta“, in: Blick vom 30.5.1986, DNr. 3750. L.G. Barbach: For Yourself, S. 192. Vgl. Margaret Lock: „Models and Practice in Medicine. Menopause as Syndrome or Life Transition“, in: Culture, Medicine and Psychiatry 6 (1982) Nr. 3, S. 261-280, hier S. 261. 37 R.N. Butler/M.I. Lewis: Alte Liebe rostet nicht, S. 219, 221, 222. 97

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körperlich manifesten Identitätsmerkmal. Durch die Betonung des emotionalen und sozialen Zuwachses durch praktizierte Sexualität im Alter aber wurde dieses Identitätsmerkmal zugleich um positive Aspekte angereichert und auf diese Weise akzeptabel gemacht.

Optimierung: Körpertechnik Alterssex Die Ratgeber zeigten verschiedene Probleme auf, die mit dem Alter einhergingen, und hielten entsprechende Lösungsangebote bereit. Anlässlich der Klage des 59-jährigen „Bernhard“, dessen „Kräfte“ bedenklich nachließen, so dass er „den Koitus nicht mehr durchstehen“ könne, bemerkte Emmenegger: „Dies kann organische Gründe haben; ein Urologe müsste das abklären. Meist ist es aber eine versteckte Angst – ‚gehöre ich etwa schon zum alten Eisen?‘. Dieses Schreckgespenst lähmt manchen Mann vorzeitig. Lass es nicht aufkommen. Du bist nicht mehr 20 – aber mit 60 läuft auch alleweil was! Sich anpassen, nichts Unmögliches wollen, die Fantasie ausbauen, dankbar pflegen, was noch drinliegt: So bleibt ihr glücklich.“38

Wie hier forderten die RatgeberInnen ihre Leserschaft stets auf, ihre Probleme medizinisch oder psychologisch geschulten Fachpersonen anzuvertrauen. Vor allem aber galt es, sie gemeinsam mit Partnerin oder Partner zu beheben. Die RatgeberInnen hielten dazu an, durch Arbeit am Körper den Sex zu verbessern. Die entsprechenden Handlungen sind als Körpertechniken aufzufassen. Nach Marcel Mauss sind dies historisch veränderliche, auf ein Ziel gerichtete Praktiken, deren Zweck es ist, „den Körper seinem Gebrauch anzupassen“39. Als Medien, die primär Handlungsanleitungen zur Bearbeitung des Sexualkörpers zirkulieren ließen, standen die Sexratgeber im Zentrum einer historisch kontingenten Kultur der Körpertechniken. Die von ihnen propagierten Techniken mit dem Ziel des guten Sexes setzten vor allem am Sexualkörper an, den sie ebenso als Instrument wie als Objekt der Zurichtung ansprachen. Dabei lässt sich eine Verschiebung in Richtung der Akzentuierung von Körpertechniken beobachten, die eindeutig im Bereich sexueller Techniken zu verorten waren: Lag der Fokus in der oben zitierten Kolumne von 1982 noch auf der Anpassung der Lust an den Körper, so wurde er in den folgenden Jahren zunehmend auf die Optimierung des Sexes durch Ausweitung des Repertoires sexueller Praktiken gelenkt. Desgleichen beschränkten sich die 38 „Liebe Marta“, in: Blick vom 25.1.1982, DNr. 11168. 39 Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. II: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person, München, Wien: Hanser 1975, S. 199-220, hier S. 219. 98

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Alterssex-RatgeberInnen nicht mehr auf die Feststellung, dass für ein erfülltes Sexualleben ein gewisser Gesundheitszustand, Gemeinschaftssinn und geeignete Wohnverhältnisse gegeben, die Körper gepflegt sein und mitunter auch psychotherapeutische oder Hormonbehandlungen erfolgen müssten.40 Ab Mitte der 1990er Jahre hielten sie ihre Leserschaft auch dazu an, den Sex an ungewohnten Orten zu praktizieren, dabei verschiedene Körperzonen und Sinne einzubeziehen sowie neue Positionen und Hilfsmittel auszuprobieren.41 Solche Ratschläge waren bereits in der Sexratgeberliteratur der 1970er Jahre geläufig; es galt den Sex durch seine Diversifizierung zu optimieren. Dadurch, dass nun auch Ältere explizit dazu angehalten wurden, wurde ihr Sex inkludiert und normalisiert. Zugleich wurde Alterssex erheblich aufgewertet, indem er als vielfältige Investition in den Körper und die Beziehung dargestellt wurde. Den Ratschlägen lag ein impliziter Imperativ zugrunde: Habe Sex, dann bleibst Du jung. Das Gebot war mit dem Versprechen verbunden, trotz des Alterungsprozesses an Möglichkeiten der persönlichen Lebensgestaltung nicht einzubüßen. Dieses Versprechen, das sich auch in aktuellen Anti-Aging-Konzepten findet, richtete sich zum einen auf den Körper. Sex wird dabei zu einer ganzheitlichen Gesundheitspraktik erhoben. Dementsprechend schrieb Emmenegger schon 1982: „[R]egelmässiger Sex ist […] ausgesprochen gesund: Er gewährleistet die Durchblutung des Gewebes und trägt so zur Fitness bei.“42 Die Kolumnistin konnte sich dabei auch auf die Erfahrungen und Eigeninterpretationen Ratsuchender berufen. So meinte die 51-jährige „Martina“ über sich und ihren 55jährigen Mann: „Sicher sehen wir auch noch so jung aus, weil wir sexuell aktiv sind.“43 Mit dem Sex, so die Grundtenor, könne der Alterungsprozess verlangsamt werden. Dies galt nicht nur für die körperliche, sondern auch für die psychische Ebene. So bemerkte Emmenegger: „Guter Sex in friedlicher Übereinstimmung stimuliert nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Ein Paar, das sich noch zärtlich zugetan ist, altert heiterer als eines, das nur noch miteinander postet44 und fernsieht.“45 Die Ratgeber zielten auf die Verlangsamung und Optimierung des Alterungsprozesses. Durch die Körpertechnologie Sex sollte zunehmend das gesamte persönliche Potential aktiviert werden. So war in einem Ratgeber von 1992 zu lesen: „Wer Aufgaben jeglicher Art, darunter die Aufnahme und Pflege von Freundschaften und Liebesbeziehungen, meistert, übt seine geisti40 Vgl. H.J. von Schumann: Liebe und Sexualität in der zweiten Lebenshälfte, S. 81-93; W. Cyran/M. Halhuber: Erotik und Sexualität im Alter, S. 62-73. 41 Vgl. W. Rost/A. Schulz: Zärtlichkeit und Sexualität, S. 74-93. 42 „Liebe Marta“, in: Blick vom 22.10.1982, DNr. 11006. 43 Ebd. 44 Mundartlich für „einkaufen“. 45 „Liebe Marta“, in: Blick vom 22.10.1982, DNr. 11006. 99

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gen und sozialen Funktionen, gewinnt an Selbstvertrauen und wird dadurch auch an andere Aufgaben mit Aussicht auf Erfolg herangehen.“46 Alterssex erschien hier als Teil eines Praktikengeflechts zur Aufrechterhaltung und Steigerung des persönlichen Potentials. Er galt und gilt als eine stimulierende Technik, die dazu beiträgt, ein Fundament für eine selbstbestimmte Lebensführung zu schaffen. Damit schufen die AutorInnen der Sexratgeber einen zentralen Anreiz, dem Plädoyer für Alterssex zu folgen und sich auch den damit verbundenen Normen zu unterwerfen. Mit dem Sex ging das Versprechen einher, einem einsamen und von Krankheit gekennzeichneten Alterungsprozess zu entgehen. Zudem waren die vorgeschlagenen Praktiken keineswegs fad, sondern äußerst reizvoll, denn für den Sex – mehr noch als für andere am Körper durchgeführte Exerzitien – gilt: „Körperarbeit, Steigerung des eigenen Vermögens und Stimulation der Lebenslust sind auch lusterzeugender Selbstzweck, Akte des Genusses und des Konsums.“47 Die Sexratgeber trugen somit dazu bei, den Alterssex als begehrenswerte Körpertechnik zu fixieren. Zugleich leiteten sie eine sehr fundamentale Praktik der Selbstsorge an, denn als Körpertechnologie zielte der Sex auf den individuellen Erhalt sozialer Nahbeziehungen, geistiger Fähigkeiten und physischer Funktionen, die das gefühlte Alter gering und die Individuen fit für den Alltag halten sollten.

Zum historischen Kontext d e s r a t g e b e r m e d i a l e n Al t e r s s e x d i s k u r s e s Die ratgebermediale Diskursivierung des Alterssexes soll nun abschließend historisch verortet und kontextualisiert werden. Das Alter gelangte seit den 1980er Jahren in den Brennpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Im Zuge zunehmender Lebenserwartungen und sinkender Geburtenraten wurden in Wissenschaft und Medien düstere Vorhersagen über die „Überalterung“ der Gesellschaft getroffen. Es hieß, das Renten- und Versorgungssystem breche unter der demographischen Entwicklung zusammen, der Generationenvertrag werde aufgekündigt.48 So wurde eine Bedrohung konstatiert, die von der Großgruppe der älteren Menschen ausgehe. Zugleich barg diese Gruppe aber auch ökonomisches Potential, das sich nicht zuletzt durch den Vertrieb ziel-

46 W. Cyran/M. Halhuber: Erotik und Sexualität im Alter, S. 9. 47 Stefanie Duttweiler: „‚Ein völlig neuer Mensch werden‘. Aktuelle Körpertechniken als Medien der Subjektivierung“, in: Karl Brunner/Andrea Griesebner/ Daniela Hammer-Tugendhat (Hg.), Verkörperte Differenzen, Wien: Turia + Kant 2004, S. 130-146, hier S. 139. 48 Vgl. Ingrid Bauer/Christa Hämmerle: „Editorial“, in: L’Homme 17 (2006), Nr. 1, S. 7-13, hier S. 7f.; P. Thane: Grenzen und Perspektiven, S. 264. 100

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gruppenspezifischer Publikationen abschöpfen ließ. Allerdings wurden ältere Männer und Frauen nicht erst in den 1980er Jahren als Käuferschaft von Ratgeberliteratur entdeckt; bereits in den 1970er Jahren waren Bücher zur Lebensgestaltung und Gesundheitspflege für diesen Adressatenkreis publiziert worden.49 Unterdessen differenzierte sich der Ratgebermarkt weiter aus: Verlage erzeugten zunehmend zu allen denkbaren Themen Publikationen,50 bestrebt, von der Kaufkraft eines heterogenen Publikums zu profitieren. Alterssexualität war eines von vielen Themen in einem von Spezialisierung gekennzeichneten Feld. Folglich ist die ratgebermediale Diskursivierung des Alterssexes auch als Resultat medienökonomischer Ansprüche zu verstehen. Mit der Fokussierung auf mediale Produktionslogiken geraten indes der gesellschaftliche Kontext sowie die Art, in der über Alterssex gesprochen wurde, aus dem Blick. Die Diskursivierung des Alterssexes lässt sich zum einen auf eine gewisse Eigendynamik des Sexualitätsdispositivs51 zurückführen. In der Neuzeit hatten Institutionen und Figuren wie Beichtväter, Sexualmediziner und Therapeuten den Sex durch verschiedene positive Mechanismen hervorgebracht, indem sie die Einzelnen dazu anhielten, über ihren Sex zu sprechen, und zugleich Wissen über ihn speicherten und verbreiteten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellten sich die RatgeberInnen mit ihren Medien dazu.52 Ihre Zugriffe auf den Körper und den Sex waren äußerst produktiv, hielten sie ihre Leserschaft doch dazu an, sich Wissen anzueignen, aktiv zu sein und sich so als sexuelle Subjekte zu konstituieren. Der Sex stand dabei im Zentrum der Lebensmacht, die Foucault zufolge seit dem Beginn der Moderne und zeitgleich mit der Ausweitung der Produktivkräfte „das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“53. Dabei richteten sich Prozeduren auf den individuellen Körper, um ihn zu dressieren, seine Fähigkeiten zu steigern und seine Kräfte auszunutzen. Andere Prozedu49 Vgl. etwa Martha Scharll: Aktiv im Alter durch Gymnastik, Stuttgart: Thieme 1972; Jürgen Reinhard Koch/Marianne Hege: Pensionierung und Ruhestand. Richtig vorbereiten, gestalten, genießen, Freiburg/Br.: Haufe 1973; Lieselott Diem: Aktiv bleiben. Lebenstechnik ab 40, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1974. 50 Vgl. Timo Heimerdinger: „Alltagsanleitungen? Ratgeberliteratur als Quelle für die volkskundliche Forschung“, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), S. 57-71, hier S. 58. 51 M. Foucault: Der Wille zum Wissen. 52 Vgl. Sabine Maasen: Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998; Maria Kastner/Sabine Maasen: „So bekommen Sie Ihr Problem in den Griff. Genealogie der kommunikativen Praxis ‚Sexratgebersendung‘“, in: Reinhard Fiehler/Dieter Metzing (Hg.), Untersuchungen zur Kommunikationsstruktur, Bielefeld: Aisthesis-Verlag 1995, S. 2184. 53 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 132f. 101

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ren fokussierten auf den kollektiven Körper, das Gesundheitsniveau in der Gesellschaft, die Lebensdauer, die Fortpflanzung. Der Sex bildete ein Scharnier zwischen diesen beiden von der Biomacht durchdrungenen Ebenen. In den Aktionsradius dieser Macht, die die „vollständige Durchsetzung des Lebens“54 bezweckte und bis zum späten 20. Jahrhundert offenbar eine enorme Sogkraft entfaltete, gelangte nun der Alterssex. Bei dessen ratgebermedialer Diskursivierung entfiel zwar das Moment der geschlechtlichen Reproduktion,55 nicht aber der grundsätzlichen Steigerung des Lebens im Sinne von Soziabilität, Gesundheit und Lebenslust, forderten die Ratgeber ihre Leserschaft doch auf, die Intimität zu optimieren, die Emotionen zu intensivieren, das Altern zu verlangsamen und die Lebenskräfte zu potenzieren. Zugleich geriet das Alter in den Sog jener tief greifenden soziopolitischen Transformationsprozesse, die in den Gouvernementalitätsstudien als Verschiebung vom Modell der sozialen Versicherung zur Individualisierung gesellschaftlicher Risiken beschrieben werden. Die Verantwortung für soziale Risiken wie Krankheit und Armut wurde demnach zunehmend in den individuellen Bereich verlagert. Folglich wurden nun nicht mehr gesellschaftlichstrukturelle, sondern individuelle Faktoren für die Lösung von persönlichen Problemen als maßgeblich erachtet. Risiken wurden damit zu einem Problem der Selbstsorge. Diese ist nicht zuletzt durch Körpertechniken zu praktizieren, um Risiken vorzubeugen oder aufzufangen.56 Auch hier lässt sich die ratgebermediale Diskursivierung des Alterssexes verorten, denn die entsprechenden Publikationen leiteten eine fundamentale Praktik der Selbstsorge an, die der individuellen Vorbeugung verschiedener Probleme diente. Als Körpertechnologie zielte der Sex nämlich auf den individuellen Erhalt sozialer Nahbeziehungen, geistiger Fähigkeiten und körperlicher Funktionen. Er sollte somit dazu beitragen, dass die Individuen den gesellschaftlichen Risiken, die dem Alter zugeschrieben wurden, selbst vorbeugen. Folglich trugen die Alterssexratgeber zur Individualisierung gesellschaftlicher Risiken bei.

54 Ebd., S. 135. 55 Sex und Reproduktion waren spätestens im Zuge der Einführung oraler Kontrazeptiva seit den 1960er entkoppelt worden. Vermutlich konnte der Alterssex gerade deswegen an Sichtbarkeit und Akzeptanz gewinnen, weil der Sex nun nicht mehr normativ an die Fortpflanzung gebunden war. Vgl. Hera Cook: „Sexuality and contraception in modern England. Doing the history of reproductive sexuality”, in: Journal of Social History (Sommer 2007), S. 915-932; Jeffrey Weeks: The world we have won. The remaking of erotic and intimate life, London, New York: Routledge 2007, S. 70-72. 56 Vgl. etwa Thomas Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 53-58; siehe auch Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. 102

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Die sozialen Bedingungen, in denen ältere Menschen lebten und von denen auch ihr Sex abhing, wurden in der Sexratgeberliteratur jedoch keineswegs ausgeblendet. So argumentierte etwa Emmenegger 1985, dass im Alter geschlossene Beziehungen oftmals scheiterten, weil die angeblich von Frauen favorisierten partnerschaftlichen Beziehungsideale und die patriarchalen Verhaltensweisen, die die Ratgeberin älteren Männern unterstellte, auseinanderklafften.57 Neben den Geschlechterverhältnissen kritisierten andere AutorInnen auch die fremdbestimmte Gestaltung der Lebenswelt älterer Menschen. So wurde etwa darauf hingewiesen, dass in Altenheimen die Privatsphäre betagter Personen nicht gewahrt und sexuelle Kontakte unterbunden würden.58 Das Aufzeigen solcher Probleme war allerdings zweischneidig: Einerseits arbeiteten die RatgeberInnen damit einer Neuordnung der Verhältnisse zu, durch die älteren Menschen beseligender Sex, Fitness und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden sollte. Andererseits stand die angestrebte Beseitigung gesellschaftlich verankerter Missstände in erster Linie wiederum im Zeichen der persönlichen Optimierung und damit der Individualisierung von Risiken. Das Reden über Alterssex war also höchst ambivalent. Einerseits wurde eine Ordnung reproduziert, die eine sozial wirksame Grenze zwischen alten und jungen Körpern zog und dabei die jungen, reproduktionsfähigen Körper bevorzugte. Zudem wurde der Sex älterer Menschen im Sinne einer ökonomischen Logik propagiert, die Individualisierung sozialer Risiken vorangetrieben und folglich der Gedanke der alleinigen Verantwortung für die Prävention von Problemen gestärkt. Andererseits erweiterten die Ratgeber Möglichkeitsfelder und Handlungsspielräume, sie inkludierten ältere Menschen in den Diskurs des Sexuellen und normalisierten ihren Sex. Sie zeigten: Alterssex ist denk- und praktizierbar.

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57 Vgl. „Liebe Marta“, in: Blick vom 3.7.1985, DNr. 46. 58 Vgl. W. Cyran/M. Halhuber: Erotik und Sexualität im Alter, S. 62f. 103

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Bauer, Ingrid/Hämmerle, Christa: „Editorial“, in: L’Homme 17 (2006) Nr. 1, S. 7-13. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Butler, Robert N./Lewis, Myrna I.: Alte Liebe rostet nicht. Über den Umgang mit Sexualität im Alter, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber 1996. Comfort, Alex: Joy of Sex. Freude am Sex, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein 1981. Cook, Hera: „Sexuality and contraception in modern England. Doing the history of reproductive sexuality”, in: Journal of Social History (Sommer 2007), S. 915-932. Cyran, Wolfgang/Halhuber, Max: Erotik und Sexualität im Alter, Stuttgart, Jena, New York: Gustav Fischer Verlag 1992. Diem, Lieselott: Aktiv bleiben. Lebenstechnik ab 40, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1974. Duttweiler, Stefanie: „‚Ein völlig neuer Mensch werden‘. Aktuelle Körpertechniken als Medien der Subjektivierung“, in: Karl Brunner/Andrea Griesebner/Daniela Hammer-Tugendhat (Hg.), Verkörperte Differenzen, Wien: Turia + Kant 2004, S. 130-146. Duttweiler, Stefanie: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz: UVK 2007. Fausto-Sterling, Anne: Myths of Gender. Biological Theories about Women and Men, New York: Basic Books 1992. (2. Auflage) Flatto, Edwin: Aktiv l(i)eben in jedem Alter. Lebenslang sexuelle Spannkraft, Ritterhude: Waldthausen 1994. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. (orig.: L’histoire de la sexualité. La volonté du savoir, 1976) Hausen, Karin: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Klett 1976, S. 363-393. Heimerdinger, Timo: „Alltagsanleitungen? Ratgeberliteratur als Quelle für die volkskundliche Forschung“, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), S. 57-71. Herr, Bruno: Liebe bis in den späten Herbst. Partnerschaft und Sexualität im Alter, Steyr: Ennsthaler 1996. (2. Auflage) Hofer, Hans-Georg: „Climacterium virile, Andropause, PADAM. Zur Geschichte der Wechseljahre im 20. Jahrhundert“, in: Martin Dinges (Hg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000, Stuttgart: Steiner 2007, S. 123-138. 104

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Kastner, Maria/Maasen, Sabine: „So bekommen Sie Ihr Problem in den Griff. Genealogie der kommunikativen Praxis ‚Sexratgebersendung‘“, in: Reinhard Fiehler/Dieter Metzing (Hg.), Untersuchungen zur Kommunikationsstruktur, Bielefeld: Aisthesis-Verlag 1995, S. 21-84. Klentze, Michael: Anti-Aging. Die Kraft der Sexualität, München: SüdwestVerlag 2004. Koch, Jürgen Reinhard/ Hege, Marianne: Pensionierung und Ruhestand. Richtig vorbereiten, gestalten, genießen, Freiburg/Br.: Haufe 1973. Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007. „Liebe Marta“, in: Blick vom 25.1.1982, DNr. 11168. „Liebe Marta“, in: Blick vom 22.10.1982, DNr. 11006. „Liebe Marta“, in: Blick vom 11.4.1983, DNr. 11388. „Liebe Marta“, in: Blick vom 9.10.1984, DNr. 12444. „Liebe Marta“, in: Blick vom 3.7.1985, DNr. 46. „Liebe Marta“, in: Blick vom 30.5.1986, DNr. 3750. „Liebe Marta“, in: Blick vom 22.4.1988, DNr. 7888. „Liebe Marta“, in: Blick vom 3.5.1988, DNr. 6854. „Liebe Marta“, in: Blick vom 29.11.1991, DNr. 14030. „Liebe Marta“, in: Blick vom 17.9.1992, DNr. 14188. Lock, Margaret: „Models and Practice in Medicine. Menopause as Syndrome or Life Transition”, in: Culture, Medicine and Psychiatry 6 (1982) Nr. 3, S. 261-280. Maasen, Sabine: Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie, Bd. II: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person, München, Wien: Hanser 1975, S. 199-220. McCarter, Elizabeth D./McCarter, Robert W.: Die Sexualität des Mannes. Potent bis ins hohe Alter, Ritterhude: Waldthausen 1995. Rentsch, Christian: „Maschinchen und Tröpfchen gegen Frust mit der Lust. Die Sexberaterin Marta Emmenegger sprach in Zürich über Sex nach 50“, in: SonntagsZeitung vom 16.6.1996, S. 13. Rost, Wolfgang/Schulz, Angelika: Zärtlichkeit und Sexualität. Lustvolles Genießen und erfüllte Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte, München: Südwest Verlag 1993. Schaller, Fritz P.: „Die Chnuschtis sterben aus“, in: Schweizer Familie vom 15.10.1998, S. 16. Scharll, Martha: Aktiv im Alter durch Gymnastik, Stuttgart: Thieme 1972. (2. Auflage)

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Zur medialen Repräsentation a lter be hinderte r Körper in de r Ge ge nw art MARKUS DEDERICH

Einleitende Überlegungen Wie werden alte Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in ihrer Körperlichkeit in Texten, Bildern und anderen Darstellungsmedien repräsentiert? Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht der Versuch, diese Frage zumindest in einer ersten Annäherung zu beantworten und einen Theorierahmen für ihre weitere Bearbeitung zu skizzieren. Die Ausgangsfrage lässt sich, gemäß des Bedeutungsspektrums des Begriffs der Repräsentation, in mehrere Richtungen ausdifferenzieren: Wie werden uns alte behinderte Körper gegenwärtig? Welche Vorstellungen von ihnen setzen sich in uns fest? Wer spricht für sie mit welchen Absichten und Interessen? Welche gesellschaftlichen Identitäten werden solchen Körpern zugeschrieben? Werden alte Körper als Markierung sozialer Differenzierungen und Hierarchisierungen eingesetzt, und wenn ja, wie geschieht dies? Diesen Fragen möchte ich mich zu Beginn mit einigen eher unsystematischen Beobachtungen annähern, um deutlich zu machen, dass bei diesen Repräsentationen eine Reihe von Themen und Perspektiven überwiegen, die ihrerseits durch bestimmte, überwiegend negativ aufgeladene Vorstellungen und Deutungsmuster dominiert werden. Im nächsten Gedankenschritt werde ich kurz auf vier verschiedene Aspekte des Begriffs der Repräsentation eingehen, um anschließend die Theorieperspektive der Soziologie des Körpers und der so genannten „Disability Studies“ zu skizzieren. Diese bilden den theoretischen Rahmen für weitere Forschungsfragen, auf die ich abschließend hinweisen möchte. Eine Bemerkung zum angesprochenen Personenkreis: In der Literatur wird in der Regel zwischen Menschen mit im Alter (und altersbedingt) erworbenen Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen und alt geworden107

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en Menschen mit Behinderungen unterschieden. Tatsächlich gibt es bedeutende Unterschiede zwischen diesen Gruppen. Während die erste Gruppe den klassischen Gegenstand der Gerontologie bildet und vor allem in Gestalt von Demenzerkrankungen ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit gedrungen ist, hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der zweiten Gruppe erst zögerlich in den vergangenen zwei Jahrzehnten begonnen. Die Existenz alt gewordener Menschen z.B. mit Down-Syndrom, autistischen Störungen oder schweren geistigen Behinderungen, deren Lebenserwartung gegenüber früheren Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, ist heute immer noch weitgehend unbekannt. Da diese Menschen nur selten in der Öffentlichkeit zu sehen sind und keine gesellschaftsübergreifende Aufmerksamkeit auf sich ziehen, lassen sich meine nachfolgenden Ausführungen überwiegend auf die erstgenannte Gruppe beziehen. Wenn nachfolgend – in zugegeben grober Vereinfachung – von behinderten alten Menschen die Rede ist, dann sind trotzdem immer beide Gruppen gemeint.

H i n f ä l l i g , g e b r e c h l i c h , ve r l o r e n – D a s B i l d a l t e r b e h i n d e r t e r M e ns c h e n in unserer Gesellschaft Wenn das Alter in der heutigen Gesellschaft ein zumindest in Ansätzen positiv besetzter Lebensabschnitt ist, dann dürfte das vor allem an den „jungen Alten“ liegen, die eine vitale, dynamische, aktive, je nach Einkommen bzw. Rücklagen konsumfreudige und daher wirtschaftlich interessante Gruppe bilden, die wegen ihrer zunehmenden Größe auch für Wahlkampfstrategen und Gesundheitsökonomen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diese „jungen Alten“ sind auch die primäre Zielgruppe von gesundheitspolitischen Präventionsprogrammen, die einen wichtigen Baustein für „kompetentes Altern“ bilden, einer neuen Primärtugend für alternde Menschen in unserer Gesellschaft. Von diesen Alten werden zunehmend positive Repräsentationen in Umlauf gebracht. Anders verhält es sich aber bei denjenigen, die aus dieser Gruppe, dem „dritten Lebensalter“1, herausfallen. Das sind einerseits die sich im „vierten Lebensalter“2 befindlichen „alten Alten“ oder „Hochbetagten“, andererseits chronisch kranke, behinderte oder gebrechliche Menschen. Diese Gruppe wird vor allem durch ihren mehr oder weniger scharfen Kontrast zu den „jungen Alten“ kenntlich, was umgekehrt genauso gilt: in ihr findet sich ein ver1

2

Vgl. Martin Kohli: „Alter und Altern der Gesellschaft“, in: Bernhard Schäfers/ Wolfgang Zapf (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 1-11, hier S. 7. Vgl. ebd.

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ZUR MEDIALEN REPRÄSENTATION ALTER BEHINDERTER KÖRPER

gleichsweise hoher Anteil an motorisch erheblich eingeschränkten, sozial zurückgezogenen, geistig abbauenden oder dementen, bettlägerigen und dauerhaft pflegebedürftigen Personen. Abgesehen von Straßenzügen oder Parks in der Umgebung von Alten- und Pflegeeinrichtungen sind diese Menschen im öffentlichen Raum so gut wie unsichtbar. Wer nicht in seinem persönlichen Umfeld betroffen ist oder beruflich mit dem Personenkreis zu tun hat, trifft sie im Gegensatz zu den „jungen Alten“ in seiner Lebenswelt praktisch nicht an. Durch ihre Darstellung in den Medien aber sind sie auf oft beunruhigende und wirklichkeitsmächtige Weise präsent. Denn die Art ihrer Repräsentation macht sie uns, so meine These, vor allem als eine die Gesellschaft in hohem Maße belastende Problemgruppe gegenwärtig. Diese These lässt sich durch einige Beobachtungen untermauern: • Seit Jahren begleiten uns die Debatten über den demographischen Wandel und das Altern einer schrumpfenden Gesellschaft sowie über explodierende Gesundheits- und Pflegekosten, die für alte Menschen aufgebracht werden müssen.3 Manchmal wird ein Kampf der Generationen heraufbeschworen, der für die Jüngeren – so die Apologeten dieses Kampfes – in einen Verlust an Zukunft münden wird, weil die alten und bedürftigen Menschen einen erheblichen Teil der sozialen und materiellen Ressourcen der Gesellschaft binden und damit deren Modernisierungsfähigkeit beschneiden. • Immer wieder gibt es Berichte über schlecht geführte Pflegeeinrichtungen, über Vernachlässigung, zu Dekubiti (Druck- bzw. Wundliegegeschwüre), Fehlernährung und Austrocknung führende Pflege sowie über Fälle von Gewaltanwendung (Fixierung, elektronische Fußfessel) in Institutionen und in der häuslichen Pflege. Diese Berichte decken Missstände auf, transportieren aber auch die Botschaft, dass es mitunter geradezu gefährlich ist, nicht nur alt, sondern auch chronisch krank und pflegebedürftig zu werden. • Behinderte alte Menschen werden uns in Bildern von krankenhausähnlichen Institutionen gegenwärtig, die sich uns als Ghettos einer vergreisten, aus dem sozialen Leben herausgefallenen, auf den Tod wartenden Population darstellen. • Diese Einrichtungen sind – so wird uns gezeigt – bevölkert von gebrechlichen, bettlägerigen Menschen, deren geistiges Leben langsam erlischt. Die Hoffnung auf ein langes, gesundes, aktives und dynamisches Leben wird durch verbreitete Vorstellungen von langem Siechtum, von Verlust an Lebensqualität und Lebenssinn, vor allem aber an Selbst3

Im Jahr 2006 fielen laut Statistischem Bundesamt bei der älteren Bevölkerung ab 65 Jahren Krankheitskosten inklusive Präventions-, Rehabilitations- und Pflegemaßnahmen von rund 111,1 Milliarden Euro an. Vgl. Statistisches Bundesamt 2008, Pressemitteilung Nr. 280 vom 5.8.2008 (www.destatis.de). 109

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ständigkeit, Autonomie und personaler Integrität konterkariert. Es sind besonders Menschen mit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen, die dieses Schreckensbild des Alters verkörpern. Die zuletzt genannten Menschen, die schwer Demenzkranken, gehören zu jener Gruppe, der in manchen wissenschaftlichen und ethischen Diskursen mit dem Wegdämmern ihres Bewusstseins auch die ethische Schutzwürdigkeit abgesprochen wird. Nach den Vorstellungen mancher Ethiker büßen sie mit dem Abbau ihrer kognitiven Fähigkeiten – etwa dem wachen Bewusstsein ihrer selbst oder der Fähigkeit, Wünsche und Präferenzen auszubilden und zu artikulieren – auch ihre Personalität ein. Je nach Ausprägungsgrad des Abbaus sinken sie dem Denkmodell dieser Ethiker zufolge unter das kognitive Niveau von Schimpansen, Schweinen oder Hunden.4 Aber nicht nur Ethiker debattieren über solche Fragen. Angeregt durch entsprechende Berichte in den Medien sehen viele Menschen in unserer Gesellschaft ein solches Leben als nicht mehr menschenwürdig und lebenswert an. Verstärkt wird dieses Bild eines nicht mehr menschenwürdigen und lebenswerten Lebens – sei es zutreffend oder nicht – durch immer wieder aufkommende, medial begleitete Debatten über die moderne, technologisch hochgerüstete Präparate- und Apparatemedizin, zu deren Schattenseiten die gelegentlich um jeden Preis betriebene und von vielen Menschen als sinnlos empfundene Lebensverlängerung gehört – technologisch gestützte Lebensverlängerung, die, so scheint es zumindest, viele der betroffenen Menschen mit bleibenden, oftmals schwersten Schädigungen und Beeinträchtigungen zurücklässt. Diese Menschen werden zu mahnenden und abschreckenden Verkörperungen, ja Ikonen der Negativfolgen eines technologischen Fortschrittes, der keine humanen Maßstäbe mehr kennt und sie zu einem Leben zwingt, das niemand ernsthaft leben will. Aus dem Szenarium eines langsam erlöschenden geistigen Lebens und einem sukzessiven Verlust an Lebensqualität und Selbstbestimmung werden – ebenso wie aus den als inhuman gedeuteten Auswüchsen der Medizin – immer wieder Forderungen nach aktiver Sterbehilfe abgeleitet. Zugleich tauchen regelmäßig Berichte über Fälle von aktiver Euthanasie durch pflegende Personen auf, die von den Tätern häufig als ihre Opfer erlösende Mitleidstötung angesichts eines als sinnlos bewerteten Lebens legitimiert werden. Das in den wissenschaftlichen Diskursen und Medien geprägte Bild vom „vierten Lebensalter“ trägt so sicherlich zur Popularität und moralischen Anerkennung von Sterbehilfeorganisationen in







4

Vgl. Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam 1994, S. 219; Jeff McMahan: The Ethics of Killing. Problems at the Margins of Life, New York: Oxford University Press 2002.

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ZUR MEDIALEN REPRÄSENTATION ALTER BEHINDERTER KÖRPER



Deutschland bei. Entsprechend sind neben terminal erkrankten Menschen alte und gebrechliche Personen zum Gegenstand intensiver Debatten über ethische Probleme am Lebensende geworden.5 Eine andere Facette begegnet uns in Berichten über das Alter und Krankheiten bzw. Behinderungen im Alter in den Bio- und Lebenswissenschaften. Deren Prävention, Linderung oder gar Therapie gilt als hohes ethisches Gut. Die biomedizinische Grundlagenforschung ist auf der Suche nach Genen, die das Altern steuern. Mit dieser Forschung ist unter anderem die Hoffnung verbunden, biologische Ursachen des Alterungsprozesses aufdecken und diesen aufhalten zu können. Manche Visionäre träumen sogar von der Unsterblichkeit des Menschen und einem Leben in buchstäblich ewiger Jugend.6 Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit und Siechtum fungieren auch hier wieder als passend zurechtgeschnittene Negativvision vom Leben in hohem Alter – eine Negativvision, die eine biotechnologische Abhilfe nachgerade zur moralischen Pflicht erhebt.

Die regelmäßige Konfrontation mit solchen und ähnlichen Bildern, Szenarien und Debatten bleibt nicht ohne Folgen. Unsere Vorstellungen vom Leben im Alter unter den Bedingungen von Behinderungen und chronischen Erkrankungen scheinen durch eine Reihe oftmals diffus bleibender Ängste bestimmt zu sein: Angst vor Vereinsamung, Abhängigkeit, Fremdbestimmung und einem erheblichen Verlust an Lebensqualität durch Pflegebedürftigkeit, Demenz usw.; Angst vor chronischen Beschwerden und Schmerzen; Angst, anderen Menschen zur Last zu fallen; Angst, in die Fänge einer entfesselten, uns zu Objekten degradierenden Apparatemedizin zu gelangen; in der Summe: Angst vor einem Verlust an Lebensqualität, Selbstbestimmung und Würde. Auf eindringliche und suggestive Weise wird uns eine Population präsentiert, die für ein Bündel schwerwiegender ökonomischer, sozialer und ethischer Probleme steht – Bewohner einer fremden Welt, die uns beunruhigt und gleichermaßen Schrecken wie Abwehrreflexe auslöst. Mit all dem soll nicht gesagt werden, dass es nicht auch andere Bilder, Geschichten und Vorstellungen bezüglich dieser Gruppe gibt; jedoch scheint mir offensichtlich, dass Probleme akzentuierende, negative und angstbesetzte Repräsentationen im Vordergrund stehen. Entsprechend sind die Körper alter Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen ein wichtiges Thema der Sozial- und Gesundheitspolitik, der Pflegewissenschaften und Ge5

6

Siehe z.B. Klaus Simon: „Ethische Probleme am Lebensende“, in: Stefan Schulz u.a. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 446-478. Vgl. Francis Fukuyama: „Die Verlängerung des Lebens“, in: Bettina SchöneSeifert/Davina Talbot (Hg.), Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn: Mentis 2009, S. 347-464. 111

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riatrie, der angewandten Ethik und zunehmend auch der Behindertenpädagogik und Rehabilitation. Diese jedoch folgen weitgehend den vorab skizzierten Blickrichtungen. Alte behinderte Menschen bilden aufgrund der steigenden Lebenserwartung und des demographischen Wandels eine besondere, verschiedene soziale Systeme strapazierende Problemgruppe, um die herum sich in der arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft verschiedene Subsysteme für seine Bearbeitung bilden. In den Sozial- und Kulturwissenschaften jedoch wird diese Gruppe bisher nur selten und eher am Rande thematisiert, im Kontext des Diskurses über die kulturelle Normierung von Körpern und Körperbildern meines Wissens bisher so gut wie gar nicht. Das ist erstaunlich, da es sich um eine wachsende und, wie meine bisherigen Ausführungen angedeutet haben, um eine gesellschaftlich und politisch hoch brisante Gruppe handelt, deren Betrachtung in vielerlei Hinsicht aufschlussreich sein könnte.

Zum Begriff der Repräsentation Nach diesen eher exemplarischen und unsystematischen Hinweisen möchte ich nun die Betrachtungsebene wechseln und mich einer theoretischen Perspektive zuwenden. Meine These lautet, dass die psychologische und gesellschaftliche Eindringlichkeit und Wirksamkeit solcher Repräsentationen, wie ich sie vorab beschrieben habe, mit Prozessen der Körpernormierung verbunden sind. Bevor ich hierauf näher eingehe, sei in einem kurzen Exkurs der Begriff der Repräsentation diskutiert. Dabei beziehe ich mich vor allem auf einige Überlegungen des Phänomenologen Bernhard Waldenfels. Wie Waldenfels7 zeigt, weist der Begriff „Repräsentation“ vier verschiedene Bedeutungsfelder auf: „Vorstellung“, „Vergegenwärtigung“, „Darstellung“ und „Stellvertretung“. a) Der Aspekt der „Vorstellung“ verweist darauf, dass etwas als etwas gedacht wird – es ist mit Bedeutung und Sinn versehen. Wenn etwas als etwas repräsentiert oder vorgestellt wird, sind immer Muster, Gestalten, Strukturen oder Regeln im Spiel, die das, was sich zeigt, auf eine bestimmte Art und Weise sichtbar machen. Das aber heißt: etwas ist nicht einfach unmittelbar, kontextfrei und aus bedeutungsstiftenden Horizonten herausgelöst präsent. Vielmehr gehen Kontexte und Horizonte als Rahmen- und Hintergrundbedingungen in das ein, was sich zeigt – also auch in unsere Bilder vom Alter, von der Hinfälligkeit des Körpers usw. 7

Bernhard Waldenfels: „Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung“, in: Iris Därmann/Christoph Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2002, S. 151-182.

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b) Repräsentation als „Vergegenwärtigung“ bedeutet, dass etwas, das „nicht zeitlich-räumlich gegenwärtig ist, [...] vergegenwärtigt“8 wird. Etwas wird gedanklich oder als Vorstellung gegenwärtig, ohne selbst gegenwärtig zu sein. In dieser Hinsicht ist ‚Repräsentation’ also die Herstellung der Anwesenheit des Abwesenden und zwar so, dass uns das Abwesende auf spezifische Weise, nämlich ‚als etwas’, vergegenwärtigt wird. In Bezug auf das „vierte Lebensalter“ geschieht dies vor allem, wie skizziert, durch die Konstruktion eines beunruhigenden, angstbesetzten Problemknäuels. c) Die Bedeutungsdimension der „Darstellung“ kommt in den Blick, wenn etwas durch und mit Hilfe von Medien dargestellt und erfahrbar wird. Darstellung basiert auf symbolischer Vermittlung, etwa durch das gesprochene Wort, Texte oder Bilder. Die Darstellung in Texten erfolgt beispielsweise unter Rückgriff auf spezifische Terminologien, Metaphern oder textspezifische Regeln. So verwendet ein Illustriertenbeitrag eine andere Sprache und folgt anderen Regeln als beispielsweise ein wissenschaftlicher Forschungsbericht. Fast noch wichtiger als Texte sind in der heutigen Gesellschaft Bilder, Film- oder Tonaufzeichnungen. Um welches Medium es sich auch handeln mag: grundsätzlich gilt, dass es eine medienfreie, gleichsam ‚unschuldige’ Erfahrung nicht gibt. Das, was durch das Medium repräsentiert werden soll und die Art und Weise, wie es vermittels des Mediums repräsentiert wird, sind nicht eindeutig zu trennen. Welchen Einfluss haben mediale Repräsentationen alter, chronisch kranker und behinderter Menschen auf die Weise, wie wir sie sehen, was wir über sie denken und wie wir uns auf sie beziehen? d) Schließlich ist die Repräsentation im Sinne der politischen und juristischen „Stellvertretung“ zu nennen. Hier taucht vor allem die Frage auf, „woher die vertretende Instanz die Autorität nimmt, für andere zu sprechen und zu entscheiden“9. Wer spricht heute über bzw. für alte, chronisch kranke und behinderte Menschen? Von wo aus und mit welchen Interessen wird gesprochen? Waldenfels schlägt vor, „Repräsentation“ als „diskursive Ordnung der Erfahrung“10 zu fassen. Hieran schließen sich einige wichtige Fragen: „(1) Als was, in welchem Sinne, in welcher Bedeutung tritt das auf, was zur Erscheinung und zur Sprache kommt? (2) In welchen raum-zeitlichen Kontexten geschieht

8 B. Waldenfels: Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung, S. 155. 9 Ebd., S. 157. 10 Ebd. 113

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dies und (3) in welchen Medien? (4) Wer spricht, wenn etwas zur Sprache kommt?“11 Dieses Verständnis von Repräsentation macht verschiedenes deutlich: Erstens sind wissenschaftliche Texte ebenso wie durch die Massenmedien produzierte und in Umlauf gebrachte Bilder „nicht in einer vorgängigen Ordnung der Dinge begründet, sondern bringen eine Ordnung der Dinge erst hervor“12. Repräsentationen sind bestimmte „Vorstellungen, Bilder und Kodierungskonventionen“13 eingelagert, die einen produktiven und wirklichkeitserzeugenden Charakter haben: Medien und Zeichenordnungen bringen „symbolisch, sprachlich und diskursiv das hervor, was sie symbolisieren oder ‚bezeichnen‘“14. Hieraus folgt, zweitens, dass Repräsentation offensichtlich mehr ist als eine getreue Wiedergabe oder ein Abbild dessen, was ihr vorausgeht – „und darin liegt die ihr inhärente ‚Gefahr‘ –, dass die Repräsentation eine trügerische, [...] entstellende Macht aufweist, die mehr zu tun scheint, als bloß zu repräsentieren“15. Drittens aber gilt auch, dass das Repräsentierte durch die Modi seiner Repräsentation nicht ausgeschöpft werden kann. Es bleibt ein uneinholbarer Überschuss, der sich der Repräsentation und also auch unserem Wissen und Zugriff entzieht.16 Waldenfels nennt diesen uneinholbaren Überschuss „repräsentative Differenz“17. Was bedeuten diese Überlegungen zur Repräsentation für unser Thema? Auch wenn die Prozesse der Alterung eine biologische Grundlage haben und insofern unweigerlich alle Menschen, wenn sie nur lange genug leben, betreffen, sind die eingangs beschriebenen Bilder des Altseins unter den Bedingungen von chronischen Krankheiten und Behinderungen ein Produkt von Repräsentationen im erläuterten vierfachen Sinn. Bei diesen Repräsentationen kommt dem Körper eine zentrale Funktion zu. Wie behinderte Menschen werden auch alte Menschen zunächst durch ihre Körper bzw. bestimmte, sinnlich wahrnehmbare körperliche Zeichen identifiziert. Diese Zeichen – die welke Haut, der müde Blick, das eingefallene Gesicht, die brüchige Stimme, die schlurfenden, tastenden Schritte, die gebeugte Haltung, aber auch die Versorgung des Körpers mit Prothesen oder seine Unterstützung durch Hilfsmittel 11 12 13 14 15

Ebd. [Hervorhebungen im Original] Hannelore Bublitz: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003, S. 3. Ebd., S. 30. Ebd. Iris Därmann: „Fremderfahrung und Repräsentation“, in: Därmann/Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation (2002), S. 7-46, hier S. 14. 16 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 34. 17 Ebd.

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(etwa einen Rollator oder Rollstuhl) – werden mit Bedeutung versehen und symbolisch aufgeladen. An ihnen wird ein tieferer Sinn sichtbar und eine besondere Problemlage, die weit über das Individuum, seine Geschichte, seinen Lebensweg und seine subjektiven Sinnkonstruktionen hinausgeht. Als besondere gesellschaftliche Problemgruppe werden die ‚alten‘ Alten und die kranken und behinderten Alten durch ihre außerordentlichen Körper kenntlich.

Au ß e r o r d e n t l i c h e K ö r p e r i m L i c h t der Körpersoziologie und der „Disability Studies“ Was sind außerordentliche Körper? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich mich nachfolgend auf einige grundlegende Motive der Körpersoziologie und auf die „Disability Studies“ beziehen. Während der Körper lange Zeit keinen systematischen Stellenwert in den Sozial- und Kulturwissenschaften hatte, gibt es seit den 1990er Jahren einen gewissen Boom. Es kam zu einer Entdeckung des Körpers als zentralem Gegenstand verschiedener Disziplinen, etwa der Historischen Anthropologie.18 In der gegenwärtigen soziologischen Körperforschung werden höchst unterschiedliche Fragen diskutiert. In Bezug auf die soziologisch grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lassen sich im Wesentlichen zwei Blickrichtungen ausmachen: Die eine fragt danach, wie der Körper hervorgebracht, geformt und sozial gemacht wird. Nach Gugutzer zeigen solche Untersuchungen zur Vergesellschaftung des Körpers, „wie gesellschaftliche Strukturen, vor allem Ungleichheits- und Machtstrukturen, Diskurse, Institutionen und Organisationen den Umgang mit dem Körper, Einstellungen zum Körper sowie das Spüren des eigenen Körpers prägen“19. Unter anderem fragt diese Perspektive, „wie der Körper gesellschaftliche Werte, Normen und Strukturen zum Ausdruck bringt“20. Vor allem in Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten zum Körper und zur Geschichte der Sexualität21 wird in dieser Forschungsperspektive immer wieder betont, dass der Körper in seiner Materialität durch Gesellschaft und Kultur hervorgebracht wird.

18 Vgl. Eugen König: Körper – Wissen – Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers, Berlin: Reimer 1989. 19 Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers, Bielefeld: transcript 2004, S. 141. 20 Ebd., S. 142. 21 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. 115

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Die andere Perspektive fragt demgegenüber, welche Bedeutung dem Körper bei der Reproduktion des Sozialen zukommt, welche Funktion er bei der Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Störung von Interaktionsordnungen hat. „Wie wird der Körper zum Medium der Her- und Darstellung sozialer Ordnung, und welche Formen der Körperverwendung werden typischerweise genutzt, um gesellschaftliche Ordnung ins Wanken oder gar zum Einsturz zu bringen?“22 Zusammengenommen untersuchen diese Blickrichtungen den Körper als Produkt und als Produzent von Gesellschaft. Gesundheits- oder behinderungsbezogene Differenzen, Verkörperungen von Marginalisierungsprozessen oder Themen wie Schmerz, Pflege, Rehabilitation oder Prothetisierung jedoch wurden und werden bis heute in der Körpersoziologie nur am Rande thematisiert.23 „Sowohl in soziologischen Körpertheorien wie in Theorien sozialer Ungleichheit bzw. Ausgrenzung und Theorien sozialer Probleme“24 wird Behinderung weitgehend ausgeblendet.25 Erst in jüngerer Zeit tauchen vereinzelte Arbeiten auf, die mit einer Thematisierung außerordentlicher und marginalisierter Körper diese Lücke zu schließen beginnen.26 Diese Arbeiten sind vor allem im Kontext der „Disability Studies“ zu verorten. Insofern setzen die „Disability Studies“ dort an, wo die Körpersoziologie – bis heute jedenfalls – nicht weiterfragt. In Bezug auf die gesellschaftliche Formung außerordentlicher Körper sowie auf die Folgen des Auftauchens solcher Körper in der Gesellschaft gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Untersuchungen, die vor allem wissenschafts- und kultur- bzw. gesellschaftshistorische Aspekte betonen. Sie arbeiten historisch sich wandelnde ästhetische, kulturelle, medizinische Modelle, Vorstellungen, Bilder, narrative Muster, Erwartungen, Normen und Phantasmen heraus, aber auch individuelle und gesellschaftliche, in der Moderne zunehmend institutionell eingebettete Praktiken zur Pflege und Kultur, zur Formung und Domestizierung des menschlichen Körpers.27 Die „Disability Studies“ begreifen marginalisierte und behinderte ebenso wie normalisierte Körper demnach als „Ausdruck eines gesellschaftlichen

22 R. Gugutzer: Soziologie des Körpers, S. 143. 23 Deutlich wird dies z.B. bei R. Gugutzer: Soziologie des Körpers, oder bei Markus Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 24 Imke Schmincke: „Außergewöhnliche Körper. Körpertheorie als Gesellschaftstheorie“, in: Torsten Junge/Imke Schmincke (Hg.), Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster: Unrast 2007, S. 11-26, hier S. 12. 25 Vgl. auch Anne Waldschmidt: „Behinderte Körper: Stigmatheorie, Diskurstheorie und Disability Studies im Vergleich“, in: Junge/Schmincke (Hg.), Marginalisierte Körper (2007), S. 27-43. 26 Siehe insb. Junge/Schmincke (Hg.): Marginalisierte Körper. 27 Vgl. Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript 2007. 116

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Verhältnisses“28. Am Leitfaden des Körpers werden diejenigen Prozesse rekonstruiert und analysiert, die ‚Behinderung‘ als diskursives Ereignis hervorbringen.29 Behinderung wird dem Körper durch kulturelle Deutungsmuster und soziale Interaktionen ‚eingeschrieben‘, so dass dieser einerseits zu einer Verkörperung gesellschaftlicher Verhältnisse wird, diese aber zugleich auch vermittelt, also reproduziert. Behinderte Körper sind „sowohl Produkte wie Produzenten der entsprechenden materiellen Praktiken ihrer Zurichtung und Darstellung“30. Dabei wird deutlich, dass moderne Gesellschaften körperbezogene Normen und an das Individuum herangetragene Erwartungen vor allem aus den Bereichen Leistung, Gesundheit und Ästhetik generieren. Die Repräsentationen, in die diese Normen eingehen, haben eine formierendproduktive Wirkung, denn sie implizieren immer auch Vorstellungen darüber, wie Körper sein sollen – was wiederum auch heißt: wie sie nicht sein sollen. Erst auf diesem Weg wird es überhaupt möglich, „außerordentliche Körper“ oder „abweichende Biologien“ zu denken. Mit anderen Worten: Auf den Körper bezogene Normalitätsvorstellungen und zu Idealen werdende Körpernormen können nicht ohne abweichenden Kontrast existieren.31 In diesem Sinne schreibt Garland Thomson: „Kulturelle Dichotomien leisten ihre beurteilende Arbeit: Dieser Körper ist unterlegen, jener ist überlegen, dieser ist schön oder perfekt, jener ist grotesk und hässlich. In dieser Ökonomie des visuellen Unterschieds werden jene Körper, die für unterlegen gehalten werden, zu Schauspielen des Andersseins, während die ungezeichneten im neutralen Raum der Normalität beschützt werden.“32

Da es nicht nur visuelle Unterschiede gibt, die sich vor allem auf physisch Sichtbares beziehen, sondern beispielsweise auch akustische (etwa Schreien, Stammeln, Stottern, unartikuliertes Lautieren, extrem verlangsamte Rede usw.), wäre es allerdings angemessener, von einer „Ökonomie des ästhetischen Unterschieds“ zu sprechen. Der Begriff der Ästhetik hat in diesem Kontext zudem den Vorteil, dass sinnliche Wahrnehmung im Sinne der aisthesis immer wertende Empfindungen wie ‚schön-hässlich‘, ‚angenehm-unange28 I. Schmincke: Außergewöhnliche Körper, S. 13. 29 Vgl. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. 30 Robert Gugutzer/Werner Schneider: „Der ‚behinderte‘ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung“, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2007, S. 32-53, hier S. 47. 31 Vgl. Lennard J. Davis: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body, London, New York: Verso 1995. 32 Rosemary Garland Thomson: Extraordinary Bodies, New York: Columbia University Press 1997, S. 7f. 117

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nehm‘, ‚vertraut-unvertraut‘ usw. einschließt. In diesen ästhetischen Prozess gehen auch körperbezogene Normalitätsvorstellungen und -erwartungen sowie Körpernormen ein. Er mündet in „die Produktion von Behinderung als menschliche Absonderlichkeit oder außerordentliche Beschränkung“33. Behinderung ist insofern als doppelte Negation zu begreifen: Zum einen wird sie „allen ‚abweichenden‘ Biologien als diskreditierende Eigenschaft attribuiert“34, zum anderen dient sie „als materielles Kennzeichen der Minderwertigkeit selbst“. Behinderung fungiert „als Grundfigur menschlicher Disqualifizierung“35, die, wie Garland Thomson schreibt, aus den „Rohstoffen körperlicher Vielfalt des Menschen“36 heraus präpariert wird. Nach dieser Theorie ist zentral, dass gesellschaftlich-historische Normen einerseits körperlich codiert – und auf diesem Wege naturalisiert werden –, andererseits die Funktion eines ‚Barometers‘ übernehmen, mittels dessen alle Biologien beurteilt und verglichen werden.37 Abweichende Biologien verkörpern Differenz und verweisen auf diese. Es besteht somit ein enger Zusammenhang zwischen sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungsprozessen von kulturellen Körperbildern bzw. Körpernormen, der negativen Kennzeichnung von Körpern und der Zuschreibung körperlicher Abweichung.

