Fortuna [Reprint 2018 ed.] 9783110949414, 9783484155152

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Fortuna [Reprint 2018 ed.]
 9783110949414, 9783484155152

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
O Fortuna
Fortuna und andere Mächte im Artusroman
Der Zufall und das Ziel
Eros und Fortuna
Fortuna bei Frauenlob
Nobilitas Fortunae filia alienata
Glück und List
Fortuna als narratives Problem
Von der Historie zur Tragödie: Macht und Ohnmacht des Schicksals über Troilus und Cressida
Die Fortuna des Fortunatus
The Fortune of Dürer’s ›Nemesis‹
Trost im Unglück? Justus Lipsius und Fortuna
Die gezähmte Fortuna. Stoizistische Modelle nach 1600
Fortuna vitrea
Gesamtregister zur Reihe Fortuna vitrea I—XV
A. Inhalt der Reihe
B. Allgemeines Register
C. Handschriften
D. Drucker und Verleger der Frühdruckzeit

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FORTUNA VITREA Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger Band 15

Fortuna Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

Gedruckt mit Mitteln aus dem Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fortuna /hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Fortuna vitrea ; Bd. 15) NE: Haug, Walter [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-15515-9

ISSN 0938-9660

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Das zehnte und letzte unserer Reisensburger Gespräche (13.11.-15.11.1992) war nicht zufällig der >Fortuna< gewidmet. Sie hat — in ihrer zerbrechlichsten Erscheinungsform — unserer Publikationsreihe ihren Namen geliehen. Es sollte damit eine Figur markiert werden, die für den Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, dem unser Interesse galt, eine besondere Bedeutung erlangt hat: Fortuna steht hier sowohl für eine wachsende Verunsicherung des Menschen wie auch für die neuen Chancen, die sich aus dem Verlust an sicheren Bindungen ergeben haben. Unter diesen Aspekten hat die Figur unsere Gespräche über die letzten fünf Jahre hin mehr oder weniger nachdrücklich begleitet. Zugleich aber war sie fiir uns auch die Verkörperung des Risikos, das wir mit unserem Unternehmen eingegangen sind. Doch nun, auf die zehn Tagungen zurückblickend, dürfen wir wohl sagen, daß uns das Glück, das uns mit dem Leibnizpreis zugefallen war — er hat die Gespräche und die Dokumentation getragen — treu geblieben ist. Es waren Jahre großer Fruchtbarkeit, für die wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft ebenso zu danken haben wie jenem inneren Teilnehmerkreis, der mit uns das Programm entworfen und unermüdlich durchgestaltet hat; es waren: Wilfried Barner, Jörg O. Fichte, Gerhard von Graevenitz, Klaus Grubmüller, Johannes Janota, Anna Mühlherr, Jan-Dirk Müller, Brigitte Weiske und Hans-Joachim Ziegeler. Dazu kamen die Helfer im Hintergrund, die bei der Organisation der Kolloquien wie bei der Redaktion der Tagungsbände tätig gewesen sind. Für diesen letzten Band insbesondere sind wir Heike Sahm zu Dank verpflichtet. Nicht zuletzt jedoch gebührt ein großer Dank auch dem Max Niemeyer Verlag, der die Reihe und die monographischen Begleitbände mit der ihm eigenen Gediegenheit und Sorgfalt publiziert hat. Tübingen

Walter Haug, Burghart Wachinger

V

Inhalt

Walter Haug O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung

1

Christoph Cormeau Fortuna und andere Mächte im Artusroman

23

Franz Josef Worstbrock Der Zufall und das Ziel. Uber die Handlungsstruktur in Gottfrieds >Tristan
Decameron< II 4 und II 9

110

Joachim Theisen Fortuna als narratives Problem

143

Joerg O . Fichte Von der Historie zur Tragödie: Macht und Ohnmacht des Schicksals über Troilus und Cressida VII

. .

192

Inhalt

Jan-Dirk Müller Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen

. . . .

216

Joseph Leo Koerner The Fortune of Dürer's >Nemesis
Viererformel
Disticha Catonis* (I, 26: Sic ars deluditur arte) zurückverweist.

15

Caillois ( A n m . 13), S. 216.

115

Helmut Pfeiffer

II. F o r t u n a Die K o n j u n k t u r der römischen Schicksals- u n d Glücksgöttin Fortuna im M i t telalter und in der frühen Neuzeit gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten Aspekten der Rezeption antiker Mythologie im christlichen Kontext. Keine der anderen paganen Gottheiten hat eine vergleichbare Karriere gemacht; ein Rezeptionsbefund, der offenbar auch damit zusammenhängt, daß die Fortuna dem klassischen Pantheon gar nicht angehört und daß es i m m e r schon schwierig war, ihr (wie z.B. der Venus) eine wohlumschriebene Aufgabe zuzuweisen. Die Erfahrung von Zufall u n d Kontingenz, die mit menschlichem Handeln in der Welt unaufhebbar auftretende Differenz von Intention u n d Resultat treibt zwar die Suche nach den Gründen dieser Differenz an, läßt sich aber n u r schwer auf das W i r k e n einer einzelnen Instanz reduzieren. So gehört bereits die römische Fortuna im Kontext der Welt der Götter notorisch zur »zweitefn] Garnitur der Halbseidenen« 16 mit relativ diffusem Wirkungsspekt r u m , die schon deshalb das Ausspekulieren der Wechselverhältnisse von Bild, Attribut und Narration provozieren mußte, u m damit das Verhältnis des M e n schen zu ihr (und damit zur Erfahrung von Kontingenz) i m m e r wieder neu bestimmbar zu machen. Die Spielräume zwischen Schicksal u n d Zufall, Gunst und U n g u n s t haben ein Spektrum von Rezeptionsmöglichkeiten freigesetzt, das die Möglichkeit allegorischer Vereindeutigung u n d Verbegriffiichung der mythologischen Figur erschweren mußte. Daher tendiert bereits die römische Fortuna — deren Kult vor allem bei den kleinen Leuten u n d Sklaven, die von ihr ein günstigeres Geschick erhofften, verbreitet war — dazu, eine Gestalt im plurale tantum zu sein: Es gab eine fortuna virilis wie eine fortuna muliebris, eine fortuna patricia neben einer fortuna plebeia, es gab Fortunae, die f ü r einzelne Geschlechter oder Cäsaren zuständig waren, neben einer fortuna publica wirkte eine fortuna privata, als extreme Steigerung der Tendenz zur Differenzierung der für Kontingenzerfahrung zuständigen Instanzen gab es Tempel der fortuna huiusce diei. Es versteht sich von selbst, daß eine derart pluralisierte, keiner kohärenten u n d schon gar keiner teleologischen Funktion zuweisbare Glücksgöttin zunächst mit dem entschiedenen Widerstand der in der Patristik formulierten Konzeption einer christlichen Heilsgeschichte zu rechnen hatte. So hat es vor allem Augustinus u n t e r n o m m e n , das Eindringen der paganen Göttin in die

16

Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, Frankfurt a. M . 1985, S. 14. - Z u r Rezeptionsgeschichte der Fortuna ansonsten i m m e r noch informativ: Alfred Dören, Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, I. Teil, Leipzig/Berlin 1924, S. 71-144; H o w a r d Rollin Patch, T h e Goddess Fortune in Mediaeval Literature, C a m bridge 1927 [Nachdr. N e w York 1967].

116

Glück und List

eschatologische Geschichtsauffassung zu verhindern oder doch zumindest zu erschweren. In >De civitate Dei< hält er fest, daß jene Ursachen des Geschehens, die gemeinhin dem Zufall oder der Fortuna zugerechnet werden, in Wirklichkeit dem Willen Gottes entspringen. 1 7 Eine unter dem Prinzip der göttlichen Vorsehung (providentia) stehende Heilsgeschichte kann — so scheint es — für die blinde u n d von den Menschen als wankelmütig erfahrene Glücksgöttin keinen Platz haben. An die hundert Jahre später wird freilich der Philosoph und P o litiker Boethius, der eine zentrale Schnittstelle der christlichen Aufarbeitung der antiken Philosophie markiert, in seinem >De consolatione philosophiae< entschieden anders argumentieren, nämlich in der Absicht, theologische Heilsgeschichte u n d pagane Philosophie zu vermitteln. Z w a r w i r f t das Verhältnis der R e d e der Fortuna im zweiten Buch zu den Erörterungen über providentia, fatum und casus im vierten Buch durchaus Kompatibilitätsprobleme auf. Die Scharnierfunktion der Fortunakonzeption des Boethius zwischen Antike und Mittelalter w u r d e dadurch aber k a u m beeinträchtigt. 18 Der Trost, den die Philosophie d e m Menschen im Unglück zu vermitteln vermag, bedarf offenbar eines Verständnisses der Rolle der Fortuna: Die P r o sopopeia der Fortuna i m zweiten Buch der >Consolatio< erfüllt genau diese Funktion. Boethius gibt der Fortuna, deren zentrales Attribut von nun an das R a d sein wird, 1 9 und ihren Gütern eine ethische Interpretation: Es geht n u n d a r u m , die Glücksgüter - im zweiten Buch sind das vor allem R e i c h t u m , Ä m t e r u n d Macht, R e p u t a t i o n u n d R u h m , im dritten k o m m e n noch Verg n ü g u n g e n und körperliche Schönheit hinzu - als nur scheinbares Eigentum des Menschen zu betrachten u n d den Schlägen der Fortuna pädagogischen Wert, den einer Besinnung auf das Eigentliche u n d Wesentliche, abzugewinnen. 20 Selbstbeherrschung und ein der Vernunft gemäßes Leben machen von

17

Augustinus, D e civitate Dei, V, 9, 4: Non enim eas causas, quae dicunturfortuitae,

unde etiam fortuna

nomen accepit, non esse dicimus nullas, sed latentes; easque tribuimus vel Dei veri vel spirituum 18

quorumlibet

voluntati.

Vgl. Pierre Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967, S. lOlff.

19

Boccaccio nimmt die die gesamte mittelalterliche Tradition prägende Vorstellung des Rads beispielsweise in seiner allegorisch-lehrhaften >Amorosa Visione< (um 1342) auf; in einem der von ihm durchwanderten Säle trifft der Erzähler auf eine bildhafte Darstellung der Fortuna: Ivi vid'io dipinta, in forma vera, / colei che muta ogni mondano stato, / tal volta lieta e tal con trista cera, / col viso tutto d'un panno fasciato, / e leggermente con le man volvea / una gran rota verso il manco lato [. . .] volvendo sempre ora 'n dietro ora avanti / la rota sua sanza alcun riposo, / con essa dando gioia e talor pianti.

(Canto X X X I , v. 16ff., zit. nach: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, hg.v.

Vittore Branca, Bd. 3, Mailand 1974, S. 100). Zur allmählichen antiken Ausprägung und mittelalterlichen Verwendung der Vorstellung v o m R a d der Fortuna vgl. Courcelle (Anm. 18), S. 113ff. 20

Vgl. Boethius, Trost der Philosophie. Consolatio philosophiae, hg.u. übersetzt v. Ernst Gegen-

117

Helmut

der Fortuna u n a b h ä n g i g . Boethius' Fortuna, weil es i h m d a r u m geht, r u n g e n R e c h n u n g zu tragen, o h n e Schema projizieren zu müssen. Für tete Weichenstellung durch Dantes

Pfeiffer

philosophische Trostschrift rechnet m i t der der Wechselhaftigkeit individueller E r f a h sie i m m e r schon auf ein heilsgeschichtliches Boccaccio w i r d die v o n Boethius eingelei>Commedia< noch einmal verschärft.

D a n t e verbindet in seiner E v o k a t i o n der Gestalt der Fortuna i m 7. Gesang des >Inferno< die ü b e r g r e i f e n d e heilsgeschichtliche O r d n u n g mit der durch B o e thius geleisteten Ausarbeitung der Fortunavorstellung, i n d e m er Identität, O r t u n d Funktion der tradierten Gestalt präzisiert. 21 D a b e i g e w i n n t die F o r t u n a eine gegenüber Boethius gesteigerte Dignität. D e r Eingangskontext, m i t d e m D a n t e das A u f t r e t e n der Fortuna vorbereitet, ist durch die Erscheinung des Plutus vorbereitet, den Vergil als maledetto lupo apostrophiert u n d d a m i t als Allegorie der Habsucht verstehen läßt. Plutus stößt m i t heiserer S t i m m e u n verständliche, aber vielleicht bedeutungsvolle W o r t e h e r v o r : — Papé Satan, papé Satan Aleppel - (v. I). 22 Seine beiden charakteristischen M e r k m a l e , die U n v e r ständlichkeit seiner Sprache u n d der R e i c h t u m , deuten bereits jenes K o o r d i natensystem an, innerhalb dessen D a n t e den A u f t r i t t der F o r t u n a vorbereitet. Plutus ist eine Wächtergestalt der Hölle, die über die a n o n y m e Masse der Habsüchtigen wacht, die i m >Inferno< nach d e m Schema der aristotelischen Ethik in das Gegensatzpaar der Geizigen u n d der Verschwender auseinanderfällt. Jedenfalls verfehlen sie genau j e n e aristotelische M i t t e der Freigebigkeit u n d der Großgesinntheit, deren Vertreter das 10. Buch des >Decameron< b e völkern w e r d e n , u m dort zugleich E x e m p l a der Ü b e r w i n d u n g m i ß g ü n s t i g e r Fortuna zu liefern. 2 3 B e v o r sich D a n t e u n d sein Führer n u n der a n o n y m e n Masse der H a b s ü c h tigen z u w e n d e n , b r i n g t Vergil den Plutus z u m Schweigen: Er solle seine W u t in sich u n d sich m i t ihr verzehren. So apostrophiert, fällt Plutus in sich z u s a m m e n , u n d zwar vermittelt ü b e r ein Bild, das auf die I k o n o g r a p h i e der Fortuna verweist: Er fällt w i e die v o m W i n d geblähten Segel des Schiffes, w e n n der

schätz u. O l o f Gigon, München/Zürich 1990, 2. Buch, 2. Prosa, S. 48: Opes, honores, ceteraque talium mei sunt iuris. Dominam famulae

cognoscunt, mecum veniunt,

me abeunte äiscedunt.

Audacter

affirmem, si tua forent, quae amissa conquereris, nullo modo perdidisses. 21

Vgl. dazu Giuseppe Mazzotta, Dante, Poet of the Desert. History and Allegory in the >Divine

22

Zitierte Ausgabe: Dante Alighieri, La Divina Commedia, hg.v. Natalino Sapegno, Mailand/

23

Panfilo, der König des zehnten Tages, gibt der brigata als Thema auf: voglio che domane ciascuna di

ComedyElegia< des A r r i g o da Settimello, der 1194 überdies einen Traktat m i t d e m an Boethius erinnernden Titel >De diuersitate Fortunae et Philosophiae consolatione< schrieb. D a n t e , der den H a n d e l u n d das Geld wie die Sprache als analoge M o m e n t e des gesellschaftlichen Austausches begreift, die deshalb beide v o m gleichen Typus v o n Fälschungen b e d r o h t sind, 25 assoziiert Fortuna wie Boethius m i t den irdischen Glücksgütern u n d thematisiert sie daher genau an j e n e r Stelle seines >InfernoDivine ComedyNikomachischen Ethik< (1119b 21ff.) handelt Aristoteles die ethischen Tugen-

1984, Kap VI: Exchange and Communication in the >ComedyNikomachischen Ethik< vgl. die

Bemerkungen von Kurt Flasch, Die Pest, die Philosophie, die Poesie. Versuch, das >Decameron< neu zu lesen, in: Literatur, Artes und Philosophie, hg.v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 63-84, hier S. 65.

120

Glück und List

W e l t o r d n u n g bezogenen Wahlfreiheit des Handelns vernichten m u ß . Die Wechselfälle der F o r t u n a sollen jedenfalls zu d e n k e n geben, i n d e m sie sich an den Menschen als moralisch verantwortliches Subjekt richten, der p a r a d o x e r weise, wie schon Boethius festhielt, gerade dann v o n der Fortuna zu profitieren v e r m a g , w e n n sie sich i h m ungünstig zeigt: Etenim plus hominibus reor adversam quam prosperam prodesse fortunam.28 I n d e m D a n t e die F o r t u n a in der d o p p e l t e n Perspektive einer A g e n t u r der P r o v i d e n z u n d (für die oberflächliche menschliche W a h r n e h m u n g ) einer Instanz der W i l l k ü r präsentiert, hält er sie in einer A m b i v a l e n z v o n O r d n u n g u n d K o n t i n g e n z , die den Menschen zur Selbstbes t i m m u n g z w i n g t . Er k a n n sich ihr aber entziehen, w e n n er auf die Güter, die in ihrer H a n d liegen, verzichtet.

III. F o r t u n a z u L a n d u n d M e e r Die bei Boethius u n d D a n t e entfaltete Vorstellung der Fortuna als Herrscherin über die mondana facúltate w i r d v o n Boccaccio i m 32. Gesang seiner >Amorosa Visione< noch einmal katalogartig aufgegriffen: In prima alcuni domandon ad essa molta ricchezza, credendosi stare sanza bisogno alcun possedendo essa. Vaghi sono altri sol di poter fare sì che avute sieno in reverenza da tutti, e 'n ciò s'ingegnan d'avanzare. In alcuni altri aver somma potenza par sommo bene, e questo van cercando, tanto gli abaglia la falsa credenza. Risplendere altri si vanno ingegnando di nobil sangue ed il nome famoso o per guerra o per pace van cercando. Tai son che credon ch'esser copioso di volontà carnai, ch'è van diletto, faccia chi ciò possiede glorioso, (v. 7fF.) So w i e die Philosophie bei Boethius u n d Vergil bei D a n t e ü b e r n i m m t auch Boccaccios Führerin in der >Amorosa Visione< die A u f g a b e , v o r den G ü t e r n der F o r t u n a zu w a r n e n : R e i c h t u m m a c h t seinen Besitzer a r m , weil er Sorgen u n d G e f ä h r d u n g e n m i t sich f ü h r t . Eine lange Serie v o n E x e m p l a illustriert in der >Amorosa Visione« zusätzlich die beständige U n b e s t ä n d i g k e i t der Fortuna.

28

Boethius, Consolatio (Anm. 20), 2. Buch, 8. Prosa, S. 86.

121

Helmut

Pfeiffer

Auch i m >Decameron< ist die v o n Boethius initiierte Tradition präsent, freilich nicht in systematischer Exposition, w o h l aber versatzstückhaft in den K o m m e n t a r e n , m i t denen die Mitglieder der brigata die v o n ihnen erzählten G e schichten verarbeiten. D i e spezifischen Aspekte v o n Dantes Darstellung i m >Inferno< w e r d e n v o r allem v o n Pampinea, nicht u m s o n s t der ältesten der E r zählerinnen, eingebracht: Sie zählt Fortuna m i t der N a t u r zu den ministre del mondo,29 sie sei in Wirklichkeit nicht blind, sondern habe tausend A u g e n , sie v e r f u g e nach i h r e m occulto giudicio über j e n e D i n g e , die die Menschen fälschlicherweise ihr eigen n e n n e n m ö c h t e n , ihre beständige V e r ä n d e r u n g erfolge senza alcuno conosciuto ordine da noi (S. 153). 30 Indes w i r d der tradierte Diskurs über die Fortuna in diesen zerstreuten Zitaten tendenziell marginalisiert u n d d a m i t u m seinen Geltungsanspruch gebracht. J e m e h r m a n über die F o r t u n a redet, so P a m p i n e a in der Einleitung zu der N o v e l l e II 3, u m so m e h r bleibt zu sagen: quanto più si parla de' fatti della fortuna, tanto più, a chi vuole le sue cose ben riguardare, ne resta a poter dire (S. 153). D i e Fortuna, die die R e i c h t ü m e r verteilt, f o r d e r t die Fülle der R e d e , w e n n m a n ihr auf den G r u n d k o m m e n will. Dieser R e i c h t u m der Sprache aber hat i m >Decameron< seinen O r t nicht in den meist k n a p p e n u n d h ä u f i g p r o b l e matischen K o m m e n t a r e n der Erzähler, sondern in den N o v e l l e n selbst, die j a bereits durch ihre narrative S t r u k t u r des u n e r w a r t e t e n Umschlags eine Affinität zur Fortuna aufweisen. In ihnen steht, w i e Friedrich T h e o d o r Vischer in seiner >Ästhetik< f o r m u l i e r t hat, die »schärfere Schneide des Schicksals« n e b e n der »Pritsche des lächerlichen Zufalls«. 31 Auch deshalb, als Tag der F o r t u n a u n d der Unerschöpflichkeit des Erzählens, ist der zweite Tag der längste des >DecameronDecameron< f ü h r t e dazu, daß Vincenzo Cioffari in einem älteren Aufsatz so weit ging, eine f u n d a m e n t a l e N ä h e zu postulieren, vgl. Vincenzo Cioffari, T h e conception of F o r t u n e in the >DecameronDecameronDecameron< steht nicht [. . .] i m Gegensatz zur Fortuna Dantes, sondern sie stellt vielmehr eine A u s w e i t u n g j e n e r K o n z e p t i o n dar, die zugleich ein natürliches P r o d u k t v o n Dantes Kunstwelt ist.« Allerdings kann auch Cioffari nicht an der Einsicht vorbei, daß bei Boccaccio die providentielle E i n b e t t u n g der Fortuna weitgehend verschwunden ist. — Z u einer exemplarischen, a m Text einzelner N o v e l l e n d u r c h g e f ü h r t e n Analyse des Verhältnisses v o n D a n t e u n d Boccaccio u n t e r d e m Stichwort i m i t a t i v e Distanza die aus den üblichen g r o ß r ä u m i g e n ideengeschichtlichen Schematisierungen herausführt vgl. R o b e r t Hollander, Boccaccio's Dante: Imitative Distance (>Decameron< I 1 and VI 10), Studi sul Boccaccio 13 (1982), S. 169-198.

31

Zit. nach: Novelle, hg.v. Josef K u n z , D a r m s t a d t 1973 ( W d F 55), S. 64.

122

Glück und List

Die N o v e l l e II 4 erzählt die Geschichte des Händlers L a n d o l f o R u f o l o aus d e m süditalienischen R a v e l l o . Z w a r w e r t e t die Erzählerin (Lauretta) bescheidenheitstopisch die v o n ihr g e b o t e n e Geschichte ab, weil sie den Glanz eines über alle E r w a r t u n g glücklichen Schlusses vermissen lasse, der die erzählten Kalamitäten ausbalancieren könnte, 3 2 doch weist die N o v e l l e eine nochmalige K o m p l i z i e r u n g der typisierten narrativen Verlaufsfigur auf, in der sich in den Geschichten des zweiten Tages f ü r die Erzähler die M a c h t der Fortuna oder eben auch n u r der b l o ß e Zufall zeigt. W i e in II 3, w o der soziale Abstieg einer adligen Florentiner Familie in die R o l l e v o n Geldverleihern erst nach einem doppelten Kursus einer finalen höfischen R e i n t e g r a t i o n Platz macht, so ist auch in II 4 das Erzählschema v o n Aufstieg u n d Fall (bzw. v o n Fall u n d neuerlichem Aufstieg) verdoppelt: E i n e m ersten Fall folgt ein kurzfristiger ö k o n o m i s c h e r Erfolg, der seinerseits in einen neuerlichen Fall m ü n d e t , in d e m Landolfo n u n nicht m e h r n u r H a b u n d Gut, sondern sogar das eigene Leben riskiert, u m schließlich einem endgültigen Aufstieg Platz zu machen, der seine Stabilität einer (in sich freilich durchaus ambivalenten) K u r s k o r r e k t u r der M a x i m e n seines H a n d e l n s verdankt: A m E n d e entsagt L a n d o l f o merkantilen A b e n t e u e r n . Auch hier w i r d schließlich die K a u f m a n n s w e l t verlassen, die der >Ort< der v o n der N o v e l l e erzählten Wechselfälle der F o r t u n a w a r . Die N o v e l l e setzt m i t einer topographischen Situierung ein, deren >indizieller< C h a r a k t e r k a u m zu übersehen ist. Die in der Eingangsbeschreibung e n t w o r f e n e T o p o g r a p h i e bildet den einen Pol einer topologischen O p p o s i t i o n , deren anderer der R a u m der A b e n t e u e r des Protagonisten ist. Beschrieben w i r d eingangs nämlich die Küste u m Amalfi, quasi la piü dilettevole parte d'ltalia (S. 167). D i e E v o k a t i o n eines Ortes, der — wie i m ü b r i g e n auch die A u f e n t haltsorte der brigata — K u l t u r u n d N a t u r harmonisch vereint, k o n n o t i e r t eine Welt des Überflusses. A b e r diese scheinbar idyllische Welt w i r d doch v o n ein e m grenzüberschreitenden Geist beherrscht; die Gartenlandschaft der costa d'Amalfi ist v o n Menschen bevölkert, die der Geist des Handels antreibt. A n ders als j e n e >pastoralen Oasender aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist [. . .]. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur< (S. 63). Zur Relevanz dieser Unterscheidungen für die ökonomische Theorie des Spätmittelalters vgl. Raymond de Roover, La pensée économique des scolastiques. Doctrines et méthodes, Montreal/Paris 1971. - Was das Motiv der Verdoppelung des Reichtums angeht, so könnte man an ein entferntes Echo der biblischen Geschichte von Hiob denken: Hiob erhält am Ende vom Herrn zwiefältig so viel, als er gehabt hatte (42, 10). Landolfo wäre dann eine Gegenfigur zu Hiob, insofern seine Tribulationen nicht auferlegt sind, sondern letztlich seinem eigenen Antrieb entspringen. 36

S. 168: veggendosi di ricchissimo uomo in hrieve tempo quasi povero divenuto, pensò o morire o rubando ristorare i danni suoi, acciò che là onde ricco partito s'era povero non tornasse.

37

S. 169: già per fama conoscendol ricchissimo, si come uomini naturalmente vaghi di pecunia e rapaci.

125

Helmut

Pfeiffer

renräuber werden insgesamt zu Opfern der Fortuna, die jetzt eine ihrer ikonographisch prominenten — auch im >Decameron< häufigen 38 - Formen annimmt: die des Seesturms, der tempestuosa fortuna (S. 602), die Schiffe versenkt. Landolfo und die Genueser Kaufleute bzw. Korsaren erleiden Schiffbruch. 39 Der schiffbrüchige Landolfo erreicht nach einer verzweifelten Nacht auf einer Truhe die Küste Korfus, w o eine Frau den Besinnungslosen w i e einen piccol /andullo (S. 173) an Land trägt. B e w e g g r u n d des Handelns der Frau, die den seiner Sinne nicht mächtigen Landolfo pflegt und ihm schließlich auch die rettende Truhe wieder gibt, ist das Mitleid: D i e namenlose Frau ist da compassion mossa (S. 173). Sie handelt damit in Übereinstimmung mit jener elementaren N o r m menschlicher Beziehung, die bereits der erste Satz des Proö m i u m s zum >Decameron< fordert: Umana cosa é aver compassione degli affiitti (S. 5). 40 In der N o v e l l e bleibt sie allerdings eine marginale Spur. 38

Vgl. z.B. II 6 ( M a d a m a Beritola); II 7 (Alatiel); V 1 (Cimone). Die Identifikation des Sturms mit der Fortuna w i r d in den N o v e l l e n selbst wiederholt vollzogen, z.B. V 1 (S. 601f.): Ma la fortuna,

la quale assai lietamente l'acquisto della donna avea conceduto a Cimone, non stabile, subita-

mente in tristo e amaro pianto mutò la inestimabile letizia dello innamorato giovane [. . .] surse un tempo ferissimo

e tempestoso, il quale il cielo di nuvoli e 'l mare di pistilenziosi

venti riempie. Gerade in V 1

ist der Anschluß an die T h e m a t i k des zweiten Tages deutlich g e n u g . K a u m in einer anderen N o v e l l e des >Decameron< spielt die p e r m a n e n t e (und widersprüchliche) B e r u f u n g auf das Eingreifen der Fortuna eine ähnliche R o l l e wie in dieser. D e r f ü n f t e Tag soll handeln di ciò che a alcuno amante, dopo alcuni fieri e sventurati accidenti, felicemente

avvenisse (S. 589). N a c h den tra-

gischen Liebesabenteuern des vierten Tages w i r d also n u n wieder - allerdings eingeschränkt auf Liebesabenteuer - die Verlaufsfigur des zweiten Tages aufgegriffen: finales Glück nach u n g l ü c k lichen A b e n t e u e r n . - Z u r einschlägigen Interpretation der Alatiel-Novelle vgl. das Kapitel >The M e a n i n g of a Storm< in: G u i d o Almansi, T h e W r i t e r as Liar. N a r r a t i v e Technique in the >DecameronDecameron< vgl. auch Theodolinda Barolini, The Wheel of the >DecameronDecameronDecameron< als >Händlerepos< plausibel erscheinen lassen kann — Shakespeare wird d e m g e genüber in >Cymbeline< wieder zu einer höfischen Konstellation zurückkehren, indem er den Kern der Wettgeschichte in den fast mythischen Kontext britisch-römischer Auseinandersetzungen zur Zeit v o n Christi Geburt zurückverlegt. Im übrigen entfernt sich II 9 deutlicher als II 4 v o m ikonographischen Repertoire der Fortuna: Indem die Geschichte einer Wette erzählt wird, rückt die Frage in den Vordergrund, w i e einer, der das Glück oder die Fortuna herausfordert, sich selbst zur Fortuna werden kann. Für die Erzählerin Filomena steht allerdings weniger der aleatorische als der agonale Charakter der Geschichte i m Zentrum: Sie faßt sie als Illustration des Sprichworts auf, daß lo 'ngannatore rimane a pie dello ingannato (S. 284) 45 — eine sprichwörtliche Wahrheit, die eben nicht durch abstrakte Vernunftgründe, sondern nur durch die Empirie, die accidenti che avvengono, zu untermauern sei. Sie verbindet damit selbst die Thematik der Fortuna mit j e n e m anderen zentralen Erzählmotiv des >DecameronCycle de la g a g e u r e s in: Giuseppe Galigani (Hg.), II Boccaccio nella cultura inglese e anglo-americana, Florenz 1974, S. 194—202. 45

Die a n o n y m e englische Erzählung >Frederyke of Jennen< (1518), die Shakespeare als Vorlage f ü r >Cymbeline< gedient hat, w e n d e t diese S t r u k t u r bereits i m P r o l o g ins Religiös-Erbauliche: Our lord god sayeth in the gospel:

What

measure ye mete withal,

Angesichts der herrschenden deceytes and vnrightfulness

ther with shall ye be mete

agayn.

geht es d e m A u t o r d a r u m , ein E x e m p e l

zu statuieren, u m zur Rechtschaffenheit anzuhalten: And do your besynes ryghtfully and iustly, ye shal haue a blessyd and a good end to your rewarde. (Die Erzählung ist greifbar im A n h a n g zur A r d e n - A u s g a b e v o n Shakespeares >Cymbelinerealistische< Ausgangspunkt, die familiäre Welt italienischer Kaufleute, auf der anderen Seite aber die romanzenhafte Welt eines orientalischen Sultans, in der die Verstrickungen der Handlung erst zu einer Lösung finden. 46 O r t des Geschehens ist zunächst eine Herberge in Paris, in der sich vermögende italienische Kaufleute (S. 284: alquanti grandissimi mercatanti italiani) treffen. Sie sind in Geschäften unterwegs, doch treffen sie sich am Abend, um die Geselligkeit des ragionare zu pflegen. Das Gespräch entwickelt sich so, daß ein T h e m a das nächste gibt, d'un ragionamento in altro travalicando. Ein solches Arrangement ist kaum unbeabsichtigt, liegt es doch nahe, in der Situation der Kaufleute eine mise en abyme der Rahmensituation von Boccaccios lieta brigata zu sehen — das Bild eines geselligen ragionamento, das in der Novelle zum Zerrbild wird. In aller Kürze sei an die einschlägigen Konditionen erinnert, unter denen sich die brigata ins ländliche Exil begibt. Pampinea, die Initiatorin des Auszugs, schärft ihren Begleitern nachdrücklich ein, in ihren Vergnügungen außerhalb der Stadt niemals das >Zeichen der Vernunft< (segno della ragione) zu überschreiten. 47 D i o neo hatte dem wenig später eine weitere Grenze hinzugefugt, nämlich das Verbot, die Probleme der verwüsteten Stadt im Kontext des ländlichen R ü c k zugs zu thematisieren 48 — dem entspricht die gänzliche Eskamotierung der Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen, durch die die Mitglieder der brigata verbunden sind: Solange sie sich in den frei gewählten pastoralen Oasen aufhalten, sind sie nur durch das freiwillige Band der Freundschaft verbunden. Nur so, d.h. unter Absehung von Leidenschaften und Interessen, kann ihr Aufenthalt

46

Guido Almansi hat dieses Moment der Verklammerung unterschiedlicher stilistischer und generischer Register auf die prägnante Formel eines Ubergangs von der icasticità einer vertrauten Welt städtisch-merkantiler Verhältnisse zur fantasticità

der irrealen Atmosphäre eines orienta-

lischen Hofes gebracht: ders., Lettura della novella di Bernabò e Zinevra (II 9), Studi sul Boccaccio 7 (1973), S. 125-140, hier S. 129. - Der Aufsatz, wie auch der in Anm. 44 zitierte, ist wieder abgedruckt in: Guido Almansi, Il ciclo della scommessa. Dal Decameron al Cymbeline di Shakespeare, R o m 1976. 47

S. 35: io giudicherei ottimamente fatto che noi [. . Sfuggendo

come la morte i disonesti essempli degli altri

onestamente a' nostri luoghi in contado, de' quali a ciascuna di noi e gran copia, ce ne andissimo a stare, e quivi quella festa, quella allegrezza, segno della ragione, 48

quello piacere che noi potessimo, senza trapassare in alcuno atto il

prendessimo.