Forschungsausblick: Die Repräsentation alter behinderter Körper Was bedeutet die vorab umrissene Theorieperspektive in Bezug auf die Repräsentation alter, behinderter Körper? Meines Wissens steht die Untersuchung zur gesellschaftlichen Konstruktion des Alters und alter Körper in ihrer engen Verknüpfung mit den verwickelten und komplexen Prozessen der Repräsentation noch ganz am Anfang. In noch größerem Maße gilt dies für alte behinderte Körper. Jedoch scheint mir die hier skizzierte Theorieperspektive ein interessantes und fruchtbares Forschungsfeld zu eröffnen. Auf ihrer Grundlage lässt sich die in Zukunft eingehender zu untersuchende Hypothese formulieren, dass die Prozesse der Markierung von außerordentlichen Körpern und der Herstellung von Differenz mehrere folgenreiche Konsequenzen 33 David T. Mitchell/Sharon L. Snyder: „Representation and Its Discontents. The Uneasy Home of Disability in Literature and Film“, in: Gary L. Albrecht/ Katherine Delores Seelman/Michael Bury (Hg.), Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks, London, Neu Delhi: Sage 2001, S. 195-218, hier S. 204. 34 David T. Mitchell/Sharon L. Snyder: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2000, S. 3. [Übersetzung Dederich] 35 Ebd. [Übersetzung Dederich] 36 R. Garland Thomson: Extraordinary Bodies, S. 60. [Übersetzung Dederich] 37 Vgl. D.T. Mitchell/S.L. Snyder: Representation and Its Discontents, S. 204. 118

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haben: Einerseits muss man alte behinderte Körper insofern als Produkt begreifen, als sie als Rohmasse für die Zu- und Einschreibung von Eigenschaften und Identitäten fungieren. Auf diesem Wege werden sie zu Verkörperungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit dieser Theorieperspektive kann die Tendenz, alte behinderte Körper durch die Dominanz eines medizinischen Blicks zu naturalisieren, unterlaufen werden. Andererseits wäre im Detail genau zu untersuchen, etwa durch entsprechende Untersuchungen in Pflegeeinrichtungen oder Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe, wie soziale Beziehungen, Interaktionsformen und Institutionen anhand der den Körpern eingeschrieben Bedeutungen und Identitäten strukturiert werden. Folgt man der skizzierten Theorieperspektive der „Disability Studies“, hätten alte, kranke und behinderte Körper wichtige Funktionen bei der Produktion und Reproduktion des Sozialen, und zwar sowohl auf der eher lebensweltlichen Mikroebene als auch auf der gesellschaftlichen Makroebene. Hier könnten sich etwa folgende, miteinander verbundene Aspekte als bedeutsam erweisen: Erstens: Nach meiner Hypothese lässt sich anhand der Repräsentationsweisen alter behinderter Körper herausarbeiten, was in unserer Gesellschaft wichtig ist, was zählt, welche Werte wir haben, was wir fürchten usw. Auf der Ebene der Körperlichkeit wird für uns sinnfällig greifbar, wenn Menschen aus dem Rahmen fallen, anders sind, Erwartungen nicht entsprechen. Der Verlust von Leistungsfähigkeit und Gesundheit und deren sinnlich erfahrbaren Manifestationen lösen ein Spektrum von Gefühlen zwischen Erschrecken, Abwehr und Mitleid aus und rufen Bewältigungsversuche auf den Plan, die im Spannungsfeld von verantwortlicher Sorge, Reparaturbedürfnissen, Verleugnung, Abschiebungstendenzen und gelegentlich auch Vernichtungsimpulsen angesiedelt sind. Indem bestimmte Körper in ihrer Unzulänglichkeit wahrgenommen und ihre Negativabweichung hervorgehoben werden, werden sie „zu einer Quelle sozialer Ängste vor solch beunruhigenden Angelegenheiten wie Verletzlichkeit, Kontrolle und Identität“38. Zweitens, und dieser Punkt ist eng mit dem vorangehenden verknüpft: Alte behinderte Körper untergraben das moderne Verständnis von Subjektivität. Mit ihrer Gebrechlichkeit und Abhängigkeit sind sie verkörperte Negationen sehr hoch eingeschätzter Güter bzw. Ideale moderner Individuen, etwa Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Vertragsfähigkeit, Selbstkontrolle, Souveränität usw. In noch stärkerem Maße als nicht behinderte alte Menschen entziehen sie sich virulenten Körpernormen und körperlichen Technologien der Selbstführung und Selbstnormalisierung. Eine häufig beschriebene Entwicklungstendenz in der Geschichte der Neuzeit und Moderne ist die emanzipatorische Befreiung der Individuen von als überkommen empfundenen Bindungen aller Art, wobei diese Befreiung durchaus im Sinne der Machtanalytik Foucaults 38 R. Garland Thomson: Extraordinary Bodies, S. 6. 119

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betrachtet werden kann. Gerade im Licht von Emanzipation, Befreiung und Individualisierung werden Krankheit, Behinderung und Alter höchst problematisch für Betroffene, ihre Angehörigen und die Gesellschaft insgesamt. Drittens: Behinderte Körper werden, systemtheoretisch gesprochen, für die Bildung von Leitdifferenzen bzw. binären Codes herangezogen, an denen sich die Gesellschaft und bereits existierende Subsysteme weiter ausdifferenzieren. Denn wie eine ganze Reihe anderer abweichender Körper auch werden alte behinderte Körper als problematisch wahrgenommen und der Zuständigkeit von Spezialisten zugewiesen, die sich ihrer in der Regel in separierten, eigens eingerichteten Institutionen annehmen. Diese und die in ihnen beheimateten Professionen sind aber nicht nur damit beschäftigt, ein als solches definiertes gesellschaftliches Problem einfach nur zu bearbeiten. Indem sie es durch Pflege, Heil- und Linderungsversuche, Ursachenforschung, begriffliche Ausdifferenzierung, theoretische Einrahmung, die Entwicklung neuer Therapien usw. traktieren, bringen sie es in dieser spezifischen Form überhaupt erst hervor. Wissenschaftliche Disziplinen wie die Medizin, Psychologie, (Sonder-)Pädagogik und Rehabilitation stellen somit Wissensformen und Praktiken bereit, durch die „der ‚behinderte Körper‘ [...] diskursiv produziert, beherrscht und reguliert“39 wird. Zum Schluss möchte ich nochmals auf den von Waldenfels geprägten Begriff der „repräsentativen Differenz“40 zurückkommen. Er verweist auf einen in der Sache selbst liegenden Überschuss, der durch die verschiedenen Modi der Repräsentation nicht eingefangen werden kann. Dieser Blick auf die Grenzen der Repräsentation kann unsere Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass die skizzierten Repräsentationen den Gegenstand nicht erschöpfen können, auch wenn sie das Bild dominieren. Jenseits der Festlegung des Lebens alter behinderter Menschen auf ein belastendes und belastetes Leben würde sich ein Raum dafür öffnen, sie als Fremde wahrzunehmen, die wir uns nur um den Preis der Objektivierung und Verdinglichung ganz aneignen können. Dies könnte in eine Sensibilisierung dafür münden, dass das Leben in und mit einem alten behinderten Körper vielleicht ganz andere Qualitäten und Intensitäten aufweist als diejenigen, die uns die heutigen Repräsentationen glauben machen.

39 Brian S. Turner: „Disability and the Sociology of the Body“, in: Albrecht/ Seelman/Bury (Hg.), Handbook of Disability Studies (2001), S. 252-266, hier S. 253. 40 B. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 34. 120

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Literatur Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine Dolores/Bury, Michael (Hg.): Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks, London, Neu Delhi: Sage 2001. Bublitz, Hannelore: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003. Därmann, Iris: „Fremderfahrung und Repräsentation“, in: Därmann/Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation (2002), S. 7-46. Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2002. Davis, Lennard J.: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body, London, New York: Verso 1995. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript 2007. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977: (orig.: Surveiller et punir, 1975) Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. (orig.: L’histoire de la sexualité. La volonté du savoir, 1976) Fukuyama, Francis: „Die Verlängerung des Lebens“, in: Bettina SchöneSeifert/Davina Talbot (Hg.), Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn: Mentis 2009, S. 347-464. Garland Thomson, Rosemary: Extraordinary Bodies, New York: Columbia University Press 1997. Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers, Bielefeld: transcript 2004. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner: „Der ‚behinderte’ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung“, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2007, S. 32-53. Junge, Torsten/Schmincke, Imke: (Hg.): Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster: Unrast 2007. König, Eugen: Körper–Wissen–Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers, Berlin: Reimer 1989. Kohli, Martin: „Alter und Altern der Gesellschaft“, in: Bernhard Schäfers/ Wolfgang Zapf (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen: Leske + Budrich 2001 (2. Aufl.), S. 1-11. McMahan, Jeff: The Ethics of Killing. Problems at the Margins of Life, New York: Oxford University Press 2002. Mitchell, David T./Snyder, Sharon L: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2000. 121

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Mitchell, David T./Snyder, Sharon L.: „Representation and Its Discontents. The Uneasy Home of Disability in Literature and Film“, in: Albrecht/ Seelman/Bury (Hg.), Handbook of Disability Studies (2001), S. 195-218. Schmincke, Imke: „Außergewöhnliche Körper. Körpertheorie als Gesellschaftstheorie“, in: Junge/Schmincke (Hg.), Marginalisierte Körper (2007), S. 11-26. Schroer, Markus (Hg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Simon, Klaus: „Ethische Probleme am Lebensende“, in: Stefan Schulz u.a. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 446-478. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam 1994 (2. Aufl.). Turner, Brian S.: „Disability and the Sociology of the Body“, in: Albrecht/ Seelman/Bury (Hg.), Handbook of Disability Studies, (2001), S. 262-266. Waldschmidt, Anne: „Behinderte Körper: Stigmatheorie, Diskurstheorie und Disability Studies im Vergleich“, in: Junge/Schmincke (Hg.), Marginalisierte Körper (2007), S. 27-43. Waldenfels, Bernhard: „Paradoxien ethnographischer Fremddarstellung“, in: Därmann/Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation (2002), S. 151-182. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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Fremde im Spie ge l: Körperw ahrnehmung und Deme nz HEIKE HARTUNG

Al t e r , K r a n k h e i t u n d l i t e r a r i s c h e E r z ä h l u n g In der Kurzgeschichte Ichs Heimweg macht alles alleine gestaltet Ulrike Draesner in Form eines Bewusstseinsstroms die Innensicht einer an Alzheimer erkrankten Frau. Diese Erzählsituation wird erst im zweiten Teil der Geschichte deutlich, in der ihr Mann Hans, ein Physiker, uns die ‚Fakten‘ präsentiert. In der ersten Hälfte spricht ein entzweites Ich, wie im Titel der Erzählung, von sich selbst in der dritten Person. Die Syntax ist fragmentarisch; bruchstückartige Aufzählungen wechseln sich mit zusammenhängenden, kurzen vollständigen Sätzen ab. Dabei werden jedoch die Satzobjekte so rapide ausgetauscht, dass der Sinn unklar bleibt. Deutlich wird im ersten Teil der Erzählung lediglich, dass hier ein Ich Erfahrungen macht, die befremdlich sind, dass es nach Orientierung sucht und diese Suche schließlich zu einem Ziel führt, zu dem ‚Heimweg‘, den das Ich allein macht. Es werden Sprichwörter und Kinderreime kombiniert, Wortspiele münden in Wortschöpfungen, Alliterationen führen zu Assoziationsketten: „Die Sonne im Winter. Die sich biegenden Straßen. Das Gemachte. Wir. Das weiß ich noch. Und weiß, dass ich es weiß. Es war leicht hereinzukommen, keine Schwelle oder – doch, eine Tür, aber erst als ich sich umdreht, da war ich schon drin, und dann wieder das Licht, Wolken am Himmel, Schafe, will ich denken, aber ich denkt Rauch, ich wischt das Fenster frei, es ist so glatt, durchsichtig, als wäre es nicht da, und manchmal ist ich nicht da, und 123

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dann wieder das Licht, das Licht auf den Steinen, wie ein Stein ist ich hereingerollt, keine Schwelle, Welle, ich hört das Wasser, es ist der Bach, Bach in den Rohren, das Haus.“1

Dieser Erzählanfang führt unmittelbar in eine ungewöhnliche Erzählsituation mit einer sich zunehmend als Objekt distanzierenden Ich-Figur ein. Dabei werden modernistische Erzählformen mit ihren Verweigerungen von Kohärenz, Chronologie und Sinnstiftung evoziert. Draesners Erzählung über eine Krankheit, die mit dem Alter eng assoziiert wird, bedient sich einer Ästhetik, die in der Literaturwissenschaft mit Normbruch, Entfremdung und Defamiliarisierung beschrieben wird. Sie stellt damit ein Beispiel für eine Repräsentation der Krankheit Alzheimer dar, die eine Analogie vermuten lässt „zwischen sprachlichen und auch mentalen Phänomenen des Alterns und der kreativen Lizenz für sprachliche und literarische Normbrüche vor allem in der Dichtung der Moderne und der ihr entsprechenden Poetik“2. Diese These, die der Erzählforscher Franz K. Stanzel in einem Vortrag anlässlich seines eigenen achtzigsten Geburtstags vorgestellt hat und die er sowohl auf ‚normale‘ Alterungsprozesse als auch auf Alzheimer-Demenz bezieht, basiert auf einer einflussreichen Verknüpfung von Literatur und Krankheit, die unter anderem auf den russischen Formalisten Roman Jakobson zurückgeht, der die rhetorischen Stilmittel Metapher und Metonymie anhand unterschiedlicher aphatischer Sprachstörungen beschrieb.3 Stanzels mit Verweis auf Jakobson formulierte These führt jedoch zu einem Zirkelschluss: das Abweichende, der Bruch mit der Norm, in der modernen Literatur in seiner innovativen Wirkung positiv besetzt, wurde bereits in Analogie zur Krankheit definiert. Die spezifische Krankheit Alzheimer ist dabei zugleich durch eine implizite Pathologisierung des Altersbildes gekennzeichnet, die ich in meinem Beitrag kritisch beleuchten möchte. Seit den 1980er Jahren ist eine Vielzahl literarischer Erzählungen entstanden, die Alzheimer und andere Altersdemenzen4 aus unterschiedlichen Perspek1

2 3

4

Ulrike Draesner: „Ichs Heimweg macht alles allein“, in: Klara Obermüller (Hg.), Es schneit in meinem Kopf. Erzählungen über Alzheimer, Zürich: Nagel & Kimche 2006, S. 59-81, hier S. 59. Franz K. Stanzel: „Gerontologisches in Literatur und Poetik“, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 29 (2004), S. 3-21, hier S. 11. Vgl. Roman Jakobson: „Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 192-211. Im Folgenden werde ich mich ausschließlich auf Alzheimer als die bekannteste Form von Altersdemenz beziehen, auch wenn die diagnostische Abgrenzung zwischen den verschiedenen Formen von Altersdemenz problematisch ist und Alzheimer – seltener – auch im mittleren Alter auftreten kann. Dieser Umstand wird in literarischen Texten selten differenziert: Während sich Ulrike Draesners

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tiven in den Blick nehmen.5 Diese literarischen Texte sind Teil eines demographischen Diskurses, in dem das Zusammenspiel von biologischen und sozialen Kategorien des Alterns auf unterschiedliche Weise ausgehandelt wird. Eine Tendenz dieses Diskurses ist es, die Kategorien Alter und Krankheit miteinander zu verschränken, wobei Alzheimer gewissermaßen ‚normalisiert‘ wird und als ‚Normalerwartung‘ des höheren Alters beschrieben wird. Diese Vorstellung von der ‚Normalität‘ von Alzheimer, gekoppelt mit Statistiken, die eine zunehmende Wahrscheinlichkeit der Erkrankung bei Langlebigkeit in Aussicht stellen, kann ‚statistische Panik‘ schüren und den demographischen Diskurs in besonderer Weise zuspitzen. Die zunehmende Häufigkeit und kulturelle Sichtbarkeit der Krankheit führt andererseits dazu, dass neue Bilder und Haltungen zu Alzheimer – und parallel hierzu zum Alter – entstehen.6 Im Folgenden geht es mir bei der Betrachtung zweier literarischer Repräsentationen von Alzheimer zum einen um die Frage, inwiefern solche Darstellungen als Zuspitzungen von Altersbildern zwischen Temporalität und Medialität zu verstehen sind und welche Konsequenzen für Körper- und Altersbilder sich aus den jeweiligen ästhetischen Strategien ergeben. Anhand der Analyse unterschiedlicher ästhetischer Strategien in der narrativen Annäherung an Alzheimer sollen zum anderen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie die einebnende Pathologisierung von Altersbildern umgangen werden kann.

M i m e t i s c h e u n d m e t o n ym i s c h e F o r m e n d e r R e p r ä s e n t a t i o n vo n Al z h e i m e r Neben Ulrike Draesners Erzählung Ichs Heimweg betrachte ich die Erzählung der kanadischen Autorin Alice Munro The Bear Came over the Mountain, die vor wenigen Jahren unter dem Titel Away from Her von Sarah Polley verfilmt

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Text ausdrücklich auf Alzheimer bezieht und im zweiten Teil, der Erzählung des beobachtenden Ehemanns, detailliert Krankheitssymptome beschreibt, bleibt Alice Munros Text in dieser Hinsicht eher vage. Metaphorisch beziehen sich beide Erzählungen jedoch auf die bekannteste Altersdemenz Alzheimer. Vgl. Heike Hartung: „Small World? Narrative Annäherungen an Alzheimer“, in: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 24 (2005), S. 163-178. Eine extreme – und interessante – Variante einer Aufwertung im Paradigma der Normalisierung stellt das Buch von Klaus Dörner (Leben und Sterben wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, Neumünster: Paranus 2007) dar, in dem er die Rechte von Demenzerkrankten, abgeleitet aus seiner Erfahrung mit deren „sprechenden Augen“, in Form von „Ich-Aussagen aus der Sicht der neuen menschlichen Sichtweise der Demenz“ erprobt (K. Dörner: Leben und Sterben, S. 15). 125

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wurde.7 Beide Erzählungen bedienen sich ganz unterschiedlicher Repräsentationsformen. Ulrike Draesners Erzählung wählt die Annäherung an das Thema Altersdemenz über eine mimetische Darstellungsweise, die sich der besonderen Herausforderung (an das Schreiben) stellt, die Innensicht einer dementen Person zu imaginieren. Indem sie auf Sarahs Innensicht die kontextualisierende Sicht ihres Mannes Hans folgen lässt, umgeht sie zugleich ein Grundproblem, das dem Erzählen über Alzheimer aus der Ich-Perspektive anhaftet: Eine Krankheitserfahrung, die durch die allmähliche Auflösung des Erinnerungsvermögens, des Zeitempfindens und des Ich-Bezugs gekennzeichnet ist, steht im Widerspruch zur narrativen Struktur einer chronologischen Erzählung.8 Bei Draesner wird daher die fragmentarische Sicht Sarahs durch die Erzählung ihres Mannes Hans gerahmt. Aus der Kombination beider Stimmen wird die Erzählsituation auch des ersten Teils verständlich. Die Schilderung von Sarahs Gedanken während eines frühmorgendlichen Streifzuges um und durch das Haus endet mit den Worten: „je... jetzt in der wilden inneren Treppe zu Hans mühselig hinauf mu muss durch das Fenster die Fotografie Himmel Winterhimmel kriecht mühselig hin hin hin.“9

Am Schluss der Erzählung wird dieses Ende – der Heimweg des Ichs, das sich mühsam auf ein Ziel zubewegt – von Hans übersetzt. Er berichtet seiner Tochter, die ihn um die Aufzeichnung gebeten hat, wie er neben seiner Frau eingeschlafen ist und erst am frühen Morgen bemerkt, dass sie nicht mehr neben ihm liegt. Er kommt gerade rechtzeitig, als seine Frau ihm fröhlich lächelnd über das Dach entgegen rutscht. Er beschreibt sie dabei als „fast jung“ aussehend. Auf dieses Körperbild Sarahs, das Hans als bedeutsames Erinne7 8

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Away from Her, Kanada 2006, Regie und Drehbuch: Sarah Polley (dt. An ihrer Seite, 12/2007). Dieses Problem zeigt sich etwa im Roman Hirngespinste (1984) des holländischen Autors J. Bernlef, auf den Ulrike Draesner in ihrer Erzählung verweist: „Hirngespinst“ ist eines der gemeinsamen Worte von Sarah und Hans, bevor die Erkrankung Sarahs den Ritualen und der Sprache des Paares eine veränderte, getrennte Bedeutung verleiht (U. Draesner: Ichs Heimweg, S. 75). Bernlefs Roman erzählt von der fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung aus der Innensicht des Erkrankten. Da es keine weiteren Erzählstimmen gibt, gestaltet der Roman – in einer ebenfalls mimetischen Darstellungsform – die Krankheit als literarischen Verfallsprozess von einer noch sprachlich vermittelbaren Erfahrung zu deren zunehmender Auflösung. U. Draesner: Ichs Heimweg, S. 69.

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rungsmoment festhält, werde ich später noch einmal zurückkommen. Zunächst möchte ich festhalten, dass Draesner auch auf der zeitlichen Ebene ihrer Erzählung die Demenzerfahrung mimetisch in der Leseerfahrung spiegelt: an die Stelle des chronologischen Fortschreitens im Leseprozess rückt ein Querlesen, ein Hin- und Herlesen, eine Konzentration auf einzelne Momente, Bilder und Motive. Auch in Alice Munros Erzählung liegt der Fokus auf der (heterosexuellen) Paarkonstellation. Munro wählt jedoch die distanziertere Form des Erzählens in der dritten Person und zudem eine Außensicht auf die Krankheit. Im Fokus der Erzählung steht nicht die mimetische Annäherung an die Sicht der an Alzheimer erkrankten Person, sondern die Art und Weise, wie sich die Beziehung der beiden Ehepartner zueinander durch die Erkrankung Fionas und ihrem selbstgewählten Einzug in ein Heim verändert. Der Wahrnehmungsträger der Erzählung ist der Ehemann Grant, durch dessen Sicht Fiona präsentiert wird. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen beiden Erzählungen liegt in dem Effekt, den der Umgang mit Zeit auf die Leseerfahrung hat. Draesners Text hält im ersten Teil die Gedankengänge einer Demenzerkrankten als Momentaufnahme fest und liefert im zweiten Teil die Vorgeschichte der Erkrankung nach. Der Leser bzw. die Leserin ist aufgefordert, den ersten Teil im Zusammenhang der Chronologie des zweiten neu zu lesen. Munro wiederum verwendet einen kontinuierlichen, szenenhaften Wechsel zwischen Erzählgegenwart und -vergangenheit, so dass beim Lesen ein Zusammenhang zwischen junger und alter Frau hergestellt wird. In The Bear Came over the Mountain wechseln wiederholt die Zeitebenen: Es werden Szenen aus der Vergangenheit des Paares – chronologisch ungeordnet – mit der Erzählgegenwart abgewechselt. Dabei stehen kurze Episoden und Momentaufnahmen, die die jüngere mit der älteren Fiona überblenden, neben längeren Erinnerungssequenzen Grants. Obwohl auch Munro Alzheimer zur zentralen Erzählmotivation macht, verschiebt sie dabei die Momente des Erinnerungsverlusts und der Entfremdung auf die Paarbeziehung. Im Unterschied zu Draesners mimetischem Verfahren ist Munros Repräsentationsweise daher als metonymische zu charakterisieren: Die Erkrankung Fionas erhält unterschiedliche stellvertretende Funktionen, indem sie Grant zum Chronisten der gemeinsamen Beziehung macht und ihn zu einer ungewohnten Selbstreflexion herausfordert, die ohne das unterstützende Spiegelbild der Partnerin als Gegenüber stattfinden muss. Fiona begegnet Grant – nach einer durch die Heimregeln auferlegten Trennung von vier Wochen – als einem Fremden. Sie behandelt ihn mit höflichem Abstand und einer Mischung aus Erstaunen und Befremden über seine beharrliche Präsenz in ihrer Nähe. Sie hat ihre fünfzig Jahre währende Ehe mit Grant vergessen und in den vier Wochen Eingewöh127

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nungszeit eine enge, eheähnliche Bindung zu dem Mitpatienten Aubrey aufgebaut. Die metonymische Betrachtung von Alzheimer als Weggehen, als radikalem Bruch mit der Nähe der Beziehungsstruktur, verschiebt somit die Betrachtung der Krankheit in ihrer Bedeutung für die erkrankte Person auf die Binnenstruktur des Paares. Hier ist es der Ehepartner Grant, der sich in der Beobachtung seiner Frau gespiegelt sieht und sich als fremd erfährt. Die Darstellung der Erkrankung als Weggehen des Partners stößt bei Grant einen Entwicklungsprozess an. Die Thematik der Altersdemenz führt in Munros Erzählung somit zu Fragen nach den Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb einer Paarbeziehung, in der das Kräfteverhältnis zwischen dem Ich, dem Du und dem Wir in Unordnung geraten ist. Die Fremdheitserfahrung spiegelt sich zudem im Motiv des Fremdgehens: Grant erinnert sich an die Zeiten, in denen er als Hochschulprofessor Affären mit seinen Studentinnen hatte – wie viele andere seiner Kollegen auch. Grant bemerkte allerdings zu spät, dass sich die Zeiten änderten. Eine Affäre wurde publik, Grant ließ sich vorzeitig pensionieren und zog mit Fiona, der er ein ‚neues Leben‘ versprach, aufs Land. Dieser Wendepunkt liegt zwölf Jahre zurück, wird jedoch von Grant wiederholt umkreist, wobei er zugleich das intensive Lebensgefühl dieser Zeit als auch seine Schuldgefühle thematisiert. Sein Interesse an anderen Frauen wird in der Erzählung als etwas Momenthaftes beschrieben, das ohne die zeitliche Ausdehnung, die seine Beziehung zu Fiona hat, eine völlig andere Wertung erhält und sich auch in anderen Körperbildern ausdrückt. Auf diese Körperbilder, die die junge mit der alten (über 70-jährigen) Fiona überblenden, werde ich noch einmal zurückkommen. Zunächst interessiert mich hier, wie Grants Entwicklungsprozess anhand der Erkrankung Fionas vorgeführt wird. Bei der ersten Begegnung mit Fiona nach der vierwöchigen Trennung schenkt Grant ihr zum ersten Mal Blumen, und zwar Narzissen, wodurch die selbstbezügliche und solipsistische Haltung Grants kommentiert wird. Diese erste Begegnung als Fremde deutet Grant zunächst als eine mögliche Verstellung Fionas, als Zeichen ihres schwarzen Humors oder als eine späte Rache: „He could not decide. She could have been playing a joke. It would not be unlike her.“10 Allmählich beginnt er jedoch, die distanzierte Rolle eines regelmäßigen Besuchers im Heim einzunehmen. Er beginnt Fiona neu zu sehen, in der neuen Umgebung des Heims, in ihrer Beziehung zu Aubrey. Als Aubrey von seiner Frau wieder nach Hause abgeholt wird und Fiona in Depressionen versinkt, tritt Grant schließlich so weit von seiner früheren, selbstbezüglichen Beziehungsposition zurück, dass er sein „Fremdgehen“ für sie einsetzt. Er lässt sich auf das Werben von Aubreys Frau Marian ein, um sie dazu zu überreden, ihren Mann zu einem Besuch 10 Alice Munro: „The Bear Came Over the Mountain“, in: dies., Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage, London: Vintage 2002, S. 275-323, hier S. 292. 128

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wieder ins Heim zu bringen. Diese scheinbare Selbstverleugnung Grants bringt die beiden Ehepartner am Ende der Erzählung wieder zueinander – dargestellt als neue Krankheitsphase Fionas, in der sie Grant (kurzzeitig) wieder erinnert. In dieser – metonymischen – Verschiebung der Perspektive von der Krankheitserfahrung auf die Bedeutung von der Demenzerkrankung für eine langwährende Partnerschaft entwirft Munros Erzählung eine Alternative zur Vorstellung von Alzheimer als vorzeitigem Tod im Leben und als Ende jeglicher Entwicklungsmöglichkeit. Dabei wird auch der Entwicklungsbegriff infrage gestellt, der hier nicht mehr auf das autonome Subjekt bezogen ist, sondern auf die Paarkonstellation übertragen wird. Draesners Erzählung stellt dagegen die Krankheitserfahrung sowohl aus der Sicht der Erkrankten als auch aus der des Partners in den Mittelpunkt. Dabei vermeidet sie es in der mimetischen Annäherung, Alzheimer-Demenz im Sinne einer Verschränkung von Alter mit Krankheit zu ‚normalisieren‘. Vielmehr entwirft sie ein Bild der Erkrankung, deren krisenhafter Höhepunkt die Demenzerfahrung als vorzeitige Auflösung der Person bildet und das insofern über das Alter als Entfremdungserfahrung hinausweist. Während die Erzählung von Alice Munro den individualistischen Entwicklungsgedanken im Zusammenhang mit Alzheimer in Frage stellt, fokussiert Draesners Erzählung die fragmentarische, momenthafte und sprunghafte Innenwelt einer Krankheitserfahrung, die sich erst rückblickend im Leseprozess rekonstruieren lässt. Damit entwickeln beide Erzählungen performative, auf die Entfremdungssituation (bei Munro) und den Augenblick (bei Draesner) bezogene Subjektvorstellungen, die den narrativen, auf Erinnerung und Zeitlichkeit basierenden Konzepten eines Subjektbegriffs, der die Person in den Mittelpunkt rückt, entgegenwirken.

Körperbilder und das Spiegelstadium d e s h o h e n Al t e r s Die Alters- und Körperbilder, die in diesen verschiedenen Erzählweisen über Alzheimer evoziert werden, lassen sich genauer über das Motiv der Spiegelung beschreiben. Dazu greife ich auf den von Kathleen Woodward in Anlehnung an Jacques Lacan eingeführten Begriff des „Spiegelstadiums des hohen Alters“ zurück. In The Mirror Stage of Old Age beschreibt sie ihre Reformulierung und Inversion des Lacanschen Spiegelstadiums als Konfrontation mit einem Bild, das ebenfalls zu einer Verwandlung des betrachtenden Subjekts führt. Dieses tritt jedoch nicht – wie bei Lacan – in das Imaginäre ein, sondern – wie Woodward polemisch formuliert – in den gesellschaftlichen Raum, der 129

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in westlichen Gesellschaften den Senioren („senior citizens“) vorbehalten bleibt. Die bereits bei Lacan als problematisch ausgewiesene Erfahrung von Ganzheit wird dabei für Ältere primär mit Blick auf die Innenwelt des Subjekts thematisiert und bezieht sich weniger – wie in der infantilen Spiegelphase – auf die Reflexion im Außen. Das Spiegelbild erscheint in dieser Perspektive als „uncannily prefiguring the disintegration and nursling dependence of advanced age“11. Die Entwicklungsrichtung in den beiden Konzepten ist somit gegenläufig: Auch das infantile Spiegelstadium ist eine konfliktreiche Subjektkonstitution, die lustvolle Antizipation von zukünftiger Ganzheit mit gegenwärtiger Unkoordiniertheit verbindet und Entfremdungserfahrungen über die Identifikation mit einem Bild einschließt.12 Der Entwicklungsrichtung im Spiegelstadium des hohen Alters fehlt dagegen das Lustmoment. Die Todesnähe provoziert vielmehr Angst vor der Bewegung, die von (imaginärer/sprachlicher) Ganzheit zur Auflösung führt: „If the psychic plot of the mirror image of infancy is the anticipated trajectory from insufficiency to bodily wholeness, the bodily plot of the mirror stage of old age is the feared trajectory from wholeness to disintegration.“13 Wichtig für die Betrachtung von Alzheimer ist bei Woodwards Übertragung des Lacanschen Konzepts auf das hohe Alter die Verschiebung von einer potenziell integrativen zu einer primär desintegrativen Erfahrung über die Spiegelung. Bei der Obsession Älterer in Bezug auf das eigene Spiegelbild, auf die auch Simone de Beauvoir in ihrem Essay Über das Alter (1970) hingewiesen hat, wird zumeist der Mangel, das Defizitäre des alternden Körpers konstatiert, das im Kontrast erlebt wird zur aktiven, ‚jungen‘ geistigen Innenwelt. Als Beispiel hierfür wird Richard Wagner angeführt: „Wagner hatte einen Horror vor dem Altwerden. Als er sich im Schaufensterglas eines Ladens sah, sagte er verstimmt: ‚Ich erkenne mich nicht wieder in diesem Graukopf! Ist es möglich, dass ich 68 Jahre alt bin?‘“14 Hier wird deutlich, wie der Dualismus von Körper und Geist in der Erfahrung des hohen Alters besonders wirksam wird: Der jugendliche Körper ist kulturell kodiert zugleich als Idealbild und als Norm, während im Alter höchstens der Geist noch mit Wert besetzt wird. Daher erscheint der alternde Körper als Gegenbild, oder als Maske, die getragen wird, hinter der sich das

11 Kathleen Woodward: „The Mirror Stage of Old Age ... Marcel Proust’s The Past Recaptured“, in: dies., Aging and Its Discontents, Bloomington: Indiana University Press 1991, S. 53-72, hier S. 67. 12 Vgl. Jacques Lacan: „The Mirror Stage as Formative of the I Function, as Revealed in Psychoanalytic Experience“, in: ders., Écrits. A Selection, New York: Norton 2004, S. 3-9. 13 K. Woodward: The Mirror Stage of Old Age, S. 67. 14 Simone de Beauvoir: Das Alter, Reinbek: Rowohlt 2000, S. 384. 130

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‚wahre‘ – also das geistige – Ich verbirgt.15 Die starke Fokussierung eines ‚geistigen‘, mentalen Alters, das sich einem allmählich verfallenden Körper entgegenstemmt, ist zudem geprägt durch die Dominanz von Rationalität und Autonomie im westlichen Subjektbegriff. Bei der Wahrnehmung von Alzheimer wirkt sich das defizitäre Körperbild des Alters deshalb in besonderer Weise aus, weil die Erkrankung, die das Erinnerungs- und Sprachvermögen allmählich auslöscht, die Möglichkeit zunichte macht, den körperlichen Verfall durch die mentale Identität eines Menschen auszugleichen. Mit Bezugnahme auf sozialkonstruktivistische Ansätze der ‚personhood debate‘ entwirft Pia Kontos dagegen ein Gegenbild zum restriktiven cartesianischen Dualismus von Körper und Geist – am Beispiel des amerikanischen Malers Willem de Kooning, der im Alter an Alzheimer erkrankte und ein in der Kunstkritik umstrittenes Spätwerk hinterließ.16 Kontos versucht, eine al15 Diese Entfremdungserfahrung und dieses Körperbild des Alters finden sich beide in Beauvoirs kulturhistorischen Essay. Dort hat sie das Alter zu einem Anliegen gemacht und das Altern als einen Prozess der – gesellschaftlich induzierten – Selbstentfremdung beschrieben. Indem sie Alte als eine Randgruppe und Alter als ein Gegenbild der Gesellschaft und des Einzelnen darstellt, macht Beauvoir sie zu einem „Synonym für alle Ungerechtigkeiten der Welt“ (Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 11). Beauvoirs Bild vom Alter gleicht dem einer Krankheit, die – wie Alzheimer-Demenz – „über uns hereinbricht“. Das von ihr geschilderte Alter ist von Fremdheit, Ichverlust und Selbstentfremdung gekennzeichnet – Attribute, mit denen auch die Alzheimer-Krankheit beschrieben wird: „Das sind nicht mehr wir, wenn es eintritt.“ (S. de Beauvoir: Das Alter, S. 10). Auch wenn Beauvoir diese Position durch einen Akt der Identifikation ändern will, basiert dieser Aufruf auf einer extremen Differenz und auf einer sentimentalen Haltung, in der sich ein jüngeres Ich – die Autorin, die an ihre ebenfalls jungen LeserInnen appelliert – mit einer unbenannten älteren Person identifiziert, für die sie Mitleid empfindet. Kathleen Woodward bezeichnet diese Form der Identifikation (in Anschluss an Melanie Klein) als Projektion, in der Beauvoir ihre eigenen Ängste vor dem Altern auf ‚die Alten‘ als eine unterprivilegierte, in jeder Hinsicht bedauernswerte Gruppe von Menschen projiziert. Obwohl Woodward die strategische Funktion dieses imaginativen Aktes der Identifikation mit einer gänzlich anderen Position im Kontext von Existentialismus und Feminismus würdigt, weist sie auch auf dessen Grenzen hin: „Beauvoir’s analysis was based on two primary and intertwined assumptions, which also served her as analytic tools and conclusions – the existential revulsion of the condition of being old and the powerlessness of the elderly as an economic class. Imagine the difficulty of identification with what you hold repugnant, as Beauvoir did aging; her view of old age as being associated with disgust is itself a blatant example of ageism.“ (Kathleen Woodward: „Inventing Generational Models – Psychoanalysis, Feminism, Literature“, in: dies. (Hg.): Figuring Age. Women, Bodies, Generations, Bloomington: Indiana University Press 1999, S. 149-168, hier S. 156.) 16 Pia C. Kontos: „‚The painterly hand‘: embodied consciousness and Alzheimer’s disease“, in: Journal of Aging Studies 17 (2003), S. 151-170. Zu Ansätzen einer Dekonstruktion der autonomen Vorstellung von Subjektivität in der soziologischen Krankheitstheorie zu Alzheimer seit den 1990er Jahren vgl. Ann Robert131

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ternative Sicht auf den Körper theoretisch zu fundieren, die den Verlust intentionaler Handlungsfähigkeit bei Alzheimer in Frage stellt und die irreduzible Körperlichkeit des menschlichen Subjekts postuliert.17 An de Koonings später kreativer Phase, die mit seiner Alzheimer-Erkrankung zusammenfällt, verdeutlicht sie die Vorstellung von einem prozessualen, nahezu automatischen Erinnerungsvermögen des Körpers, das auf Bewegungsabläufe zurückgreifen kann, die durch rituelle Wiederholung eingeübt und im Unbewussten verankert sind. Die Vorstellung eines „Gehirns in der Hand“, de Koonings „painterly hand“ als körperlich gespeicherte Erinnerung des Malstils, wird damit zu einem Beispiel für inkorporierte Subjektivität.18 Die konstitutive Rolle von Spiegelung und Körperbild ist auch für die beiden hier analysierten Erzählungen bedeutsam: Körperbilder entstehen über Formen von Spiegelung. Dabei wird die Spiegelprojektion eines alternden, zerfallenden Körpers, dem eine einzig als Innenwelt noch vorstellbare Einheit entgegensteht, durch das integrative Moment der Paarbeziehung ergänzt. Die komplexe Verknüpfung von mentalen und körperlichen Alters- und Alzheimer-Bildern geschieht dabei über die Auffächerung des weiblichen Körperbildes in der Zeitdimension der Paarbeziehung: inkorporierte Subjektivität wird über die Spiegelung des Fremden, des Anderen als Gegenüber des gesunden Partners, dargestellt. In Draesners Erzählung taucht der Spiegel in Hans’ Schilderung der Erkrankung seiner Frau in zwei verschiedenen Bedeutungen auf. Hans beschreibt seine Befürchtung, durch sein intensives Wachen über Sarah ‚angesteckt‘ zu werden, über das Bild des Spiegels: „Ich spitze die Ohren. Manchmal bilde ich mir ein, dass sie schon ganz spitz geworden sind. Wenn ich son: „The Politics of Alzheimer’s Disease: A Case Study in Apocalyptic Demography“, in: International Journal of Health Services 20 (1990), S. 429-442; Tom Kitwood: Dementia Reconsidered: The Person Comes First. Buckingham: Open University Press 1997; Annette Leibing: „Divided Gazes: Alzheimer’s Disease, the Person within, and Death in Life“, in: Annette Leibing/Lawrence Cohen (Hg.), Thinking about Dementia. Culture, Loss, and the Anthropology of Senility, New Brunswick: Rutgers University Press 2006, S. 240–268. 17 Dabei greift Kontos auf Merleau-Pontys phänomenologische Transzendierung der Trennung von physischen und psychischen Dimensionen der Erfahrung zurück, der die Wahrnehmung in der präreflexiven Koordination von visuellen, taktilen und motorischen Aspekten von Körperbewegungen verankert. Vgl. P. Kontos: ‚The painterly hand‘, S. 161. Diese Konzeptualisierung des Körpers, die dessen Fähigkeit, wahrzunehmen und zu erleben betont, wird von Kontos mit Bourdieus Konzept des Habitus verknüpft, um den Körper wiederum in einem sozialen Umfeld zu verankern. Die Struktur des Habitus als eine unbewusste Konditionierung durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu wird dabei auf ein Verständnis von Alzheimer bezogen, das körperliche Intentionalität in den Blick nimmt und Handlungsfähigkeit weiterhin voraussetzt. 18 P. Kontos: ‚The Painterly Hand‘, S. 166. 132

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mich morgens am Spiegel bei diesem Gedanken ertappe, drehe ich den Spiegel um. Die Ärzte sagen, die Krankheit sei nicht ansteckend. Aber die Ärzte wissen nicht alles.“19 Diese Textstelle kombiniert die Vorstellung vom körperlichen Abdruck der intensiven Aufmerksamkeit im Bild der spitz werdenden Ohren mit der der Ansteckung. Anders als in der entfremdenden Abwendung vom Spiegelbild des Alters, wendet Hans sich von der Reflexion eines verrückt erscheinenden Gedankens ab. Die desintegrierende Wirkung geht hier also nicht von der reflektierten Außenwelt aus. Vielmehr dreht Hans den Spiegel um, um die mögliche Bestätigung seines aberwitzigen Gedankens nicht ‚sehen‘ zu müssen – ein Gedanke, der die tiefe innere Verunsicherung markiert, welche Sarahs Erkrankung (und die Nähe zu ihr) hervorgerufen hat. Hans bezieht die physiologische Verortung des Mitgefühls in einem bestimmten Bereich des Gehirns auf sein Leben mit Sarah. Indem er sich von ihr angesteckt fühlt, bringt er sein physisches Mitfühlen oder Einfühlen in ihre Situation zum Ausdruck. Das geht über ein intellektuelles Verstehen hinaus oder ersetzt es vielmehr. Hans‘ Reaktionen – Nachahmung, Abgrenzung, Spiegelung, Gegenbild – demonstrieren die desintegrative Wirkung der Nähe im Miteinanderleben und im Bezug zur dementen Partnerin. Das Motiv der Ansteckung wird hier ergänzt um die Theorie der Spiegelneuronen, womit der Physiologe Giacomo Rizzolatti einen Bereich des Gehirns beschreibt, der durch ein pragmatisches, vorbegriffliches und vorsprachliches Verstehen gekennzeichnet ist: „Mehr oder weniger komplizierte Formen der Nachahmung, des Lernens sowie der gestischen und sogar verbalen Kommunikation finden tatsächlich eine genaue Entsprechung in der Aktivierung bestimmter Spiegelschaltungen. [...] Dies zeigt, wie tief verwurzelt und stark die Beziehung ist, die uns mit den anderen verbindet, oder wie bizarr es ist, sich ein Ich ohne ein Wir vorzustellen.“20

In einem zweiten Sinne taucht das Motiv des Spiegels als Bild für die Angst und Scham der Leute im Ort auf, denen Sarahs ungewöhnliches Verhalten auffällt und die „keine Erfahrung haben, mit dem Auseinanderfallen“, wie Hans es beschreibt: „Sie schämen sich des Spiegelbildes. Ich schließe die Augen, spitze die Ohren.“21 Im Kontrast zur Funktion der Spiegelung in der Binnenwelt des Paares ist Sarah für die Außenwelt ein Spiegel der Scham. Im Sinne des ‚Spiegelstadiums des hohen Alters‘ reflektiert diese Bedeutung des

19 U. Draesner: Ichs Heimweg, S. 72. 20 Giacomo Rizzolati, Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 15. 21 U. Draesner: Ichs Heimweg, S. 77. 133

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Spiegels die Angst der Außenwelt vor der Veränderung, die Sarahs Erkrankung – weniger ihr Alter an sich – repräsentiert. Auch Hans’ Bilder der Spiegelung als Ansteckung sind Bilder des Unbehagens. Sie ergeben sich jedoch aus einer Perspektive der Nähe, nicht aus der Distanz und Abwehr. In Hans’ Bildern für das Zusammenleben mit Sarah sind desintegrative mit integrativen Erfahrungen der Spiegelung verbunden, die zu einer auf das Paar bezogenen Subjekterfahrung erweitert wird und dabei sowohl abwehrende als auch lustvolle Erfahrungen umfasst. In dem Bild, mit dem Draesners Erzählung endet, wird schließlich ein zeitlich zusammengesetztes Körperbild Sarahs entworfen, in dem sie „fast jung“ erscheint und auf das ich nun zurückkommen möchte. Hans beschreibt Sarah in der Bewegung, in der sie ihm über das Dach hinweg entgegen rutscht: „Da gleitet sie, lacht, als wäre sie ein Vogel, als fliege sie, als kenne sie mich, komme wie ein Kind auf dem Sandplatz die Rutsche herunter, in den Arm der Mutter, [...] Sarah zwitschert, ein Vogel, der alles ist und nichts, und ich frage mich, was diese Krankheit bedeutet, die nicht sie, Sarah, hat, sondern die, als Krankheit, Sarah hat, von der ich nur höre und sehe, was außen passiert, und fühle schon den Körper meiner Frau in den Armen, kalt wie ein Blatt, ein Körper, der zittert und sehnig ist, ausgetrocknet, als trockne mit den Gedanken und dem Sprechen auch die Seele weg, doch dem ist nicht so, denn ihre Augen leuchten, [...] und da ist sie, in diesem Augenblick.“22

Dieses Bild wird zu einer Momentaufnahme, in der Sarah zugleich jung und alt, fröhlich und gebrechlich erscheint. Die konjunktivische Form geht über in den Indikativ, wodurch Sarah in der Bewegung real wird. In dem Augenblick, den Hans als Reminiszenz festhält, ist sie präsent als seine Frau. Die Bedeutung der Krankheit, über die er reflektiert, wird dabei nicht ‚normalisiert‘, die unmögliche Vermittlung zwischen der Außen- und Innenwelt Sarahs bleibt in Hans' Blick. Aber sie tritt hinter den Blickwechsel des Paares, den Hans kommentiert – „denn ihre Augen leuchten“ – für den Augenblick, den er benennt und in dem er seine Frau als anwesend erfährt – „und da ist sie, in diesem Augenblick“ – zurück. In Munros Erzählung wird Fiona mit zwei anderen Frauen gespiegelt, mit ihrer Mutter und der jüngeren Frau Aubreys. Zu Beginn der Erzählung wird die Überblendung der jungen mit der alten Fiona über ihre Spiegelung mit der Mutter erreicht. Die Mutter erscheint dabei als Vorausschau auf die alte, siebzigjährige Fiona, wobei die junge Fiona lediglich über ihre Sprache und ihre Lebhaftigkeit evoziert, jedoch nicht visualisiert wird: „Her mother was Ice22 Ebd., S. 80-81. 134

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landic – a powerful woman with a froth of white hair and indignant far-left politics.“23 Erst als ältere Frau wird auch Fiona porträtiert: „She was a tall, narrow-shouldered woman, seventy years old but still upright and trim, with long legs and long feet, delicate wrists and ankles and tiny, almost comical looking ears. Her hair, which was light as milkweed fluff, had gone from pale to blond to white somehow without Grant's noticing exactly when, and she still wore it down to her shoulders, as her mother had done.“24

Der Verweis auf die Mutter bringt zum einen die beiden Zeitdimensionen miteinander in Bezug. Er führt das Generationenbild des Alterns ein, wobei direkt im Anschluss auch die Differenz zur Mutter betont wird. Zum anderen erscheint das Bild der alten Fiona als vollständig: der Vergleich mit der Mutter akzentuiert diesen Aspekt des Alterungsprozesses in den aufeinanderfolgenden Szenen der jungen – unsichtbaren – und der vollständig visualisierten alten Fiona. Ihre Beschreibung als mit sich selbst identisch umfasst widersprüchliche Elemente, die auch von der Erkrankung nicht aufgehoben werden: „She looked just like herself on this day – direct and vague as in fact she was, sweet and ironic.“25 Die Überblendung von jüngerer und älterer Fiona am Erzählbeginn führt zugleich auch die Wahrnehmungsperspektive Grants ein. Aus der Zeitdimension der langwährenden Beziehung altert Fiona für ihn unmerklich: das weiß gewordene Haar fällt ihm nicht auf. In der zweiten Spiegelung Fionas, in der Grant sie mit der noch jüngeren Frau Aubreys vergleicht, reflektiert er diesen zeitlichen Blick, der für ihn die junge mit der älteren Fiona zusammenfügt. Während ihm an Marian die Widersprüche eines zusammengesetzten Körpers, der Spuren von Jugend und Alter trägt, auffallen (faltiger Hals, jugendliche volle Brüste26), ist sein Bild von Fiona ein einheitliches. Die Möglichkeit einer solchen Einheit liegt jedoch in der zeitlich dimensionierten Perspektive des Betrachters und ist nicht Effekt des Körpers allein. „Very few kept their beauty whole, though shadowy, as Fiona had done. And perhaps that wasn’t even true. Perhaps he only thought that because he’d known Fiona when she was young. Perhaps to get that impression you had to have known a woman when she was young.“27

23 24 25 26 27

A. Munro: The Bear Came Over the Mountain, S. 275. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277. Ebd., S. 314. Ebd. 135

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Schlussbetrachtungen Beide Erzählungen entwerfen somit Alternativen zu der Entfremdungserfahrung des Alters als Auseinandertreten von Körperbild und Innenwelt. In der Zuspitzung des dualistischen Altersbildes über die Krankheit Alzheimer wird dabei zum einen die desintegrative Erfahrung des Alters als Spiegelung einer Außenwelt, die nicht mehr mit der inneren Erfahrung in Einklang zu bringen ist, modifiziert. Dies geschieht in beiden Erzählungen durch eine Erweiterung des individualistischen, autonomen Subjektbegriffs um mimetische und metonymische Formen der Reflexion im Gegenüber des Partners. In Draesners Erzählung liegt der Fokus auf der mimetischen Spiegelung, die der desintegrativen Krankheitserfahrung auch integrative Momente entgegensetzt. In Munros Erzählung liegt der Fokus auf der stellvertretenden Weiterentwicklung der Paarbeziehung durch den gesunden Partner. In beiden Erzählungen werden Körperbilder der an Alzheimer erkrankten Frauen entworfen, die aus dem Blickwinkel der zeitlichen Ausdehnung der Paarbeziehung Jugend und Alter miteinander verknüpfen. In Draesners Erzählung werden dabei die Innensicht der Erkrankten und die Außensicht des Partners aneinander angenähert, um so im abschließenden Bild und Blickwechsel des Paares die Momentaufnahme einer nonverbalen Verständigung zu evozieren. In Munros Erzählung bleibt der Blick auf die erkrankte Frau ein distanzierter. Dadurch wird einerseits die Bewegung und Entwicklung des Partners fokussiert, der in einer Situation der Fremdheit stellvertretend neue Formen des Zugangs zum Gegenüber entwickelt. Andererseits präsentiert die Außensicht auf Fiona in Munros Erzählung ein einheitliches und vollständiges Körperbild der alten Frau, das in seiner Komposition aus intersubjektiven, zeitlichen und generationellen Komponenten sichtbar gemacht wird. In Draesners Erzählung ermöglicht somit ein Moment der Verständigung eine Annäherung an die Alzheimer-Erkrankung, die eine integrative Krankheitserfahrung und -wahrnehmung im Körperbild der alten Frau verankert. Auch in der distanzierteren Repräsentationsweise Munros erhält die Darstellung von Alzheimer ein integratives Moment, hier über die Komposition eines einheitlichen Körperbildes der alten Frau, selbst in der Erkrankung. Beide literarischen Erzählungen entwerfen Bilder von der Alterskrankheit, die sich der Metaphorisierung von Alzheimer als einer grundsätzlichen, Differenzen einebnenden, Pathologisierung des Alters widersetzen. Draesner wählt dabei eine mimetische Repräsentationsweise, die es ermöglicht, desintegrative und integrative Krankheitserfahrung im Rahmen der Paarbeziehung gegenüberzustellen. Das neue Bild, das sie dabei präsentiert, ist die Momentaufnahme, die im Blickwechsel des Paares die an Alzheimer erkrankte Frau als jung und als präsent erscheinen lässt. Munros metonymische Repräsentations136

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form wählt den Blick auf die erkrankte Frau über die Wahrnehmung des Partners. Das Bild, das sich hieraus ergibt, ist ein Kompositum der jungen und der alten Fiona, dessen Kontinuität aus der Entwicklung und der zeitlichen Ausdehnung der Paarbeziehung entsteht. Draesners und Munros Geschichten über Alzheimer schildern die Erkrankung als Ausnahmesituation, die hohe Anforderungen an den gesunden Partner stellt und verweigern eine ‚Normalisierung‘ der Krankheit im Zusammenhang mit dem Alterungsprozess. In ihrer differenzierenden Sicht auf die Krankheit im Rahmen der Paarbeziehung blenden beide Erzählungen jedoch die Reaktionen der Außenwelt weitgehend aus; diese erscheint lediglich schemenhaft. In Draesners Erzählung wird sie in Hans’ Bericht über die Abwehrreaktionen der Leute im Ort erwähnt, die sich vor Sarahs spiegelbildlicher Funktion für ihr eigenes Leben fürchten und die – in Hans’ Worten – „keine Erfahrung haben, mit dem Auseinanderfallen“28. In Munros Erzählung ist die Außenwelt in Form des Altenheims und der Krankenschwester Kristy präsent, die Fionas Alzheimer-Erkrankung im Verhältnis zu einem insgesamt privilegierten Leben relativiert: „They had got through life without too much going wrong. What they had to suffer now that they were old hardly counted.“29 Die abgeklärte, unsentimentale Einschätzung in The Bear Came Over the Mountain und die Distanzhaltung der Außenwelt in Ichs Heimweg deuten auf unterschiedliche Verdrängungsmechanismen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Alzheimer hin, während beide Erzählungen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen auf der Ebene der privaten Paarbeziehung vollziehen.

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Die Sc hw äc hung des Körpers im La uf de r Ze it – z ur Be de utung der Te mporalitä t in de n Körperk onze pte n pfle ge be dürftiger Pers one n ULRIKE MANZ

Einleitung In der öffentlichen Debatte über den Körper, so lässt sich unschwer feststellen, dominiert derzeit ein Entwurf von Körper als bewusst gestaltbares Objekt, als individuell gestaltbarer Handlungsraum. Körper als Orte der Inszenierung und Optimierung werden uns insbesondere in den Medien tagtäglich präsentiert und, gerade in den letzten Jahren, zunehmend im Format der Unterhaltungsmedien inszeniert. Nicht nur in Wissenschaftssendungen oder auf den Wissenschaftsseiten bestimmter Zeitungen wird über neue Möglichkeiten der Körperbearbeitung berichtet, sondern die Optimierung des Körpers scheint sich auch zu einem geeigneten Themenfeld für die Unterhaltungsbranche entwickelt zu haben.1 Die thematische Bandbreite reicht hier von Eingriffen in die materielle Basis des Körpers wie beispielsweise Schönheitsoperationen oder pränatale Eingriffe bis hin zu Fragen der Bekleidung, der Gesten usw.. Sendungen wie The Swan – Endlich schön, Germany‘s Next Topmodell oder Mein Baby lassen Techniken der Optimierung des Körpers zu einem festen Bestandteil der massenmedial vermittelten Unterhaltung werden. Der Körper gerät in diesen Inszenierungen zu einem gestaltbaren, formbaren

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Vgl. Paula-Irene Villa: „‚Endlich normal!‘ Soziologische Überlegungen zur medialen Inszenierung der plastischen Chirurgie“, in: Ulla Wischermann/Tanja Thomas (Hg.), Medien - Diversität – Ungleichheit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 87-103; Andrea Seier/Hanna Surma: „SchnittStellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN“, in: Paula-Irene Villa (Hg.), schön normal. Manipulationen am Körper als Technologie des Selbst, Bielefeld: transcript 2008, S. 173-198. 139

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und in seiner Begrenzung sich auflösenden Projekt.2 Angesichts dieses virulenten Optimierungsdiskurses stellt sich die Frage, welche Körperkonzepte diejenigen Individuen entwickeln, die sich in Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Verfall ihres Körpers befinden. Denn die Erfahrungen eines fortschreitenden und unumkehrbaren Prozesses der Schwächung des Körpers in der Alltagswelt und der an Inszenierung und Optimierung ausgerichtete medial vermittelte Körperdiskurs stehen in einem Widerspruch zueinander, der, so ist zu vermuten, spezifische Vermittlungs- und Bearbeitungsleistungen der betroffenen Individuen verlangt. In meinem Beitrag möchte ich deshalb der Frage nach gehen, welche Körperkonzepte Personen entwickeln und formulieren, die den skizzierten Optimierungsanforderungen nicht entsprechen können, da sie sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit dem Verfall des eigenen Körpers befinden. Hierzu sollen einleitend zunächst die der Fragestellung zugrundeliegenden Begrifflichkeiten „körperlicher Verfall“ und „Körperkonzepte“ umrissen werden. Im Anschluss hieran wird die Problemstellung konkretisiert anhand der Frage nach der Bedeutung von Zeitlichkeit für pflegebedürftige Personen, um hierauf aufbauend abschließend einige Thesen zu deren Körperkonzepten zu formulieren.

Begriffliche Überlegungen: Über den Verfall und die Konzepte Spricht man vom „körperlichen Verfall“ des Menschen, so weckt dies zumeist negative Assoziationen. Diese Begrifflichkeit erscheint zu drastisch, zu technisch, zu wenig einfühlsam, um die körperlichen Prozesse der vom „Verfall“ betroffenen Menschen zu beschreiben. Trotz dieser zunächst negativen Affek2

Allerdings beschränken sich diese Art Inszenierungen keineswegs auf die mediale Sphäre. So verweisen Thomas Alkemeyer und Robert Schmidt beispielsweise auf die Herstellung fluider Körperkonzepte im öffentlichen Raum, während Autorinnen wie Nina Schuster die Bedeutung des Sports hervorheben. Vgl. Thomas Alkemeyer/Robert Schmidt: „Habitus und Selbst. Zur Irritation der körperlichen Hexis in der populären Kultur“, in: dies. et al. (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK 2003, S. 77-102; Nina Schuster: „Paradies Fitness. Körper- und Gesundheitsbilder im gesellschaftlichen Wandel“, in: Elisabeth Rohr (Hg.), Körper und Identität, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2004, S. 161-181. Die Akzentuierung auf die mediale Vermittlung des „optimalen Köpers“ resultiert somit nicht aus einem Alleinstellungsmerkmal des medialen Diskurses sondern vielmehr aus der herausragenden Bedeutung der Medien in den von mir untersuchten Lebensräumen. Denn pflegebedürftige Personen nehmen aufgrund ihrer auch räumlichen Beschränkung zumeist intensiv am medialen Diskurs teil, vorwiegend am Fernsehen, so dass sich hier Alltagspraxis und medialer Diskurs eng verzahnen.

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te eröffnet die Wortwahl meines Erachtens aber dennoch einen analytischen Zugang zu spezifischen körperlichen Prozessen, die in der Begrifflichkeit des „Verfalls“ sprachlich gebündelt und so beschrieben werden können. Denn „Verfall“ impliziert erstens die Erfahrung einer allmählichen Schwächung des Körpers. Diese zunehmende Schwächung, diese auch als „Gebrechlichkeit“ zu bezeichnende Veränderung des körperlichen Befindens, verweist auf ein Kontinuum. Der „Verfall“ beinhaltet einen Verlaufsprozess, der unterschiedliche Bereiche der Lebenswelten betrifft. So führt die Schwächung des Körpers zu einer räumlichen Veränderung, sowohl im Hinblick auf die privaten Räume (z.B. Pflegebett im Wohnzimmer) als auch auf die Außenwelt, denn nicht mehr jeder Ort kann unabhängig besucht werden. Gleichzeitig verändert sich auch die alltägliche Zeitstruktur, es kommt beispielsweise zu einer zeitlichen Verlangsamung von Alltagsabläufen. Und schließlich unterliegt auch das soziale Gefüge des geschwächten Körpers zahlreichen Veränderungen, zum Beispiel durch Einschränkungen der Fähigkeit zur Kommunikation. Zeit, Ort und soziale Beziehungen als zentrale Dimensionen alltagsweltlicher Erfahrungen werden somit im Zuge des körperlichen Verfalls neu strukturiert und miteinander in Beziehung gesetzt.3 Zum zweiten impliziert der körperliche Verfall das Moment der Pflegebedürftigkeit. Denn ab einem bestimmten Grad des körperlichen Verfalls bedürfen die Betroffenen der Assistenz bei der Pflege ihres Körpers, d.h. sie benötigen ein Gegenüber, das ihre elementaren Bedürfnisse erkennt und befriedigt. Insofern lässt jede Pflegebedürftigkeit ein Gegenüber erwarten oder erhoffen, welches den Betroffenen zunehmend die Pflegetätigkeiten für ihren Körper abnimmt. Der „Verfall“ des Körpers ist in diesem Sinne immer als ein interaktiver Prozess zu verstehen, egal wie eng oder locker auch immer die Bindungen sein mögen.4 3 4

Vgl. Julia von Hayek: Hybride Sterberäume in der reflexiven Moderne, Hamburg: LIT 2006, S. 25. In den „Disability Studies“ wird dieses interaktive Moment vorwiegend aus der Perspektive derjenigen bearbeitet, die auf Assistenz angewiesen sind (vgl. z.B. Bernd Ahrbeck (Hg.): Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesensein, Stuttgart: Kohlhammer 2004). Demgegenüber rückt die in Deutschland relativ junge Disziplin der Pflegewissenschaften vor allem die Pflegenden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei wird beispielsweise das Pflegeverhältnis als Abhängigkeitsverhältnis problematisiert (vgl. Christian Grieß: Gewalt in der Pflege von Angehörigen. Ursachen und Möglichkeiten der Prävention und Intervention, Saarbrücken: VDM 2007) oder es werden die Beziehungsverflechtungen und -verschiebungen im Pflegeprozess zum Gegenstand gemacht (z.B. Josefine Heusinger: „Ich lass mir nicht die Butter vom Brot nehmen!“ Aushandlungsprozesse in häuslichen Pflegearrangements, (elektronische Ressource) 2005; Luitgard Franke: Demenz in der Ehe: Über die verwirrende Gleichzeitigkeit von Ehe- und Pflegebeziehung, Frankfurt a.M.: Mabuse Verlag 2006). 141

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Drittens schließlich birgt der Prozess eines körperlichen Verfalls immer auch das Moment der Vergänglichkeit und damit auch der Endlichkeit menschlichen Lebens. Die Vergänglichkeit des Körpers wird mit dem Begriff des „Verfalls“ allerdings nicht als eine Art ontologische Größe gesetzt, als ein feststehender Endpunkt, sondern vielmehr als ein fortwährender aktiver Prozess betrachtet, als eine Art „embodiment“ der Vergänglichkeit. Personen, die sich in Auseinandersetzung mit dem Verfall ihres Körpers befinden, sind, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, konfrontiert mit einer kontinuierlichen Schwächung ihres Körpers sowie mit dessen Pflegebedürftigkeit und Vergänglichkeit. Mich interessiert nun, welche Körperkonzepte Individuen im Zuge dieser Auseinandersetzung mit Verfall entwickeln oder, anders formuliert, welche Körperkonzepte angesichts eines kontinuierlichen Verfalls des eigenen Körpers hervorgebracht werden und zum Tragen kommen. Dabei spreche ich von Körperkonzepten als analytische Kategorie, die sowohl das jeweilige Körperbild als auch das Körperschema umfasst. Körperbilder resultieren aus dem Körpererleben und der Körperwahrnehmung5, während unter Körperschema die Vorstellung vom eigenen Körper als Objekt in Raum und Zeit verstanden wird.6 Es sind nun gerade die Kombination dieser beiden Perspektiven und deren Zusammenspiel, die mich interessieren. Es geht also nicht nur darum zu klären, wie die Individuen ihren eigenen Körper erleben, sondern auch darum, wie dieses Erleben in Raum und Zeit eingeordnet wird. Der ursprünglich aus der Psychologie stammenden Begriff „Körperkonzepte“ umfasst genau diese beiden Aspekte der Eigenwahrnehmung und der Situierung – die hier allerdings immer bezogen auf das Individuum und somit als Teil des „Selbstkonzepts“ verstanden werden. Hieran anschließend soll der Begriff des Körperkonzeptes soziologisch erweitert werden, indem die Selbstkonzepte in ihrer Verbindung mit der Ordnung des Sozialen betrachtet werden.7 Bestandteil dieser Ordnung bilden kulturelle 5

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Einen ideengeschichtlichen Abriss zum Begriff des Körperbildes liefert Erwin Lemche: Das Körperbild in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, Eschborn: Dietmar Klotz 1993. Demnach besteht das Körperbild „aus den körperbezogenen Repräsentanzen des Selbstgefühls. Es umfasst affektiv gefärbte Engrammata von Körperoberfläche, Körperinnerem. Affektzuständen, motorischen Aktivitäten und Erfahrungen, die mit dem Körpererleben in Zusammenhang stehen.“ (E. Lemche, Körperbild, S. 108). Vgl. auch Bärbel Tischleder: body trouble. Entkörperlichung, Whiteness und das amerikanische Gegenwartskino, Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 2001, S. 47 ff. Vgl. Jürgen Bielefeld: „Zur Begrifflichkeit und Strukturierung der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper“, in: ders. (Hg.), Körpererfahrung, Göttingen: Verlag für Psychologie Hogrefe 1986, S. 3-33. Diese Verbindung ist als eine doppelläufiger Prozess zu verstehen: einerseits ist der Körper Objekt kultureller Formung, andererseits auch Beteiligter an der Herstellung sozialer Ordnungen. Zum Doppelcharakter des Körpers als Objekt und Agens sozialer Ordnungen vgl. aus handlungstheoretischer Perspektive Mi-

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Konzeptionen von Körpern, die die individuelle Wahrnehmung regulieren und hervorbringen oder anders gesagt: „Es sind Körper-Konzepte, die das Wissen über Körper strukturieren und konfigurieren.“8 Damit verweist der Begriff Körperkonzepte auch auf die Strukturiertheit des Wissens über den Körper, welches beispielsweise in Expertenkreisen wie der Medizin erzeugt und massenmedial repräsentiert und vermittelt wird. Verwendet man den Begriff dementsprechend in seiner doppelten Bedeutung als Gleichzeitigkeit von Selbstkonzept und diskursiv erzeugten Wissensbeständen, so eröffnet sich hierüber meines Erachtens ein Zugang, der es ermöglicht, sich der somatisch erfahrbaren Dimension von Körperlichkeit in ihrer diskursiven Verflechtung anzunähern.

Körperkonzepte pflegebedürftiger Personen Die Frage nach den Körperkonzepten pflegebedürftiger Personen soll im Folgenden anhand der Bedeutung von Zeitlichkeit konkretisiert werden. Diese Zuspitzung ergibt sich zum einen aus der Notwendigkeit einer Begrenzung der Thematik, zum anderen aber auch aus der Thematik selbst, da der körperliche Verfallsprozess immer auch einen Zeitverlauf, eine Chronologie impliziert. Vorgestellt werden Interviewpassagen aus einem derzeit laufenden Forschungsprojekt über Körperkonzepte von Akteurinnen und Akteuren in häuslichen Pflegearrangements.9 Befragt wurden fünfzehn pflegebedürftige Personen, zumeist MS-Kranke, sowie deren Angehörige und Pflegekräfte, wobei ich mich in diesem Beitrag auf die Aussagen der Betroffenen konzentriere. Deren Äußerungen zu ihrem Verhältnis von Körper und Zeit werden im Folgenden rekonstruiert und diskutiert.

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chael Meuser: „Körper und Sozialität. Zur handlungstheoretischen Fundierung einer Soziologie des Körpers“, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper, Konstanz: UVK 2002, S. 19-44. Aus praxeologischer Perspektive vgl. Stefan Hirschauer: „Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns“, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2000, S. 73-91. Franziska Frei Gerlach: „Körperkonzepte in der Geschlechter-Forschung: Rückblicke und Ausblicke“, in: dies. et al. (Hg.), Körperkonzepte, Münster: Waxmann Verlag 2003, S. 9-22. Das Projekt ist am Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main angesiedelt. Ziel ist die Erforschung der Körperkonzepte von Individuen, die sich in Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Verfall des Körpers befinden. Ausgehend von praxistheoretischen Überlegungen werden Daten aus fünfzehn Pflegesettings mithilfe eines Methodenmixes aus Interviews und teilnehmender Beobachtung erhoben. Die Laufzeit des Projektes endet 2011. 143

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Pflegebedürftige Personen, so lässt sich zunächst einmal festhalten, sprechen viel und häufig über das Phänomen der Zeit. Insbesondere in den Beschreibungen der alltäglichen körperzentrierten Handlungsabläufe wird die Verbindung von Körper und Zeit in dreifacher Weise thematisiert: Erstens erscheint der Körper als Akteur für Entschleunigung, d.h. der körperliche Verfall führt zu einer Verlangsamung alltäglicher Routinehandlungen. Zum zweiten erscheint der Körper als Strukturelement, d.h. der Verfall des Körpers bringt eine spezifische Rhythmisierung des Alltags hervor. Und drittens schließlich indiziert der körperliche Verfall eine spezifische Positionierung im Zeitverlauf.

„Es dauert halt alles so ewig lang“: Verlangsamung Pflegebedürftige Personen, deren Körper einen kontinuierlichen Schwächungsprozess durchlaufen, sind damit konfrontiert, dass ihre Körperpraxen sich zeitlich immer weiter ausdehnen. Folgendes Zitat veranschaulicht dies am Beispiel der Bedingungen und Voraussetzungen, die es braucht, um „nur“ eine Umplatzierung des Körpers von einem Ort zum anderen vorzunehmen: „Gut, ich habe einen Elektrorollstuhl. Aber da muss ich auch erst mal rein, dann muss ich mich nachher umziehen, je nach Wetter. Die Tür auf und zu, Schuhe an. Gut, ich kann mich allein da reinsetzen, aber das ist eine Sache, das braucht für mich viel Vorbereitung. Dass ich dann da noch einen Gehwagen hinstelle, dass ich dann danach da später auch wieder rauskomme. Und im rechten Winkel zum Elektrorollstuhl dann den Aktivrollstuhl. Und dann noch den Stock, dass ich dann den Gehwagen so hin und her schubse, wie ich es brauche. Und ich muss topfit sein. Ich muss mich dann wirklich hier auch konzentrieren, ich darf nicht gerädert oder geschafft sein. Ich darf keine Schuhe anhaben, weil dann kriege ich die Füße nicht gehoben. Und das sind so tausend Kleinigkeiten, die müssen dann so sein, dass das mit meinem Körper dann noch so funktioniert.“ (Interview Becker: 25)

Die hier sehr plastisch beschriebene körperbasierte Tätigkeit der Verlagerung des Körpers im Raum erfordert neben der Konzentration und Anstrengung eine Ausdehnung des hierfür erforderlichen zeitlichen Rahmens um das Vielfache der zuvor gelebten Praxis eines gesunden Körpers. Die Schwierigkeit für MS-Patientinnen und -Patienten besteht vor allem darin, dass sie sich der früheren Zeiträume erinnern und diese durchaus in Bezug zu den aktuellen Zeitspannen setzen. Die Verlangsamung alltäglicher Tätigkeiten ist für sie also als ein körperfundierter Prozess der zeitlichen Umstrukturierung wahrnehmbar. Dieser Prozess wird in der Regel als belastend empfunden sowohl im Hinblick auf die eigene Zeitplanung als auch im Hinblick auf soziale Beziehungen. So empfinden die befragten Personen ihren Alltag häufig als stressig, sehen sich in „Zeitnot“ und freuen sich über Zeit, die sie einsparen kön144

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nen. Eine der Interviewten, die nur noch über Magensonde ernährt werden kann, äußert sich beispielsweise dahingehend, dass sie nun hierdurch sehr viel Zeit spare: „Ich hab mich erst mal daran gewöhnen müssen, aber inzwischen: wie viel Zeit man spart! Es wird einem erst klar, wie viel Zeit man dafür verwendet, dass man isst am Tag, spülen auch alles, das spart dann sehr viel.“ (Interview Paulsen, S. 6) Angesichts der Tatsache, dass die von mir interviewten Personen ihren Alltag zumeist allein mit Pflegekräften zu Hause verbringen, scheint diese effizienzorientierte Wahrnehmung von Zeit als „knappes Gut“ zunächst befremdlich. Bedenkt man aber die oben beschriebene zeitliche Ausdehnung körperbasierter Tätigkeiten, so wird doch plausibel, wieso pflegebedürftige Personen durchaus in „Zeitnot“ geraten können. Hier zeigt sich ein nicht nur individuell erlebtes, sondern vor allem auch ein soziales Problem. Denn die beschriebene zeitliche Ausdehnung körperlicher Tätigkeiten und Notwendigkeiten läuft dem entgegen, was Heuwinkel als „Beschleunigungsgesellschaft“ bezeichnet hat.10 Demzufolge zeichnen sich moderne Industriegesellschaften durch Beschleunigungsprozesse in nahezu allen relevanten Lebenssphären aus: Arbeit, Familie, Mobilität usw. unterliegen dem Diktat der Beschleunigung, so dass das individuelle Zeitmanagement zu einer der wesentlichen Anforderungen an die Individuen gerät und als Garant einer gelungenen Lebensführung betrachtet wird. Auch wenn diese Analyse einer alles diktierenden Beschleunigungslogik als zu holistisch und zu wenig differenziert kritisiert werden kann – es existieren durchaus gesellschaftliche Bereiche, die eher eine Entschleunigung verfolgen, wie beispielsweise das Recht oder auch die Verwaltungslogik – so macht die Tendenz einer umfassenden gesellschaftlichen Beschleunigung doch aufmerksam auf die sozialen Probleme, die MS-PatientInnen aus ihrer körperbasierten Verlangsamung alltäglicher Handlungen erwachsen können. Diese betreffen sowohl den Bereich der Arbeitswelt als auch die privaten Beziehungen. In der Arbeitswelt, so zeigen die Interviews deutlich, können die Betroffenen nur über einen sehr kurzen Zeitraum dem geforderten Tempo standhalten, sie scheiden in der Regel aus ihren Berufen aus, sobald sich die ersten körperlichen Verschlechterungen zeigen. Eine der Interviewten schildert das Problem wie folgt: „Da hat mein Chef gesagt: das geht nicht, nach der Diagnose, weil, nun ja, wie viel Zeit allein durch die vielen Toilettengänge verloren gehen würde, und wie unkollegial ich dann wäre. Wir sollten alle 170 Prozent arbeiten und das ginge dann ja nicht mehr.“ (Interview Schneider, S. 5)

10 Ludwig Heuwinkel: Umgang mit Zeit in der Beschleunigungsgesellschaft, Schwalbach: Wochenschauverlag 2006. Siehe auch Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 145

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In der Interviewpassage wird zweierlei deutlich: zum einen erfordert der Arbeitsplatz einen vollständigen Leistungseinsatz, und zum anderen wird die Nichterfüllung dieses Einsatzes als gegen Andere gerichtet gewertet – „wie unkollegial ich dann wäre“. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Betroffene nur wenige Wochen nach der Diagnose mit 34 Jahren ihren Antrag auf Frühberentung gestellt und die Firma verlassen hat. Soziale Isolation und Konflikte bringt die Verlangsamung aber auch im privaten Bereich mit sich. Denn PartnerInnen, Freunde und Freundinnen, Kinder und Pflegekräfte, alle die am Pflegesetting teilhabenden Personen müssen sich an die Verlangsamung von Abläufen gewöhnen und diese mittragen. Dass dies häufig nicht konfliktfrei verläuft, verdeutlicht folgendes Zitat: „Das ist ja alles ein Akt im Bad. Da sagt mein Sohn dann immer: ja, ich helfe ja, aber es dauert immer alles so lang bei Dir! Aber der macht sich ja keine Vorstellung, was das für mich im Bad für eine Belastung ist, was für ein Akt, das immer alles!“ (Interview Becker, S. 12) Die Patientin empfindet die körperliche Pflege als anstrengend, der Sohn die Langsamkeit ihrer Handlungen als zeitraubend im wahrsten Sinne des Wortes und damit ebenfalls als aufreibend und anstrengend. Diese Art des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Zeitvorstellungen der an den Pflegesettings beteiligten Personen wird in den Interviews von den Betroffenen in vielen Erzählungen als belastend für die Bewältigung des gemeinsamen Alltags beschrieben. Die kontinuierliche Verlangsamung alltäglicher Tätigkeiten im Laufe des Pflegeprozesses stößt auf Unverständnis der beteiligten Personen und bietet offensichtlich Anlass für zahlreiche Konflikte. Einen Ausweg aus diesen Konfliktkonstellationen eröffnet sich lediglich den älteren Patientinnen und Patienten, die ihre körperbasierte Verlangsamung als Teil eines Alterungsprozesses deuten können. So heißt es: „Sagen wir mal so, je älter ich werde, desto besser geht es. Also ich will´s mal so formulieren: Früher hab ich mich geärgert oder war wütend, dass ich was nicht konnte, aber als älterer Mensch, dann gehört das dazu. Und wenn ich jetzt langsamer gehe, dann kann ich mir sagen, ich bin 64 Jahre, ich kann und darf auch langsamer sein.“ (Interview Friedrich, S. 6) Alter, so wird hier deutlich, fungiert offensichtlich als eine Lebensphase, in der es zu einer Passung der erwarteten und der tatsächlich praktizierten Zeittempi kommen kann. Die vorher beschriebene Konflikthaftigkeit unterschiedlicher Zeiterwartungen wird hier aufgelöst, so dass für die Betroffenen eine Entspannung zu beobachten ist, die sich nun mit ihrer Verlangsamung „richtig fühlen“ im eigenen Körper.

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Zeitrhythmen – Zeitstruktur Die Schwächung des Körpers führt nicht nur zu einer Verlangsamung täglicher Abläufe, sondern impliziert auch eine spezifische Handhabung der Zeitstrukturen. Diese sind gegenwärtig in der Regel linear organisiert, d.h. die Zeiträume werden über einem festen Anfang und ein festgelegtes Ende bestimmt, so dass Zeit auch häufig als „Zeitstrahl“ oder „Zeitlinie“ beschrieben wird.11 Die Zeiteinteilungen auf dieser Linie orientieren sich vorwiegend an Festlegungen aus der Erwerbsarbeit, aber auch die Freizeitorganisation ist zumeist linear organisiert, beispielsweise durch die Teilnahme an Sportveranstaltungen mit einem festen Anfang und Ende oder das Anschauen eines Films mit klaren Zeitverläufen. Pflegebedürftige Personen nun sehen sich in der Handhabung von Zeitstrukturen mit dem Problem konfrontiert, dass sie ihre Strukturierung der Zeit im hohen Ausmaß von den Bedürfnissen und Erfordernissen ihrer Körper aus gestalten müssen. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Formen der zeitlichen Strukturierung des Alltags pflegebedürftiger Personen in den Interviews ausmachen. Zum einen erfolgt eine körperbasierte Zeiteinteilung der alltäglichen Handlungsabläufe im linearen Sinne, wie folgendes Zitat veranschaulicht: „Wir haben so ein System gefunden, dass wir zwischen 8.00 und 11.00 Uhr gewissermaßen unsere beiderseitige Pflege miteinander verzahnen. Also um vom Bett aufzustehen muss sie in den Rollstuhl rumgehoben werden, dann geht sie ins Bad und ich setze sie auf die Toilette. Dann mache ich Kaffee. Wenn der Kaffee fertig ist, geht sie in den Rollstuhl. Trinkt Kaffee, denn der Kaffee dient dazu, die Verdauung in Gang zu kriegen. Und dann isst sie und ich füttere sie. Und während sie noch Kaffee trinkt, gehe ich ins Bad. Und dann geht sie ins Bad und ich helfe ihr beim Waschen und beim Zähneputzen. Sie kann sich obenrum noch alleine anziehen. Ach ja natürlich dann auch die Hosen, Strümpfe und Schuhe anziehen. Also es ist alles so eine Kette von Abfolgen.“ (Interview Müller: S. 3/4)

Die Verrichtung der Tagesabläufe „Waschen, Anziehen, Frühstücken“ erstreckt sich hier über drei Stunden, die von dem Betroffenen als klar umrissener Zeitabschnitt mit einer Abfolge spezifischer Tätigkeiten beschrieben wird. Erzählungen dieser Art finden sich häufig in den Berichten pflegebedürftiger Personen, und sie verdeutlichen die feste Zeitstruktur, die der pflegebedürftige Körper den Betroffenen in ihrem Alltagshandeln vorgibt. Dieser Vorgabe begegnen die Betroffenen mit einer Routinisierung ihres Handelns, so dass 11 Vgl. z.B. Günther Dux: Die Zeit in der Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 56 ff; Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 316. 147

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die Schwächung des Körpers, der Verfall des Körpers, im Alltagsleben gestaltet und handhabbar gemacht werden kann. Gleichzeitig aber kann auch der Körper im Falle einer zunehmenden Schwächung diese Zeiteinheiten durchbrechen. Dies geschieht immer dann, wenn eine weitere Schwächung eintritt, beispielsweise bei MS ein neuer Schub, der eine Umstrukturierung der Abläufe erfordert. Insofern findet sich zum zweiten eine ereignisbasierte Zeiteinteilung. Diese erfordert einen flexiblen Umgang mit täglichen Routinehandlungen, die durch die aktuelle Befindlichkeit des Körpers immer wieder in Frage gestellt werden können. Bei der „Ereigniszeit“ gibt es keinen festgesetzten Anfang und kein festgesetztes Ende von Tätigkeiten, sondern das Ereignis selbst bestimmt die Dauer einer Handlung.12 Pflegebedürftige PatientInnen äußern diesen Aspekt ihrer Zeitstruktur in Verweisen wie „wenn es mir schlecht geht, funktioniert das nicht“, „wenn ich schlecht drauf bin, dauert es doppelt so lange“ oder „nach diesem Schub musste ich alles neu organisieren“. Der Körper als Akteur der alltäglichen Zeitstruktur bewirkt somit ein Spannungsfeld zwischen strengen Routinen und Offenheit, zwischen linearer und ereignisbasierter Zeiteinteilung. Allerdings, dies zeigen die Interviews, besitzt der pflegebedürftige Körper nicht nur einen Akteurstatus, sondern er ist auch umgekehrt Gegenstand zahlreicher professioneller Tätigkeiten. Pflegedienste, KrankengymnastInnen, LogopädInnen, MedizinerInnen – in der Regel ist eine ganze Gruppe von Fachkräften an der Pflege des geschwächten Körpers beteiligt. Diese Fachkräfte wiederum folgen ihrer eigenen Zeitstruktur, so dass sich hier eine dritte Variante in den Zeithandhabungen zeigt. „Der Tag beginnt um 8.00 Uhr, dass heißt also die Nachttour, die die Nacht hier sind, übergibt an die Tagestour, das ist also Frühdienst, der geht von 8.00 Uhr bis 15.00 Uhr. Meine Grundpflege geht von 8.00 bis 10.00 Uhr etwa. Ab 15.00 Uhr kommt wieder die Nachtschicht. Einmal die Woche ist mir eine zweite Hilfskraft bewilligt, da werde ich geduscht – Gott sei Dank. Ergotherapie ist dann noch zweimal die Woche.“ (Interview Paulsen, S. 5/6)

Der Tagesablauf beginnt für diese Patientin somit nicht, wenn sie aufwacht, sondern mit dem Wechsel zwischen Früh- und Nachtschicht. Dieser Wechsel aber orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der Patientin, sondern allein an den Zeitvorgaben des Pflegevereins, d.h. an den Zeitvorgaben der Erwerbsarbeit (8-Stunden-Tag). Insofern befinden sich pflegebedürftige Personen mit ihrem Alltagsrhythmus nicht jenseits einer erwerbsorientierten Zeiteinteilung. Vielmehr kommen ab dem Moment, in dem ihr Körper zum Gegenstand professioneller Tätigkeiten gerät, auch hier Mechanismen einer erwerbsorientierten Zeitstrukturierung zum Tragen. Die zeitliche Strukturierung des Alltags pflegebedürftiger Personen resultiert somit aus dem Zusammenspiel 12 Vgl. A. Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft, S. 316. 148

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zwischen dieser erwerbsorientierten linearen Zeitstrukturierung und den zuvor benannten körperbasierten Zeiteinteilungen.

Zeitverläufe Personen, deren Körper sich in einem fortlaufenden Prozess der Schwächung befinden, werden über diese Prozesshaftigkeit auch im besonderen Maße mit dem Verlauf der Zeit konfrontiert. So erfordert der zunehmende Verfall des Körpers, sei es in Schüben oder kontinuierlich, von den Betroffenen eine Positionierung in der Zeit als Zeitverlauf mit einem Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Versteht man diesen Zeitverlauf in seiner individuellen Übersetzung als Lebenslauf, so wird deutlich, worin die spezifische Herausforderung für pflegebedürftige Personen besteht. Laut Hahn sind unter einem Lebenslauf temporale Ablaufmuster zu verstehen, die als festgelegte Sequenzen von zu erwarteten Ereignissen vorliegen.13 Diese sequenziellen Festlegungen wie beispielsweise Karrieremuster machen die Lebensläufe zu zum großen Teil planbaren Zeiteinheiten, sie ermöglichen eine Erwartungssicherheit nicht nur bezüglich bestimmter Ereignisse, sondern auch bezüglich der Zeitdimension dieser Ereignisse. Prozesse der körperlichen Schwächung hingegen entziehen sich dieser Erwartungssicherheit. So können zwar auch bestimmte körperliche Ereignisse erwartet werden, wie beispielsweise ein MS-Schub, nicht aber die Dauer und auch das Ausmaß dieser Ereignisse. Insofern können pflegebedürftige Personen nicht auf temporal festgelegte Sequenzen zurückgreifen, sondern müssen in ihre biographischen Entwürfe die prinzipielle zeitliche Offenheit des Verfallsprozesses integrieren. Wie genau sie dies tun, wie sie sich im Zeitverlauf positionieren, soll im Folgenden vorgestellt werden. Ihr Verhältnis zu den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreiben die Betroffenen als den Versuch, die Gegenwart zu leben, während die anderen Zeitdimensionen in die Bedeutungslosigkeit verwiesen werden. Die Abspaltung dieser Dimensionen resultiert im Fall der Zukunft aus der zuvor genannten Unsicherheit und Offenheit des Verfallsprozesses. Sie bezieht sich zum einem auf dem Verlauf der Krankheit selbst. So äußert sich eine der Betroffenen wie folgt: „In die Zukunft denken, oder einfach nur ‚was könnte sein‘ und ‚oh Gott, das mache ich lieber nicht, weil das hätte für die Zukunft ja dann die und die Wirkung‘, das mache ich nicht, das ist mir alles so egal.“ (Interview Opitz, S. 2) Der zukünftige Krankheitsverlauf entzieht sich demnach dem Handlungsspielraum der Betroffenen, wodurch es zu einer Negierung von Zukunftsvor13 Vgl. Alois Hahn: „Biographie und Lebenslauf“, in: Hanns-Georg Brose/Bruno Hildebrand (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske und Budrich 1988, S. 91-105, hier S. 93 149

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stellungen kommt und zu einer passiven Haltung in Bezug auf die eigene Zukunftsgestaltung. Dies betrifft zum anderen auch die Gestaltung sozialer Beziehungen. So heißt es: „Wenn andere Paare sagen: ‚Wenn die Kinder groß sind, dann machen wir dies, dann machen wir das‘. Das kann ich ja alles nicht sagen, bei uns ist ja alles offen.“ (Interview Becker, S. 22) Auf Grund dieser Offenheit und der mangelnden Möglichkeit, Einfluss auf die Zukunft zu nehmen, vermeiden die Betroffenen zumeist die Auseinandersetzung mit ihrer zukünftigen Lebensplanung. Die Vergangenheit dagegen gilt als abgeschlossene Zeitspanne, die nicht erinnert werden soll, da dies den Versuch, sich ‚nur‘ auf die Gegenwart zu konzentrieren, erschweren würde: „Man – wenn ich – ich darf eigentlich gar nicht daran denken. Ich konnte doch dies und warum kann ich jetzt das nicht mehr – das ist so belastend.“ (Interview Opitz, S. 6) Es ist dieses Belastungsmoment, die Auseinandersetzung mit dem, was früher möglich war und nun für immer verloren ist, die zu einer Verdrängung der Vergangenheit führt, so dass die Betroffenen das, was früher war, nur ungern erinnern. Neben dieser Abspaltung der Zeitdimensionen Vergangenheit und Zukunft besteht die zweite Variante des Umgangs mit Zeitverläufen in der Einordnung des Verfallsprozesses in einen als „normal“ bezeichneten Prozess körperlicher Veränderungen. Verfallsprozesse des eigenen Körpers, die einen bestimmten Krankheitsverlauf dokumentieren, werden als ganz „normale“ Alterungserscheinungen bewertet und damit – so ist zu vermuten – leichter erträglich und handhabbar gemacht. So beschreibt beispielsweise eine MSPatientin den zunehmenden Verlust ihrer Sehkraft als Bestandteil von „normaler“ Kurzsichtigkeit und eine andere ihre Inkontinenz als Folge einer zunehmenden Empfindlichkeit der Blase im Zuge von Alterungsprozessen. Neben diesen Körperdeutungen wird auch die soziale Isolation, die chronisch kranke Patienten und Patientinnen im Verlauf ihres Krankheitsprozesses durchlaufen, als Folge von Alterungsprozessen gedeutet. So äußert eine der Interviewten, dass die sozialen Kontakte zu ehemaligen Arbeitskolleginnen eingeschlafen seien, weil diese „einfach zu viel um die Ohren hätten“, und an anderer Stelle heißt es: „Ja, die waren oft bei mir und haben mich abgeholt zum Essen gehen, Theater, Kino, oder wir sind zusammen in den Urlaub gefahren. Na ja und dann sind wir alle älter geworden, die haben geheiratet oder sind im Beruf und ich sehe einige immer noch mal so sporadisch, ein oder zweimal im Jahr gehen wir zusammen Essen.“ (Interview Raabe: S. 9) Angesichts bestehender Lebenslaufmuster wird hier das Zustandekommen einer sozialen Isolation als folgerichtiger Bestandteil dieser Lebensläufe gedeutet. Wer im Beruf steht und eine Familie hat, muss zwangsläufig seine sozialen Kontakte reduzieren, hier geht es nicht um individuelle Isolation sondern um Verläufe sogenannter Normalbiographien. Der „normale“ Alterungs-

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prozess bietet somit eine Integrationsmöglichkeit des körperlichen Verfalls in die eigene Biographie.

Fazit Personen, deren Körper sich in einem Prozess kontinuierlicher Schwächung befinden, beschreiben das Verhältnis zwischen Körper und Zeit als ein Spannungsfeld zwischen körperbasierten Zeitverhältnissen einerseits und institutionalisierten, feststehenden temporalen Ablaufmustern andererseits. Dieser Befund führt abschließend zu drei Thesen: 1. Der allmähliche Verfall des Körpers bringt eine körperbasierte Zeithandhabung für alle drei relevanten Zeitdimensionen mit sich. Im Hinblick auf das Zeittempo führt die körperliche Veränderung zu einer Verlangsamung alltäglicher Routinehandlungen, Zeitstrukturen wiederum folgen einer ereignisorientierten Zeiteinteilungen, und die Positionierung der Betroffenen im Zeitverlauf schließlich bewegt sich zwischen Negierung und Integration des Verlaufsaspektes. Anhand dieser Zeithandhabungen lässt sich somit ein Körperkonzept der Betroffenen rekonstruieren, demzufolge der Körper als Akteur der Zeithandhabungen entworfen wird. 2. Dieses Köperkonzept ist allerdings keineswegs durchgängig vorzufinden, sondern parallel existiert auch eine Vorstellung von Körper als Objekt pflegerischer Tätigkeiten. Dieser Objektstatus des verfallenden Körpers wird deutlich in den Beschreibungen der Zeittempi der Pflegepersonen sowie der linear organisierten Zeitstruktur. So werden beispielsweise Pflegeprozesse feststehenden Alltagsrhythmen unterzogen und entsprechend der Erwerbsarbeit in feste Zeiteinheiten unterteilt. 3. Den älteren Betroffenen ermöglicht der Anschluss an die Lebensphase „Alter“ eine Integration der Verfallsmomente ihres Körpers in eine Art „Normalbiographie“. Das Konzept des alten Körpers bietet dementsprechend eine Folie für die Naturalisierung und damit Normalisierung individueller Verfallsprozesse. Die eingangs geschilderten Tendenzen der Optimierung von Körpern finden sich in den Körperkonzepten pflegebedürftiger Personen somit nicht. Vielmehr dominiert in den Argumentationsfiguren der Interviews ein Konzept vom Körper entweder als Akteur mit einer Eigenlogik oder als Objekt pflegerischer Tätigkeiten im Sinne eines Erhalts des Körpers. Aneignungsmöglichkeiten des verfallenden Körpers eröffnen sich den Betroffenen weniger über eine Vorstellung vom Körper als individuell gestaltbarem Handlungsraum denn über eine Naturalisierung und Entpathologisierung des individuellen körperlichen Verfalls im Sinne von „normalen“ Alterungsprozessen. 151

ULRIKE MANZ

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Zum Verhältnis von Körperlic hk eit und Körpernorme n: ethisc he Überle gunge n UTA MÜLLER

In meinem Text möchte ich Bezüge zwischen Körperlichkeit1, Alter(n) und einigen damit zusammenhängenden normativen Fragen reflektieren. Ich werde zunächst die Rolle des Körpers anhand der Diskussion verschiedener Körperkonzeptionen mit Blick auf das Alter bzw. Altern diskutieren. Meine These wird sein, dass die verschiedenen Sichtweisen des Körpers für normative Bewertungen von Handlungen, die den menschlichen Körper betreffen, letztlich nicht entscheidend sein können. Denn was Menschen mit ihrem Körper tun dürfen oder nicht tun dürfen, hängt wesentlich von normativ-ethischen Einstellungen und deren Rechtfertigung ab. Gleichwohl hat die Betrachtung des menschlichen Körpers Bedeutung für ethische Überlegungen, insofern Moral und Ethik uns Menschen, die wir körperlich verfasst sind, betreffen. Dabei ist wesentlich, welche Rolle dem Körper für unsere Handlungen und Handlungsentscheidungen zugewiesen wird. Mein besonderes Augenmerk gilt hierbei den körperlichen Veränderungen, die mit dem Alter(n) verbunden sind. Ethische Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang vor allem, wenn es um die Rechtfertigung medizinisch-therapeutischer Eingriffe geht, und ich möchte am Ende meines Betrags wichtige ethische Konzepte vorstellen, die für Handlungsentscheidungen in diesem Kontext von Bedeutung sein können.

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Der Begriff „Körperlichkeit“ – statt einfach „Körper“ – soll auf die ungeklärte begriffliche und ontologische Bestimmung des menschlichen Körpers hinweisen, womit einhergeht, dass nicht einfach von einem (unmittelbar) erkennbaren gegebenen (natürlichen) Körper ausgegangen werden kann. 155

UTA MÜLLER

‚ Al t e r ( n ) ‘ – S c h w i e r i g k e i t e n e i n e r B e g r i f f s k l ä r u n g Wie können die Begriffe ‚Alter‘ bzw. ‚Altern‘ bestimmt werden? Sie haben naturwissenschaftliche, individuell-subjektive und soziale Bedeutungsanteile. Außerdem werden mit ihnen teilweise normative Wertungen verknüpft. Diese Differenzen werden an verschiedenen Möglichkeiten der Zuschreibung von Alter deutlich. Man kann erstens versuchen, ‚Alter‘ durch einen bestimmten, von außen beschriebenen körperlichen Zustand zu definieren. Dann sind Menschen alt, wenn sie sich in dem entsprechenden körperlichen Zustand befinden oder auch, wenn sich bestimmte Körperteile oder auch Körperzellen in einem bestimmten Zustand befinden. Jeder von uns hat Bilder von alten Menschen vor Augen, bei denen kein Zweifel besteht, dass sie alt sind. Gleichwohl bleiben solche Bestimmungen problematisch, weil die Definition der entsprechenden Zustände unklar ist. Bei einer zweiten Definition sind die sozialen Rollen und Normen die entscheidenden Faktoren: Ein Mann von sechzig Jahren, der kleine Kinder hat, ist dann eben nicht ‚alt‘, weil er ‚junger Vater‘ ist (wenn er sich denn entsprechend verhält). Bei einem dritten Ansatz könnte man darauf Bezug nehmen, dass man die Menschen fragt, ob sie sich selbst ‚alt‘ fühlen. Damit wird Alter ebenfalls von den Lebensjahren abgekoppelt und an subjektive Erfahrungen und Selbsteinschätzungen gebunden. Vermutlich meinen wir mal das Eine, mal das Andere, wahrscheinlich sogar meist verschiedene Aspekte zugleich, wenn wir davon sprechen, dass Menschen alt werden oder alt sind. Auch wenn also ‚Alter‘ nicht eindeutig definiert werden kann, kann es trotzdem sinnvoll verwendet werden. Man muss sich nur im Klaren sein darüber, welche Bedeutungsgehalte in welchen Zusammenhängen im Vordergrund stehen.

B e d e u t u n g e n vo n ‚ Al t e r ( n ) ‘ u n d Körperkonzeptionen Den oben genannten drei Versuchen, das ‚Alter(n)‘ zu bestimmen, entsprechen auf der Ebene der Konzeptionen des menschlichen Körpers drei Varianten, die im Folgenden kurz charakterisiert werden.

Die naturalistische Körperkonzeption Aristoteles begriff Menschen, Tiere und Pflanzen als Einheiten geformter Materie. Die wesentliche substanzielle Form eines Lebewesens ist demnach die Seele (psyche). Sie ‚informiert‘ jeweils eine geeignete Biomasse (oder einen Körper) und macht sie damit zu einem wirklichen Lebewesen. Form und Ma156

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terie, Seele und Körper bilden jeweils eine konkrete substanzielle Einheit.2 René Descartes hat diese Einheit im Falle des Menschen (nicht der übrigen Lebewesen) in zwei Substanzen zerlegt: Geist und Körper, die auf verschlungenen Wegen, etwa über die Zirbeldrüse, kausal miteinander agieren können. Wir Menschen sind, ich selbst bin, nun nicht mehr beseelte menschenfähige Materie, sondern ein rein geistiges immaterielles Wesen, das einen materiellen Körper dirigiert und sein eigen nennt. Dieser besondere Körper, der mir zugeeignet ist, ist nun das Allzweckinstrument meines Weltkontaktes. Durch ihn als einen komplexen Mechanismus vermittelt sich insbesondere auch meine Interaktion zu anderen Menschen als geistigen Wesen. Tiere und Pflanzen hingegen sind nur materielle Körper, also rein mechanisch zu erklärende ausgedehnte Dinge (res extensa).3 Der Cartesische Dualismus hat den kritischen Nachfragen, etwa nach Art und Möglichkeit der psychophysischen Interaktion, nicht standgehalten. Auf solche Kritik kann theoretisch unterschiedlich reagiert werden. Eine Möglichkeit ist, das Seelische (oder Geistige oder Mentale) auf materielle oder physikalische Vorgänge zu reduzieren; dann stellt sich das Problem der psychophysischen Interaktion nicht mehr, denn es gibt nichts Psychisches (Seelisches, Geistiges, Mentales) mehr. Seit dem 19. Jahrhundert, als etwa die Medizin danach strebte, sich völlig an die Methoden der Naturwissenschaften anzulehnen, vertreten manche Biowissenschaftler die These, alle Vorgänge im Menschen seien als körperliche Ereignisse erklärbar, um sie kausal entsprechend dem jeweils geltenden Ideal der Naturwissenschaften erklären zu können.4 2

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Vgl. Aristoteles: „De anima (Von der Seele)“, in: ders., Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1983, S. 290 (413b32): „Die Seele ist aber das, mit dem wir primär leben, wahrnehmen und überlegen. Dann wäre sie wohl Begriff und Form, aber nicht Materie und Substrat. Denn, wie wir sagten, wird Wesenheit in dreifacher Bedeutung verstanden, als Form, als Materie und in Verbindung von beiden; von diesen ist die Materie die Möglichkeit, die Form Wirklichkeit; und da nun die Verbindung beider das Beseelte ist, so ist nicht der Leib die Wirklichkeit der Seele, sondern diese die Wirklichkeit eines Leibes.“ Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992, S. 141: „Und wenngleich ich [...] einen Körper habe, der mit mir eng verbunden ist, so ist doch, – da ich ja einerseits eine klare Vorstellung meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ausgedehntes Wesen bin [im lateinischen Original: res cogitans, non extensa; UM], und andererseits eine deutliche Vorstellung vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Wesen ist [im lateinischen Original: res extensa, non cogitans; UM] – so ist, sage ich, soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.“ Aktuell diskutiert werden v.a. die Positionen der Neurowissenschaft, die behaupten, alle unsere Bewusstseinsvorgänge seien letztendlich nichts anderes als physikalische Prozesse im Gehirn. Dazu ist eine Fülle von Arbeiten erschienen; vgl. etwa die Arbeiten von Gerhard Roth, z.B.: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt 157

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Damit wurde versucht, der körperlichen Maschine Mensch den Geist auszutreiben; der Cartesische Dualismus wurde gewissermaßen ‚geköpft‘, denn ein geistiges Wesen, das den Körper wie ein Instrument dirigiert, gibt es nicht mehr. Der menschliche Körper wird hinsichtlich des Zustands seiner Teile oder, in einer anderen Variante, hinsichtlich des Funktionierens seiner Teile beschrieben, und der Mensch wird dem beschriebenen Zustand folgend als nach physikalischen Gesetzen gehorchende Maschine betrachtet. Legt man die Definitionen in diesem Sinne fest, könnte ein Mensch je nach Zustand seines Körpers als alt oder eben nicht alt bezeichnet werden. Die naturwissenschaftliche Sicht des menschlichen Körpers, wie ich diese Perspektive nennen möchte, hat, das soll hier gleich vorangeschickt werden, durchaus ihre Berechtigung.5 Dies gilt allerdings nur, wenn nicht behauptet wird, dass diese Konzeption diejenige sei, die den Menschen in seiner Ganzheit angemessen beschreibe. Diese Sicht auf den Menschen ist, wenn sie absolut gesetzt wird, vor allem deswegen unangemessen, weil sie von einem Subjekt, das empfindet, entscheidet und handelt, nicht mehr sprechen kann. Die Kritik richtet sich also gegen den Anspruch etwa der naturwissenschaftlich orientierten Biowissenschaften, dass der Mensch als ganzer oder die Person als ganze als ein physikalisches Ding wie andere physikalische Dinge zu betrachten ist.6 Gleichwohl bleibt festzuhalten: Der menschliche Körper kann auch als physikalisches Ding unter anderen physikalischen Dingen betrachtet werden. Und es ist in manchen Zusammenhängen durchaus sinnvoll und angemessen ihn so zu betrachten und zu behandeln, etwa in bestimmten medizinischtherapeutischen Situationen. Wenn ein Chirurg oder eine Chirurgin operieren will, dann muss er oder sie sich vorrangig auf die materielle Beschaffenheit des Körpers der/s Patienten/in konzentrieren. Aber in anderen medizinischen Kontexten wird der/die Patient/in und ihr/sein Körper unterschiedlich in den Blick genommen, und im Idealfall werden die verschiedenen Perspektiven für

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a.M.: Suhrkamp 2003. Ein – auch historisch – umfassender Überblick über die Geist-Gehirn-Debatte findet sich in: Martin Carrier/Jürgen Mittelstraß: Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem und die Philosophie der Psychologie, Berlin, New York: Campus 1989. Es gibt m.E. unterschiedliche Erkenntnisinteressen und verschiedene Handlungsziele, für die es sinnvoll, berechtigt und unter Umständen auch notwendig ist, den menschlichen Körper aus naturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten und zu analysieren. Für eine Pluralität der Körperkonzeptionen in der Medizin habe ich argumentiert in: „Zwischen Biowissenschaften und Konstruktivismus“, in: Susanne Michl/Thomas Potthast/Urban Wiesing (Hg.), Pluralität in der Medizin. Werte – Methoden – Theorien, Freiburg, München: Karl Alber Verlag 2008, S. 195-209. Da es hier um die Angemessenheit der Beschreibung des Menschen geht, handelt es sich allerdings um eine erkenntnistheoretische Kritik, keine ethische Kritik.

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die Behandlung integrativ zusammengefasst. Die Einschränkung auf bestimmte Situationen und bestimmte Zwecke ist von zentraler Bedeutung, denn mit ihr soll behauptet werden, dass es keine angemessene Beschreibung des ganzen Menschen oder der Person ist, ihn bzw. sie als ein Ding wie andere Dinge in der Welt zu betrachten. Darüber hinaus führt diese Beschreibung bei der Reflexion und Begründung moralischer Streitfragen in eine Sackgasse. Denn ethische Reflexion hat es vorrangig mit der Begründung und Rechtfertigung von Handlungen zu tun. Wenn aber die streng naturwissenschaftliche Position bezweifelt, dass es überhaupt handelnde Personen gibt, stellt sich die Frage nach dem Handeln und damit nach der Ethik gar nicht mehr. Folgt man der Sicht, der Mensch sei als physikalischer Körper zu betrachten, könnte man, wie ausgeführt, versuchen ,Alter‘ oder ‚Altern‘ als bestimmte physiologische Veränderungen zu definieren, die irreversibel und zeitabhängig sind und letztendlich zum Tode führen.7 Entsprechend könnten Entscheidungen über medizinische Therapien sich an dieser Definition orientieren. Die Veränderungen am alternden Körper zeichnen sich demnach durch eine schädigende Wirkung auf den Körper aus: die Organfunktionen lassen nach, etwa die Leistungsfähigkeit von Herz und Lunge, das Seh- und Hörvermögen vermindert sich, wie auch die Immunität gegen Krankheiten. Diese Veränderungen sind allerdings individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und durch die Lebensweise, durch Bewegung, Sport und Ernährung zu beeinflussen. Mit dieser Definition von ‚Alter‘ müsste freilich genau festgelegt werden, bei welchem Ausmaß an schädigenden Veränderungen in den einzelnen Organen oder Vermögen die Zuschreibung von ‚hohem Alter‘ zu rechtfertigen wäre. Als Schwierigkeit ergibt sich dann zu klären, welche Veränderungen altersbedingt sind, und wie sie sich zu Krankheiten verhalten. Ob und inwiefern eine solche Definition sinnvoll ist, ist auch in der Altersmedizin stark umstritten und verweist auf die Schwierigkeit, dass auch die Definition von ‚Krankheit‘ durch rein wissenschaftlich-deskriptive Begriffe unbefriedigend ist. Was es bedeutet, krank zu sein, kann nicht allein durch medizinische (im Sinne von medizinisch-naturwissenschaftlichen) Kriterien festgelegt werden, sondern Krankheit hängt von kulturell-normativen Kriterien ab. Das wird besonders deutlich bei der Frage, welche Therapien solidarisch finanziert

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Vgl. Wolfgang Heiß: „Altern bezieht sich in einer allgemeinen Definition auf irreversible und zeitabhängige physiologische Veränderungen von Struktur und Funktion lebender Systeme. Sie sind intrinsisch und führen unidirektional zum Tode. Beim Menschen lassen sie sich in Zellen, Organen und auf die ganze Person bezogen beobachten.“ (Wolfgang Heiß: „,Anti-Aging-Medizin‘: Der Wunsch nach einem langen Leben ohne Altern?“, in: Giovanni Maio/Jens Clausen/Oliver Müller (Hg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg/Br.: Karl Alber Verlag 2008, S. 392-404, hier S. 398). 159

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werden sollen und welche nicht.8 Wenn der Begriff ‚Alter‘ aber, wie auch ‚Krankheit‘, durch kulturell-normative (oder andere) Kriterien bestimmt werden muss, dann hängen Entscheidungen von entsprechenden – letztendlich normativen – Bewertungen ab.

Der Körper als Konstruktion Eine andere theoretische Position schlägt folgende Sicht auf den menschlichen Körper vor: Wir sollten von ‚dem menschlichen Körper‘ gar nicht mehr sprechen, jedenfalls nicht so, dass wir meinen, uns sei mit ihm etwas ‚gegeben‘, etwa im Sinne der ‚Natur des Menschen‘, von dem bzw. der wir ausgehen und die wir verändern und behandeln können. Der in den Sozialund Kulturwissenschaften etablierte Konstruktivismus behauptet, dass durch diskursive Interpretation im Rahmen unserer sozialen, historischen und kulturellen Einbettung unsere Identität, auch unsere körperliche Identität, gestaltet wird bzw. gestaltet werden kann. Innerhalb dessen gibt es freilich verschiedene Ansätze, die Aussagen über die Konstruktion sozialer Phänomene unterschiedlich interpretieren;9 unterschiedlich ist dann auch die Einschätzung, inwiefern etwa aus der Kritik an bestimmten (als konstruiert analysierten) Phänomenen Veränderungen angestrebt werden können (oder sollen).10 Grundsätzlich kann es der konstruktivistischen Perspektive zufolge nichts fest Gegebenes und damit nichts Unverfügbares mehr geben: Körperlichkeit und Natürlichkeit, Gesundheit und Krankheit genauso wie Jugend und Alter sind konstruiert und können demnach in diskursive (Selbst-) Entwürfe integriert werden. Die theoretischen Varianten des Konstruktivismus interpretieren die Rolle der Körperlichkeit verschieden.11 Von den erkenntnistheoretischen Varianten ist zunächst die agnostische Position zu skizzieren, die bestreitet, dass wir irgendetwas über menschliche Körper wissen können. Wir können über den Körper selbst gar keine Aussagen machen, sondern nur darüber, wie in bestimmten Kontexten über den Menschen und seinen Körper gesprochen 8

Vgl. Urban Wiesing: „Kann die Medizin als praktische Wissenschaft auf eine allgemeine Definition von Krankheit verzichten?“, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 44 (1998), S. 83-98. 9 Vgl. etwa die Differenzierung, die Ian Hacking vorschlägt, dem zufolge es verschiedene ‚Grade‘ des Konstruktivismus gibt: historisch beschreibend, ironisch, reformistisch bzw. entlarvend, rebellisch und revolutionär. Vgl. Ian Hacking: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1999, S. 39. 10 Vgl. I. Hacking, Was heißt ‚soziale Konstruktion‘?, S. 40. 11 Hier folge ich der Darstellung von Hilge Landweer: „Konstruktion und begrenzte Verfügbarkeit“, in: Annette Barkhaus/Anne Fleig (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München: Fink 2002, S. 47- 64. 160

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wird.12 Begründet wird diese These damit, dass wir weder zu den Gegenständen der äußeren Welt – etwa den Körpern anderer Menschen – noch zu unserem eigenen Körper einen unmittelbaren, d.h. nicht-diskursiven bzw. nichtbegrifflichen, Zugang haben. Auch unsere körperlichen Erfahrungen sind diskursiv bzw. begrifflich strukturiert und uns nicht unmittelbar gegeben. Man kann also über körperliche Erfahrungen nichts sagen und wissen (deswegen die Bezeichnung ‚agnostisch‘), wenn wir damit wirklich körperliche Erfahrungen selbst meinen und nicht Aussagen über Körpererfahrungen. Demgegenüber behauptet der Konstruktivismus in der radikalen negativontologischen Position, dass von der Materialität des Körpers durchaus etwas ausgesagt werden kann, nämlich, dass eben diese Materialität nur durch Diskurse entstehen kann. Körper ‚gibt‘ es also in dem Sinne, dass sie durch Diskurse gewissermaßen entstehen.13 Zwischen diesen beiden Positionen liegt eine dritte, die die sogenannte ‚Überformungsthese‘ vertritt.14 Ihr zufolge sind Körper materielle Dinge, die uns zwar nicht direkt (epistemisch) zugänglich sind und zu denen wir keinen direkten Zugang haben können, deren Charakter als materielle Gegenstände für uns aber von Bedeutung ist. Der Körper bestimmt bei vielen Aktivitäten und Handlungen unser Leben, da er uns Grenzen setzen kann; da er Eigenschaften hat, über die wir nicht oder nur begrenzt verfügen können. Im Gegensatz zu VertreterInnen der agnostischen These gestehen VerfechterInnen dieser These dem Körper selbst eine wesentliche Rolle für die (psychische und soziale) Existenz des Menschen zu: Das Erleben des Körpers, das zwar kulturell und historisch unterschiedlich vermittelt und erlernt wird, ist für uns Menschen von zentraler Bedeutung.15 12 Vgl. etwa die Position von Regine Gildemeister und Angelika Wetterer hinsichtlich der Geschlechterfrage: „Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung“, in: Gudrun Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg/Br.: Kore Verlag 1992, S. 201-254. 13 Vgl. hierzu etwa Judith Butler: „Ist nicht der Diskurs: [...] selbst formierend für genau das Phänomen, das er einräumt? Die Behauptung, jener Diskurs sei formierend, ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, er erschaffe, verursache oder mache erschöpfend aus, was er einräumt; wohl aber wird damit behauptet, daß es keine Bezugnahme auf einen reinen Körper gibt, die nicht zugleich einer weitere Formierung dieses Körpers wäre.“ (Judith Butler: Körper von Gewicht. Gender Studies, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 33) 14 Dieser Terminus stammt von Hilge Landweer: Die Überformungsthese versucht, „eine Zwischenposition einzunehmen: Nicht alles ‚ist‘ Kultur (oder Diskurs), sondern es muß etwas geben, das kulturell ‚überformt‘ wird oder: zur Diskursivierung herausfordert.“ (H. Landweer: Konstruktion und begrenzte Verfügbarkeit, S. 55). 15 „[...] es muß etwas Vorgegebenes unterstellt werden, etwas, was wir vorfinden und woraufhin wir uns entwerfen: Unser In-der-Welt-Sein ist nicht voraus161

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Die hier skizzierten Ansätze des Konstruktivismus sind meines Erachtens verschieden angemessen in ihrer Beschreibung der Rolle des menschlichen Körpers und auch in der Beschreibung der Macht der sozialen Rollen, denen die Menschen unterworfen sind bzw. sich selbst unterwerfen. Dass die Zuschreibung von Alter auch an gesellschaftliche und soziale Rollen und kulturelle Umstände gebunden und in diesem Sinn ‚sozial konstruiert‘ ist, ist nicht zu bestreiten. In menschlichen Gesellschaften gelten bestimmte Verhaltensweisen als ‚richtig‘ und ‚normal‘, die teilweise auch an bestimmte Altersphasen gekoppelt werden. Zu diesen Normierungen können wir Menschen uns verschieden verhalten, wir können sie akzeptieren und uns ‚normal‘ verhalten, wir können auch dagegen rebellieren und andere Normen für richtig erachten; da es unter Umständen konfligierende Normen sind, müssen sich die Menschen manchmal für oder gegen bestimmte Normierungen entscheiden. Hier spielen ganz unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle: der ausgeübte Beruf, die Familie, die Ideale aus Werbung und Medienwelt. ‚Aussteigen’ aus der Welt der Normen und Normierungen können wir aber nicht. Das Leben von älteren Menschen in den westlichen Industriestaaten hat sich in den letzten Dekaden stark verändert: Die Menschen werden durchschnittlich an Lebensjahren älter, sie sind länger gesund und fit und gestalten ihr Leben aktiver als ältere Menschen in den Generationen davor. Das Rollenverständnis hat sich geändert: Ältere Personen sind nicht mehr auf eine bestimmte Lebenseinstellung ‚verpflichtet‘, sondern es stehen ihnen Lebensweisen und Aktivitäten offen, die eher an die mittlere Lebensphase denken lassen. Vielleicht fühlen sich manche Menschen auch im gleichen Sinn ‚verpflichtet‘, möglichst ‚junge und fitte Alte‘ zu sein, und sie verspüren einen Zwang, einem neuen Rollenverständnis zu gehorchen; dann wird gerade nicht die ‚Offenheit‘ allen möglichen Lebenseinstellungen gegenüber erlebt. Es können sich dann Diskrepanzen zwischen individueller Lebenseinstellung und sozialen Rollenzuschreibungen feststellen lassen oder einfach eine Verschiedenheit der Lebensentwürfe – abhängig von den Individuen, aber unabhängig vom Alter.16 setzungslos, sondern setzt sich mit Widerständigem auseinander. Nicht nur wir tun etwas mit der Welt, sondern auch umgekehrt: Dinge in der Welt (und nicht nur Diskurse) ‚machen’ etwas mit uns.“ (H. Landweer: Konstruktion und begrenzte Verfügbarkeit, S. 55) 16 Die Möglichkeit der Diskrepanzen von Lebensentwürfen betrifft natürlich nicht nur ältere Menschen, sondern Menschen in allen Lebensphasen. Über bestimmte Erwartungen an das Verhalten von älteren Frauen vgl. Ursula Richter: Ab sechzig leb ich anders als ihr denkt. Wie wir Frauen ein neues Jahrzehnt entdecken, München: Piper Verlag 2008. Richters Diagnose nach verlangt die Gesellschaft die ‚Unsichtbarkeit‘ von älteren Frauen. Frauen werden nicht mehr als geeignete Bewerberinnen für einen Job, für bestimmte Beschäftigungen gesehen, und sie 162

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Der in unserem Zusammenhang wichtige Punkt ist, dass konstruktivistische Ansätze (mehr oder weniger) überzeugend darlegen können, dass bestimmte Phänomene, darunter bestimmte soziale Rollenverständnisse und deren Macht, konstruiert sind, aber die möglichen Konsequenzen für Verhaltensweisen und Handlungen offen bleiben. Konstruktivistische Analysen zielen oft darauf, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Normen als ‚konstruiert‘ zu entlarven17 – also ihre Gültigkeit in Frage zu stellen. Dieses ‚In-FrageStellen‘ kann Verschiedenes bedeuten: Zum Einen kann es eine Beschreibung von Fakten und Entwicklungen sein, die (oft historisch) zu klären versucht, weshalb bestimmte Phänomene so (geworden) sind, wie sie sind und dass sie sich auch hätten anders entwickeln können. Die Beschreibungen diskreditieren (unter Umständen) die Gültigkeit von Normen und Normierungen, die als Grundlagen des Handelns gelten können. Die Frage nach der Richtigkeit oder Gültigkeit von Normen als Orientierung des Handelns ist nun eine der grundlegenden Fragen der Ethik. Wenn aus den konstruktivistischen Analysen also Konsequenzen für das Verhalten und Handeln gezogen werden sollen, dann ist ethische Reflexion über die Grundlagen und Begründungsansprüche gefragt. Wenn durch die Analyse konstruktivistischer Ansätze bestimmte Normen oder Normierungen in Frage gestellt werden, dann ergibt sich das Problem, welche anderen Normen denn als Gründe für Handlungen oder Verhaltensweisen anerkannt werden sollen. Nun haben manche konstruktivistischen Ansätze gar kein ethisches Interesse, sondern ‚nur‘ das Ziel, erkenntnistheoretisch, historisch oder soziologisch zu analysieren. Es stellt sich m.E. die Frage, ob diese theoretische Beschränkung einsichtig ist, denn wenn Normierungen als ‚falsch‘ entlarvt worden sind, dann sind damit auch die Normierungen, die zur Orientierung des Handelns dienen, in Frage gestellt. Gibt es denn der konstruktivistischen Analyse gemäß Normierungen, die nicht als ‚falsch‘ entlarvt werden, sondern sich als ‚richtig‘ erweisen? Und worauf begründet sich diese Beurteilung? Wenn konstruktivistische Ansätze Konsequenzen für eine Bewertung und damit für das Handeln nahelegen, müssten allerdings Grundlagen für die Bewertung von Gründen und die zu-

werden auch nicht mehr als attraktive Partnerinnen für Männer betrachtet. Von Frauen wird erwartet, so Richter, dass sie sich zurückziehen, dass sie also einem Bild oder einer Rolle entsprechen, die in unserer Gesellschaft von der ‚älteren Frau‘ herrscht oder geherrscht hat. Das steht im Gegensatz zum Bild der älteren Männer. Gegen diese geschlechtsspezifische Norm und Normierung wehrt sich Richter und plädiert für Toleranz den individuellen Lebensentwürfen gegenüber. 17 Diesen Ausdruck verwendet Ian Hacking: „Man entlarvt eine Idee in erster Linie nicht, indem man sie widerlegt, sondern indem man ihr die falsche Anziehungskraft oder ihre Autorität nimmt. Darin besteht der entlarvende Konstruktionismus.“ (I. Hacking: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘?, S. 40; Hervorhebung im Original) 163

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grunde liegenden Normen angeboten und diskutiert werden, um zu überzeugenden Folgerungen zu gelangen.18 In unserem Zusammenhang könnte dies bedeuten: Wenn ‚Alter‘ (sozial) konstruiert ist, dann wird mit dieser Analyse behauptet, dass Alter ein Phänomen ist, das abhängig von sozialen, diskursiv vermittelten, Beschreibungen und Normierungen ist. Dann sind aber nicht nur die Überlegungen von Interesse, die ‚Altern‘ als soziales Phänomen ‚entlarven‘, sondern es ist auch von Bedeutung, ob es Kriterien gibt, die für die Zuschreibung von Alter zutreffend oder richtig sind, oder ob man von ‚Alter‘ überhaupt nicht mehr sprechen kann. Auf diesen Begriff werden wir aber wohl nicht gänzlich verzichten können. Da ‚Alter‘ ein Begriff mit auch wertende Bedeutungsanteilen ist, hat die Zuschreibung von Alter Folgen für das Handeln – etwa in der Forderung, dass auf alte Menschen Rücksicht genommen werden soll. Diese Folgen sind nur im Rahmen einer Diskussion darüber zu erörtern, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen ältere und alte Menschen wegen ihres Alters besonders zu berücksichtigen und zu achten sind. Diese Diskussion überschreitet aber (in der Regel) die Ansprüche des Konstruktivismus und führt in die Debatte, was wir tun sollen, d.h. in die ethische Diskussion.