S. 42: io non so quello che de' vostri pensieri voi v'intendete di fare: li miei lasciai io dentro dalla porta della città allora che io con voi poco fa me ne usci' fuori: e per ciò o voi a sollazzare con meco insieme vi disponete [...],

e a ridere e a cantare

o voi mi licenziate che io per li miei pensier mi ritorni e steami nella

città tribolata.

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Glück und List

zu einer konsequenzentlasteten Spiel- und Erzählwelt werden. Was für P a m pinea eine fundamentale ethische distinzione ist, nämlich die Unterscheidung der cose oneste von denen, die nur der appetito diktiert (S. 34), wird von D i o n e o auf die Differenz von realer Lebenswelt und imaginärer Spielwelt gemünzt. Die Spielregeln sorgen dafür, daß sich die Enklave eines festevolmente viver (S. 42) gegen eine real und metaphorisch verwüstete Welt behaupten kann. Angesichts dessen stimmt es bereits bedenklich, wie die Kaufleute in II 9 die alte Konversationsmaxime des Themenwechsels in ein ragionamento kippen lassen, das keine Grenzen kennt. Filomena wird eine Geschichte erzählen, die die von ihr verkörperte Tugend der discretio gleich in doppelter Hinsicht vermissen läßt: Weder respektieren die Kaufleute die Abgrenzung des Ehrenhaften v o m Unehrenhaften, noch halten sie die Spielwelt des Gesprächs und den lebensweltlichen Ernst auseinander. Die Grenzüberschreitung wird dort z u m P r o blem, w o das Gespräch über diverse cose in ein Gespräch über die eigenen Frauen umschlägt. Die Sprache des ragionare und des motteggiare, die zunächst eine naturalistische Semantik allgegenwärtigen sexuellen Begehrens durchspielt, kollidiert unerwarteterweise mit einem Ethos ehelicher Treue. Einer der Gesprächspartner bringt vor, er werde sich erotische Abenteuer schon deshalb nicht entgehen lassen, weil seine zurückgebliebene Frau sich genauso verhalten würde. D e r Naturalismus des Begehrens verlangt, keine Zeit zu verlieren. Das durch einträchtiges Lachen sanktionierte Einvernehmen läßt deshalb die Intervention des Kaufmanns Bernabò aus Genua, der den anderen ein — von seiner Frau verwirklichtes — Ideal ehelicher Treue entgegenhält, als unerhörte Begebenheit erscheinen. 49 Bernabò hat die Grenze zwischen d e m naturalistischen Diskurs (den eine alte Tradition Boccaccio selbst zuzuschreiben pflegt) und den sittlichen Ansprüchen der Lebenswelt überschritten; er hat getan, w o v o r D i o neo gewarnt hat. D a er die Distanz zwischen der Welt der Zeichen und der Welt des Handelns nicht gewahrt hat, ist er blind dafür, daß zwischen beiden ein Spielraum der Manipulierbarkeit, von arte u n d ingegno, liegt. Das Werk der Kunst vermag ihm als Fortuna, die Manipulation als Schicksal zu erscheinen. Als die Kaufleute, vor allem der j u n g e A m b r u o g i u o l o , bemerken, daß ihr motteggiare für Bernabò eine Provokation ist, weil er seinen spielerischen C h a rakter nicht erkennt, wird ihnen klar, daß er ein potentielles O p f e r eines 49

Bernabò evoziert eine Vorstellung von der Ehe, in der die Leidenschaft höfischer Provenienz und die pragmatischen Erfordernisse der Kaufmannsexistenz eine bemerkenswerte Verbindung eingehen: Un solamente, il quale avea nome Bernabò Lomellin da Genova, disse il contrario, affermando sé di speziai grazia da Dio avere una donna per moglie la più compiuta di tutte quelle virtù che donna o ancora cavaliere in gran parte o donzello dee avere (S. 285). Ginevra, seine Frau, ist handwerklich geschickt, etwa in der Bearbeitung von Stoffen (später wird sie sich, kaum dem Tod entronnen, eine passende Verkleidung als Mann schneidern), sie kann lesen und schreiben, beherrscht die Führung des Haushalts wie die der Bücher, als ob sie selbst Kaufmann sei.

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Streichs, einer beffa, ist.50 Bernabòs Position ist nicht falsch, aber exzentrisch und von ihren Voraussetzungen her haltlos. Ihr gegenüber kann A m b r u o g i u o lo eine Mitte (mit den Parametern Natur, Vernunft und Erfahrung) besetzen, deren Plausibilität durch zahlreiche inter- und intratextuelle Referenzen bestätigt wird, auch wenn sie durch sein eigenes Vorgehen wie durch den in der Novelle erzählten Kasus dementiert wird. Sein Bezugspunkt ist der misogyne Diskurs: Demnach sei der M a n n das edelste Geschöpf, die Frau hingegen verkörpere die Unbeständigkeit: universalmente le Jemine sono più mobili (S. 287). Diese Position hat offenkundige antike und biblische Vorgaben, sie wird darüber hinaus im >Decameron< durch die Erzählerinnen häufig zitiert und liegt ja auch der Entscheidung der sieben Frauen zugrunde, ihren Auszug aus Florenz nur in männlicher Begleitung zu unternehmen. 5 1 Die Frau verkörpert demzufolge die mutabilitas, also das Prinzip der Fortuna. Indem Bernabò auf die durch göttliche Gnade garantierte Treue seiner Frau setzt, provoziert er - aus der Perspektive des naturalistischen Diskurses - den Zugriff der Fortuna. Immer wieder kehrt in den hypertextuellen Variationen der Novelle diese — notorisch vermutete, im vorliegenden Fall gänzlich ungerechtfertigte — Assoziation der Frau und der Fortuna wieder, nirgendwo aber in jener exzessiven Rhetorik, auf die Posthumus, Bernabòs Nachfolger in Shakespeares >CymbelineDecameron< w i r d dabei auf seiner Seite stehen, insistiert doch bereits die g r o ß e Eingangsnovelle I 1 des >Decameron< auf d e m M o t i v der prinzipiellen K l u f t zwischen menschlichem Urteil u n d göttlicher potentia absoluta. B e r n a b ò b e r u f t sich auf etwas, was occulto ist, nicht, wie Panfilo, der Erzähler v o n I 1, auf quello che [. . .] può apparire (S. 70). 51

In der Einleitung des >Decameron< hatte Filomena bereits auf die Unbeständigkeit der Frau hingewiesen: Noi siamo mobili, riottose, pusillanime

e paurose (S. 37). Elissa s t i m m t d e m m i t

B e r u f u n g auf Ephes. 5, 23 zu. — A m massivsten w i r d diese Position v o n Emilia in ihrer Einleitung zu der e x t r e m m i s o g y n e n N o v e l l e IX 9 f o r m u l i e r t , z.B. S. 1092: Amabili donne, se con sana mente sarà riguardato l'ordine delle cose, assai leggermente si conoscerà tutta la universal

moltitudine

delle femine dalla natura e da' costumi e dalle leggi essere agli uomini sottomessa e secondo la discrezione di quegli convenirsi reggere e governare. Z u r m i s o g y n e n Tradition i m Mittelalter vgl. jetzt auch R . H o w a r d Bloch, Medieval M i s o g y n y and the Invention of Western R o m a n t i c Love, C h i c a g o 1991.

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Glück und List

All faults that name, nay, that hell knows, why, hers In part, or all: but rather all. For even to vice T h e y are n o t Constant, b u t are c h a n g i n g still.

(II, 4, 177ff.) 5 2

Bernabòs Fehler liegt nicht darin, daß er seine Frau nicht mit der mutabilitas der Fortuna identifizieren will - die Novelle demonstriert hier wie anderswo eine Ausnahme, die nicht der v o m Diskurs statuierten R e g e l unterliegt. 5 3 Nicht Bernabò ist im Unrecht, sondern der Einverständnis heischende naturalistische Diskurs. Wohl aber unterschätzt B e r n a b ò den ingegno seines Gegenspielers, seine Fähigkeit, mit Hilfe des falschen Scheins die Illusion von Wirklichkeit zu erzeugen und ihn in ein agonales Spiel hineinzuziehen. Bernabò will als mercatante und nicht als fisofolo (sie!) argumentieren und handelt sich in der anschließenden Diskussion über die Ehre der Frau doch die Belehrung ein, daß diese nichts mit sittlicher Substanz, sondern nur mit d e m äußeren Anschein zu tun hat, 'l guastamento dell'onore non consiste se non nelle cose palesi (S. 288). Für den Kaufmannsverstand, auf den B e r n a b ò zu Unrecht sich beruft, ist die Ehre bloße soziale Konvention, oberflächlicher Schein. Sie hat ihren O r t dort, w o die Zeichen trügerisch und manipulierbar sein können: Der ehebrecherischen Frau wächst — so A m b r u o g i u o l o s Inversion des alten Schwankmotivs — eben kein Horn auf der Stirn, das als untrügliches, >natürliches< Zeichen funktionieren könnte. Boccaccios Erzähler und Zuhörer, denen die Alatiel-Novelle noch unmittelbar im Gedächtnis ist, werden spätestens hier auf massive Distanz zu Bernabò gehen. Dieser hat zwar — als mercatante — die R e d e auf die Ehre und ihre Zeichen gebracht, ist aber blind für deren potentielle Z w e i - oder M e h r deutigkeit — eine Blindheit, in der er von Shakespeares Posthumus noch übertroffen wird: Die vierte Szene des zweiten Aktes von >Cymbeline< zeigt, wie dieser, der von Iachimo auf die Folter gespannt wird, den Enthüllungen seines Gegenspielers in der Vorstellung gleichsam vorausläuft und sich damit in das Phantasma des Verrats verstrickt, so daß er von Iachimo ermahnt wird, die Beweise des vollzogenen Ehebruchs sich der R e i h e nach vorlegen zu lassen. Anders als Posthumus, d e m sie von seinem Gegenspieler aufgedrängt wird, 5 4 bietet Bernabò nun eine Wette an, deren Einsatz ganz unkaufmännisch Geld gegen Leben stellt: Wenn es A m b r u o g i u o l o gelingt, Ginevra zu verfuhren, 52

Shakespeare, Cymbeline (Anm. 45).

53

Zu diesem gleichsam gattungsspezifischen Sachverhalt vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969, v.a. Kap. IV: R e g e l und Ausnahme: die unerhörte B e gebenheit und die Auffassung des Zufalls in der Novelle.

54

Shakespeare hält sich hier an die Rollenverteilung in >Frederyke o f Jennen< (Anm. 45): dort ist es Johan o f Florence, der Ambruogiuolo der englischen Novelle, der den Wettvorschlag vorbringt: >Felowe! Ye sei much price by your wife at home and trust her with ai that ye haue. I wil laye with you a wager of fyue thousande gyldens< (S. 193).

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wolle er seinen Kopf verlieren, im gegenteiligen Fall solle Ambruogiuolo nur tausend Goldflorin zahlen.55 Boccaccio zeigt, wie Bernabò sich selbst als Kaufmann identifiziert, mit seinem Verhalten indes diese Identifikation dementiert. Deshalb ist er seinem Gegenspieler hoffnungslos unterlegen; erst am Ende wird erkennbar, daß auch Ambruogiuolos Kaufmannsidentität brüchig ist. Wie Landolfo, so begibt sich Bernabò in eine aleatorische Situation — indem er zwischen Ginevra und Ambruogiuolo ein agon inszeniert. Womit er nicht rechnet, ist die Möglichkeit, daß dieser die Agonalität auf ihn zurückwendet, indem er von der Manipulierbarkeit der Zeichen und der Zeichengläubigkeit Bernabòs ausgeht. 56 Ambruogiuolos Kunstgriff besteht darin, nicht auf den Wahrheitsgehalt (sprachlicher wie nichtsprachlicher) Zeichen, sondern auf ihre (situative) Wirkung zu setzen, die ein günstiges Arrangement der Rahmenbedingungen fordert. Nachdem er erst die Zweideutigkeit und Unverläßlichkeit der Zeichen betont hatte, offeriert er nun als Zeichen der vollbrachten Tat tanti indizii, che tu medesimo confesserai esser vero (S. 289f.). 57 Als Beweis des Vollzugs, als sufficient testimony (Cymbeline, I, 2, 145), wird also Bernabòs Einverständnis gelten, das sich nicht nur durch wahre, sondern auch durch trügerische indizii oder sagnali erzwingen läßt. Indem Bernabò die Bedingungen der Wette auf seine Jede einzuhalten verspricht, liefert er sich der fede seines Gegenspielers aus. Die Asymmetrie des Wetteinsatzes setzt sich darin fort, daß Bernabò nunmehr einem >Rahmen< ausgeliefert ist, dessen Manipulation er seinem Gegenspieler überläßt.58 55

Dieses exzessiv chevalereske A n g e b o t des K a u f m a n n s B e r n a b ò weist A m b r u o g i u o l o zurück: Er hat nichts v o n Shakespeares Shylock, der im >Merchant of Venice< d e m K a u f m a n n A n t o n i o Geld gegen die ö k o n o m i s c h unsinnige Sicherheit des one pound of flesh leiht: D a er m i t Bernabòs Blut nichts anfangen k ö n n e , wolle er m i t fünftausend Goldflorin zufrieden sein.

56

Dieses in vielen N o v e l l e n des >Decameron< einschlägige M o t i v w i r d a m zweiten Tag gleich in der ersten N o v e l l e aufgerufen. D o r t geht es u m den Spieltypus der N a c h a h m u n g , den Caillois ( A n m . 13) >Mimikry< nennt. D r e i Florentiner w e r d e n d o r t mit der ausgeprägten schauspielerischen Fähigkeit e i n g e f ü h r t di contraffarsi (S. 134). Vor allem Martellino, der Protagonist, versteht sich auf die ciance di contraffarsi in qualunque forma vuole (S. 136).

57

In der a n o n y m e n italienischen (Boccaccio bekannten?) N o v e l l e heißt es an dieser Stelle tali sagnali, che'l marito non potrebbe dire di no. Die N o v e l l e ist abgedruckt in: Almansi, Il ciclo della scommessa ( A n m . 46), S. 81—90, hier S. 82.

58

A n dieser Stelle erkennen die anderen Kaufleute, daß gran male droht, v e r m ö g e n die K o n t r a henten aber nicht m e h r v o n i h r e m Vorhaben abzubringen, weil diese so erhitzt (animi accesi) sind, daß sie das segno della ragione nicht m e h r w a h r n e h m e n ; vielmehr bekräftigen sie die W e t t e w i e d e r u m ganz kaufmännisch — durch belle scritte di lor mano (S. 290). — Z u m hier vorausgesetzten Begriff des >Rahmens< vgl. Erving G o f f m a n , Frame Analysis. A n Essay o n the O r g a n i z a t i o n of Experience, H a r m o n d s w o r t h 1975, z.B. S. 11: »I assume that definitions of a situation are built u p in accordance w i t h principles of organization which g o v e r n events — at least social ones — and o u r subjective i n v o l v e m e n t in t h e m ; f r a m e is the w o r d I use t o refer to such of these basic elements as I a m able to identify.« A m b r u o g i u o l o s Vorgehen w ü r d e G o f f m a n als »fabrication«,

134

Glück und List

In Genua angekommen, erkennt Ambruogiuolo, dem an der Wahrheit des naturalistischen Diskurses nicht gelegen ist, schnell, daß er sich auf eine matta impresa eingelassen hat. Indem er die naturalistischen Topoi augenblicklich fallen läßt, macht er noch einmal deutlich, daß sie für den Kaufmann austauschbare Münzen sind. Anders als in >Cymbeline< k o m m t es zu keinem Gespräch mit der Frau. Shakespeares Iachimo wird, wenn auch vergeblich, noch auf die Kunst der Verführung setzen, Boccaccios Ambruogiuolo wählt den direkten Weg der List, um durch sie an jene indizii zu kommen, die den zeichengläubigen Bernabò überzeugen werden. M i t Hilfe einer Bekannten Ginevras läßt er sich in einer Truhe in das Schlafzimmer bringen, prägt sich die Einrichtung ein und deckt schließlich - in der begründeten Annahme, daß die bloße Beschreibung des Zimmers noch nicht das geforderte Indiz abgeben würde — die schlafende Frau auf, wobei er unter der linken Brust ein Muttermal entdeckt, dessen Wert als segnale er sofort erkennt. Man könnte annehmen, daß Ambruogiuolo damit sein Ziel erreicht hat: Er verfugt über genügend Indizien, um Bernabò, der an den Realitätsgehalt der Zeichen und Indizien glaubt, zu überzeugen: Sowohl die anonyme italienische Novelle, die möglicherweise Boccaccio als Vorlage gedient hat, 59 als auch >Frederyke o f Jennen«, 60 die englische Novelle, die Shakespeare vorlag, lassen es dabei bewenden. Indes verfällt nunmehr auch Ambruogiuolo in einen Exzeß, der die Ö k o n o m i e des Betrugs und der notwendigen Indizien sprengt. In II 1 wird Martellino, der Virtuose der Mimikry und des contraffarsi noch durch einen äußerlichen Zufall als traditore e beffatore di Dio e de' santi (S. 136) entlarvt. Anders in II 9. Der Betrüger manövriert sich selbst in eine Situation, in der er zum Betrogenen werden kann, er wird sich selbst zur Fortuna. Shakespeares

genauer: als »exploitive fabrication« beschreiben, »one party containing others in a construction that is clearly inimical to their private interests« (S. 103). Eine kulturanthropologisch orientierte und mit dem Goffmanschen Rahmenbegriff operierende Analyse der Makrostruktur des >Decameron< unternimmt J o y Hambuechen Potter, Five Frames for the >DecameronDecameronCymbeline< ( A n m . 45) in dieser Hinsicht nicht an der englischen Novelle, sondern an Boccaccio orientieren: Iachimo muß sich sein design erst wieder in Erinnerung rufen, nachdem er zunächst dem Zauber der schlafenden Frau verfällt:

How

bravely

kiss,

thou becom'st thy bed! fresh

lily! / And whiter than the sheets!

one kiss! (II, 1, 15ff.).

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That I might touch! / But

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Iachimo steigert sich vor der schlafenden Imogen in einen petrarkistisch-lyrischen M o n o l o g — er verstrickt sich gleichsam in der literarischen R h e t o r i k . A m b r u o g i u o l o bleibt zwar stumm, m u ß sich aber der Versuchung wehren, (wie sein O p f e r Bernabò, aber aus anderen Gründen) sein Leben zu riskieren, di mettere in avventura la vita sua e coricarlesi allato (S. 291). Nicht nur verbringt er unnötigerweise zwei Nächte in Ginevras Schlafzimmer, sondern er bemächtigt sich auch noch jener Wertgegenstände wie Tasche, Kleidung, R i n g und Gürtel, die bei Boccaccio eben nicht wie in >Frederyke of Jennen< auf ihren Geldwert abgeschätzt werden, sondern f ü r ihren neuen Besitzer zu metonymischen erotischen Trophäen werden. Ihre Rolle erschöpft sich nicht darin, Beweisstücke des Ehebruchs zu liefern, vielmehr konnotieren sie ein Liebes- und Treueverhältnis. Indem sie aber für A m b r u o g u i o l o diesen Fetischcharakter annehmen, verfällt er selbst trügerischen Zeichen. Boccaccio erzählt diesen Teil der Novelle mit außerordentlich sparsamen Mitteln, so daß es dem Leser überlassen wird, die M o t i v e und Implikationen des Verhaltens zu erschließen. Die Geschichte läuft zunächst nach jener agonalen Logik ab, die aus Ambruogiuolos Neudefinition der Wette folgt. Bernabò, den erwartbarerweise das Indiz des Muttermals überzeugt, bricht con fellone animo (S. 292) auf und beauftragt einen Diener, Ginevra senza niuna misericordia zu töten. Diese aber verfällt auf eine List, die noch einmal darauf hinausläuft, Bernabò mit falschen Zeichen zu täuschen. 61 Als M a n n verkleidet und unter dem N a m e n Sicurano (bei Shakespeare noch deutlicher: Fidele 62 ) dient sie schließlich dem Sultan von Alexandria. Dieser überträgt dem tüchtigen Sicurano wichtige Ämter, so auch die Aufsicht über eine gran ragunanza di mercatanti e cristiani e saracini in Acri (S. 295). D a m i t tritt sie wieder in die Welt des Tausches und des Handels ein, die, wie m a n sieht, die von Boccaccio in der wirkungsmächtigen Ringnovelle I 3 thematisierten Unterschiede der Religionen ignoriert — mit dem erheblichen Unterschied allerdings, daß sie n u n nicht mehr O b j e k t einer Wette, sondern Subjekt der Beobachtung, Aufseherin über 61

So wie A m b r u o g i u o l o ihre Kleider als Zeichen des vollbrachten Ehebruchs an sich gebracht hatte, so erhält n u n m e h r der Diener ihre Kleider als Indizien ihres Todes. - In >Frederyke of Jennen< (Anm. 45) setzt an dieser Stelle ein elaborierter Tiersymbolismus ein: Zunächst w i r d das die Frau begleitende L a m m geschlachtet, u m die Z u n g e als Beweistück zu v e r w e n d e n , später w i r d die Frau zur v o n den Vögeln geliebten Falknerin, als lorde defender des kynges of Alkares k ä m p f t sie schließlich lyke a lyon and dyde many meruaylous faytes of armes that daye (S. 199).

62

Freilich hat Shakespeare den C h a r a k t e r Ginevras gerade in dieser Hinsicht g r u n d l e g e n d transf o r m i e r t . Ihre >männlichen< T u g e n d e n gehen I m o g e n vollständig ab. Nicht sie, sondern der Diener Pisanio verfällt auf den rettenden A u s w e g : it cannot be / But that my master is abus'd [. . .] I'll give but notice you are dead, and send him / Some bloody sign of it (III, 4, 121ff.). D a g e g e n f ü h l t sich I m o g e n , f u r die das f r e m d e W o r t z u m gegen sie gerichteten Schwert wird, v o n der falschen Anschuldigung vernichtet: I have heard I am a strumpet, / Therein false struck, can take no greater wound, I Nor tent, to bottom that. (Ill, 4, 115ff.)

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die Kaufleute, ist. So wie vorher A m b r u o g i u o l o den >Rahmen< bestimmt hatte, so wird n u n m e h r sie es tun. D a m i t ist jene Situation bereitet, in der sich die agonale Maschinerie des arte dall'arte schernita vollziehen kann. Sie wird ausgelöst, als Sicurano bei einer G r u p p e venezianischer Kaufleute mit eben jenen Gegenständen konfrontiert wird, die einst ihr gehörten, ehe sie auf mysteriöse Weise verschwanden. 6 3 A m b r u o g i u o l o ist auf einem venezianischen Handelsschiff in den Orient gek o m m e n , und bekanntlich konnotiert Venedig im >Decameron< Verderbtheit, Korruption und Wortbrüchigkeit, Falschheit des Wortes wie des Handelns. A u f Sicuranos Frage nach den potentiell kompromittierenden Objekten reagiert er mit Gelächter; viermal wird innerhalb weniger Zeilen diese zwischen T r i u m p h und Unsicherheit schwankende R e a k t i o n genannt, ehe A m b r u o g i u o l o den Grund seines Lachens enthüllt: rido del modo nel quäle io le guadagnai (S. 297). Noch einmal tut sich hier eine tiefgreifende Differenz zwischen Boccaccios Novelle und ihrem italienischen bzw. englischen Gegenstück auf. Sowohl il Cherico als auch Johan of Florence, die italienische bzw. englische M e t a m o r phose Ambruogiuolos, halten sich an die einfache Wahrheit des Geschehens bzw. lassen sich fraglos mit ihr konfrontieren. 6 4 Anders bei Boccaccio. Die B e s t i m m u n g des Wetteinsatzes hatte A m b r u o g i u o l o noch ganz im Geist überlegener ökonomischer Rationalität betrieben, im Gegensatz zu Bernabös chimärischer Ö k o n o m i e des Lebens. Jetzt wird er selbst von den Chimären eingeholt, die ihn erstmals im Schlafzimmer Ginevras ergriffen. Die Beute will er nicht verkaufen, allenfalls verschenken — wie es sich trifft, gerade an diejenige Person (persona), unter deren Maske sich die rechtmäßige Besitzerin befindet. Johan of Florence will die Beute am fremden Königshof zu Geld machen; so bleibt unklar, w a r u m er sie so lange Jahre behalten hat. D e m englischen Erzähler ist die Pointe von Boccaccios Novelle hoffnungslos f r e m d geblieben Shakespeare wird auch hier wieder an die komplexere Version Boccaccios anknüpfen. A m b r u o g i u o l o aber stellt sich und seine einstige Tat zur Schau, ohne

63

S. 296: Ora avvenne tra l'altre volte che, essendo egli a un fondaco di mercatanti viniziani

smontato, gli

vennero vedute tra altre gioie una borsa e una cintura le quali egli prestamente riconnobbe essere state sue, e maravigliassi; ma senza altra vista fare, piacevolemente domandò di cui fossero e se vendere si voleano. Sicurano u n t e r d r ü c k t die affektive R e a k t i o n des W i e d e r e r k e n n e n s u n d fragt k a u f m ä n n i s c h listig nach Besitzer u n d Preis der W a r e n . 64

In der italienischen Novelle ( A n m . 57) heißt es: o di farne vendetta (S. 88). In >Frederyke of Jennen< w i r d J o h a n v o m E h e m a n n m i t der Wahrheit k o n f r o n t i e r t u n d akzeptiert sofort die gerechte Strafe: Than sayde Ambrose to John of Florence: >0 poor wretche and katyß

What

helpeth

you now al your craft and falshed and al that yll gotten good that ye haue gotten byfalshed and theft? For now at last is your traytership

and false dede openly knowen.

And now therfore must ye suffre a

shamefull death, and that shall be your rewarde [. . .].< Than aunswered John of Florence: >That is truth. I haue well deserued my death.< (S. 202f.).

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Pfeiffer

N o t u n d ohne ein ihm selbst transparentes Motiv. Das wird noch deutlicher, als Sicurano ihn bittet, eben jene zum Lachen reizende Geschichte zu erzählen, wie er denn an die cose femminile (S. 297) g e k o m m e n sei. A m b r u o g i u o l o erzählt eine Geschichte, die keineswegs der Wahrheit entspricht, sondern die Signatur imaginärer Wunscherfullung trägt. 65 »The lies he teils also suggest [. . .] the p o w e r f u l hold of the imagination, over and beyond economic gain, on this man, w h o manipulates at will the world of appearances.« 66 Er exponiert sich ohne äußeren, also w o h l aus innerem Z w a n g ; sein einstiger Betrug lebt weiter, indem er, der doch einem listigen Kalkül der Zeichenmanipulation entsprang, den U r h e b e r betrügt. Es sieht so aus, als wäre A m b r u o g i u o l o geradezu von dem D r a n g besessen, sich und sein Begehren zu exponieren, indem er sich in der Rolle des erfolgreichen und von der Frau geliebten Ehebrechers inszeniert: Die Intimität konnotierenden Gegenstände will er von Ginevra als Liebesgeschenk erhalten haben. Er selbst verfällt der Zeichengläubigkeit, indem ihm die zunächst manipulierbaren Zeichen z u m unverfügbaren Fetisch werden. Die indizii, mit deren Hilfe er betrog, betrügen ihn n u n selbst, weil er ihnen verfallen ist. Bereits sein Verhalten in Ginevras Schlafzimmer hatte latent die Souveränität seiner List dementiert. In der exotischen Welt des Sultans wird u n verkennbar, daß A m b r u o g i u o l o , der nach sechs Jahren i m m e r noch die geraubten O b j e k t e als Zeichen erotischen Erfolgs ausstellt, sich in ein Netz imaginärer Wunscherfüllung verstrickt hat, die den listigen ingegno untergräbt, der seine agonale Strategie anfangs triumphieren ließ. Die italienische u n d die englische Novelle lassen den Betrüger einen exemplarischen Tod sterben. 67 Boccaccios A m b r u o g i u o l o rechnet zunächst mit w e niger, niuna pena aspettandone che la restituzione di fiorini cinquemilia d'oro e delle cose (S. 298). Er hat nicht damit gerechnet, daß der Sultan das ganze Gewicht einer ausgeklügelten Strafe i h m zumißt — w i e d e r u m ein Detail, w o d u r c h sich Boccaccios Text v o n den anderen Versionen markant abhebt: A m b r u o g i u o l o stirbt einen grausamen Tod, weil er an einem erhöhten O r t in der Sonne an einen Pfahl gebunden und mit H o n i g bestrichen wird. So wird er in glühender

65

S. 297: queste mi donò con alcuna altra cosa una gentil donna di Genova [. . .] una notte che io giacqui

66

Giuseppe Mazzotta, T h e W o r l d at Play in Boccaccio's D e c a m e r o n , Princeton 1986, S. 96.

con lei, e pregommi che per suo amore io le tenessi. Mazzotta untersucht das S y n d r o m des excess of the imagination (S. 78) in überzeugender Weise auch an einer R e i h e anderer N o v e l l e n des >DecameronFrederyke of Jennen< ( A n m . 45), S. 202: And therefore, for that yll dede that he hathe done, we wil that he be headed, and than after that his body to be layde upon the whele, ouer him a paire of galowes: because that he hath stolen and also caused murder to be done.

138

Glück und List

Hitze von den durch den Honig angelockten Insekten con getötet und bis auf die Knochen abgenagt, poi lungo

goscia

mosse,

della

sua malvagità

fecero

a chiunque

le vide

sua grandissima tempo,

testimonianza

senza

(S. 3 0 2 ) .

anesser Die

geglückte Versöhnung von Bernabò und Ginevra hat ihr Komplement also in der Entstellung des Sündenbocks. Kaum weniger schlimm wird es in bemerkenswerter Koinzidenz in der Novelle VIII 7 dem anderen großen Beispiel des arte dall'arte schernita, des ingannatore a pie dello 'ngannato, der Betrügerin Elena, ergehen, als sie der von ihr betrogene Student Rinieri auf einen Turm lockt, um sie nackt der glühenden Sonne auszusetzen.68 Vielleicht ist die Elaboriertheit der Strafaktion bei Boccaccio nur verständlich vor dem Hintergrund der in Dantes >Commedia< praktizierten Struktur des contrappasso. Es ist auffällig, daß im 7. Gesang des >Inferno< die Geizigen und Verschwender unkenntlich geworden sind. Ähnliches gilt für die verschiedenen Gruppen von Fälschern (Alchimisten, Personenfälscher, Geld- und Wortfälscher) im 29. und 30. Gesang, wo körperliche Defiguration ebenfalls eine große Rolle spielt. Offenbar verkörpert Ambruogiuolo für Boccaccio ein krisenhaftes Moment. In ihm wird nicht nur die für das >Decameron< fundamentale Opposition von höfisch-aristokratischer und städtisch-merkantiler Welt noch einmal aufgerufen. 69 Vielmehr steht er für einen ingegno, der durch die Manipulation und >Fabrikation< sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen Wirklichkeiten erzeugt, die den andern als Schläge der Fortuna erscheinen. Sein Tod führt im U m w e g über die exzentrische Welt des Sultans zwar zur Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung. Die Grausamkeit, mit der Ambruogiuolos Transgression bestraft wird, bringt die Zirkulation der Fälschungen zum Stillstand - aber nur, indem sie den Betrüger mit seiner eigenen Waffe, der List, schlägt.

V . Agon

und

alea

Die Fortuna ist in Boccaccios Werk nahezu allgegenwärtig. Wie auch immer vermittelt, haben darin offenkundig zeitgenössische ideologische wie soziale Krisenerfahrungen ihren Niederschlag gefunden. Die Erzähler und Erzählerin-

68

Es ist eine interessante Koinzidenz, daß die von der Sonne verbrannte Elena d e m Betrachter als non corpo umano ma più tosto un cepperello inarsicciato (S. 973) erscheint. Mit der ihr zugefügten Entstellung wird damit der N a m e des ersten Protagonisten des >DecameronStumpf< ist, bevor er seine mirakulöse Verwandlung zu San Ciappelletto ins Werk setzt.

69

Vgl. dazu auch Giorgio Padoan, M o n d o aristocratico e m o n d o comunale nell'ideologia e nell'arte di Giovanni Boccaccio, Studi sul Boccaccio 2 (1964), S. 81—216.