Der Mensch als leibliches Wesen Die Defizite eines Körperverständnisses, das behauptet, der Mensch habe einen physikalisch zu beschreibenden Körper und könne wie über eine Sache ‚irgendwie‘ über ihn verfügen, wurden bereits kritisiert. Nicht befriedigend scheint auch die im Konstruktivismus teilweise vertretene These zu sein, Körper könnten nur in Diskursen thematisiert werden, könnten also nur Symbole sein, und auch die Materialität von Körpern sei ein Konstrukt. Im Folgenden soll nun eine Sicht nachgezeichnet werden, die den Menschen als eine Einheit von Geist (Seele, Mentalem) und Körper ansieht, bei der subjektive Erfahrungen nicht ausgeblendet werden und bei der das Körperliche nicht nur eine diskursive Interpretation ist. Die Betrachtung des Menschen als ein Wesen, das keinen Körper hat, sondern ‚diesen Körper lebt‘ oder sein Leib ist, scheint angemessener, weil sie wesentliche Seiten des menschlichen Lebens nicht ausschließt. Diese Sicht stammt aus der phänomenologischen Philosophie und wurde verschiedentlich 18 Vgl. Hacking, der verschiedene Grade des Konstruktivismus unterscheidet: Wenn eine Person den ‚revolutionären Konstruktivismus‘ vertritt, dann ist sie, wie Hacking schreibt, eine „Aktivistin, die die Welt der Ideen verläßt und versucht, die Welt hinsichtlich X [X: das in Frage gestellte Phänomen; UM] zu verändern [...]“. (I. Hacking: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘?, S. 40). Dann wird allerdings gehandelt, und es müssten handlungsleitende Prinzipien oder Werte (oder andere Grundlagen des Handelns) erörtert werden. 164

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vertreten.19 So schreibt etwa Helmuth Plessner: „Der Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) – auch wenn er von seiner irgendwie ‚darin‘ seienden unsterblichen Seele überzeugt ist – und er hat diesen Leib als diesen Körper.“20 Diese Körperkonzeption möchte ich den anderen hier vorgestellten vorziehen21, da diese Sicht meines Erachtens ein – zumindest in erkenntnistheoretischer Hinsicht – überzeugenderes Menschenbild zeichnen kann. Trotzdem soll festgehalten werden, dass sowohl die naturalistische Körperkonzeption als auch konstruktivistische Ansätze hinsichtlich bestimmter Aspekte des menschlichen Lebens durchaus gerechtfertigt sind. So ist es, wie schon ausgeführt, in bestimmten Situationen medizinischer Praxis sinnvoll, den Körper des Menschen als einen materiellen Gegenstand zu betrachten. Der Konstruktivismus hat wichtige Erkenntnisse über gesellschaftliche Phänomene hervorgebracht; ob diese Art von Analyse sich für Phänomene wie Körper und Körperlichkeit eignet, ist allerdings fraglich. Die Sicht des Menschen als ein körperlich wahrnehmendes und empfindendes Wesen könnte Hinweise darauf geben, dass Menschen manche körperlichen oder leiblichen Erfahrungen unausweichlich machen, diese Erfahrungen ihnen also unverfügbar sind, und auch darauf, wie sich Handlungen und Handlungsentscheidungen zu diesen Erfahrungen verhalten. Gemäß der phänomenologischen These sind Menschen leibliche Wesen, und es kann zwischen ihrem Körper und ihrem Bewusstsein (oder ihrem Geist, ihrer Seele oder ihrem Personenstatus) nicht unterschieden werden. Hierfür wurde vor allem in der phänomenologischen Philosophie die Untersuchung der Wahrnehmungen herangezogen.22 Wahrnehmen ist ein körperliches oder leibliches Erleben. Dies betrifft unsere sinnlichen Wahrnehmungen der äußeren Welt, die nach phänomenologischer Interpretation zugleich und untrennbar einen körperlichen und mentalen Charakter haben; dies betrifft aber auch Erfahrungen mit dem eigenen Körper im weiteren Sinne. Verändert sich der Körper, etwa mit dem Alter, dann verändern sich mit ihm auch die Erfahrungen des Menschen – mit sich selbst und mit der äußeren Welt. Neuere Erkenntnisse zu 19 Vertreter sind mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten Maurice Merleau-Ponty, Helmuth Plessner, Hermann Schmitz, Elisabeth List und andere. 20 Helmuth Plessner: „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“ (orig. 1941), in: ders., Gesammelte Werke, Band VII: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 201-387, hier S. 238. 21 Die Betrachtung des Menschen als Einheit von Körper und Geist darf m.E. nicht außer acht gelassen werden. Vorstellbar ist, dass in konstruktivistischen Ansätze die Sicht des Menschen als ‚Leib‘ integriert wird. Diese Diskussion würde hier allerdings zu weit führen. 22 Vgl. etwa Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter Verlag 1966. 165

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Wahrnehmungen beim Tasten bestätigen dies: Michael Grazianos Forschungen zur Bildung eines Körperschemas oder Körperbildes durch den Tastsinn zeigen, dass das Körperbild alles aufzeichnet, „was immer mit uns geschieht, alle leiblichen Veränderungen: langfristige wie das Altern oder Unfälle mit Verletzungen; aber auch vorübergehende, etwa wenn wir einen Hammer aufheben und den Arm dadurch schwerer machen.“23 Für die Definition von Alter und Altern hat das wichtige Konsequenzen: Alter kann eben nicht durch objektive, von dritten Personen beschriebene Eigenschaften definiert werden, jedenfalls nicht nur, sondern ist wesentlich an subjektive Empfindungen und eigene Einschätzungen geknüpft.24 Die ‚subjektiven Erfahrungen‘ sind nun nicht (oder nicht nur) sozial konstruiert, sondern Erfahrungen, die wir qua körperlich verfasste Wesen machen.

Zur Rolle der Körpererfahrungen Wie der Körper bzw. wie körperliche Erfahrungen sich auf unsere Wünsche und Handlungsentscheidungen auswirken können, möchte ich im Folgenden am Beispiel von Wahrnehmungen und Wahrnehmungserfahrungen etwas genauer beleuchten. Gemäß der phänomenologischen These ist die körperliche (sinnliche) Seite von der geistigen (oder mentalen) Seite von Wahrnehmungen nicht zu trennen: Wahrnehmungen haben einen Charakter, der zugleich körperlich und geistig ist. Wir nehmen mit unseren Sinnesorganen, also unserem Körper, Dinge der äußeren Welt wahr – wir haben Wahrnehmungen von etwas, und auf diese bewussten Wahrnehmungen können wir uns beziehen. Wenn ich auf eine grüne Wiese schaue, dann kann ich mich auf den Eindruck, den die Betrachtung der Wiese auf mich macht, konzentrieren und mich damit auf mich selbst beziehen. Ich kann versuchen, die Wirkung der grünen Wiese auf mich zu beschreiben: Was geschieht mit mir, wenn ich auf sie schaue? Die Wahrnehmungen haben also eine innere, selbstbezogene Seite und diese haben sie, auch wenn ich mich nicht bewusst auf meine Wahrnehmungen konzentriere, immer dann, wenn ich wahrnehme. Sie haben zugleich auch eine äußere, nach außen gerichtete Seite, insofern ich mich mit meinen Wahrnehmungen auf Dinge, Personen oder Ereignisse der äußeren Welt beziehe. Ich kann natürlich auch über die Wiese und deren Eigenschaften sprechen, 23 Zit. in Uta Henschel: „Das Verlangen nach Berührung“, in: GEO 06/2004, S. 118-140, hier S. 133. 24 Dies gilt im Übrigen auch für Krankheit. Wiesing argumentiert für einen Umgang der Medizin mit kranken Menschen, der die subjektive Einschätzung in den Vordergrund stellt: „Die Medizin sollte das subjektiv empfundene Leiden und die Selbsteinschätzung des Patienten in den Vordergrund rücken. Sie sollte das Individuum, das in diesem Körper, das diesen Körper lebt, entscheiden lassen, ob ein körperlicher Zustand unerwünscht ist.“ (U. Wiesing: Kann die Medizin auf eine Definition von Krankheit verzichten?, S. 88) 166

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ohne vorrangig von den Eindrücken zu sprechen, die die Betrachtung der Wiese in mir ausgelöst hat. Ein wesentlicher Aspekt der subjektiven Seite der Wahrnehmungen im Zusammenhang der Diskussion um die Rolle des Körpers ist, dass mir bestimmte Gehalte von Wahrnehmungen angenehm oder nicht angenehm sind. Die Wahrnehmung der grünen Wiese ist mir unter Umständen sehr angenehm, die Intensität der Empfindungen kann aber variieren. Es kann beim Wahrnehmen auch keinen besonderen ‚Ausschlag‘ auf der einen oder der anderen Seite geben. In unserem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung ist, dass wir über bestimmte Wahrnehmungen, genauer: über die Gehalte der Wahrnehmungen, also über die innere, selbstbezogene Seite der Wahrnehmungen, nicht bestimmen können. Manche Wahrnehmungsgehalte finde ich angenehm und manche nicht; wie es für mich ist, bestimmte Wahrnehmungen zu machen, steht nicht in meiner Verfügbarkeit, sondern ‚geschieht‘ mir. In diesem Zusammenhang ist nun die Frage bedenkenswert, inwieweit die ‚Qualität‘ der Wahrnehmungen (d.h. die innere Seite) durch soziale, kulturelle, historische und andere Bedingungen und Umstände erlernt wurde und dadurch festgelegt ist. Dass wir uns beispielsweise vor bestimmten Dingen ekeln, ist eine unverfügbare Erfahrung. Sie mag trotzdem in vielen Fällen kulturell erlernt worden sein:25 Ich ekle mich vor Dingen, vor denen sich Menschen anderer Kulturkreise nicht ekeln und umgekehrt. Aber Ekel können alle Menschen empfinden (und nicht darüber verfügen, ob sie ihn empfinden) – und bezüglich der gleichen Phänomene zu empfinden lernen und verlernen. Die Gefühle des Angenehmen und Unangenehmen haben auch einen internen Bezug zu meinem Willen und damit auch zu meinen Handlungen: In der Regel werde ich das Angenehme suchen und das Unangenehme meiden. Aristoteles hat diesen Gedanken so formuliert: „Was aber Wahrnehmung hat, hat auch Lust und Schmerz und Lustvolles und Schmerzliches, und wer dieses hat, hat auch Begierde; denn sie ist Streben nach dem Lustvollen.“26 Menschen, wie auch Tiere, die das Vermögen zum Wahrnehmen haben, suchen in der Regel das Angenehme. Damit versuchen sie, Unangenehmes oder Schmerzliches zu meiden. So schreibt Aristoteles in De anima an späterer Stelle: „So ist das Lust- oder Schmerzempfinden ein Tätigsein mit dem Mittel der Sinneswahrnehmung in der Richtung auf das Gute oder Schlechte als solches. Meiden und Begehren sind ihrer Wirklichkeit nach dasselbe, und die Organe des Begehrens und

25 Vielleicht betrifft das die weniger ‚basalen‘ Ekelgefühle, wie etwa den Ekel vor bestimmten Speisen im Gegensatz zum Ekel vor Schlangen oder Spinnen. 26 Aristoteles: De anima (II 3, 414b4-6), S. 291. 167

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Fliehens sind weder in sich verschieden voneinander noch auch vom Wahrnehmenden.“27

Wahrnehmungen haben also einen bestimmenden Einfluss auf unseren Willen. Um noch einmal auf das Beispiel des Ekels zu kommen: Dass man sich vor einer Sache ekelt und zurückweichen (‚fliehen‘) möchte und es oftmals auch tut, geschieht den Menschen. Eine andere Frage ist, ob es nicht gute Gründe gibt zu versuchen, den Ekel zu überwinden und zu handeln. Damit stellt sich die Frage, ob und warum Menschen handeln sollen und nach den guten Gründen für oder gegen eine Handlung.

Körpererfahrungen und ‚Alter‘ Was haben nun diese Überlegungen mit dem ‚Alter(n)‘ zu tun? Altern zeichnet sich zumindest teilweise dadurch aus, dass sich der Körper des Menschen mehr oder weniger stark verändert. Mit der Veränderung des Körpers ändern sich die körperlichen Erfahrungen des alternden Menschen, und dies ist oft verbunden mit unangenehmen Wahrnehmungen oder Empfindungen. Die Ausdauer und die Kräfte lassen nach, die Gelenke schmerzen, das Seh- und Hörvermögen wird geringer. Die damit verbundenen Wahrnehmungsgehalte haben eine unverfügbare Seite, die Menschen sind ihnen ausgeliefert und werden – ganz im Sinne von Aristoteles‘ Thesen – sie zu meiden suchen. Wenn etwa die Gelenke schmerzen, dann wird die Reaktion zunächst sein, mit der Bewegung aufzuhören. Bewegungen kann man aber nicht durchgehend und immer vermeiden: Wenn die Schmerzen bleiben, dann wünschen die Menschen eine Behandlung und Linderung dieser Schmerzen. Dazu aber müssen sie sich für eine medizinische Therapie entscheiden, sie müssen handeln und sie müssen Ärzte und Ärztinnen zum Handeln bewegen. Und auch die Personen mit Hörschwierigkeiten werden sich meist nicht damit abfinden, nicht mehr gut zu hören, sondern werden ebenfalls eine medizinische Therapie nachfragen. Viele ältere Menschen wünschen sich also, dass die altersbedingten Veränderungen, die für die unangenehmen Erfahrungen verantwortlich sind, beseitigt oder wenigstens teilweise aufgehoben werden oder dass die Verschlimmerung des Leidens zumindest weiter verzögert wird. Bei allen Beurteilungen und Bewertungen von Wünschen nach Veränderungen und von Eingriffen am menschlichen Körper darf nicht vernachlässigt werden, dass es die subjektiven Erfahrungen der/s Patienten/in sind, die sie den Weg zum Arzt suchen lassen. PatientInnen gehen zum Arzt oder zur Ärztin, damit eine Therapie gegen ihr Leiden gefunden wird. Die Medizin ist also mit dem Wunsch 27 Aristoteles: De anima (III 7, 413a10ff.), S. 335f. 168

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nach Linderung von Leiden konfrontiert, und die MedizinerInnen müssen sich für oder gegen eine Therapie entscheiden. Also werden sie zusammen mit den PatientInnen Gründe und Argumente für (oder gegen) eine bestimmte Therapie abzuwägen versuchen. Medizinische Therapien können nun nicht nach rein medizinischen (im Sinne von medizinisch-naturwissenschaftlichen) Kriterien ausgesucht werden, dazu wären rein medizinische Definitionen von Krankheit und Leiden Voraussetzung. Krankheit sowie Leiden und Altern sind aber normativ aufgeladene Begriffe28, die auf Annahmen beruhen, die unter Umständen nicht allgemein geteilt werden, etwa auf religiösen oder philosophischen Annahmen. Die Entscheidung oder auch nur der Ratschlag, welche Leidenszustände durch ärztliches Handeln gelindert werden sollen, setzen voraus, dass MedizinerInnen und PatientInnen normative Bewertungen von bestimmten Zuständen vornehmen, d.h. (medizin-)ethische Reflexionen vornehmen.29

Zur Rechtfertigung ethischer Entscheidungen Bislang habe ich zu zeigen versucht, dass für Ratschläge und Vorschläge, wie ältere Menschen mit ihrem Körper umgehen sollen, nicht bestimmte Konzeptionen des Körpers entscheidend sein können. Die Erfahrungen, die Menschen ‚in‘ ihrem Körper machen, sind aber entscheidend dafür, welche Änderungen die Menschen für sich anstreben und diese Erfahrungen sind auch zunächst die Grundlage für Ratschläge und Entscheidungen von MedizinerInnen, an die sich ältere PatientInnen wenden.30 Welche ethischen Konzepte bei der 28 Diese Begriffe, die einen deskriptiven Gehalt haben, mit denen aber auch normative oder wertende Bedeutungen verbunden sind, werden auch als „dicke Begriffe“ bezeichnet. Ralf Stoecker zeigt, dass ‚Krankheit‘ ein ‚dicker Begriff’ ist und welche Folgen die Medizinethik ziehen kann. Vgl. Ralf Stoecker: „Krankheit – ein gebrechlicher Begriff“; in: Günter Thomas/Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2009, S. 36-46. 29 Wiesing plädiert dafür, ärztliches Handeln ganz ohne den Bezug auf einen Krankheitsbegriff zu rechtfertigen: „Die mit einer allgemeinen Definition von Krankheit verbundenen Konsequenzen lassen sich treffender auf andere Weise begründen, nämlich indem man sich kritisch an der Selbstinterpretation des Patienten orientiert und die weithin konsensfähigen moralischen Prinzipien nutzt, die ärztliches Handeln legitimieren und limitieren.“ (U. Wiesing: Kann die Medizin auf eine Definition von Krankheit verzichten?, S. 95) 30 Eine besondere Problematik könnte sich ergeben, wenn es um Veränderungen und Manipulationen des menschlichen Körpers geht, bei denen überhaupt keine medizinische Indikation gegeben ist – etwa bei Schönheitsoperationen. Die Argumentationsstrategie, sich auf die normativen Prinzipien und Urteile, die hier u.U. vorgebracht werden, zu berufen, kann auch bei solchen Fällen zu hilfreichen Überlegungen führen. Vgl. dazu Johann Ach: „Komplizen der Schönheit“, 169

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Entscheidungsfindung für oder gegen bestimmte Therapien31 vor allem beachtet werden, möchte ich im Folgenden kurz darstellen.

Autonomie und Selbstbestimmung Dem phänomenologischen Ansatz folgend könnte man zunächst Folgendes erwägen: Die Medizin, an die Wünsche nach Veränderungen des Körpers vorrangig gerichtet werden, soll sich an den subjektiven Einschätzungen des Wohlbefindens der Menschen orientieren. Die betroffenen Menschen wissen am besten, welche körperlichen Zustände sie erträglich finden und welche nicht. Hier wird also Rücksicht verlangt auf den von Aristoteles behaupteten Zusammenhang von Wahrnehmungen und Willen. Wie bereits ausgeführt, kann mit den als unangenehm empfundenen Wahrnehmungen auf der Handlungsebene aber unterschiedlich umgegangen werden. Um sich für bestimmte Handlungen zu entscheiden, müssen Alternativen bedacht werden, es muss überlegt bzw. ethisch reflektiert werden. Das ethische Konzept, das in der medizinethischen Debatte Geltung beansprucht, ist das der Autonomie oder der Selbstbestimmung. Der einzelnen Person wird zugestanden, dass sie selbst für sich entscheiden kann, welche Veränderungen an ihrem Körper sie vornehmen lassen möchte und welche nicht. Allerdings können sich bei der Rechtfertigung mittels dieses Konzeptes Konflikte ergeben – etwa bei der Legitimierung medizinisch-therapeutischer Entscheidungen. Es können beispielsweise Fälle auftreten, in denen Menschen falschen – etwa viel zu optimistischen – Einschätzungen über die Folgen von Therapien unterliegen. Außerdem kann der Einfluss der Zeit auf die Wirkung von Therapien falsch gesehen werden. Gerade bei Therapien für ältere PatientInnen muss berücksichtigt werden, für welche Zeitspanne therapeutisch gehandelt wird und wie die Heilungschancen einzuschätzen sind. Die Autonomie als zentraler Begriff steht in bestimmten Situationen im Konflikt mit anderen Konzepten – etwa dem des längerfristigen Wohlbefindens des Patienten. Über die Prognose könnte sich der oder die PatientIn täuschen, und Ratschläge der Medizin sind hier für Entscheidungen hilfreich. Was aber nicht in Zweifel gezogen werden kann, ist die subjektive Einschätzung des Menschen selbst, wie es ihm ‚in‘ seinem Körper geht: Welche Wahrnehmungen ihm angenehm sind und wel-

in: Johann Ach/Arnd Pollmann (Hg.), no body is perfect, Bielefeld: transcript 2006, S. 187-206. 31 Hier geht es nicht um Therapien von akuten Krankheiten, bei denen normalerweise die Therapie nicht in Frage steht, sondern um solche therapeutischen Veränderungen, über die PatientIn und Arzt bzw. Ärztin unsicher sind, wie etwa Gelenkoperationen bei Verschleißerscheinungen. 170

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che nicht, das weiß nur er selbst. Das gilt insbesondere für Schmerzerfahrungen.32

Glück und gutes Leben Ein zweites ethisches Konzept, das Handlungsentscheidungen leitet, ist das des Glücks oder, in der Aristotelischen Begrifflichkeit, das des guten, gelingenden Leben, der Eudaimonia.33 Hier liegt die Frage nahe, was denn Glück oder gutes gelingendes Leben für ältere Personen bedeutet und ob es für sie etwas anderes bedeutet als für Menschen in anderen Lebensphasen. In der Regel wird angenommen, dass es das aktive, autonom geführte Leben ist, das auch ältere Menschen als gutes Leben anstreben. Aber mit den (körperlichen und mentalen) Veränderungen im Alter verändern sich unter Umständen auch die Einstellungen zum Leben, und es ist denkbar, dass das aktive und autonome Leben nicht mehr erstrebt werden kann, vor allem bei Menschen in hohem oder sehr hohem Alter: Dass man nicht mehr aktiv und mobil sein ‚muss‘, sondern ruhig sein darf und umsorgt werden möchte, könnte als Vorstellung eines guten Lebens von älteren Menschen akzeptiert werden. Bei der Selbsteinschätzung der älteren Menschen können auch Fehleinschätzungen gemacht werden, aber auch hier sollte zunächst eine Rolle spielen, was der/die PatientIn selbst braucht und will, und diese Einschätzung sollte es sein, die für etwaige Eingriffe oder ihren Verzicht darauf entscheidend ist. Mit den Begleiterscheinungen des Alter(n)s, die sich teilweise in unangenehmen und schmerzhaften Empfindungen äußern können, könnte man also auch anders umgehen, als oben dargelegt: Man könnte sagen, sie gehören zum Älterwerden dazu. In akuten Situationen, wenn man etwa Schmerzen beim Gehen hat, wird man die Schmerzen ganz unwillkürlich vermeiden wollen, aber man wird sich unter Umständen auch gegen eine medizinische Therapie entscheiden, die die Ursache der Schmerzen zu beseitigen verspricht – etwa gegen die Implantation eines künstlichen Gelenks. Alterungsprozesse werden dann möglicherweise als ‚natürliche‘34 Prozesse betrachtet, die von manchen Menschen nicht negativ, sondern positiv bewertet werden. Diese Einstellung 32 Auf welche Weise Schmerzen therapiert werden sollen, ist teilweise auch eine (medizin-)ethische Frage, auf die ich hier jedoch nicht weiter eingehen kann. 33 Für Aristoteles (und für viele andere Philosophen) steht außer Frage, dass wir Menschen in allem unseren Tun letztendlich nach Glückseligkeit streben, vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch I. Hamburg: Meiner Verlag 1985, S. 1ff. 34 Es ist fraglich, was unter ‚natürlich‘ verstanden wird, und außerdem, wie ‚natürliche Prozesse‘ oder allgemein die ‚Natur‘ für ethische Entscheidungen eingesetzt werden können. Vgl. Dieter Birnbacher: „Was leistet die ‚Natur des Menschen‘ für die ethische Orientierung?“, in: Maio/Clausen/Müller (Hg.), Mensch ohne Maß? (2008), S. 58-78. 171

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wird auch gegen die Projekte und Anstrengungen der sogenannten ‚AntiAging-Medizin‘ vorgebracht, die Altern durchweg negativ darstellt, als einen nicht-wünschenswerten Zustand des menschlichen Lebens, den es unbedingt zu vermeiden oder zumindest zu ‚verbessern‘ gilt.35 Zum ‚guten Leben‘ gehört nach der Auffassung, die Alter(n) als ‚natürlichen Prozess‘ betrachtet, dass man gewisse Einschränkungen akzeptiert, dass man sich einfügt in den ‚natürlichen Lauf des Lebens‘.36 Diese Auffassung lässt sich unter Umständen auch an das aristotelische Konzept des guten, gelingenden Lebens anschließen, wenngleich sich kritische Anfragen an die ‚natürlichen‘ Bestimmungen des ‚Laufs des Lebens‘ stellen lassen. Die Erfahrungen mit den Veränderungen des menschlichen Körpers in verschiedenen Lebensphasen können auch anders beschrieben werden: Der Körper setzt uns Grenzen, über die wir nicht verfügen können. Wir können nicht alles mit ihm tun, was wir wollen. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung beim Älterwerden. Die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit werden intensiver spürbar, und es gibt immer mehr Situationen, in denen diese Grenzen erfahren werden. Gegen diese Erfahrungen selbst können wir nichts ausrichten; eine bestimmte Lebensführung kann allenfalls Grenzen verschieben oder hinauszögern. Aber können wir uns in verschiedenen Handlungsfeldern entscheiden, wie wir mit den verschobenen oder neu entstandenen Grenzen umgehen wollen. Wie bei anderen unverfügbaren Erfahrungen (bei Ekel z.B.) kann man sich zwar gegen die unangenehmen Erfahrungen nicht wehren, aber man kann sich hierzu unterschiedlich verhalten, also unterschiedlich handeln: Auch wenn man sich ekelt, kann man eine Wunde verbinden; oder im konträren Fall: auch wenn man ein Kuchenstück sieht und Lust auf Kuchen hat, kann man darauf verzichten. Genauso könnte man überlegen: Auch wenn man Spaß am Skifahren hat (oder hatte), aber weiß, dass es für die Gelenke schlecht oder wegen der Unfallgefahr zu risikoreich ist, kann man auf das Skifahren verzichten; und im konträren Fall: auch wenn man keine Lust auf Gymnastik hat (und vielleicht dabei auch leichte Schmerzen hat), kann man sie ausüben, um ein bestimmtes, subjektiv sinnvoll erscheinendes Ziel zu erreichen. Und natürlich ist der Wunsch nach medizinischen Eingriffen auch eine Möglichkeit, mit den unangenehmen Begleiterscheinungen umzugehen – mit den entsprechenden medizinethischen Konflikten, die hier diskutiert werden.

35 Vgl. Hans-Peter Rippe: „Die Abschaffung des Alters. Anti-Aging-Medizin und die moralischen Grenzen medizinischen Fortschritts“, in: Maio/Clausen/Müller (Hg.), Mensch ohne Maß? (2008), S. 405-433. 36 Vgl. Giovanni Maio: „Medizin und Menschenbild“, in: Maio/Clausen/Müller (Hg.), Mensch ohne Maß? (2008), S. 215-229. 172

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Gerechtigkeit Bei vielen Überlegungen zur Frage, wie in Bezug auf den Körper gehandelt werden soll, werden freilich noch andere normativ-ethische Überzeugungen eine Rolle spielen: Der Körper und ein entsprechender Umgang mit ihm ist für ein gelingendes, gutes Leben auch in anderen Hinsichten von Bedeutung, nicht nur bezüglich angenehmer oder unangenehmer Erfahrungen, die unser Leben wesentlich beeinflussen. Wir Menschen haben Verantwortung nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere. Es sind verschiedene Dimensionen von Gerechtigkeit, die für Handlungsentscheidungen über Eingriffe im Alter eine Rolle spielen können. Diese Überlegungen sind besonders wichtig, wenn es um Therapieentscheidungen geht, denn diese sind – angesichts begrenzter Ressourcen für die Gesundheitsversorgung – gegenüber der Solidargemeinschaft zu vertreten. Es geht aber auch um gerechte Entscheidungen gegenüber den Betroffenen, und das sind nicht nur die älteren Personen selbst, sondern auch ihre Angehörigen und Freunde und das medizinische Personal. Ein ethisches Konzept, das reflektiert werden muss, ist das der ‚verteilenden Gerechtigkeit‘, bei dem in Frage steht, wie begrenzte Ressourcen zu verteilen sind. Hier wiederum sind Abwägungen mit den anderen genannten ethischen Konzeptionen zu leisten. Inwiefern ist etwa das ‚gute Leben‘ anderer Personen betroffen? Wurde dem Prinzip der Autonomie genügend Beachtung geschenkt? Zu Erwägungen der Gerechtigkeit zählen auch solche der sogenannten ‚korrektiven Gerechtigkeit‘. Damit ist gemeint, dass im Umgang mit anderen Menschen die Berücksichtigung von Rechten und Pflichten gilt. Menschen haben Rechte, die sie einfordern können, und andere Menschen Pflichten, die sie jenen gegenüber zu erfüllen haben. Da Menschen verschieden sind – das betrifft auch Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen – haben sie auch verschiedene Rechte und Pflichten. Ganz leicht einzusehen ist es, wenn wir an die Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern denken. Aber auch gegenüber Älteren haben andere Menschen Pflichten, und man spricht von Ungerechtigkeit, wenn diese Pflichten verletzt werden. Was für die Diskussion um Gerechtigkeit auf jeden Fall zutrifft, ist, dass Entscheidungen vor einem ethischen Hintergrund gefällt werden müssen, es müssen also ethische Prinzipien reflektiert werden, mit Bezug auf die eine Handlungsentscheidung als gerecht im Sinne von angemessen und richtig bezeichnet werden kann. Gerade die Diskussion um die Gerechtigkeit als ethisch relevante Konzeption, die wieder zurückverweist zur Erörterung anderer wichtiger Konzepte, zeigt, dass jede ethische Diskussion die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der ethischen Konzepte untereinander berücksichtigen muss: Fragen der Gerechtigkeit müssen Argumente, die sich auf die Selbstbestimmung der Men173

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schen beziehen, berücksichtigen; Argumente beruhend auf dem Konzept der Selbstbestimmung müssen Überlegungen zum guten Leben umfassen etc. Mir ging es darum zu zeigen, dass verschiedene Konzeptionen des menschlichen Körpers unterschiedlich geeignet sind, den Menschen als körperliches Wesen zu beschreiben. Die phänomenologische Sicht des Menschen als ein leibliches Wesen scheint mir als Ausgangspunkt der Überlegungen, welche Rolle der Körper des Menschen für seine Selbstbestimmung und sein selbstbestimmtes Handeln spielt, am überzeugendsten zu sein. Als Fazit habe ich versucht herauszuarbeiten, dass die körperliche Verfasstheit unser Handeln zwar beeinflusst und den Handlungsspielräumen im Alter oft Grenzen setzt, aber dass Entscheidungen darüber, wie wir handeln sollen, nicht durch den Bezug auf unsere körperliche Verfassung gerechtfertigt werden können. Handlungsentscheidungen – auch darüber, was Menschen im Alter tun dürfen oder nicht dürfen – beziehen sich auf Überlegungen zu verschiedenen ethischen Konzeptionen, wie der eines guten, gelingenden Lebens, der Selbstbestimmung oder Autonomie und der Gerechtigkeit. Was diese Überlegungen betrifft, so können wir auf eine lange Tradition ethischen Reflektierens zurückblicken, die durchaus Antworten auf Fragen anbieten kann, die sich anlässlich neuer wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen stellen.

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Stoecker, Ralf: „Krankheit – ein gebrechlicher Begriff“, in: Günter Thomas/Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2009, S. 36-46. Wiesing, Urban: „Kann die Medizin als praktische Wissenschaft auf eine allgemeine Definition von Krankheit verzichten?“, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 44 (1998), S. 83-98.

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„ Ma n sie ht Dir die C yborg ga r nic ht a n!“ Über Alte rn und ‚C yborgisie runge n‘ STEFANIE SCHÄFER-BOSSERT „‚Unsere Gesellschaft altert weiter‘ [...]. Der Satz ist das Mantra der Roboteringenieure.“1

Deutlicher kann kaum gezeigt werden, dass es die kulturelle Umgebung ist, die den Rahmen dafür gibt und absteckt, wie die anthropologische Gegebenheit des Alterns konkret und personal ausgeprägt wird. Es ist eine technisierte Umwelt, in der in unserem Kulturkreis gealtert wird, und in die also auch der biologische Körper, der zwangsläufig Alterserscheinungen zeigt, eingebettet und von ihr durchdrungen ist. Der Verfall des Körpers macht diesen umso mehr als wichtige Bedingung der eigenen Identität spürbar, und der Umgang mit den daraus resultierenden Herausforderungen unterliegt ebenfalls kulturellen Mustern. Zu deren epistemologischen Voraussetzungen zählt heute zunehmend (und überfällig), dass Körper und Körperlichkeit vom Geistigen nicht zu separieren und abzuspalten sind; die Überwindung der Dichotomie ‚Leib/Körper – Seele/Geist‘ ist also in Bearbeitung genommen. Das lässt sich abermals mit der Robotik belegen: In dieser kamen die Robots und der gesamte Forschungszweig erst wirklich vorwärts, als das Paradigma abstrakt rationaler Standortberechnung abgelöst wurde vom Paradigma material körperlicher Orientierung. Basierend auf diesen beiden Grunddaten – der Technisierung westlicher Lebenswelten und der allenfalls diskursiv trennbaren Einheit von Körperlichem und Geistigem, von Natürlichem und Kulturbedingtem – werde ich mich im Folgenden einem Modell widmen, das diese in einem körperlichen Bild vor1

Marlene Weiss: „Unter Robotern. Sie sollen die Probleme einer alternden Gesellschaft lösen. Zuvor müssen sie lernen, mit Menschen zu kooperieren“, in: Die ZEIT Nr. 16 (8.4.2009), S. 35. 177

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legt: der Figur des „Cyborg“, des Mensch-Maschine-Mischwesens. Dieses Bild als Deutungshorizont heutiger Körpernormierungen auch in Hinblick auf Altern und Alter plausibel zu machen, ist das Anliegen dieses Beitrags, der sich aus Platzgründen darauf beschränken muss, ‚Cyborgisierungen‘ und Altern ins Gespräch zu bringen.2 Dafür wird er sich der Entstehung und den Anfängen des Bildes widmen, auf Dämonisierungen zu sprechen kommen, eine feministische Neubestimmung vorstellen, virulente „Cyborg“-Denkmodelle auf ihre Implikationen prüfen und in offene Fragen führen.

D i e E n t s t e h u n g d e r „ C yb o r g s “ . Entwicklungen und Definitionen Im Jahre 1960 manifestierte sich eine neue Perspektive auf den menschlichen Körper. In Hochzeiten des Kalten Kriegs, als die Weltraumforschung in Ost und West daran arbeitete, bemann(!)te Flüge ins All möglich zu machen, legten die Mediziner Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline in einem für die NASA verfassten Artikel ein neues Konzept vor. Es zielte darauf, die technischen Anstrengungen nicht dahin gehen zu lassen, die Umgebungsbedingungen dem Menschen anzupassen, sondern den Menschen für diese Umgebung passend zu machen. Diese weltalltaugliche Weiterentwicklung nannten sie „Cybernetic Organism“ beziehungsweise „Kybernetischer Organismus“, kurz: „Cyb’org“ oder „Kyb’org“.3 Faktisch wurde dann doch eine künstliche Umwelt für die Astronauten geschaffen und die Science-Fiction widmete sich verstärkt den „Cyborgs“. Auch in diesem medialen Genre lässt sich sehr viel an Temporalität, an zeitgebundenen Vorstellungen ablesen: ‚Der Mensch‘ in diesen Konzepten ist der (ja, natürlich: männliche) junge Krieger, nun in der Ausgabe des mutigen Astronauten. Mit dem technisch hochgerüsteten Helden ließen und lassen sich allerhand Zukunftsvisionen durchspielen, optimistische wie pessimistische, wobei in ziemlich zwangsläufiger Eigendynamik dabei Kriegssituationen prominent und zahlreich vertreten waren und sind – bis heute, in den Compu-

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Für den vorliegenden Artikel wurde der am 13.12.2008 vorgetragene Beitrag zur Tagung „Für Dein Alter siehst Du gut aus! Körpernormierungen zwischen Temporalität und Medialität“ (12.-13. Dezember 2008, Gießen) überarbeitet. Charakterisiert waren diese frühen wissenschaftlichen Modelle durch Verzicht auf ‚Unnötiges‘, allem voran Abwesenheit des Verdauungssystems, zentrale Vorrangstellung des Gehirns, und restsomatisch v.a. der Hand. Vgl. Dierk Spreen: Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne, Passau: edfc 1998, S. 8ff.

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terspielen, in den SciFi-Romanen,4 im Kino. Einen neuen Schub gab es hierfür in den 1980er Jahren mit Ronald Reagans ‚star-war‘-Szenarien der USA. Einen ganz spezifischen Schub hatte der Vietnam-Krieg gegeben. Da waren die jungen Krieger, die mutigen Helden ausgezogen, und zurück kamen – wenn überhaupt – kriegsversehrte gebrochene Gestalten. Was die medizinische Forschung und den Fluss von Forschungsgeldern enorm anschob, um diese körperlichen Versehrtheiten technisch zu kompensieren, mit Prothesen, mit Steuerungsimplantaten etc., und zugleich der medizinisch-technischen Industrie willige Versuchspersonen lieferte. Die Science-Fiction wendete diese Substitutionen von Versehrtheitsdefiziten gar in Optimierungen: Mit den Invalidisierungsmängeln wurden die natürlichen Mängel und Beschränkungen auch gleich behoben. Hier ließ sich beispielsweise an implantiertes Infrarot-Sehen denken, an neuronale Direktverschaltungen mit Fahr- und Flugzeugen oder Raumschiffen, an direktes Einspeichern ins Gehirn statt mühseligen Lernens, und was der Verheißungen mehr sein könnten. Ende gut – alles gut bzw. noch viel besser: Am Ende steht – und liegt nicht etwa darnieder – ein noch gewaltigerer Held. Wenn wir nun für diese Cyborg-Konnotation die Invalidität nicht aus Kampfeshandlungen, sondern aus dem täglichen Leben(skampf) resultieren lassen, sind wir wieder ganz schnell beim Alter, in dem nicht jede Hinfälligkeit nur performativer Provenienz ist, und bei der auch hierfür frohen Botschaft: Körperliche Schwäche und Versehrtheit kann revidiert werden, und dann steht man hinterher womöglich besser da als vorher. In so manchen SciFi-Romanen5 erweist sich bei genauerer Betrachtung ein Krüppel als ein weit schlimmeres Monster als ein „Cyborg“. Das freilich ist eine Spitze der performativen Produktion von Hinfälligkeit; in diesem „Lieber Cyborg als Krüppel!“ spiegeln sich Körperbilder und Wertigkeiten, die seitdem nicht weniger, sondern eher stärker virulent geworden sind. Die temporären medialen Cyborgs sind also überaus instruktiv, dennoch soll eine präzise Definition von Cyborg nicht fehlen, und seit Jahren finde ich keine bessere als die des Web Dictionary of Cybernetics and Systems von Principia Cybernetica Web. Nach dieser ist ein „Cyborg“ „(1) ein Organismus mit einer eingebauten Maschine mit einer daraus folgenden Modifikation der Funktion; (2) ein Organismus, der teils Tier und teils Maschine ist. Da einige Theoretiker Organismen als biologische Maschinen betrachten, müssen

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Der ‚Cyberpunk‘, weniger affirmativ, neigt dabei weniger zu interstellaren Schlachten und widmet sich eher dem „alltäglichen Kampf ums Überleben“ oder Partisanen- und Guerillapositionen. Besonders signifikant in Martin Caidin: Cyborg IV, Bergisch Gladbach: Bastei 1975. Aus Caidins „Cyborg“ entstand die US-amerikanische Fernsehserie The Six Million Dollar Man (1974-1978, 101 Episoden). 179

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wir unsere Begriffe genauer definieren. [...] Ein Cyborg ist folglich eine Kreatur, die zusammengesetzt ist aus einigen Teilen, die ohne Hilfe des Verstands, und aus einigen Teilen, die mit seiner Hilfe gebaut sind. Außerdem müssen die Teile größer sein als ein Molekül. Ein Wesen mit Aspirin im Körper ist kein Cyborg. Ein Wesen mit einem künstlichen Herz ist ein Cyborg.“6

Die „Cyborgs“ haben Verwandte, mit denen sie immer wieder verwechselt werden, was hier nicht nachgemacht werden soll: Konstitutiv für „Cyborgs“ ist der Status als Mischwesen mit körperlich material menschlichem Anteil und menschlichem Ausgangspunkt. Damit sind ‚künstliche Menschen‘ wie Androiden, Maschinenmenschen, Golems, Roboter und Terminatoren keine „Cyborgs“, genauso wenig wie Künstliche Intelligenzen (KIs). Natürlich wird in allen Gestalten der Phantastik von Aliens bis Zombies den Menschen ein Spiegel vorgehalten. Aber die, die ‚nur menschlich aussehen, es aber nicht sind‘, oder in denen ‘typisch Menschliches‘ nachgebaut ist, werfen nochmals ganz andere Fragen auf als der technisch erweiterte Mensch, auf den wir uns hier beschränken müssen. Zudem figurieren sich nur bei diesem wirklich die Fragen des Alterns und des Alters. Für die Beschäftigung mit diesen ist bereits der umgangssprachliche Gebrauch hinreichend, in dem ein „Cyborg“ ein Mischwesen aus Mensch und Technik ist.7

„ C yb o r g s “ u n d D ä m o n e n . Gemeinsamkeiten und Funktionen Der Begriff des Mischwesens verweist auf ein weiteres Feld: Dämonen. Kaum hatte die Aufklärung im Westen die Dämonen der Religionsgeschichte(n) in den Bereich des rational überwundenen ‚Aberglaubens‘ verdammt, feierten sie eine fröhliche Auferstehung in der Literatur und haben sich inzwischen in Film und Computermedien weiterentwickelt. Ihre Körperlichkeit als Mischwesen, der erste Hauptaspekt der „Cyborgs“, führt also direkt in den anderen wesentlich mit ihnen verbundenen Bereich – in den der Dämonen, in deren Hintergrund stets Herausforderungen der Bestimmung von ‚gut‘ und ‚böse‘ stehen, und vor allem in den der Dämonisierungen. Den Dämonen und Dämonisierten aller Zeiten ist eines gemeinsam: 6

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http://pespmc1.vub.ac.be/ASC/Cyborg.html, 8.11.2009 [Übersetzung Sch.-B.]. Die Größenangaben werden jedoch mit der weiteren Entwicklung der Nanotechnologie irgendwann zu korrigieren sein. Damit ist in der Tat der ‚Kybernetik‘-Anteil gut beschrieben, der im „Cyborg“ unscharf verwendet ist und sich nicht im engeren Sinne steuerungstechnisch fassen lässt, auch wenn diese Unschärfe manchmal mit der Bezeichnung als selbstregulierender Integration von künstlichen und natürlichen Systemen überbrückt wird.

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Was sie überhaupt erst ‚real‘ oder was sie ‚monströs‘ macht, ist das Gefühl der Bedrohung, das sie auslösen, sind die Ängste, die auf sie projiziert werden. Der Dämon markiert, ob im Kontext von Religionen, von ‚Aberglauben‘ oder im phantastischen Genre, die Grenze vertrauter Sinn- und Normensysteme. Die Monster siedeln jenseits der Grenzen des bevorzugten ‚Natürlichen‘ und ‚Menschlichen‘.8 So nimmt das Genre der Phantastik, unübersehbar in der Science-Fiction, aber genauso in Grusel- und Horrorgeschichten, stets auf, was an gesellschaftlichen Entwicklungen virulent ist und als – mehr oder weniger latent – bedrohlich erlebt wird. Das wird jeweils über die Grenzen des derzeit ‚Normalen‘ hinausgezogen, und gleichzeitig wird sichtbar gemacht, wie selektiv und wie brüchig Normen und Normalitäten sind. „Der Horror führt auch in Geographien, die ganz nah sind, aber verdrängt werden.“9 Er führt an Grundängste, und die folgenden, ursprünglich artikuliert zu George Orwells Buch 1984 (1949), scheinen gleichsam eine Kompaktformulierung der Perspektiven im Alter zu sein, von denen uns nicht nur einzelne erwarten dürften: „Allein sein; verlassen werden; Objekt fremder Gewalt sein; keine Kontrolle über uns, unseren Körper, unsere Umgebung haben; nicht sprechen können; uns nicht wehren können; jemand anders werden; nicht handeln können; die Konsistenz unserer Person nicht aufrechterhalten können, nicht verstanden werden.“10 Wir befinden uns also wieder mitten im Altersthema. Zur weiteren kurzen Illustration von Dämonisierungen sei an das, inzwischen immerhin in Bearbeitung genommene, ‚analytische‘ (Hieb- und) Stichwort „demographische Katastrophe“ erinnert oder auf die bereits angesprochene Monstrosität von Versehrtheit verwiesen.

D o n n a H a r r aw ays „ C yb o r g s “ . Gender-Fragen und Entdämonisierungen Bislang war viel vom ‚Menschen‘, primär dem männlichen und wenig von Frauen die Rede, was die historische Genese der „Cyborg“-Figur spiegelt. Was wäre über Frauen zu sagen? 8

Siehe zu alledem ausführlicher Stefanie Schäfer-Bossert: „Cyborgs im Ersten Testament? Über Mischwesen, Körpererweiterungen und Donna Haraway“, in: Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt (Hg.), Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer feministischen Anthropologie, Stuttgart: Kohlhammer 2003, S. 190-219. 9 Christoph Spehr: „Honeycomb World. Gesellschaft und Utopie im zeitgenössischen Horrorgenre“, in: Benjamin Moldenhauer/Christoph Spehr/Jörg Windzus (Hg.), On Rules and Monsters. Essays zu Horror, Film und Gesellschaft, Hamburg: Argument 2008, S. 174-187, hier S. 177. 10 Ebd., S. 174f. 181

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Zuerst, dass, wie feministisch hinlänglich herausgearbeitet ist, auch ‚Die Frauen‘ oder ‚Das Weibliche‘ gerne dämonisiert wurden. Dann, dass Frauen mit den „Cyborg“-Helden reichlich wenig anzufangen wussten11 und sie teilweise bis heute links – oder eher rechts? – liegen lassen. Sozial und beruflich von den Techno-Sciences und ihren Diskursen lange ausgeschlossen, neigten vor allem in den 1980er Jahren viele Frauen dazu, die Technik zu dämonisieren – die Zeiten des Kalten Krieges und der ‚star wars‘ boten allerdings genug Grund für berechtigte Ängste. Große Teile der Zweiten Frauenbewegung wandten sich in den 1980er Jahren der Suche nach den matriarchalen goldenen Urzeiten, der naturhaften „Großen Göttin“ und der kosmischen Harmonie zu. Das wertete die Verbindung des Weiblichen mit dem Natürlichen stark auf, bestätigte aber andererseits dieses alte Frauenbild und blieb in dessen Grenzen. Zudem hatten sich, ebenfalls in den 1980ern, etliche bewegte Frauen in der Sichtbarmachung ihrer Opferrolle bis in die Handlungsunfähigkeit verheddert. In dieser Situation gab die interdisziplinär arbeitende Biologin Donna Haraway den Schlachtruf „Lieber Kyborg als Göttin“ aus,12 verbunden mit der Zeitansage: „Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs.“13 Im Rückblick bilanziert sie: „1985 veröffentlichte ich das Cyborg Manifest, um zu versuchen, die Implosionen des zeitgenössischen Lebens in der Techno-Science feministisch zu bedenken. Cyborgs [...] [stehen] im Kontext des space race, des Kalten Krieges, und imperialistischer Fantasien von Technomenschlichkeit, die in Politik und Forschungsprojekte eingebaut waren. Ich habe versucht, mich mit den Cyborgs kritisch zu identifizieren, d.h., sie weder zu verherrlichen noch zu verdammen, sondern im Geist einer ironischen Aneignung von Enden [orig.: ends], die von den Sternenkriegern nie ins Auge gefasst waren.“14

11 Die Kriegerin war noch weitestgehend nicht denkbar, allenfalls als brustamputierte, bogenbewehrte Amazone goldener Urzeiten – welch’ Differenz zu heutigen brustimplantierten, vor futuristischen Waffen nur so strotzenden Kinoheldinnen! 12 So war ihre erste Fassung des „Cyborg-Manifests“ überschrieben, das ab 1983 entstand, und lautet auch in der Endfassung noch der Schlusssatz. Deutsche Übersetzungen ihrer Arbeiten kamen erst 1995 – und sie schreiben „Cyborg“ mal mit „C“, mal mit „K“. 13 Donna Haraway: „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York: Campus 1995, S. 33-72, hier S. 34. 14 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: Prickly Paradigm Press 2003, S. 4. [Übersetzung Sch.B.] 182

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Mit dieser Umwidmung der Cyborg-Figur aus der Weltraum- und Militärforschung und den männlichen Kampfmaschinen-Fantasien schlug Haraway einen provokativen und neuen Weg ein, der die feministische Science-Fiction nicht minder beeinflusste als die Theoriediskussionen. „Die Cyborg als imaginäre Figur und als gelebte Erfahrung verändert, was am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Erfahrung der Frauen zu betrachten ist.“15 Damit ist die Technisierung westlicher Lebenswelten wie die Macht der Techno-Sciences und der sie betreibenden Konzerne konsequent aufgenommen in der Absicht, sowohl deren Dämonisierung zu unterlaufen, als auch die von Freund und Feind propagierte Naturnähe von Frau und Weiblichem. Hinter allem steht als Ziel, Handlungs- und Widerstandsfähigkeit zu erlangen. Gerade die dezidierte ‚Unnatürlichkeit‘ der „Cyborg“-Figur ist der Hebel, mit dem Naturalisierungen aller Art bis hin zu den Geschlechterzuschreibungen aus den Angeln gehoben werden: „Cyborgs sind Geschöpfe in einer Post-Gender-Welt.“16 Haraway nimmt als unhintergehbar und unentrinnbar, dass die Bedingungen der Hochtechnologien das ganz alltägliche Leben und die Vorstellungshorizonte durchdringen, was zugleich eine Trennung von Natur und Kultur obsolet macht. Damit hat sie die faktische ‚Cyborgisierung‘ des Menschen auf die Agenda gesetzt und bearbeitet ihre Nicht-Wahrnehmung wie ihre Implikationen – und das Denkmodell lässt sich trefflich auf das Alter und Altern anwenden. Hilfreich, um die Herausforderungen des Alterns zu bedenken und anzugehen, ist ebenfalls die hinter Haraways „Cyborg“-Konzept stehende Theorie „exzentrischer Subjektivität“ von Theresa de Lauretis17, in der das Subjekt durch nicht-hierarchische Vielfältigkeit und Differenzen charakterisiert ist. Es zeichnet sich durch Dis-Identifikation aus und nimmt von heuristischen Kategorien wieder Abstand, bevor sie sich verfestigen, was eine Position teils selbst gewollter, teils unentrinnbarer Heimatlosigkeit mit sich bringt. Ein weiterer wichtiger Aspekt der „Cyborg“-Metapher als Identitätsmodell ist also: Die Vorstellung der einen, ganzen, unwandelbaren Identität ist verabschiedet. Es kann nicht darum gehen, sich in der Suche nach der eindeutigen Identität zu verausgaben, sondern nur um das Gestalten der vielschichtigen und auch fragmentierten, die immer von den jeweiligen Lebensbedingungen und kulturellen Horizonten mitgestaltet, deformiert und neu geformt wird. Freilich gilt die Temporalität von Körperbildern für Haraways „Cyborgs“ nicht minder: Seit ihrer Einführung der „Cyborgs“ Mitte der 1980er Jahre ist

15 D. Haraway: Manifest für Cyborgs, S. 34. 16 Ebd., S. 35. 17 Teresa de Lauretis: „Eccentric Subjekts: Feminist Theory and Historical Conciousness“, in: Feminist Studies 16 (Frühjahr 1990), S. 115-150. 183

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ein Vierteljahrhundert vergangen.18 Dennoch ist inzwischen einiges geschehen. Die Kulturindustrie hat die weiblichen „Cyborgs“ eingeholt, sie um ihr subversives Potenzial gebracht und in Auslöserinnen lustvollen Schauders für den männlichen Blick zurückverwandelt. Die feministischen Debatten entwickeln sich ebenfalls weiter. So hat sich Donna Haraway nach der teilmaschinellen einer neuen Leitmetapher zugewandt und ist „glücklich auf den Hund gekommen“19. Mit diesem lässt sich von der anderen, der kreatürlichen Seite her auf- und nachweisen, wie künstlich und immer ideologisch eine Trennung zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ bzw. Kulturtechniken ist, da sich diese Bereiche ständig vermischen und durchdringen, sodass besser von „Naturkulturen“ auszugehen ist. Immer nachdrücklicher plädiert sie für eine Ethik und Politik der „significant otherness“, gegen eine Projektion des Eigenen in alle umgebenden Wesen und Dinge, gegen vorschnelle Vereinnahmungen und gegen dämonisierende Ausgrenzungen. Es geht vielmehr um eine „selbstkritische Praxis der ‚Differenz’ des niemals mit sich selbst identischen Ich und Wir, das gerade darum auf Verbindungen mit anderen hoffen kann“20.

‚ C yb o r g i s i e r u n g e n ‘ . E i n e Zw i s c h e n b i l a n z Mit dieser (Denk-)Figur der oder des „Cyborg“, insbesondere in der Harawayschen Ausprägung, lassen sich etliche Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten abschütteln. Mit ihr lässt sich zeigen, dass wir alle immer Mischwesen sind, dass sich Kultur und Natur in unseren Körpern mischen, dass wir uns unsere Umwelt regelrecht ‚einverleiben‘, auch die Technik und ihre Produkte. Auf solchem Hintergrund sind weder eine Brille noch ein Rollator noch ein Herzschrittmacher ‚widernatürlich‘, sondern nur ein Beispiel unter vielen für den ‚Menschen als Mängelwesen‘. Das Potenzial, das in dieser Figur steckt, bleibt ein Deutungspotenzial auch für unseren heutigen Umgang mit Lebensanfängen21 und für Fragen des Alter(n)s: Kaum jemand im 18 Der deutsche Sprachraum hatte Haraways „Cyborgs“ erst relativ spät, nach 1995, richtig zur Kenntnis genommen. 19 D. Haraway: Companion Species Manifesto, S. 4f., [Übersetzung Sch.-B.; s.a. meine Artikel im Literaturverzeichnis]. Ich erlaube mir hierzu eine kleine Collage: „Symptom (I): Untrügliches Anzeichen des Älterwerdens. Ich ertappe mich beim Konsum von Tierfilmen im Fernsehen. Das hätte ich nicht von mir gedacht.“ (Silvia Bovenschen: Älter werden, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006, S. 81). Und die Wohnkultur der Collagierenden besteht primär aus ubiquitären Riesenställen voller Nagetiere. 20 Donna Haraway: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg, Berlin: Argument 1995, S. 119. 21 Vgl. Stefanie Schäfer-Bossert: „Cyborggeburten. Einige Fragen an feministische Theorie und Praxis“, in: Schlangenbrut 92 (Februar 2006), S. 19-22. Hier ist u.a. darauf aufmerksam zu machen, dass mit den heutigen Reproduktionstechniken 184

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industrialisierten Westen altert heute ohne Implantate und andere Hilfen der Techno-Sciences. Doch scheinen mir dieses Deutungspotenzial bislang ziemlich ungenutzt und die „Cyborg“-Figur nicht wirklich aus der Dämonisierungsecke entlassen. So erfährt meist, wenn ich jenseits enger Insider-Kreise ansatzweise über „Cyborgs“ ins Gespräch komme, meine Freude am anthropologischen Erkenntnisgewinn den immer gleichen, das Thema rigoros beendenden Dämpfer: „Ich schaue mir solche Filme nicht an.“ „Cyborgs“ sind Film. Falscher Film. Ihr Ort im Alltagsbewusstsein sind die Medien, die Unterhaltungsmedien, aber nicht das reale Leben. Die Unterhaltungsindustrie hat sie nachhaltig usurpiert und in diese Medialität hinein virtualisiert. Damit mag korrespondieren, dass auffälligerweise auch keine „Cyborg“Polemiken auf die vielfältigen Verbindungen mit – teilweise hochtechnischen und computerisierten – Hilfsmitteln im Alter verwendet werden. Anhalt dazu gäbe es genug – aber die „Cyborgs“ im Film geben sich jung-alterslos, und das passt wiederum nahtlos zu den gegenwärtigen Verdrängungen des Alterns.22 In der „Cyborg“-Figur kulminieren also viele hoch virulente Fragen nach dem körperlichen Verhältnis Mensch-Technik, nach den Wahrnehmungen von Technik und nach menschlichen Selbstverständnissen. Das bislang Ausgeführte kann nun wie folgt gebündelt werden: Die „Cyborg“-Figur ist, (1) nicht als fiktionale Gestalt entstanden, sondern in konkreten Kontexten konkret in Arbeit genommener Ziele, obwohl es wie eine Metapher klingt und sich dafür auch bestens eignet: den Menschen für Umgebungsbedingungen passend zu machen, nicht die Umgebung für den Menschen. Im Fall des Weltraums ist die menschenfeindliche Umgebung selbstevident, doch in der Metapher können sich alle lebensfeindlichen Umstände wiederfinden. Hinter der „Cyborg-Figur“ steht also a priori die Frage: Wer wird welchen Bedingungen angepasst? Und wie? Sehr konkret und in wachsendem Ausmaß haben sich inzwischen die vor allem mit der medialen „Cyborg“-Figur intensivierten Verheißungen materialisiert: körperliche Versehrtheiten technisch zu kompensieren oder in Optimierungen und Aufhebungen natürlicher Mängel und Beschränkungen zu wenden, was sich auf die

das intensivste Erleben weit vor Schwangerschaft und/oder Geburt liegen kann, – bis sie endlich technisch zu Stande kommt, und dass der erste Blick nicht auf das Neugeborene, sondern technisch medial auf ein Ultraschallbild fällt und damit auch unter die Hautgrenze geht. 22 Da inzwischen jedoch ehemalige Schreckgestalten wie Roboter oder alte Menschen die Medien – nicht zuletzt die Werbung – als Sympathieträger erobert haben, dürfte damit zu rechnen sein, dass dort alte explizite „Cyborgs“ nicht mehr allzu lange auf sich werden warten lassen. 185

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Formel „Lieber Cyborg als Krüppel!“ zuspitzen lässt. Damit kontrastiert die hauptsächlich verbreitete Wahrnehmung, die Heimat von „Cyborgs“ seien Film und Virtualität, auf das Schärfste. Dämonisiert wird, (2) was – oder wer – Konzepte von ‚Normalität‘ bedroht. Die auffällige Nicht-Dämonisierung der faktischen ‚Cyborgisierungen‘ des Alterns zeigen damit deutlich, wie weitreichend diese ins Alltagsbewusstsein integriert sind, auch wenn die ‚Apparatemedizin‘ kontrovers und nicht immer unpolemisch diskutiert wird. Den größten Horror scheint aber doch der unvermeidliche natürliche körperliche Verfall auszulösen, der in der Tat so manche Norm und Normalität auflöst. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass beim Thema ‚Alterserscheinungen’ auf einmal gar nicht mehr ‚die Natur‘ auf der gloriosen Seite steht und die Technik der Dämonisierung anheim fällt, sondern dass letztere höchst selbstverständlich in Anspruch genommen wird. Darin spiegelt sich, wie in der Ambivalenz der „Cyborgs“, dass ‚gut‘ und ‚böse‘ nicht immer einfach zu definieren und sehr situativ ist. Donna Haraway hat (3) dafür gesorgt, dass „Cyborgs“ nicht nur als männliche – und sei es teilweise gebrochene – Helden buchstabiert, sondern auf Frauen bezogen und post-gender diskutiert werden. Ihre „Cyborgs“ waren und sind ein epistemologisches Werkzeug gegen eine Dämonisierung von Technik und gegen einen simplen Gut-Böse-Dualismus. Sie sind Figuren für das Leben in Widersprüchen, sind homöopathisches Gegengift gegen die materialen und materiellen Implikationen der Techno-Sciences und zielen auf die Erlangung persönlicher und politischer Handlungsfähigkeit. Dafür müssen auch Selbstbilder aus starren Identitätskonzepten eigener und fremd-normativer Provenienz gelöst werden, um den Anschluss an die wechselhaften und wandelbaren Lebenswirklichkeiten zu behalten und diese aktiv gestalten zu können. Was Haraway als befreiende Perspektive für Frauen in die Diskussion brachte, kann eine solche gleichermaßen im Hinblick auf das Altern geben. War also beim Aufkommen der Cyborgs wieder einmal ‚der Krieg der Vater aller Dinge‘ und galt es auch kriegsversehrte Männlichkeiten zu kompensieren, nach Vietnam wie in der Science-Fiction, so ist die ‚Cyborgisierung‘, und das meist unbemerkt, ihrerseits zu einer gesellschaftlichen Normalität herangewachsen, nicht minder für Frauen. Hier zeigt die „Cyborg“-Figur abermals ihre Ambivalenz: Sie hebelt ‚Natur‘ als Normlieferant für menschliche Körper aus, und sie stellt neue Normen der Funktionsfähigkeit auf. Aber dass sie so strikt körperlich ist, birgt ein wichtiges Potenzial, um Fluchten in virtuelle Unkörperlichkeiten und neue/alte Geist-Körper-Dichotomien abzuwehren, wie sie gerade in Technologie-Debatten bis hinein in die Rezeption ‚natürlicher‘ wie Künstlicher Intelligenz noch virulent sein können.

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‚ C yb o r g i s i e r u n g e n ‘ : K o n z e p t e u n d D e n k m o d e l l e Ein/e „Cyborg“ ist, wie sich gezeigt hat, also grundsätzlich anthropologisch einholbar, ist ein, die material-körperlichen Verschmelzungen aufnehmendes, körperliches Bild für die Bedingtheit körperlicher Identitäten durch Kulturen und ihre Kulturtechniken bis in die heutige westliche Technikkultur. In dieser gehen die Entwicklungen so rasend schnell, dass regelmäßig Abgesänge auf ‚den Menschen‘ angestimmt werden – entsetzt oder begeistert –, weil das, was einst als ‚natürlicher Mensch‘ galt, nun aufgelöst ist. Oder es wird versucht, Grade der Bedrohlichkeit festzustellen und zu unterscheiden zwischen ‚weicher‘ und ‚harter‘ ‚Cyborgisierung‘: „Nenne es die sanfte Seite der Cyborg-Revolution, wenn die Computer auf dir, nicht in dir sind.“23 Freilich begegnen schon in der allgemeinen Definition die frühen Träger eines klassischen Herzschrittmachers als folglich ‚harte Cyborgs‘, und wer Hörgeräte oder andere neuere Implantate trägt, kann selbst der einen Computer voraussetzenden Engführung nicht mehr entkommen. Über solch kategoriale Unterscheidungen ist bei den sich rasant auftürmenden Fragen – auch ethischer Art – nicht weiterzukommen. Hier sollte besser ein zu sehr der organischen Biologie, romantischen Naturdiskursen oder der Hautgrenze verhaftetes Körperbild zur Debatte stehen. Letzteres, ohnehin als tendenziell biologistisch und individualistisch derzeit anthropologisch auf dem Prüfstand, ist reichlich ungeeignet, körperliche Interaktionen im – nicht zuletzt sozialen – Raum zu bestimmen: Schon aus der Hebräischen Bibel kann zu lernen sein, in welch enger Wechselwirkung der organische Körper mit allen erdenklichen ‚technischen‘ Produkten wie Kleidung, Amuletten, Werkzeugen steht, die die Präsenz und Potenz eines Menschen weit über die Hautgrenze hinaus reichen lassen.24 Diese klassischen ‚Cyborgisierungen‘ entstanden durch Körpererweiterungen und deren Schnittstellen waren meist die Hände, in der Tat auch oft die Haut. Heute geht die ‚Cyborgisierung‘ zunehmend ‚unter die Haut‘ und ist damit immer weniger vom menschlichen Körper (wieder) zu lösen. Die Verbindung mit der Maschine wird immer enger. Ein so omnipotentes wie überwachbares Handy kann abgeschaltet oder weggelegt werden, ein Implantat nicht. Damit werfen sich nachhaltige neue Fragen auf. Ich halte es jedoch für absolut unangemessen, diese Entwicklungen als ‚posthuman‘ zu beschreiben. Meist geschieht dies als ein popkulturelles Spiel mit dem Schauder, es kann einem jedoch auch in völliger Ernsthaftigkeit begegnen. Beides positioniert 23 Alexandra Kahn, Sprecherin des MIT, zit. nach: Gail Russell: Microchip Under His Skin, www.csmonitor.com/durable/1998/09/03/p51s1.htm (Zugriff im Mai 2005; aktuell nicht mehr aufrufbar). 24 Vgl. Schäfer-Bossert: Cyborgs im Ersten Testament? 187

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sich de facto und zum Teil expressis verbis jenseits der – insbesondere ethischen – Debatten, die über das ‚Humanum‘ geführt werden und deren Regeln auch für menschliches Zusammenleben, und ist damit politisch höchst bedenklich.25 Ein solcher ‚Neustart‘ verschleiert lange historische Genesen und ihre materialistischen Kontexte; es wird als natürlich-evolutionär, als zwangsläufig-unausweichlich ausgegeben, was realiter ökonomisch-kulturell bedingt ist und sehr wohl im Rahmen des ‚Humanum‘ hinterfragt und gestaltet werden kann (und muss!). Die Fragen nach dem Umgang mit ‚Cyborgisierungs‘-Phänomenen führen also stets zu grundsätzlichen Fragen, zu symbolischen (Voraus-)Setzungen und Koordinaten. Aber: ‚Cyborgisierungen‘ sind nicht erst eine Erfindung heutiger von den Techno-Sciences bestimmten Lebenswelten. Diese haben primär das Bild hierfür bereitgestellt – und treiben diese menschlichen Möglichkeiten allerdings in zuvor ungekannte Bereiche weiter. ‚Cyborgisierungen‘ spitzen sich im Blick auf das Alter zu: Faktisch lässt nun einmal – statistisch durchschnittlich gesehen – im Alter die körperliche Potenz nach und wird das Risiko zu erkranken größer. Dabei hat es etwas ‚Cyborgeskes‘, dass die Unterscheidung zwischen ‚Krankheit, nun eben im Alter‘ und ‚Alter als Krankheit‘ nicht immer scharf zu treffen ist. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, in enge körperliche Verbindungen mit technischen Hilfsmitteln einzutreten, wie schon biblisch der Stock in der Hand das körperliche Merkmal alter Menschen ist (Sach 8,4). Heute kann das bereits mit der Brille gegen Altersweitsichtigkeit beginnen und zur immer häufigeren temporären Verbindungen mit Maschinen im Krankenhaus führen, die womöglich in der letzten Lebensphase dauerhafte werden, und die schwierige, weil finale Fragen um das Lösen des Körpers von der Technik aufwerfen. Dem körperlichen Abbau bis zum Tod trachten, worin sich die Altersfrage wieder als Movens zeigt, Teilen ‚posthumaner‘ Bewegungen dadurch zu entgehen, dass sie ‚sich‘ vom Körper lösen und auf Festplatten in ein ewiges Leben transferieren lassen wollen. Hier sei weniger der technische Fortschrittsoptimismus kritisiert als eine völlig unkörperliche Identitätsbestimmung. Sie ist dem überholten Paradigma des rechnenden Computers verhaftet und über-

25 Ich bestehe deshalb auf präzisen Vokabeln: posthumanistisch, nicht posthuman; Posthumanismus, nicht Posthumanität. Im Englischen wird diese Differenz deutlicher als im Deutschen. Vgl. Schäfer-Bossert: Prae-posthumane Ansichten. Die Spielart „transhuman“ ist ähnlich problematisch. Sie nimmt zwar wie „transsexuell“ die gesellschaftlich virulente Bearbeitung biologi(sti)scher Begriffe und deren Grenzüberschreitungen – eben auch ins „Cyborg“-Hybride – auf, nagelt solche Prozesse damit aber wieder im (post)biologisch-evolutionären Bereich fest und enthebt sie dem ethischen. Auch diese Freiheit ist sehr neoliberal. 188

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sieht dabei zudem dessen Materialität, die auch nie unabhängig von soziokulturellen und ökonomischen Prozessen sein kann.26 Zudem erstaunt mich immer wieder, wie die Hoffnungen, natürlichen Anund Hinfälligkeiten zu entkommen, tiefgläubig in eine Omnipotenz und vor allem Störungsfreiheit der Technik gesetzt werden, die sich mir schon bei der relativ einfachen Technik, die mich im Alltag begleitet, mitnichten bewahrheiten. Ihre ökonomische Seite – von der ökologischen gar nicht zu reden – zeigt sich bereits in der Stromrechnung. Und den neuen Computer, der meine Handicaps noch besser ausgleichen könnte, kann ich mir gerade nicht leisten, dabei bin ich schon die finanziell vergleichsweise sorgenfrei situierte weiße westliche Akademikerin. So führt gerade die rigideste Ausblendung materialer und ökonomischer Fragen zu diesen als unhintergehbaren zurück. Nicht anders steht es bei der Option, den eigenen Körper kryonisch stickstoffkonservieren zu lassen, um Sterblichkeit und Verfall ein Schnippchen zu schlagen. Deren Hauptverdrängungsleistung dürfte in der Ignoranz zeitgenössisch-kultureller Verortung eines Lebens bestehen. Diese postmortalen, oft explizit und positiv mit „Cyborgs“ in Verbindung gebrachten Visionen weisen wiederum zurück auf die prämortalen, sie sind quasi deren Optionen auf die Spitze getrieben. Aber auch bzw. gerade jenseits von Dämonisierungen stellt sich die Frage nach ‚gut und böse‘, heilsam oder unheilvoll. Ein verlängertes Leben muss nicht ein besseres Leben sein, wie die hierzulande gleichzeitig zunehmenden Alterssuizide brutal deutlich machen. Und bei allen denkbaren „Cyborg“- und ‚Cyborgisierungs‘-Szenarien ist festzuhalten, dass es sich verbietet, sie pauschal allgemein-anthropologisch zu buchstabieren und damit wieder den Horizont einiger weniger westlicher Menschen auf ‚die Menschheit‘ zu applizieren. Die „spezifisch westliche Dimension des ‚Aging‘-Themas“ übersieht und übergeht die Implikation „sozialer und globaler Kastenbildungen, wenn die Lebensverlängerung weniger auf

26 Viele dieser Visionen wurzeln in Science-Fiction-Utopien; die Wechselwirkungen zwischen diesen und den Techno-Sciences sind ebenfalls höchst ‚cyborgesk‘. Doch könnten manche vom „Cyberpunk“ lernen, materialistischer zu denken, was die erträumten Freiheiten empfindlich zurechtstutzen kann: Hierfür empfehle ich William Gibsons Kurzgeschichte über Lise, eine Produzentin von programmierten Illusionen, die, neuronal interaktiv, die Nachfolge des Kinos angetreten haben. Lise ist ein kranker Krüppel mit Außenskelett und natürlich sonst einigen futuristischen Hilfsmitteln. Nachdem sie immer hinfälliger wurde, ist sie „mit dem Netz verschmolzen“, hat „endgültig übergesetzt“ (S. 160), und am Schluss heißt es (S. 189f.): „Sie braucht dringend Geld. Sie beansprucht ne Menge ROM im Mainframe irgendeines Konzerns, und ihr [riesiger Verdienst am letzten Film] reicht nicht mal aus, um den Transfer dorthin zu bezahlen.“ (William Gibson: „Der Wintermarkt“, in: ders., Cyberspace, München: Heyne 2002, S. 160-190.) 189

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Kosten vieler Menschen ermöglicht und nichts dafür getan wird, die Lebensbedingungen für einen Großteil der Menschen auf der Erde zu verbessern.“27 Die ‚Cyborgisierungen‘ unserer Lebenswelten sind weder evolutionär unausweichlich noch numinos dämonisch noch allgemeinanthropologisch überall gleich. Hinter allen stehen situierte menschliche Akteure mit ihren Interessen und Möglichkeiten, und die Macht des Faktischen hängt immer davon ab, wer was Fakt werden lässt. Donna Haraway, in nahezu allen zu ihrer Lebenszeit denkbaren progressiven Bewegungen verortet, will das epistemologische und damit ethisch erst einmal neutrale „Cyborg“-Instrument für politische Einmischung und bewusste Lebensgestaltung genutzt wissen: „Es geht darum, die Welt zu verändern, eine Wahl zu treffen zwischen verschiedenen Lebensweisen und Weltauffassungen. Um dies zu tun, muss man handeln, muss begrenzt und schmutzig sein, nicht transzendent und sauber.“28

‚ C yb o r g i s i e r u n g e n ‘ u n d Al t e r n – o f f e n e s E n d e „Cyborgs“ sind keine Idealgestalten. Sie sind in vielerlei Hinsicht widersprüchlich und wandelbar, und darin steckt ein großes Potenzial gegen externe – und gar zu oft internalisierte – Zuschreibungen und Identitätsfestlegungen inklusive ständig aktiven ‚Jungseins‘: „Substanzontologisch kann der Mensch nicht hinreichend bestimmt werden. Er ist nicht zeit- und rauminvariabel festzustellen. Aller Feststellung und Festschreibung ist er nicht habbar. Wo er gestern war, ist er schon heute nicht mehr. [...] Wer es dennoch unternimmt, den Menschen herausgenommen aus seinem stets neuen Gang zu definieren, verfehlt ihn, ja muss den Menschen verfehlen. Ohne den immer neuen, also sich verändernden Lebensgang ist der Mensch als Mensch nicht bestimmbar.“29

Diesen Horizont auch auf die Annahme der altersbedingten körperlichen Veränderungen anzuwenden ist eine der Herausforderungen für die Gestaltung 27 Eckart Reinmuth: „Die Kulturelle Konstruktion des Alters. Neutestamentliche Perspektiven“, in: Martina Kumlehn/Thomas Klie (Hg.), Aging. Anti-Aging. Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 144-156, hier S. 151. 28 Donna Haraway: „Anspruchsvoller Zeuge@ Zweites Jahrtausend. FrauMann© trifft OncoMouse™“, in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 347-388, S. 362. 29 Udo Kern: „Der Mensch bleibt Mensch. Anthropologische Grunddaten des alten Menschen“, in: Kumlehn/Klie (Hg.), Aging (2009), S. 62. 190

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des Alterns. Viele der real existierenden ‚Cyborgisierungen‘ stehen frappierend nahe bei den Anfängen der „Cyborg“-Gestalt,30 insbesondere in der inzwischen eingeführten Lebensstufe ‚junge Alte‘ im ‚golden age‘: Die zunehmende ‚Cyborgisierung‘ erhält des alternden Körpers Leistungs- und Konsumfähigkeit, hält das Bild eines ewig funktionierenden Körpers hoch und revidiert die Depotenzierungen des Alters. Was zudem neue Märkte erschließt. Hier spielen auch Medien wie Film und Werbung keine geringe Rolle, da sie zum Einen ein Spiegel gesellschaftlicher Virulenzen und Vorstellungshorizonte sind, und zum Anderen diese weiter vorantreiben und in die Alltagswelt einschreiben. Die finanziell potenten ‚Silberjahrgänge‘ sind dafür längst entdeckt, was das tatsächlich ‚schwere Alter‘, die letzte Lebensphase, umso unsichtbarer macht.31 Dass in dieser die Abhängigkeit von Hilfsmitteln nicht eben sinkt, wurde bereits angesprochen. Hilfe und Erleichterung hierfür gilt als Motor technikwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung, von den einen euphorisch begrüßt, von anderen als vorgeschobenes Motiv beargwöhnt. Schließlich lässt sich jede Erfindung nicht nur zivil nutzen und muss auch jenseits des Militärischen nicht nur Segen bringen. Als Beispiel hierfür kann das Monitoring angeführt werden, die Kontrolle der Lebensfunktionen durch mehr oder weniger ausgefeilte Apparate, die (noch) am (und nicht im) Körper getragen werden, oft in Funkverbindung nach außerhalb stehen, und eine Kontrolle der körperlichen Funktionen, aber gleichzeitig des körperlichen Menschen ermöglichen. Was aktuell als Sicherheit im Alter gilt, ist zugleich ein Instrument für ständige Überwachung, das die Science-Fiction längst als Implantat zur Kontrolle aller ausmalt. Wie stark manches Sicherheitsdenken zudem quasireligiöse Züge trägt, mag das Beispiel einer alten Frau illustrieren: Sie nahm das Gerät, das die Tochter ihr brachte, vom eigenen Hals und hängte es um den ihrer Marienstatue.32 Damit waren die Lebensrettungssysteme beieinander und sie selbst des technischen wieder ledig. Die Robotik widmet sich intensiv der persönlichen Verbindung von Menschen mit Robotern, besonders hinsichtlich der Situation – und der Märkte – des Alterns. Quartiermacher für Roboter in Haushalten und Heimen sind

30 Selbst die Utopie der 1960er Jahre, die Abschaffung der Verdauung, ist auf dem Weg, wenn in Pflegeheimen Sondennahrung verabreicht wird, wo ein Klient – manches – durchaus noch selbst essen könnte. Der Pharmakonzern übernimmt die Nahrungszubereitung und die Maschine das Einfüllen, der Körper ist mit Nährstoffen versorgt, und die Windel bleibt leer. 31 Hier wird auch über Kranken- und Pflegekassen abgerechnet, muss der Geldfluss also anders erwirkt werden. 32 Die Begebenheit wurde mir in einer Tagungspause in Gießen erzählt. 191

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„subjektsimulierende Maschinen“ wie zum Beispiel der Roboterhund Aibo33, der bis auf potenzielle Monitoring-Funktionen ein zweckfreies Spielzeug ist, das zu Interaktionen einlädt. Der Assistenz- oder gar Pflegeroboter ist noch Zukunftsmusik, deren erste Takte aber bereits geschrieben sind: Das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) hat eine erste Praxiserprobung ihres Roboterassistenten Care-O-bot® II34 (Abb. 1) als Gehhilfe in einem Seniorenheim erfolgreich abgeschlossen.35 Im Zuge dieser Entwicklungen wird von den Robotern vieles substituiert: Sie ersetzen schwindende körperliche Fähigkeiten. Die Substitution menschlicher Arbeitskraft durch Roboter ist schon grundsätzlich eine ambivalente Sache, die schwere oder schlecht bezahlte Arbeit abnehmen wie Arbeitsplätze vernichten kann. Roboter zur Substitution menschlicher Beziehungen und zwischenmenschlicher Interaktionen sind ein weiterer hoch ambivalenter Schritt. All diese Problematiken stecken in der Zukunft der Verbindung von Menschen mit Pflege- und Assistenzrobotern, die wiederum mehrfach die Frage nach der Verteilung von Ressourcen aufwirft. Wäre beispielsweise, um nur im engsten Rahmen zu bleiben, in Heimen das – ohnehin knappe – Personal letztendlich mehr mit Pflege der Roboter als der Alten beschäftigt? Könnte um den Preis von Anschaffung und Wartung der Roboter nicht mehr Personal eingestellt werden? Würde ein Assistenzroboter von den Pflegekassen finanziert?

33 Der Begriff wurde geprägt von Christopher P. Scholz: Alltag mit künstlichen Wesen. Theologische Implikationen eines Lebens mit subjektsimulierenden Maschinen am Beispiel des Unterhaltungsroboters Aibo, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 2008, insbes. Kap. 19.2. (Subjektsimulierende Maschinen in der Altenarbeit). 34 Siehe www.care-o-bot.de. Kurzvideos zeigen den Care-O-bot® II in Aktion: Mit freundlichen Anreden holt er z.B. Tabletten, lässt Besucher herein ins Haus, holt und bringt Chips, greift aus einem Regalfach, hebt eine Fernbedienung vom Boden oder gießt Blumen, allerdings auf (s)eine häusliche Umgebung beschränkt. http://www.care-o-bot.de/Cob2_Media.php (Zugriff 29.7.09). 35 Birgit Graf: Ein benutzer- und umgebungsangepasstes Steuerungssystem für die Zielführung roboterbasierter Gehhilfen, Heimsheim: Jost Jetter 2008. Hier kam der Care-o-bot® II zum Einsatz, den die Abbildung zeigt. 192

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Abbildung 1: Care-o-bot® II als Gehhilfe

Es kommt also Einiges auf uns zu, von dem ich nur das Wenigste anreißen konnte. Überdeutlich dürfte geworden sein, wie stark und zunehmend die ‚Cyborgisierungen‘, die Verbindungen von Menschen mit Maschinen, unsere Kultur des Alterns bestimmen. Was in dieser jedoch dringend nötig scheint, ist eine Revidierung von Verdrängungen und Dämonisierungen, allen voran der Schwäche, der Versehrtheit, der Sterblichkeit. Ich schließe mich Nancy Eiesland an, einer der ProtagonistInnen der Befreiungstheologie der Behinderung: „In Fülle Mensch zu sein, bedeutet, die Grenzen unserer Sterblichkeit zu akzeptieren.“ Eiesland führt dazu eine Begrifflichkeit ein, die auch im Hinblick auf das Altern die Normen signifikant verschieben und die Maßstäbe zurechtrücken kann: „Menschen mit Behinderungen und die auf Zeit Enthinderten.“36 Diese Zeit kann kürzer oder länger sein, irgendwann wird es selbst

36 Nancy L. Eiesland: „Dem behinderten Gott begegnen. Theologische und soziale Anstöße einer Befreiungstheologie der Behinderung“, in: Stephan Leimgruber/ Annebelle Pithan/Martin Spieckermann (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot 193

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mit allen ‚Cyborgisierungen‘ körperliche Einschränkungen geben und gilt es, einen Umgang damit zu finden. Zu alledem wüsste die Theologin noch viel zu sagen37, zum Beispiel, dass biblisch alle – und besonders die kulturtechnischen – menschlichen Lebensäußerungen in Beziehungsqualitäten gemessen werden, an Beziehungsförderlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit; dass christlich Sterblichkeit und Leiden ins Gottesbild aufgenommen sind; oder, dass eine gute Theologie nicht weniger als Donna Haraway Paradoxa denken kann und das Leben in Widersprüchen im Blick hat. Die fortschreitenden technischen Entwicklungen stellen uns zunehmend mehr vor Entscheidungen. Es gilt, diese aktiv zu treffen und, Donna Haraway habe das letzte Wort, „Verantwortung für die sozialen Beziehungen, die durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden, zu übernehmen.“38

Literatur Bovenschen, Silvia: Älter werden, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006. Caidin, Martin: Cyborg IV, Bergisch Gladbach: Bastei 1975. de Lauretis, Teresa: „Eccentric Subjects: Feminist Theory and Historical Conciousness“, in: Feminist Studies 16 (Frühjahr 1990), S. 115-150. Foerst, Anne: „Robots and Theology“, in: Erwägen. Wissen. Ethik. Streitforum für Erwägungskultur 20 (2/2009). Gibson, William: „Der Wintermarkt“, in: ders., Cyberspace, München: Heyne 2002, S. 160-190. (orig. 1986) Graf, Birgit: Ein benutzer- und umgebungsangepasstes Steuerungssystem für die Zielführung roboterbasierter Gehhilfen. IPA-IAO Forschung und Praxis 473, Heimsheim: Jost Jetter 2008. Haraway, Donna: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg, Berlin: Argument 1995 [Nachdruck 2006].

allein, Münster: Comenius-Institut 2001, S. 7-25, hier S. 22 und 12 [Hervorhebung Sch.-B.]. 37 Vgl. Stefanie Schäfer-Bossert: „Vom Leben gezeichnet – zum Leben befreit. Skizzen einer Theologie der Narben“, in: Carmen Rivuzumwami/Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.), Aufbruch ins Alter. Ein Lese-, Denk- und Praxisbuch, Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 100-116; Stefanie Schäfer-Bossert: „Wenn den starken Frauen die Kräfte schwinden. Anfragen an Selbstbilder und Lebensentwürfe“, in: Rivuzumwami/Schäfer-Bossert (Hg.), Aufbruch ins Alter (2008), S. 146-160. 38 D. Haraway: Manifest für Cyborgs, S. 71. 194

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Haraway, Donna: „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York: Campus 1995, S. 33-72. Haraway, Donna: „Anspruchsvoller Zeuge@ Zweites Jahrtausend. FrauMann© trifft OncoMouse™“, in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 347-388. Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: Prickly Paradigm Press 2003. Kern, Udo: „Der Mensch bleibt Mensch. Anthropologische Grunddaten des alten Menschen“, in: Kumlehn/Klie (Hg.), Aging (2009), S. 56-102. Kumlehn, Martina/Klie, Thomas (Hg.): Aging. Anti-Aging. Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung, Stuttgart: Kohlhammer 2009. Reinmuth, Eckart: „Die Kulturelle Konstruktion des Alters. Neutestamentliche Perspektiven“, in: Kumlehn/Klie (Hg.): Aging (2009), S. 144156. Rivuzumwami, Carmen/Schäfer-Bossert, Stefanie (Hg.): Aufbruch ins Alter. Ein Lese-, Denk- und Praxisbuch, Stuttgart: Kohlhammer 2008. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Cyborgs im Ersten Testament? Über Mischwesen, Körpererweiterungen und Donna Haraway“, in: Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt (Hg.), Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer feministischen Anthropologie, Stuttgart: Kohlhammer 2003, S. 190219. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Haraways Cyborgs: Figuren für das Leben in Widersprüchen“, in: Das Argument 259, Dialektik des weiblichen Widerstands, (1/2005) S. 69-82. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Prae-posthumane Ansichten. Einige Bemerkungen zu harten und weichen Cyborgs und der Menschlichkeit“, in: Magazin für Theologie und Ästhetik, H 35 (Juni 2005), www.theomag.de/35/ssb1.htm. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Cyborggeburten. Einige Fragen an feministische Theorie und Praxis“, in: Schlangenbrut 92 [Themenheft „Geburt“], 24 (2/2006), S. 19-22. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Tiere, Menschen und das Spiel ohne Grenzen, oder: Wie Donna Haraway auf den Hund gekommen ist“, in: Ästhetik und Kommunikation H 133 [Kapitalismus mit Messer und Gabel], 37 (Sommer 2006), S. 77-83. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Donna Haraway ist auf den Hund gekommen – oder: Weiteres zum Verhältnis Natur-Kultur“, in: Schlangenbrut 101 [Themenheft „Natur“], 26 (5/2008), S. 19-22. Schäfer-Bossert, Stefanie: „Vom Leben gezeichnet – zum Leben befreit. Skizzen einer Theologie der Narben“, in: Rivuzumwami/Schäfer-Bossert (Hg.), Aufbruch ins Alter (2008), S. 100-116. 195

STEFANIE SCHÄFER-BOSSERT

Schäfer-Bossert, Stefanie: „Wenn den starken Frauen die Kräfte schwinden. Anfragen an Selbstbilder und Lebensentwürfe“ [Workshop], in: Rivuzumwami/Schäfer-Bossert (Hg.): Aufbruch ins Alter (2008), S. 146-160. Scholz, Christopher P.: Alltag mit künstlichen Wesen. Theologische Implikationen eines Lebens mit subjektsimulierenden Maschinen am Beispiel des Unterhaltungsroboters Aibo [Research in Contemporary Religion Bd. 3], Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 2008. Spehr, Christoph: „Honeycomb World. Gesellschaft und Utopie im zeitgenössischen Horrorgenre“, in: Benjamin Moldenhauer/Christoph Spehr/Jörg Windzus (Hg.), On Rules and Monsters. Essays zu Horror, Film und Gesellschaft, Hamburg: Argument 2008, S. 174-187. Spreen, Dierk: Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne, Passau: edfc 1998.

Ab b i l d u n g e n Abb.1: Care-o-bot® II als Gehhilfe, Foto, © Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA

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„Un/an/geeignete Ande re“ – Te mporalität als ‚ Altern‘ in der Gegenw artskunst BARBARA PAUL

T e m p o r a l i t ä t – ‚ Al t e r / n ‘ – G e n d e r Im populären Diskurs, aber auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen werden die Kategorie Alter und der Prozess des Alterns immer wieder zur Markierung von Alteritäten genutzt. Diese Beobachtung kritisiert das 2006 erschienene Buch Älter werden von Silvia Bovenschen, in dem, wie schon der Titel verdeutlicht, eine zeitliche Einordnung absichtlich mehrdeutig gefasst wird.1 Unter dieser Prämisse wird es in der Argumentation wenigstens dieses Buches möglich, unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Phänomen „Älter werden“ zur Diskussion zu stellen und somit den oft diskursiv wirkmächtigen Objektivierungsbestrebungen von Lebensphasen via Alter zu widersprechen. Das Thema Alter und Altern, das in Zusammenhang mit (Gegenwarts-)Kunst noch wenig erforscht wurde,2 basiert auf der nach wie

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Silvia Bovenschen: Älter werden, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Erst in jüngster Zeit erzielt das Thema Kunst und ‚Alter/n‘ eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit, vgl. hierzu je eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst: „Wir sind immer für Euch da. Über das Versprechen der Generationen“ (10.5.-13.7.2008) und in der Neuen Gesellschaft für Bildenden Kunst e.V. NGBK Berlin: „Ein Leben lang“ (26.7.-31.8.2008) sowie den dazugehörigen Katalog beider Ausstellungen: Ausst.-Kat. Die Kunst des Alterns, Redaktion: Cordelia Marten, Berlin: Vice Versa Vertrieb 2008. Vgl. zuvor aus kulturwissenschaftlicher Sicht u.a. Mike Featherstone/ Andrew Wernick (Hg.): Images of Aging. Cultural Representations of Later Life, London u.a.: Routledge 1995, oder Frauen und Film, Juni 1991, Heft 50/51 mit dem Themenschwerpunkt „Altersbild incognito“. Im Juni 2009 fand zudem eine Tagung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zum Thema „Utopien des Alters. Perspektiven in Bild und Kunst“ statt, organisiert von Sabine Kampmann und Thomas Küpper. 197

BARBARA PAUL

vor dominanten Gegenüberstellung von jung und alt. Als Differenzkategorie korrespondiert Alter mit der diskriminierenden, da hierarchisierenden Zuordnung zum Anderen, während Jung und Jungsein oft immer noch als unumstrittene Normalität angesehen werden. Diese Problemlage, gespeist aus Biologismus und kulturell motiviertem Konstruktivismus, erfährt eine weitere Potenzierung, wenn sie mit Geschlechterfragen und hierbei wiederum mit Körperlichkeiten, Alterungsprozessen, Krankheitsstrukturen und deren Wahrnehmungsmustern verknüpft wird.3 Das Tabu der Sichtbarkeit und auch Sichtbarmachung von Alter als kulturelles und politisches Thema scheint mittlerweile gebrochen und wird seit gut zehn Jahren verstärkt zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen gemacht. Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Thema in den Human- und Lebenswissenschaften, ferner in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Eine gewisse Dominanz medizinischer Diskurse ist dabei nicht zu übersehen. Meist wird ein numerisch höheres und hohes Alter in den Blick genommen und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, das Sozialversicherungssystem, die Gesundheits- und Pflegeversorgung, ferner auf urbane Strukturen und die Bevölkerungspolitik untersucht. Kulturell gewinnbringend erscheint mir hingegen, „die soziale Relativität des Alters“ vermehrt zu diskutieren. Auch wenn es jüngst aus der Sicht der Rechtswissenschaft punktuell Unterstützung gab,4 ist doch noch viel Arbeit zu leisten, um hier einem produktiven Umdenken und veränderten Handeln näher zu kommen. Die Temporalität von Leben wird nicht nur wesentlich von medizinischen und bevölkerungspolitischen Diskursen bestimmt, sondern auch von kulturellen (biografischen) Narrationen und Visualisierungskonventionen, die die Zeitlichkeit betreffen. So dominieren etwa in Medizin, Psychologie und Alltagsmedien noch immer vielfach das Generationenschema und das Lebensphasenkonzept. Auch ein zyklisches Denken einer Analogisierung von (Lebens-)Anfang und Ende überwiegt in ‚westlichen‘ christlich geprägten Denkmustern ebenso wie das Modell vom Aufstieg über die so genannten ‚besten Jahren‘ bis zum (Ver-)Fall. Des Weiteren gewinnen moderne Euphemismen wie ‚Golden Ager‘, ‚Silver Surfer‘ oder ‚Best Ager‘ im populären Diskurs an Beliebtheit. In Kunst und visueller Kultur wird ‚Alter/n‘ sehr häufig kurzschlussartig über eine körperlich repräsentierte Temporalität markiert,

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Vgl. insbes. Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, dort v.a. die Einleitung der Herausgeberin: „Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s“, S. 7-18. Dafür spricht sich zumindest aus: Michael Stolleis: „Geschichtlichkeit und soziale Relativität des Alters“, in: Peter Gruss (Hg.), Die Zukunft des Alterns. Die Antwort der Wissenschaft. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, München: Beck 2007, S. 258-278 und 323-325.

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„UN/AN/GEEIGNETE ANDERE“

so dass der Alterungsprozess und ‚Verfall‘ primär durch Äußerlichkeiten thematisiert wird. Psychische und/oder intellektuelle Veränderungen im Laufe des Lebens werden hingegen selten oder gar nicht visualisiert. Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag den Fokus auf die inhärente Temporalität der Kategorie ‚Alter‘ und somit dezidiert auf das Feld des ‚Alterns‘ legen. Diese Perspektivierung vertrete ich, da zum einen in der Gegenwartskunst entsprechende Argumentationen zur Diskussion gestellt werden. Zum anderen ist eine weitere Ausdifferenzierung des Themas für dessen geschlechterdifferenzierende Verhandlung mit feministisch-politischem Anspruch dringend notwendig. Dabei ist mindestens bis zu Simone de Beauvoir und ihrem 1970 publizierten Buch La Vieillesse/Das Alter zurückzugehen, in dem sie eine Neuinterpretation der Konzeption der so genannten ‚besten Jahre‘ forderte und die Relativität und kulturelle Macht von Standardisierungen in Bezug auf Alter markierte.5 De Beauvoir betonte die problematische Verbindung zwischen dem Phänomen der Endlichkeit und der damit verbundenen grundsätzlichen Fehldeutung, dass die so genannten ‚besten Jahre‘ zeitlich begrenzt seien.6 Zwei Jahre später, 1972, kritisierte auch Susan Sontag in ihrem Beitrag mit dem programmatischen Titel The Double Standard of Aging, dass das körperliche und insofern sichtbare Altern bei Frauen kulturell mit Diskriminierungen, bei Männern hingegen mit Nobilitierungen verknüpft werde.7 Mit der Lyrikerin Friederike Mayröcker lässt sich schließlich auch vom „besessene[n] Alter“ sprechen. Damit meinte sie 1992 in ihrem gleichnamigen Gedichtband und Einzelgedicht nicht „[...] den Beginn von Alter, jener Zeit, die zwar nicht abzuwenden ist, der jedoch auf sehr unterschiedliche Weise die Stirn geboten werden kann [...]“, sondern vielmehr „[...] die Fortführung des immer schon dagewesenen Alters, das von jeher ein besessenes war.“8 Mit der Favorisierung von Temporalität als ‚Altern‘ möchte ich des Weiteren diejenige Bedeutungsebene des Begriffs Temporalität stärken, die man mit der Denkfigur der ‚transparenten Zeit‘ und somit einer expliziten, wirkli5

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Simone de Beauvoir: La Vieillesse, Paris: Gallimard 1970, deutsch: Das Alter, übers. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977. Vgl. hierzu auch Elisabeth Schäfer: „Wider die spöttische Parodie. Eine Konferenz in Wien feiert Simone de Beauvoir und ihre radikale Studie über die Existenz im Alter“, in: an.schläge, März 2008, S. 22-23, hier S. 23. Die internationale Konferenz „Alter/Altern“ fand anlässlich des 100. Geburtstags von Simone de Beauvoir am 22.-23. Februar 2008 an der Universität Wien statt, organisiert von Silvia Stoller. Susan Sontag: „The Double Standard of Aging”, in: Lawrence R. Allman/ Dennis T. Jaffe (Hg.), Readings in Adult Psychology: Contemporary Perspectives, New York, London: Harper & Row 1977, S. 285-294. Friederike Mayröcker: Das besessene Alter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, Klappentext und darin „das besessene Alter“, S. 134-135. 199

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chen und auch immer gültigen Zeitlichkeit charakterisieren könnte.9 Mit Blick auf Kunst und visuelle Kultur lässt sich unter diesen Prämissen das Verhältnis von Zeit und Bild sowie von Zeit und Medialität detaillierter, das meint in Verbindung mit möglichen Repräsentationseffekten und -strategien, analysieren. Denn in Kunst und visueller Kultur sind vielfältige Auseinandersetzungen mit Alltagspraxen und populären Diskursen im Umgang mit Alter und Altern zu beobachten, wobei die Kategorie Alter als der/die/das ‚Andere‘ klassifiziert wird. Von daher habe ich auch im Titel die von der feministischen (Natur-)Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway stammende Formulierung „Un/an/geeignete Andere“ gewählt, sind doch Andere, geeignete und/oder ungeeignete Andere, angeeignete und/oder unangeeignete Andere gemeint.10 Diese Wortkombination, die dem Text Monströse Versprechen entnommen ist, umreißt das ganze Spektrum des Dilemmas, geht es doch um Utopieproduktionen, die laut Haraway mit hegemonialem Anspruch unter dem Etikett Monstrositäten als diskursiv wirksam subsumiert werden. Alteritäten erhalten nicht selten diese diskriminierende und machtpolitisch funktionalisierte Klassifizierung. Innerhalb der facettenreichen Geschichte von Repräsentationen, das Alter/n betreffend, werden diese meist über kulturell konnotierte (Körper-)Vorstellungen transportiert, die oft als hässliche und/oder abjekte Deformationen erfahren bzw. beschrieben werden. In einigen Produktionen des zeitgenössischen Kunst- und Medienbetriebs werden Vorschläge für Grenzverschiebungen von Normativitäten in Bezug auf Alter gemacht. Einige Beispiele seien im Folgenden kurz vorgestellt und unter der von mir vorgenommenen theoretischen Konturierung kommentiert.

Nobilitierungen Die österreichische Künstlerin Ines Doujak, die spätestens seit der „documenta 12“ 2007 international bekannt geworden ist, spitzt das Thema Geschlecht, 9

Dieser Begriff ist momentan nicht sehr verbreitet, scheint mir aber anschaulich. Ich rekurriere mit ihm auf die Charakterisierung einer bestimmten Kunstrichtung, des Kubismus, wende die konstatierten veränderten Sehgewohnheiten jedoch im übertragenen Sinne an. Vgl. allgemein Nicolaj van Meulen: Transparente Zeit. Zur Temporalität kubistischer Bilder, München: Fink 2002. 10 Donna Haraway: „Vorwort zur deutschen Ausgabe: Leben in der Technowissenschaft nach der Implosion“, in: Donna Haraway, Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg: Argument 1995, S. 9-10, hier S. 10. Donna Haraway interessiert sich 1995 primär für der/die/das Cyborg; aufgrund der Perspektive Monstrositäten ist das beschriebene ‚Andere‘ durchaus auch in Bezug zum Thema Alter zu setzen. – Zum Thema Monstrositäten und Spektakularisierungen im Zusammenhang mit Gender und Whiteness vgl. auch Barbara Paul: „Über_Format. Monstrosität, Whiteness und Gender in Kunst und Medien heute“, in: Frauen Kunst Wissenschaft 43 (Juni 2007), S. 70-82. 200

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Alter/n und Temporalität insofern zu, als sie in ihrem großangelegten Kunstprojekt Dirty Old Women aus dem Jahre 2005 (Abb. 1) die Perspektivierung von Geschlecht bzw. ‚Frauen‘, Alter und Sexualität miteinander verknüpft.11 Dies wird bereits im Titel der Arbeit durch die Verknüpfung der Begriffe „Dirty Women“ und „Old Women“ verdeutlicht. Alter und Weiblichkeit werden hier wie andere Kategorien der Differenzmarkierung dekonstruiert, indem der kulturelle Konstruktionscharakter durch augenscheinliche Veränderungen sichtbar gemacht wird. Außerdem verstärkt die sprachliche Nähe zum etablierten und problematisierten (Künstler-)Imago des „Dirty Old Man“ die sexualisierte Sichtweite, die ‚älteren‘ Männern‘ gerne zu-, ‚älteren‘ Frauen hingegen abgesprochen wird. Abbildung 1: Ines Doujak, „Dirty Old Women”, 2005

Anhand einer auf den ersten Blick als Modenschau konzipierten Performance, die anlässlich der Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung im Salzburger Kunstverein im April 2005 stattfand12 – und ich beziehe mich im folgenden lediglich auf diese Performance –, wird spielerisch überzeichnend und damit auch überzeugend die Rückgewinnung des Terrains Mode durch ‚ältere‘ Frauen vorgeführt. Die Kunst-‚Models‘, circa 55 bis 68 Jahre alt, tragen Kleidungsstücke, in die Bilder ‚älterer‘ Frauen eingearbeitet sind. Vorangegangen 11 Zu Ines Doujak und der Arbeit Dirty Old Women vgl. u.a. http://www.querellesnet.de/index.php/qn/article/view/364/372 (Zugriff am 24.10.2008) 12 Die Ausstellung „Ines Doujak – Dirty Old Women“ wurde von Hemma Schmutz kuratiert, Salzburger Kunstverein, 27.4.-26.6.2005. 201

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war ein „Call for Pictures“, den Ines Doujak auch im Sinne eines partizipativen Anspruchs gestartet hatte, um vorhandenes ebenso wie neu produziertes Bildmaterial zu sammeln und in ihr Kunstprojekt als Zitat oder Adaption einzubringen. Die Körper der Performerinnen verweben sich mit der sie umhüllenden, zum Teil transparenten, zum Teil mit aufgenähten Körperbildern versehenen Kleidung. Dabei lassen sich eine Reihe von Transgressionen beobachten: Geschlechtertransgressionen, Alterstransgressionen, ethnisch bedingte Transgressionen; zudem gehen transvestische Motivationen mit räumlichen Transgressionen einher. Neben dem Laufsteg schreiten die Performerinnen eine ausladende Treppe hinauf. Oben auf einer Bühne formieren sie sich, um Tableau-artig ein neues Bild zu produzieren und neue Vorstellungsorientierungen zu behaupten. Die künstlerische Strategie von Ines Doujak, ‚ältere‘ Frauen in einer Kunst-Modenschau zu nobilitieren, scheint mit der Beobachtung von Simone de Beauvoir verwandt zu sein, dass das Altern bei Frauen weder eine Intensivierung als feminin wahrgenommener Elemente bewirke noch maskuline Merkmale stärker als zuvor betone. Denn Simone de Beauvoir hoffte sehr, dass durch den Prozess des Alterns die belastenden Geschlechterkämpfe infolge der dichotomischen Geschlechterordnung ein Ende finden könnten. Diese „Befreiung der Frauen von den Mühen der Geschlechterdifferenz“ durch das Älterwerden13 muss für 1970, aber auch noch heutzutage als utopische Ansicht gelten. An der Arbeit Dirty Old Women von Ines Doujak wurde auch Kritik geübt. Hedwig Saxenhuber nannte sie in der Zeitschrift springerin im Sommer 2005 eine „karnevalesk-groteske Inszenierung“, der es „[...] nicht immer gelungen [sei], ihre subversive Kraft auf die Frauen zu übertragen und andere ‚Räume‘ für das Alter mit Frauen zu entwickeln. Die Fashionlogik stand zu sehr im Vordergrund, und die Inszenierung des Alters ging in Richtung ‚jung sein‘. Möglicherweise war es auch ein zu vergnügliches und perfekt inszeniertes Spektakel [...]“14. Die Zurückgewinnung eines altersspezifischen, also vom Jungsein geprägten Raums ist, so lässt sich schlussfolgern, an sich gar nicht oder zumindest nicht in dem von Ines Doujak in Dirty Old Women vorgeführten Ausmaß nötig, wenn gleichberechtigte Gleichzeitigkeiten als verbindende, anerkennende Konzeption funktionieren würden.

13 Vgl. dazu Penelope Deutscher in ihrem Vortrag „Das Alter des Geschlechts und das Geschlecht des Alters“, gehalten auf der von Silvia Stoller organisierten Konferenz „Alter/Altern“ (22.-23.2.2008, Universität Wien), hier der Besprechung von Elisabeth Schäfer folgend, vgl. E. Schäfer: Wider die spöttische Parodie, S. 23. 14 Hedwig Saxenhuber: „Ines Doujak: ‚Dirty Old Women‘. 27. April bis 26. Juni 2005, Salzburger Kunstverein”, in: springerin. Hefte für Gegenwartskunst XI, Heft 2 (Sommer 2005), S. 70-71, hier S. 71. 202

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Eine andere Herangehensweise der Nobilitierung von ‚Alter/n‘, die zumindest im Kunstkontext und mit der Kenntnis früherer Arbeiten der Künstlerin aufgeht, wählte die US-amerikanische Künstlerin Cindy Sherman in einer ihrer jüngsten Fotografieserien mit dem neuerlich programmatisch-ironischen Titel Untitled (# 464 bis # 477, 2008). Die im Frühjahr 2009 in der Galerie Sprüth Magers in Berlin und London präsentierten Fotografien setzen, folgt man der Presseinformation der Galeristinnen, „[...] Shermans langjährige Untersuchung der Konzepte ‚Geschlecht‘, ‚Schönheit‘ und ‚Selbstgestaltung‘ fort und lassen als neue Leitmotive die Darstellung von Lebenserfahrungen und des Alterns erkennen.“15 Damit wird nicht nur das Thema Altern direkt angesprochen, sondern zugleich mit dem Parameter der Lebenserfahrung verknüpft, die offenbar als Garant der Nobilitierung fungieren soll. In vierzehn großformatigen Fotografien posiert die Künstlerin wie schon in den letzten Jahrzehnten vor ihrer eigenen Kamera. Auch diesmal glauben wir wieder ganz unterschiedliche Frauen zu erkennen, denen jedoch mondänes Auftreten, Reichtum und so etwas wie Schönheit gemeinsam ist, außerdem ein künstlich inszenierter und als solcher für die Betrachtenden erkennbar gestalteter Alterungsprozess. Dieser wird durch die Maske, auch die Gestik, Kleidung und das Raumambiente erzielt. Mal ist es die Haarfrisur, mal die Ornamentik des Kleides, ein anderes Mal das Schoßhündchen oder die Deckenlüster, die den Eindruck einer räumlichen, atmosphärischen oder eben auch individuellen Antiquiertheit entstehen lassen. Dieser Eindruck wird noch intensiviert durch die gewählten Kompositionen, die tradierten Schemata der Porträtmalerei entlehnt sind. In einem zweiten Schritt der Betrachtung tritt die Überprüfung des ‚realen‘ Alters der dargestellten Frau ein, und die Fotografie macht die mittels Maske realisierte Maskerade sichtbar, so dass die Frage des Alters als relativ und somit zugleich als beliebig und unwichtig vorgeführt wird. Die Ausstellungsinszenierung der Fotografien von Cindy Sherman in den hohen Berliner Galerieräumen unterstreicht schließlich noch die in den Arbeiten angelegte Nobilitierung, da sie auf den ersten Blick wie ‚alte‘ Gemälde wirken, obgleich es sich um zeitgenössische Fotografien handelt (Abb. 2).