139

Helmut Pfeiffer

nen des >Decameron< zitieren großzügig das seit Boethius verstärkt ausgebildete ikonographische Repertoire der Fortuna und ihre differenzierte Semantik zwischen Providenz und Zufall. In ihren Gesprächen vor d e m H i n t e r g r u n d des Schwarzen Todes wird darauf zurückgegriffen. In den von ihnen erzählten Geschichten aber gewinnt das Repertoire der Fortuna Funktionen, die über eine traditionelle Selbstverständigung angesichts von Kontingenz und Zufall hinausgehen. Das zeigt sich gerade auch am zweiten Tag, der explizit der Fortuna gewidmet ist. Zufallscharakter der Geschehensstruktur und traditionelle Kontexte (wie das Meer oder die Wette) ermöglichen es, in der Aktion und R e a k t i o n der Protagonisten andere Gesichtspunkte zur Darstellung zu bringen. Eine zentrale Reaktion auf die Welt der Fortuna ist bei Boccaccio die aus dem ingegno gespeiste List. Schon die griechische métis, so Marcel Detienne u n d Jean-Pierre Vernant, 70 reagiert auf eine Welt der B e w e g u n g , der Instabilität u n d der Zweideutigkeit, die von keiner Gestalt des Wissens m e h r beherrscht wird: »La bigarrure, le chatoiement de la métis marquent sa parenté avec le m o n d e multiple, divisé, ondoyant où elle est plongée p o u r y exercer son action.« 71 Der listige >Trickster< lebt in einer permanenten Situation der Agonalität, in der er die Ressourcen und die Beweglichkeit seines ingegno, seines Scharfsinns u n d seiner Erfindungsgabe, ausspielt, indem er Wirklichkeiten als manipulierbar begreift. Boccaccios Perspektive auf die Formen u n d M o d i der List ist ambivalent: Die Bücher über sprachlichen W i t z (VI) und über die beffe (VII, VIII) tendieren zu komischer Positivierung. Daneben aber steht eine P r o blematik der List, die bereits in der ersten Geschichte, der von Ser Cepparello, der zu San Ciappelletto wird, aufbricht. Die Novelle II 9 zeigt, wie die List die Möglichkeit der Manipulation und Neudefinition von Situationen ausschöpft, zugleich aber neue List provoziert, die neue O p f e r sucht. Ihr w o h n t eine Steigerungstendenz inne, die versöhnliche Schlüsse als kontingent erscheinen läßt. Die List ist das Gegenteil jener Verhaltensnormen der Komplementarität (wie der compassione), die Boccaccio bereits am Anfang des >Decameron< evoziert. Sie folgt einer symmetrischen Struktur: Das Schema >Mehr von dem Gleichem 72 produziert i m m e r komplexere Verhältnisse, deren Auswirkungen den Betroffenen als Schläge der Fortuna erscheinen können. Die sich sym70

71 72

Marcel Detienne u. Jean-Pierre Vemant, Les ruses de l'intelligence. La métis des Grecs, Paris 1974. - Für die Neuzeit vgl. auch Gerhart Schröder, Logos und List. Z u r Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit, Königstein i.Ts. 1985, S. 11 mit der These: »Die frühe Neuzeit ist nicht so sehr charakterisiert durch die Opposition v o n Logos und zweckrationalem Denken als durch die v o n Logos und List.« Detienne/Vernant, ebd., S. 29. Vgl. dazu etwa die Analyse in G r e g o r y Bateson, Towards an Ecology of Mind, Frogmore, St. Albans, S. 70f. und passim.

140

Glück und List

metrisch steigernde List wird von einem ingegno ins Werk gesetzt, der in sich kein M a ß hat und nicht mehr von der Vorgegebenheit normativer Wirklichkeiten gesteuert wird. Das alte — stoische wie boethianische — Rezept, die Opposition von Tugend und Fortuna, die Äußerlichkeit der Glücksgüter u n d die Unverlierbarkeit des Eigenen u n d Wesentlichen, hat bis in die moralphilosophischen Traktate u n d Dialoge der Renaissance wenig von seiner Attraktivität verloren. Für die in die Empirie krisenhafter Wirklichkeit verstrickten Figuren des >Decameron< ist dieser Weg nicht gangbar, am wenigsten für Boccaccios Kaufleute, die nicht nur nicht philosophisch leben, sondern in ihrem Leben traditionelle O r d n u n g e n und Orientierungen sabotieren. Boccaccio, der selbst die Schule der Kaufmannswelt durchlaufen hat, ist freilich weit davon entfernt, sich zum Herold einer neuen dominanten Gesellschaftsschicht zu machen. A m grenzüberschreitenden Gestus der Kaufleute läßt er (mindestens) zweierlei deutlich werden: erstens, in welchem Ausmaß die Kaufmannswelt zu einer Erosion ü b e r k o m mener O r d n u n g e n fuhrt, u n d das heißt auch, in welchem Ausmaß der g e w a h r te Schein der Oberfläche trügerisch u n d zur bloßen Illusion werden kann; zweitens, wie die Strategien des listigen Individuums, das n u r auf seinen ingegno setzt, zur Blindheit nicht nur für möglicherweise unverzichtbare N o r m e n menschlicher Komplementarität, sondern auch f ü r die eigene N a t u r fuhren, die sich dann in phantasmatischen Ä u ß e r u n g s f o r m e n zur Geltung bringen kann. Die Welt der Fortuna, des Zufalls u n d der Kontingenz hat ihre Begrenzungen verloren, weder die soziale O r d n u n g noch das sich selbst steuernde Individuum sind v o n ihr ausgenommen. Was Boccaccio i m m e r wieder beschäftigt, ist die Erfahrung, daß auch seine in listiger Agonalität triumphierenden Helden sich ins Aleatorische u n d Unverfiigbare verstricken: Die Manipulation der W i r k lichkeit u n d der >RahmenDecameron< ist heterogen: Die unterschiedlichen T h e m e n der verschiedenen Tage schließen sich zu keiner h o m o g e n e n oder gar teleologischen Sequenz zusammen. Gerade die außerordentlichen Divergenzen in der neueren Interpretationsgeschichte des >Decameron< lassen deutlich w e r den, wie brüchig globale Ansätze ausfallen müssen, beispielsweise die von Branca mehrfach ins Spiel gebrachte Komödienstruktur des >DecameronDecameron< im Auge gehabt haben sollte, so hat sich doch gezeigt, daß der Leser sich k a u m dem Eindruck eines bricolage 73

Auch nicht an Vorschlägen i m Hinblick auf eine zyklische Struktur, wodurch das >Decameron< in offene Affinität z u m R a d der Fortuna geriete; vgl. Barolini (Anm. 40).

141

Helmut Pfeiffer

von T h e m e n und Erzählschemata entziehen kann. Immerhin fällt ein gewisser Ausnahmecharakter der Novellen des zehnten und abschließenden Buches ins Auge. D o r t m ü ß t e man in erster Linie ansetzen, w e n n m a n nach Boccaccios A n t w o r t auf die grenzüberschreitende Kaufmannswelt fragen wollte, geht es doch dort u m die normative Ö k o n o m i e der magnificenzia, einer Tugend, von der es heißt, sie sei chiarezza e lume di ciascun' altra virtù (S. 1105). Immerhin rekurriert Boccaccio damit offenkundig auf eine Tugendordnung, die über Dante und die Scholastik auf die aristotelische Ethik der Freigebigkeit u n d der Großgesinntheit zurückgeht. Indem sich aber Boccaccio ostentativ der. n o r mativen Ö k o n o m i e der magnificenzia zuwendet, setzt er weniger den neuen, auch mit Hilfe der Fortunaikonographie artikulierten Wirklichkeiten ein altes D o g m a entgegen. Vielmehr lassen die Novellen des zehnten Buches i m m e r wieder erkennen, wie die Tugend der magnificenzia eine Oberfläche darstellt, die im Blick auf ihre Bedingungen und M o t i v e tief f r a g w ü r d i g werden kann. Bereits die erste Novelle, eine zugespitzte Version des Motivs der Kästchenwahl, endet mit einer abgründigen Mystifikation, die durch Alfons VIII. von Kastilien inszeniert wird und die das Verhältnis von Tugend u n d Fortuna in einen rätselhaften Kasus der Erkennbarkeit und Beeinflußbarkeit der Fortuna des einzelnen (der fortuna sua) transformiert. In X 3 führt der Freigiebigkeitswettstreit zwischen Natan und Mitridanes bis an die Schwelle von M o r d und Totschlag, weil die Motive der Tugend mit ihr selbst im Konflikt liegen — die magnificenzia rückt in die N ä h e eines selbstzerstörerischen potlatch. Wenn ich damit auf Marcel Mauss' b e r ü h m t e n >Essai sur le don< anspiele, so auch deshalb, weil Mauss in seinen >Conclusions de morale< emphatisch auf der N o t w e n d i g keit einer Ö k o n o m i e und Moral der Gabe neben der des Kaufmanns insistiert und damit eine anthropologische Perspektive zur Geltung bringt, die von B o c caccios Perspektive — so skeptisch sie in den Novellen gebrochen wird — nicht so weit entfernt ist.74 Freilich können weder der Gegensatz von N a t u r und Nichtnatur noch der von Tugend und Laster in der Welt Boccaccios, w o M a nipulation und Unverfügbarkeit, agon und alea, ineinanderspielen, noch als fraglos-normative Orientierung dienen.

74

Vgl. Marcel Mauss, Essai sur le don, in: ders., Sociologie et Anthropologie, hg.v. Claude Levi-Strauss, Paris 1966, S. 145—279; in den >Conclusions de morale< heißt es: »Une partie considérable de notre morale et de notre vie elle-même stationne toujours dans cette m ê m e atmosphère du don, de l'obligation et de la liberté mêlés. Heureusement, tout n'est pas encore classe exclusivement en termes d'achat et de vente [ . . . ] . N o u s n'avons pas qu'une morale de marchands. Il nous reste des gens et des classes qui ont encore les moeurs d'autrefois et nous nous y plions presque tous, au moins à certaines époques de l'année ou à certaines occasions.« (S. 258).

142

JOACHIM

THEISEN

Fortuna als narratives Problem

>Je m e h r , m e i n e trefflichen D a m e n , ü b e r die F ü g u n g e n F o r t u n a s (fatti

della

fortuna)

g e s p r o c h e n w i r d , desto m e h r bleibt d e m , d e r alles recht b e t r a c h t e n will, z u sagen ü b r i g ; u n d d a r ü b e r w i r d sich k e i n e r w u n d e r n , w e n n e r v e r s t ä n d i g b e d e n k t , daß alle D i n g e , die w i r t ö r i c h t e r w e i s e unser n e n n e n , in den H ä n d e n F o r t u n a s sind u n d d e m g e m ä ß v o n ihr nach i h r e m v e r b o r g e n e n R a t s c h l ü s s e in u n u n t e r b r o c h e n e m W e c h s e l v o n d e m einen a u f den a n d e r n ü b e r t r a g e n w e r d e n , o h n e daß w i r darin ein Gesetz e r k e n n ten.Neue Post< vom 22. Februar 1991 (9/1991), S. 11, Namen gekürzt.

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Joachim

Theisen

kungsvoll mit dem Eintreffen der Polizei: »Selbst die Polizeibeamten, für die der Anblick von Leid und Zerstörung längst zur bitteren Gewohnheit geworden ist, erschauderten, als sie an die Unfallstelle kamen.« Damit ist bereits die Ausnahmesituation hervorgehoben, die aus dem Unfall einen besonderen Fall macht. Als der Familienvater M a r k u s P. (27) einige Stunden nach d e m Unfall die Todesnachricht hörte, brach der j u n g e M a n n mit einem schweren Schock zusammen. Er konnte es nicht fassen: Seine Frau, sein kleiner S o h n — sie wollten doch nur in den Kindergarten fahren. W i e konnten sie, die ihm das Liebste auf der Welt waren, ausgerechnet auf einer so alltäglichen und gefahrlosen Fahrt ihr Leben verloren haben?

Man erkennt hier ein beliebtes Muster derartiger Berichte: In einen völlig ruhigen Alltag bricht aus heiterem Himmel das Verhängnis. Wenn anschließend »die Gedanken des jungen Vaters« noch einmal relativiert werden — er war »verwirrt«, heißt es —, dann nur, um der folgenden offiziellen Bestätigung mehr Nachdruck zu verleihen, das persönliche Erleben zu objektivieren und vor allem: dem Leser zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Die Polizei stellte sich nämlich »ähnliche Fragen — und stieß dabei auf große Ungereimtheiten. Die Umstände des Unfalls waren tatsächlich sehr rätselhaft.« Beate P. fuhr mit dem Firmenwagen ihres Mannes, der keine hintere Sitzbank hatte (auch wenn in einer Bildunterschrift v o m »Familienwagen« die R e d e ist); eine Vermutung geht dahin, daß »der kleine Patric, der j a vorne saß, seine Mutter beim Autofahren behindert habe«. Eine andere: »Vielleicht war auch der rutschige Schneematsch auf der Straße Schuld. Allerdings war Beate P. eine äußerst vorsichtige Autofahrerin . . ,«.3 Der Unfall ist also durchaus einigermaßen erklärlich, und zwar scheint er erschreckend banale Ursachen zu haben. N u r wenn man sich weigert, diese zu akzeptieren, bleibt er ein Rätsel. Damit sind wir wieder bei Markus P., für den »all diese Untersuchungen kein Trost sind«. Dessen »Kummer [. . .] kann nur nachvollziehen, wer weiß, wie glücklich diese Familie gewesen ist«. Wir erfahren es sofort: Es wird eine »private Idylle wie aus einem Bilderbuch« geschildert, die schließlich folgendermaßen kontrapunktiert wird: »Wie erschreckend ist es doch, daß fast genau ein Jahr später [nach der Geburt des zweiten Wunschkindes] das Unheil über diese vier unschuldigen und j u n gen Menschen hereinbrach!« >So ist ihr Spiel und so erprobt sie ihre K r a f t ; U n d traurig zeigt sie uns ihr großes Schauspiel dann, Wenn e i n e Stunde Glück und Fall vereinigt sieht.Schicksalsbericht< g e f ü h r t . Er w i r d v o n einer Strategie gelenkt, die deutlich auf Fortuna hinweist. So sind i m m e r w i e der Leerstellen eröffnet durch W e n d u n g e n wie: r ä t s e l h a f t , U n g e r e i m t h e i t e n , V e r m u t u n g e n , vielleicht^ Die Bildunterschrift z u m F o t o der Frau lautet: »Beate P. (25) w a r eine besonnene Fahrerin. D e n n o c h verlor sie [. . .] die K o n trolle ü b e r ihr Auto«; u n t e r d e m Bild der Landstraße steht: »Am U n f a l l o r t ist nicht einmal eine K u r v e . D o c h die Straße w a r glatt.« 5 I n d e m jeweils auf zwei Seiten hingewiesen w i r d , d r ä n g t sich der Eindruck auf, der schon in d e m »rätselhaft« des Untertitels vorbereitet ist, daß etwas nicht m i t rechten D i n g e n zugeht, daß die Frau keine Schuld trifft; irgendetwas anderes, eine ü b e r g e o r d nete Instanz m u ß hier a m W e r k gewesen sein. D e r gesamte Text zielt dahin, den U n f a l l als casus Fortunae erscheinen zu lassen. In den wichtigsten P u n k t e n ist den Personen ihre V e r a n t w o r t u n g a b g e n o m m e n ; sie handeln nicht, sondern es geschieht etwas m i t ihnen, sie sind F u n k t i o n e n Fortunas. Natürlich w a r es — als M a r k u s u n d Beate sich sechs J a h r e z u v o r k e n n e n l e r n t e n — Liebe auf den ersten Blick. Z w a r haben sie g r o ß e Pläne, aber selbstverständlich keine M ü h e , sie umzusetzen, sie haben ein »gutgehende[s] Geschäft«, u n d »bis zu d e m U n glück w a r >Sorgen< f ü r die beiden ein F r e m d w o r t « . Patric m u ß t e neben seiner M u t t e r sitzen, den U n f a l l g e g n e r »trifft keinerlei Schuld an d e m Unglück«. Fortuna, als Personifikation eines m e h r oder w e n i g e r klar definierten p h i l o sophischen Begriffs, braucht nicht einmal i m B e w u ß t s e i n der A u t o r i n v o r h a n den zu sein, im Text erscheint die Fortuna in den Lücken, die in die Verantw o r t u n g der H a n d e l n d e n gebrochen sind. Freilich k a n n auch eine andere I n stanz diese Lücken füllen, u n d sie hat g e g e n ü b e r Fortuna einen entscheidenden Vorteil: sie tröstet — »Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden«, stand über der Todesanzeige von Mutter und Kind. Wenigstens diesen Trost gab es für die erschütterten Angehörigen.

felix

hora (Boethius, Trost der Philosophie. Lateinisch und deutsch, übertragen v. Eberhard

Gothein, Zürich 1949, S. 80/81; Hervorhebung im Text). 5

Hervorhebungen: J. T.

145

Joachim Theisert

Ich habe aus verschiedenen Gründen diesen Text als Ausgangspunkt gewählt, vor allem aber, weil er anspruchslos ist und gerade deshalb die Aspekte deutlich macht, um die es mir gehen wird. Es scheint sich um einen Tatsachenbericht zu handeln; er gibt vor, Wirklichkeit abzubilden. Zugleich interpretiert er aber in erheblichem Maße diese Wirklichkeit; er schafft eine neue, eine Text-Welt, in der Fortuna anwesend ist. Ist sie es auch in der außertextuellen Wirklichkeit? Der Text tut so. Doch gerade hier ist der Unterschied zu fassen zwischen einer begrifflichen Erklärung Fortunas in einem theoretischen Text (wie etwa im 2. Buch von Boethius' >Consolatio PhilosophiaeFakten< aus dem Familienleben verstellen den Blick auf die außertextuelle Wirklichkeit in einer Weise, die es unmöglich macht, diese Wirklichkeit zu rekonstruieren; sie ist so sehr stilisiert, daß sie ihren Eigenwert verloren hat. Dagegen wäre zu halten, daß im Leben der P.s nach Ansicht der Autorin oder nun genauer: des Erzählers6 Fortuna, oder wie auch immer diese Instanz genannt werden mag, tatsächlich wirkte. Allerdings — und damit komme ich zu einem zweiten wichtigen Aspekt — gilt diese Sichtweise des Erzählers nur für bestimmte Schichten des Textes. Wenn in der Todesanzeige »Gottes Rat« als Trost angeboten wird, kann daraus keinesfalls geschlossen werden, daß auch für den Erzähler im >Schicksal< der P.s Gott wirkt, und umgekehrt. Es wären damit die Perspektiven des Erzählers und der handelnden Personen (ich nenne sie in Zukunft >AkteureGlück< in den von ihm untersuchten Texten zum größten Teil in direkter Rede vorkommt. Es handelt sich dann um eine innertextuelle Welt-Interpretation und muß von der Einschätzung des Erzählers oder gar Autors strikt unterschieden werden. 8 6

Das in dem Text vorhandene unkritische Bewußtsein braucht man natürlich nicht Isabell G o t t wald zu unterstellen, von der i m Gegenteil a n g e n o m m e n werden kann, daß sie absichtsvoll auf die Erwartungen der Leser reagiert. Die Unterscheidung zwischen Erzähler und A u t o r scheint mir von hier an n o t w e n d i g zu sein.

7

Willy Sanders, Glück. Z u r H e r k u n f t und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Köln/Graz 1965 (Niederdeutsche Studien 13). Ähnliches gilt für Vincenzo CiofFari, T h e Conception of Fortune in the >DecameronDecameronHast du dich dem Regiment der Fortuna anvertraut, belehrt die Philosophie, >so mußt du den Sitten der Herrin gehorchen. Du versuchst den Schwung des rollenden Rades aufzuhalten? Aber, törichtester aller Sterblichen, wenn sie anfängt zu beharren, hört sie auf, blinder Zufall zu sein.Neue Postc Solange eine Leerstelle geöffnet bleibt, die mit Fortuna gefüllt werden kann, hängt die Geschichte eigenartig in der Luft; indem die Leerstelle aber in der Todesanzeige mit »Gottes Rat« gefüllt ist, wird dem gesamten Geschehen eine — nicht auf den ersten Blick durchschaubare — Absicht unterstellt, bezeichnenderweise getragen von einer noch höheren Instanz. Gott kann freilich handeln, als was aber, noch einmal, tritt Fortuna auf? Sie läßt geschehen, oder — wenn man sich für diesmal von dem Verb nicht stören läßt — sie >handelt< in einer gewissermaßen autistischen Weise, innerhalb des Rades. Allerdings werden durch ihr Tun andere Akteure betroffen; davon sind die Ausführungen bei Boethius bestimmt:

9

Fortunae te regetidum dedisti: dominae moribus oportet obtemperes. Tu vero volventis rotae impetum retiñere conaris? At,

omnium

mortalium stolidissime,

si manere incipit, fors esse desistit (Boethius

[ A n m . 4], S. 80/81). 10

T h e o d o r L e w a n d o w s k i , Linguistisches W ö r t e r b u c h , Heidelberg "1984, Bd. 1, S. 378.

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Joachim

Theisen

>Reichtum, Ehren und dergleichen stehen unter meiner Botmäßigkeit. Die Dienerinnen kennen die Herrin, sie kommen mit mir, sie gehen, wenn ich mich entferne. Ich will kühn behaupten, wenn die Dinge, deren Verlust du beklagst, dein gewesen wären, so hättest du sie auf keine Weise verloren^11

Im bekannten Bild mit dem König gesagt: Fortuna handelt nicht dem König gegenüber, sondern ihr R a d dreht sich einfach; daß der König darauf sitzt und steigt oder fällt, ist unbeabsichtigte Folge dieses Tuns. Aufgrund dieser Tatsache, daß Fortuna nicht handelt, sondern durch ihr bloßes Tun Geschehen auslöst, bezeichne ich sie als >Meta-AkteurGottwirklichen Lebern (außerhalb eines Textes oder aber innerhalb eines Textes in der Perspektive der Akteure) das R a d Fortunas, wie er das etwa auf dem Holzschnitt in Sebastian Brants >NarrenschifF< tut, so wird es im Funktionszusammenhang des narrativen Textes vom Erzähler >gedreht< - etwa durch die Auswahl der >FaktenFortunatus< (vgl. unten IV) sind Reichtum, Ehren und dergleichen Gaben Fortunas; hier sind sie mit ihr Auftretende, keine Objekte ihres Handelns, sondern Begleitumstände ihres Seins. 12 Den Begriff Meta-Meta-Akteur spare ich mir jedoch.

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Fortuna

als narratives

Autor

Autor Gott | Erzähler Fortuna Akteure

Problem

narrativer Text

> Gott | Erzähler—i Fortuna < 1 Akteure

Die spezifische Position Fortunas im narrativen Text, zwischen den Akteuren und dem Erzähler, ist äußerst instabil, da sie stets entweder vom Erzähler oder von den Akteuren abhängt. Sie kann sowohl von unten als auch von oben eingeblendet werden, was zur Folge hat, daß Handlungen — sei es von den Akteuren, sei es vom Erzähler — der Verantwortung der Akteure entzogen werden: Nicht Frau P. verursacht den Autounfall, sondern in diesem Unfall wirkt Fortuna. Wenn sie als Meta-Akteur eingesetzt wird, gewinnt der Erzähler Freiheiten, die ihm grundsätzlich zwar auch seine Autorität verschaffen könnte, allerdings häufig um den Preis der Unglaubwürdigkeit. Die Projektion Fortunas in die Textwelt hingegen erlaubt Regelverstöße, Brüche, abrupte Wendungen usw., da sich ihr Wirken ja gerade in diesen Verstößen erweist. Einen unbegründeten, auch unglaubwürdigen Handlungsfortschritt braucht der Erzähler dann nicht auf eigene Rechnung vorzunehmen, sondern er kann seine Autorität - und Willkür - innerhalb des Textes von Fortuna vertreten lassen, ebenso wie die Hand Gottes sich auf dem Holzschnitt des >Narrenschiffs< vom R a d Fortunas vertreten läßt. Fortuna wird zum Medium, zum Handlanger der Autorität des Erzählers. U n d sie steht gleichzeitig den Akteuren als Rechtfertigung zur Verfügung. Nach diesem U m w e g über den Illustriertenbericht komme ich nun, um zu zeigen, welche Konsequenzen der Einsatz Fortunas für die Narration hat, zu >niveauvollerenKaufmann von Venedig< mit zwei Vergleichstexten aus den >Gesta Romanorum< und der >Legenda aureaDecameronFortunatus< einem frühneuzeitlichen Text und werde abschließend versuchen, Fortuna in modernen Texten aufzuspüren.

II.

Es wurde auf die Notwendigkeit verwiesen, in Bezug auf die Nennung Fortunas in einem narrativen Text zwischen der Perspektive der Akteure und der des Erzählers zu unterscheiden (die Perspektive des Autors wird später wenigstens am Rande zu berücksichtigen sein). Shakespeares Schauspiel13 eignet sich be13

Ich zitiere >The Merchant of Venice< nach: The Complete Works of William Shakespeare, ed.

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Joachim

Theisen

sonders gut, u m darzustellen, welche Folgen für die Handlung selbst es haben kann, wenn Fortuna von den Akteuren als höhere Instanz a n g e n o m m e n wird. Portia soll nach d e m — letzten — Willen ihres Vaters verheiratet werden; ihre eigenen Wünsche spielen dabei keine Rolle, sondern - darüber sind sich zunächst offenbar alle einig — der M a n n wird ausgewählt nach den R e g e l n Fortunas. Die heiratslustigen M ä n n e r haben zwischen drei Kästchen zu wählen, ein e m goldenen, einem silbernen und einem bleiernen. Alle tragen eine A u f schrift, und in einem liegt Portias Porträt. Wer das trifft, b e k o m m t sie (und mit ihr eine hübsche S u m m e Geld; unter den Dramatis Personae ist Portia als a rieh Heiress aufgeführt). Es steht viel auf dem Spiel: für die Männer, die die Wahl wagen, daß sie unbeweibt bleiben, denn sie verpflichten sich, nie wieder u m die H a n d einer Frau anzuhalten; für Portia, daß sie den falschen M a n n kriegt. Nerissa, Portias Waiting-maid, b e m ü h t sich denn auch, ihr Trost zu spenden, 14 der jedoch reichlich seltsam ausfällt: D e r Vater habe sich eine lottery, ein Glücksspiel, ausgedacht, dessen Ausgang er jedoch offenbar vorhergesehen hat. Als Gewähr dafür nennt Nerissa die Tugend des Vaters u n d den U m s t a n d , daß f r o m m e Männer i m Tod oft gute Eingebungen haben; Portia brauche also keine Angst zu haben, sie b e k o m m e schon den richtigen Mann. 1 5 Auf der Motivebene ist ein altbekanntes ungleiches Paar zusammengestellt: Fortuna und Virtus, allerdings in einer eigenwilligen Kombination. Daß Virtus das einzige Heilmittel gegen Fortuna ist, gehört zwar zu den Grundprämissen des Themas, daß sie aber im voraus Fortuna lenken kann, dürfte in dieser Art und Weise neu sein, denn es handelt sich ja nicht darum, daß die Tugend das eigene Glück herbeizwingt oder so sehr in sich ruht, daß sie allein schon den Menschen glücklich macht, 16 das heißt: unabhängig von Glücksgütern; sondern die Virtus des — toten (!) — Vaters soll den Ausgang der Lotterie bestimmen. Portia läßt sich verständlicherweise nicht davon überzeugen; sie spricht später nur von the lottery of my destiny (11,1), Zuversicht hat sie keine. Was der Vater sich bei dem E n t w u r f der Lotterie gedacht hat, bleibt u n g e w i ß und soll hier auch nicht gefragt werden; wichtig ist, daß die Z u k u n f t Portias in den Augen aller Beteiligten von Fortuna abhängt: Die Freier handeln zwar, indem sie sich für eines der Kästchen entscheiden; ob sie damit Portia aber auch erwischen, haben

b y W i l l i a m James Craig, L o n d o n 1971, S. 208—234. Ich gebe als Fundstellen A k t - und Szenennummer. 14

Ich erinnere an den Artikel der >Neuen Postc auch dort w u r d e g e g e n das unverständliche W i r k e n Fortunas Trost v o n einer höheren Instanz bezogen.

15

Your father was ever virtuous,

and holy men at their death have good inspirations;

therefore, the lottery

that he hath devised in these three chests of gold, silver, and lead, whereof who chooses his

meaning

chooses you, will, no doubt, never be chosen by any rightly but one who shall rightly love (1,2). 16

Vgl. zu diesem T h e m a Klaus H e i t m a n n , Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz 1958.

150

Fortuna

als narratives

Problem

sie nicht in der Hand. Ihre Wahl des Kästchens scheint nur Werkzeug der Wahl Fortunas zu sein. Der erste, der Prinz von M a r o k k o , ist sich ganz sicher, daß er Portia bekäme, wenn er als M a n n u m sie kämpfen dürfte; aber unter den gegebenen Bedingungen sei der Ausgang so u n g e w i ß wie bei einem Würfelspiel: And so may I, blindfortune leading me, j Miss that which one unworthier may attain, / And die with grieving (11,1). M a r o k k o greift selbstverständlich daneben, o b w o h l seine Ü b e r legungen über das Gold des Kästchens und dessen Aufschrift ( W h o chooseth me shall gain what many men desire; 11,7) gar nicht so d u m m sind. Nicht besser geht es dem zweiten Prinzen, dem von Arragon, der sich fiir das silberne Kästchen entscheidet, weil es i h m dessen Aufschrift angetan hat: Who chooseth me shall get as much as he deserves. Auch er hatte vorher Fortuna angerufen: Fortune now / To my heart's hope! (11,9), und ist nun der Meinung, das Glück müsse ihm günstig sein, weil es ja der Tugend folge, über die er zweifellos verfüge. Er bringt die oben dargelegten seltsamen Überlegungen Nerissas — Glücksspiel ja, aber eines, dessen Ausgang von der Tugend gelenkt ist — in eine rational nachvollziehbare Form und folgt damit einer Auffassung, die etwa auch in den >Adagia< des Erasmus von R o t t e r d a m zu finden ist: Duce virtute comite Fortuna.17 Arragon könnte also durchaus damit rechnen, Portia zu kriegen; And well said too; for who shall go about / To cozen fortune and be honourable / Without the stamp of merit? (11,9) Er denkt, er habe das Glück und Portia verdient, aber er täuscht sich. Warum? Weil Fortuna sich nicht festlegen läßt? O d e r weil er die falsche Weisheit auf sie angewendet hat? Welche sollte er sonst wählen? Immerhin ist hier Fortuna, die Unberechenbare, in arger Bedrängnis, einer Bedrängnis, in der sie sich im narrativen Text i m m e r wieder findet. Da dieser eine Textwelt konstituiert, da ihm eine H a n d l u n g zugrunde liegt, da er einen Anfang und ein Ende hat, m u ß selbstverständlich das W i r k e n Fortunas in ihm gebändigt w e r den, oder auf das obige Schema hin formuliert: Die fehlende Absicht Fortunas ist ihrem Tun im narrativen Text i m m e r schon mitgegeben, nicht von Gott, sondern v o m Erzähler. 18 Vom Prinzen von Arragon läßt sich Fortuna jedenfalls nicht festlegen w e n n es denn Fortuna ist, die hier wirkt; wir kennen nur die Perspektive der Akteure! Natürlich m u ß Bassanio, der dritte Freier, der, den Portia will, die richtige Wahl treffen. Kann es sein, daß Shakespeare diese richtige Wahl ein Werk Fortunas sein läßt? Wohl k a u m . Er m u ß sie also wieder aus d e m Text 17

Erasmus von Rotterdam, Adagia, Cent. IX,47. Erasmus hat sie aus Cicero, Epist. fam. X,3. Ich folge und zitiere hier R u d o l f Wittkower, Gelegenheit, Zeit und Tugend, in: ders., Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln 1983, S. 186-206, hier S. 194 [zuerst (engl.) in: Journal of the Warburg Institute 1 (1937/38)]. 18 Die Entwicklung zum modernen, insbesondere psychologischen R o m a n wird es mit sich bringen, Fortuna als Meta-Akteur in der Perspektive des Erzählers aus dem Text ganz auszuschalten; vgl. unten V 2 zu Frischs Text >GlückGesta Romanorum< 1 9 muß eine Prinzessin zwischen drei Kisten wählen, die wie die Shakespeares beschaffen sind, um sich als würdig zu erweisen, den Sohn des Kaisers zu heiraten. Auch sie muß die bleierne Kiste wählen, hat es jedoch viel leichter als die Freier Portias, da bei ihr auf der Kiste steht: >Wer mich wählt, findet, was Gott für ihn bestimmt hat.< Sie bekommt den Sohn des Kaisers, und es lohnt sich freilich nicht, darüber zu diskutieren, ob Gottes Beistand — dessen sie sich zuvor versichert hatte — oder nüchterne Berechnung der Prinzessin den Ausschlag gegeben hat; jedenfalls k o m m t es darauf an, daß sie mit dem gegebenen religiösen Kontext, der in den Aufschriften widergespiegelt ist, in positiver Weise übereinstimmt, knapp gesagt: Verachtung äußerer Güter und Vertrauen auf Gott. Das tut sie, und also kriegt sie den Prinz. Fortuna hat keinerlei Spielraum zu wirken. In ganz anderer Weise spielt Fortuna keine R o l l e im Barlaam und JosaphatKapitel der >Legenda aureac 20 Es geht da um einen König, der von den Fürsten seines Reiches verachtet wird, weil er arme Menschen mit Hochachtung behandelt hat. Er gibt den Fürsten vier Kisten zur Auswahl, zwei sollen sie wählen; zwei sind außen von Gold und haben innen Totengebeine, zwei sind von Pech und haben innen Gold. Die Fürsten lassen sich von dem Gold blenden; sie müssen das, weil die Wahl von vornherein als Beleggeschichte gegeben wird; Barlaam sagt zu Josaphat: >Du hast wohl getan, o König, daß du nicht angesehen hast die Schnödigkeit des Äußeren. Denn es war ein König . . .< (S. 947). Außerdem steuert sie unmittelbar auf eine Lehre hin: Die goldenen Kisten, so der König, >gleichen den Menschen, die auswendig mit Pracht gekleidet sind, inwendig aber sind sie voll Unsauberkeit und Laster.< Die andern Kisten >sind gleich den Armen [. . .]; sind sie auch äußerlich mit schlechten Kleidern bedeckt, so strahlen sie doch innerlich aller Tugenden Duft aus. Ihr aber sehet allein, was außen ist, was inwendig ist, des achtet ihr nicht< (S. 948). Während der Wahlausgang in der Version der >Gesta Romanorum< von der Handlung her motiviert ist (die Aufschriften sind so deutlich formuliert, daß die Prinzessin aufgrund der Vorgeschichte nur das Richtige wählen kann), geht es in der Version der >Legenda aurea< lediglich um einen Wahrheitsbeweis: Die Wahl der Fürsten wird von einem übergeordneten Interesse bestimmt, ihr Ergebnis ist allein von der Erzählabsicht vorgegeben.

19

Ich zitiere auf deutsch nach: Gesta Romanorum. Die Taten der Römer, Ein Geschichtenbuch des Mittelalters, nach der Übersetzung von Johann Georg Theodor Grässe hg. und neu bearbeitet v. Hans Eckart Rübesamen, München [o.J.], S. 355-359.

20

In die >Legenda aurea< ist sie gelangt aus Johannes Damascenus' >Barlaam und Josaphate Ich zitiere nach: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Köln/Olten 1969, S. 947f.