15 Cindy Sherman, Galerie Sprüth Magers, Berlin, 18.2.-18.4.2009, vgl. http:// spruethmagers.net/exhibitions/219@@press_de (Zugriff am 30.6.2009) 203

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Abbildung 2: Cindy Sherman, „Untitled # 475”, 2008

„ Ag e D e l a y “ Eine andere, das Modell der ‚Phasen‘ parodierende Strategie im Umgang mit dem Thema ‚Alter/n‘, wählt die österreichische Musikerin und Künstlerin Cherry Sunkist alias Karin Fisslthaler in ihrer Videoarbeit Age Delay (nuit) (A 2004, Video DVD, PAL, 2.55 Min.).16 Sie konfrontiert die Betrachtenden mit der Nahaufnahme einer Frau, die eine Antifalten-Gesichtsgymnastik vor16 Zur Künstlerin Cherry Sunkist alias Karin Fisslthaler vgl. http://www.karin fisslthaler.co.nr/ (Zugriff am 28.11.2008) und http://www.feedbackanddisaster. net/fisslthaler/mappesmall.pdf (Zugriff am 30.12.2009). Ich danke der Künstlerin herzlich, dass sie mir ihre Videoarbeit zur Verfügung gestellt hat. Weitere Arbeiten von Karin Fisslthaler finden sich u.a. im Buch mit DVDs: wir müssen weiter denken als unsere pistolen schiessen. Die Experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität Linz, hg. von Andrea van der Straeten, Wien: Sonderzahl 2007. 204

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führt. Weit verbreiteten Schönheitsvorstellungen, denen zufolge Falten als Zeichen für einen unerwünschten Alterungsprozess gelten, soll offenbar zu entsprechen versucht werden. Diese erste Videobildeinstellung mit der Gymnastikdemonstration wird durch vier synchron ablaufende Einzelbilder abgelöst, die zunächst identisch sind, dann aber in eine Phasenverschiebung mimischer Bewegungsabläufe übergehen (Abb. 3). Abbildung 3: Cherry Sunkist alias Karin Fisslthaler, „Age Delay (nuit)“, 2004

Die einzelnen Gymnastik- und Massageelemente, wie Klopfen auf die Wangenknochen, Massieren der Oberlippe, Spannen und Lockern der Unterkiefermuskulatur, enthalten kleine Sub-Narrationen, wie Lächeln, Grinsen, Grimassenschneiden, aber auch das Einfrieren des Lächelns und schließlich – als dramaturgischen Höhepunkt – das Zunge-Herausstrecken. Diese visuellen Handlungsstränge werden durch die rhythmisierte Elektropopmusik, die von der Künstlerin entwickelt wurde, noch strategisch gesteigert. Die prägnante, etwa dreiminütige Videoarbeit lässt sich aufgrund der künstlerischen Umarbeitungen des Phänomens Anti-Aging als eine Parodie auf gängige Schönheitsvorstellungen lesen, da die Antifalten-Gesichtsgymnastik in der konkreten Ausführung nicht nur strapaziös, sondern auch noch wenig ansehnlich und nicht wirklich erfolgversprechend erscheint. Als visuelles Ausgangsmaterial diente Karin Fisslthaler ein Gymnastikübungsvideo aus den frühen 1980er Jahren. Aus diesem Found FootageMaterial verwendete sie Bildsequenzen, während sie den Originalton mit Handlungsanweisungen wie zum Beispiel „Ziehen Sie die Mundwinkel nach rechts – Halten – und Locker lassen“ nicht übernimmt. So werden bei ihrer künstlerischen Bearbeitung der Ausgangsbilder vielmehr kunst- und medienhistorische Bezüge aufgerufen. Bei der Unterteilung des Screens in vier Einzelbilder wird die Serienfotografie des späten 19. Jahrhunderts, beispielsweise von Edward Muybridge, zitiert, in der es um die Darstellung von Bewegung und Zeitabläufen geht. Auch die frühe wissenschaftliche Kinematographie vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa Jules Etienne Marey praktizierte, ist in der Abfolge von leicht veränderten Bildern be205

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strebt, den Zeitverlauf und entsprechende Aktions- bzw. Bewegungsphasen darzustellen, zu verfremden und diese überhaupt als wahrnehmbar bzw. auch als nicht-wahrnehmbar zu markieren, was bei Karin Fisslthaler argumentativ wichtig wird. Denn ihre Videoarbeit Age Delay (nuit) parodiert, wie auch bereits im Titel formuliert, die kulturelle Idee und Norm des Hinauszögerns von körperlichen und vor allem körperlich sichtbaren Alterungsprozessen. Auch auf der Ebene des Titels wird die parodistische Zielrichtung fortgesetzt. Bei der in Klammern hinzugefügten Ergänzung nuit handelt es sich nämlich um den Namen einer Gesichtscreme von keiner geringeren Firma als Chanel. Strenggenommen ist es jedoch unerheblich, ob eine Tages- oder NachtAntifaltencreme zum Einsatz kommt. Lediglich die vermeintlich prozessuale Wirksamkeit der Creme scheint in den Nachtstunden unbeobachtet und ungesehen zu bleiben.

K e i n ‚ Al t e r / n ‘ ? Die niederländische Künstlerin Inez van Lamsweerde, die Anfang der 1990er Jahre mit digitalen Fotografien und Transformationen von Körpern zu geschlechtlich nicht eindeutigen Körperbildern im Kunstbetrieb bekannt geworden ist, wählte im Jahre 1997 für ihre mindestens zwölfteilige FarbfotografieSerie Me (Abb. 4a-d) eine primär analoge fotografische Produktionsweise.17 Für das Projekt Me entwickelte Inez van Lamsweerde eine ungewöhnliche Repräsentation, da sie als visuelles Material Körperbilder anderer Personen verwendete. Auf diese Weise liefert sie, gerade weil sie selbst auf keiner einzigen Arbeit der Serie zu sehen ist, eine ungewöhnliche künstlerische Stellungnahme. Star-Klischees, Celebrity-Images oder (Alter) Ego-Konzeptionen sind nicht anzutreffen. Stattdessen entschied sich die Künstlerin für eine stellvertretende Darstellungsweise, die geläufige Parameter zur Kennzeichnung von Identität/en, wie Geschlechtszugehörigkeit, Hautfarbe bzw. Ethnizität und eben auch Alter, als relational, wenn nicht sogar als obsolet markiert. Den Ausgangspunkt für diese künstlerische Argumentation bildet eine räumliche Grundkonstellation, die in jeder Arbeit der Me-Serie gleichbleibend ist. Sie besteht aus einem Bettausschnitt mit weißem Laken und einem weißen Kopfkissen. Von einer leicht oben platzierten Kamera wird jeweils eine posierende Person aufgenommen, deren Körper ebenfalls angeschnitten ist. Eine Fotografie der Serie zeigt beispielsweise eine ältere Frau mit langem weißen 17 Ausgestellt u.a. in den Deichtorhallen Hamburg, vgl. Ausst.-Kat. Inez van Lamsweerde, ‚Photographs‘, Ausstellungsleitung: Zdenek Felix, Deichtorhallen Hamburg in Zusammenarbeit mit Schirmer/Mosel 1999/2000, Hamburg 1999. Digitale Bildmanipulationen sind im Übrigen heutzutage sehr häufig anzutreffen, auch bei ‚ursprünglich‘ analoger Fotografie. 206

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Haar (Abb. 4a). Auf einer anderen Arbeit ist eine Frau zu sehen, deren Gesicht durch lange schwarze Haare verdeckt wird, so dass wir das Alter der Frau nicht wirklich ausmachen können (Abb. 4b). Auf einer weiteren Fotografie posiert ein farbiger Mann, der sein rotes T-Shirt so über den Kopf zieht, dass es einem Kopftuch bzw. Schleier, also einem weiblich konnotierten Kleidungsstück, ähnelt (Abb. 4c). Schließlich entwickelte die Künstlerin auch eine Fotografie, die lediglich den Bettausschnitt mit ‚leerem’ Kissen zeigt (Abb. 4d). Abbildungen 4a-d: Inez van Lamsweerde, aus der Serie „Me“, 1998

Hier wird der Raum, da weder Körper noch Körperlichkeiten mehr zu sehen gegeben werden, selbst strukturell als Handlungs- und Bedeutungsträger hervorgehoben. Temporalität wird ohne Körper repräsentiert, was sich aus dem Zusammenhang der Fotografieserie erschließt. Insgesamt gesehen fällt die Vielfalt der gewählten Repräsentationen auf, die Inez van Lamsweerde alle unter der Fotografieserie Me konzeptionell sub207

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sumiert. Auf diese Weise wird die Kategorie Alter sowohl im Sinne eines numerisch gezählten Alters als auch gefühlten Alters oder wie auch immer semantisch-kulturell aufgeladenen Alters obsolet und spätestens mit der Fotografie des ‚leeren‘ Kissens ad absurdum geführt.

Demonstrierte Temporalität Abschließend gilt meine Aufmerksamkeit einem Kunstwerk, das den Alterungsprozess nicht visualisiert, sondern Temporalität demonstriert. Die in Berlin lebende Künstlerin Susanne Weirich beschäftigt sich in ihrer Arbeit Angels in Chains, einer 3-Kanal-Installation aus dem Jahre 2009,18 mit dem medialen Umgang von Charles Manson, Hippie-Kult-Figur und Verbrecher zugleich. Er hatte 1969 unter anderem den Mord an Sharon Tate angeordnet, ausgeführt wurde er durch drei Frauen aus seiner ‚Kommune‘, der so genannten „Manson Family“19. Dieses Ereignis löste weltweit ein großes Medieninteresse aus. Die Täterinnen Susan Atkins, Leslie van Houten und Patricia Krenwinkel, die ihrem ‚Leader‘ Charles Manson hörig zu sein schienen, traten bei den Gerichtsverhandlungen insofern offensiv auf, als sie den Song Never say never to always von Charles Manson sangen. Dieser war zu einer Art Hymne der Manson-Gruppe avanciert und handelte vom utopischen Abstreifen der Vergangenheit, so dass die drei Frauen eher den Eindruck einer (‚guten‘ und zugleich ‚bösen‘) Drei-Angels-Girls-Band machten. An diesem Punkt setzt die Installation von Susanne Weirich an, die eine spezifische Reinszenierung des Songs und der drei Frauen vornimmt. Wir se18 Zur Künstlerin und zu ihrer Installation (3 Beamer, 3 runde Projektionsscheiben, je 70 cm, Audioverstärker-Audio Visual Laboratories Inc., Stereo Traveler aus den USA 1960er Jahre, 2 Lautsprecherboxen, 3 CF-Card Player) vgl. u.a. http:// www.susanneweirich.com/ (Zugriff am 20.12.2009) und http://www. hamburger-kunsthalle.de/manson/catalog/weirich.htm (Zugriff am 30.12.2009). Zu betonen ist, dass Susanne Weirich ihr Kunstwerk als Auftragsarbeit für eine Ausstellung entwickelte, die sich nicht dem Thema Alter widmete, sondern dem Phänomen Charles Manson, vgl. Ausst.-Kat. MAN SON 1969. Vom Schrecken der Situation, hg. von Dirck Möllmann, Hamburger Kunsthalle 2009. Außerdem danke ich der Künstlerin herzlich, dass sie mir eine Dokumentation ihrer 3Kanal-Installation zur Verfügung gestellt hat. Ausführende von Angels in Chains sind (1969/2009): Susan Atkins: Jessica Páez/Lore Wilkening. Patricia Krenwinkel: Viktoria Bisco/Traute Hochwald. Leslie van Houten: Isabelle Höpfner/Christine Jansen; Konzept/Regie: Susanne Weirich, Produktion: BramkampWeirich GbR mit freundlicher Unterstützung aus Mitteln des Medienkunststipendiums des Landes NRW 2008. 19 Zu Charles Manson und der Manson-Family vgl. kurz zusammengefasst http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Manson (Zugriff am 31.12.2009) und http://de.wikipedia.org/wiki/Manson_Family (Zugriff 31.12.2009) sowie Ausst.Kat. MAN SON 1969. 208

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hen einen puristisch gestalteten Bühnenaufbau mit nur drei Mikrophonständern, Lautsprecherboxen, einem Audioverstärker zusammen mit drei wie Kristallkugeln wirkenden kreisrunden Scheiben, auf denen wechselnde Gesichter von Frauen projiziert werden. Diese Frauen singen stets synchron das populäre Lied von Charles Manson. Dabei wechselt immer wieder eines der drei Bilder der Frauen: mal sind Frauen aus dem Jahre 1969 zu sehen (bzw. die Schauspielerinnen von heute, die sie im Kunstwerk darstellen), mal die circa vierzig Jahre älter gewordenen Frauen, so wie sie heute aussehen bzw. aussehen würden, und schließlich weitere Frauen, die medial Bezug auf die drei ‚Manson-Frauen‘ nehmen. An erster Stelle ist hier Found FootageMaterial aus der seit 1976 laufenden TV-Krimikomödien-Serie Charlie’s Angels (USA, 1976-81, Idee: Ivan Goff und Ben Roberts; deutsch: Drei Engel für Charlie) zu nennen, in der die drei ‚guten‘ Engel über einen unsichtbar bleibenden Charlie – auch Charles Manson wurde in seinem Umkreis Charlie genannt – Befehle empfingen und diese ausführten (wenn auch niemals einen Mord).20 Diese drei Engel, verkörpert insbesondere durch die Schauspielerinnen Kate Jackson, Farrah Fawcett und Jaclyn Smith, sind bei Susanne Weirich ebenso zu sehen wie die Hauptdarstellerinnen der beiden Spielfilme, die etwa ein Vierteljahrhundert nach der international sehr erfolgreichen TVSerie gedreht wurden und unter dem Titel Charlie’s Angels (USA 2000, Regie: McG; deutsch: 3 Engel für Charlie) bzw. Charlie’s Angels – Full Throttle (USA 2003; Regie: McG; deutsch: 3 Engel für Charlie – Volle Power) herauskamen: Cameron Diaz, Drew Barrymore und Lucy Liu.21 Auf den kristallkugelartigen Scheiben sind durch Bild-, aber auch durch Zeitschnitte kontinuierlich all diese unterschiedlichen Frauen, die ‚MansonEngel‘ wie die ‚Medien-Engel‘, zu sehen (Abb. 5). Ein Alterungsprozess, der oft Spektakularisierungselemente aufweist, ist hingegen nicht visualisiert. Trotzdem wird Temporalität sowohl auf biografisch-narrativer als auch medialer Ebene demonstriert. Wir sehen nämlich im ständigen Wechsel Frauen aus unterschiedlichen Zeiten, 1969 und 2008, und verschiedenen medialen Kontexten, so etwa Porträtausschnitte aus den Fotografien im Kontext der Gerichtsverhandlungen oder Stills aus der TV-Serie und den Spielfilmen.

20 Mit dem Titel ihrer Installation Angels in Chains bezieht sich Susanne Weirich im Übrigen auf eine gleichnamige Episode der TV-Serie, die am 20.10.1976 ausgestrahlt wurde und im Gefängnis spielte. 21 Zu den Filmen vgl. u.a. http://www.imdb.com/title/tt0160127/ (Zugriff am 31.12.2009) und http://www.imdb.de/title/tt0305357/ (Zugriff am 31.12.2009). 209

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Abbildung 5: Susanne Weirich, „Angels in Chains", 2009

Diese komplexen zeitlichen, narrativen und medialen Verwobenheiten und Verschiebungen in der Installation von Susanne Weirich verdeutlichen Temporalitäten im Plural, die sowohl weit auseinander als auch hauteng zusammen liegen und somit als relativ erscheinen. Mögliche Bezugsgrößen, die eine numerische Fixierung von Alter oder eine Zuordnung zu Lebensabschnitten vornehmen, werden verworfen, indem durch das kontinuierliche Nebeneinander Transparenz geschaffen wird. 210

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S c h l u s s : R e l a t i v i t ä t e n vo n T e m p o r a l i t ä t Nobilitierungen von ‚Alter/n‘ sind grundsätzlich, wie dies beispielsweise Ines Doujak in Dirty Old Women und Cindy Sherman in Untitled # 464-477 praktizieren, zu begrüßen. Allerdings ist die Zurückgewinnung einer vermeintlich altersspezifischen, eigentlich aber vom Jungsein geprägten Vorstellungs- und Handlungswelt nicht wirklich anzustreben, wenn gleichberechtigte Gleichzeitigkeiten verbindlich Akzeptanz erfahren sollen. Dann müssten wir nicht länger vom Alter als ‚Anderem‘ sprechen und demnach handeln, sondern verstärkt die Relativität von Alter favorisieren und praktizieren – und dies ganz unabhängig davon, ob das angeeignete Andere, das unangeeignete Andere oder welches Andere auch immer gerade zur Diskussion steht. Die Relativität, mehr noch die Unwichtigkeit der Benennung und Fixierung von Alter diskutiert Inez van Lamsweerde in ihrer Fotografieserie Me. Karin Fisslthaler parodiert in ihrer Videoarbeit Age Delay (nuit) das oft ehrgeizig betriebene Hinauszögern und die paradoxe Sinnlosigkeit des numerisch klassifizierten, primär medizinisch und lebenswissenschaftlich definierten Alterungsprozesses. Susanne Weirich praktiziert in Angels in Chains eine Temporalität, die ‚Altern‘ nicht explizit visualisiert. Durch solche und ähnliche Verfahren, wie die hier kommentierten Kunstwerke der fünf Künstlerinnen, lässt sich die Reflexion und vielleicht auch Neudefinition von Konzeptionen vorantreiben, in welchen die bisherige Differenzkategorie Alter umgearbeitet wird. Denn es geht nicht um eine neuerliche oder verschleierte Fetischisierung vom Jungsein, nicht um die Befriedigung von neuerwachten ‚alten‘ Subversionseuphorien und auch nicht um die Fixierung veränderter Normalitäten mit gewandeltem allgemeingültigen Anspruch. Bei der Thematisierung von relativen Temporalitäten, die sich zudem durch die Perspektivierung der Transparenz auszeichnen und uns dadurch ermöglichen, kulturell begründete Bedeutungszuschreibungen zu dekonstruieren, spielen vielmehr diejenigen künstlerischen Strategien eine wichtige Rolle, die kontingente Identitäten als gleichberechtigte und stets veränderbare modellieren.

Literatur Ausst.-Kat. Die Kunst des Alterns, Redaktion: Cordelia Marten, Berlin: Vice Versa Vertrieb 2008. Ausst.-Kat. Inez van Lamsweerde, ‚Photographs‘, Ausstellungsleitung: Zdenek Felix, Deichtorhallen Hamburg in Zusammenarbeit mit Schirmer/ Mosel 1999/2000, Hamburg 1999. Ausst.-Kat. MAN SON 1969. Vom Schrecken der Situation, hg. von Dirck Möllmann, Hamburger Kunsthalle 2009, Hamburg 2009. 211

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de Beauvoir, Simone: La Vieillesse, Paris: Gallimard 1970, deutsch: Das Alter, übersetzt von Anjuta Aigner-Dünnwald und Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977. Bovenschen, Silvia: Älter werden, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Featherstone, Mike/Wernick, Andrew (Hg.): Images of Aging. Cultural Representations of Later Life, London u.a.: Routledge 1995. Frauen und Film, Juni 1991, Heft 50/51 [Themenschwerpunkt „Altersbild incognito“]. Gruss, Peter (Hg.): Die Zukunft des Alterns. Die Antwort der Wissenschaft. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft, München: Beck 2007. Haraway, Donna: „Vorwort zur deutschen Ausgabe: Leben in der Technowissenschaft nach der Implosion“, in: Donna Haraway, Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg: Argument 1995, S. 9-10. Haraway, Donna: Monströse Versprechen. Die Gender- und TechnologieEssays, Hamburg: Argument 1995. Hartung, Heike (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005. Hartung, Heike: „Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s“, in: dies. (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 7-18. http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Manson (Zugriff am 31.12.2009) http://de.wikipedia.org/wiki/Manson_Family (Zugriff am 31.12.2009) http://spruethmagers.net/exhibitions/219@@press_de (Zugriff am 30.6.2009) http://www.feedbackanddisaster.net/fisslthaler/mappesmall.pdf (Zugriff am 30.12.2009) http://www.hamburger-kunsthalle.de/manson/catalog/weirich.htm (Zugriff am 30.12.2009) http://www.imdb.com/title/tt0160127/ (Zugriff am 31.12.2009) http://www.imdb.de/title/tt0305357/ (Zugriff am 31.12.2009) http://www.karinfisslthaler.co.nr/ (Zugriff am 28.11.2008) http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/364/372 (Zugriff am 24.10.2008) http://www.susanneweirich.com/ (Zugriff am 20.12.2009) Mayröcker, Friederike: Das besessene Alter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Meulen, Nicolaj van: Transparente Zeit. Zur Temporalität kubistischer Bilder, München: Fink 2002. Paul, Barbara: „Über_Format. Monstrosität, Whiteness und Gender in Kunst und Medien heute“, in: Frauen Kunst Wissenschaft 43 (Juni 2007), S. 7082.

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Ab b i l d u n g e n Abb. 1: Ines Doujak, Dirty Old Women, 2005, Fotos, entstanden im Kontext der gleichnamigen Performance im Salzburger Kunstverein, Fotos: Hermann Seidl, springerin. Hefte für Gegenwartskunst XI, Heft 2 (Sommer 2005), S. 71. Abb. 2: Cindy Shermann, Untitled # 475, 2008, Farbfotografie, 219,4 x 194,3 cm. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, Courtesy the artist Metro Pictures and Sprüth Magers, Berlin/London. Abb. 3: Cherry Sunkist alias Karin Fisslthaler, Stills aus Age Delay (nuit), A 2004, Video DVD, PAL, 2.55 Min. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Karin Fisslthaler, Linz/Wien. Abb. 4: Inez van Lamsweerde, aus der Serie Me, 1998, Cibachrome in Plexiglas, je 125 x 97,5 cm, Ausst.-Kat. Inez van Lamsweerde, ‚Photographs‘, Ausstellungsleitung: Zdenek Felix, Deichtorhallen Hamburg in Zusammenarbeit mit Schirmer/Mosel 1999/2000, Hamburg 1999, o.S. Abb. 5: Susanne Weirich, Angels in Chains, 2009, Installationsansicht mit Susan Atkins 1969 (Jessica Páez), Patricia Krenwinkel (Farrah Fawcett), Leslie van Houten 2009 (Christine Jansen), Hamburger Kunsthalle, im Rahmen der Ausstellung „MAN SON 1969“. Foto: Sonja Brüggemann. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Susanne Weirich, Berlin 2000, und der VG Bild-Kunst, Bonn.

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Undoing Age . Die Performativität des alternde n Körpers im a utobiogra phische n Te xt MIRIAM HALLER

Einleitung Die Alternswissenschaften definieren den Forschungsgegenstand ‚Alter‘ disziplinär unterschiedlich: Differenziert werden das biologische Alter, das pathologische Alter, das kalendarische Alter, das psychologische Alter bzw. die Altersidentität und das soziale Alter. Kulturwissenschaftliche Alternsstudien1 bereichern die Alternsforschung um Analysen der kulturellen Einschreibungen von Altersidentität, der kulturellen Konstruktion des alternden Körpers und nehmen die Macht der Altersnormen im Hinblick auf Identitätsregulationen und Körpernormierungen in den Blick. Bisher konzentrieren sich kulturwissenschaftliche Analysen vor allem auf die sozialisierende Macht des Altersdiskurses und der ihn leitenden Altersbilder.2 Doch in welchen diskursiven Praktiken kommt ein Unbehagen bzw. ein Aufbegehren gegenüber restriktiven Altersnormierungen zum Ausdruck? Lassen sich in Analogie zu Judith Butlers „Gender trouble“3 auch im Hinblick auf die soziale Normierung des Alter(n)s Praktiken von „Ageing trouble“4 erkennen, die zu einer Erweite1

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Vgl. die Überblicksdarstellung von Miriam Haller/Thomas Küpper: „Kulturwissenschaftliche Alternsstudien“, in: Kirsten Aner/Ute Karl (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (im Druck). Vgl. z.B. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Miriam Haller: „‚Ageing trouble‘. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung“, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.), Altern ist anders, Münster: LIT 2004, S. 170-188; Miriam Haller: „‚Unwürdige Greisinnen‘. ‚Ageing trouble‘ im literarischen Text“, in: 215

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rung des Spektrums von Altersbildern und zu einer Erweiterung der Möglichkeiten führen, Alter(n) individuell zu gestalten? Um dieser Fragestellung gerecht zu werden, geht es im Folgenden zunächst darum, in Auseinandersetzung mit dem Konzept der performativen Konstruktion des Alters („Doing Age“) einen theoretischen Rahmen zu entwerfen, der sowohl die Frage nach der sozialisierenden Macht von Altersbildern als auch die bildungstheoretisch relevante Frage nach Möglichkeiten autobiographischer Dekonstruktion sozialer Altersnormierungen (‚Undoing Age‘) umfasst. Daran schließen sich methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Körper, alterndem Ich und der Fiktion autobiographischer Repräsentation. Am Beispiel von Susan Sontags Text The Double Standard of Aging5 und Silvia Bovenschens Älter werden6 werden Schreibweisen des ‚alternden Ich‘ im Hinblick auf die eingesetzten narrativen Strategien von „Doing Age“ und ‚Undoing Age‘ untersucht und die dabei hervortretenden zentralen Unterschiede gegenübergestellt.

D o i n g u n d U n d o i n g Ag e . Z u r p e r f o r m a t i ve n K o n s t r u k t i o n u n d D e k o n s t r u k t i o n d e s Al t e r s Überträgt man die Performativitätstheorie Judith Butlers auf das Alter, wird deutlich, wie auch die Inszenierungen des Alters und des alternden Körpers (nicht nur des Geschlechts, auf das sich der folgende Satz Butlers bezieht) „sich insofern als performativ [erweisen], als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen oder andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/ Erfindungen sind.“7 Inwieweit Alter eine Art von Tun ist, hat Klaus R. Schroeter analysiert: Er verwendet in Analogie zum „Doing Gender“-Ansatz von West und Zimmerman8 den Begriff „Doing Age“9, mit dem er die soziale

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Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript 2005, S. 45-63. Susan Sontag: „The Double Standard of Aging“, in: Lawrence R. Allmann (Hg.), Readings in adult psychology, New York: Harper and Row 1977, S. 285294, hier S. 285. Silvia Bovenschen: Älter werden. Notizen, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 200. Vgl. Candace West/Don H. Zimmerman: „Doing Gender“, in: Gender & Society, 1,2 (1987), S. 125-151. Vgl. Klaus R. Schroeter: „Doing Age, Korporales Kapital und Erfolgreiches Altern“, in: SPIEL 24 (2005), S. 147-162; vgl. auch Klaus R. Schroeter: „Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der ‚alterslosen Altersgesellschaft‘“, in: Ursula Pasero/Gertrud M. Backes/Klaus R. Schroeter, (Hg.), Altern in Gesell-

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Konstruktion von Altersdifferenz als eine Form von Performanz und Inszenierung fasst.10 Sein Verständnis von „Doing Age“ stützt sich auf ein theaterwissenschaftliches Performanz-Konzept. Unter Performanz versteht er mit Fischer-Lichte „den vor körperlich anwesenden Zuschauern bewusst oder unbewusst vollzogenen Darstellungsakt durch Körper und Stimme“; unter Inszenierung „den spezifischen Modus der Zeichenverwendung (also: aktuelles Design, Mode, Kosmetik usw.)“ und damit jene „‚Kulturtechniken und Praktiken‘ [...]‚ ‚mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird‘.“11 Dieses Konzept von Alter als „Doing Age“ ermöglicht es, das Alter als soziokulturelle Aufführung zu denken, in der sozial normierte Altersbilder und altersbezogene Körperbilder ‚vorgespielt‘ und ‚nachgeahmt‘ werden. Das ist plausibel, lässt jedoch nicht nur die bildungstheoretisch relevante Frage nach den Möglichkeiten individueller Gestaltung von Altersperformanz in kritischer Auseinandersetzung mit sozial normierten Altersbildern außer acht, sondern ebenso die Frage nach den Möglichkeiten, den kulturellen Wandel von Altersbildern aktiv zu beeinflussen. Um diese Aspekte einzubeziehen, gilt es, auch nach Formen von ‚Undoing Age‘ zu fragen, das heißt nach Formen von Altersperformativität, die sozial normierte Altersbilder unterlaufen oder verschieben. Wenn man den Überlegungen Butlers Konzept der Performativität zugrunde legt, kommen diese Perspektiven in den Blick: Butler erweitert im Anschluss an Austins Sprechakttheorie und Derridas Konzept der „différance“ den Performanzbegriff um die politische Dimension der Performativität.12 Ihr Performativitätsbegriff dient sowohl als Instrument für die Analyse von Praktiken der Aufführung sozialer Normen als auch von Strategien ihrer Resignifikation. Die Butlersche Performativitätstheorie stellt somit auch das Instrumentarium für die Analyse von Resignifikationsstrategien in Bezug auf kulturelle Performanzen des Alters zur Verfügung. Jeder Wiederholung der Norm, das zeigt Butler im Anschluss an Derrida, ist ein Moment des Aufschiebens und Verschiebens inhärent, das Möglichkeiten kulturellen Wandels birgt: „Derridas Formulierung [bietet] die Möglichkeit, Performativität in Verbindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit früheren Kontexten, der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden müssen.“13 Auch hinsichtlich der soziokulturellen Konstruktion des Alters

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schaft. Ageing – Diversity – Inclusion, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 129-148. Vgl. K.R. Schroeter: Zur Symbolik des korporalen Kapitals, S. 134. Ebd., S. 134f.; vgl. auch Erika Fischer-Lichte: „Theatralität und Inszenierung“, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 11-27, hier S. 20. Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, insbes. Kap. I „Flammende Taten, verletzendes Sprechen“, S. 72-107. Ebd., S. 236. 217

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lässt sich zeigen, dass Zitate der traditionellen Alterstopik (Altersspott, Altersschelte, Altersklage und Alterslob) die Norm wiederholen, sie aber gleichzeitig resignifizieren und dekonstruieren können.14 Performative Sprechakte können eben (zum Glück), je nach Kontextualisierung, ja, selbst bei gleicher Kontextualisierung, glücken oder – scheitern. Dies gilt auch für das oben zitierte Konzept von „Doing Age“, dem sich in der resignifizierenden Wiederholung ein ‚Un‘ einschreiben kann. Das wäre selbst wiederum eine Wiederholung bzw. ein Zitat, denn auch der „Doing Gender“-Ansatz wurde durch unterschiedliche Konzepte von „Undoing Gender“ resignifiziert und erweitert.15 Ich beziehe die folgenden Überlegungen zu Praktiken von ‚Undoing Age‘ auf die 2004 erschienene Essay-Sammlung Undoing Gender16 von Judith Butler. Butler versteht unter „Undoing Gender“ performative Strategien, die „restrictively normative conceptions of sexual and gendered life“ auflösen („to undo“).17 Prozesse des „Undoing Gender“ sind Butlers Verständnis nach nicht zwangsläufig positiv besetzt, sondern können auch negative Erfahrungen zeitigen. Im Gegensatz zu den Ansätzen von Hirschhauer und Deutsch bezieht sich ihr Ansatz weder auf Geschlechtsneutralität noch auf die Neutralisierung von Geschlechterdifferenz, geschweige denn auf die Abschaffung der Kategorie Gender. Diese Deutungen sind insofern unzulässige Vereinfachungen, als die Qualität von Butlers Ansatz gerade in der Berücksichtigung des Bedeutungsspektrums der Konnotationen von ‚to undo something‘ bzw. ‚someone‘ besteht: Das Spektrum reicht von annullieren, zurücknehmen, rückgängig machen, löschen und widerrufen über aufknoten, trennen, auflösen und öffnen, hin zu zerstören, jemanden zu Grunde richten oder etwas zunichte machen. ‚Undoing Age‘ meint deshalb nicht, die Kategorie des Alters im Sinne einer alterslosen Gesellschaft abzuschaffen oder die Altersdifferenz zu neutra14 Vgl. M. Haller: ‚Unwürdige Greisinnen‘ 15 Stefan Hirschhauer versteht unter ‚Undoing Gender‘ das Vergessen und Neutralisieren der Geschlechterdifferenz. Vgl. Stefan Hirschauer: „Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41, 53 (2001), S. 208-235; vgl. auch Francine M. Deutsch: „Undoing Gender“, in: Gender & Society, 21, 1 (2007), S. 106-127, hier S. 122: Deutsch schlägt vor, „that we adopt a new convention, namely, that we reserve the phrase ‚doing gender‘ to refer to social interactions that reproduce gender difference and use the phrase ‚undoing gender‘ to refer to social interactions that reduce gender difference.“ 16 Vgl. Judith Butler: Undoing Gender, New York, London: Routledge 2004; vgl. auch Judith Lorber: „Man muss bei Gender ansetzen, um Gender zu demontieren. Feministische Theorie und Degendering“, in: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 22/2 (2004), S. 9-24. 17 Judith Butler: „Introduction. Acting in concert”, in: dies., Undoing Gender, S. 116, hier S.1. 218

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lisieren. Mit dem Konzept von ‚Undoing Age‘, wie ich es im Anschluss an Butlers Ansatz entwickeln möchte, lassen sich vielmehr die performativen Strategien untersuchen, mit denen bestehende Altersnormierungen und restriktive normative Altersleitbilder demontiert und dekonstruiert werden können und somit günstigenfalls neue Handlungsspielräume und neue Möglichkeiten, Altern zu gestalten, eröffnet werden. Mit dem Ziel, die Bedeutungsvielfalt von ‚to undo‘ – changierend zwischen Befreiung und Öffnung einerseits und Annullierung, Zerstörung, Löschung andererseits – zu wahren, versuche ich die Praktiken von „Doing Age“ und ‚Undoing Age‘, der Konstruktion und der Dekonstruktion von normativ funktionalisierten Altersbildern, als ineinander verschränkte zu analysieren, als eine ‚Politik des Performativen‘, die in direkter Weise die Bildung des ‚alternden Ichs‘ und seine diesbezügliche Handlungsmacht betrifft. Diesen Zusammenhang erläutert Butler folgendermaßen: „If I am someone who cannot be without doing, then the conditions of my doing are, in part, the conditions of my existence. If my doing is dependent on what is done to me or, rather, the ways in which I am done by norms, then the possibility of my persistence as an ‚I‘ depends upon my being able to do something with what is done to me. This does not mean that I can remake the world so that I become its maker. [...] If I have any agency, it is opened by the fact that I am constituted by a social world I never chose. [...] As a result, the ‚I‘ that I am finds itself at once constituted by norms and dependent on them but also endeavors to live in ways that maintain a critical and transformative relation to them. This is not easy, because the ‚I‘ becomes, to a certain extent unknowable, […], with becoming undone altogether, when it no longer incorporates the norm in such a way that makes this ‚I‘ fully recognizable.“18

Ohne die für das ‚Ich‘ konstitutive Macht sozialer Normen in Zweifel zu ziehen, geht es nach Butler im Prozess der Ich-Konstitution insbesondere darum, eine kritische und transformative Beziehung zu den Normierungen anzustreben. Auch wenn sich die zitierte Passage auf die Relation zwischen kulturellem Geschlecht und ‚Ich‘ bezieht, scheint in der Formulierung des letzten hier zitierten Satzes die Temporalität der Inkorporation von Körpernormierungen auf: Das ‚Ich‘ wird erst dann ‚undone‘, im Sinne von unkenntlich, wenn es nicht mehr bzw. nicht länger die Norm in der Weise verkörpert, die es als ‚Ich‘ erst kenntlich und (an)erkennbar für andere macht. Wenn altersbezogene Körpernormierungen und -disziplinierungen sich zunehmend an auch im Alter aufrechtzuerhaltender Leistungsfähigkeit orientieren und als Ideal allein die jugendliche Schönheit anerkennen, so hat das Auswirkungen auf die Inszenierung von Altersidentität. Das Passing als ‚Ich‘ 18 Ebd., S. 3. 219

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ist dann mit dem Aspekt der Temporalität insofern verknüpft, als die Anerkennung des ‚Ich‘ an die Verkörperungsmöglichkeit einer an Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit orientierten Körpernorm geknüpft ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass in den Inszenierungen von Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit im Alter keine Möglichkeiten liegen, in kritischer und transformativer Weise den Spielraum möglicher Altersidentitäten zu erweitern. Die ReIteration der Norm jugendlicher Schönheit kann durchaus auch ein subversives Potential entfalten, wie der Beitrag von Thomas Küpper in diesem Sammelband zeigt. Gerade im Alternsprozess und den damit verbundenen Körperinszenierungen sieht Butler Möglichkeiten der Resignifikation von Normen, die unsere Vorstellung von Realität neu bestimmen: „These practices of instituting new modes of reality take place in part through the scene of embodiment, where the body is not understood as a static and accomplished fact, but as an aging process, a mode of becoming that, in becoming otherwise, exceeds the norm, reworks the norm, and makes us see how realities to which we thought we were confined are not written in stone.“19

Das Altern des Körpers und die Inszenierungen des alternden Körpers unterliegen ebenso der sozialen Normierung wie die Konstituierung des ‚Ich‘. Aber der körperliche Alternsprozess und die diesbezüglichen Inszenierungen von Altersidentität eröffnen auch Möglichkeiten zu einem „Anderswerdenkönnen“20 des ‚Ich‘ durch diskursive Praktiken, die normative Alters- und Körperbilder transformieren und zur Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten, Altern zu inszenieren, beitragen.

K ö r p e r , ‚ Al t e r - E g o ‘ u n d d i e F i k t i o n autobiographischer Repräsentation Der eigene Körper lässt sich nicht als ein ganzer sehen. So bleiben wir ohne einen Spiegel kopflos. Aber auch der Spiegel zeigt nur eine eindimensionale Oberfläche, und allemal die Spiegelung im Blick der Anderen bleibt bruchstückhaft und trügerisch. Auch Schrift und Text helfen diesbezüglich nicht viel weiter und sind als Spiegel höchstens metaphorisch geeignet. Die Schrift ersetzt das Bild des Körpers, wie Christiaan L. Hart Nibbrig ausführt, „als Zeichen verweigerter Spiegelung“: „Wo das Auge, ein Körper-Bild erwartend, umspringen muß auf den Text, wird ihm die bildliche Erfüllung seiner 19 Judith Butler: „Beside Oneself. On the Limits of Sexual Autonomy“, in: dies., Undoing Gender, S. 17-39, hier S. 29. 20 Norbert Ricken: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg: Königshausen und Neumann 1999, S. 409. 220

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Erwartung verweigert und zugleich negativ zurückgespiegelt, daß das, was es erwartet, der Körper, abstrakt geworden ist und daß es im Grund schon von ihm abgesehen hat. Lesen heißt dann: ihn suchen.“21 Das verweigerte Abbild des Körpers im Text wirkt nichtsdestotrotz performativ, insofern als auch die Konstruktionen und Dekonstruktionen des Körpers im Text die Normen für das regulieren, was wir überhaupt als Körper wahrnehmen und anerkennen. Das gilt auch für das ‚Ich‘ im Text. Es ist im buchstäblichen Sinn ein ‚Alter-Ego‘. Deshalb ist der Versuchung zu widerstehen, vorschnell den „autobiographischen Pakt“22 zu schließen, in dem das erzählte ‚Ich‘ mit der Autorin oder dem Autor identifiziert wird. Diese Identifikationsleistung ist, wie Philippe Lejeune im Anschluss an Benveniste ausführt, der performative Effekt, der gemeinhin eintritt, wenn wir ‚Ich‘ sagen oder schreiben: Die Funktion von Personal-, Possessiv- oder Demonstrativpronomen liegt nun einmal nicht im Begrifflichen, sondern ihre Funktion besteht darin, „auf einen Namen zu verweisen oder auf eine Ganzheit, die sich mit einem Namen bezeichnen läßt“.23 In einer Textanalyse kommt es nun aber gerade darauf an, diese Identifikation nicht zu leisten, also die Referenz zwischen ‚Ich‘ und Autor/in nicht vorschnell herzustellen, sondern vielmehr die Effekte, die das ‚Ich‘-Sagen oder -Schreiben auslöst, zu untersuchen sowie die Strategien, mit denen sich das ‚Ich‘ überhaupt als ‚Ich‘ positioniert. Diese methodische Zurückhaltung ist jedoch in der Biographie-Forschung umstritten, da viele Untersuchungen (z.B. narrativer Interviews) von der „Homologiethese“ ausgehen, die besagt, „daß die Struktur von Erzählungen (sofern es sich um die Erzählung selbsterlebter Erfahrungen handelt) der Struktur dessen, wovon erzählt wird, homolog sei – oder mit anderen Worten: daß solche Erzählungen mehr oder minder getreues Abbild tatsächlich vergangener Erfahrungen liefern“24. Dieser „biographischen Illusion“25, vor der Bourdieu die Biographie-Forschung schon in den 1980er Jahren warnte, sollen die folgenden Textanalysen nicht erliegen. Es wird vielmehr in bildungstheoretischer Tradition mit Klaus Mollenhauer davon ausgegangen, „dass noch die wahrhaftigste Selbstoffenbarung eine soziale Inszenierung ist, die sich durch die geschichtlichen Formen hindurcharbeiten muss“26. 21 Christiaan L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 197. 22 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 23 Ebd., S. 22. 24 Hans-Christoph Koller: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München: Fink 1999, S. 171f. Koller folgt der Homologiethese in seinem Auswertungsverfahren nicht. 25 Pierre Bourdieu: „Die biographische Illusion“, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 3 (1990), S. 75-81. 26 Klaus Mollenhauer: „Korrekturen am Bildungsbegriff?“, in: Zeitschrift für Pädagogik 33 (1987), S. 1-20, hier S. 17. 221

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Im Folgenden werden Schreibweisen des ‚alternden Ich‘ und deren Zusammenhang mit der Konstruktion und Dekonstruktion des alternden Körpers im Hinblick auf die eingesetzten Strategien von „Doing Age“ und ‚Undoing Age‘ untersucht. Inwiefern auch die kulturelle Alterskonstruktion einer ‚Politik des Performativen‘ unterliegt und sich ihrer bedient wird am Beispiel von Susan Sontags Essay The Double Standard of Aging (1972) und Silvia Bovenschens Notizen über das Älter werden (2006) gezeigt. Die Analyse konzentriert sich 1. auf die Erzählperspektiven des ‚alternden Ich‘, 2. auf die körperbezogenen Alterstopoi und deren intertextuelle Resignifikation sowie 3. auf die unterschiedlichen Versuche von ‚Wahrheitsproduktion‘, die die Relation von Alter, Körper und ‚Ich‘ politisch aufladen.

Susan Sontag: The Double Standard o f Ag i n g ( 1 9 7 2 ) Erzählperspektiven: ‚Ich‘ und das Altern der Anderen Sontags Essay beginnt mit der direkten Frage: „‚How old are you?‘“27 Kein ‚Ich‘ beginnt den Text, sondern ein ‚Du‘ wird angesprochen und mit der Frage nach seinem Alter konfrontiert. Wer fragt, und wer wird gefragt? Dass es nicht der Erzähler/die Erzählerin ist, der/die die Frage an eine/n impliziten Leser/in richtet, markieren zunächst nur die Anführungszeichen, in die die Frage gesetzt ist. Dennoch scheint die Frage die Grenze des Textes in Richtung des Lesers/der Leserin zu überschreiten. Erst die beiden folgenden Sätze ziehen die Grenze wieder fest und markieren den fiktiven Raum, den der Leser/die Leserin imaginär ausgestalten kann: „The person asking the question is anybody. The respondent is a woman, a woman ‚of a certain age‘, as the French say descreetly.“28 Das erzählende ‚Ich‘ wird erst drei Seiten später eingeführt. Bis dahin dominiert das unpersönlich-objektivierende und verallgemeinernde ‚man‘: „At thirty, one pushes the sentence forward to forty. At forty, one still gives oneself ten more years.“29 Der Wechsel in die Perspektive des erzählenden Ich erfolgt jedoch nicht, um über eben dieses ‚Ich‘ und seinen Umgang mit dem eigenen Alter(n) zu erzählen. Im Fokus (der Kritik) steht vielmehr die um vier Jahre ältere engste College-Freundin, deren Verhalten von der Ich-Erzählerin/dem Ich-Erzähler bezeugt wird: „I remember my closest friend in college sobbing on the day she turned twenty one. ‚The

27 S. Sontag: The Double Standard of Aging, S. 285. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 288. 222

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best part of my life is over. I’m not young any more.‘ She was a senior, near graduation. I was a precocious freshman, just sixteen.“30 Nicht die Ich-Erzählerin/der Ich-Erzähler steht dafür ein, die These vom „double standard of aging“ zu beglaubigen, sondern der Topos der ‚besten Freundin‘ wird aufgerufen, um den Beleg für die gesellschaftliche Geschlechterdifferenz in Hinsicht auf Normierungen des alternden Körpers zu liefern. Rhetorisch gesehen, ein waghalsiges Unterfangen, denn dieser Topos wird leicht als Strategie des erzählenden ‚Ich‘ gelesen, sich selbst nicht offenbaren zu wollen und deshalb das ‚Ich‘ durch den Namen der/des Anderen zu ersetzen. Diese rhetorische Strategie unterläuft die Proklamation der Authentizität – dem an Frauen gerichteten Aufruf, zu ihrem kalendarischen Alter zu stehen und sich nicht am Ideal mädchenhafter Schönheit zu orientieren –, die der Text auf der konstativen Ebene beschwört. Hier zeigt sich, wie eng Strategien von „Doing Age“ und ‚Undoing Age‘ verknüpft sein können: Wird auf der konstativen Ebene des Textes eine affirmative Identitätspolitik des Alters eingefordert, die sich gegen das für den alternden weiblichen Körper normierte Ideal mädchenhafter Schönheit richtet, so unterläuft die Schreibweise des Textes performativ eben diesen Aufruf, indem das ‚Ich‘ sich hinsichtlich seines Alters als ‚die Jüngere‘ inszeniert. ‚Alt‘ ist in diesem Text buchstäblich nur ‚die Andere‘.

Altern als Inszenierung: Körperbezogene Alterstopoi Sontags Text kritisiert den gesellschaftlichen „double standard of aging“, das heißt den unterschiedlichen sozialen Maßstab, der an alte Männer im Unterschied zu alten Frauen angelegt werde. Während für den männlichen Körper zwei Schönheitsideale existierten (das des Jungen und das des reifen Mannes), gäbe es für Frauen nur das Ideal des mädchenhaften Körpers. In diesem Zusammenhang wird das hohe Alter (old age) vom Älterwerden bzw. Altern (aging) unterschieden. Altern wird nicht als biologischer Prozess, sondern als kulturelles Konstrukt verstanden – eine subjektiv imaginierte Krankheit und soziale Pathologie, unter der mehr Frauen als Männer leiden. Das hohe Alter hingegen gehöre in ein anderes Kategorienraster: Es sei eine objektive Kategorie des Schmerzes und des Leids.31 Im Gegensatz zur Hochaltrigkeit sei das Älterwerden nur ein Problem der kulturell codierten Wahrnehmung – und zwar des Fremd- und Selbstbildes. In diesem Zusammenhang sei es insbeson30 Ebd. 31 Vgl. ebd., S. 285: „[...] the objective, sacred pain of old age is of another order than the subjective, profane pain of aging. Old age is a genuine ordeal, one that men and women undergo in a similar way. Growing older is mainly an ordeal of the imagination – a moral disease, a social pathology – intrinsic to which is the fact that it afflicts women much more than men.” 223

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dere ein weibliches Phänomen, weil Altern in bezug auf Frauen konventionell als Fehlen von Jugend wahrgenommen werde, hingegen bei Männern durchaus als Prestigegewinn.32 Weiblichkeit und weibliches Altern werden im Text mit Metaphern der Theatralität belegt: „To be a woman is to be an actress. Being feminine is a kind of theater, with its appropriate costumes, décor, lighting, and stylized gestures.“33 Ganz im Sinne des „Doing Age“-Ansatzes von Schroeter wird hier das Alter, insbesondere das weibliche Alter, als Performance verstanden, jedoch als Performance von Mädchenhaftigkeit. Kostüme, Bühnenbild, Licht und eine stilisierte Gestik seien die Medien des Theaters der alternden Weiblichkeit, in dessen Mittelpunkt der Körper stehe. Das weibliche Gesicht wird zum „emblem“ oder „icon“, an anderer Stelle gar zur Leinwand: „A woman's face is the canvas upon which she paints a revised, corrected portrait of herself.“34 Auch an dieser Stelle ist Butlers Konzept der Performativität weiterführend, um die Resignifikationsstrategie beschreiben zu können, die hier wirksam wird. Die zitierte Passage lässt sich in dieser Perspektive als Intertext zu Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890) lesen, in dem Grays Altersklage über die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit zitiert, aber auch resignifiziert wird: „Wie traurig es ist! Ich werde alt werden, häßlich, widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über diesen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe, und das Bild altern könnte! Dafür – dafür – gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zu viel. Ich gäbe meine Seele als Preis dahin.“35 Doch zeigt sich bei Sontag in der Wiederholung dieser Topoi der Altersklage die Differenz: In Sontags Text wird das Porträt der Jugend direkt auf die Haut gemalt. Die Haut selbst dient dabei als „canvas“, als Leinwand. Oscar Wildes Roman hingegen erzählt, wie anstatt des Dorian Gray sein auf Leinwand gemaltes Portrait altert. Die in Wildes Roman erzählte räumliche Distanz zwischen Porträt und Figur, zwischen Signifikant und Signifikat, wird in Sontags Text verkürzt. Das Porträt jugendlicher Schönheit wird direkt auf das alternde Gesicht gemalt. Beide Texte implizieren eine moralische Infragestellung der am Ideal jugendlicher Schönheit orientierten Altersperformativität. Am Ende von Wildes Roman scheitert der Versuch eines an das Medium des Bildes „delegierten

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Vgl. ebd., S. 286. Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, Zürich: Diogenes 1986, S. 36.

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Alterns“36 tragisch, so dass das Streben nach ewiger Jugend als Beginn einer langen Reihe moralischer Verfehlungen des Protagonisten erscheint. In Sontags Essay wird die moralische Verurteilung einer an Jugendlichkeit orientierten Altersperformanz explizit formuliert und mit dem pathetischen Aufruf „Woman should tell the truth“ verstärkt.37

„Woman should tell the truth!“ Alter und Wahrheit Liest man Sontag gegen Sontag, so wird deutlich, dass in The Double Standard of Aging weibliche Altersinszenierungen anderen moralischen Maßstäben und anderen ‚ageing policies‘ unterzogen werden als die in Sontags Anmerkungen zu ‚Camp‘ (1964) – dort mit explizitem Bezug auf Oscar Wilde – vornehmlich männlich konnotierten Formen homosexueller Altersperformanz: „Im Camp löst sich die Moral auf, wird die moralische Entrüstung neutralisiert. Camp fördert das Spielerische. [...] Wenn aber auch die Homosexuellen seine Vorhut gewesen sind, so ist der Camp-Geschmack doch weit mehr als HomosexuellenGeschmack. Offenkundig ist die Metapher des Lebens als Theater besonders geeignet, einen bestimmten Aspekt der Situation der Homosexuellen widerzuspiegeln und zu rechtfertigen (zudem kommt das Beharren des Camp auf dem Unernsten, Spiele38 rischen, dem Wunsch der Homosexuellen entgegen, jugendlich zu bleiben).“

Camp, als eine Form ästhetisierender (Selbst-)Inszenierung, die unter anderem das fortgeschrittene kalendarische Alter spielerisch unterläuft, wird hier als Emanzipationsstrategie der Homosexuellenbewegung beschrieben. In Bezug auf künstlich-künstlerische Selbstinszenierungen alternder Weiblichkeit wird die Inszenierung von Jugendlichkeit jedoch als Form der Lüge und des Selbstbetrugs verurteilt: „Women have been accustomed so long to the protection of their masks, their smiles, their endearing lies. Without this protection, they know, they would be more vulnerable. But in protecting themselves as women, they betray themselves as adults. The model corruption in a woman’s life is denying her age. She symbolically accedes to all those myths that furnish women with their imprisoning securities and privileges, that create their genuine oppression, that inspire their real discontent. 36 Sabine Kampmann: „Das alternde Bild. Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray“, in: Beat Wyss/Martin Schulz (Hg.), Techniken des Bildes, München: Fink 2010 (im Druck). 37 S. Sontag: The Double Standard of Aging, S. 294. 38 Susan Sontag: „Anmerkungen zu Camp“, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 269-284, hier S. 283. 225

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Each time a woman lies about her age she becomes an accomplice in her own underdevelopment as a human being.“39

Der Text schließt emphatisch mit dem Aufruf zu einer affirmativen Identitätspolitik weiblichen Alters: „Women should tell the truth.“40 Frauen sollen die ‚Wahrheit‘ ihres kalendarischen Alters bezeugen. Mit der Verleugnung des Alters hingegen seien sie selbst ‚Komplizinnen‘ der Aberkennung ihres eigenen Subjektstatus. Die traditionell topisch mit der Theater- und Maskenmetaphorik41 verknüpften Signifikanten ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, ‚Betrug‘ und ‚Selbstbetrug‘ verweisen auf eine moralisch aufgeladene affirmative Identitätspolitik des Alters, die eng mit der Frage nach der Performativität von Altersidentität verknüpft ist. Diese Topik zeigt, dass die Performativität des Alters gouvernemental in „Technologien des Selbst“42 eingeübt wird und an Normalisierungsformen geknüpft ist, die über die Anerkennung der/des Alternden als Subjekt entscheiden. Wie sehr diese Topik jedoch einem historischen Wandel unterworfen ist, zeigt ein kurzer Seitenblick auf den Ansatz von Bryan S. Turner aus den 1990er Jahren, der die Topik von Betrug und Alter, die Sontags Texte bestimmt, geradezu permutiert: „With ageing the outer body can be interpreted as a betrayal of the youthfulness of the inner body.“43 In der deutschen Übersetzung bietet sich die Unterscheidung zwischen Leib und Körper an: Der alternde Körper wird von Turner als Betrug am Leib interpretiert, als Betrug an der ‚wahren‘, in diesem Fall als jugendlich konstruierten Altersidentität. In Susan Sontags Text hingegen wird die Inszenierung von Jugendlichkeit (zumindest im Hinblick auf weibliche Altersperformanz) als Betrug und das kalendarische Alter als ‚Wahrheit‘ stilisiert. Die Identitätspolitik in Turners Ansatz orientiert sich nicht am Maßstab des kalendarischen Alters, sondern an dem einer leiblichen Altersidentität. Beiden Ansätzen ist jedoch gemein, dass sie auf die Rede vom ‚wahren‘ Selbst rekurrieren, das daran gemessen wird, inwieweit es sich dem Prinzip geschlossener Altersidentität unterwirft.

39 S. Sontag: The Double Standard of Aging, S. 294. 40 Ebd. 41 Vgl. zur Konzeptualisierung der Metaphorik von ‚Maske‘ und ‚Maskierung‘ in der kulturwissenschaftlichen Alterns- und Genderforschung: Simon Biggs: „Age, gender, narratives and masquerades“, in: Journal of Aging Studies 18 (2004), S. 45-58. 42 Michel Foucault: Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993. 43 Bryan S. Turner: „Ageing and identity. Some reflections on the somatization of the self”, in: Mike Featherstone/Andrew Wernick (Hg.), Images of ageing. Cultural representations of later life, London, New York: Routledge 1995, S. 245262, hier S. 257. 226

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S i l v i a B o ve n s c h e n : Ä l t e r w e r d e n . N o t i z e n ( 2 0 0 6 ) Erzählperspektiven: Vom essayistischen „Schutz der Begriffsnetze“ zum „Ich sagen“ In Silvia Bovenschens Der Essay und das Älterwerden aus dem Jahr 2001 wird die These vertreten, dass die der Altersthematik affine Gattung der Essay sei, da er in seiner „Mischung von Begriff und Anschauung, Mischung von Persönlichem und Allgemeinem, von sprachlicher Strenge und poetischem Umweg, von Tradition und Überraschung“ vor allem in der „Lebenserfahrung“ gründe.44 In Bovenschens 2006 erschienenem Text Älter werden. Notizen wird nicht mehr die Gattung des Essays, sondern die aus der Gebrauchsliteratur, den so genannten Zweckformen stammende Gattung der Notizen favorisiert. Dieser Gattungswechsel geschieht nicht stillschweigend, sondern wird problematisiert: „Ich ändere den Plan, gebe den Anspruch allgemeiner Gültigkeit, der dem Essay doch nicht ganz zu nehmen ist, auf. Das erzwingt eine andere riskantere Form. Ich muß den Schutz der Begriffsnetze verlassen, muß ‚ich‘ sagen. Auch gut. Was soll mir in meinem Alter noch passieren?“45 Die freiere Form der Notizen scheint die Möglichkeit zu geben, nicht nur Notiz vom „Älter werden“ zu nehmen, sondern auch vom ‚Ich‘. Die Notiz gibt als Gedächtnisstütze der erinnernden schriftlichen Vergegenwärtigung wechselnder Formationen des ‚Ich‘ eine Form, die die Freiheit lässt, sich der Gattung der Autobiographie anzunähern, ohne in ihr Korsett gepresst zu werden. Die im Argumentationsgang vergleichsweise geschlossenere Form des Essays wird zugunsten von thematisch oft heterogen zusammengesetzten, kurzen Kapiteln aufgegeben. An diesem Gattungswechsel vom Essay zum autobiographischen Text zeigt sich bei Bovenschen, so meine These, auch die enge Verschränkung der Schreibweisen mit unterschiedlichen Konstruktionen des alternden Körpers. In dem Essay von 2001 dominiert ein Körperbild, das von der Vorstellung geleitet wird, die Zeit, „in der der Körper noch Schicksal war“46, sei vorbei. „[U]nsere tradierten Vorstellungen von Lebensfrist und Lebenserfahrung“ seien „verwirbelt“ worden; „[d]er Anfang wird gelegentlich schon aus dem Leib ins Reagenzglas verlegt und die Vermeidbarkeit des Endes ernsthaft diskutiert.“47 Dieses veränderte Körperbild, das von einer nahezu grenzenlosen biotechnologischen Gestaltbarkeit des Alternsprozesses und des menschlichen Körpers ausgeht, habe Auswirkungen auf die „Erzählungen der Wissenschaft, 44 Silvia Bovenschen: „Der Essay und das Älterwerden“, in: Merkur 55, 1 (2001), S. 159-162, hier S. 159. 45 S. Bovenschen: Älter werden, S. 17. 46 S. Bovenschen: Der Essay und das Älterwerden, S. 161. 47 Ebd., S. 160. 227

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der Kunst und der Essayistik“48. Es erzwinge hinsichtlich der Thematisierung des Alterns geradezu eine essayistische Schreibweise. Jedoch verweigert sich im Schreibprozess von Älter werden anscheinend die Form des Essays, weil sich das Altersbild bzw. das Bild vom alternden Körper geändert hat: „Für diese unerwartete Unzugänglichkeit [der Altersthematik im Schreibprozess eines wissenschaftlichen Essays; MH] suche ich eine Erklärung und glaube sie darin zu finden, daß ich mich – ganz im Gegensatz zu meiner kühnen These von einst [der nahezu uneingeschränkten biotechnologischen Gestaltbarkeit des Alternsprozesses; MH] – im essayistischen Spiel, wie ich es verstehe, eingeengt fühle durch die ehernen Eckdaten, die diese Thematik auszeichnen: der festgelegte Ausgang des Alterns (das, worin fortschreitendes Leben endlich mündet, im bislang unausweichlichen Tod) und die unumkehrbare Richtung des Älterwerden, dessen Zwangsläufigkeit. (Ein gutes Wort: der Zwang des Laufs.) – Diese Pointen stehen immer schon fest.“49

Zwei unterschiedliche Bilder des alternden Körpers korrelieren hier mit unterschiedlichen Schreibweisen: Dem Konzept der biotechnologischen Manipulation des alternden Körpers und den daraus erwachsenden Möglichkeiten steht das Konzept der Zwangsläufigkeit und Unumkehrbarkeit des körperlichen Alternsprozesses gegenüber. Um letzterem Alters- und Körperkonzept dennoch den Anspruch individueller Handlungsmacht und Gestaltungsfähigkeit abzutrotzen, werden nun andere narrative Strategien gewählt: „Das Eigene [...] könnte ich allenfalls in der Besonderheit meiner individuellen Wahrnehmung dieses Zwangsgangs finden.“ Das „Ich sagen“ eröffnet jetzt die narrative Konstruktion eines individuellen Spielraums gegenüber dem „Zwangsgang“ des alternden Körpers, nicht mehr die allgemeinen „biotechnologischen Umbrüche“, die „längst schon unser Dasein überwölben.“50 Das „Ich sagen“ und die Formulierung der „Besonderheit der individuellen Wahrnehmung“ werden hier zur Praxis von ‚Undoing age‘, die sich in einen reflektierenden Bezug zum Bild vom Alter als „Zwangsgang“ setzt und in dessen wiederholender Resignifikation das Spektrum möglicher Inszenierungen von Altersidentität dennoch erweitert wird.