154

Fortuna

als narratives

Problem

Die beiden Fassungen zeigen, daß Fortuna nicht von vornherein zum Motiv der Wahl gehört; sie kann vom Erzähler direkt oder über die handelnden Personen integriert werden. Ahnlich wie zum >Schicksalsbericht< der Illustrierten gesagt, ist ihr Wirken in der außertextuellen Wirklichkeit (der realen Welt) nicht nachprüfbar; die Analyse hat sich ausschließlich auf die Narration zu beschränken. Ihr dortiger Einsatz wird gesteuert von der jeweiligen Erzählabsicht. In Shakespeares Schauspiel besteht diese darin, Fortuna von der Liebe her aufzulösen und kontrastiv die Möglichkeit selbstverantworteten Handelns aufzuzeigen. In den >Gesta< und der >Legenda< braucht sie gar nicht erst in den Blick zu kommen, da im einen Fall die Erzählabsicht dies verhindert und im anderen die Wahl inhaltlich motiviert ist. Innerhalb des Modells formuliert: die Position, die Fortuna darin einnimmt, ist das eine Mal vom Erzähler her, das andere Mal von einem Akteur her überflüssig.

III. Jedes Kind weiß, spätestens von >Hans im Glück< her, daß es mit dem Glück so eine Sache ist, ob es Hansens Meinung nun teilt oder nicht; der versteht bekanntlich alles, was ihm passiert, als Glücksfall. Als — scheinbar paradoxe — Erklärung für erlittene Verluste mag das angebracht sein, als Entscheidungshilfe ist es — wie bei Shakespeare gesehen — nicht empfehlenswert. Glück ist eine interpretative Strategie wie in der Antwort der Frau, die gefragt wird, ob sie an so was wie Glück glaube: >Klar, wie soll ich mir sonst den Erfolg von Leuten erklären, die mir unsympathisch sind.< Die Intension dieses Begriffs >Glück< läßt sich nicht angeben, er benennt vielmehr eine Strategie, die lediglich erschließt, wie der Begriff extensional zu fassen ist. Dasselbe tun die Prinzen bei Shakespeare, bevor Bassanio dieses Verhalten ad absurdum fuhrt, indem er die Verantwortung selbst übernimmt. In der >Neuen Post< ist Fortuna jedoch nicht von den Akteuren, sondern vom Erzähler als Meta-Akteur angenommen, was nicht nur inhaltliche Akzentsetzungen mit sich bringt: Vielmehr ist die Narration als solche davon geprägt. Fortuna als narratives Problem ist von daher auf zwei Ebenen festzumachen: Die Akteure können sie einsetzen als interpretative Strategie, um Geschehen zu erklären; dieser Einsatz hat Folgen für das Handeln der Personen - so im >Kaufmann von Venedigs Oder sie kann vom Erzähler eingesetzt werden, und zwar als narrative Strategie, die es erlaubt, Geschehen zu motivieren und zu organisieren; dieser Einsatz hat Folgen für die Struktur der Narration — so im Illustriertenbericht. Man kann nun die Möglichkeit denken, daß Fortuna in einem narrativen Text nicht — wie bei Shakespeare — von der Ebene der Akteure her aufgelöst, sondern auktorial vom Erzähler ausgeschlossen wird; wohlgemerkt, es geht 155

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Theisert

hier nicht darum, daß ihre Macht theoretisch bestritten wird, sondern daß sie bewußt von der ihr zugewiesenen Position im narrativen Diskurs, als MetaAkteur, verdrängt wird. 21 Dies kann vorzüglich an einem literaturgeschichtlichen Ort und zugleich in einer Gattung geschehen, w o a priori Fortuna als Instanz angenommen wird. Im Schnittpunkt beider Koordinaten, Literaturgeschichte und Gattungstypologie, findet sich als ein herausragendes Beispiel Boccaccios >DecameronDecameron< nicht beiläufig mitgegeben ist, sondern die konstitutiv zu ihm gehört.

III. 1 In der ersten Novelle des 10. Tages findet auch eine Kästchen-Wahl statt — hier schließe ich an —, die sich aber in einem wesentlichen Punkt von den bisher genannten Fassungen unterscheidet. Die Überschrift der Novelle lautet:

21

Wenigstens in einer Anmerkung weise ich auf eine Stelle aus Wolframs >Parzival< hin, und darauf, wie Sanders sie in seinem Glücksbuch (Anm. 7) versteht. Zu Beginn des 15. Buches treffen Parzival und Feirefiz aufeinander, und - so Sanders - der Dichter wünscht: gelücke scheidez ine tdt (S. 738,18). Sanders meint nun, Wolfram wende sich mit dieser Bitte »an die Vorsehung« (S. 55). Er verwischt dabei - wie an zahlreichen anderen Stellen auch — die Argumentationsebenen. Liegt das Schicksal Parzivals und Feirefiz', oder konkret der Ausgang des Kampfes, in der Hand der Vorsehung? Kann Wolfram das seinen Lesern weismachen? Pickering meint zu Recht: »Das Schicksal Parzivals lenkt — nicht, wie einige Kollegen zu glauben scheinen, die göttliche Vorsehung, sondern - ein willensfreier Mensch, ein Dichter, Wolfram.« (Frederick P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter, Berlin 1966, S. 128; Hervorhebung weggelassen). Ich denke nicht, daß man gelücke an dieser Stelle inhaltlich interpretieren kann, schon gar nicht als göttliche Vorsehung. Es kann sich hier allenfalls um ein Signal handeln, das darauf aufmerksam macht, daß die Handlung an dieser Stelle auf einem Wende- oder Höhepunkt angelangt ist. Die genaue Funktion dürfte die sein, im Sinne des Prologs das textsynchrone Mitgehen des Lesers zu ermöglichen, denn der kluge Leser ist der, »der die Wechselfälle der Handlung [. . .] beharrlich mitgeht; er allein wird schließlich den Sinn erfahren«, denn wer »den Weg des Helden mitgeht, der findet wie dieser den Weg zum Heil« (Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfangen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 160f.). So verstanden ist deutlich, daß auch hier Fortuna gelücke — eine narrative Strategie ist; die Intension interessiert auch hier nicht oder läßt sich höchstens ganz allgemein als >Öffnung des Erwartungshorizontes auf eine ungewisse Zukunft hin< umschreiben.

22

Boccaccio hat mit >De casibus virorum illustrium< ein ausgesprochenes Glücksbuch geschrieben, das mich hier jedoch nicht interessiert. — Ich gebe als Fundstellen im >Decameron< die Paragraphen nach Branca (Anm. 1) an.

156

Fortuna

als narratives

Problem

>Ein Ritter, der dem Könige von Spanien gedient hat, glaubt schlecht belohnt worden zu sein; deshalb beweist ihm der König durch eine sichere Probe (con esperienzia certissima), daß nicht er, sondern sein widriges Schicksal schuld daran ist, und beschenkt ihn hierauf hochherzig< (X 1,1).23 Man wird sich wohl schon nach der Überschrift fragen, wie die hier angekündigte esperienzia certissima möglich sein kann; ich ziehe es vor, erst den Inhalt wiederzugeben: Ein Florentiner Ritter, Ruggieri, geht, da er merkt, daß seine Tugenden in seiner Heimat nicht gefragt sind, nach Spanien, um König Anfonso zu dienen. Er macht dort jedoch eine ähnliche Erfahrung wie zu Hause: Alle anderen Ritter erhalten vom König für ihre Dienste — verdient oder unverdient — reiche Belohnungen, nur er selbst geht stets leer aus. Da er furchtet, dies könne seinem R u f schaden, nimmt er seinen Abschied und erhält als Geschenk nur ein Maultier. Ein Diener des Königs begleitet ihn einen Tag lang mit dem Auftrag, sich alles zu merken, was der Ritter über den König sage. Zur Mittagszeit werden die Tiere in einen Stall gefuhrt, und alle machen dort, was sich gehört, nur das Maultier Ruggieris nicht. Dieses muß erst, als sie weitergezogen sind und die Tiere in einem Fluß stehen, um zu trinken. R u g gieri macht seinem Ärger über Tier und König mit dem Ausruf Luft: >Daß dich Gott schände, du Vieh! Du bist wie der Herr, der dich mir geschenkt hat.< Am nächsten Tag, zum König zurückgekehrt, der bereits davon erfahren hat, fragt dieser, was das denn zu bedeuten gehabt habe; die Antwort: wie das Maultier dort nicht gestallt hat, wo es sollte, sondern da, wo es nicht sollte, so habe auch der König da nicht gegeben, wo er sollte, sondern da, wo er nicht sollte. Der König rechtfertigt sich damit, es sei nicht seine Schuld gewesen, wenn Ruggieri kein Geschenk erhalten habe, sondern die Schuld von R u g gieris fortuna. U n d er werde ihm das beweisen. Er stellt zwei äußerlich identische Kisten vor Ruggieri auf, in Anwesenheit zahlreicher Ritter, und läßt Ruggieri wählen: keine Aufschrift, keine unterschiedliche Machart, auch kein vorangehendes Gebet Ruggieris. Sondern er wählt einfach eine, und er wählt, wie vom König angekündigt, diejenige, in der sich die Erde befindet. Nach diesem Beweis setzt sich aber der König über die fortuna des Ritters hinweg und schenkt ihm dennoch den Inhalt der anderen Kiste, nämlich la mia Corona, la verga reale e 'Ipomo sowie allerhand Goldwaren. Der Ritter bedankt sich und kehrt in seine Heimat zurück. Boccaccio schafft mit der Abwandlung des Wahlmotivs ein erhebliches Problem, das narrativ schlechterdings nicht zu bewältigen ist, will er nicht die Regeln seiner Narration gefährden. Er muß sie gefährden, und wie zu sehen sein wird, ist gerade das sein Anliegen, weil er nur so Fortuna als maßgebliche 23

Un cavaliere serve al re di Spagna; fargli

male esser guiderdonato,

gli mostra non esser colpa di lui ma della sua malvagia fortuna,

157

per che il re con esperienzia altamente

donandogli

poi.

certissima

Joachim

Theisen

Instanz des Textes endgültig verabschieden kann. Sie wird nicht inhaltlich besiegt durch die Tugend, denn ein solcher Sieg könnte allenfalls f ü r e i n e n Text, e i n e Novelle gültig sein; Boccaccio löst Fortuna narrativ auf. Er tut dies, indem er sie in seltsamer Weise personifiziert und sich dann selbst aufheben läßt. Das Problem ist die zukunftsgewisse Voraussage Anfonsos über den Ausgang der Wahl Ruggieris; freilich kann eine solche Voraussage getroffen w e r den, niemals jedoch — solange Fortuna potentiell im Spiel ist — mit m e h r als fünfzigprozentiger Trefferquote. 2 4 Anfonso kann nicht fest damit rechnen, daß R u g g i e r i die Kiste mit Erde wählt. Dagegen ließe sich freilich argumentieren, daß R u g g i e r i — in Abhängigkeit von der Erzählabsicht — die Kiste mit Erde wählen m u ß . Das ist richtig; u n d genau dies ist der Schlüssel zur Auflösung Fortunas, denn die Erzählabsicht ist hier nicht von außen vorgegeben — wie in der Version der >Legenda aurea< —, sondern Anfonso selbst macht sich zu ihrem Sprecher. M a n m u ß schon genau hinsehen, u m die Position Anfonsos exakt bestimm e n zu können. Sein Verhalten ist keineswegs so leicht zu durchschauen, wie es auf den ersten Blick aussieht, zumal die Novelle nicht aus seiner Perspektive erzählt ist: Er n i m m t die Dienste Ruggieris in Anspruch, entlohnt ihn jedoch nicht mit Schlössern, Städten und Herrschaften wie die anderen. Als R u g g i e r i u m seinen Abschied bittet, gibt er ihm nichts als ein Maultier, w e n n auch eines der besten und schönsten. Er trägt einem Diener auf, sich R u g g i e r i auf dessen Heimreise anzuschließen, auf alle Worte zu achten, die R u g g i e r i sagt, u n d ihn am nächsten M o r g e n zu ihm zurückzubringen. Der König ist sich der nicht erfolgten Bezahlung b e w u ß t u n d erwartet offenbar eine Reaktion. Gleichzeitig hat er w o h l zumindest den Ansatz einer Handlungsstrategie entwickelt; w o h i n diese fuhrt, ist an dieser Stelle unbekannt. Tatsächlich nutzt der R i t t e r die Abwesenheit des Königs — daß sein Begleiter einer von dessen Dienern ist, weiß er nicht —, u m seinen Unwillen zu äußern. A m nächsten Tag begrüßt der König den R i t t e r mit heiterem Gesicht und fragt ihn, perche lui alla sua mula avesse assomigliato o vero la mula a lui. Die D o p p e l w e n d u n g des Vergleichs unterstellt dem R i t t e r eine größere Frechheit, als er sie begangen hat, denn er hat nur das Maultier mit dem König verglichen, nicht aber den König ein Maultier genannt. D e r König spielt hier seine Überlegenheit aus, macht aber noch mehr: Indem er Bild u n d Gegenbild auswechselt, spielt er mit den W i r k lichkeitsebenen; w o zwei Dinge wechselseitig füreinander stehen können, fehlt ein fester Bezugspunkt: D e r Vergleich dreht sich in sich selbst — in der N ä h e Fortunas sollte man da hellhörig werden. R u g g i e r i — con aperto viso — läßt sich 24

Anders ist es bei einer logisch nachvollziehbaren Extrapolation in die Z u k u n f t einerseits und bei einer echt prophetischen Aussage andererseits.

158

Fortuna

als narratives

Problem

nicht einschüchtern, sondern erläutert; diese E r l ä u t e r u n g ist i m Interesse einer k o r r e k t e n W a h r n e h m u n g durch den Leser notwendig: 2 5 Das T e r t i u m C o m parationis ist z w a r das Geben, w o m a n nicht soll, u n d das N i c h t - G e b e n , w o m a n soll, zugleich ist d a m i t aber auch das Z u s a m m e n d e n k e n v o n d e m K o t des Maultieres u n d den Geschenken des Königs nahegelegt. — D e r K ö n i g rechtfertigt sich u n d k ü n d i g t den Beweis an, der so sehr irritiert. Die Kisten, die er bringen läßt, sehen, anders als bei Shakespeare, genau gleich aus, es w i r d sich also u m eine Entscheidung handeln, die ganz o h n e Ü b e r l e g u n g gefällt w e r d e n m u ß , sie ist hier wirklich >Glück-SacheGesta R o m a n o rum< oder der >Legenda aureaNun könnt ihr sehn, Messer Ruggieri, daß das wahr ist, was schicke gesagt habe; aber sicherlich verdient es Eure Tapferkeit, Kräften widersetze. Ich weiß, daß Ihr nicht gesonnen seid, ein und darum will ich Euch hier weder ein Schloß noch eine Stadt

ich von Euerm Gedaß ich mich seinen Spanier zu werden, schenken< (18-19). 26

Von hier aus lassen sich die M o t i v e der Handlungsweise des Königs v o r der Abreise R u g g i e r i s v e r m u t e n : R u g g i e r i will nicht in Spanien bleiben, deshalb b e k o m m t er dort keine Liegenschaften. Diese möglichen B e l o h n u n g e n sind n u n aber auch in der T r u h e m i t Erde symbolisiert. R u g g i e r i s fortuna erscheint so wesentlich komplizierter, als dies zunächst aussieht: Er hat nicht einfach Pech, sondern es sind seine besonderen Lebensumstände, die ihn d a v o n abhalten, sich in Spanien niederzulassen, u n d das heißt: entsprechende B e l o h n u n g e n zu erhalten. — Das W i c h t i g e an dieser A r g u m e n t a t i o n ist, daß sie z w a r v o m Text her in sich s t i m m i g ist, daß sie aber keine weitere K o n s e q u e n z hat. Sie h ä n g t in der Luft, weil der S y m b o l w e r t der Erde in der L u f t h ä n g t . Dieser w ä r e zu b e g r ü n d e n m i t der symbolischen B e d e u t u n g der Herrschaftsinsignien in der anderen Truhe, die aber gerade v o n A n f o n s o , i n d e m er sie wegschenkt, a u f g e h o b e n w i r d . V o r w e g g e n o m m e n ist dieses eigenartige Spiel m i t der S y m bolik schon in d e m M o t i v mit d e m Maulesel: der K ö n i g w i e ein Maultier oder das Maultier w i e der König? U n d die Gaben des Königs als Maultierfladen? 25

N i m m t man — wie vom Text selbst her vorgesehen - einen Hörer als Rezipienten an, wird diese Notwendigkeit noch dringender.

26

Ben potete vedere, messer Ruggieri, merita che io m'opponga

che quello è vero che io vi dico della fortuna;

alle sue forze,

ma certo il vostro

lo so che voi non avete animo di divenire spagnuolo,

vi voglio qua donare né Castel né città.

159

valor

e per ciò non

Joachim

Theisen

W o r a n hat m a n sich zu halten? U n d — das w a r die Ausgangsfrage - w i e ist die Handlungsstrategie des Königs zu verstehen? Ich meine, n u r v o n einer Position aus: v o n der Fortunas zwischen den (normalen) A k t e u r e n eines narrativen T e x tes u n d d e m Erzähler. W i e Fortuna ist der K ö n i g durch das H a n d e l n R u g g i e r i s eigentlich nicht zu erreichen, w i e das T u n Fortunas ist das des Königs u n d u r c h schaubar u n d unvorhersehbar, er stellt Wirklichkeit in Frage u n d macht eine Voraussage, die i h m als (normalem) A k t e u r in dieser Weise nicht z u k o m m t ; als solcher verhält er sich auch nicht, weil er d e m R i t t e r keine B e l o h n u n g z u k o m m e n läßt, a m Ende aber läßt er die T u g e n d des R i t t e r s ü b e r dessen Glück siegen, i n d e m er seine eigenen Herrschaftsinsignien f o r t g i b t - ist es nicht F o r t u na selbst, die hier ihre Insignien abgibt? Das narrative Wagnis der N o v e l l e besteht darin, daß Boccaccio Fortuna personifiziert i m K ö n i g , u m sie v o n daher aufzuheben. Gerade an dieser Stelle ist der nicht zu übersehende Bruch. M a n k a n n sich darüber streiten, ob dieses Wagnis gelungen ist oder nicht; i m m e r h i n setzt Boccaccio hier zu B e g i n n des Tages, an d e m es u m menschliche magnificenzia geht, eine deutliche M a r k e , die nicht so sehr eine S t e l l u n g n a h m e im K a m p f zwischen Virtus u n d Fortuna ist, sondern — ähnlich im dramatischen P r o z e ß bei Shakespeare — dazu a u f r u f t , Fortuna ganz aus der R e f l e x i o n zu verbannen, allerdings nicht auf der Ebene der A k t e u r e w i e d o r t , sondern als v o m Erzähler einsetzbare narrative Strategie. Fortuna hat ausgespielt. Eine eigenwillige A r t u n d Weise, das P r o b l e m zu lösen, verständlich — u n d nachvollziehbar — n u r , w e n n es genau an dieser Stelle d r ä n g t u n d genau an dieser Stelle innerhalb der N a r r a t i o n des >Decameron< gelöst w e r d e n m u ß . Tatsächlich ist es neben der inneren P r o b l e m a t i k der N o v e l l e ihr O r t innerhalb des Ganzen, der m e i n e Lesart stützt. Ich zeige dies zunächst a m G e s a m t a u f b a u des >Decameronfortuna< k o m m t i m >Decameron< ca. 120 mal vor, das freie Erzählen an den Tagen eins u n d n e u n ist j e d o c h nahezu völlig entlastet v o n i h m ; an beiden Tagen taucht er — u n d z w a r a m R a n d e — n u r j e z w e i m a l auf; auch darin sind die beiden Tage an einer Position auf d e m R a d zu befestigen. D i e eigenartige V e r f ü g u n g , an den Freitagen u n d Samstagen nicht zu erzählen, macht es möglich, jeweils zwei Erzähltage a n h a n d ihrer Position innerhalb der W o c h e einander z u z u o r d n e n . D i e so e r k e n n b a r e n vier Speichenpaare sind, wie m a n sieht, nicht stabil. Auffallenderweise hat gerade die Spei-

27

Es ist auffallend, daß es an den Tagen sechs bis acht keine >Märchenschlüsse< gibt; keine der Geschichten endet mit der Zementierung einer Liebesbeziehung oder dem Tod der Protagonisten; es handelt sich durchgehend um mehr oder weniger umfangreiche Ausschnitte aus einem Gesamtkontext. Es wäre interessant, von hier aus die Zeichnung der Charaktere an den Tagen zwei bis fünf mit der an den Tagen sechs bis acht bzw. neun miteinander zu vergleichen.

161

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che des fünften Tages keine Entsprechung. Das R a d sieht folgendermaßen aus (ich vermerke die N u m m e r n der Erzähltage u n d die entsprechenden W o chentage): 28 10(Di)

t

(Mo)9/l(Mi)

5 (Di)

Von der Anlage des Buches her erscheint es also folgerichtig, daß mit der ersten Novelle des zehnten Tages Fortuna verabschiedet wird; dies m u ß n u n aber noch untermauert werden durch eine Untersuchung des jeweiligen erzählstrategischen Einsatzes Fortunas innerhalb und außerhalb des Rades. Ich habe mich auf knappe, holzschnittartig vorgetragene Hinweise zu beschränken; eine detailliertere Darstellung wäre wünschenswert, ist aber im vorliegenden R a h m e n nicht zu leisten.

III. 3 1. Als Pampinea ihren Freundinnen in Santa Maria Novella den Plan vorgestellt hat, aufs Land zu fahren, und sich alle einig sind, daß sie ein derartiges U n t e r n e h m e n — als Frauen — nicht alleine durchführen können, entdeckt sie die drei späteren Begleiter und sagt: >Seht, das Glück ist unserm Beginnen hold< (I In,80). 29 Neifile äußert erhebliche moralische Bedenken, aber Filomena drängt zur Tat, damit m a n wirklich, wie Pampinea gesagt habe, davon sprechen könne, daß fortuna d e m U n t e r n e h m e n günstig sei (che veramente, come Pampinea disse, potremmo dire la fortuna essere alla nostra andata favoreggiante; 85). Es ist m ü ß i g zu spekulieren, was hier mit >fortuna< genau gemeint sei; ihre Funktion jedoch ist klar: Sie wird als Autorität, als Meta-Akteur a n g e n o m m e n , der einem die eigene Entscheidung a b n i m m t ; tatsächlich lassen sich alle Frauen davon überzeugen. 2. Pampineas Einleitung in die dritte Novelle des zweiten Tages ist als Eröffn u n g des Aufsatzes schon wiedergegeben: Je m e h r m a n über Fortuna nachdenke, desto m e h r könne m a n über sie reden, weil letztlich alles in ihrer H a n d 28

Das Rad, das Theodolinda Barolini, The Wheel of the >DecameronNeuen Post< - organisiert ist; dadurch sind die Personen allerdings in ihrer Freiheit bedroht. 3. Sind in der dritten N o v e l l e des zweiten Tages die A k t e u r e F o r t u n a geg e n ü b e r noch passiv geschildert, so n i m m t die Protagonistin der siebten N o velle in sehr dezidierter Weise Stellung zu d e m , was geschieht. N a c h der ä u ßerst ausführlichen Einleitung Panfilos ist eine N o v e l l e zu e r w a r t e n , in der v o r allem v o m U n g l ü c k gesprochen w i r d . Dies ist wirklich der Fall; gerade deshalb springt aber als Kontrast die R e a k t i o n der Z u h ö r e r ins Auge, die bezeichnenderweise n u r oberflächlich w i e d e r g e g e b e n , ansonsten der R e f l e x i o n des Lesers anheimgestellt w i r d : >Viel war von den Damen bei den verschiedenen Abenteuern der schönen Dame geseufzt worden: aber wer weiß den Grund dieser Seufzer? Vielleicht war eine oder die andere unter ihnen, die nicht minder aus Verlangen nach also häufigen Hochzeiten als aus Mitleid mit der Dame geseufzt hat< (II 8,2).35 Hier fällt zunächst w i e d e r die Perspektive ins Auge; darüber hinaus aber — u n d das ist wichtiger - w i r d offenbar Fortuna selbst in die K r e i s b e w e g u n g ihres R a d e s versetzt: Sie w i r d m i t g e d r e h t . Was ist oben, was ist unten? Was ist Glück, was ist U n g l ü c k ? Alatiel n i m m t sich bei d e m ersten M a n n , m i t d e m sie nach i h r e m Schiffbruch zu tun hat, Pericone, vor, >der Bitternis ihres Schicksals m i t fester Stirn e n t g e g e n z u t r e t e n (23). 36 N a c h d e m sie aber einmal m i t i h m i m Bett w a r , will sie d a v o n nichts m e h r wissen. Deshalb w i r d v o m Erzähler Fortuna d a f ü r v e r antwortlich gemacht, daß sie statt der Frau eines Königs die Geliebte eines B u r g h e r r n g e w o r d e n sei, doch steht diese Klage in d i r e k t e m Kontrast zu d e m grati piacere, den Alatiel m i t Pericone hat (31). Pericone w i r d v o n seinem B r u der M a r a t o e r m o r d e t u n d Alatiel v o n diesem geraubt. N a c h d e m sie d a n n g e rade wieder Freude g e f u n d e n hat an M a r a t o s santo cresci in man, bereitet F o r t u na schon nuova tristizia v o r (37): Die beiden Schiffseigner w e r f e n M a r a t o ü b e r

34

33

Vgl. Cioffari (Anm. 8) zu dieser Stelle: »Gott, der über Fortuna steht, kann das von ihr begangene Unrecht ungeschehen machen« (S. 237). Noch einmal: es ist strikt darauf zu achten, von wem jeweils eine höhere Instanz für das Geschehen verantwortlich gemacht wird, von einem Akteur oder dem Erzähler. Sospirato fu molto dalle donne per li varii casi della bella donna: ma chi sa che cagione moveva sospiri? Forse v'eran

di quelle che non meno per vaghezza

di cosi spesse nozze

sospiravano. 36

Con altezza

d'animo propose di calcare la miseria della sua

164

fortuna.

que'

che per pietà di colei

Fortuna

als narratives

Problem

B o r d u n d streiten sich d a n n u m sie, f ü r den einen m i t tödlichem Ausgang. D e r f ü n f t e M a n n , Konstantin, tröstet Alatiel, die la sua sventurata bellezza beweint, darüber h i n w e g , u n d n a c h d e m sie ein paar Tage auch la sua disaventura b e w e i n t hat, >begann sie, so wie sie die andern Male getan hatte, m i t V e r g n ü g e n zu n e h m e n , was ihr das Schicksal bescherte< (75). 37 Hier w i r d deutlich, in welcher Weise Fortuna aus den Angeln g e h o b e n w i r d : Sie dreht w o h l weiter das R a d , aber F o r t u n a u n d R a d g e m e i n s a m drehen sich n u n nach den R e g e l n v o n Alatiels w e n n auch etwas schüchterner N y m p h o m a n i e ; Alatiel entscheidet j e weils darüber, w o o b e n ist, nämlich i m m e r - nach ein paar Tagen u n d einigen entsprechenden Tröstungen — d o r t , w o sie einen zufriedenstellenden M a n n hat. D a h e r ist es aber einigermaßen unverständlich, w e n n v o n ihr, n a c h d e m sie in Baffa A n t i g o n o getroffen hat, gesagt w i r d , daß sie >sich jetzt, n a c h d e m sie lange der Spielball des Schicksals gewesen w a r , d e m Ziele näherte, w o ihre Leiden ein E n d e h a b e n sollten< (92) , 38 z u m a l sie k u r z z u v o r noch auf d e m Schiff v o n Z y p e r n her gegen das Versprechen, das sie M a n n N u m m e r 8, Antiochus, g e geben hatte, m i t dessen bestem F r e u n d Hochzeit gefeiert hat, zu einem Z e i t p u n k t , zu d e m sie keineswegs v o n außen dazu g e z w u n g e n w u r d e . Die P e r spektive ist auch hier geändert, u n d es w i r d sehr handgreiflich v o r g e f ü h r t , w i e Fortuna als narrative Strategie des Erzählers durch Fortuna als interpretative Strategie der Protagonistin konterkariert w i r d . D a m i t ist der G e d a n k e P a m pineas v o m B e g i n n der dritten N o v e l l e ernst g e n o m m e n , w o n a c h m a n f ü r alles Fortuna verantwortlich machen kann. Ein Vergleich m i t der o b e n e r w ä h n t e n Kistenwahl durch die Prinzessin in den >Gesta R o m a n o r u m < zeigt, was g e schehen ist: D i e Prinzessin hatte d o r t in der W a h l ihre Ü b e r e i n s t i m m u n g mit d e m religiösen K o n t e x t zu beweisen. Dieser K o n t e x t gibt den Wertekatalog des Erzählers der N o v e l l e ab u n d angeblich auch den Alatiels; n u r hält sie sich nicht daran. In diesem W i d e r s p r u c h w i r d hier n u n auch die Position des A u t o r s erkennbar, der sich sein - u n d der Z u h ö r e r - V e r g n ü g e n an der frivolen G e schichte durch den scheinbar so strengen M a ß s t a b des Erzählers kaschieren läßt. Innerhalb der N a r r a t i o n öffnet F o r t u n a Leerstellen, die d e m Z u h ö r e r die M ö g lichkeit geben, eine eigene Perspektive e i n z u n e h m e n u n d wie die Frauen - u n d m i t d e m A u t o r — zu seufzen, o h n e verraten zu müssen, w a r u m . 4. D i e siebte N o v e l l e des dritten Tages handelt v o n Tedaldo, der m i t einer verheirateten Frau in Florenz eine Liebesbeziehung unterhält, die v o n dieser plötzlich abgebrochen w i r d . Lapidar heißt es: »Diesen W o n n e n widersetzte sich aber das Schicksal, das ja stets den Glücklichen feind ist< (III 7,5). 39 Die Frau will

37

S'incominciò

38

La bella donna,

a prender piacere di ciò che la fortuna la quale lungamente

suoi mali dovevano 39

aver

Al qual piacere la fortuna,

avanti

trastullo della fortuna

fine. nemica de' felici,

s'oppose.

165

l'apparecchiava. era stata, appressandosi

il termine nel quale i

Joachim

Theisen

nicht mehr, niemand - weder Tedaldo noch die Z u h ö r e r noch auch scheinbar der Erzähler — weiß, w a r u m . Viel später aber erfahren wir, wer tatsächlich der nemico de' felici war: ein Mönch, der die D a m e während einer Beichte auf den Pfad der Tugend zurückgepfiffen hat; gegen die Mönche hält Tedaldo dann eine gut vierseitige Kampfrede. Fortuna ist hier nichts weiter als eine kataphorische P r o f o r m ; sie hält eine Stelle offen, die maßgeblich zur inneren Spann u n g der Novelle beiträgt. Sie wird zu Beginn gebraucht, u m die ganze N o velle überhaupt in Gang zu bringen, wird dann inhaltlich gefüllt u n d damit aufgelöst. 5. Eine ähnlich wichtige Rolle wie in II 7 spielt Fortuna in der Geschichte von C i m o n e ( V I ) , den die Liebe zu Efigenia v o m einfältigen Burschen in einen liebenswürdigen und gebildeten Zeitgenossen verwandelt. Er erobert seine Geliebte, verliert sie wieder und erobert sie wieder, u m sie schließlich doch zu heiraten. Die Frau selbst wird bei all dem nicht u m ihre Meinung gefragt; die Protagonisten der Handlung sind C i m o n e und Fortuna. Die N o velle ist im G r u n d e ein Lehrstück von der Macht der Liebe über Fortuna. An den Brennpunkten der Handlung wird sie jeweils genannt. Innerhalb der Kreisbewegung, die zwischen dem ersten und dem neunten Tag des >Decameron< verläuft, ist diese Novelle nicht von ungefähr auf dem T i e f p u n k t p o sitioniert. Fortuna w u r d e bereits in II 7 mitsamt ihrem R a d gedreht; Fixpunkt w a r dort die Geilheit Alatiels. Hier geschieht folgendes: D e r Beständigkeit in der Unbeständigkeit^ die Fortuna charakterisiert, wird die Liebe Cimones entgegengesetzt, die sich dadurch auszeichnet, daß sie trotz der äußeren U n b e ständigkeit beständig bleibt; daß diese Liebe innerhalb des Textes von Efigenia nicht erwidert wird - sie verhält sich äußerst mürrisch u n d reserviert —, macht dies umso deutlicher. C i m o n e ist so sehr mit seiner Liebe und la sua fortuna beschäftigt, daß für die Berücksichtigung einer anderen Person, der Geliebten, kein Platz bleibt. Das scheint inhaltlich paradox zu sein, ist in seiner narrativen Funktion innerhalb des Gesamttextes jedoch sehr genau zu fassen; Fortuna wird von der Liebe besiegt, die Liebe selbst ist aber noch nicht ausreichend positiv profiliert, sondern tritt als rücksichtsloses Begehren auf. D a ß in diesem K a m p f zwischen Liebe und Fortuna nicht n u r ein Akteur beteiligt ist, sondern zwei, das wird - zaghaft noch — erst in der neunten Novelle dieses fünften Tages bedacht. - Z u v o r ist auf die siebte Novelle hinzuweisen. 6. D e r Sklave Teodoro verliebt sich in die Tochter seines Herrn, >bis ihnen schließlich das Geschick, als ob es das beabsichtigt hättewas e r m i r jetzt antutPancatantra< z u m >DekameronDecameronseinem hohen Sinne< (d'altissimo animo; 3) gemäß. Pampinea eröffnet hier einen Gedankengang, den sie selbst in einer Novelle des zehnten Tages wieder aufgreift. Ich komme später darauf zurück. 10. Eine andere Form der Auseinandersetzung mit Fortuna findet in der neunten Novelle des siebten Tages statt. Lydia, die Frau des alten Nicostrato, verliebt sich in ihren Diener Pyrrhus, der aber ganz und gar nicht auf ihre 47

Vgl. Anm. 30.