„Kleine Schieflagen und Vergeblichkeitssignale in gekonnten Stilisierungen.“ Körperbezogene Alterstopoi Die Praxis wiederholender Resignifikation der Norm wird in den Notizen über das Älter werden am Beispiel der scheiternden Performanz eines normierten Bildes von jugendlicher Weiblichkeit geschildert: „Ich weiß nicht, woher das 48 Ebd., S. 161. 49 S. Bovenschen: Älter werden, S. 16f. 50 S. Bovenschen: Der Essay und das Älterwerden, S. 161. 228

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Bild in meinem Kopf kam. Es war detailgenau. Und ich – lassen wir mich elf oder zwölf Jahre alt sein – war darauf.“51 Zur Realisierung dieses Bildes gehören ein amerikanisches „Button-down-Hemd“, eine „Pilotensonnenbrille“ und ein „Chevrolet“. „Und dann kam die große Desillusionierung. Zur Erfüllung dieses Bildes gehörte nämlich unabdingbar, daß ich meinen Arm lässig aus dem heruntergekurbelten Fenster lehnen sollte. Dafür war ich aber zu klein. [...] Aus! Ich war zu klein für das Bild, oder das Bild war zu groß für mich. Vielleicht hatte ich Jean Harlow oder Ava Gardner in einem Film oder auf einem Plakat in dieser Pose gesehen. [...] Damals war das eine Niederlage. Heute aber liebe ich kleine Schieflagen und Vergeblichkeitssignale in gekonnten Stilisierungen.“52

Die scheiternde Performanz einer Zwölfjährigen, die versucht, ein filmisch konstruiertes Frauenbild zu zitieren, lässt sich als poetologischer Kommentar zur Schreibweise des gesamten Textes lesen, der zwischen „gekonnte[r] Stilisierung“ und „Vergeblichkeitssignalen“, zwischen ‚Doing‘ und ‚Undoing Age‘, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion des Alters als das ‚Ich‘ disziplinierende Kategorie changiert. Diese Ambivalenz zwischen Setzung einerseits und Relativierung andererseits wird auch hinsichtlich der Einstellung zu chirurgischen Eingriffen am alternden Körper deutlich: Das erzählende ‚Ich‘ kann „die Frauen verstehen, die zum Chirurgen rennen und raffen, straffen und absaugen lassen, was das Zeug hält. Wäre ich gesund, wohlhabend und angstfrei, würde ich es wahrscheinlich auch tun. [...] Wäre es im Aufwand und im Risiko dem Zahnersatz vergleichbar, machten es dann nicht alle? Um mich zu läutern, wird mir von einer Vierzehnjährigen erzählt, die auf eine Brustvergrößerung spart. Vielleicht muß ich neu nachdenken.“53

Die Formulierung von Ambivalenz als performative Strategie wird in einer anderen Notiz geradezu zur postmodernen Narratologie des alternden ‚Ich‘: „Irgendwann fiel mir auf, daß ich mein Älterwerden in zwei kraß unterschiedenen Versionen erzählen könnte: als gesundheitliche Katastrophenabfolge. Eine Horrorgeschichte. [...] Zugleich aber kann ich mein Leben in eine helle Erzählung bringen. Ich kann viele Momente des Glücks, der Liebe und der freudigen Erregung in ihr bergen. Ich stelle fest, daß ich die Berechtigung beider Geschichten anerkenne, daß

51 S. Bovenschen: Älter werden, S. 14. 52 Ebd., S. 14f. 53 Ebd., S. 98f. 229

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sie sich [sic!] völlig unversöhnt, unvermittelt, gewissermaßen parallel geführt, in meinem Gemüt [...] Raum haben.“54

Diese Ambivalenz zweier heterogener Erzählungen des Alterns, die gleichzeitig den Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Authentizität erheben, da sie beide „Raum im Gemüt“ des ‚Ich‘ beanspruchen, zielt nicht auf die Formation eines geschlossenen, mit sich identischen ‚Ich‘. Vielmehr wird durch diese narrative Strategie ein ‚Ich‘ konstruiert, das sich in der Differenz verortet, nicht aber in der Identität. Das führt zu einer besonderen Form narrativer Wahrheitsproduktion.

Wahrheitsproduktion Die Ich-Erzählerin entlarvt sich im Text als unzuverlässige Erzählerin des eigenen ‚Ich‘. Gerade durch diese narrative Strategie wird allerdings Authentizität inszeniert. Das erzählte ‚Ich‘ fragt sich selbst nach dem Grund dieser „Kontinuitätsveranstaltung“, dem Grund für das „Lügengespinst meiner erinnerten Ich-Legende“: „Ich glaube eigentlich (?) nicht an diese IchBehauptungen, jedenfalls nicht in ihren essentialistischen Varianten, und muß doch, wenn ich an mich und meine Alterungen zurückdenke, bis zu einem gewissen Grade an sie glauben, um überhaupt zurückdenken zu können.“55 Mit „Als ob“ ist diese Notiz überschrieben. In diesem ‚So-tun-als-ob‘, diesem Schreiben „Als ob“, mit dem das erzählte ‚Ich‘ immer wieder in Frage gestellt wird, zeigt sich nicht nur die Verschränkung von ‚Doing‘ und ‚Undoing age‘, sondern auch die Verschränkung von ‚Doing‘ und ‚Undoing‘ des Körpers sowie ‚Doing‘ und ‚Undoing‘ des ‚Ich‘: „Die Selbstverständlichkeit einer naiven Ich-Behauptung, im Sinne dessen, was man heute mit dem Wort ganzheitlich meint, waren mir schon früh erschwert. [...] Zu viele Gefährdungen und Behinderungen an und in mir (zu denen dann noch das Alter trat). Die nichtfunktionierenden Gliedmaßen haben mich befremdet. [...] Die Unzuverlässigkeit meiner Teile. Um aus diesem Kampf gegen mich selbst wenigstens zeitweise – illusionär, das wußte ich schon – herauskommen zu können, etablierte ich befreite Zonen: um mein Ich nicht völlig in Krankheit und Behinderung aufgehen zu lassen, mußte ich mich gewissermaßen parzellieren, den Körper abgekoppelt betrachten. [...] Eine lange Zeit gönnte ich mir eine Geist-Heimat (gestattete mir einen uneingestandenen Körper-Geist-Dualismus). [...] Jetzt aber mit dem immer unzuverlässigeren Gedächtnis [...] wird mir bewußt, was ich immer schon wußte: Auch mein Geist ist Teil dieser unzuverläßlichen Veranstaltung. [...] Ich bin ein

54 Ebd., S. 104. 55 Ebd., S. 153. 230

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bündelndes rückkoppelndes Als-ob, das sich eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte schafft, um dann aus ihr zu bestehen ...“56

So wird ein erzähltes ‚Ich‘, das so tut „Als ob“, diese Fiktionalität aber kritisch reflektierend beschreibt und sein Tun in der Beschreibung gleichzeitig ironisch in Frage stellt, zum Paradebeispiel von performativen Resignifikationsstrategien des alternden Körpers im Text, die nicht auf eine affirmative Identitätspolitik des Alters setzen – wie sie Sontags Text zumindest auf der konstativen Ebene propagiert. Stattdessen wird die Ambivalenz von „Doing Age“ und ‚Undoing Age‘ stark gemacht. Die Norm eines ganzheitlichen, autonomen, mit sich identischen alternden ‚Ich‘ wird als illusionär dekonstruiert, aber dennoch als „notwendige Illusion“57 in der Erzählung und durch sie aufrechterhalten. Während die Schreibweisen in Sontags The Double Standard of Aging die Topoi der Rede vom ‚wahren‘ Selbst affirmativ zitieren und das alternde (weibliche) Subjekt daran messen, inwieweit es sich dem Prinzip geschlossener (Alters-)Identität unterwirft, unterlaufen die Schreibweisen, mit denen das ‚Ich‘ in Bovenschens Älter werden erzählt wird, die Formation eines geschlossenen, mit sich identischen ‚Ich‘. Damit ist nicht gesagt, dass der Strategie einer Selbstdefinition mittels offensiver Nennung des kalendarischen Alters nicht auch ein kritisches, Altersnormen transformierendes Potential inhärent sein kann. Schlägt die Strategie jedoch in eine normative Festschreibung um („Women should tell the truth“58), so zielt sie nicht mehr auf eine Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten, Altern zu inszenieren, sondern vielmehr auf Begrenzung.

Literatur Biggs, Simon: „Age, gender, narratives and masquerades“, in: Journal of Aging Studies 18 (2004), S. 45-58.

56 Ebd., S. 153ff. 57 Barbara Pichler: „Illusionen eines autonomen Alter(n)s. Kritik und Perspektiven“, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.), Altern ist anders. Gelebte Träume – Facetten einer neuen Alter(n)skultur, Hamburg: LIT-Verlag 2007, S. 200-217, hier S. 212. Pichler begreift hier in Anlehnung an Käte Meyer-Drawes Konzept von Autonomie als Illusion das Altersleitbild des ‚autonomen Alters‘ zwar als zu kritisierendes Konzept, aber dennoch als „notwendige Illusion“. Vgl. Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München: Peter Kirchheim Verlag 2000, S. 12: „Die Illusion von Autonomie kann als Illusion begriffen werden und gerade deshalb maßgebliche Kraft entfalten, weil sie sich kritisch gegen reale Verstrickungen wendet.“ 58 S. Sontag: The Double Standard of Aging, S. 294. 231

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„Wie spielt ma n Altsein?“ Darste llunge n des Alter(n)s im zeitge nössisc he n The a ter MIRIAM DREYSSE

Einleitende Überlegungen In First Night, einer Aufführung der britischen Theatergruppe Forced Entertainment von 2001, tritt im Laufe des Abends eine Darstellerin an die Rampe, blickt ins Publikum und zeigt dann auf eine Zuschauerin: „Du hast einen Knoten in der linken Brust.“ Sie zeigt auf einen Zuschauer: „Schlaganfall“, und auf einen weiteren Zuschauer: „Herzinfarkt“. Sie pickt uns einzeln heraus, schaut uns an und prognostiziert unsere Todesart: „Autounfall“. „Du – Selbstmord“. „Nierenversagen“. „Lungenkrebs“. Während wir eben noch zurückgelehnt in unseren Theatersesseln saßen, sind wir plötzlich aufgeschreckt, unangenehm berührt, getroffen durch den Fingerzeig und die direkt an uns gerichtete Todesdrohung. Das Theater wird übergriffig: es greift über die Rampe hinweg in den Zuschauerraum und auf den einzelnen Zuschauer zu. Die Fokussierung durch Finger, Blick und Stimme der Schauspielerin zerrt uns plötzlich ins Rampenlicht, in die Sichtbarkeit. So spekulativ die Prophezeiung sein mag (oder vielleicht auch nicht?), so sehr macht sie uns doch unsere eigene Gegenwärtigkeit und Körperlichkeit und damit auch unsere Vergänglichkeit bewusst. Ist das noch ein Spiel? Sicherlich spielen wir in diesem Moment eine Rolle, die Rolle der Zuschauerin oder des Zuschauers, die Rolle der oder des vom Tode Bedrohten. Zugleich jedoch wird schlagartig klar: Ich werde sterben. Mit jeder Minute, die ich hier sitze, werde ich älter. Jetzt. Mein Körper verändert sich, verfällt. Körperbilder sind Produkte gesellschaftlicher, kultureller Normierungen und psychogenetischer Entwicklungen. Wie ich meinen Körper sehe, wie ich ihn empfinde, ist in hohem Maße von kulturellen Normen geprägt. Dies trifft 235

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sowohl auf den geschlechtlich bestimmten Körper wie auf den alternden und alten Körper zu. Das Theater war schon immer ein Ort, an dem die für eine bestimmte Kultur und Epoche gültigen Körper- und Identitätsbilder mittels verschiedener Zeichensysteme reproduziert, aber auch unterwandert, hinterfragt und aufs Spiel gesetzt wurden. Ein solches Spiel mit der Norm fand, bezogen auf Geschlechteridentitäten, beispielsweise im elisabethanischen Theater statt, wenn sich in William Shakespeares Komödien weibliche Figuren als Männer maskierten und von Männern geliebt wurden, auf der Ebene der Darstellung aber sowohl männliche als auch weibliche Figuren von männlichen Schauspielern – im letzteren Falle von den so genannten ‚boy actors‘ – gespielt wurden, so dass die üblichen Geschlechterzuschreibungen aus dem Lot gerieten. Im westlichen Theater seit den 1960er Jahren werden jedoch nicht nur geschlechtlich bestimmte Körperbilder, sondern die abendländische Konzeption des Körpers als Mittel der Repräsentation insgesamt zunehmend in Frage gestellt. Gerade die Performancekunst, zumal die feministische, stellt die symbolischen Zurichtungen des Körpers, die geschlechtsspezifischen Normierungen und die Konstruktion des Sehens ins Zentrum der Arbeiten, indem beispielsweise der Wahrnehmungsrahmen bewusst gemacht wird. Weniger präsent scheinen in diesem Zusammenhang Konstruktionen des Alter(n)s zu sein. Wie wird das Altwerden und Altsein im zeitgenössischen Theater dargestellt? Der Körper ist ein herausragendes theatralisches Mittel nicht nur im Tanz, sondern auch im Sprechtheater und in all den angrenzenden Künsten wie zum Beispiel der Performancekunst. Wie sehen theatrale Inszenierungen des alten Körpers aus? In welchen Formen wird der alternde, vergängliche Körper wahrnehmbar gemacht? Diese Fragen sind umso interessanter, als der alternde Körper ein Körper im Prozess ist. Folgt man Theoretikern wie Michel Foucault und Judith Butler in der Annahme, dass der Körper diskursiv hervorgebracht wird und Normierungen sich an ihm immer wieder aufs Neue materialisieren, so müsste der alternde Körper als ein Körper im Prozess in besonderer Weise Möglichkeiten bieten, solche Materialisierungen zu unterlaufen. Diese Prozessualität aber hat der alternde Körper mit dem Theater gemein. Die Theateraufführung ist durch ihre Flüchtigkeit gekennzeichnet, anders als andere Künste ist sie ein Prozess zwischen Sehen und Gesehen werden, dessen man nie als abgeschlossenes Werk habhaft werden kann. Wie also gestalten sich alternde Körper im Prozess der Aufführung? Ist nicht jeder Körper im Theater ein alternder Körper, ein Körper, der im Verlauf der Aufführung, im Prozess von Sehen und Gesehen werden älter wird? Die Spezifik der theatralen Künste liegt in der Kopräsenz von Darstellenden und Zuschauenden, in der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption der Aufführung. Anders als beispielsweise beim Film- oder Fernsehen, bei dem Ort und Zeit der Produktion von Raum und Zeit der Rezeption getrennt sind und ein fiktiver Zeitraum erzeugt wird, der nichts mit der realen Zeit des 236

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Zuschauens zu tun hat, befinden sich Schauspieler und Zuschauer im Theater in einem Zeit-Raum, der von allen geteilt wird. Es ist ein „gemeinsamer ZeitRaum der Sterblichkeit“1, wie Hans-Thies Lehmann betont, denn wir sind alle mit unseren konkreten Körpern im Hier und Jetzt anwesend. Theater ist gemeinsam verbrachte Lebenszeit. Im Theater sind wir nie nur passiv Konsumierende, sondern unabdingbarer Bestandteil der Aufführung: ohne Zuschauer gibt es keine Aufführung. Wir sind anwesende Zeugen, wir sind beteiligt an dem, was uns zu sehen gegeben wird, und so sind wir auch Teil der vergehenden Zeit. Der alternde Körper ist ein Körper, an dem sich die Zeit materialisiert; die Theateraufführung ist als flüchtige, prozesshafte Kunst eine Kunst in der Zeit.2 Wir erleben im Theater gewissermaßen die Körper auf der Bühne beim Älterwerden und können auch unsere eigenen älter werdenden Körper, unsere Körper im Prozess erfahren. Die spezifische Zeitlichkeit und Körperlichkeit der Aufführung, also auch die Vergänglichkeit und Verletzbarkeit des Körpers, wird in einigen Theaterformen der letzten vierzig Jahre in besonderer Weise hervorgehoben. Im Folgenden werde ich versuchen, dies an Beispielen aus dem Bereich der Performancekunst und des postdramatischen Theaters aufzuzeigen. Die ausgewählten Stücke verhandeln in je spezifischer Weise entweder die Verletzbarkeit des Körpers und die Rolle des Zuschauers (Marina Abramovic), oder sie inszenieren alternde Körper an der Grenze von Realität und Theatralität (La Mama Theatre, Einar Schleef). Zum Abschluss stelle ich drei ganz aktuelle Inszenierungen alternder Körper vor, bei denen die Protagonisten selbst alte Menschen sind: Die Kümmerer, ein Projekt mit Hamburger Bürgerinnen und Bürgern, Kreuzworträtsel Boxenstopp, eine dokumentarische Inszenierung der Gruppe Rimini Protokoll, und ZeitSprünge, eine Choreographie von Heike Hennig mit alten und jungen Tänzerinnen und Tänzern. An diesen drei Beispielen soll aufgezeigt werden, wie Altwerden heute auf die Bühne gebracht und in welcher Weise dabei Normierungen des alternden Körpers reproduziert, erfahrbar bzw. sichtbar gemacht oder unterlaufen werden.

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Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 410. Zur Zeitlichkeit des Theaters und anderer Künste vgl. Theresia Birkenhauer/ Annette Storr (Hg.): Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8 1998. 237

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D e r ve r l e t z b a r e K ö r p e r i n d e r B o d y Ar t Wie Hans-Thies Lehmann aufzeigt, steht der Körper im postdramatischen Theater häufig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.3 Und zwar nicht als ein perfekter, unversehrter, sondern auch und gerade als ein von Verletzung, Scheitern und Verfall bedrohter Körper. Dies lässt sich schon in der Body Art der 1960er und 70er Jahre beobachten, die den schmerzempfindsamen menschlichen Körper durch ‚leibhaftige‘ Verletzungen hervorhebt. Durch eine enge Verschränkung von realer und symbolischer Ebene werden dabei häufig auch die diskursiven Zurichtungen des Körpers, also seine kulturellen Normierungen thematisiert. So etwa, wenn Marina Abramovic sich in ihrer Performance Lips of Thomas (1975) mit einem Rasiermesser einen fünfzackigen Stern auf den Bauch ritzt und sich dann nackt mit dieser blutenden Wunde auf ein aus großen Eisblöcken gebildetes Kreuz legt.4 Durch Wärmelampen fängt die Wunde dabei noch stärker an zu bluten. Pentagramm, Kreuzigungspose, blutende Wunde und Selbstkasteiung verweisen – wie auch weitere Zeichen und der Titel dieser Performance – deutlich auf das Christentum, auf die Bedeutung, die dem physischen Schmerz und der körperlichen Selbstopferung in der christlichen Kultur zugewiesen wird. Der nackte weibliche Körper auf dem Kreuz akzentuiert die Differenz zum männlichen Körper und hinterfragt zugleich, durch die Bezugnahme auf das Bild des Körpers Christi, eindeutige geschlechtliche Zuordnungen. Die reale Selbstverletzung, die tatsächliche Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit stellt zudem grundlegend die Position der Zuschauer in Frage. Die Realität des Geschehens – Abramovic könnte sterben, würden die Zuschauer nicht einschreiten und die Performance beenden – entlarvt den voyeuristischen Blick auf den nackten weiblichen Körper als strukturell gewalttätigen und macht die Verantwortung der Zuschauer für das Geschehen bewusst. Zuschauen bedeutet hier beteiligt sein, beteiligt an den realen wie symbolischen Zurichtungen des Körpers, an der Objektivierung der Darstellerin in der auf Schaulust beruhenden Wahrnehmungssituation des Theaters.5 Der reale Vollzug, der Happening und Body Art der 1960er und 70er Jahre kennzeichnet, ist ein auch heute noch im Theater verwendetes Mittel, um die Gesetzmäßigkeiten der Repräsentation zu hinterfragen und die Spezifik 3 4 5

Zu Zeit im postdramatischen Theater vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 309ff. Marina Abramovic: Artist Body. Performances 1969-1998, New York, Mailand: Charta 1998. Freud zufolge hängt die Skopophilie eng mit dem „Wisstrieb“ zusammen, der eine Form der Bemächtigung darstelle; unter dem kontrollierenden und neugierigen Blick des Voyeurs wird der/die Betrachtete zum Objekt einer imaginären Subjekt-Objekt-Beziehung. Vgl. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S. 59 und 96.

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des Theaters in der mit dem Publikum geteilten Raumzeit herauszustreichen. Besonders in den späten 1980er und 90er Jahren sind, sowohl im Tanz wie im Sprechtheater, eine nicht enden wollende Repetition immer gleicher Bewegungen, ein Laufen, Rennen, Springen bis zur Erschöpfung oder auch eine bis ins schier Unendliche gedehnte Langsamkeit Modi eines solchen realen Vollzugs. Repetition und Langsamkeit dehnen die Zeit zur Realzeit, anstatt, wie im Falle des dramatischen Theaters oder auch anderer narrativer Medien, eine fiktionale Zeit zu erzeugen, die die reale Zeit und damit auch die Körperlichkeit der Zuschauenden in Vergessenheit geraten lassen. Die Betonung der zeitlichen Dimension im Theater hebt die Vergänglichkeit der beteiligten Körper und ein je subjektives Zeiterleben hervor. Dies möchte ich an zwei Beispielen aus den 1980er Jahren aufzeigen.

That Time Im Jahre 1985 spielte Julian Beck, der Mitbegründer des Living Theatre, kurz vor seinem Tod seine letzte Theaterrolle. Es handelte sich um das Stück That Time von Samuel Beckett in einer Produktion des La Mama Theatre in New York. Zu sehen waren von Beck nur sein beleuchtetes Gesicht und manchmal seine Hände, der Rest der Bühne lag im Dunkeln. Er horchte auf die Texte, auf die drei Variationen seiner Stimme, die über Tonband eingespielt wurden. Er reagierte mit einem leichten Wegdrehen des Gesichts oder einem zustimmenden Nicken, mit einem Lächeln, einer kleinen Geste der Hände, einem zweifelnden Blick, mit einem Niederschlagen der Augen. Becketts Stück handelt von den Erinnerungen eines alten Mannes am Ende seines Lebens, oder besser: von dem Versuch, der eigenen Geschichte habhaft zu werden, sich ihrer zu vergewissern, und dabei doch immer auf Leerstellen zu stoßen. Die Reduktion der dramatischen Form dieses späten Texts von Beckett trifft hier auf die Reduktion auch der szenischen Mittel sowie auf eine Konzentration auf die Beckettsche Sprache, auf ihre Musikalität, auf die Modulationen der Stimme. Und auf eine Darstellung, in der sich dramatische Fiktion und körperliche Realität auf berührende Weise verbinden. Hier ist keine Maske nötig, um die Fiktion glaubhaft zu machen, Julian Becks Gesicht ist deutlich von der Krankheit, an der er kurze Zeit später sterben wird, gezeichnet. Ausgemergelt, alt sieht er aus. Er tut nicht so, als ob er alt sei, er spielt also kein Theater, sondern er ist alt. Textinhalt, szenische Mittel – Isolation und Reduktion – und die Biographie des Schauspielers Julian Beck gehen hier eine unauflösliche Verbindung ein, die auf fiktionaler und realer Ebene zugleich den alten Körper und die ihn prägenden Diskurse (der Erinnerung, der Krankheit, des dramatischen Texts, der Inszenierung) wahrnehmbar machen. Deutlich wird hier auch, dass Altwerden nicht nur ein körperlicher 239

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Prozess ist, sondern auch ein Erinnerungsprozess, ein sprachlicher Prozess, der sich in den Körper einschreibt und ihn konstituiert. Beides, körperliches Altern wie Erinnern, vollzieht sich in der Zeit. That Time ist eine Inszenierung der Zeit, allerdings keiner kontinuierlichen, chronologisch fortschreitenden Zeit, sondern einer Zeit, die, wie in vielen Texten Becketts, um sich selbst kreist. Die Konzentration der theatralen Mittel und die repetitive Struktur heben auch szenisch die Zeit hervor, nicht als eine objektiv messbare Zeit (wie die „temps“ im Sinne Henri Bergsons), sondern als subjektives Zeitempfinden: die vergehende Zeit der Aufführung, die erinnerte Zeit, die Zeit, die still zu stehen droht. Alte Schauspieler sind auf dem Theater nichts Ungewöhnliches. Viele Theaterschauspieler üben ihren Beruf über das Rentenalter hinaus aus, und den – sehr vielfältigen – Rollen für alte Schauspielerinnen und Schauspieler mangelt es nicht in der Dramatik. Häufig jedoch ist das Altsein nicht explizit Thema der Dramentexte und Aufführungen, so dass der alte Körper nicht hervorgehoben sondern eher überspielt wird und so hinter andere Charakteristika der Rolle zurücktritt. Im umgekehrten Fall, wenn also eine Schauspielerin oder ein Schauspieler eine Figur, die alt ist, spielt, selbst aber noch nicht alt ist, dienen meist bestimmte äußere Zeichen der Illustration des Altseins. Dazu können beispielsweise das Kostüm, die Frisur und Maske gehören, Requisiten wie ein Gehstock oder eine Brille, sowie körperliche Zeichen wie etwa langsames, zittriges oder gebeugtes Gehen. Diese Zeichendimension zeigt, in welchem Maße Altsein kulturell und diskursiv gebunden ist, sie macht aber auch deutlich, wie wenig das reine Zeichen von der Realität des Altseins zu vermitteln vermag. Die Verkörperung eines alten Menschen kann täuschend echt wirken, aber die Hervorhebung leibhaftiger/tatsächlicher körperlicher Gebrechlichkeit verändert die Wirkung der Darstellung – durch den Einbruch der Realität. Dies möchte ich an einem weiteren Beispiel zeigen.

Mütter Unter dem Titel Mütter inszenierte Einar Schleef 1986 am Schauspiel Frankfurt zwei griechische Tragödien: Die Schutzflehenden des Euripides und Sieben gegen Theben von Aischylos. Im ersten Teil der Aufführung, den Schutzflehenden, kommen die Mütter der sieben vor Theben gefallenen Kriegsherren nach Athen, um Theseus um Hilfe zu bitten. Sie wollen die Körper ihrer toten Söhne begraben, die Theben nicht herausgibt. Theseus zieht in einen weiteren Krieg, einen Krieg um die Toten des vorangegangenen Krieges. Athen siegt, und Theseus bringt den Müttern die Leichen ihrer Söhne. Nach der Klage und dem Begräbnis schwören die Frauen ihre Enkel auf Rache für ihre getöteten Väter ein. 240

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Einar Schleef ist der vielleicht prominenteste Vertreter eines in den 1980er und 1990er Jahren aufkommenden Theaters, das die dargestellte Zeit durch Repetition und Dehnung zur Realzeit gerinnen lässt und auf diese Weise die beteiligten Körper der Darstellenden und Zuschauenden erfahrbar macht. Die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler drängen sich den Zuschauern außerdem durch körperliche Heftigkeit, durch lautes Rennen, Springen, Stampfen, Schreien auf. In seiner ersten westdeutschen Inszenierung, Mütter, wird dieser spezifischen Körperlichkeit, dieser Betonung des verletzbaren, vergänglichen Körpers, bereits durch die Besetzung ein besonderes Fundament verliehen: Schleef besetzt die sieben Mütter, die im Zentrum des ersten Teils der Aufführung stehen, mit alten, teilweise weit über siebzigjährigen Frauen. Einige von ihnen sind keine professionellen Schauspielerinnen, sondern für die Inszenierung gecastete Frankfurter Bürgerinnen.6 In Mütter setzt sich Schleef mit unterschiedlichen Mutterbildern und -mythen der abendländisch-christlichen, auch speziell der deutschen Kultur auseinander und widersetzt sich normierten Vorstellungen von Weiblichkeit und Alter. Der Schmerz über den Verlust der Söhne steht zwar im Zentrum der Aufführung. Aber auch die Bereitschaft der Frauen, fremde Soldaten und eigene Enkel in die nächsten Kriege zu schicken, wird hervorgehoben. In der ersten Szene treten die sieben Mütter, schwarz gekleidet und mit Beilen bewaffnet, den Zuschauern entgegen. Sie stehen breitbeinig in einer Reihe und schlagen mit weit ausholendem Schwung die Beile vor ihren Füßen in den Bühnenboden, so dass sie dort, mit dem Griff nach oben, stecken bleiben. Während die langen, schwarzen Kleider, die sie tragen, tradierten Vorstellungen trauernder Mütter entsprechen, stehen die Beile, die breitbeinige Pose und das aggressiv wirkende Einschlagen der Beile diesem Bild diametral entgegen. Auch wenn es ab den 1960er Jahren in Kunst und Populärkultur bereits vereinzelt bewaffnete Frauenfiguren gab7 – alte Frauen mit physisch aggressivem Gestus sind nach wie vor mehr als ungewöhnlich. In einigen Aufführungen gelang es einzelnen Darstellerinnen nicht, das Beil auf Anhieb in den Bühnenboden zu schlagen. Während die anderen bewegungslos hinter ihren Beilen verharrten, zogen diese Darstellerinnen mit ihren erneuten Versuchen die Aufmerksamkeit auf sich und ihren Körper, der von dem schweren Beil sichtlich überfordert war. In solchen Momenten tritt im Theater die dargestellte Figur in den Hintergrund und der reale Körper der Schauspielerin hervor: der alte Körper, der zu schwach oder untrainiert ist, die 6 7

Margarete Dobirr, Inka Köhler, Ruth Hoerrmann, Barbara Morawiecz, Ellen Sohmer, Barbara Stanek, Ingeborg Weber-Graetz. Man denke beispielsweise an Niki de Saint-Phalle und ihre Schießbilder in den frühen 1960er Jahren oder an VALIE EXPORTs Arbeit Genitalpanik (1969). Im Spielfilm war Sigourney Weaver als Sergeant Ripley in Alien (1979) die erste weibliche Actionheldin. 241

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schwere Axt zu schwingen, der Körper, der nicht nur Zeichen, sondern konkreter Körper im Hier und Jetzt ist. Darstellung und Dargestelltes bleiben ambivalent: Die dargestellten Bittflehenden widersetzen sich durch ihre aktive Wehrhaftigkeit der die christliche Kultur prägenden Vorstellung von der leidenden Mutter eines geopferten Sohnes ebenso wie dem Bild der alten, passiven Frau, deren körperliche Eingeschränktheit gleichwohl und unverhofft sichtbar wird. Schleefs Theater arbeitet mit der körperlichen Überforderung der Darstellerinnen und Darsteller, so dass immer wieder der menschliche Körper als verletzbarer, als erschöpfbarer und endlicher in den Vordergrund tritt.8 Im Fall der sieben Mütter werden auf der darstellerischen und symbolischen Ebene Muttermythen und Bilder des alternden Körpers reflektiert und hinterfragt. Auf der performativen Ebene treten die konkreten, alten Körper der Darstellerinnen hervor, so dass uns die reale Sterblichkeit – diejenige der Menschen auf der Bühne und unsere eigene – vor Augen tritt. Die Bilder und Normen des alternden, weiblichen Körpers werden gleichsam auf doppelter Ebene verhandelt, auf der Ebene der Repräsentation und auf derjenigen der realen Körper, die mit uns den ‚gemeinsamen Zeit-Raum der Sterblichkeit‘ teilen. So etwa auch in einer Szene, in der die Frauen den Bühnenboden putzen, während die beiden Könige Theseus und Adrastos über ihre Köpfe hinweg das Schicksal der Leichen ihrer Söhne verhandeln. Die Darstellerinnen tun dabei nicht so, als ob sie putzten, indem sie beispielsweise nur eine kleine Stelle säubern, sondern sie putzen tatsächlich den gesamten Bühnenboden. Dies dauert aufgrund der Größe der Bühne und der Gründlichkeit des Putzens sehr lange. Wird hier auf der Ebene der Repräsentation das uralte geschlechtsspezifische Machtgefüge ausgestellt, so wird dies auf der performativen Ebene noch weiter zugespitzt: Deutlich sieht man, wie schwer es gerade den ältesten unter den Schauspielerinnen fällt, auf den Knien den Boden zu schrubben. Mühsam versuchen sie, ihr Gewicht zu verlagern, möglichst schmerzfrei ihre Position zu verändern oder den gekrümmten Rücken zu entlasten. Dem Reden der Männer wird so die konkrete Arbeit und körperliche Ausbeutung der Frauen gegenüber gestellt. Hier werden keine Zeichen für Alter gesucht, sondern durch den realen Vollzug des Putzens und die Dehnung der Zeit Alter und Fragilität der Körper sichtbar gemacht. Deutlich tritt hervor, dass die Zurichtung der Körper nicht nur auf der Ebene der sozialen Norm stattfindet, sondern auch auf derjenigen der theatralen Repräsentation, des Theatervorgangs, bei dem die Darstellerkörper durch Regie- und Zuschauerblick geformt werden. 8

Zu Schleefs Theaterästhetik vgl. Miriam Dreysse: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1999.

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Gegen Ende dieses ersten Teils der Aufführung legen die sieben alten Frauen nach der Klage um ihre Söhne – einer Szene, die ebenfalls ausgesprochen lange dauert und bei der die Darstellerinnen am Ende in realer Erschöpfung zu Boden sinken9 – ihre Kittel ab und entblößen dabei ihre Brüste. Die entblößte mütterliche Brust ist in der abendländisch-christlichen Tradition Zeichen für die Mutter-Kind- und speziell für die Mutter-Sohn-Bindung. So dient etwa in der christlichen Ikonografie der Bildtypus der Maria Lactans, also der stillenden Muttergottes, der Betonung der Menschlichkeit des Gottessohnes. In unterschiedlichen Texten der abendländischen Kultur, etwa religiösen Schriften aus dem Mittelalter oder auch weiteren attischen Tragödien, wird das Präsentieren der nackten mütterlichen Brust zur Unterstreichung eines Bittflehens vor dem Sohn eingesetzt.10 „Mein Sohn. Das sind die Brüste der Mutter. Küsse mich und ich lebe“, sprechen die Frauen bei Schleef. Er spielt sowohl in seiner Textfassung als auch szenisch mit den inzestuösen Anteilen der Mutter-Sohn-Beziehung, etwa wenn die alten Frauen, bildnerisch angelehnt an die Ikonografie der Grablegung, einen jungen, nackten Boten liebkosen. Im Fall der entblößten Brüste lassen die dünnen, schwarzen Gazeschleier, die die Frauen tragen, eher an eine erotische Beziehung als an die ‚reine‘ Mutterliebe denken. Der Stoff umspielt die nackte Haut zärtlich, so dass ein autoerotisches Verhältnis zum eigenen Körper nahe gelegt wird. Ist die alte, hängende Brust zum einen Sinnbild für ein aufopferungsvolles Leben, für die sich für ihre Kinder hergebende Mutter, so wird hier diesem Bild zugleich das Moment der Zärtlichkeit sich selbst gegenüber entgegen gestellt. Dies läuft der traditionellen abendländischen Spaltung in die asexuelle gute und die sexuell begehrende böse Mutter entgegen.11 Dies ist umso augenfälliger, als bereits das Bild der nackten, alten Frauenbrust auf dem Theater – und auch in der sonstigen visuellen Kultur – äußerst selten ist. Deutlich sichtbar sind die hängenden Brüste, die faltige Haut, der nicht der Norm der Jugendlichkeit entsprechende Körper, also die Realität des alternden Körpers, die uns alle betrifft und mit der wir hier, für einen Moment, konfrontiert werden. Einige der Darstellerinnen präsentieren ihre Brüste in offensiver Weise, einige bemühen sich, sie eher verdeckt zu halten oder sich möglichst rasch vom Publikum weg zu wenden. Hier zeigt sich die Subjektivität des Körperempfindens in Form der Scham. Der Moment der Scham streicht das Spiel 9

Für eine ausführliche Analyse dieser Klageszene vgl. M. Dreysse: Szene vor dem Palast, S. 137-178. 10 Zur Bedeutung der Brust in der christlichen Tradition vgl. Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München, Wien: Carl Hanser 1994, S. 181f. Ein weiteres antikes Beispiel wäre die Klytaimnestra in den Choreophoren des Aischylos. 11 Man denke etwa an die Mutter- und Hexenfiguren im Märchen; vgl. Annette Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodram und Horror, Marburg: Schüren 1996. 243

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von Sehen und Gesehen werden, auf dem Theater beruht, heraus. Die Scham ruft, wird sie in dieser Weise sichtbar gemacht, den voyeuristischen Anteil des Theaterschauens ins Gedächtnis. In diesem Fall betont der Moment der Scham – jenseits subjektiver Empfindungen – die Ungewöhnlichkeit der Präsentation alter unbekleideter Körper beziehungsweise alter Haut auf dem Theater und die Fragilität der Körper auf physischer wie auch psychischer Ebene.

D i e ‚ N e u e n Al t e n ‘ Das Thema Alter ist aufgrund der demographischen Entwicklungen in der zeitgenössischen Gesellschaft ein viel diskutiertes. In der Populärkultur wird schon seit längerem der Typus der aktiven, jung gebliebenen, der so genannten ‚Neuen Alten‘ proklamiert.12 Gerade die Werbung hat in Zeiten der verschobenen Alterspyramide die Rentnerinnen und Rentner als Zielgruppe entdeckt, freilich in den genre-üblichen, die Realität beschönigenden und auf die Vorstellung der ewigen Jugend ausgerichteten Kategorien. Dennoch lässt sich feststellen, dass sich die Darstellung alter Menschen in der Populärkultur in den letzten Jahren, speziell in Form des Typus der ‚Neuen Alten‘, grundlegend verändert hat. Die Verschiebungen der Altersstruktur führen unter anderem dazu, dass alte Menschen als eigenständige Bevölkerungsgruppe stärker wahrgenommen werden beziehungsweise selbst stärker am öffentlichen Leben teilnehmen, als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Diese Entwicklung macht auch vor dem Theater nicht halt. So gibt es etwa seit 2006 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg das Festival „Herzrasen“, das Theateraufführungen von, mit und für alte und ältere Menschen versammelt, und das Fragen des Alters thematisieren und eine neue Wahrnehmung des Alters ermöglichen will. Im Rahmen dieses Festivals wurde im Jahr 2008 eine Eigenproduktion des Schauspielhauses uraufgeführt, Die Kümmerer in der Regie von Markus Heinzelmann. Die Kümmerer versammelt zwanzig Hamburger Bürgerinnen und Bürger, die im Rentenalter sind und sich ehrenamtlich engagieren. Während der Aufführung im Großen Haus erzählen sie aus ihrem Leben und vom Altsein, berichten von ihrem ehrenamtlichen Engagement, von ihrer Lust am Leben und ihrer Angst vor dem Sterben. Neben diesen Berichten, die sich direkt an das Publikum wenden, gibt es kleine dialogische Szenen, Gesangs- und Tanzeinlagen sowie einige Sequenzen einer gespielten DSDS-Show für Ehrenämter. Gleich zu Beginn stehen alle Darstelle12 Vgl. z.B. Carolin Burgert/Thomas Koch: „Die Entdeckung der Neuen Alten? Best Ager in der Werbung“, in Christina Holtz-Bacha (Hg.), Stereotype? Frauen und Männer in der Werbung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 155-175. 244

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rinnen und Darsteller in einer Reihe dem Publikum gegenüber. Die Alten erobern die Bühne, erobern diesen Ort gesellschaftlicher Öffentlichkeit, um für sich selbst einzustehen. Sie sprechen von sich, nennen ihre Namen, ihr Alter, berichten von ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Sie sind die Protagonisten, treten souverän der Theateröffentlichkeit gegenüber und machen auf sich aufmerksam. Sie spielen dabei keine Theaterrolle im Sinne der Verkörperung eines anderen, sondern stellen sich selbst dar. Das Thema Alter wird in dieser Form des dokumentarischen Theaters durch die Betroffenen selbst auf die Bühne gebracht – allerdings werden hier gerade keine in einem negativen Sinne vom Alter ‚betroffenen‘ und bemitleidenswerten Menschen inszeniert, sondern die Alten treten als selbstbewusste Akteure, als eigenständige Vertreter ihrer selbst dem Publikum gegenüber. Nun sind auch die ‚Neuen Alten‘ in der Werbung unter anderem durch Aktivität und Selbstbewusstsein gekennzeichnet. Bestätigen Theaterprojekte wie Die Kümmerer diesen Trend, affirmieren sie also die neue Norm? „Manchmal sehne ich mich danach, einfach nur alt zu sein. Nicht so aktiv“, sagt einer der „Kümmerer“ im Laufe der Aufführung. Auf diese Weise wird der Anspruch der ewigen Jugendlichkeit hinterfragt, so wie andererseits auch immer wieder die als negativ beurteilten Seiten des Altwerdens thematisiert werden, die im Diskurs der ‚Neuen Alten‘ gerne verdrängt werden, wie beispielsweise die Angst vor der Abhängigkeit von anderen, der Verlust geliebter Menschen, das Nachlassen körperlicher Fähigkeiten. Die große Zahl und die Unterschiedlichkeit der Beteiligten führt außerdem dazu, dass ein sehr vielfältiges Bild entsteht, ein Bild, das sich aus vielen Einzelnen zusammensetzt, mit ihren Eigenarten und ihrer je individuellen Geschichte, und so Stereotypien in Frage stellt. In den dialogisch angelegten Szenen beginnen die Darstellerinnen und Darsteller, Theater zu spielen im Sinne des als ob – sie tun so, als ob sie sich miteinander unterhielten. Interessanter Weise verfallen sie genau in dieser Verkörperung alter Menschen in allseits bekannte Klischees, in normierte Vorbilder alter Menschen, wie wir sie aus Film und Fernsehen oder auch der Realität kennen. Dies kann beispielsweise der alte Mann sein, der gerne mit jungen Frauen flirtet und dabei schlechte Witze macht. Es kann aber auch ein Tonfall oder eine Geste sein, die uns als ‚typisch‘ oder aber als betont jugendlich – und damit als die Norm bestätigend – auffällt. Wenn sie aber nicht so tun als ob (sie alt oder jung wären, sie Schauspieler wären), sondern sich auf den Akt des Berichtens konzentrieren, sich unmittelbar an das Publikum wenden und von ihrem Leben im Alter, ihren Wünschen und Träumen, von dem, was sie tun, was sie beschäftigt und bewegt, erzählen, wenn sie also die Zuschauer direkt in die Kommunikation mit einbinden und Theater als Repräsentation, also als ein Abbild von Realität, das seine Gemachtheit verbirgt, in Frage stellen, erzeugen sie neue, andere Bilder von alten Menschen: jede/r ist 245

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anders, sie überraschen uns, sie entsprechen nicht den Vorbildern, die wir im Kopf haben, sie stehen jede/r für sich und nicht nur für das Alter, das sie repräsentieren.

W i e s p i e l t m a n Al t s e i n ? In Uraufführung: Besuch der alten Dame von 2007 verwebt die Theatergruppe Rimini Protokoll den Text des Stückes Friedrich Dürrenmatts mit der Frage der Erinnerung, die fiktionale Erzählung mit dem realen Versuch der beteiligten Darstellerinnen und Darsteller, sich an die Uraufführung des Dramas von 1956 zu erinnern. „Wie spielt man Altsein?“ fragt einer der Darsteller, die tatsächlich alle die Uraufführung miterlebt haben, im Verlauf der Aufführung ins Publikum. Die Frage bezieht sich auf die Darstellung der Dramenfiguren, aber auch auf die des eigenen Alters der Schauspieler, auf die szenische Erfahrbarmachung der Zeitspanne von 51 Jahren, die zwischen der Uraufführung und der Inszenierung durch Rimini Protokoll liegt und die für die Beteiligten fast ein ganzes Leben bedeutet. Wie spielt man also Altsein? In Uraufführung entscheiden sich die drei Regisseure von Rimini Protokoll dafür, nicht das Altsein im Sinne einer Verkörperung zu spielen, sondern die gesamte Aufführung um das Thema der vergehenden Zeit und der Erinnerung kreisen zu lassen. Altwerden ist auch ein Erinnerungsprozess – immer wieder aufs Neue finde und erfinde ich meine eigene Vergangenheit. Die Experten erinnern sich also, und sie fragen ins Publikum: „Wie werden Sie sich in 51 Jahren an diesen Abend erinnern?“ Und schon bricht die vergehende Zeit, die eigene Vergänglichkeit über die Zuschauer herein. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll sind bekannt geworden für ihr dokumentarisches Theater mit Experten, also mit nicht-professionellen Darstellerinnen und Darstellern, die aufgrund ihrer Biografie oder ihres Berufs Experten sind auf einem bestimmten Gebiet, mit dem sich die jeweilige Inszenierung auseinander setzt.13 Bereits im Jahre 2000 beschäftigten sie sich in Kreuzworträtsel Boxenstopp im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm mit der Frage des Altseins. Auch hier wurde das Altsein nicht gespielt, sondern fand als Realität Eingang in das Theater: Die Protagonistinnen der Aufführung, Wera Düring, Ulrike Falke, Marta Marbo und Christiane Zerda, waren tatsächlich alt, zur Zeit der Premiere im Durchschnitt etwa achzig Jahre. Sie sind Bewohnerinnen des dem Mousonturm benachbarten Altenstifts, nur eine von ihnen ist professionelle Schauspielerin. Thematisch handelt die Aufführung von der Formel 1 einerseits und dem Altwerden

13 Vgl. Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander 2008. 246

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und Altsein andererseits: „Was erzählt eine alte Hand, was eine junge nicht erzählt? Wie schnell wird ein Reifen gewechselt? Wie schnell eine Hüfte?“ Es werden sowohl Gegensätze als auch Gemeinsamkeiten der beiden Themenkomplexe herausgearbeitet: Jugend, Männlichkeit, Geschwindigkeit und Technik versus Alter, Weiblichkeit, Langsamkeit, menschlicher Körper und körperlicher Verfall, aber auch die sowohl für Rennfahrer wie alte Menschen geltende Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit, die ständige Präsenz des Todes, die Zeiterfahrung der nicht enden wollenden Wiederholung immer derselben Wege, ob auf der Rennbahn oder in den Gängen des Altenheims. Die Verflechtung der auf den ersten Blick so gegensätzlichen Themen eröffnet überraschend neue Perspektiven sowohl auf den Rennsport als auch auf den Prozess des Altwerdens. Die Darstellerinnen sind Expertinnen auf dem Gebiet des Altseins, sie berichten von ihrem Alltag im Altenheim, von Sitzgymnastik, Gedächtnistraining und Hörgeräten, von skurrilen Aushängen am schwarzen Brett, von Schmerzen, Krankheiten und ihrer Angst vor dem Sterben. Sie haben sich im Verlauf der Proben aber auch mit dem Rennsport auseinander gesetzt. Informationen hierzu ebenso wie eine fiktive Geschichte über ein Rennteam, das im hohen Alter noch einmal ein Rennen fahren soll, gehen ebenfalls in den Text der Aufführung ein. Gerade die Verwebung der Alltagserzählungen aus dem Altenheim mit dieser fiktiven Erzählung verwirrt die Erwartungshaltung der Zuschauer und hinterfragt Bilder und Normen des Alters und der Weiblichkeit: Stimmt das tatsächlich, kann es sein, dass diese alte Frau, die vor uns steht, früher Rennen gefahren ist? Gibt es überhaupt weibliche Rennfahrer? Werden alte Menschen wirklich zu Testzwecken unter Leistungsdruck gesetzt? Gibt es den Alterssimulator, der die Bedürfnisse alter Menschen zum Zwecke von Vermarktungsstrategien simuliert? Die Verunsicherung der Kriterien für Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Theatralität, die das Theater von Rimini Protokoll auszeichnet, generiert hier immer neue Bilder der darstellenden und dargestellten alten Frauen, so dass auch die Kategorie „alt“ an Eindeutigkeit verliert. Darüber hinaus bestimmen die Darstellerinnen durch ihr tatsächliches Alter das Bühnengeschehen auch auf ganz reale Weise. Das Tempo ist langsam. Ein Gang über die Bühne dauert so lange, wie es eben dauert, wenn eine alte Frau, gestützt auf ihren Stock, über eine zehn Meter breite Bühne geht. Im Unterschied zu den meisten Beteiligten von Die Kümmerer sind die Darstellerinnen von Boxenstopp so alt, dass sie deutlich sichtbar körperlich beeinträchtigt sind: Sie gehen langsam und vorsichtig, mit einem Höchstmaß an Konzentration, und können nur sehr eingeschränkt schnellere Bewegungen machen. Die Langsamkeit ist hier nicht nur Zeichen für Langsamkeit, sondern eine Realität, die das Bühnengeschehen prägt und formt. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird auf diese Weise auf den konkreten, alten Körper gelenkt. 247

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Zugleich werden die realen Bedingungen, die die Darstellerinnen mitbringen, in eine künstlerische Form übersetzt: Frau Falke kann sich keinen Text merken, deshalb sitzt sie während der gesamten Aufführung an einem Lesepult an der Rampe und liest den die Aufführung strukturierenden Protokoll-Text vor. Dieser verknüpft den Alltag im Altenstift, die Formel-1-Saison und die Proben für die Aufführung miteinander. Der Tod bricht dabei oft in erschreckender Beiläufigkeit herein: 13. August: Häkkinen gewinnt Großen Preis von Ungarn. 14. August: Frau Simon wird GDA-Korrespondentin. 16. August: Gedächtnistraining. 19. August: Regenmaschine gebohrt. 22. August: Werkbesichtigung Dunlop. 23. August: Wird das Hörgerät zum Sterben ausgeschaltet? 24. August: Fotografieren sämtlicher Gemälde im Stift. 25. August: Noch 70 Tage bis zum Rennen.

Die konzentrierte Haltung des Vorlesens verleiht Frau Falke und ihrem Sprechen eine klare Form, die sie stützt und zugleich die Theateraufführung als Konstruktion offen legt. Die klare Form und die sachliche Sprache des Texts wiederum heben ein Zittern ihrer Stimme hervor, das nicht nur Zeichen für ihr Alter ist, sondern das Reale des alten Körpers in ihr Sprechen einschreibt. Die künstlerische Form – des Textes, der Langsamkeit, des Vorlesens – stellt auf diese Weise die Realität der alten Körper, ihre Gebrechlichkeit und Fragilität, aus. Die Verflechtung der realen, alten Körper mit der künstlerischen Form stellt immer wieder die Frage nach der Darstellbarkeit des Alterungsprozesses. Diese Problematik wird auch direkt angesprochen: 9. August: Treffen mit Düring, Simon, Falke. Frau Düring sagt: Früher dachte ich, älter wird man erst viel später. Frau Simon sagt: Die höchste Geschwindigkeit ist, wenn Sie hinfallen und einen Oberschenkelhalsbruch haben. Das können Sie nicht darstellen. Frau Falke – das bin ich – sagt: Bernd Rosemeyer fuhr schon 1937 durchschnittlich 276 Stundenkilometer. Dann verunglückte er tödlich. Und der Lehrer fragte die Klasse: War Bernd Rosemeyer ein Held?

Das Klischee des Helden sagt ebenso wenig über den Tod aus, wie die zeichenhafte Darstellung eines Oberschenkelhalsbruchs über diese Verletzung mitzuteilen vermag. Die Repräsentation des Körpers, zumal des alten, verfallenden Körpers, reproduziert einerseits Normierungen; um diese zu unterlaufen, um Altsein zu spielen, ohne Klischees von alten Menschen zu bebildern, konfrontieren Rimini Protokoll die theatralischen Zeichen für Alter andererseits mit den konkreten Körpern und mit der sprachlichen Reflexion des Al-

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ter(n)s und seiner Darstellung. Auf diese Weise wird die Repräsentation schließlich selbst hinterfragt.

Tanzende Körper Der Tanz ist eine darstellende Kunst, die den Körper in besonderem Maße in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und die ihn zugleich, in ihrer klassischen Form, in besonders strenger Weise normiert. Anders als im Sprechtheater gibt es im Tanz normaler Weise keine alten Körper. Eine Tänzerin oder ein Tänzer des klassischen Balletts muss aufgrund des körperlichen Verschleißes meist bereits mit Mitte dreißig mit dem Tanzen aufhören. Nicht nur die Bewegungsfiguren sind auf die Leistungsfähigkeit junger Körper ausgerichtet, sondern das Körperbild selbst, auf dem das Ballett aufbaut beziehungsweise das es konstruiert, ist eines der ewigen Jugend. Und auch in zeitgenössischen Tanzformen, die sich von den Körperidealen des klassischen Balletts verabschieden, sind alte Tänzerinnen und Tänzer eine Ausnahme. Umso mehr Aufmerksamkeit erweckte Pina Bausch im Jahre 2000 mit Kontakthof – Mit Damen und Herren ab 65. Sie inszenierte hier ihre Choreographie Kontakthof von 1978 mit Tänzerinnen und Tänzern über 65. Dass ausgerechnet Pina Bausch, die unter anderem Alltagsbewegungen in den Tanz einführte, mit älteren Tänzerinnen und Tänzern arbeitet, verwundert nicht, und doch ist man als Zuschauer/in bei Kontakthof erstaunt, wie ungewöhnlich es ist, nicht mehr junge Menschen auf der Tanzbühne zu sehen – ein deutlicher Bruch mit der Norm des Bühnentanzes, auch des zeitgenössischen. In ZeitSprünge (Leipzig 2007) lässt die Choreographin Heike Hennig junge auf alte Tänzerinnen und Tänzer treffen. Bereits im Jahr 2006 erarbeitete Hennig mit vier ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern der Leipziger Oper eine Aufführung, in der die inzwischen fast 80-jährigen von ihrem Leben tanzten und erzählten: Zeit – tanzen seit 1927.14 ZeitSprünge inszeniert nun die Begegnung dieser vier mit jungen Tänzerinnen und Tänzern. Mehr noch als in Sequenzen zu zeitgenössischer Musik wird in solchen mit klassischem Tanz, beispielsweise in dem ‚Pas de deux‘ einer 80jährigen Extänzerin mit einer jungen Tänzerin oder eines alten Paares, sichtbar, dass die alten Tänzerinnen und Tänzer ebenso professionell wie die jungen tanzen, aber – anders. Die Normverschiebung liegt hier nicht in einem offensichtlichen Unterlaufen, sondern in der Ausführung genau derselben Bewegungsfiguren auf etwas andere Weise. Die Gebrechlichkeit des Körpers zeigt sich in leicht gebeugten Schultern, faltiger Haut, einem leichten Zittern, in einer verzögerten Bewe-

14 Die Tänzerinnen und Tänzer sind Ursula Cain, Christa Franze, Horst Dittmann und Siegfried Pröhlß. 249

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gung, einem etwas versetzten Tempo. Das im klassischen Ballett auf Perfektion, Homogenität und Elevation ausgerichtete Körperbild erhält hier eine Rauheit, die die Bedingtheiten des menschlichen Körpers, aber auch seine je einzigartige Subjektivität sichtbar werden lässt. Sehr viel stärker als in Szenen, in denen die Begegnung der Generationen explizit thematisiert oder erzählt wird, wird hier der alternde, singuläre Körper und sein Verhältnis zu der ihn konstituierenden Norm hervorgehoben. Denn in Narration und Dialog werden Normierungen auf der Ebene der Darstellung reproduziert, während im Fall des klassischen ‚Pas de deux‘ die Norm so offensichtlich ist, dass die Abweichung als das Andere der Norm in den Blick gerät. Sowohl Pina Bausch als auch Heike Hennig stellen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Alten, die von der Tanzbühne üblicher Weise ausgeschlossen sind, in den Mittelpunkt. Dabei rücken nicht die eingeschränkten Möglichkeiten, der Norm zu entsprechen, als defizitär ins Blickfeld, sondern ihre spezifische Art des Bewegens macht die Norm sichtbar als Ausschluss des ihr Anderen, als Ausschluss des subjektiven, gebrechlichen, nicht perfekten Körpers.