169

Joachim

Theisen

A n g e b o t e eingehen will, weil er dahinter eine erhebliche Gefahr sieht. Das Verhältnis zwischen Lydia u n d P y r r h u s entspricht i h r e m sozialen R a n g nach d e m zwischen G h i s m u n d a u n d Guiscardo in IV 1. Zwischen diesen beiden bedarf es n u r eines Anstoßes, u m die Liebesbeziehung zu eröffnen u n d d a n n in die Katastrophe zu f u h r e n ; P y r r h u s h i n g e g e n will erst ein paar Beweise fiir die Liebe Lydias. Panfilo beginnt, i n d e m er als H a n d l u n g s m o t o r seiner N o v e l l e Fortuna nennt: D i e Frau h a b e m e h r Glück als Verstand, u n d deshalb solle m a n das, was sie macht, lieber nicht n a c h a h m e n . Allerdings w i r d diese Fokussierung i m N o v e l l e n t e x t selbst nicht m e h r a u f g e n o m m e n , i m Gegenteil. Das Spiel m i t Fortuna beginnt, w e n n — ähnlich wie in V 10 — b e h a u p t e t w i r d , sie h a b e N i costrato zu Lydia verholfen, die er w e g e n seines h o h e n Alters eigentlich niemals b e k o m m e n hätte. Das Glück Nicostratos ist Lydias U n g l ü c k , allerdings sinnt sie gleich auf ein Mittel, sich selbst zu ihrer Lust u n d i h r e m Heil (a' miei diletti e alla mia salute) zu verhelfen (10). Sie macht ihre K a m m e r f r a u Lusca zur Liebesbotin, u n d die hält d a n n P y r r h u s eine Gardinenpredigt, m i t der sie ihn darauf verpflichten will, das A n g e b o t seiner H e r r i n a n z u n e h m e n , d e n n eine solche einmalige Gabe Fortunas müsse m a n sofort a m Schopf packen (20), u n d eine solche Gelegenheit d ü r f e m a n sich nicht e n t g e h e n lassen (22): Usa il beneficio della fortuna (26), schließt sie. Das alles beeindruckt P y r r h u s ü b e r h a u p t nicht; er verläßt sich nicht darauf, daß F o r t u n a der A k t e u r innerhalb der B e ziehung zwischen Lydia u n d i h m selbst ist, sondern er will einen handfesten Beweis f ü r eine u n m i t t e l b a r e Beziehung, den Lydia d a n n durch drei W e r k e zu e r b r i n g e n hat. H i e r ist z u m ersten M a l die Verabschiedung Fortunas als ü b e r g e o r d n e t e Instanz in H a n d l u n g aufgelöst; auf sie ist kein Verlaß, also m u ß die H a n d l u n g neu b e g r ü n d e t w e r d e n . Die N o v e l l e macht j e d o c h auch deutlich, daß es wieder nicht u m eine endgültige Eliminierung Fortunas geht, sondern u m einen b e s t i m m t e n Aspekt, einen jedoch, der m i t d e m z u v o r behandelten in der N o v e l l e VI 2 in direkter V e r b i n d u n g steht: Die >soziale< E r h e b u n g des Dieners in den Stand eines Geliebten der H e r r i n k a n n nicht F o r t u n a überlassen bleiben, sondern m u ß b e w u ß t vollzogen w e r d e n , d a m i t sie einigermaßen B e stand hat. W e n n in der E i n f u h r u n g gesagt w u r d e , Lydia h a b e dabei m e h r Glück als Verstand gehabt (piü favorevole la fortuna che la ragione; 4), u n d gleichzeitig d a v o r g e w a r n t w i r d , es ihr nachzutun, d a n n bleibt F o r t u n a z w a r noch w i r k s a m , doch deutet sich schon hier an, was bereits zur N o v e l l e X 1 gesagt w u r d e : Ihre A u f l ö s u n g w i r d durch sie selbst betrieben; hier in einem k o m ö diantischen Einzelfall. D a m i t - alles andere lasse ich w e g , da entlang dieser E n t w i c k l u n g n u r i m m e r w i e d e r andere Aspekte in den V o r d e r g r u n d rücken — bin ich w i e d e r b e i m B e g i n n des zehnten Tages. D i e Frage ist n u n , was nach der Selbstauflösung Fortunas, m i t der das >Decameron< aus der Kreisstruktur ausschwenkt, m i t ihr geschieht. Sie ist bezeichnenderweise nicht, wie etwa a m ersten u n d n e u n t e n

170

Fortuna

als narratives

Problem

Tag, völlig verschwunden, tritt jedoch nahezu ausschließlich als interpretative Strategie der Akteure auf; die Erzähler enthalten sich ihrer, mit zwei Ausnahmen, die Narration ist nicht mehr dem unberechenbaren Willen Fortunas unterworfen. Es werden vielmehr Möglichkeiten vorgeführt, in welcher Weise sinnvoll mit ihr umgegangen werden kann, da sie als jederzeit verfügbare interpretative Strategie ja weiterhin anzunehmen und ernstzunehmen ist. Sie läßt sich zwar nach wie vor einsetzen, ihr Einsatz ist jedoch nichts anderes mehr als eine Flucht aus der Verantwortung der Akteure. Wer sich ihrer bedient, unterstellt sich ihr erst selbst; wer sie als Problem ernst nimmt, kann sie überwinden, oder, das gehört als Gegenseite unbedingt dazu: Er kann sich ihrer bedienen, um einen spezifischen Effekt zu erreichen; als Autorität bleibt sie allemal gut. Derartiges ist schon bekannt aus dem Rahmen; 4 8 in derselben Weise wird sie in der zweiten Novelle des zehnten Tages funktionalisiert: 11. Diese Novelle wird von Elissa damit eingeführt, wie äußerst unwahrscheinlich es doch sei, daß ein Geistlicher großmütig handelt. Tatsächlich hat aber — das ist die Geschichte — ein Abt, der von Ghino di Tacco, dem berüchtigten Straßenräuber, gefangen und von einer Krankheit geheilt worden war, beim Papst ein gutes Wort für diesen Räuber eingelegt. Ghino erklärt seine Verbrechen — er hat, nachdem er aus Siena vertrieben wurde, Radicofani gegen den Heiligen Stuhl aufgewiegelt und mit seiner Räuberbande die ganze Gegend unsicher gemacht — damit, daß es nicht Bösartigkeit des Herzens gewesen sei, die ihn dazu veranlaßt habe, sondern edle Geburt, Verbannung aus seinem Hause, Armut und die Feindschaft vieler mächtiger Herren (21).49 Der Abt hat daraus sofort eine gebrauchsfertige Strategie entwickelt, die stärker als im >Decameron< je zuvor Fortuna für einen Handlungskomplex verantwortlich macht: >Vermaledeit sei das Geschick, das dich zu einem so verdammenswerten Gewerbe zwingt< (25).50 Daß Fortuna jemanden zwingt, etwas zu tun, steht ihrer festgestellten Auflösung diametral entgegen und kann daher umso eher als Taktik ausgemacht werden, die um eines bestimmten Zweckes willen verfolgt wird, später auch gegenüber dem Papst: >das Schlechte, was er tut, schreibe ich vielmehr der Schuld seines Geschickes als seiner eigenen zu< (28).51 Fortuna wird ganz bewußt auf der Position angenommen, die das Modell für sie vorsieht, um eine bestehende Situation zu entschuldigen und ein bestimmtes Verhalten zu rechtfertigen, und zwar — konkret —, damit Gnade möglich wird.

48

Vgl. Punk* 1.

49

Messer

l'abate,

voi dovete sapere che l'esser gentile

uomo e cacciato di casa sua e povero

possenti nimici hanno, per potere la sua vita difendere e la sua nobiltà, Ghino

e non malvagità

di Tacco, il quale io sono, a essere rubatore delle strade e nimico della corte di

50

Maladetta

51

E quel male il quale egli f a , io il reputo molto maggior peccato della fortuna

sia la fortuna,

la quale a si dannevole

mestier ti costrigne!

171

che suo.

e avere molti e

d'animo, Roma.

condotto

Joachim

Theisen

D e r A k t e u r , der sich ihrer bedient, macht sie sich, u m seine Absicht d u r c h z u setzen, Untertan. 12. D i e vierte N o v e l l e w i r d v o n der Erzählerin erst in einem Nachsatz der Auseinandersetzung u m F o r t u n a zugeordnet; Gentile hat die v o n i h m geliebte u n d heiß begehrte D a m e fiir tot b e g r a b e n g e f u n d e n ; i n d e m er sie k ü ß t , m e r k t er, daß sie n o c h lebt. Er n i m m t sie bei sich auf, hilft ihr, das Kind, m i t d e m sie bereits schwanger ist, zu gebären u n d gibt sie d a n n i h r e m Gatten zurück; die magnißcenzia Gentiles w i r d v o n Lauretta ü b e r die aller anderen, v o n denen bisher erzählt w u r d e , gestellt: >Das war ein Jüngling und feurig und glaubte einen gerechten Anspruch auf das zu haben, was die Unachtsamkeit der andern weggeworfen und was er zu seinem Glücke {per la sua buonafortuna) aufgelesen hatte, hat aber nicht nur ehrbar seine Glut gemäßigt, sondern auch das, was er seit langem mit allen seinen Sinnen ersehnt und zu rauben getrachtet hatte, zurückgegeben, als es sein war. Wahrlich, nichts, was bisher erzählt worden ist, scheint mir dieser Großmut zu gleichem (48).52 W i c h t i g ist hier die K e n n z e i c h n u n g Fortunas als buona; inhaltlich ist sie d a m i t aber noch keineswegs festgelegt. Gentile m a c h t in d e m M o m e n t , in d e m er sich a m Ziel all seiner Begierden glaubt, das R i c h t i g e daraus, i n d e m er diesen Begierden nicht nachgibt. (Wie hätte C i m o n e aus V 1 gehandelt?) H a t t e sich der A b t noch auf Fortuna als Verantwortliche b e r u f e n , u m v o n da aus frei handeln zu k ö n n e n , so w i r d hier gezeigt, daß ihr beliebig möglicher Einsatz zu v e r a n t w o r t e n ist v o r der magnificenzia des I n d i v i d u u m s . W u r d e in X 2 F o r t u n a v o n einem A k t e u r als interpretative Strategie eingesetzt, u m selbst magnificamente handeln zu k ö n n e n , so dient sie hier d e m Erzähler dazu, die magnificenzia des Protagonisten noch schärfer zu b e t o n e n . 13. Ähnlich w i e in VI 2 w i r d Fortuna — ich habe schon d a r a u f h i n g e w i e s e n — v o n P a m p i n e a auch in X 7 eingesetzt, n u n allerdings aus der Perspektive eines Akteurs. D i e Apothekerstochter Lisa hat sich in K ö n i g Peter verliebt; der erk e n n t ihre edle Gesinnung >und zu often M a l e n verwünschte er bei sich selbst das Schicksal, das sie zur Tochter eines solchen M a n n e s gemacht hatte< (35). 53 D e r K ö n i g n u t z t allerdings seine Macht, F o r t u n a in d e m Bereich, der in VI 2 Gegenstand der N a r r a t i o n w u r d e , zu korrigieren: Er verheiratet sie m i t einem E d e l m a n n u n d b e h e b t d a m i t ansatzweise den W i d e r s p r u c h , der zwischen ihrer edlen Gesinnung u n d ihrer niederen A b s t a m m u n g besteht. D i e z u v o r p r o k l a mierte Macht Fortunas w i r d v o n i h m zur Disposition gestellt; die G e b u r t k a n n 52

II quale giovane

e ardente, e giusto titolo parendogli

via e egli per la sua buona fortuna liberalmente

aveva

avere in ciò che la tracutaggine non solo temperò

onestamente

altrui aveva

E più volte seco stesso maladisse

la fortuna

simigliante. che di tale uomo l'aveva fatta

172

figliuola.

gittato

il suo fuoco,

quello che egli soleva con tutto il pensier disiderare e cercare di rubare, avendolo,

certo niuna delle già dette a questa mi par 53

ricolto,

restituì.

ma Per

Fortuna als narratives Problem

freilich nicht rückgängig gemacht, aber die damit gegebene gesellschaftliche Ausgangsposition kann geändert werden. 14. Was nun in der achten und neunten Novelle noch folgt, ist weitgehend ein eigenartig schillerndes Spiel mit Fortuna, das nachzuzeichnen ich mir sparen kann. Ich weise nur auf einige Verwendungen hin. 54 In der achten Novelle hält es erst Tito für eine Sünde Fortunas, daß die von ihm geliebte Sofronia die Frau seines Freundes Gisippo werden soll; Gisippo hingegen hält es geradezu für eine Gnade Fortunas, weil er nun seine Freundschaft zu Tito beweisen kann, indem er ihm seine Braut abtritt. Beide brauchen hier Fortuna: der eine, um einen Angriffspunkt für seine nicht gerade freundlichen Gedanken zu haben — und der Leser wird, gegen die Erzählerin, einen Hinweis des Autors auf die Novelle II 7 mitverstehen, in der es gerade solche Typen waren, die sich von der Schönheit Alatiels zu allem Möglichen hinreißen ließen;55 der andere braucht Fortuna für seine Überzeugungsstrategie dem Freund gegenüber, den er übrigens sofort durchschaut hat: >mit ebensoviel Recht, wie du Sophronia liebst, mit ebensoviel Unrecht beklagst du dich, wenn du das auch nicht laut werden läßt, über Fortuna< (27) ,56 15. Auf eine Verwendung in der neunten Novelle ist schließlich noch hinzuweisen. Torello tritt den Kreuzzug an; eine Seuche rafft das halbe christliche Heer dahin, und dann heißt es: >derweil gelang es Saladin, mag das nun durch seine Kriegskunst oder durch sein Glück geschehn sein, alle Christen, die von der Seuche verschont geblieben waren, ohne Schwertstreich gefangenzunehm e n (49).57 Muß einem Fortuna helfen, ein durch Seuche geschwächtes Heer zu schlagen? Man ist hier geradezu aufgefordert, dem Erzähler zu widersprechen: weder Kriegskunst noch Fortuna, sondern eben die Seuche hat Saladin den Sieg ermöglicht. Wir, die Leser, sind wohl mit dem Autor einer Meinung darüber, daß der Erzähler sich täuscht. 16. Die letzte Novelle setzt auch dem Thema Fortunas als eines narrativen Problems in brillanter und brillierender Weise einen Schlußpunkt. Griselda 54

Innerhalb der Akklamationen an die Freundschaft v o m Schluß der 8. N o v e l l e (117) wird fortuna

55

Es liegt hier wie schon in II 7 und gleich in X 9 das vor, was Booth die »heimliche Gemein-

von der Erzählerin lediglich als kataphorische Proform verwendet. schaft< zwischen Autor und Leser nennt« (Wayne C. Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst 2, Heidelberg 1974, S. 37ff.). Daß sie bereits in einem so frühen Text wie dem >Decameron< realisiert wird, braucht freilich nicht zu verwundern; schon die dem Leser vorab in den Ü b e r schriften vermittelte Kenntnis der jeweiligen Novelleninhalte beispielsweise stiftet ja eine solche Gemeinschaft. Auch das im Parzival-Prolog dargelegte Konzept Wolframs basiert letztlich darauf; vgl. A n m . 21. 56

Quanto tu ragionevolmente ami Sofronia, tanto ingiustamente della fortuna ti duoli, quantunque tu ciò

57

La qual durante, qual che si fosse l'arte o la fortuna del Saladino, quasi tutto il rimaso degli scampati

non esprimi. cristiani da lui a man salva fur presi.

173

Joachim

Theisen

erträgt alles, was Gualtieri mit ihr vorhat, in bewundernswerter Geduld. Sie hat sich auf einen Standpunkt festgelegt, von dem aus sie alle Erniedrigung, die ihr geschieht, als ein Werk Fortunas ansieht. Als sie erfährt, daß Gualtieri eine andere Frau n e h m e n will, reagiert sie wie gewohnt: >so wie sie aber die andern Unbilden des Schicksals ertragen hatte, so beschloß sie, auch diese mit fester Stirn zu ertragen< (41).58 U n d als sie kurz darauf tatsächlich wieder bei ihrem Vater ist: >tapfern Mutes ertrug sie den wuchtigen Ansturm des feindlichen Geschickes< (48).59 Entscheidend ist die Frage, von wessen Perspektive aus an beiden Stellen gesprochen wird: n i m m t man an, es sei unverfälscht die des Erzählers, landet m a n bei der Interpretation, die der Novelle als Geschichte der unbedingt duldenden Frau ihren Siegeszug durch das humanistische Europa bereitet hat; n i m m t m a n allerdings an, daß v o m Standpunkt Griseldas aus gewertet wird, stellt sich heraus, daß diese Fortuna keineswegs als solche akzeptiert werden m u ß . Für Griselda bleibt das Geschehen undurchschaubar und deshalb auch unangreifbar. Allerdings ergibt sich ihr Standpunkt naiverweise daraus, daß sie Gualtieri u n d dessen Launen als Fortuna a n n i m m t . Wenn m a n bereit ist, ihr auf diesem Standpunkt Gesellschaft zu leisten, ist ihre Geduld tatsächlich vorbildlich, aber auch folgerichtig; gleichzeitig fällt m a n jedoch hinter den im >Decameron< vorgeführten Prozeß der Auflösung Fortunas als eines v o m Erzähler eingesetzten Meta-Akteurs zurück. Boccaccios, des Autors, eigene Absicht dürfte es unter anderem sein, von hier aus diesen Prozeß noch einmal b e w u ß t zu machen. Ich fasse nach diesen ausführlichen Bemerkungen z u m >Decameron< kurz zusammen: D e r ganze Text ist über das R a d Fortunas entworfen, aus dem der zehnte Tag als Weg herausfuhrt. In der ersten Novelle des zehnten Tages m u ß daher Fortuna als Bestandteil der Narration verabschiedet werden: König A n fonso n i m m t ihre Position als Meta-Akteur ein. Vorbereitet ist diese Eliminier u n g dadurch, daß in den vorangegangenen Tagen Fortuna als narrative Strategie des Erzählers zurückgedrängt u n d als interpretative Strategie der Akteure entlarvt wird. In den Novellen des zehnten Tages wird dann gezeigt, wie diese Strategie zu verantworten ist vor der magnificenzia des Individuums, das, w e n n es magnificamente handelt, sich selbst d e m Einfluß Fortunas weitgehend entzieht u n d als Akteur des narrativen Textes frei wird. Die Aufgabe des Erzählers ist es dabei, diese Freiheit der Akteure aufzudecken und ernstzunehmen. Da der Einsatz Fortunas aus den narrativen Möglichkeiten des Erzählers ausscheidet, m u ß die H a n d l u n g von den Akteuren her begründet werden.

58

Ma pur, come l'altre ingiurie della fortuna

aveva sostenute,

cosi con fermo

sostenere. 59

Con forte animo sostenendo

il fiero assalto della nemica

174

fortuna.

viso si dispose a questa

dover

Fortuna als narratives

Problem

Ich möchte nun noch drei Texte heranziehen, u m zu zeigen, daß Fortuna als narratives Problem weiterhin aktuell bleibt; sie ermöglicht heutzutage keineswegs nur >Schicksalsberichte< in Illustrierten, sondern kann in ganz unterschiedlicher Weise eine Narration beeinflussen. Zunächst ist mir jedoch ein Beispiel v o m Beginn des 16. Jahrhunderts'wichtig, weil in ihm sehr deutlich nachvollziehbar die Position Fortunas als eines Meta-Akteurs thematisiert ist.

IV. Im Z e n t r u m des Volksbuches v o n >Fortunatus0 aller tugentreichste jungfrauw / so ir mich nun als loblich begabt hond / so ist doch billich das ich umb eüertwillen eüch etwas pßichtig sey tzu thuon / und der guotthait nit vergeß so ir mir gethon habent< (S. 46). Da sind zunächst so mir nichts dir nichts die beiden Kontrahenten zusammengezwungen, u m deren Versöhnung sich Lebensphilosophen seit Jahrhunderten bemühten: aller tugentreichste jungfrauw als Anrede an Fortuna! Fortunatus ist d a r u m bemüht, das frei gewährte Ge-

60

Ich zitiere den Text nach: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps v o n 1509. M i t Materialien z u m Verständnis des Textes h g . v . Hans-Gert R o l o f f , Stuttgart 1981.

61

Ich frage auch hier nach Fortuna nur, insofern sie als narratives Element v o n B e d e u t u n g ist. A u f die sozialgeschichtlichen

Aspekte

des R o m a n s

gehe

ich nicht

ein; vgl.

dazu

Wolfgang

Haubrichs, Glück und R a t i o i m >Fortunatusin der gedächtnuß als du heüt erfreüwet bist worden von mir / so erfrew du alle jar ain arme jungfraw< (S. 47). Fortuna zeigt ihrem Günstling schließlich den Weg aus d e m Wald, den Weg aus der Kreisstruktur des Umherirrens, was allerdings nur möglich ist, weil sich ihr Wesen mit der Stellung von Bedingungen grundlegend geändert hat. Fortuna tritt auf, eröffnet eine Position, u n d dann verschwindet sie wieder. Die Position bleibt jedoch aufgrund des von ihr gewährten Geschenks offen: Fortunatus n i m m t sie ein, er genießt ihre Vorteile und leidet unter ihren Nachteilen. Haubrichs meint, der Tausch zwischen Fortunatus und Fortuna sei die »Kontrafaktur eines typischen Gelöbnisses gegenüber einem Heiligen, dessen Hilfe m a n anging. Feier des Jahrestags, Keuschheit und Enthaltsamkeit am Jahrtag, karitative Leistung am Jahrtag, die in reziproker Analogie — quasi im Sinne von Votivbildern — die empfangene Hilfe abbildet.« 62 Z u dieser Analogie sollte noch eine andere gesehen werden: der heilige Fortunatus von Montefalco, an dessen Festtag, dem 1. Juni, die Begegnung im Wald stattfindet, fuhrt nach Italien. D o r t hat der Autor des Fortunatus die Legende des Heiligen kennengelernt, vermutet Kästner; 63 und dort findet auch eine andere Begegnung in einem Wald statt: die des heiligen Franz von Assisi u n d der J u n g f r a u der A r m u t . In einem unter dem N a m e n des Iacopone da Todi überlieferten Gedicht wird diese Begegnung geschildert: 64 Die A r m u t tritt — unerkannt — im Wald an Franz heran, der v o r ihr zurückschreckt und versucht, sie zu vertreiben. Er wird von ihr gefragt, w a r u m er allein im Wald sei. Franz antwortet: A r m u t zu suchen bin ich ausgegangen, denn den R e i c h t u m habe ich von mir geworfen. Die A r m u t gibt sich zu erkennen, Franz jubelt und wird von der A r m u t z u m M a n n e verlangt, unter der Bedingung jedoch, daß er ihre sieben Schwestern auch a n n i m m t : Caritas, Gehorsam, D e m u t , Enthaltsamkeit, Keuschheit, Geduld, H o f f n u n g . Durch die Geschichte von der Vermählung mit der A r m u t , der Braut Christi, die nach Dante, Paradiso XI,64—66, mehr als

62 63

64

Ebd., S. 44. Hannes Kästner, Fortunatus - Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit, Freiburg 1990, S. 42-44. Ich halte mich an die Paraphrase in H e n r y T h o d e , Franz von Assisi und die Anfange der Kunst der Renaissance in Italien, W i e n 2 1934, S. 509f.

176

Fortuna als narratives Problem

elfhundert Jahre verschmäht w u r d e , wird der Beiname des heiligen Franz, poverello, legitimiert u n d zugleich belegt, daß er fiir seine Zeitgenossen zum Sinnbild der A r m u t geworden ist. 65 Seine Erben k o m m e n mit dieser Braut allerdings weniger zurecht: M u ß die Wahl des Fortunatus dessen Familie in den U n t e r g a n g stürzen, weil der R e i c h t u m »gerade bei denen, welchen er mühelos und ohne die Erfahrung von Elend u n d Lebensgefahr zuteil wird«, 66 sein Verhängnis entfaltet, so geht es d e m Franziskanerorden in Bezug auf die A r m u t nicht besser. Die Auseinandersetzungen zwischen Konventualen und Spiritualen beginnen bereits in der Generation nach seinem Tod und bewirken eine was die A r m u t betrifft — weitgehende Abkehr des Ordens von den Idealen seines Gründers. Eine weitere Parallele ist noch zu erwähnen. Die J u n g f r a u des Glücks erm a h n t Fortunatus, nachdem sie i h m den Weg gezeigt hat: >ker dich nit umb und luog nit I wo ich hyn komme< (S. 47). D e r Text lehnt sich hier an den biblischen Bericht v o m Auszug Lots aus S o d o m an (Gn 19,17). Lot verliert durch die Flucht nicht nur seine Frau, die sich umblickt, sondern jeden gesellschaftlichen Kontakt. Er endet mit seinen Töchtern im Gebirge, w o es so einsam ist, daß diese sich an ihrem Vater vergehen müssen, u m zu Kindern zu k o m m e n . D e r Preis, den Fortunatus f ü r den Säckel zu zahlen hat, ist in diesen Parallelen angedeutet: Er wird nicht m e h r fraglos auf einer Ebene mit den (normalen) Akteuren stehen, er ist ausgezeichnet und gezeichnet, wie Franz durch die Vermählung mit der A r m u t u n d die spätere Stigmatisation, u n d er wird deshalb einsam sein; auf der Ebene Fortunas u n d ohne sie zur Seite zu haben, wird er selbst zum Meta-Akteur. Ein Jahrestag der Begegnung im Wald wird später geschildert. Ihm k o m m t innerhalb der Gesamtkomposition des Textes keine zentrale Bedeutung zu, er signalisiert jedoch die Funktion der Bedingungen: Fortunatus gerät in erhebliche Schwierigkeiten. D e r Wirt, bei dem er sich nach einer passenden J u n g f r a u erkundigt, beschließt, ihm die 400 Goldstücke zuvor abzunehmen, geht aber etwas schlampig mit dem Säckel u m , weil er dessen Geheimnis natürlich nicht kennt. Fortunatus meint schon, ihn verloren zu haben, u n d bereut mal wieder seine Wahl; Weisheit hätte ihm niemand stehlen können. Er findet den Säckel dann jedoch unter d e m Bett, w o h i n ihn der W i r t in seiner Ahnungslosigkeit geworfen hat. Als Fortunatus schließlich eine passende J u n g f r a u ausfindig gemacht hat, ist die, ebenso wie ihre Eltern, etwas mißtrauisch. A m Ende stellen

65

In B o n a v e n t u r a s Lebensbeschreibung w i r d die B e g e g n u n g des heiligen Franz mit drei a r m e n Frauen geschildert, die ihn f o l g e n d e r m a ß e n b e g r ü ß e n (ich zitiere nach: Bonaventuras Legenda Sancti Francisci in der U b e r s e t z u n g der Sibilla v o n B o n d o r f , hg.v. D a v i d Brett-Evans, Berlin 1960, S. 84): >Wilkumentfrow armuot!
got hat den man von hymel gesant< (S. 73). Fortunatus tritt auf wie Fortuna selbst: Er k o m m t plötzlich und ungeahnt, er beschenkt und verschwindet wieder; keine A n t w o r t , keine Gegenleistung ist möglich. Hier wird eine Position umrissen, die zur gleichen Zeit oder kurz später von i m m e r mehr Helden erzählender Texte e i n g e n o m m e n wird, ob dies positiv der >Alexander< von Johann Hartlieb ist oder negativ Dr. Johann Faust in der >Historiac Diese Helden sind einsam, weil sie über die Grenzen der Gesellschaft hinausgreifen und — vor allem — von der Gesellschaft nicht m e h r erreichbar sind. Es sei nicht behauptet, daß sich deren Position unmittelbar von der Fortunas im narrativen Text herleitet; mit der A n n a h m e Fortunas als eines MetaAkteurs steht jedoch ein narratives Modell bereit, das ohne weiteres unter Rücksicht veränderter inhaltlicher Anforderungen modifiziert werden kann. W i r d diese Position dann des Phantastischen und Wunderbaren entkleidet, das sie sowohl im >Fortunatus< als auch im >Alexander< u n d >Faust< kennzeichnet, bleibt sie von allen menschlichen Akteuren vornehmlich einem Typus vorbehalten: dem Künstler, der seit der Renaissance in U m k e h r u n g der mittelalterlichen Vorstellung von Gott als Künstler auf eben dieser Position theoretisch reflektiert und dann narrativ dargestellt wird. Ich kehre z u m Text zurück: Der W i r t beschließt in der folgenden Nacht erneut, Fortunatus auszurauben, wird aber von Lüpoldus, dessen Begleiter, erschlagen; damit haben die beiden eine Leiche auf d e m Hals. Fortunatus überlegt, was er machen kann; >het ich ainen guoten fründ< (S. 76), beginnt er. D e n hat er nicht, o b w o h l man sich — unter normalen U m s t ä n d e n — k a u m einen besseren als Lüpoldus vorstellen könnte. Fortunatus ist darin einsam, daß er das Geld zwar teilen, das Glück selbst aber n i e m a n d e m mit-teilen kann. — Lüpoldus kann ihm schließlich trotzdem aus der N o t helfen, und sie verlassen K o n stantinopel. Fortunatus lernt, mit seinem Glück umzugehen, insofern wird er vernünftig, er kennt seine Möglichkeiten und seine Grenzen. D e r zweite Auszug aus der Heimat, dem zweiten Aventiuren-Zyklus des A r t u s - R o m a n s nachgebildet, 67 geschieht aus einer inneren Krise, die mit Langeweile nur u n v o l l k o m m e n beschrieben ist. Das ihn auszeichnende Glück verlangt in die Ferne, in die Fremde, weil er n u r dort das sein kann, was er aufgrund dieser Auszeichnung ist: einsam. (Als N e b e n m o t i v paßt dazu freilich auch der N a m e seiner Frau: Die antike Cassandra hatte die Liebe Apollos zurückgewiesen u n d w u r d e von ihm damit bestraft, daß niemand ihren stets richtigen Weissagungen glaubte. Kann Fortuna nicht be-handelt werden, so bleibt u m g e k e h r t das prophetische H a n deln dieser Cassandra ohne Wirkung.) Die Einsamkeit des Fortunatus m o t i 67

Vgl. Xenja von Ertzdorff, Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, S. 138.

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Fortuna

als narratives

Problem

viert auch den Diebstahl des Zauberhütchens des Sultans: Fortunatus tut das, was an seiner Stelle jeder andere auch tun w ü r d e — so vermutet er und belegt damit, daß er jeden ethischen Maßstab verloren hat, da er gefangen ist im Geschenk Fortunas und von da aus seine Handlungsweisen entwickelt und begründet. Erst v o m Tod seiner Gattin läßt er sich so weit berühren, daß er kurz darauf selbst krank wird und stirbt, allerdings ist er zu der Zeit auch nicht mehr der Jüngste, immerhin sind schon sechzig Jahre seit der Begegnung mit Fortuna vergangen. (Wozu, kann m a n fragen, hätte er sich überhaupt Gesundthait oder längs leben wünschen sollen?) Fortuna läßt sich bändigen, sie stellt — auf Wunsch Fortunatus' — B e d i n g u n gen, an die dieser sich halten kann, u m zumindest das Bewußtsein zu haben, sein Glück nachträglich noch zu verdienen. Die geringe Bedeutung dieser Bedingungen innerhalb des Textes — das Feiern und der Verzicht auf den Beischlaf werden nirgends erwähnt —, deutet jedoch darauf hin, daß es sich hierbei u m ein M o t i v handelt, das nicht auf der Handlungsebene, sondern ausschließlich strukturell von Bedeutung ist: Fortuna, die als Person sich sofort nach ihrem Auftritt wieder verabschiedet, wird als etwas Dauerhaftes u n d Berechenbares in den Text gebunden. Fortunatus aber rückt zusehends, j e mehr er es versteht, mit seinem Glück umzugehen, aus dem Kreis der Akteure heraus und n i m m t die Position ein, die üblicherweise Fortuna z u k o m m t , allerdings mit ganz anderen Folgen als in Boccaccios Novelle X 1; dort w u r d e Fortuna aus dem narrativen Diskurs gesprengt, hier ist er von deren Position aus organisiert. Kurz vor dem Sterben ermahnt Fortunatus folgerichtig seine Söhne ausdrücklich, daß sie niemandem, besonders keiner Frau, von dem Säckel erzählen — Fortuna selbst hatte ihm davon nichts gesagt. Die N o t w e n d i g k e i t der Einsamkeit braucht damit nicht m e h r erfahren zu werden, sondern ist als Beding u n g zementiert. In der Geschichte dieser beiden Söhne wird die Position des Vaters alternativ aufgelöst: Der eine — A m p e d o — bleibt zu Hause; die gesellschaftliche Dimension ist völlig gekappt. D e r andere - Andolosia — zieht in der Welt h e r u m und verliebt sich — unglückselig — in die Prinzessin von England, verliert Säckel und H u t , gewinnt beide wieder, verliert und gewinnt, bis er, weil er zu sehr auf die Gesellschaft hin orientiert ist, von bösartigen Grafen verfolgt und umgebracht wird. Die N a m e n der beiden Söhne sind freilich nicht so offenkundig p r o g r a m matisch wie der ihres Vaters. Es handelt sich u m Phantasienamen; bedeutungslos sind sie deshalb nicht. Jedenfalls dürfte es kein Zufall sein, daß sie aus den Buchstaben bestehen, die in den N a m e n Salomon u n d Adonia enthalten sind; die drei zusätzlichen Buchstaben p, d, e ermöglichen zudem einen N a m e n , der an das lateinische ambedere erinnert: >auffressen, verzehrend Eben das tut A m p e d o : Er ruht sich auf seinen zwei Truhen Gold aus und verzehrt sie nach und nach. Die biblischen N a m e n müssen kurz erklärt werden. Z u Salomon ist nicht viel 179

Joachim

Theisen

zu sagen; Kästner hat zuletzt noch einmal die kontrastive Beziehung zwischen der Wahl des Fortunatus und der des Salomon in seinem Traum (III R g 3,5-15) aufgezeigt. 68 Adonia ist Salomons Halbbruder, der sich noch vor dem Tod Davids unrechtmäßig zu dessen Nachfolger macht u n d der später, weil er die überaus schöne Abischag, die letzte Geliebte Davids, heiraten will — wie Sal o m o n vermutet, u m sich wieder zum König zu machen —, von diesem getötet wird (vgl. III R g 1,2. 2,21-25). Typologisch wird dieser M o r d als Ü b e r g a n g von der Synagoge zu Christus gedeutet. 6 9 In Salomon u n d Adonia stehen sich Neues u n d Altes, Richtiges u n d — weil es überholt ist — Falsches gegenüber. Der M i x dieser N a m e n zu Ampedo u n d Andolosia löst den eindeutigen Bezug, der i m N a m e n des Vaters gegeben ist, auf und ergibt eine semantische M i schung, die in der Anlage zwar durchaus interessant und >modernSchicksalsbericht< ausgewiesener Fall. Ich wähle n u n zwei m o d e r n e Texte, u m zu belegen, daß nicht n u r der Kreis als Fortuna-Struktur gegenwärtig gehalten wird, sondern daß u n d wie auch weiterhin Fortuna als narrative Strategie eingesetzt werden kann. Es handelt sich u m zwei sehr kurze Texte — eine Erzählung T h o m a s Manns u n d einen Tagebucheintrag M a x Frischs. 68 69 70

Kästner (Anm. 63), S. 40f. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, 1990 [Sonderausgabe], Bd. 4, S. 23. Rainer Nübel, Fortuna in moderner Literatur, in: Heidrun Colberg u. Doris Petersen (Hgg.), Spuren (FS T h e o Schumacher), Stuttgart 1986, S. 453-468, hier S. 455.

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Fortuna

als narratives

Problem

V.1 Thomas Manns frühe Erzählung >Der Wille zum GlückFortunatus< aus darauf hingewiesen, in welcher Hinsicht das Fortuna- und das Künstlermotiv zusammenzusehen sind: Die Isolation des Künstlers entspricht strukturell der Isolation Fortunas. Wenn diese sich aber dadurch auszeichnet, daß sie nicht be-handelt werden kann, so ergibt sich der, häufig katastrophale, Konflikt des Künstlers — im Werk Thomas Manns, aber freilich auch bei zahllosen Autoren seit der Aufklärung — gerade daraus, daß er sehr wohl be-handelt wird und zwar nicht zuletzt aus seinem eigenen Bedürfnis nach menschlicher Nähe. 74 71

Ich zitiere nach: Thomas Mann, Der Wille zum Glück. Erzählungen 1893-1903, Frankfurt a.M. 1991, S. 41-58. 72 Hans R u d o l f Vaget, Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1984, S. 60-63, hier S. 62. 73 Die Novelle erweist sich »im Rückblick als eine Art Keimzelle für einige wichtige Motive, die später eine bedeutende Rolle spielen sollten« (Vaget [ebd.], S. 62). 74 In Thomas Manns >Der Tod in Venedig< (ich zitiere nach: T. M., Schwere Stunde. Erzählungen 1903-1912, Frankfurt a.M. 1991, S. 186-266) wird geradezu exemplarisch der Konflikt vorgeführt, den der Sprung von der Ebene des Meta-Akteurs (Fortuna entsprechend) auf die Ebene der Akteure auslöst. Aschenbach, der »die Hofsitten einer Einsamkeit [angenommen hat], die voll unberatener, hart selbständiger Leiden und Kämpfe war und es zu Macht und Ehren unter den Menschen brachte, der wie die Überlieferung es von Ludwig dem Vierzehnten wissen will, [. . .] aus seiner Sprachweise jedes gemeine Wort verbannte, von dem ausgewählte Seiten [. . .] in die vorgeschriebenen Schullesebücher« übernommen wurden und dem zu seinem fünfzigsten Geburtstag der persönliche Adel verliehen wurde (S. 198), steht nicht nur - horizontal - außerhalb der Gesellschaft, sondern — vertikal — über ihr. Von daher ist der Satz wörtlich zu verstehen: »Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein erhöhtes Leben« (S. 199). Daß Fortuna auch noch in den >Tod in Venedig< hineinwirkt, sei nur an zwei Motiven angedeutet: Die Reiseroute Aschenbachs führt ihn von München über Triest und Pola in Istrien erst auf eine Adriainsel, dann nach Venedig. Dort ist die Fahrt zunächst nur für einen Tag zu Ende, dann beschließt er, wieder aufzubrechen. Allerdings macht sich seltsamerweise sein Gepäck selbständig, das heißt nicht ganz: Es wurde versehentlich nach C o m o aufgegeben und schert damit aus dem bisher beschriebenen Halbkreis (München, Triest, Pola, Venedig) seitlich aus und deutet zugleich einen zweiten Halbkreis zurück nach München an. Sollte da nicht Fortuna im Spiel sein, die ihr R a d nach einem kurzen Verweilen auf dem Tiefpunkt in Venedig weiterdreht? Aschenbach will jedoch in ein kleines Seebad »nicht weit von Triest«, in die Gegenrichtung also. Als Ausweg aus diesem Spagat beschließt er, in Venedig zu bleiben. Wie nicht anders zu erwarten, bildet diese versuchte Flucht das kompositionelle Zentrum der Novelle, und dort

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Joachim

Theisen

>Der Wille zum Glück< nennt Fortuna nicht nur schon im Titel, sondern kaum ein Absatz, kaum ein Satz kommt ohne sie aus. Interessant ist jedoch nicht so sehr die Virtuosität — oder soll man sagen Manieriertheit? —, mit der Thomas Mann das Fortuna-Motiv allüberall integriert, sondern die Art und Weise, wie er es benutzt, um aus der Fortuna-Problematik die Künstler-Problematik zu entwickeln. Ich stelle zunächst die wichtigsten Verwendungen zusammen. Paolo Hofmann ist Sohn eines Deutschen und einer Südamerikanerin. Die geographische Ausdehnung< des Lebens Paolos beginnt somit vor seiner Geburt; er ist in eine Kreisbewegung schon hineingeboren. Die Stationen sind: Südamerika — Norddeutschland — Karlsruhe. Danach ist er auf Reisen, besonders in Paris (nach W), dann München (nach O), wieder »auf Reisen, immer auf Reisen« (S. 51) und zwar in den Tiroler Bergen, durch ganz Italien, in Sizilien, dann Afrika (nach S), aber nicht, wie von Sizilien aus naheliegend, von O nach W , sondern umgekehrt: Algier — Tunis — Ägypten; wieder Deutschland (N: Karlsruhe) und Italien (S: R o m ) . Der Weg geht kreuz und quer in Europa herum, ausgespannt nicht nur — wie im >Tonio Kröger< — auf einer N-S-Achse, sondern auch auf einer W-O-Achse. Z u m Zentrum dieser Bewegungen wird nach dem ersten dortigen Aufenthalt München, der Heimatort der Geliebten; und München ist zugleich der End- und Schlußpunkt. Dem Wirken eines Meta-Akteurs kann man Platz schaffen, indem man seine eigene Aktivität zurücknimmt: Paolo verhält sich schon als Jugendlicher »gänzlich passiv« (S. 41); wenn es nicht so geht, wie er will (etwa in der Tanzstunde), sinkt er »plötzlich ohnmächtig zusammen« (S. 42). Er macht außerdem, wie später gesagt wird, den »Eindruck eines Tieres, das krampfhaft die Ohren spitzt und mit Anspannung aller Muskeln horcht« (S. 45), den »Eindruck eines sprungbereiten Panthers« mit »krankhaftefm] Glanz in den Augen« (S. 47);75 darin spiegelt sich die Haltung dessen wieder, der auf der Jagd nach seinem Glück ist.76 steht auch ein eigenartig aus d e m unmittelbaren K o n t e x t herausfallender Satz: Aschenbach ist also zurück in seinem H o t e l auf d e m Lido. »Freilich sei sein Z i m m e r vergeben, ein anderes jedoch, nicht schlechter, sogleich zur Verfugung« (S. 227). Hier spricht der Manager. Aber dann gleich anschließend: »>Pas de chance, monsieurPas de chance, monsieur< charakterisiert exakt die n u n m e h r beibehaltene Position Aschenbachs. D i e Ä u ß e r u n g w i r d getan von

einem

Schweizer

— Como,

wohin

das

Gepäck

wollte,

liegt

dicht

an

der

ita-

lienisch-schweizerischen Grenze. 75

Vgl. auch: »diese gewaltsame, krampfhaft angespannte R u h e , die das Raubtier vor d e m Sprunge zeigt« (S. 53).

76

Es kann auch verwiesen w e r d e n auf Schillers Gedicht >Das Geheimnisc »Die Welt wird nie das Glück erlauben, / Als B e u t e wird es nur gehascht; / E n t w e n d e n m u ß t du's oder rauben, / Eh' dich die Mißgunst überrascht.«

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Fortuna

als narratives

Problem

Die Familie, in deren Tochter Ada er sich verliebt, lernt Paolo an Fasching kennen, der Zeit der Verkleidungen und des Trugs. D e r N a m e , Stein, so m u t maßt der Ich-Erzähler, w a r ursprünglich u m einige Silben länger. D a ß >Stein< daraus g e w o r d e n ist, verwundert auf der Motivebene der Erzählung nicht und kann als n o m e n appellativum verstanden werden, w o m i t die direkte Gegenposition zu Fortuna signalisiert ist. Allerdings hat der Vater auch schon mit ihr Bekanntschaft geschlossen, er war »plötzlich in Décadence« (S. 44) geraten; daß er »das d a u e r n d e Glück seines einzigen Kindes i m Auge hat« (S. 56; H e r v o r h e b u n g im Text), zeigt aber, daß er gelernt hat, und entspricht selbstverständlich seinem N a m e n . Bedeutsam ist auch, wie er die plötzliche Abreise Paolos aus München erklärt: »Und so v o l l k o m m e n à bâton r o m p u . . . Das nennt m a n Künstlerlaunen« (S. 49). Mit dieser B e g r ü n d u n g bedient er sich derselben Strategie wie zahlreiche der Protagonisten des >DecameronDecameron< rennt er diesem Glück nicht nach, sondern zwingt es gerade durch seine eigene Unveränderlichkeit herbei. Hier begegnen sich in R e i n f o r m die beiden Modelle der Fortuna u n d der Liebe, die sich in der ersten Novelle des fünften Tages des >Decameron< gegenüberstanden: Die B e ständigkeit in der U n b e s t ä n d i g k e i t Fortunas auf der einen Seite und die »Unbeständigkeit in der Beständigkeit der Liebe auf der anderen. D e n n Paolo bedarf der äußeren Unbeständigkeit gerade als eines »Narkotikum[s]«; sie ist ihm »ein sehr natürliches Bedürfnis« (S. 52). Sie verhilft i h m zur Beständigkeit seiner Liebe und seiner selbst. »Ich w e r d e niemals einem anderen M a n n e die H a n d reichen als ihm« (S. 50), sagte Ada in München; u n d Paolo: » I c h - h a l t e diese Worte« (S. 53; H e r v o r h e b u n g im Text). Wenn der Erzähler Adas W o r t e inmitten der schwatzenden und gestikulierenden Menge (S. 53) des Cafés A r a n j o in R o m wiedergibt u n d Paolo entsprechend repliziert, ist wieder das unverbrüchlich Feststehende ins Innen verlegt und d e m äußeren K o m m e n und Gehen, >hin und her< und >dann und wann< (S. 51) entgegengesetzt. D e n Engel, in den Paolo sich verliebt hat, 77 sollte man sich ansehen, zumal Paolo ausdrücklich dazu auffordert: »Sei so gut u n d k o m m e hin« (S. 53). Es ist 77

Nicht, wie im Text angegeben, von Carlo Saraceni, sondern von Caravaggio; es handelt sich um die R u h e auf der Flucht nach Ägypten von 1595; vgl. Vaget (Anm. 72), S. 61.

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eine Rückenfigur, aber der Kopf ist gewendet und das Gesichtsprofil zu sehen. Ihn von der Motivik der Novelle her als eine Personifikation Fortunas zu verstehen, wäre konsequent, mag jedoch etwas zu weit über den Text hinausgegriffen erscheinen, obwohl die Rückenansicht ausgezeichnet zu Fortuna und der ihr zugehörenden Occasio paßt. 78 Das Bildthema - >Ruhe auf der Flucht nach Ägypten< — fugt sich nahtlos in die Novelle ein, vor allem, wenn man es mit Thomas Mann als >Rast in Ägyptern versteht. 79 Im Zusammenhang der Flucht nach Ägypten heißt es im Matthäus-Evangelium: »Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: >Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen«< (Mt 2,15). Bei Thomas Mann: Paolo »war von Sizilien nach Afrika gegangen, sprach von Algier, Tunis, Ägypten. Schließlich bin ich einige Zeit in Deutschland gewesen/ sagte er, >in Karlsruhe; meine Eltern wünschten dringend, mich zu sehen«< (S. 52). Angedeutet ist in dieser kryptischen Parallele die unwahrscheinlich erscheinende Gewißheit, daß Paolos »Wille zum Glück« erfüllt wird, wie das Wort des Propheten erfüllt wurde. Und zugleich ist - wenn auch nur ganz schwach — ein Meta-Akteur eingeblendet, dem Paolo selbst offenbar sein eigenes Leben unterstellt sehen will. Wenn Paolo später »plötzlich, ohne jeden Übergang« fragt: »>Sag mal, ist dir eigentlich nicht aufgefallen, daß ich immer noch am Leben bin?was für eine Bewandtnis es mit dem Brunnen hat? Wer beim Abschied von R o m daraus trinkt, der kehrt zurück. Hier hast du mein Reiseglas [. . .], du sollst dein R o m wiedersehend (S. 58). Natürlich nicht; das Glas, aus dem Paolo sich anschickt zu trinken, muß zerbrechen. Konsequent ist an dieser Stelle der Narration ein Motiv eingesetzt, das direkt darauf hindeutet, daß das nun erreichte Glück zerbricht, da hilft auch der Wunsch »viel Glück« (S. 58) am Bahnhof nichts. »Tiefer Ernst lag in seinen Augen — und Triumph« (S. 58). Das Festhalten des Glücks ist von der Anlage her ausgeschlossen; der Triumph besteht darin, es erzwungen zu haben, auch für Ada, in deren Antlitz der Erzähler auch »den feierlichen und starken Ernst des Triumphes« (S. 58) gefunden hat. Noch einmal läßt sich vom Radmotiv her feststellen: Paolos Leben hing am Drehen um München. Ist er dort wieder angelangt, dreht sich nichts mehr. Thomas Mann faßt in der Erzählung >Der Wille zum Glück< die Problematik des Künstlers unter Zuhilfenahme des Fortuna-Modells. Der Künstler nimmt ansatzweise die Position ein, die in den bisher besprochenen Texten Fortuna zukommt; von daher ist seine Problematik definiert. Das Zusammenfuhren der beiden Konzeptionen von Fortuna als »Beständigkeit in der U n beständigkeit und der Liebe als »Unbeständigkeit in der Beständigkeit fuhrt unweigerlich auf die Katastrophe hin. Allein diese Gleichzeitigkeit aber ermöglicht das künstlerische Schaffen und konkret das Überleben, auf einer Ebene allerdings, die nicht die der (normalen) Akteure ist; die Erfüllung der Liebe als »dauerndes Glück« zerstört die Existenz, sie ist nur als Sehnsucht zu haben. Indem Paolo auf Reisen ist, garantiert er sich das Fortdrehen des Rades, wobei dieses Fortdrehen selbst, nicht die jeweilige Position oben oder unten ent80

Thomas Mann, Der Tod in Venedig (Anm. 74), S. 240 (Hervorhebung: J . T.).

81

Vgl. Kästner (Anm. 63), S. 21.

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scheidend ist. — Die Erzählung ist ein Beispiel dafür, wie ein bestehendes, inhaltlich überholtes Modell noch einmal in unzähligen Einzelmotiven durchgespielt wird, um ein neues Modell daraus zu formen, das das spätere Werk Thomas Manns weitgehend prägen wird.

V. 2 Ich komme abschließend zu einem Tagebucheintrag Max Frischs aus dem Jahr 1971 ;82 er trägt die Überschrift >Glück< und beginnt mit folgender direkter Rede: Ich hatte Glück, Fjodor Iwanowitsch, ich wage kaum dran zu denken. Ein unheimliches Glück. Sie sehen, ich fahre in der ersten Klasse. Ich habe einen Paß, ich habe einen Titel, ich bin frei. Warum ich nicht nach Sibirien gekommen bin, verstehe ich heute noch nicht, denn es fehlte wenig, Gott weiß es, sehr wenig (S. 357). Der Name des Angeredeten und die geographische Angabe provozieren R u ß land als Kontext; liest man weiter, wird dieser Kontext einerseits inhaltlich aufgehoben — »Es ist aber nicht Rußland, was man da draußen sieht« (S. 357) —, andererseits verdichtet er sich motivisch zu einer Folie, in deren genaueren Konturen schließlich Dostojewskijs R o m a n >Der IdiotDer Idiotkrank wie ich binIch bin ein kranker Mensch« (S. 358); »besonders wenn er [Rogoschin] jetzt anfängt zu zechen« - »>Ich glaube, ich bin leberleidend« (S. 358); in Fürst Myschkins »Blick lag etwas Sanftes, aber Bedrückendes« (S. 8) - »>Ihr Mann war ein stiller und sanftmütiger Mensch, [. . .] ein gerechter und bedrückter Mensch« (S. 357); »Wasilij Wasiljewitsch« (ein Freund R o goschins) (S. 15) - »Wassily Wassilikow« (S. 358); »>Darum nimmt sie mich doch, weil sie von mir bestimmt das Henkerbeil erwartet!«' (Rogoschin) (S. 283) - »>das Beil wollte es« (S. 358; vgl. S. 363); Rogoschin ist eifersüchtig (vgl. S. 276) - »>Ich hatte keinen Grund zur Eifersucht« (S. 257); »>Sag mal, Lew Nikolajewitsch, ich wollte dich schon lange fragen, glaubst du an Gott oder nicht?< fing Rogoschin auf einmal wieder an« (S. 287) - »>Fjodor Iwanowitsch, glauben Sie an Gott?«« (S. 361).

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Fortuna

als narratives

Problem

Fahrt v o n Warschau nach Petersburg R o g o s c h i n gegenüber, der i h m v o n seiner unglücklichen Liebe zu Nastasja Filippowna erzählt. D e r Fürst befindet sich auf d e m R ü c k w e g aus der Schweiz, w o er vier J a h r e lang bei einem Professor Schneider in Pflege w a r , der ihn v o n seiner Epilepsie nahezu geheilt hat. — Was mich an Frischs Text hier interessiert, ist die R o l l e , die das >Glück< f ü r Anlage u n d Verlauf der N a r r a t i o n darin spielt. Ich b e f r a g e zunächst den N a m e n , F j o d o r Iwanowitsch. W e r ist der so A n g e redete? Gibt es eine Person aus d e m >Idiot< m i t diesem N a m e n ? Ja u n d nein. Fürst Myschkin verliebt sich in die hübsche Aglaja I w a n o w n a Jepantschina. Ihr Vater heißt I w a n Fjodorowitsch. D a r i n die Person Frischs zu erkennen, scheint zunächst weit hergeholt; m a n m u ß schon erklären, w a r u m er V o r - u n d Vatersn a m e vertauscht. Gerade diese Vertauschung erweist sich j e d o c h i m Z u s a m m e n h a n g m i t Fortuna als äußerst signifikant. In der D r e h b e w e g u n g der N a m e n ist i m m e r h i n die B e w e g u n g Fortunas anwesend. Sie hat z u d e m ein V o r bild in Dostojewskijs R o m a n , w e n n es d o r t auch eine andere Person ist, die sie v o r n i m m t ; der Fürst spricht: »Entschuldigen Sie, wie lautet Ihr Vor- und Vatersname? Ich habe es vergessen.« »Ti-ti-timofej.« »Und —?« »Lukjanowitsch.« Alle im Zimmer Anwesenden lachten wieder. »Falsch!« schrie der Neffe. »Auch jetzt wieder gelogen! Er heißt gar nicht Timofej Lukjanowitsch, Fürst, sondern umgekehrt: Lukjan Timofejewitsch! Nun sag bloß, wozu hast du wieder geflunkert? Ist dir denn nicht ganz gleich, ob du Lukjan oder Timofej sagst, und was geht das den Fürsten an? Aus bloßer Gewohnheit lügt er, ich versichere Sie.« »Ist es wirklich wahr?« fragte der Fürst ungeduldig. »Lukjan Timofejewitsch, allerdings«, gab Lebedew verlegen zu, wobei er die Augen demütig niederschlug und die Hand wieder aufs Herz legte. »Warum tun Sie das? Ach Gott!« »Aus Selbsterniedrigung«, flüsterte Lebedew, der den Kopf immer tiefer und immer demütiger senkte (S. 260-261). L e b e d e w ist ein O p p o r t u n i s t , der o h n e Rücksicht auf eingegangene persönliche Verpflichtungen seine Intrigen spinnt, u m selbst jeweils i m m e r o b e n zu s c h w i m m e n . Sein O p p o r t u n i s m u s ist die A n t w o r t auf das W i r k e n Fortunas. 8 4 D e r v o n i h m geäußerte G e d a n k e der Selbsterniedrigung ist aber auch in Frischs Text präsent. D e r m i t »Fjodor Iwanowitsch« A n g e r e d e t e n e n n t , als er später tatsächlich auftritt, seinen N a m e n m i t »>PodsnyschewPodsnyschewunterniedrigdie Erniedrigungdie Opfer des Glückswechsels< (S. 259) betet. Lebedew sagt auch am Ende der Eisenbahnfahrt zu Fürst Myschkin, der von Rogoschin eingeladen wurde: «Lassen Sie sich die Gelegenheit nicht entgehen! Lassen Sie sie sich nicht entgehen« (S. 20).

187

Joachim Theiseti

>herab< interpretiert werden. 85 Der Name ist in diesem Bedeutungsfeld zu verstehen, wodurch der Zusammenhang zum Lebedew des Dostojewskijschen Romans eindeutig hergestellt ist. Allerdings wird dieser Zusammenhang erst am Ende durchschaubar; zunächst ist der General Dostojewskijs als indirekter Namensgeber des Angeredeten in Frischs Text zu bedenken; dazu eine inhaltliche Erwägung: die Angehörigen Aglajas haben schließlich begriffen, daß auch sie in den Fürsten verliebt ist; die Mutter findet sich damit ab: »Gott segne sie, wenn das ihr Schicksal ist!« Diese Annahme weitet der General zu einer Interpretation aus, die ihm hilft, es zu verstehen: »Es ist also ihr Schicksal, und seinem Schicksal entrinnt keiner« (S. 675). Einmal gefunden wird er diese Interpretation so schnell nicht mehr los: »>Was soll man machen? Das Schicksal will es!< sagte der General achselzuckend. U n d lange noch wiederholte er diese ihm liebgewonnenen Worte« (S. 677). Er hat damit dieselbe Formel gefunden wie zahlreiche der Protagonisten und Erzähler, die in den bisher untersuchten Texten begegnet sind: der Erzähler des Illustriertenberichts, die Prinzen in Shakespeares >Kaufmann von Venedig< und nicht aufzuzählen die Helden und Erzähler in Boccaccios >Decameron< bis hin zu Griselda. Von dieser Formel her ist nun aber auch die Narration in Frischs Text zu verstehen. U m sie zu entschlüsseln, muß die Frage: wer ist Fjodor Iwanowitsch? noch einmal gestellt, die Antwort diesmal aber nicht mehr in Dostojewskijs Roman, sondern im Text selbst gesucht werden. Ein Mann, der durchgehend als »der Reisende« bezeichnet wird, erzählt, daß er beinahe Natascha, seine Geliebte, mit einem Beil umgebracht hätte: »>ich hatte das kleine Beil schon erhoben, und Natascha saß vor mir, ich wollte sie spalten wie ein Scheit. Ich wollte es natürlich nicht, aber das Beil wollte es, das kleine Beil, Fjodor Iwanowitsch, in meiner Hand«< (S. 358); und zum Schluß: »>Dann stak das kleine Beil in dem Block, sie stand daneben, ich hatte das Scheit noch in der Hand, das ich hatte spalten wollen — das war alles, Fjodor Iwanowitsch: Glück«< (S. 363). Er spricht zu niemandem, obwohl er immer wieder jemanden anredet. Den Mitreisenden geht er aus dem Weg; betritt jemand das Abteil, geht er auf den Korridor und kehrt erst zurück, wenn »der Herr, der Vogelsanger heißen könnte oder Bärlocher oder so, seine Ledermappe nimmt und das Abteil freigibt, nicht ohne zu nicken« (S. 361). Schon zu Beginn heißt es: »Es ist auch niemand im Abteil, der Fjodor Iwanowitsch heißen könnte oder Wassily Wassilikow oder irgendwie, und trotzdem muß er es einmal erzählen« (S. 358). Der Reisende spricht ins Leere hinein, provoziert sich mit dem N a men und der Nennung Sibiriens aber einen Kontext, den der Erzähler sich immer wieder bemüht zu korrigieren:

85

Für diese Auskünfte danke ich herzlich meiner Athener Kollegin Ingrid Weng-Goeckel.

188

Fortuna

als narratives

Problem

es summt auch kein Samowar [S. 357; vgl. S. 359]; Auch der Schaffner [. . .] ist offenkundig kein Russe [. . .] er hat keine Zeit wie einst die Menschen in den russischen Eisenbahnen, die sich halbe Romane anhörten [S. 358]; es war ja auch nicht Rußland, w o das Entsetzliche stattgefunden hat, sondern in Graubünden [S. 358]; Heutzutage halten die Züge nicht lang; die Reisenden können nicht aussteigen, um sich heißes Wasser zu holen, und im Speisewagen gibt es auch keinen Tee mehr, nur noch das Menü [S. 359]; usw.

Gleichzeitig ruft sich auch der Reisende selbst den tatsächlichen Kontext ins Bewußtsein; mit »Blick zum Fenster hinaus« (S. 361 u. 363) nennt er jeweils die passierten Stationen. Er fährt die Linie von der französischen Schweiz über Biel/Bienne, Brugg nach Zürich. Der Reisende, der vor dem Hintergrund des >Idioten< als Rogoschin zu verstehen ist, konstruiert sich einen Zuhörer und eine Erzählsituation, indem er einerseits der eigenen Situation ausweicht, andererseits aber sie sich bewußt macht. Warum diese seltsame Doppelstrategie? Die Begründung findet sich in zwei Einschüben des Erzählers: nachdem sie »Brugg oder Baden« (S. 361) passiert haben, kommentiert er: »Das sind keine epischen Distanzen« (S. 361). Und zuvor, nachdem der Reisende erzählt hat, daß das Beil Natascha spalten wollte: »Das sagt man nicht in einem Speisewagen, auch nicht in einem Abteil, nachdem ein Herr zugestiegen ist, der kaum Gutentag sagt und seine Zeitung lesen möchte« (S. 358). Dieses zwingt dazu, auszuweichen in einen fiktiven Kontext, jenes prägt die narrative Form: wo keine »epischen Distanzen« zur Verfugung stehen, muß gerafft werden. Und dieser Raffung verdankt sich >Glück< als das Thema des Textes. Nachdem der Reisende mit »>das war alles, Fjodor Iwanowitsch: Glück«< (S. 363) geschlossen hat, stellt er gleichgültig fest, daß sie schon Altstetten passiert haben: »es wird langsam Zeit, den Mantel herunterzuholen; und als er sich umsieht, w o sein Mantel sich befinde, scheint es ihn zu verwundern, daß Fjodor Iwanowitsch gegenüber sitzt« (S. 363f.). Der selbst konstruierte Angeredete ist plötzlich da, er heißt Podsnyschew, er hat auch auf der vorletzten Station Tee aufgebrüht: nicht nur der Zuhörer, auch der selbst provozierte Kontext ist Realität geworden. Im selben Maße tritt der tatsächliche Kontext zurück: der Reisende verhält sich, »als habe er den Kondukteur nicht gehört, der in jedes Abteil sagt: Zürich Hauptbahnhof, alles aussteigen« (S. 364). Podsnyschew hat ihn aufgefordert zu erzählen: »Väterchen, warum erzählst du nicht deine ganze Geschichte, deine wirkliche Geschichte, wenn du doch siehst, daß jemand zuhört?« (S. 364). War das bisher Erzählte nicht die »wirkliche Geschichte«? Wohl kaum, denn es lebte von der Fokussierung auf das Glück; Glück war Beginn und Ende. Es liegt eine ähnliche Technik vor wie im Illustriertenbericht: Mit der Interpretation als casus Fortunae ist nichts von der Wirklichkeit eingefangen, der Bezug zwischen Textwelt und realer Welt entzieht sich völlig der Beurteilung. >Glück< 189

Joachim

Theisen

ist hier ganz deutlich als narrative Strategie eingesetzt; w o sie verwendet wird, beeinflußt sie allerdings nicht nur die Textwelt, sondern vor allem deren narrative Verarbeitung. Wenn Z u h ö r e r und Kontext, die der Reisende sich p r o voziert hat, in bestimmter Weise Wirklichkeit g e w o r d e n sind und der reale Kontext — A n k u n f t i m Züricher H a u p t b a h n h o f — ausgeschaltet ist, ist n u n Platz für »epische Distanzen«: >Wenn ich erzählen soll, muß ich alles von Anfang an erzählen. Ich muß erzählen, wo ich geboren bin und wer mich erzogen hat, wer meine Freunde gewesen sind, was ich gelernt habe und alles, was zu meiner armseligen Geschichte geführt hat—< (S. 364). Von diesem Wechsel der Erzählsituation aus blende ich noch einmal zurück auf das >DecameronIdiotRogoschinSchicksalsbericht< der Illustrierten ist von dieser Position aus organisiert: Nicht die Akteure handeln, sondern sie sind nach d e m Willen des Erzählers Funktionen einer übergeordneten Instanz, die als Fortuna auszumachen war. Die beiden Prinzen im >Kaufmann von Venedig< — und nicht nur sie — unterstellen ihr Handeln selbst dem W i r k e n Fortunas und konstituieren diese damit erst; indem Bassanio aber die Verantwortung für sein Handeln ü b e r n i m m t , bricht er Fortunas Macht. Boccaccio k o m p o n i e r t das >Decameron< über das F o r t u n a - R a d und löst folgerichtig in der ersten Novelle des zehnten Tages Fortuna als narrative Strategie auf; als interpretative Strategie bleibt sie erhalten, hat sich allerdings hinfort zu verantworten vor der magnificenzia des Individuums. Die Problematisierung der Position Fortunas i m

190

Fortuna als narratives

Problem

>Fortunatus< geschieht auf ganz andere Weise: Sie wird fur die Narration fruchtbar gemacht, indem ihr ein Akteur zugewiesen wird, der dadurch aus dem Kreis der (normalen) Akteure heraustritt. Ähnlich besetzt Thomas Mann die Position Fortunas mit einem menschlichen Akteur: dem Künstler. Die narrative Strategie, die von Fortuna vorgegeben ist, wird damit verlagert auf die Künstlerproblematik. Max Frisch schließlich konturiert Fortuna von der Narration selbst aus: Sie bildet den attraktiven, handlichen Ausgangspunkt des Erzählens, ganz im Sinne des >SchicksalsberichtsReichtum, Ehren und dergleichen stehen unter meiner BotmäßigkeitWir drehen das Rad in kreisendem Schwunge< — im narrativen Text hingegen gibt der Erzähler die Geschwindigkeit vor, und >ihr großes Schauspiel< kann er ohne weiteres zu seinem eigenen machen. Fortuna ist dem Regiment des Erzählers anvertraut, und so muß sie den Sitten dieses Herrn gehorchen. 86

86

Vgl. Boethius (Anm. 4), S. 80-83.