Ab s c h l i e ß e n d e Ü b e r l e g u n g e n Die Theateraufführung ist ein flüchtiges, prozessuales Ereignis, das sich deutlich vom traditionellen Werkbegriff absetzt. In der frühen Performancekunst und Body Art der 1960 und 70er Jahre wurde diese Prozessualität durch den realen Vollzug sowie die Markierung und Hinterfragung der Zuschauerposition herausgestrichen. Das postdramatische Theater der 1980er und 90er Jahre hob, wie anhand von Einar Schleefs Müttern gezeigt wurde, die zeitliche und räumlich-körperliche Komponente der Theateraufführung hervor: Die Körper werden im realen Vollzug und tatsächlicher Beanspruchung als konkrete in Szene gesetzt, die Zeit wird durch ihre Dehnung als reale Zeit spürbar gemacht. Durch diese Betonung der Prozessualität, der von Zuschauern und Darstellern geteilten Raumzeit, treten auch die alternden Körper der Darstellerinnen in besonderer Weise hervor. Nicht als Zeichen für Alter, sondern als eine Realität, die uns alle betrifft: Wir schauen ihnen beim Altern zu, und spüren dabei unserem eigenen Altern nach. Zugleich machen die Konkretheit der alten Körper auf der Bühne und ihre offensichtliche Inszenierung den Wahrnehmungsrahmen bewusst – die Bilder, die wir uns von alten Menschen machen, die Normen, die die Körper erst hervorbringen. Im Theater des frühen 21. Jahrhunderts wird das Thema Alter(n) vermehrt explizit in Szene gesetzt, häufig mit Mitteln des Dokumentarischen. So wird mit nicht-professionellen Darstellerinnen und Darstellern gearbeitet, die selbst alt sind und in Form des Berichts aus ihrem Leben erzählen. Dem Spielen 250

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oder Verkörpern alter Menschen mithilfe theatraler Zeichen wird auf diese Weise die Realität der alternden Körper und Stimmen entgegen gesetzt. Allerdings wird am Beispiel der Inszenierungen von Rimini Protokoll deutlich, dass es wiederum künstlerische Mittel sind, die die Konkretheit der Körper auf der Bühne markieren, und dass gerade die Verunsicherung der Kategorien von Wirklichkeit und Fiktion zu einer Hinterfragung der Wahrnehmungsgewohnheiten und damit einhergehenden Normierungen des Alter(n)s führt.

Literatur Abramovic, Marina: Artist Body. Performances 1969-1998, New York, Mailand: Charta 1998. Birkenhauer, Theresia/Storr, Annette (Hg.): Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8 1998. Brauerhoch, Annette: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodram und Horror, Marburg: Schüren 1996. Burgert, Carolin/Koch, Thomas: „Die Entdeckung der Neuen Alten? Best Ager in der Werbung“, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Stereotype? Frauen und Männer in der Werbung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 155-175. Dreysse, Miriam: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1999. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander 2008. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999. Schreiner, Klaus: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München, Wien: Carl Hanser 1994.

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Ar be it a m Ge ne ratione ngefüge . Die fotografischen Körper de r Anne gret Soltau SABINE KAMPMANN

Annegret Soltau hat mit ihrer künstlerischen Arbeit seit den 1970er Jahren wesentliche Akzente in der Auseinandersetzung um Körperkonzepte gesetzt. Aspekte der Körpernormierung und der medialen Vermittlung von Körpern spielen dabei ebenso eine Rolle wie deren Temporalität. Alterungsprozesse und intergenerationelle Verhältnisse werden besonders in der zwischen 1994 und 1999 entstandenen generativ genannten Serie thematisiert, die Soltau 2004 wieder aufgegriffen hat und seitdem transformiert fortführt.1 Einige der im Rahmen dieser Serie entstandenen so genannten ‚Fotovernähungen‘ haben heftige öffentliche Debatten ausgelöst und Akte der Zensur hervorgerufen. Was sind die Gründe für eine derartige Erregung und Ablehnung von Kunstwerken am Ende eines Jahrhunderts, in dem der Tabubruch nicht nur einen akzeptierten, sondern auch einen konstitutiven Teil des Kunstbetriebs darstellt? Welche Rolle spielt Nacktheit, welche Weiblichkeit und welche das Alter(n) dabei, und inwieweit sind mediale Aspekte – die Fotografie sowie die Akte des Zerreißens und Vernähens – für die besondere Rezeptionsgeschichte der generativ-Serie verantwortlich? Diese Fragen stehen im Zentrum, wenn im Folgenden zunächst die sehr frühe und vieldiskutierte Fotovernähung generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter aus dem Jahre 1994 analysiert und ihre Rezeptionsgeschichte zusammengefasst wird, um sie dann im Hin1

Annegret Soltau spricht in Bezug auf die unter dem Titel generativ erscheinenden Arbeiten von einer „Serie“. Doch ist darunter nicht ein abgeschlossenes, quantitativ definierbares Konvolut, sondern eher ein ‚work in progress‘ zu verstehen. Bis 1999 basieren diese Arbeiten auf dem fotografischen Porträt der vier weiblichen Familienmitglieder – Annegret Soltau selbst, ihre Mutter, Großmutter und Tochter. Ab 2004 nimmt sie mit Bildern ihres Mannes und ihres Sohnes auch die männliche Linie in ihre Arbeiten zum Generationengefüge auf und bezeichnet diese Serie als transgenerativ. 253

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blick auf misogyne Traditionen in der Darstellung alter Frauen in der Kunst ebenso wie vor dem Hintergrund von Lebensalterdarstellungen zu diskutieren. Soltaus Arbeit soll dabei explizit in Hinblick auf Altersmodelle analysiert und ihr innovatives Generationenkonzept herausgearbeitet werden. Abbildung 1: Annegret Soltau, „generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter“, 1994, Fotovernähung, 60 x 80 cm, Vorderseite

Die Farbfotografie generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter aus dem Jahre 1994 zeigt vier nackte Frauen unterschiedlichen Alters, die sich lächelnd und in entspannter Körperhaltung frontal dem Kameraobjektiv präsentieren (Abb. 1). Was an dieser Aufnahme irritierend ins Auge fällt, sind die zahlreichen Risse und Nahtstellen innerhalb der Fotografie. Durch grobe und unregelmäßige Stiche mit schwarzem Garn ‚geflickt‘, ist das Ergebnis eine Fotocollage, bei der sich die Körperteile nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz befinden, sondern wie ‚vertauscht‘ wirken: Am jugendlichen Körper des blonden Mädchens rechts sind schwere und schlaff herunterhängende Brüste zu sehen, während die sich auf Krücken stützende Greisin links über eine glatte Stirn verfügt. Neben Brust und Stirn sind es vor allem die Münder sowie die Augen- und Halspartien, die aus jeweils einem der vier abgelichteten Körper herausgerissen wurden, um in einen anderen hinein collagiert zu werden. Annegret Soltaus Fotovernähungen der generativ-Serie gehorchen in den 1990er Jahren folgendem Prinzip: auf die fotografische Aufnahme, deren Ab254

ARBEIT AM GENERATIONENGEFÜGE

züge für weitere Arbeiten wieder verwendet werden, folgt das Herausreißen einzelner Körperfragmente aus dem Papierabzug, wobei die KörperSilhouette jedoch bestehen bleibt. Schließlich werden die Fotofragmente neu kombiniert und miteinander vernäht. Dass die solchermaßen bearbeitete Fotografie in einem Studio aufgenommen wurde, davon zeugt neben der gleichmäßigen, frontalen Ausleuchtung auch die weiße Stoff- oder Papierbahn im Hintergrund, die einen einheitlichen Raum mit kalkulierbarem Schattenwurf herstellt. Der so geschaffene irreale Ort verleiht der Gruppe der vier Frauen etwas Exemplarisches: Indem sie einander berühren, die Arme jeweils hinter dem Rücken der Nachbarin verschränken, formieren sie sich zu einer nach rechts und links offenen Reihe. Denn während die beiden mittleren Personen mit paralleler Beinstellung fest auf der Erde stehen, posieren die beiden äußeren im Kontrapost und öffnen durch einen nach rechts locker herunter hängenden Arm und die nach links ausgestellte Krücke die Komposition. Vor dem hellen Grau des Hintergrundes hebt sich die Farbe des Fleisches in einem natürlich wirkenden Ton ab, und die Schärfe der Fotografien lässt neben dem unterschiedlichen Bräunungszustand der verschiedenen Körperpartien auch Körperhaare, Falten, hervortretende Adern und Pigmentflecken erkennen. Somit werden bekannte Kennzeichen des alternden Körpers in den Blick gerückt. Soltau verwendet die Möglichkeiten des Fotostudios nicht dazu, ‚ideale‘, jugendlich wirkende Akte zu erzeugen, sondern private, nackte Körper zu ‚zeigen‘.2 Von der besonderen Privatheit dieser Körper erfährt der Betrachter durch den Bildtitel. generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter identifiziert die Modelle als die Künstlerin selbst mit ihren weiblichen Verwandten. Die Reihung der vier Personen bekommt vor diesem Hintergrund einen genealogischen Charakter. Ob das Bild mehr als Familienporträt der Generationen, als Lebensalterdarstellung oder als Aktinszenierung mit feministischen Absichten wahrgenommen wird, ist im Folgenden zu diskutieren. Wichtig für Soltaus Fotovernähungen sind überdies die in Ausstellungen sichtbar präsentierten Rückseiten (Abb. 2). Auf dem weißen Hintergrund der Fotopapiere bilden die schwarzen Fäden nahezu abstrakte Kompositionen. Bei dem hier besprochenen Beispiel sind die Umrisse der Personen erahnbar. Zugleich scheinen sie durch besonders lange Stiche miteinander verbunden zu sein, ein Beziehungsgeflecht wird sichtbar.

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Zum ‚privaten Körper‘ vgl. Gernot Böhme: „Körper, Bilder und Gewalt“, in: Annegret Soltau – ich selbst [Ausst. Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt, 23.4.-11.6.2006], Darmstadt 2006, S. 152-157, hier S. 155. 255

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Abbildung 2: Annegret Soltau, „generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter“, 1994, Fotovernähung, 60 x 80 cm, Rückseite

Öffentliche Ärgernisse – Rezeptionsvermeidung Die Auseinandersetzungen um diese und ähnliche Fotovernähungen Annegret Soltaus konzentrieren sich freilich auf die Vorderseiten und die dort dargestellten Körper. In den Jahren 1994 und 1995 wurde das zur Diskussion stehende Bild gleich zwei Mal aus der Gruppenausstellung „Ästhetik im Alter“ entfernt.3 Die Stadtoberhäupter von Dietzenbach und Augsburg sahen sich veranlasst, die Ausstellungsbesucher vor dieser Kunst zu ‚schützen‘ und ließen das Bild noch vor der Eröffnung der Schau abhängen. Einen weiteren Akt der Zensur erlebten Arbeiten aus Soltaus generativ-Serie ebenfalls 1995, diesmal allerdings deutlich abseits der hessischen und bayrischen Provinz. Kein geringerer als der damalige Leiter des Suhrkamp Verlages, Siegfried Unseld, verweigerte den Druck einer Bildstrecke Annegret Soltaus in dem Sammelband Von der Auffälligkeit des Leibes.4 3 4

Vgl. Ästhetik im Alter. 39 ausgewählte Arbeiten [Ausst.-Kat. des Kreises Offenbach, Leitstelle Älterwerden], Offenbach 1994. Der Bildessay sollte unter dem Titel „Altern und Gestaltwandel der Frau“ in dem Sammelband von Farideh Akashe-Böhme (Von der Auffälligkeit des Leibes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995) veröffentlicht werden. Zu sehen ist er nun in der Publikation: Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret

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Die Stadt Darmstadt, in der Soltau seit vielen Jahren lebt, hat diese Ereignisse 1996 zum Anlass für eine öffentliche Podiumsdiskussion genommen, deren Ergebnisse in einem kleinen Bändchen publiziert wurden. Allerdings lenken der Titel dieser Publikation, Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau, sowie der einleitende Beitrag von Inge Lorenz die Aufmerksamkeit stark auf den Aspekt der Akzeptanz von Künstlerinnen im zeitgenössischen Kunstbetrieb.5 Doch ist dieser Erklärungsversuch, allein betrachtet, sicher zu eindimensional. Georg Bußmann etwa hebt in der Diskussion hervor, dass Kunstrezeption in der Gegenwart auf Freiwilligkeit beruhe und die subjektive Ablehnung eines künstlerischen Angebots eigentlich ein ganz normaler Vorgang sei. Lediglich wenn diese Ablehnung über individuelles Ignorieren hinausgehe und, wie im vorliegenden Fall, Bilder einer öffentlichen Rezeption entzogen würden, seien die Regeln eines modernen, aufgeklärten Kunstbetriebs verletzt.6 Boris Groys hat das auf dem AvantgardeGedanken des 20. Jahrhunderts fußende Prinzip der Überbietung und sich potenzierender Tabubrüche in Über das Neue beschrieben.7 Doch worin genau bestehen die Tabubrüche der generativ-Serie Annegret Soltaus?

G ew a l t a m B i l d – D i e F o t o ve r n ä h u n g Eine Grenzüberschreitung, die die Betrachter affiziert und ihnen fast körperliche Schmerzen bereiten kann, resultiert aus Soltaus Umgang mit dem Material. Der Akt des Herausreißens von Körperteilen aus den Abzügen ist über die weißen Risskanten des Fotopapiers noch gegenwärtig. Auch in Anbetracht der nur grob miteinander vernähten Fragmente scheint jeder Stich der Nadel durch die Fotografie noch präsent. Gernot Böhme hat die Reaktion des Unwohlseins angesichts von Soltaus Bildern mit unserer „eingewohnte[n] Bildpragmatik“ erklärt, der zufolge wir gewohnt seien, Bilder als Repräsentationen des Abgebildeten zu verstehen.8 Wenn Soltau also Gewaltakte

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Soltau, Darmstadt 1997. Auch aus der seit 2003 international gezeigten Wanderausstellung „Frauen im Orient – Frauen im Okzident“ wurde für die Präsentation im Stadtschloss Fulda eine Arbeit aus der generativ-Serie, wie es hieß, „vorsorglich entfernt“. Vgl. das Vorwort von Walter Hoffmann, in: Seitenblicke. Sichtweisen auf das Werk von Annegret Soltau, Darmstadt 2006, S. 6-7. Vgl. Inge Lorenz: „Einleitung“, in: Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau, Darmstadt 1997, S. 8-13. Georg Bußmann in der Podiumsdiskussion, in: Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau, Darmstadt 1997, S. 24-25. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1999. Gernot Böhme: „Was Soltau in effigie vollzieht…“, in: Seitenblicke. Sichtweisen auf das Werk von Annegret Soltau, Darmstadt 2006, S. 16-20, hier S. 16. 257

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gegenüber Bildern ausübt und auf diesen Bildern überdies nackte menschliche Körper zu sehen sind, kommt dies einer gleich mehrfachen Verletzung gleich. Denn Böhme zufolge verletzt bereits das Zurschaustellen von nackten ‚privaten‘ Körpern, die er von den ‚öffentlichen‘ Körpern etwa der Werbung unterscheidet, die Gebote der Scham und beschädigt deren Würde und Integrität.9 Ihre Zerstörung und Verletzung „in effigie“ wiederum, also das Zerreißen und Durchstechen des fotografischen Bildes, lässt die Betrachter quasi im Nachhinein mitleiden. Entlang der Spuren der Misshandlung am fotografischen Körper entwickeln sich überdies Ablehnung und Widerwillen. Stärker als bei anderen künstlerischen Medien, wird bei Fotografien die Verletzung der ‚Bildhaut’ als ein Angriff auf den dargestellten Körper wahrgenommen, werden fotografische Repräsentation und realer Körper als metonymisch miteinander verklammert empfunden. Dieser Stellvertretercharakter des fotografischen Bildes ist zusammen mit der dem Medium zugeschriebenen Eigenschaft, einen nahezu perfekten Illusionsraum zu erzeugen, für die heftige Ablehnung der Arbeiten Soltaus verantwortlich. William Ganis spricht davon, dass die „heilige Oberfläche des fotografischen Abzugs“ zerstört werde.10 Er weist überdies auf die Rolle der Fäden hin, die durch ihre Haptik zur Leugnung der fotografischen Illusion beitrügen. In der Tat ist diesem für das gesamte Œuvre Soltaus sehr wichtigen Material11 ein ambivalenter Charakter zu Eigen: Der vernähte Faden dient einerseits der Heilung und Instandsetzung, einem „symbolischen Reparaturprozess der Risse und Brüche“12, andererseits besitzt er, wenn er die Oberfläche des Bildes durchsticht, auch etwas Gewaltsames und Verletzendes. Durch den künstlerischen Einsatz des ansonsten typisch weiblich konnotierten Nähens, erscheint auch die Handarbeit in einem neuen, weniger häuslich-milden Licht, und der vernähte Faden setzt einen besonderen Kontrast zum Medium der Fotografie.13

9 G. Böhme: Körper, Bilder und Gewalt, S. 156. 10 William Ganis: „Fotofetisch“, in: Annegret Soltau – ich selbst, Darmstadt 2006, S. 52-63, hier S. 60. 11 Hier sei besonders verwiesen auf Soltaus Faden-Performances der 1970er Jahre, bei denen die Künstlerin Menschen mit Fäden umwickelte, die noch nach Stunden tiefe Furchen in der Haut hinterließen, und auf die ersten Fotovernähungen 1975, mit denen Soltau die Gattung, sieben Jahre vor Andy Warhols Stitched Photographs, erfand. Vgl. Kathrin Schmidt: „Von der Zeichnung zur Fotovernähung – das Werk von Annegret Soltau unter dem Gesichtspunkt seiner technischen Entwicklung“, in: Annegret Soltau – ich selbst, Darmstadt 2006, S. 24-35; W. Ganis: Fotofetisch, S. 54-56. 12 Harald Kimpel: „Hautpartikel. Fragmente zur Ästhetik der menschlichen Peripherie“, in: ders. (Hg.), Skinscapes. Die Kunst der Körperoberfläche, Marburg: Jonas 2008, S. 5-36, hier S. 18. 13 Vgl. ebd., S. 17-18. Die Fotografie aber mit Ganis per se als „männlich“ zu bezeichnen, als ein „distanziertes, objektivierendes Paradigmas“, schränkt die 258

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P r i va t e K ö r p e r – Al t e r n d u n d j e n s e i t s d e r N o r m ? Eine weitere Grenzüberschreitung, die als Tabubruch empfunden werden und zur Ablehnung von Soltaus generativ-Arbeiten geführt haben mag, besteht in der Visualisierung ‚normaler‘ und ‚privater‘ Körper. Weder an zeitgenössischer Werbefotografie geschulte Betrachter noch Kenner kunsthistorischer Aktdarstellungen vermögen Soltaus vier nackte Frauen bruchlos zu rezipieren. Die frontalen Haltungen der Modelle lassen nicht die bekannten kokett-sinnlichen Aktposen erkennen, und auch Lichtregie und Schärfe der Fotografie leisten einem Kaschieren ‚körperlicher Makel‘ keineswegs Vorschub. Vielmehr stellen die Körper unverhüllt auch Alterskennzeichen zur Schau. Die dargestellten Frauen scheinen – folgt man Kenneth Clarks Unterscheidung von „nude“ und „naked“14 – nackt zu sein; der Bildgattung des Aktes verweigern sie sich oder fügen ihm zumindest einen verstörenden Aspekt hinzu. Farideh Akashe-Böhme spricht davon, dass Soltaus Arbeiten die „Erfahrung von leiblicher Existenz als Bedrängnis“ auslösen können.15 Mit der Überwindung von Tabus und Schamgrenzen seien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch bislang unsichtbare Körperzonen in den Blick gerückt worden, wie beispielsweise die Gestalt der „vetula“, deren Anblick durchaus geeignet sei, die Grenzen von Intimität, Scham und so genanntem guten Geschmack zu verletzen.16 Doch was genau verletzt diese Grenzen? Hinter dem wohlklingenden Wort „vetula“ verbirgt sich ein widerwärtiger Inhalt. Bereits bei Horaz taucht der Topos der „vetula“, der alten Frau, als Inbegriff des Ekels auf, deren grotesker Körper in aller Ausführlichkeit beschrieben wird. Stets in Verbindung mit der sexuellen Geilheit der alten Frau lautet die drastische Schilderung in den Epoden etwa: „Da du doch schwarze Zähne hast, mit Runzeln hohes Alter dir die Stirne furcht und weitauf klafft so scheußlich zwischen dürren Backen der Hintern wie bei einer magren Kuh! Doch es erregt vielleicht der Busen mich? Die Brüste welk wie Stuteneuter! Der schlaffe Bauch, die Schenkel, strotzenden Waden dürre angefügt?“17

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Analyse des doch sehr variantenreichen Mediums stark ein; vgl. W. Ganis, Fotofetisch, S. 59. Vgl. Kenneth Clark: The Nude. A Study in Ideal Form, New York: Pantheon Books 1956. Farideh Akashe-Böhme: „Leibliche Existenz als Bedrängnis”, in: Annegret Soltau – ich selbst, Darmstadt 2006, S. 136-141, hier S. 136. Ebd., S. 139. Horaz: Epoden 8, Vs. 3-20, in: Horaz. Sämtliche Gedichte, übers. u. hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart: Reclam 1992, S. 277. 259

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Der Topos der geilen und aufgrund ihres körperlichen Erscheinungsbildes ekelerregenden alten Frau durchzieht die Kulturgeschichte. Winfried Menninghaus hat in seiner Studie über den Ekel herausgearbeitet, wie die Konstruktion des idealschönen Körpers des klassischen Kunstideals mit der Abgrenzung von nicht-jugendlichen Körpern einhergeht. „Falten, Runzeln, Knorpel […] oder Fettansätze“ werden beispielsweise von Winckelmann oder Herder als unschön und eklig definiert.18 Denn sie stehen dem in der griechischen Kunst zu findenden Ideal einer Haut entgegen, „die nicht angespannet, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdehnung füllet […]. Die Haut wirft niemals, wie an unsern Körpern, besondere und von dem Fleisch getrennete kleine Falten.“19 Angesichts solcher Positionen beschreibt Menninghaus die Figur der „häßlichen Alten“ als ein Phantasma, das „fast alle Defekte des Ekel-Diskurses“ vereine: „Falten, Runzeln, Warzen, größere Öffnungen des Mundes und des Unterleibes, eingefallene ‚Höhlungen‘ statt schöner Schwellungen, üblen Geruch, ekle Praktiken und Nähe zu Tod und verwesendem Leichnam.“20 Genau jene körperlichen Merkmale begegnen den Betrachtern von Annegret Soltaus Fotovernähungen der generativ-Serie: schlaff herunterhängende Brüste ebenso wie tiefe ‚Höhlungen‘ rund um den Bauchnabel, Fettpolster am ‚falschen‘ Platz sowie faltige Haut. Bei der ältesten Frau ganz links erscheint der körperliche Verfall durch die Krücken und einen Verband am Knöchel besonders drastisch. Neben der Herkunft aus den Ästhetik-Debatten des Klassizismus lässt sich das Unbehagen angesichts alternder weiblicher Körper auch auf andere, kulturgeschichtlich weit zurückreichende Wurzeln zurückführen. So haben etwa im Mittelalter Augustinus und Thomas von Aquin „das Gebären zur Raison d’être der Frauen“ erklärt; die Mutterschaft solle sie dabei von Sexualität und Sündhaftigkeit erlösen.21 Frauen, die aufgrund ihres Alters diese Funktion nicht mehr erfüllen können, wurden als Verstoß gegen die natürliche, göttlich gegebene Ordnung wahrgenommen und eigneten sich dadurch zur Verkörperung zahlreicher Laster – nach dem Prinzip, dass Sünde und Sünder(in) in eins fallen.22

18 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 78. 19 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart: Reclam 1969, S. 11-12, hier zit. nach: W. Menninghaus: Ekel, S. 78. 20 W. Menninghaus: Ekel, S. 132. 21 Vgl. Marina Warner: „Altes Weib und alte Vettel: Allegorien der Laster“, in: Sigrid Schade/Monika Wagner/Sigrid Weigel (Hg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 1994, S. 52-63, hier S. 54. 22 Ebd., S. 56. 260

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Ein Zurückschrecken angesichts der in Soltaus generativ-Serie präsentierten Körper beruht also auf einer langen misogynen Tradition in Text und Bild, in der die alte Frau zur Verkörperung etwa der Wollust, der Habsucht oder der Eitelkeit herhalten musste. Wenn es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt, dann hat sich diese Tradition der Darstellung alter, weiblicher Körper dort definitiv eingenistet, und sie sorgt bis heute dafür, dass sowohl Betrachter als auch Betrachterinnen angesichts ‚normaler‘ Merkmale körperlichen Alterns irritiert sind, deren Sichtbarkeit mit negativen Gefühlen verbinden beziehungsweise die Visualisierung als einen Tabubruch empfinden. Kulturhistorisch ist die Verschränkung von Misogynie und Alter daher ein wichtiges, auch für eine zeitgenössische Altersforschung zu verfolgendes Thema.23 Doch Soltau macht es den Betrachtern doppelt schwer. Jugendliche und alte Körper können in ihren Fotovernähungen nicht einfach als Kontrast rezipiert werden, sondern erscheinen durch die Collagetechnik als miteinander verschränkte. In den Körperpartien des jungen Mädchens ganz rechts sehen wir ja durchaus auch jene Haut, die laut Winckelmann wie „sanft gezogen über ein gesundes Fleisch“ erscheint und dem klassischen Ideal zufolge als jugendlich-schön empfunden wird. Doch wird die glatte und straffe Jugendhaut mit der runzligen Stirn und der schlaffen Brust der Urgroßmutter vernäht, also mit ihrer Zukunft konfrontiert. Hat Harald Kimpel die generativ-Arbeiten treffend als „intrafamiliäre Beziehungscollagen“24 bezeichnet, so sollte diese Charakterisierung um Begriffe wie Familien- oder Generationen-porträt erweitert werden. Das Besondere bei diesem Porträt ist nämlich, dass keiner der Körper fix und abgegrenzt erscheint; der eine findet sich im anderen wieder, verschränkt sich mit ihm. So wird mit bildnerischen Mitteln das Prinzip der Genealogie als matrilineare Verbindung dargestellt.25 Das Gebären, bei dem aus dem weiblichen Körper ein anderer erwächst, wird dabei auch als leibliches Schicksal der einzelnen Frau thematisiert und als ein ebenso produktiver wie auch zerstörerischer Prozess über das Prinzip der Fotovernähung in Szene gesetzt.26 Dass hierbei auch alte, offensichtlich jenseits des gebärfähigen Alters 23 Vgl. auch Caroline Schuster Cordone: Le crépuscule du corps. Images de la vieillesse féminine, Gollion: Infolio 2009. Zur Misogynie in der Literatur des Mittelalters siehe: Gretchen Mieszkowski: „Old Age and Medieval Misogyny: The Old Woman”, in: Albrecht Classen (Hg.), Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a neglected Topic, Berlin, New York: de Gruyter 2007, S. 299-319. 24 H. Kimpel: Hautpartikel, S. 17-18. 25 Vgl. auch Kathrin Schmidt u. Annegret Soltau: „Annegret Soltau – ich selbst“, in: Seitenblicke. Sichtweisen auf das Werk von Annegret Soltau, Darmstadt 2006, S. 8-15, hier S. 12. 26 Vgl. F. Akashe-Böhme: Leibliche Existenz als Bedrängnis, S. 138-139. 261

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befindliche Körper zu sehen sind, mag angesichts der angesprochenen kulturhistorischen Tradition den Tabubruch umso stärker erscheinen lassen. Mit ihrer Betonung der weiblichen Generationenfolge ist die generativSerie zu Recht als Kontrastprogramm zum patriarchalen Generationen-Prinzip verstanden worden.27 Spätestens mit den ab 2004 entstehenden transgenerativ-Arbeiten, in denen Soltau auch Fotografien ihres Mannes und ihres Sohnes verwendet, zeigt sich jedoch, dass sich diese Bilder keineswegs in einem feministischen Statement erschöpfen. Vielmehr scheinen sie vorrangig am Prinzip des Generationengefüges zu arbeiten, das sich am menschlichen Körper manifestiert.

Lebensalterdarstellungen Das Prinzip der Fotovernähungen Soltaus ist es also, die Körper-, Alters- und Generationengrenzen aufzubrechen und neu zu arrangieren. Doch die Reihung der vier Frauen im Bild scheint dem zu widersprechen. Denn die lineare Abfolge zusammen mit den verschränkten Armen ruft die Bildtradition der Lebensalterdarstellung wach, ein Bildtypus, der weniger auf Öffnung und Flexibilisierung als auf Normierung zielt. Darstellungen der Lebensalter dienen vor allem dazu, die gesellschaftliche Position und den familiären Stand der jeweiligen Altersgruppe zu zeigen, wobei traditionell Kleidung, Tierattribute sowie Inschriften die Kennzeichnung der einzelnen Lebensalter unterstützen.28 In Soltaus Fotovernähung sind solche expliziten Hinweise allerdings nicht zu finden. Vielmehr zeichnet sich die Arbeit dadurch aus, dass sie einerseits Angebote macht, das Bild in der Tradition der Lebensalterdarstellungen zu lesen, diese Tradition andererseits aber auch konterkariert. So stimmt etwa in generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter die Reihenfolge der Lebensalterstufen nicht mit der Tradition überein: Die Entwicklung von der Jugend zum Alter erfolgt bei Soltau nicht von links nach rechts, sondern umgekehrt. Am linken Rand bildet die Greisin den Auftakt der Reihe. Durch die beiden Krücken weist diese Figur zugleich ein traditionelles Motiv auf, taucht der Stock doch immer wieder als Zeichen für die Hinfälligkeit im Alter auf.29 Auch die auffallend gerade nebeneinander 27 K. Schmidt/A. Soltau: Annegret Soltau – ich selbst, S. 12. 28 Vgl. Klaus T. Wirag: Cursus Aetatis. Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München 1995 (Typoskript); Rudolf Schenda: „Die Alterstreppe – Geschichte einer Popularisierung“, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter [Ausst.-Kat. Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Museumsamt Brauweiler, Städtisches Museum Haus Koekkoek, Kleve], Köln: Rheinland Verlag 1983, S. 11-24. 29 Stefanie Knöll: „Frauen, Körper, Alter. Die weiblichen Lebensalter in der Kunst des 16. Jahrhunderts“, in: Andrea von Hülsen-Esch/Hiltrud Westermann-Anger262

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stehenden Beine der beiden mittleren Frauen, die sie ebenso unbewegt wie ‚standfest‘ und sicher erscheinen lassen, lässt sich mit der traditionellen, die Lebensalter begleitenden Versfolge in Verbindung bringen: „Zehn Jahr ein Kind, Zwanzig Jahr ein Jüngling, Dreißig Jahr ein Mann, Vierzig Jahr wohlgetan, Fünfzig Jahr stillestahn, Sechzig Jahr geht’s Alter an, Siebzig Jahr ein Greis, Achtzig Jahr schneeweiß, Neunzig Jahr der Kinder Spott, Hundert Jahre: Gnad’ dir Gott!“30

In der Periodisierung des Lebens nach dem Dezimalsystem befindet sich der Mann zwischen Geburt und Tod im Alter von fünfzig Jahren auf dem Höhewie auch Wendepunkt seines Lebens. „Stillestahn“ bezeichnet dabei den Zeitpunkt größten sozialen Ansehens und finanzieller Sicherheit wie auch den Moment des Zurückblickens auf den bisherigen Lebensverlauf. Gehen wir davon aus, dass die Zehner-Periodisierung des Lebens auch auf weibliche Lebensalterdarstellungen angewendet wurde, dann findet sich etwa in Hans Baldung Griens Die sieben Lebensalter des Weibes aus dem Jahre 1544, wie Stefanie Knöll vermutet, eine Visualisierung dieses „Stillstehens“ in der Beinstellung der dargestellten Personen (Abb. 3).31 Auch in Soltaus Bild kann eine solche Assoziation aufscheinen ebenso wie auch ein Anklang an das Motiv der Lebenstreppe vorhanden ist: Die leicht ansteigende und dann wieder abfallende Linie der Köpfe ähnelt jener Treppenstruktur, in der Aufstieg und Niedergang beziehungsweise die Phasen von Wachstum, Blütezeit und Verfall des menschlichen Lebens abgebildet werden.32

hausen (Hg.), Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Regensburg: Schnell u. Steiner 2006, S. 43-51, hier S. 44. 30 Zit. nach R. Schenda: Die Alterstreppe, S. 11. 31 Vgl. S. Knöll: Frauen, Körper, Alter, S. 46. Knöll deutet Hans Baldung Griens Gemälde als den linken Teil einer Darstellung der zehn Lebensalter. Die zweite Bildtafel mit drei weiteren Figuren existiert nur noch als Kopie (Rennes, Musée des Beaux Arts). In der ungewöhnlichen Nacktheit der Figuren sieht Knöll das Interesse des Künstlers an Alterungsprozessen des Körpers aufscheinen. 32 Schenda datiert die Entstehung des Motivs der Alterstreppe in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. R. Schenda: Die Alterstreppe, S. 17. 263

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Abbildung 3: Hans Baldung Grien, „Die sieben Lebensalter des Weibes“, 1544, Öl / Holz, 97 x 73 cm, Leipzig, Museum der Bildenden Künste

Indem Soltaus Bild statt der üblichen zehn nur vier Personen zeigt, wird die Identifikation als Lebensalterdarstellung ein weiteres Mal irritiert. Zwar erscheint die Viererreihe durch die Körperhaltung der Frauen nach rechts und links erweiterbar, doch stellen sich durch die vier Personen auch Assoziationen zum Lebensalterschema der Vierteilung ein. Die Vierteilung wurde in der Renaissance besonders mit kosmologischen Ordnungssystemen in Beziehung gesetzt, wobei man Jahreszeiten, Temperamente oder Körpersäfte im Rahmen der pythagoräischen Lehre mit den Lebensaltern des Menschen in Verbindung brachte. Im 19. Jahrhundert kam die Verbindung zu den Tages-

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zeiten hinzu.33 In Formulierungen wie der ‚Blüte der Jugend‘ oder dem ‚Herbst des Lebens‘ scheinen solche kosmologischen Vorstellungen bis heute auf. In Soltaus Bild werden derartige Assoziationen geweckt, um sogleich wieder durchbrochen zu werden. Der Lebensverlauf ist alles andere als eindeutig und linear, vielmehr finden sich darin Bruchstellen und Risse, die in der Materialität und Anmutung der Fotocollage ihre Entsprechung finden. Dies kann sowohl für den individuellen Lebenslauf gelten als auch für das Generationengefüge. Und vielleicht geht die Verunsicherung gegenüber vermeintlich konsistenten Lebensverläufen angesichts der Arbeiten Annegret Soltaus noch weiter. In Soltaus fotografischen Körpern sind jung und alt durch die Risskanten des Fotopapiers getrennt, durch die schwarzen Fäden aber auch miteinander verbunden. Die Beziehungen der Individuen wie der Generationen untereinander werden so symbolisiert, ihre vermeintliche Linearität in Frage gestellt und ihre Komplexität visualisiert. Man beginnt sich zu fragen, ob nicht bereits die Einteilung des Lebens in Abschnitte und Phasen selbst einen Modus der Normierung darstellt und die Zuordnung jeweils ‚passender‘ Körpermodelle und sozialer Rollen nur eine logische Folge davon ist. Warum denken wir das menschliche Leben nicht als ein Kontinuum oder als einen individuell strukturierbaren Verlauf? Soltaus generativ-Arbeiten können also als ein Plädoyer für die Auflösung der Altersrelationierung gelesen werden. In ihren künstlerischen Arbeiten scheint ein neues visuelles Modell auf, das Lebensalter und Generationenverhältnisse über das Prinzip der leiblichen Verschränkung zu begreifen sucht. Die Tabubrüche und Provokationen, die über die Visualisierung des weiblichen, alternden Körpers ins Spiel kommen, sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass Annegret Soltaus generativ-Arbeiten den konstruktiven Entwurf eines zeitgenössischen Lebensaltermodells formulieren. Der Weg zu diesem Modell führt allerdings über die Sichtbarkeit von Falten, Runzeln und Altersflecken ebenso wie von zarter, straff gespannter jugendlicher Haut sowie über die Vermeidung des traditionellen, vermeintlich eindeutigen Gegensatzpaares von Alter und Jugend. „Je stärker wir uns in unserer Gesellschaft mit dem Thema des Älterwerdens auseinandersetzen, desto mehr werden, meiner Einschätzung nach, die Arbeiten von Annegret Soltau zu Ikonen der Auseinandersetzung mit dieser Thematik aufsteigen.“34 Was Renate Petzinger vor gut zehn Jahren schrieb, ist nach wie vor aktuell: Es steht noch aus, das Potenzial der Arbeiten Annegret Soltaus in Hinblick

33 Vgl. Suse Barth: Lebensalter-Darstellungen im 19. und 20. Jahrhundert. Ikonographische Studien, Bamberg: Aku-Fotodruck 1971, S. 68-126. 34 Renate Petzinger, in: Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau, Darmstadt 1997, S. 40-41. 265

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auf ihr innovatives Alters- und Generationenkonzept in seiner gesamten Komplexität zu entdecken und zu würdigen.

Literatur Ästhetik im Alter. 39 ausgewählte Arbeiten [Ausst.-Kat. des Kreises Offenbach, Leitstelle Älterwerden], Offenbach 1994. Akashe-Böhme, Farideh: Von der Auffälligkeit des Leibes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Akashe-Böhme, Farideh: „Leibliche Existenz als Bedrängnis”, in: Annegret Soltau – ich selbst (2006), S. 136-141. Annegret Soltau – ich selbst [Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. 23.4.-11.6.2006], Darmstadt 2006. Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau [Darmstädter Dokumente Nr. 2, hg. vom Magistrat der Stadt Darmstadt], Darmstadt 1997. Barth, Suse: Lebensalter-Darstellungen im 19. und 20. Jahrhundert. Ikonographische Studien, Bamberg: Aku-Fotodruck 1971. Böhme, Gernot: „Körper, Bilder und Gewalt“, in: Annegret Soltau – ich selbst (2006), S. 152-157. Böhme, Gernot: „Was Soltau in effigie vollzieht…“, in: Seitenblicke (2006), S. 16-20. Clark, Kenneth: The Nude. A Study in Ideal Form, New York: Pantheon Books 1956. Ganis, William: „Fotofetisch“, in: Annegret Soltau – ich selbst (2006), S. 5263. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a.M.: Fischer TB 1999. Horaz. Sämtliche Gedichte, übers. u. hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart: Reclam 1992. Kimpel, Harald: „Hautpartikel. Fragmente zur Ästhetik der menschlichen Peripherie“, in: ders. (Hg.), Skinscapes. Die Kunst der Körperoberfläche, Marburg: Jonas 2008, S. 5-36. Knöll, Stefanie: „Frauen, Körper, Alter. Die weiblichen Lebensalter in der Kunst des 16. Jahrhunderts“, in: Andrea von Hülsen-Esch/Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.), Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Regensburg: Schnell u. Steiner 2006, S. 43-51. Lorenz, Inge: „Einleitung“, in: Ausgrenzung der Frauen in der Kunst am Beispiel Annegret Soltau (1997), S. 8-13.

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ARBEIT AM GENERATIONENGEFÜGE

Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Mieszkowski, Gretchen: „Old Age and Medieval Misogyny: The Old Woman”, in: Albrecht Classen (Hg.), Old Age in the Middle Ages and the Renaissance. Interdisciplinary Approaches to a neglected Topic, Berlin, New York: de Gruyter 2007, S. 299-319. Schenda, Rudolf: „Die Alterstreppe – Geschichte einer Popularisierung“, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter [Ausst.-Kat. Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Museumsamt Brauweiler, Städtisches Museum Haus Koekkoek, Kleve], Köln: Rheinland Verlag 1983, S. 11-24. Schmidt, Kathrin: „Von der Zeichnung zur Fotovernähung – das Werk von Annegret Soltau unter dem Gesichtspunkt seiner technischen Entwicklung“, in: Annegret Soltau – ich selbst (2006), S. 24-35. Schmidt, Kathrin/Soltau, Annegret: „Annegret Soltau – ich selbst“, in: Seitenblicke (2006), S. 8-15. Schuster Cordone, Caroline: Le crépuscule du corps. Images de la vieillesse féminine, Gollion: Infolio 2009. Seitenblicke. Sichtweisen auf das Werk von Annegret Soltau [Darmstädter Dokumente Nr. 25, hg. von der Wissenschaftsstadt Darmstadt], Darmstadt 2006. Warner, Marina: „Altes Weib und alte Vettel: Allegorien der Laster“, in: Sigrid Schade/Monika Wagner/Sigrid Weigel (Hg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 1994, S. 52-63. Wirag, Klaus T.: Cursus Aetatis. Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München 1995 (Typoskript).

Ab b i l d u n g e n Abb. 1: Annegret Soltau: generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter, 1994 (Vorderseite), Fotovernähung, Material: Ilfochrome, schwarzer Faden, 60 x 80cm. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Abb. 2: Annegret Soltau: generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter, 1994 (Rückseite), Fotovernähung, Material: Ilfochrome, schwarzer Faden, 60 x 80 cm. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Abb. 3: Hans Baldung Grien: Die sieben Lebensalter des Weibes, 1544, Öl / Holz, 97 x 73 cm, Leipzig, Museum der Bildenden Künste

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Au torinne n und Autore n

Prof. Dr. Hannelore Bublitz, Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn und Sprecherin des von der DFG geförderten interdisziplinären Graduiertenkollegs „Automatismen“; zahlreiche Publikationen im Bereich poststrukturalistischer Analysen moderner Gesellschaften, insb. von Subjektivierungs- und Normalisierungsprozessen sowie Geschlechter- und Körpertechnologien, u.a.: Das Geschlecht der Moderne, 1998; Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten, 1999; (Hg., mit Andrea D. Bührmann, Christine Hanke und Andrea Seier): Das Wuchern der Diskurse, 1999; (Hg., mit Christine Hanke und Andrea Seier): Der Gesellschaftskörper, 2000; Diskurs, Bielefeld 2003; In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur, Bielefeld 2005; Beiträge in: Foucault-Handbuch, Stuttgart 2008; „Körper nach Maß – Produkte mit Verfallsdatum? Zur Infrastruktur von Körper- und Selbsttechnologien“, in: Celine Camus et al. (Hg.), Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen, Königstein/Taunus 2008, S. 282-297; Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2010³; Im Beichtstuhl der Medien. Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis, Bielefeld 2010; (Hg., mit Roman Marek, Christina L. Steinmann und Hartmut Winkler): Automatismen, München/ Paderborn 2010; „Im ‚Darkroom‘ des Geschlechts – die Sexualität“, in: Thorsten Benkel/Fehmi Akalin (Hg.), Soziale Dimensionen der Sexualität, Gießen 2010, S. 269-290. Prof. Dr. Markus Dederich, Studium der Soziologie und Philosophie, Rehabilitationswissenschaftler an der Technischen Universität Dortmund; Forschungsschwerpunkte: (Bio-)Ethische Fragen im Kontext von Behinderung, Inklusion und Exklusion in Geschichte und Gegenwart, Disability Studies. Publikationen u.a.: Behinderung, Medizin, Ethik, Bad Heilbrunn 2000; Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007; (Hg.): Bioethik und Behinderung, Bad Heillbrunn 2003; (Hg., mit

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Wolfgang Jantzen): Behinderung und Anerkennung. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Bd. 2, Stuttgart 2009; (Hg., mit Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler): Heilpädagogik als Kulturwissenschaft – Menschen zwischen Medizin und Ökonomie, Gießen 2009. Dr. Miriam Dreysse, Theaterwissenschaftlerin, Gießen; z.Zt. Gastprofessorin am Studiengang für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin; Schwerpunkte in Lehre und Forschung: zeitgenössisches Theater und Performance, Geschlechterkonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur; Publikationen (Auswahl): Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a.M. 1999; Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007; „Entblößungen. Darstellung von Weiblichkeit in zeitgenössischer Performance“, in: Bettina Bannasch/ Stephanie Waldow (Hg.), Lust. Darstellungen von Sexualität in der Kunst von Frauen, Stuttgart 2008, S. 189-204; „Cross-Dressing. Zur (De)Konstruktion von Geschlechtsidentität im zeitgenössischen Theater“, in: Martina Oster/ Waltraud Ernst (Hg.), Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater, MedienKunst, Hamburg 2008, S. 36-47; „Mutterbilder in der zeitgenössischen Kunst. Auseinandersetzung mit einem Ideal“, in: Paula Villa/Barbara Thiessen (Hg.), Mütter - Väter. Diskurse, Medien, Praxen, Münster 2009, S. 290-307. Dr. Miriam Haller, Erziehungswissenschaftlerin; Geschäftsführerin des Arbeitsbereichs Gasthörer- und Seniorenstudium, Stellvertretende Leiterin des Centrum für Alternsstudien (CEfAS), Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne, Universität zu Köln; Publikationen (Auswahl): „‚Unwürdige Greisinnen‘. ‚Ageing trouble‘ im literarischen Text“, in: Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63; „Krieg, Pakt oder Komplott der Generationen?“, in: Kirsten Aner et al. (Hg.), Die neuen Alten – Retter des Sozialen?, Wiesbaden 2007, S. 39-53; „‚Wir wollen nicht nur Objekt der Forschung sein!‘ Möglichkeiten partizipativer Alter(n)sforschung“, in: IFG (Hg.), Gelebte Träume. Facetten einer neuen Alter(n)skultur, Münster 2007, S. 28-45; (Hg., mit Dieter Ferring et al.): Soziokulturelle Konstruktionen des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2008; „Die ‚Neuen Alten‘? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman“, in: Dorothee Elm et al. (Hg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009, S. 229-247; (mit Thomas Küpper): „Kulturwissenschaftliche Alternsstudien“, in: Kirsten Aner/Ute Karl (Hg.), Handbuch ‚Soziale Arbeit und Alter‘, Wiesbaden 2010.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Heike Hartung, Anglistin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin (1995-2004) und am Postdoc-Kolleg „Alter-GeschlechtGesellschaft“ der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (2004-2006); Vertretungsprofessuren für Englische Literatur am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Potsdam (2008-2009); seit 2010 assoziierte Wissenschaftlerin an der Promotionsschule „Zur Dynamik mobilisierter Kulturen“ der Universität Potsdam mit dem Forschungsprojekt „Narrating Age/Alter narrativ“; Forschungsschwerpunkte: Narratologie und Geschichte des Romans, Emotionsforschung, Age Studies, Disability Studies; Publikationen: (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005; (Hg., mit D. Reinmuth, C. Streubel und A. Uhlmann): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln 2007; (Hg., mit R. Maierhofer): Narratives of Life: Aging and Identity, Special Issue Journal of Aging, Humanities, and the Arts 1 (3/4), 2007; (Hg. mit R. Maierhofer): Narratives of Life: Mediating Age, Wien 2009. Dr. Sabine Kampmann ist Kunstwissenschaftlerin und seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Aktuell arbeitet sie als PostDoctoral Fellow des MaxNetAging am Kunsthistorischen Institut in Florenz. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift kritische berichte und hat 2008 Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur mitgegründet. Arbeitsschwerpunkte: Kunst des 19.-21. Jahrhunderts, visuelle Kultur in Theorie und Praxis, Künstlertum und Autorschaft, Gender Studies, Systemtheorie, Alter(n)sforschung; Publikationen zum Thema: „Images of Ageing. Perspektiven einer bildwissenschaftlichen Altersforschung“, in: Ines M. Breinbauer et al. (Hg.), Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden, Würzburg 2010; „Delegiertes Altern. Das Spiel der Medien in und nach Oscar Wildes ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘“, in: Martin Schulz/Beat Wyss (Hg.), Techniken des Bildes, München 2010. Dr. Thomas Küpper ist Literatur- und Medienwissenschaftler und vertritt derzeit eine Professur für Kulturwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Er gibt seit 2008 Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur mit heraus. Forschungsschwerpunkte: Konstruktionen des Alters in Literatur, Film und Fernsehen; Geschichte des ‚Kitsch‘-Begriffs; Edition der Rundfunkarbeiten Walter Benjamins. Publikationen (Auswahl): Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850, Würzburg 2004; „Konstruktivismus und Partizipation. Strukturelle Analogien zwischen Ageing Studies und Gender Studies“, in: Ines M. Breinbauer et al. (Hg.), Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegen271

„FÜR DEIN ALTER SIEHST DU GUT AUS!“

stände und Methoden, Würzburg 2010; Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010 (in Vorbereitung). Dr. Ulrike Manz, Soziologin, seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt a.M., Forschungsschwerpunkte: Körpersoziologie, Wissenssoziologie, Frauen- und Geschlechterforschung, Biopolitik; aktuelle Publikationen: „‚... letztlich muss doch jeder selbst entscheiden‘. Zur Bedeutung des subjektiven Moments im Umgang mit bioethischen Fragestellungen“, in: Ulrike Manz/Bruno Schmid (Hg.), Bioethik in der Schule. Grundlagen und Gestaltungsformen, Münster u.a. 2009, S. 145-160. Kontakt: u.manz@ soz.uni-frankfurt.de Dr. Sabine Mehlmann, Sozialwissenschaftlerin, von 2005 bis 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin der Arbeitsstelle Gender Studies der Justus-Liebig-Universität Gießen, seit 2009 Programmkoordinatorin für das Gleichstellungskonzept bei der Frauenbeauftragten der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: poststrukturalistische Gendertheorie, Konstruktionen von Geschlecht, Sexualität und Normalität in den ‚Wissenschaften vom Sex‘ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Männlichkeitsforschung, Bildung und Geschlecht. Publikationen (Auswahl): Unzuverlässige Körper – Zur Diskursgeschichte des Konzepts geschlechtlicher Identität, Königstein/Taunus 2006; „Das sex(ualis)ierte Individuum – Zur paradoxen Konstruktionslogik moderner Männlichkeit“, in: Ulrike Brunotte/Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2007, S. 37-56; (mit Andrea D. Bührmann) „Sexualität: Probleme, Analysen und Transformationen“, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2008, S. 608-616; (mit Stefanie Soine) „Gender Studies/Feminismus“, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2008, S. 367-379. Dr. Uta Müller ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard-Karls- Universität Tübingen, dort tätig in der Koordinationsstelle für das Ethisch-Philosophische Grundlagenstudium der Lehramtsstudiengänge in Baden-Württemberg. Sie studierte Philosophie, Politische Wissenschaften, Logik und Wissenschaftstheorie an den Universitäten in Heidelberg und München und promovierte mit einer Arbeit zur Wissenschaftsphilosophie. Forschungsschwerpunkte sind ethische Fragen im Umfeld von Körperlichkeit und Leiblichkeit des Menschen und Begründungsfragen der Bioethik. Ausgewählte Publikationen: 272

AUTORINNEN UND AUTOREN

„Gewalt und Körperlichkeit – eine philosophische Perspektive“, in: Julia Dietrich/Uta Müller-Koch (Hg.), Ethik und Ästhetik der Gewalt, Paderborn 2006, S. 243-259; „Zwischen Biowissenschaften und Konstruktivismus. Zur Frage des Körperbewusstseins in der Medizin“, in: Susanne Michl/Thomas Potthast/Urban Wiesing (Hg.), Pluralität in der Medizin. Freiburg/Br. 2008, S. 195-209; Kontakt: Dr. Uta Müller, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Wilhelmstr. 19, 72074 Tübingen, Tel.: 070712977986, [email protected] Prof. Dr. Barbara Paul, Professorin für Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Moderne und Gender am Kulturwissenschaftlichen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, zuvor 2003-08 Professorin für Kunstgeschichte und Kunsttheorie/Gender Studies an der Kunstuniversität Linz. Arbeitsschwerpunkte: Kunst, Kunsttheorie und Kunstbetrieb des 18.-21. Jahrhunderts; Geschichte und Theorie der Kunstgeschichte; kunstwissenschaftliche Gender, Postcolonial und Queer Studies. Veröffentlichungen zuletzt u.a.: FormatWechsel. Kunst, populäre Medien und Gender-Politiken/FormatChange. Art, Popular Media and Gender Politics, Wien 2008; (Hg., mit Johanna Schaffer): Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und GenderPolitiken / Queer Added (Value). Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld 2009. PD Dr. Sigrid Ruby ist Kunsthistorikerin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: französische Hofkultur der Frühen Neuzeit, amerikanische Kunstgeschichte, Gender Studies, Porträt und Körperbilder; Veröffentlichungen (Auswahl): „Feminismus und Geschlechterdifferenzforschung“, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 04/2003, S. 17-28; (Hg., mit Simone Roggendorf): (En)gendered: Frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen, Marburg 2004; „Mutterkult und Femme fatale: Frauenbilder“, in: Hubertus Kohle (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 7: Vom Biedermeier zum Impressionismus, München 2008, S. 511-533; „Entwurf eines zeitgemäßen Heldinnentums: Zu den ‚Héroïnes‘ von Bettina Rheims“, in: Eckhard Schinkel (Hg.), Die HeldenMaschine. Zur Aktualität und Tradition von Helden-Bildern, Essen 2010, S. 164-173; Mit Macht verbunden. Bilder der Favoritin im Frankreich der Renaissance, Freiburg/Br. 2010.

Pfrin. i.R. Stefanie Schäfer-Bossert, geb. 1963, Studium der Evangelischen Theologie, Ägyptologie und Religionswissenschaften; seit 1990 Mitglied im „Forschungsprojekt Hedwig Jahnow – Feministische Forschung zu Exegese und Hermeneutik im Fachgebiet Altes Testament“ (Philipps-Universität Mar273

„FÜR DEIN ALTER SIEHST DU GUT AUS!“

burg). Ab 1993 im Dienst der Evangelischen Landeskirche Württemberg: Museumsarbeit, Gemeindepfarrerin; 2001 (Schleudertrauma). Frühinvalidisierung, Aufgabe des Dissertationsprojekts. Vorstandsbeirätin der Deutschen Sektion der ESWTR (European Society of Women in Theological Research). Zahlreiche Veranstaltungen und Veröffentlichungen quer durch Theologie und Feminismus, z.B. zu Körperlichkeit, Geschlechterformatierungen der Neuzeit, Theologie und (Populär-)Kultur (Kunst, Kino, Phantastik), Gottesund Menschenbild, Alter. Jörg Scheller, geb. 1979, studierte Kunstwissenschaft, Philosophie, Medientheorie und Anglistik an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, der Universität Stuttgart und der Universität Heidelberg. Von 2007-2009 war er Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs „Bild-Körper-Medium“ mit einer Dissertation zum Thema „Der Fleischmetz: Arnold Schwarzenegger als Bildhauer“. Nach einer Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Universität Siegen (2009) ist er heute Assistent am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich und forscht zur Venedig Biennale. Als Journalist publiziert er regelmäßig in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Stuttgarter Nachrichten, Artnet. Zahlreiche Publikationen zu Kunst, Körperkultur und Pop, u.a.: Jörg Scheller/Christopher Tauber: Inter View Pop Comics, Köln 2006; No Sports! Eine Kunstgeschichte des Bodybuildings, Stuttgart 2010. Dr. des. Annika Wellmann ist Historikerin und war an der Universität Zürich in einem interdisziplinären Forschungsprojekt über Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen tätig. Sie ist Postdoktorandin an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sexualitätsgeschichte, Medien- und Wissensgeschichte. Publikationen (Auswahl): (mit Sabine Maasen) „Wissenschaft im Boulevard: Zur Norm(alis)ierung intimer Selbstführungskompetenz“, in: zeitenblicke 7 (2008) Nr. 3, http://www.zeitenblicke.de; (Hg., mit Peter-Paul Bänziger, Stefanie Duttweiler und Philipp Sarasin): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen, Berlin 2010.

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KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld Januar 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung April 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2010-05-07 11-31-08 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0255241013260346|(S.

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3) ANZ1321.p 241013260362

KörperKulturen Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit Mai 2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte August 2010, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

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KörperKulturen Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur

2005, 222 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-336-5

Januar 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Karl-Heinrich Bette Körperspuren Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit 2005, 298 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-423-2

Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-579-6

Claudia Franziska Bruner KörperSpuren Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-298-6

Michael Cowan, Kai Marcel Sicks (Hg.) Leibhaftige Moderne Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933 2005, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-288-7

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-464-5

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-428-7

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