191

JOERG O . FICHTE

Von der Historie zur Tragödie: Macht und Ohnmacht des Schicksals über Troilus und Cressida

I. Im Rahmen der Fragestellung dieses Tagungsbandes soll hier der Versuch unternommen werden, die Schicksalsthematik bzw. -problematik in der Gestaltung der Troilus-und-Cressida-Episode, ursprünglich ein Ausschnitt aus einer überwiegend fiktionalen Trojageschichte, in verschiedenen Bearbeitungen darzustellen. Natürlich ist die Frage nach dem Einfluß des Schicksals auf die beiden Protagonisten nur ein Aspekt unter vielen, der deshalb nicht völlig isoliert betrachtet werden kann;1 trotzdem scheint gerade die Macht des Schicksals in dieser Dreiecksgeschichte von Liebe und Verrat vor dem Hintergrund der Wirren des trojanischen Krieges, die Autoren in Europa ein halbes Jahrtausend faszinierte, das Geschick der beiden Liebenden besonders stark beeinflußt zu haben. Maßgeblich für die Rolle des Schicksals ist zunächst einmal die Gattung oder der literarische Typus, in dem die Geschichte erscheint, d.h. Historiographie, Antikenroman als Ausdruck persönlicher Erfahrung, Antikenroman in der Form einer >tragedyeRoman de Troie< ein —,2 so findet sich der Kern in Dares' >De Excidio Troiae HistoriaEphemeridos Belli Troiani Libri< zusammen mit der >De Excidio Troiae Historia< Benoît als Vorlage diente. Beide Autoren erzählen den Trojanerkrieg als >Augenzeugen< ohne Rückgriff auf das Einwirken der Götter, das Homers Epen ihren fatalistischen Zug gibt. Es werden vor allem die >Fakten< erzählt, d.h., es erfolgt eine chronologische Darstellung der Ereignisse, die zum Krieg fuhren, der Schlachten, die geschlagen werden, der Einnahme Trojas und des Geschicks der griechischen Heerführer auf dem Rückweg oder zu Hause. Es entsteht der Eindruck eines geordneten Ablaufs, der fast völlig durch die Akteure bestimmt wird. Das Einwirken einer höheren Schicksalsmacht ist nicht erkennbar, wenngleich natürlich die Geschichte selbst aufgrund der feststehenden Überlieferung nicht mehr beliebig erzählbar ist. Der Rahmen bleibt vorgegeben; das historische Geschehen innerhalb dieses Rahmens jedoch wird durch menschliche Entscheidungen bzw. Fehlentscheidungen bestimmt. Dadurch erhält die Handlung ihre eigene Logik - eine Fremdbestimmung der Charaktere durch Schicksalsmächte, denen man nicht entkommen kann, fehlt. Nur Priamus sieht sich bei Dictys als Opfer der Götter, da er, um einer Weissagung zu entgehen, seinen Sohn Alexander aussetzen ließ. Dieser überlebte jedoch und wurde somit zur Ursache für Trojas Untergang, wie das Orakel es prophezeit hatte. 4 Im Gegensatz zur christlichen Geschichte, die durch ihren heilsgeschichtlichen Charakter als Gottes Fügung bestimmt ist - man denke an die Kirchengeschichtsschreibung eines Eusebius und deren Übertragung auf unterschiedli2

Nach einer ersten Synopse der Geschichte in der dem Prolog folgenden Zusammenfassung des Werks und der Vorstellung von Diomedes (v. 5211-24), Briseida (v. 5275-88) und Troilus (v. 5393-446) innerhalb des Personenkatalogs beginnt die Troilus-und-Briseida-Handlung mit Kalchas' Verlassen der Stadt (v. 5817-927). Es folgen der erste Kampf zwischen Troilus und Diomedes (v. 10725-805), der zweite Kampf (v. 11281-94), der Austausch (v. 13065-120), der Abschied der Liebenden (v. 13261-866), der dritte Kampf (v. 14268-385), Diomedes' Liebeskrankheit (v. 15001-186), der vierte Kampf (v. 15617-58), der fünfte Kampf, der zu Briseidas Hinwendung zu Diomedes führt (v. 20057-118; 20193-340), und Troilus' Verurteilung von Briseida (v. 20066-82). Alle Angaben beziehen sich auf den R o m a n de Troie, hg.v. Leopold Constans, Paris 1904-12.

3

Daretis Phrygii De Excidio Troiae Historia, hg.v. Ferdinand Münster, Leipzig 1873, S. 15,16,17 (Kap. XII u. XIII) und S. 37 (Kap. X X X I ) . Dictys Cretensis, Ephemeridos Belli Troiani Libri, hg.v. Werner Eisenhut, Leipzig 1973, S. 79 (Buch 111,26,14-30).

4

193

Joerg O. Fichte

che Nationalgeschichten durch Jordanes, Gregor von Tours und Paulus Diaconus — entwickelt sich diese pagane Geschichte bei Dictys und Dares frei von jeglichem providentiellen Einfluß. In dieser Form hätte sie von Guido delle Colonne rezipiert werden können, dessen >Historia Destructionis Troiae< eine Rehistorisierung des Antikenromans von Benoît unter Einbeziehung von Dares und Dictys ist, die er als seine Gewährsmänner ausgibt. 5 Im Gegensatz zu diesen Autoren betont Guido jedoch die Rolle des Fatums, das die Geschichte Trojas von Anfang an beherrsche — noch lange vor den Ereignissen, die zum zehnjährigen Krieg um die Stadt führen. 6 Das Fatum kontrolliert die TrojaGeschichte - die Menschen haben keinen Einfluß auf ihr Geschick, so daß sie in einer solchen von undurchsichtigen Schicksalsmächten bestimmten Welt nicht einmal schuldig werden können, da ihnen die freie Entscheidungsmöglichkeit und somit die Verantwortung für ihre Handlungen fehlt. In der >Historia Destructionis Troiae< wird Fatum zu einer Art Metapher fur Guidos Auffassung, daß sich alles zum Schlechten wendet. Es gibt keine Möglichkeit zur positiven Entscheidung, sondern die Troja-Geschichte ist ein Beispiel dafür, daß die Menschen ihr eigenes Unglück und ihre eigene Zerstörung betreiben. 7 Aus dieser Perspektive gesehen wird die Zeit zum Fluch, da der Mensch unentrinnbar in die Geschichte verstrickt ist. Er kann sich nicht befreien, sondern er bewirkt seinen eigenen Untergang. Weder durch Ausrichtung auf ein ordnendes Prinzip noch durch Hinwendung zu einer metaphysischen Realität noch durch Hoffnung auf Nachruhm nach dem Tod kann der Mensch der ihn umklammernden Zeitlichkeit entrinnen. Als Werkzeug seines eigenen Untergangs ist der Mensch auch Gefangener der Zeit, eine Auffassung, der man später bei Shakespeare wieder begegnen wird, in dessen Drama >Troilus and Cressida< die Zeit an die Stelle des Fatums tritt. 5

G u i d o de C o l u m n i s , Historia Destructionis Troiae, hg.v. Nathaniel E d w a r d Green, C a m b r i d g e , Mass. 1936, S. 4.

6

Ebd., S. 11 (Buch II). Die L a n d u n g der Griechen unter Jasons F ü h r u n g i m phrygischen H a f e n Simeonta u n d ihre Ausweisung durch den trojanischen K ö n i g L a u m e d o n beschwört bereits schicksalhaft den U n t e r g a n g der Stadt herauf: Sed inuidia fatorum sériés, que Semper quiete uiuentibus est molesta, ab inopinatis insidiis sine causa inimicitiarum et scandali causas traxit. Propter quas tante cladis diffusa lues orbem terrarum infecerit vt tot reges et principes bellicosa nece succumberent, et tanta et talis ciuitas qualis extitit magna Troya uersa fuisset in cinerem, tot uiduatis mulieribus uiris suis, orbatis parentibus

tot puellis et demum iugo seruitutis adductis. Diese Schicksalhaftigkeit w i r d später i m

Z u s a m m e n h a n g m i t der E n t f u h r u n g Exonias, L a u m e d o n s Tochter, noch einmal betont: Nam inuidia fatorum series, felicium

inimica, summa in summitate manere diutius Semper negat, et vt status

hominum deducat habilius in ruinam, per insensibiles et cecas insidias potentiores immittit et inducit ad casum, a friuola

et inopinabili materia causam trahens ne prouisione prehabita per cautele subsidium

ualent se tueri. Sub hoc igitur inuolucro fatis ingerentibus, prima Troya destructa, talis nobilissimi regis Laumedontis infelicissimus finis est. S. 43 (Buch V). 7

Vgl. C . David Benson, T h e History of T r o y in Middle English Literature, C a m b r i d g e 1980, S. 2 6 - 2 7 .

194

Von der Historie zur Tragödie

Guidos Geschichtspessimismus wirkt sich auch auf seine Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Troilus und Briseida aus, die er drastisch gekürzt von Benoît übernommen hat. Negative Züge, die dort erscheinen, wie z.B. die Charakterisierung von Briseida und Diomedes, werden intensiviert. Das gilt vor allem für den Antifeminismus, der bei Benoît zwar vorhanden ist, aber in milder Form. 8 Bei Guido, der die Liebesgeschichte stark reduziert, steht die antifeministische Polemik im Mittelpunkt - Briseidas Verrat ist typisch für die Verhaltensweise von Frauen. Ausnahmen, wie Benoît sie erwähnt, gibt es nicht mehr. Wo Benoît sich um eine Motivierung von Briseidas Handlungen bemüht, die sich aus der historischen Situation erklären läßt, spart Guido diesen Aspekt weitgehend aus. Briseida ist ein Symbol weiblicher Unbeständigkeit. Die Unbeständigkeit aber ist ein Laster, wie es dreimal von Guido betont wird. 9 Somit hat Briseida exemplarischen Charakter, denn sie illustriert mit ihrem Verrat einmal mehr den negativen Verlauf der Trojageschichte, die ihren unglücklichen Anfang in Peleus' Absicht hat, seinen Neffen Jason als möglichen Anwärter auf die Herrschaft in Thessalien zu eliminieren. Briseidas Verrat ist ein Glied in einer langen Kette von moralischen Verfehlungen, die Guidos Ansicht nach unaufhaltsam zum Untergang Trojas führen. Folglich geht auch die Liebesbeziehung von Troilus und Briseida im Strudel des fatalistischen Geschichtsablaufs unter, den Guido in seinem Werk nachzuzeichnen versucht.

II. Mit Boccaccios >Filostrato< verlassen wir die Trojageschichte und wenden uns der Liebesgeschichte von Troiolo und Criseida zu, die der Autor in der Form einer pseudo-autobiographischen Romanze präsentiert; wir wechseln aus der Historizität in die Fiktionalität, d.h. in einen erzählerischen R a u m , in dem von nun an jeder Bearbeiter der Episode, bis hin zu Shakespeare, ihr eine eigene Gestaltung und Realität geben wird. Den Rahmen, der sowohl aus Prolog und Buch IX besteht, bildet die Ansprache des Autors an Filomena, der das Werk dediziert ist und in Buch IX übersandt wird. Das Schicksal des trojanischen Prinzen Troiolo ist als Abbild des Leides des Autors gedacht: N é altro più atto nella mente mi venne a tale bisogno, che il valoroso giovanne Troiolo, figliuolo di Priamo nobilissimo re di Troia, alla cui vita, in quanto per amore e per lontanaza della sua donna fu dolorosa, se fede alcuna alle antiche lettere si 8

9

Siehe dazu auch Robert Mayer Lumiansky, The Story of Troilus and Briseida according to Benoit and Guido, Speculum 29 (1954), S. 727-733. Historia Destructions Troiae (Anm. 5), S. 164 (Buch XIX), S. 166 (Buch XIX) und S. 198 (Buch XXVI).

195

Joerg O.

Fichte

può dare, poi che Criseida da lui sommamente amata fu al suo padre Calcàs renduta, è stata la mia similissima dopo la vostra partita. 10

Eingeführt werden auch die beiden Schicksalsmächte, Liebe und Fortuna, die dem Autor feindlich gegenüberzustehen scheinen, wenngleich natürlich eindeutig ist, daß Liebe und Fortuna in Boccaccios Fall keine eigenständigen Schicksalsmächte sind, sondern der Kontrolle Filomenas unterliegen. Das zeigt sich bereits im ersten Anruf um poetischen Beistand, der an die Dame Boccaccios gerichtet ist und nicht an Jupiter, Apollo oder die Musen. Filomena ist die eigentliche Instanz, der alle anderen beigeordnet sind, da sowohl die Wahl des Stoffes als auch dessen Zueignung durch Filomena bestimmt wird. Wenn Boccaccio also eine Episode aus der Trojanergeschichte von Benoit bzw. von Guido auswählt, dann agiert Filomena von Anfang an als Kontrollinstanz. Aus diesem Grunde sind die häufigen Verweise auf die Schicksalsmächte Liebe und Fortuna in ein personales System eingebunden. Sie gehen ihrer Eigenständigkeit verlustig, die sie bis zu einem gewissen Grad in der historischen Gestaltung des Trojastoffes hatten. Die Gestaltung der Historie nimmt deshalb bei Boccaccio auch nur eine untergeordnete Stelle ein. Zwar wird Kalchas' Verlassen von Troja wie in den vorhergehenden historiographischen Texten mit dem Hinweis auf den Fall der Stadt erklärt, dann aber entwickelt sich die Liebesgeschichte zwischen den beiden Protagonisten zunächst ohne weitere Verweise auf den historischen Kontext. Erst als Ereignisse eintreten, die den Austausch von Antenor und Criseida zur Folge haben, wird die Historie wieder bemüht. Innerhalb dieses fast selbständig zu nennenden Ausschnitts aus dem Trojanerkrieg spielt die Geschichte als prädestinierendes Element bzw. als selbst von außen bestimmtes Ereignis nur eine untergeordnete Rolle. Folglich kann Boccaccio das Vakuum eigenständig füllen. Dies geschieht vor allem durch das häufige Zitieren von Schicksalsmächten durch Troiolo und Criseida, Schicksalsmächten, die jedoch keinem hierarchisch gegliederten System zuzuordnen sind. Die Liebe z.B. erscheint unter drei Aspekten: als Planet Venus, als antike Liebesgöttin und als ordnendes Prinzip innerhalb des göttlichen Kosmos. 11 Gerade im Hinblick auf den dritten Aspekt werden Boethianische Vorstellungen angesprochen, die aber sonst mit Ausnahme von >FilostratoFilostratoFilostrato< aufgreift, stellt er die Troilus-Geschichte unter folgendes Motto: The double sorwe of Troilus to teilen, / That was the kyng Priamus sone of Troye, / In louynge how his auentures feilen / ffro w o to wele, and after out of ioie, / My purpos is, er that I part fro ye. (1,1—5)15

Im Gegensatz zum Ich-Erzähler bei Boccaccio nimmt der Erzähler bei Chaucer eine neutrale Haltung ein: Er ist nicht persönlich in die Geschichte involviert, die er aus einer distanzierten Haltung heraus erzählt. 16 Außerdem liegt die Geschichte, die er seinem Publikum präsentiert, in der Vergangenheit, d.h., die Ereignisse sind geschehen und somit unabänderlich. Bereits zu Anfang wissen wir, daß Troilus' Leid seiner unglücklichen Liebe zu Criseyde entspringt, die ihn schließlich verlassen wird. Der allwissende Erzähler gibt somit eine Vorschau auf die Ereignisse, die er gleich einem Historiographen kennt, der die Geschichte auch nur so berichten kann, wie sie sich ereignet hat. Natürlich ist dies eine Pose, wie es das Zitieren eines fiktiven Gewährsmannes Lollius ist, den Chaucer als seine Quelle angibt. Weder Boccaccio, der Autor seiner unmittelbaren Vorlage, wird erwähnt noch Benoit oder Guido, bei denen Chaucer ebenfalls Anleihen macht. Auf Dictys und Dares sowie Homer wird zwar verwiesen, aber als historische Quellen für den Trojanerkrieg, den der Autor nicht erzählen will. 17 Dadurch ergibt sich die eigenartige Situation, daß der 15

Alle Zitate sind folgender Ausgabe entnommen: Geoffrey Chaucer, Troilus & Criseyde. A n e w edition o f >The B o o k o f TroilusBoecewo< f r o m the beginning, a laughter which he, and Troilus from his celestial vantage point, would bestow on all those w h o take a sentimental attitude toward such love as that between Troilus and Criseyde.« 27 26 27

Curry (Anm. 19), S. 165. Robertson (Anm. 18), S. 36.

202

Von der Historie zur

Tragödie

Unter diesem Aspekt gesehen wird die Troilus-Geschichte zu einem weiteren Beispiel des ursprünglichen Sündenfalls mit der Besetzung von Troilus als Adam, Criseyde als Eva und Pandarus als »a priest o f Satan«. 28 Das Ganze sei ein Lehrstück darüber, wie der Mensch, der sich Fortuna anvertraut, zuerst in ihren falschen Himmel erhoben werde, um danach in ihre tropologische Hölle zu fahren. 29 Zugegebenermaßen nehmen die beiden hier zitierten Kritiker extreme P o sitionen ein, es sind aber Positionen, zwischen denen man zu einer angemessenen Beurteilung des Werks finden muß, das in seiner Vielschichtigkeit gar keine eindeutige Interpretation zuläßt. Im Gegensatz zu Boccaccios Version, in der die Charakterisierung von Troiolo und Criseida noch stark durch die Quellen, Benoit und Guido, geprägt ist, versucht Chaucer, die beiden Charaktere aus ihrer historischen Determiniertheit zu lösen und als Individuen zu gestalten, und er tut dies mit dem Anspruch, seinen Gewährsleuten zu folgen und historische Fakten zu präsentieren. Historie, die bei Boccaccio zum ersten Mal in den Hintergrund getreten war, wird also wieder zur normierenden Instanz erhoben, ohne jedoch einen profunden Einfluß auf Chaucers Gestaltung der Handlung und seiner Charaktere zu hinterlassen. Vielmehr eröffnet dieses B e kenntnis zur historischen Wahrheit Chaucer die Möglichkeit, sehr komplexe Persönlichkeiten zu schaffen, die er in einem Spannungsfeld von lust, Eigenwillen, und noblesse, altruistischem Edelmut, interagieren läßt. Sowohl Troilus als auch Criseyde sind verantwortungsvolle Charaktere, die sich der Tragweite ihrer Handlungen immer bewußt sind und deshalb an den Konfliktsituationen um so mehr leiden. Es ist Chaucers großes Verdienst, die Figur der Cressida vom Symbol für weibliche Untreue in eine Persönlichkeit verwandelt zu haben, die Troilus ebenbürtig ist, denn nur durch eine Besetzung mit gleichwertigen Partnern wirkt das Liebes- und Leidensdrama der beiden überzeugend. Wenn ihre Geschichte tragisch endet, dann beruht dies nicht auf historischen Gegebenheiten, sondern wird durch die Charaktereigenschaften der beiden bedingt. O b w o h l sich beide durch alle nur erdenklichen Tugenden auszeichnen, die ein R i t t e r und seine D a m e besitzen sollten, unterscheiden sie sich in einer Hinsicht grundsätzlich: Troilus ist Trewe as stiel in ech condicioun (V,831), während Criseyde slydynge of corage (V,825) ist. Troilus kann nicht aufhören, Criseyde zu lieben, da er von Natur aus nicht fähig ist, sich zu wandeln. Criseyde hingegen braucht Sicherheit — ihre ganze Existenz ist auf Sicherheit ausgerichtet —, und folglich muß sie sich immer den veränderten Verhältnissen anpassen, auch wenn sie weiß, daß sie Troilus damit zur Verzweiflung und in den Tod treibt. Mit dem chaungynge of Criseyde (IV,231), ihrer 28 29

Ebd., S. 17. Ebd., S. 13.

203

Joerg O. Fichte

Übergabe, die Chaucer sechsmal (IV,146, 158, 553, 665, 878) kurz hintereinander erwähnt, ändert sich nicht n u r ihr Status, sondern auch ihre Haltung Troilus gegenüber. In einer wandelbaren Welt, in der nichts v o n Dauer ist, wird Criseyde gleichsam zu einer Chiffre für Fortuna, denn wie Fortuna ffrom Troilus she gan hire brighte face j Awey to writhe and tok of hym non heede, j But caste hym clene out of [. . .] grace, j And on hire whiel she sette vp Diomede (IV,8—11). U n d indem sich der unwandelbare Troilus der wandelbaren Criseyda/Fortuna verschreibt, ist sein U n t e r g a n g besiegelt. Verständnislos, w a r u m Fortuna ihn jetzt in Stich läßt, fragt er Fortuna/Criseyde: Have I the nought honoured al my lyue, / As thow wel woost, aboue the goddes alle? / Whi wiltow me fro ioie thus depriuel (IV,267—69) Fatalistisch räsoniert er über den Lauf der Welt u n d über die Unmöglichkeit, eine freie Entscheidung in einem deterministisch geprägten U n i v e r s u m zu treffen. N u r nach seinem Tod eröffnet ihm der Dichter eine andere Perspektive, vielleicht als Lohn für sein Leiden auf dieser Welt. Im Epilog wird das Weltbild zurechtgerückt — Fortuna verschwindet aus dem Gesichtsfeld, und Troilus lacht über das Leid, das sie ihm zugefügt hat. Diese Lösung ist angesichts des philosophischen Überbaus, dessen sich Chaucer bei seiner Gestaltung der Troilus-und-Cressida-Geschichte bedient hat, sicherlich gerechtfertigt. Die tragedye ist zur comedye geworden. Was aus irdischer Perspektive gesehen bleibt, ist das Mitgefühl f ü r den weinenden Troilus, dessen Leiden uns durch Chaucer unendlich viel näher gebracht wird als dessen kosmisches Gelächter.

IV. Auch nach Chaucer bleibt die Geschichte von Troilus u n d Cressida entweder als selbständige Episode (Henryson) oder eingebettet in den Trojanerkrieg (Lydgate, Caxton, Peele) ein beliebtes T h e m a in der englischen Literatur. Als Shakespeare, wahrscheinlich 1602 (erster Eintrag im Stationer's Register v o m 7. Februar 1603), den Stoff für die B ü h n e bearbeitete (etwas früher gelangten das a n o n y m e D r a m a >troye< [1596] u n d >troylless & creseda< v o n Dekker u n d Chettle [1599], beide nicht überliefert, zur A u f f u h r u n g ) , konnte er auf eine reiche Tradition zurückgreifen. Als Vorlagen dienten ihm Lydgates >The H y storye Sege and Dystruccyon of Troye< (letzter Druck 1555), Caxtons >The Recuyell of the Historyes of Troye< unter dem neuen Titel >The Auncient Historie, of the destruction of Troy< (letzter Druck im 16. Jahrhundert 1596), Chapmans >Seauen Bookes of the Iliades of Homere< (1598) und wahrscheinlich auch Chaucer, dessen Werk 1598 von Speght neu ediert w o r d e n war. 3 0 Es 30

Siehe v.a. A n n T h o m p s o n , Shakespeare's Chaucer, Liverpool 1978, und E. Talbot Donaldson, T h e Swan at the Well. Shakespeare R e a d i n g Chaucer, N e w Häven/London 1985.

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Von der Historie zur

Tragödie

gibt zahlreiche Untersuchungen zu Shakespeares Quellen für >Troilus and Cressida^ in denen angesichts der radikalen Umgestaltung der überlieferten Geschichte nur punktuelle Übereinstimmungen festgestellt werden konnten. 31 Diese radikale Umgestaltung drückt sich bereits in der Schwierigkeit aus, das Stück einer der traditionellen Gattungen zuzuordnen. In der zweiten Fassung der Quarto-Edition von 1609 nämlich wird >The Famous Historie o f Troylus and Cresseid< als Komödie bezeichnet, während das Drama in der Folio-Edition von 1623 den Tragödien zugeordnet ist, Nomenklaturen und Zuordnungen, die von der Shakespeare-Forschung immer wieder hinterfragt worden sind. Man hat das Stück als satirische Komödie bzw. komödienhafte Satire, 32 eine neue Gattung nach dem Verbot von Satire und Epigramm im Jahre 1599, oder später einfach als »problem play« im Sinne von Ibsen und Strindberg bezeichnet. 33 Dieser terminologische Wirrwarr spielt keine unerhebliche R o l l e bei der Beurteilung des Stücks, das eine Neuorientierung in Shakespeares dramatischer Gestaltung darstellt. O f t wird das Spiel als Shakespeares einzigartiger Versuch gedeutet, mit den dramatischen Konventionen seiner Zeit zu brechen, ein Umstand, der vielleicht für die überaus geringe Anzahl von Aufführungen verantwortlich ist, die das Drama zu Shakespeares Zeit und auch später erfahren hat; in England wurde das Stück zwischen der Restaurationsepoche und 1905 nicht mehr aufgeführt. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren unseres Jahrhunderts erscheint das Stück auf den Theaterspielplänen, weil es eine völlig sinnentleerte und chaotische Welt darzustellen scheint. Man hat das Spiel als negative Utopie 3 4 und Vorläufer des absurden Theaters bezeichnet. 35 Bereits diese Nomenklatur und Zuordnung deuten daraufhin, daß das Stück den metaphysischen R a h m e n zu sprengen droht, der für Chaucers Bearbeitung

31

John Strong Percy Tatlock, The Siege of Troy in Elizabethan Literature, Especially in Shakespeare and Heywood, Publications of the Modern Language Association 30 (1915), S. 673—770; Hyder E. Rollins, The Troilus-Cressida Story from Chaucer to Shakespeare, Publications of the Modern Language Association 32 (1917), S. 383—429; Eustace Mandeville Wetenhall Tillyard, Shakespeare's Problem Plays, London 1950, S. 38-52; Robert K. Presson, Shakespeare's Troilus and Cressida & The Legends of Troy, Madison 1953; Robert Kimbrough, Shakespeare's Troilus & Cressida and Its Setting, Cambridge, Mass. 1964; The Arden Shakespeare, Troilus and Cressida, hg.v. Kenneth Palmer, London/New York 1982, S. 17-38 (alle Zitate nach dieser Ausgabe).

32

Oscar James Campbell, Comicall Satyre and Shakespeare's Troilus and Cressida, San Marino, Cal. 1938.

33

Vgl. dazu die Übersicht in: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nach-

34

R o l f P. Lessenich, Shakespeare's Troilus and Cressida: the Vision of Decadence, Studia Neo-

welt, hg.v. Ina Schaben, Stuttgart 2 1978, S. 495-499. philologica 49 (1977), S. 221-232, hier S. 230. 35 J.

L. Styan, The Dark Comedy: The Development of Modern Comic Tragedy, Cambridge

2 1968,

S. 20-22.

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der Troilus-Geschichte so b e s t i m m e n d w a r . U n d doch bleibt dieser R a h m e n auch bei Shakespeare als B e z u g s p u n k t erhalten. In seinem g r o ß e n M o n o l o g in I,iii bezieht sich Ulysses auf ein Weltbild, in d e m der M a k r o k o s m o s des U n i versums u n d der M i k r o k o s m o s der menschlichen Gesellschaft aufs engste m i t einander v e r k n ü p f t sind, denn degree, d.h. A b s t u f u n g oder R a n g , verbindet alles miteinander in hierarchischer O r d n u n g . Hier w i r d die Vorstellung e v o ziert, daß alles w o h l g e o r d n e t u n d auf einander ausgerichtet ist: The heavens themselves, the plattete, and this centre, / Observe degree, priority, and place, / Insisture, course, proportion, season, form, / Office, and custom, in all line of order. (85—88). U n d in der M i t t e dieses U n i v e r s u m s t h r o n t der glorious planet Sol (89), der einen gütigen Einfluß auf die Planeten ausübt. W e n n n u n aber der Garant dieser O r d n u n g nicht respektiert w i r d , d.h. die Planeten ihre w o h l g e o r d n e t e B a h n verlassen, dann bricht C h a o s im U n i v e r s u m aus, genauso w i e dies in der Welt geschieht, w e n n die Menschen i h r e m eigenen Verlangen folgen u n d nicht m e h r ihren Herrschern gehorchen. D a n n löst sich die g o t t g e w o l l t e O r d n u n g auf. D e n H i n t e r g r u n d der in diesem M o n o l o g beschriebenen Situation bildet u.a. auch die Vorstellung des Boethius (Boece,IV,pr.6,421—77), daß alles hierarchisch geordnet sei u n d daß die M a c h t des Fatums, die Gottes P r o v i d e n z e n t springt, in ihrer A u s p r ä g u n g als allgemeines Schicksal das U n i v e r s u m u n d die Erde positiv beeinflusse. 36 W i r d diese providentielle O r d n u n g durch M a c h t a n m a ß u n g , eigenmächtigen Willen u n d Verlangen (appetite) gefährdet oder gar zerstört, herrschen U n o r d n u n g u n d Chaos. D a n n ist j e d e r sein eigener H e r r u n d tut, was er will. Dies aber sei die Misere, in der sich das griechische H e e r befinde. Troja habe sich nicht a u f g r u n d seiner eigenen Stärke halten k ö n n e n , sondern profitiere n u r v o n der Zerstrittenheit der Griechen. Ulysses weist mit dieser Analyse die s o w o h l v o n A g a m e m n o n selbst als auch v o n N e s t o r a u f g e stellte B e h a u p t u n g zurück, daß die sieben langen Kriegsjahre eine durch das Schicksal auferlegte P r ü f u n g seien, da die Besten durch Schicksalsschläge gehärtet w ü r d e n . A g a m e m n o n u n d N e s t o r vertreten eine eher stoische H a l t u n g — v o n E i g e n v e r a n t w o r t u n g u n d v o n eigenem Verschulden sprechen sie nicht. E i g e n v e r a n t w o r t u n g aber g e g e n ü b e r b l i n d e m Schicksalsglauben, auch w e n n er ins Positive g e w e n d e t ist, f o r d e r t Ulysses. N u r eine R ü c k k e h r zur n a t u r g e g e benen O r d n u n g scheint ein Heilmittel gegen die Misere zu sein, in der sich das griechische H e e r befindet; dies ist in Ulysses' Analyse impliziert, der j e d o c h seinen allgemein gehaltenen A u s f ü h r u n g e n keine positiven Ratschläge, sondern das Negativbeispiel v o n Achilles folgen läßt, der offensichtlich gegen die O r d n u n g verstößt, i n d e m er sich v o m K a m p f fernhält u n d seinen Feldherrn 36

Siehe auch Appendix IV >Degree< in: T h e Arden Shakespeare, Troilus and Cressida (Anm. 31), S. 321f.

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Von der Historie zur Tragödie

durch Patroclus in einer Art Schmierenkomödie darstellen läßt. In Achilles konkretisieren sich alle Arten von Ordnungslosigkeit, die von militärischem U n g e h o r s a m bis zur sexuellen Perversion reichen. U n d durch sein Beispiel werden andere wie Patroclus, Ajax u n d Thersites korrumpiert. Auf der trojanischen Seite gibt es ebenfalls eine Schlüsselszene: die Beratung von Priamus mit seinen Söhnen in II,iii. Hier machen sich Hektor und Helenus gegenüber ihren Brüdern, Troilus u n d Paris, z u m Anwalt für das N a t u r - und Völkerrecht, demzufolge der R a u b Helenas in keiner Weise zu rechtfertigen sei. Ihre A r g u m e n t e basieren auf den traditionellen moralphilosophischen Vorstellungen von Gerechtigkeit (justitia), Klugheit (prudentia), Tapferkeit (fortitudo) u n d M ä ß i g u n g (temperantia) und richten sich gegen den leidenschaftlichen Skeptizismus von Paris u n d Troilus, die sämtliche Werte hinterfragen u n d Leidenschaft z u m obersten Handlungsprinzip erheben. 3 7 Vor allem Hektor verurteilt die v o n ihnen emphatisch gepriesenen impulsiven Willensentscheidungen und besteht auf rationaler Entscheidung. Auch hier setzt sich folglich der v o n Ulysses thematisierte Konflikt von O r d n u n g und Chaos fort, der in Form einer dialektischen Debatte von Shakespeare gestaltet wird. D e r Disput wird j ä h durch Kassandras Auftritt unterbrochen, die wild gestikulierend und schreiend in die Versammlung eindringt. Ihre Warnungen, daß Helenas weiterer Verbleib unweigerlich z u m U n t e r g a n g der Stadt fuhren müsse, bleiben unbeachtet; Troilus erklärt sie einfach zur Verrückten (brain-sick raptures), und Hektor schließt sich trotz seines besseren Wissens u n d seiner A r g u m e n t e für die Z u rückgabe Helenas der M e i n u n g seiner Brüder an, denn er hat bereits vor der Beratung den Tapfersten der Griechen zu einem Z w e i k a m p f herausgefordert. Die Beratung der trojanischen Führer verdeutlicht ihre Unfähigkeit, trotz besseren Wissens die richtigen Entscheidungen zu treffen. U m die Tragweite dieses Versagens deutlich werden zu lassen, findet die Debatte vor dem H i n tergrund normierend wirkender Kardinaltugenden statt. O b w o h l den trojanischen Prinzen das Verhängnisvolle ihrer Fehlentscheidung eindringlich vor Augen geführt wird, mißachten sie die Warnungen und tun dies in Hektors Fall sogar wider besseres Wissen. Beide Beratungsszenen, die im Lager der Griechen u n d die im Palast des Priamus, ergänzen sich folglich, denn sie bestimmen den Verlauf des Dramas. Die Führer der Griechen handeln eigenmächtig, ohne Rücksicht auf die hierarchische O r d n u n g . Als w e n n the planets j In evil mixture to disorder wander (I,iii,94—95) u n d dadurch jegliche natürliche Stabilität erschüttern, verfolgen die griechischen Heerführer ihren eigenwilligen Kurs, der das Lager in verschiedene Parteien spaltet und gemeinsames 37

Siehe auch A p p e n d i x III >Aristotle, Ethics< in: T h e A r d e n Shakespeare, Troilus and Cressida ( A n m . 31), S. 31 If., u n d R o l f Soellner, P r u d e n c e and the Price of Helen. T h e D e b a t e of the Trojans in Troilus and Cressida, Shakespeare Q u a r t e r l y 20 (1969), S. 255—263.

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Handeln unmöglich macht. Jeder Plan scheitert, auch der des machiavellistischen Ulysses, der nicht nur als kluger R e d n e r mit philosophischem Anstrich, sondern auch als politischer Drahtzieher hinter den Kulissen agierend, Achilles durch Kränkung seiner Eitelkeit wieder ins Kampfgeschehen zu ziehen versucht. In einer Welt ohne O r d n u n g , d.h. ohne den gültigen Einfluß göttlicher Providenz, regiert der Zufall. Hier gibt es keine Fügung mehr, sondern die Handlungen der menschlichen Akteure verselbständigen sich und geschehen ohne Berücksichtigung allgemeinverbindlicher ethischer N o r m e n . Das Lager der Griechen wird z u m P a n o p t i k u m von Sonderlingen wie d e m hohlköpfigen, bramarbasierenden Kraftprotz Ajax, dem zur Homophilie neigenden D a n d y Patroclus, dem selbstverliebten, anarchischen Achilles, d e m weinerlich reminiszierenden alten Nestor, dem lasziven Schürzenjäger Diomedes u n d dem skrupellosen Realpolitiker Ulysses, die sich der Aufsicht und der Kontrolle des fuhrungsschwachen A g a m e m n o n und seines gehörnten Bruders Menelaus dauernd entziehen. Das erbärmliche Schauspiel wird von bissigen K o m mentaren des maliziösen Querulanten Thersites begleitet, den viele Kritiker als Stimme von auktorialem R a n g betrachtet haben. 3 8 Aber auch die Welt der Trojaner sieht nicht viel besser aus. Wenngleich der moralische Verfall sich dort hinter hochtrabenden Idealen zu verbergen scheint, klaffen vollmundige R h e torik und törichte Aktion weit auseinander. In einer Welt, in der es keine Ritterlichkeit mehr gibt, sind Tugenden wie Ehre, G r o ß m u t , Treue, Liebe und Wahrhaftigkeit fehl am Platz, vor allem w e n n sie von denen eingefordert werden, die Schuld an der Misere haben. W i e es im Prolog nach einer Abfolge bombastischer Latinismen auf den P u n k t gebracht wird: Die Griechen haben sich eingeschifft, To ransack Troy, within whose strong immures / The ravish'd Helen, Menelaus' queen j With wanton Paris sleeps — and that's the quarrel ( 8 — 1 0 ) . 3 9 Doch dieses Vergehen versuchen die trojanischen Prinzen i m m e r wieder mit dem Hinweis auf die edlen Motive, die Paris zu der Tat veranlaßt hätten, zu beschönigen. Es gibt nur einen Ausweg: die R ü c k g a b e Helenas. Geschieht dies nicht, ist Troja z u m U n t e r g a n g v e r d a m m t , wie Kassandra in der Ratsszene prophezeit. Natürlich ist das Schicksal der Stadt besiegelt - an dieser historisch vorgegebenen Tatsache kann Shakespeare nichts ändern, er kann aber zeigen, 38

Stellvertretend soll hier die M e i n u n g v o n Ellias Schwartz, Tonal Equivocation and the M e a n i n g of Troilus and Cressida, Studies in Philology 69 (1972), S. 304-319, hier S. 317, zitiert w e r d e n : »The extraordinary thing a b o u t Thersites is that the vision he expresses is simultaneously revolting and true.«

39

T . M c A l i n d o n , Language, Style and M e a n i n g in Troilus and Cressida, Publications of the M o dern Language Association 84 (1969), S. 29-43, verweist darauf, daß das sprachliche D e k o r u m des D r a m a s i m m e r wieder b e w u ß t verletzt w i r d . Vgl. auch Lawrence D . Green, >We'll Dress H i m U p In Voicesc T h e R h e t o r i c of Disjunction in Troilus and Cressida, Q u a r t e r l y J o u r n a l of Speech 70 (1984), S. 23-40.

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Von der Historie

zur

Tragödie

daß die Trojaner selbst den U n t e r g a n g ihrer Stadt verschulden. U n d w e n n Hektor sich schließlich allen Warnungen z u m Trotz in einer A n w a n d l u n g v o n falschem Ehrgefühl in den K a m p f stürzt und von Achilles' Kriegern auf A n weisung ihres Führers kaltblütig ermordet wird, ist er selbst an seinem Tode schuld. Auch hier spielt Schicksalhaftes keine Rolle. Ebenso wie die Griechen sind die Trojaner für ihr Schicksal verantwortlich. Auch sie erschaffen sich eine Welt, in der moralische Werte höchstens in parodierter Form erscheinen. U m diesen Eindruck zu verstärken, läßt Shakespeare Helena, Cressida u n d Pandarus in K o n f o r m i t ä t mit ihrem literarischen Image auftreten. Diese Figuren sind i m 16. Jahrhundert zu Stereotypen von Lüsternheit, Treulosigkeit und Kuppelei geworden. 4 0 Shakespeare bedient sich dieses Vorwissens beim Publikum, u m Pandarus und Cressida in selbstpersiflierender Weise darzustellen, in die auch der naivromantische Troilus einbezogen wird (III,iii, 178—215). Vor dem Hintergrund dieser schmutzigen u n d verderbten Welt kann die Liebesgeschichte von Troilus und Cressida sich nur in den gleichen Bahnen bewegen. Shakespeare tut alles, Cressida als eine der daughters of the game (IV,v,63) erscheinen zu lassen, wie Ulysses sie nennt, nachdem sie sich in einer ekelerregenden Szene allen griechischen Heerführern z u m K u ß darbieten m u ß te. Liebesvollzug, Auslieferung und Verrat geschehen innerhalb von 24 Stunden, o b w o h l Shakespeare nicht an die klassische Einheit der Zeit gebunden war. Er drängt alle Ereignisse in einen Tag zusammen und läßt darüberhinaus noch Troilus z u m freiwilligen voyeuristischen Zeugen von Cressidas U n t r e u e werden, der nach d e m Schauspiel ungläubig fragt: Was Cressid here?, w o r a u f der ihn begleitende Ulysses genüßlich entgegnet: I cannot conjure, Trojan. (V,ii,124). D e m Wahnsinn nahe geht der Betrogene davon. Auch die unglückliche Liebesbeziehung ist nicht schicksalhaft begründet, sondern liegt in der N a t u r der Charaktere. Deshalb wird Fortuna auch nur einmal kurz von Troilus für sein Leid verantwortlich gemacht, der dann aber sofort Treueschwüre von Cressida verlangt. Z w a r kann die Auslieferung Cressidas an ihren Vater Kalchas nicht verhindert werden - und Troilus versucht dies auch gar nicht —, was aber nicht bedeutet, daß sie damit zur U n t r e u e gegenüber Troilus verpflichtet wäre, ein Verhalten, das Troilus antizipiert, w e n n er Cressida viermal beschwört, ihm treu zu bleiben. Der gleich darauf folgende Verrat ist auch nicht weiter begründet: Er findet einfach statt, weil Cressida Diomedes' Ansinnen zustimmt. D a ß dies quasi in Troilus' Anwesenheit geschieht, beruht wiederum auf seiner Entscheidung, da er sich selber von 40

Siehe Gretchen Mieszkowski, The Reputation of Criseyde 1155-1500, Transactions of the C o n necticut Academy of Arts and Sciences 43 (1971), S. 71-153, und C. David Benson, True Troilus and False Cressid: The Descent from Tragedy, in: Piero Boitani (Hg.), The European Tragedy of Troilus, Oxford 1989, S. 153-170.

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Cressidas Treue bzw. U n t r e u e überzeugen will. K u r z u m , alle Personen handeln in relativer Willensfreiheit und sind deshalb fiir ihre Entscheidungen verantwortlich. Sie stehen in keiner Konfliktsituation mit sich oder der Welt u n d entbehren deshalb jeglicher Tragik. In den großen Tragödien >HamletKing LearMacbeth< wird der Auflösung der sinntragenden Strukturen dieser Welt auf irgendeine Weise entgegengewirkt, so daß trotz des Scheiterns der P r o t agonisten etwas Positives bleibt. In >Troilus and Cressida< bleibt nur die alles verschlingende Zeit, gegen die sich keiner behaupten kann. Sie tritt an die Stelle der traditionellen Schicksalsmächte, die als Symbole göttlicher Fügung in einer entwerteten Welt keinen Platz m e h r haben. Im Gegensatz zu Chaucers Troilus, der in die überirdische und überzeitliche R e g i o n der achten Sphäre entrückt wird, von der aus er die Eitelkeit dieser Welt erkennt, bleiben alle Charaktere in Shakespeares D r a m a im Zeitlichen verhaftet, ohne Aussicht auf Transzendenz und ohne Sympathie von Seiten des Autors oder des Zuschauers. Es bleibt nichts als das Gefühl der Leere und Teilnahmslosigkeit. A m Ende wird der Zuschauer Zeuge, daß in der w e r t - u n d sinnentleerten Welt, die Shakespeare zeigt, der Meuchelmörder Achilles und die moralisch skrupellose Cressida hoch auf dem R a d e der Fortuna sitzen (wenn dieses Bild überhaupt statthaft ist), während der edle Hektor erschlagen hinter dem K a m p f w a g e n seines Mörders über das Schlachtfeld geschleppt wird u n d Troilus, nachdem er Pandarus verflucht hat, den Griechen wie ein Wahnsinniger nachjagt. D e n Epilog spricht besagter Pandarus, der sich an seinesgleichen wendet u n d alle Kuppler auffordert, Mitleid mit i h m zu haben.

V. Im Z u g e seiner Shakespeare-Adaptationen bearbeitete D r y d e n 1679 >Troilus and Cressida< und gab dem Stück den Untertitel >Truth Found Too LateThe G r o u n d s of C r i ticism in TragedyThe Tragedies of the Last Age Consider'd< (1678) als auch dessen Ubersetzung von Rapins >Reflections on Aristotle's Treatise of Poesie« (1674) gelesen und den in diesen beiden Schriften vorherrschenden Ansatz zur Interpretation von Aristoteles in seinen Essay >The Grounds of Criticisms in Tragedy< inkorporiert. 44 The Works of J. Dryden. Truth Found Too Late (Anm. 41), S. 229, Z.26-29. 45 Ebd., S. 231, Z.27-32. 44 Ebd., S. 235, Z.16-36.

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Achilles nicht geduldig und Odysseus nicht aufbrausend zeigen, da Homer die beiden Helden nicht so beschrieben hat. Aus diesen Vorüberlegungen geht eindeutig hervor, daß Dryden bemüht sein wird, Shakespeares sowohl in struktureller als auch in ethischer Hinsicht amorphes Drama — that heap of Rubbish, under which many excellent thoughts lay wholly bury'd47 - den klassizistischen Regeln zu unterwerfen. Tragödie, um es noch einmal zu betonen, bedeutet die exemplarische Darstellung des Falls der Mächtigen aufgrund von Schicksalsschlägen. Und dieser Fall ist als Prüfung für die Helden gedacht, die angesichts der widrigen Umstände erst zu ihrer moralischen Größe finden. Da Dryden aber Troilus und Cressida als tragische Figuren betrachtet, deren Schicksal im Mittelpunkt des Dramas steht, muß die Handlungsfuhrung und die Charakterisierung der beiden so angelegt sein, daß sie das Wesen der Tragödie exemplifizieren. Außerdem müssen die anderen Handlungsträger, d.h. vor allem die griechischen und trojanischen Heerführer, im wesentlichen positive Charaktere sein. Damit erfolgt eine Zweiteilung in potentiell noble Figuren von hoher sozialer Stellung, die zumeist in Versform reden, und in fragwürdige Gestalten niederer gesellschaftlicher Herkunft, die in Prosa sprechen. Pandarus und Thersites gehören zur zweiten Gruppe, die sich nun anders als bei Shakespeare radikal von der ersten unterscheidet. Bei Dryden wird Thersites vom deformed and scurrilous Greek zur komischen Figur, die unter keinen Umständen als Sprachrohr des Dichters verstanden werden kann.48 Die anderen dubiosen Charaktere wie Paris und Helena werden weggelassen, während die Rolle der heroischen Frau Andromache gestärkt wird. Unter dem Einfluß von Drydens ordnender Hand verwandelt sich Shakespeares chaotische Welt in eine Welt, in der ethische Normen nicht nur klar erkennbar sind, sondern auch als solche fungieren und den Ablauf des Geschehens bestimmen. Damit aber wird das an sich Schicksalhafte (der Vorgang, der zu Cressidas Auslieferung fuhrt) in ein klar umrissenes Spannungsfeld gestellt und zum Anlaß zur Reflexion über angemessenes Verhalten angesichts der widrigen äußeren Umstände. Thematisiert wird folglich nicht der Einfluß des Schicksals auf den Menschen, sondern sein Verhalten im Unglück. Bei Dryden steuert die Handlung ganz bewußt auf Kristallisationspunkte zu, wo den Beteiligten die ethisch richtigen Entscheidungen abverlangt werden. Scheindebatten, wie die im Lager der Griechen und in der Ratsversammlung der Trojaner, werden radikal gekürzt. Ulysses' großer Monolog (62 Verse), der sich mit der hierarchischen Ordnung des Kosmos, der Welt und der Gesellschaft befaßt, wird bei Dryden auf 19 Verse reduziert, in denen lediglich die fehlende Ordnung im griechischen Heerlager beklagt wird - der kosmische 47 48

Ebd., S. 226, Z.17-19. Ebd., S. 550.

212

Von der Historie zur

Tragödie

Bezug bleibt unerwähnt. Im T h r o n r a t der Trojaner wird die Debatte über N a t u r - u n d Völkerrecht auf ein M i n i m u m reduziert und n u r zwischen Hektor, Aeneas u n d Troilus ausgetragen. Auch fehlt der Auftritt Kassandras, deren W a r n u n g e n die U n v e r n u n f t der Trojaner besonders unterstreicht. W o Shakespeare diese beiden Schlüsselszenen dazu benutzt zu zeigen, daß Chaos entsteht, w e n n appetite, an universal wolf (I,iii,121) regiert, versucht D r y d e n gar nicht erst, den Eindruck entstehen zu lassen, als könne die Welt nicht verbessert werden. Natürlich erkennt er das negative Potential, da er aber auf einen kathartischen Effekt hinarbeitet, müssen Lösungsmöglichkeiten bleiben, d.h., die Charaktere müssen eine Chance zur Läuterung b e k o m m e n . Deshalb baut er zwei Szenen ein, die genau diese Funktion haben. W ä h r e n d Shakespeares Troilus den Beschluß des Staatsrats über den Austausch von Antenor u n d Cressida widerspruchslos zur Kenntnis n i m m t , d.h., ohne dadurch in eine Konfliktsituation zu geraten, folgt bei D r y d e n eine längere Debatte zwischen Troilus und H e k t o r über den Vorrang des Staatswohls vor d e m des Individuums. Troilus macht sich z u m leidenschaftlichen Anwalt des Privatinteresses, während H e k t o r das G e m e i n w o h l betont. Es k o m m t zum Streit zwischen den beiden Brüdern, der dann aber beigelegt wird, als beide ihre Standpunkte modifizieren. H e k t o r erkennt das ganze Ausmaß von Troilus' Liebe zu Cressida u n d will daraufhin den Staatsrat u m s t i m m e n , während Troilus sich bereiterklärt, aus Gründen der Staatsräson auf Cressida zu verzichten. Hier geschieht n u n genau das, was in der Debatte über die Auslieferung Helenas nicht geschehen ist: Das G e m e i n w o h l wird als höheres Gut anerkannt, und der Verzicht hat eine kathartische W i r k u n g . Troilus beweist seine m o r a lische G r ö ß e in der Krise und wird somit z u m Garanten der O r d n u n g , die durch Paris' R a u b der Helena zerstört w o r d e n war. Der zweite Eingriff betrifft die Charakterisierung v o n Cressida, die D r y d e n zur tragischen Heldin umgestaltet, d.h., er n i m m t ihr die Frivolität, die Lüsternheit u n d den W i t z der Shakespeareschen Cressida. Er verfällt auf den Trick der gespielten Untreue. U m die Protektion von Diomedes nicht zu verlieren, rät Kalchas seiner Tochter, so zu tun, als ob sie ihm gewogen sei. Die von Shakespeare mit leichten Modifizierungen ü b e r n o m m e n e >Verratsszene< (alles, was Cressida wirklich belasten könnte, ist getilgt), wird also durch dieses Vorwissen modifiziert. N u r der ahnungslose Troilus sieht sich verraten. Wenn es daraufhin zu wilden verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihm und D i o medes während des Kampfes k o m m t - übrigens auch eine H i n z u f u g u n g D r y dens - , dann wissen wir, daß dieser Streit noch der Lösung bedarf. Dramatisch wirft sich Cressida zwischen die beiden K ä m p f e r u n d ersticht sich, als sie Troilus nicht von ihrer Unschuld überzeugen kann. D e r zu Hilfe eilende Diomedes wird schnöde zurückgewiesen: 213

Joerg O. Fichte

Stand off, and touch me not, thou Traitor Diomede, / But you, my only Troilus, come near: / Trust me, the wound, which I have givin this breast, / Is far less painful, then the wound you gave it. / Oh, can you yet believe that, I am true? 49

Die Heldin ist durch ihren Freitod gerechtfertigt — Der Verräter Diomedes stirbt durch Troilus' Hand, der daraufhin von Achilles erschlagen wird. Held und Heldin haben ihr Leben in selbstaufopfernder Weise beendet und sind zu tragischen Figuren im Sinne der klassizistischen Tragödientheorie geworden. Damit der kathartische Effekt auch allen deutlich wird, läßt Dryden Ulysses das abschließende Urteil sprechen, in einem Monolog, der an den Anfangsmonolog anknüpft: While publique g o o d was urg'd for private ends, / And those thought Patriots, who disturb'd it most; / Then, like the headstrong horses o f the Sun, / That light, which shou'd have cheer'd the World, consum'd it: / N o w peacefull order has resum'd the reynes, / Old time looks young, and Nature seemed renew'd. / Then, since from homebred Factions ruine springs, / Let Subjects learn obedience to their Kings. 5 0

Ganz abgesehen von der politischen Aktualität, die in Ulysses' Aussage enthalten ist, veranschaulicht diese Peroratio Drydens zugrundeliegendes dramatisches Konzept. 5 1 Eine unbefriedigende Ausgangssituation wird nach krisenhafter Zuspitzung der Handlung, die im Tod der beiden Hauptakteure gipfelt, durch dieses Opfer bereinigt. Die Zeit, die bei Shakespeare an die Stelle der traditionellen Schicksalsmächte tritt, indem sie unbarmherzig alles zunichte macht, wird von Dryden positiv gesehen: Sie wird zum regenerierenden Prinzip erhoben. 52 Dryden glaubt an Fortschritt, einen Fortschritt, der gerade auch durch die Tragödie erzielt werden kann. Die Liebesbeziehung in Drydens Version wird unter dem Vorzeichen der klassizistischen Tragödientheorie nobilitiert. Damit stellt er die Tradition auf den Kopf, nach der Cressida im 15. und 16. Jahrhundert zu einem negativen Stereotyp geworden war. So bemerkt denn auch der Herausgeber der ersten Gesamtausgabe von Drydens Dramen zu Ende des letzten Jahrhunderts nicht ganz zu Unrecht: but the preceding age, during which the infidelity o f Cressida was proverbially current, could as little have endured a catastrophe turning upon the discovery o f her innocence, as one which should have exhibited Helen chaste, or Hector a coward. In Dryden's time, the prejudice against this unfortunate female was probably forgotten, as her history had become less popular. There appears, however, something too nice

49

E b d . , S. 351, v. 2 6 2 - 6 6 .

50

E b d . , S. 353, v. 3 1 9 - 2 6 .

51

D i e W a r n u n g ist eindeutig an Shaftesbury, K ö n i g Charles' politischen G e g n e r , gerichtet.

52

Vgl. Achsah G u i b b o r y , D r y d e n ' s V i e w s o f History, Philological Q u a r t e r l y 52 (1973), S. 198.

214

Von der Historie

zur

Tragödie

and fastidious in the critical rule, which exacts that the hero and heroine of the drama shall be models of virtuous perfection.53 Indem er Cressida zur tragischen Heldin macht, verstößt Dryden gegen die von ihm selbst geforderte Treue zur überlieferten Darstellung von historischen Figuren. Einem so belesenen und kritischen Autor kann das nicht verborgen geblieben sein. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob diese Tradition so eindeutig war. Dryden als Kenner und Verehrer nicht nur Shakespeares, sondern auch Chaucers war sicherlich mit einer vielschichtigen Cressida-Figur vertraut, deren Charakter weitaus nuancierter war als der der sprichwörtlichen Cressida. Die Lektüre von Chaucer, in dessen Werk Criseyde als äußerst komplexe Figur erscheint, mag ihn darin bestärkt haben, den Charakter den klassizistischen Erfordernissen gemäß ins Positive zu wenden und ihre Untreue gegenüber Troilus nur als Scheinuntreue darzustellen. Letztlich jedoch zwingt ihn die Regelpoetik zu dieser Umdeutung (Cressida kann nicht zur gleichen Zeit tugendhaft und untreu sein), damit die gewünschte Katharsis stattfinden kann. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte, die Chaucer zuletzt aus einer überirdischen Perspektive beantwortet und Shakespeare unbeantwortet läßt, muß Dryden regelkonform beantworten. Für ihn wird die klassizistische Tragödientheorie zur normierenden Instanz — sie tritt an die Stelle von Chaucers göttlicher Providenz und Shakespeares alles verschlingender Zeit. In ihrer Funktion als normierende Instanz ist sie aber auch eine Art von poetischer Schicksalsmacht, die das Geschick der beiden Protagonisten, Troilus und Cressida, bestimmt. Die poetische Form bedingt sowohl die Charakterisierung der beiden als auch den auf Katharsis ausgerichteten Handlungsverlauf. Indem Dryden sich für eine Umgestaltung der Shakespeareschen Vorlage in der Form einer Tragödie entschied, legte er sich auf eine bestimmte Präsentation der Troilus-und-Cressida-Geschichte fest, die zu der eigenwilligen Uminterpretierung der Persönlichkeit der Protagonistin führen mußte, einer Interpretation, die zugleich einen Schlußpunkt setzt. Die ursprünglich offene Form der Geschichte — ein nicht unwesentlicher formaler Aspekt, der immer wieder zur Neubearbeitung des Stoffes und zum Weiterdichten herausforderte — wird durch Drydens Tragödienversion geschlossen. U n d so bedeutet der Tod der beiden Protagonisten mehr als nur das Ende der Tragödie, er bedeutet auch das Ende der Troilus-und-Cressida-Geschichte in der englischen Literatur für die nachfolgenden zweihundertfünfzig Jahre. Wahrscheinlich unbeabsichtigt dreht Dryden somit das R a d der Fortuna, da er nicht nur seine beiden Helden von der Höhe des Glücks in die Tiefe des Todes stürzt, sondern mit ihnen auch ihre Geschichte beendet, die Autoren und Rezipienten jahrhundertelang fasziniert hatte. " T h e Dramatic Works o f j o h n Dryden, hg.v. Sir Walter Scott, Edinburgh 1882, Bd.6, S. 243.

215

J A N - D I R K MÜLLER

Die Fortuna des Fortunatus Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen

Der Held des ersten deutschen Prosaromans, für den man keine älteren Vorlagen ausmachen kann, trägt einen sprechenden Namen: Fortunatus. Das bedeutet Glückskind, und als Glückskind erweist sich der Besitzer zweier Zauberdinge, die ihm unermeßlichen Reichtum und Unabhängigkeit von den Begrenzungen des Raums verleihen, in der Tat. Mit seinen Söhnen, deren Geschichte im zweiten Teil des Romans erzählt wird, eine Geschichte, wie dieses Glück wieder zerrinnt, ist das anders. Ihre Namen sprechen nicht mehr, sie klingen nicht einmal vertraut wie andere Namen der Histori (Andrean, Lüpoldus, Cassandra, Agripina), sondern seltsam exotisch: Ampedo und Andolosia. Mir ist keine befriedigende Deutung dieser Namen bekannt, und wenn es sie gäbe, dann hätte sie dem Leser des Textes vermutlich nicht viel genützt, denn er wäre sicherlich nicht auf sie verfallen.1 Kündigt der sprechende Name Fortunatus eine exemplarische Geschichte an, deren Hauptfigur Repräsentant eines Allgemeinen ist: die Geschichte >eines< Fortunatus eben, so zeigen die ihre Bedeutung verschließenden Namen Ampedo und Andolosia an, daß das Schicksal in der folgenden Generation opak wird, denn wie es einem Am1

Z u recht hat H a n n e s Kästner auf den Hintersinn vieler N a m e n i m >Fortunatus< hingewiesen (Fortunatus — P e r e g r i n a t o r m u n d i . W e l t e r f a h r u n g u n d Selbsterkenntnis i m ersten deutschen P r o s a r o m a n der N e u z e i t , F r e i b u r g 1990, S. 202). Seine D e u t u n g der N a m e n A m p e d o u n d Andolosia lassen aber Fragen offen: » A m p e d o (lat. a m b - / e d e r e ) ist derjenige, der alles aufzehrt (vgl. Plaut. M e r c . 239, 241), u n d Andolosia (lat. an-/dolosus) ist der ganz u n d gar m i t B e t r u g u n d List b e f a ß t e H e l d (Val. Flacc. 2, 205). A n g a b e n nach D u c a n g e - H e n s c h e l : Glossarium m e d i a e et i n f i m a e latinitatis, Paris 1840ff.«. Das Plautuszitat bezieht sich auf einen T r a u m des D e m i p h o v o n einer g e f r ä ß i g e n Ziege; es lautet: Dicit capram [. ..]/ Mihi

¡¡lud uideri mirum,

suai uxoris dotem ambedisse. oppido. /

ut una illaec capra / uxoris simiai dotem ambederit (T. M a c c i Plauti C o -

moediae, rec. Wallace M . Lindsay, O x f o r d 1965, >Mercator< II, 1, 239—241). M i r scheint die Lautgestalt des N a m e n s e r k l ä r u n g s b e d ü r f t i g ( A b l e i t u n g s m o r p h e m ? Tenuis?); auch w ä r e die Anspielung bis zur U n k e n n t l i c h k e i t chiffriert, z u m a l die unterstellte B e d e u t u n g w e n i g m i t der C h a r a k t e r i s i e r u n g der R o m a n f i g u r zu tun hat. Ähnliche B e d e n k e n ergeben sich b e i m zweiten N a m e n , sprachliche ( A b l e i t u n g s m o r p h e m ? Vorsilbe?) w i e inhaltliche: Andolosia

gebraucht

z w a r , u m die v e r l o r e n e n Z a u b e r m i t t e l w i e d e r z u g e w i n n e n , B e t r u g u n d List, ist aber in seiner aufschneiderischen N a i v i t ä t keineswegs »ganz u n d gar« d a v o n b e s t i m m t . - D e n Text des->Fortunatus< zitiere ich m i t einfacher Seitenangabe nach: R o m a n e des 15. u n d 16. J a h r h u n d e r t s . N a c h den Erstdrucken m i t sämtlichen Holzschnitten, h g . v . J a n - D i r k M ü l l e r , F r a n k f u r t a . M . 1990 (Bibliothek der F r ü h e n N e u z e i t 1).

216

Die Fortuna des Fortunatas

pedo, einem Andolosia ergeht, das ist durch keinen Hinweis des Namens erschließbar. Das Namensspiel weist auf ein ästhetisches Problem: Ungeachtet ihres allegorischen Titels ist die Histori von >Fortunatus< nicht allegorisch, und zwar von Anfang an nicht. Das Fortschreiten vom sprechenden Namen zum rätselhaften Namen nimmt eine Grundkonstellation des Textes auf, der allegorische Strukturen aufruft, um sie zu destruieren. Die Transparenz der Allegorie wird nämlich nicht nur im zweiten Teil verweigert, sondern sie stellt sich auch in der Geschichte des Titelhelden nicht her. Ohne Zweifel indizieren Namen, R e quisiten, Situationen, Personal allegorische Bedeutungen, aber ebenso zweifellos werden diese nicht eingelöst. 2 Sie werden nämlich bis an die Grenze der Unkenntlichkeit verwischt, indem sie als Elemente eines Geschehensnexus erscheinen, der von keinen übergreifenden sinngebenden Instanzen gesteuert wird, dessen Logik vielmehr rein immanent verstanden werden will. Das Bild von Fortuna, das die Histori entwirft, läßt einen exemplarischen Verlauf, zentriert um die allegorische Bedeutung der Titelfigur, nicht mehr zu. 3 Dieses neue Bild ersetzt nämlich nicht einfach ein altes, wie dies der bekannte ikonographische Wechsel vom Glücksrad zur Kugel in der Renaissancekunst anzuzeigen scheint,4 sondern es hat eine völlig andere Auffassung von Welt zur

2

Jan-Dirk Müller, Transformation allegorischer Strukturen im frühen Prosa-Roman, in: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, hg.v. Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach, Tübingen 1992, S. 265-284, hier S. 279-281. A u f den latent allegorischen Charakter mittelalterlicher Dichtung (der sie allerdings nicht vollständig determiniert) hat Walter Haug verwiesen (Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik, in: Philologie als Kulturwissenschaft - Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters [FS Karl Stackmann], hg.v. Ludger Grenzmann [u.a.], Göttingen 1987, S. 21-37, hier S. 26).

3

Kästner (Anm. 1) deutet den ganzen R o m a n als Negativexempel, das auf die bösen Folgen mangelnder Erziehung und Bildung aufmerksam machen wolle (S. 182—187 u.ö.). Mir scheint eine solche Deutung durch den Text nicht gestützt, wenn man nicht die verstreuten und meist wenig spezifischen Bemerkungen des Erzählers aus ihrem Zusammenhang löst und ihnen B e trachtungen aus zeitgenössischen Moraltraktaten - als quasi objektiv gültige historische Interpretamente — unterlegt. Auch eine exemplarische Deutung des zweiten Teils, wie sie Walter Raitz versucht hat, ist schwer zu halten, denn sie muß die Andolosia-Gestalt moralisierend vereindeutigen (Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine literatursoziologische Analyse des >FortunatusFortunatus< weiß man das nicht mehr.

R o t a fortunae Das Wort glük selbst, und seine Ableitungen k o m m e n im Text verhältnismäßig selten vor, wie überhaupt, anders als es die anhaltende Forschungsdiskussion u m die Alternative Weisheit oder Reichtum 6 suggeriert, programmatische Aussagen, die mehr als Situationskommentare sind, fehlen. Trotzdem, der >Fortunatus< ist voller Fortuna-Symbole, und die Histori insgesamt ist nach dem herkömmlichen Bild fortunabedingten Wechsels entworfen. D e r Verlauf der Erzählhandlung insgesamt scheint nämlich einen Kreis zu beschreiben: Mit einer Abwärtsbewegung, dem ökonomischen R u i n des Vaters, setzt die Vita des Fortunatus ein. D i e A b w ä r t s b e w e g u n g setzt sich in den ersten Stationen seiner Geschichte fort: Zuerst ist die körperliche Unversehrtheit des Helden, dann sein Leben bedroht, schließlich findet er sich arm, hungrig und von allen verlassen, scheinbar eine leichte Beute wilder Tiere in einem Wald auf dem Tiefpunkt. D a n n aber setzt der Aufstieg ein: Aus tiefem Schlaf erwachend, sieht er die J u n g f r a u des Glücks vor sich, er darf zwischen verschiedenen Glücksgütern wählen, 7 wählt das Glückssäckel, das ihm stets genug Geld, paseines Motivs, Stuttgart 1970, S. 19 und die Abb. 2-4, 6 - 9 , 13, 20. H o w a r d Rollin Patch, T h e Goddess Fortuna in Mediaeval Literature, N e w York 1967 [1. Aufl. 1927]. Michael Schilling, R o t a Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters, H a m b u r g e r C o l l o q u i u m 1973, hg.v. Wolfgang Harms u. L. Peter Johnson, Berlin 1975, S. 293-313, hier S. 295f.: Fortuna-Darstellungen sind im Mittelalter verhältnismäßig selten. 5

In der zeitgenössischen Ikonographie beliebt ist das Glücksrad, das durch eine aus dem H i m m e l hervorkommende Hand gedreht wird (Brant, Maximilian); vgl. Dören (Anm. 4), S. 104f.; zur christlichen Deutung der Fortuna auch Kirchner (Anm. 4), S. 105-117.

6

Z u ihrem Traditionszusammenhang und ihrer radikalen Umbesetzung im >FortunatusHeld< des R o m a n s nicht eine Einzelfigur, sondern das >Haus< ist. M i t d e m Drei-Generationen-Schema k n ü p f t der >Fortunatus< an ein zentrales Erzählmodell mittelalterlicher Epik an, freilich so, daß er, wie noch zu zeigen ist, die Voraussetzungen dieses Modells in einer traditionalen Gesellschaft destruiert. Dieses >Haus< nämlich bleibt nur scheinbar mit sich identisch. Die auf altem H e r k o m m e n beruhende Ehre des Geschlechts ist gleich zu Beginn schon zerstört und wird auch nicht wieder hergestellt. Wenn Fortunatus das Elternhaus verläßt, setzt etwas ganz Neues ein. Die Stellung, die er erwirbt, ist nicht ererbt, sondern etwas von ihm selbst Gemachtes, und sie überbietet nicht einfach die Stellung des Vaters, sondern setzt von vornherein deren Z e r störung voraus. Auch hier gilt, daß die rota Fortunae als Interpretament der Erzählung zwar aufgerufen, doch zugleich verabschiedet wird. Was im Großen eine undeutliche Kreisbewegung beschreibt, setzt sich aus einer Vielzahl kleinerer und durchaus nicht einsinniger B e w e g u n g e n zusammen: Wenn Fortunatus auf der Suche nach dem Glück das Haus der Eltern verläßt, dann scheint er dieses Glück tatsächlich als Günstling eines Grafen gefunden zu haben, doch sogleich m u ß er wieder den Absturz fürchten, kann sich nur durch Flucht einer Intrige entziehen. In London vertut er zunächst sein Geld wie der Vater und gerät noch tiefer ins Elend als dieser, doch wird mit der Anstellung als Kaufmannsgehilfe der Sturz zunächst aufgefangen, bis das ganze Haus des Kaufmanns unverschuldet plötzlich zusammenbricht u n d der Held nur einem Zufall sein nacktes Leben verdankt. Die R e t t u n g vor der Hinrichtung bedeutet neue Todesgefahr, die Todesgefahr schlägt in die Chance m ä r 8

So mag zwar die Gestalt der Fortuna im Verlauf des Geschehens verschwinden; die FortunaStruktur des Geschehens insgesamt aber — bis hinein in die Syntax - ist trotzdem unübersehbar (anders Kästner [Anm. 1], S. 137 A n m . 45).

220

Die Fortuna

des

Fortunatos

chenhaften Glücks um. Sie bringt ihn jedoch in neue Gefahr; er entgeht nicht der Gefangenschaft, muß Folter, Raub, Hungerstod, Exekution furchten. U n d so geht es weiter, bei Fortunatus selbst wie bei seinen Söhnen. Das Auf und Ab des Geschehens fugt sich keiner geometrischen Figur. Vorherrschend ist der Eindruck von Regellosigkeit. Eine Kreisbewegung könnte noch exemplarisch gedeutet werden (Was hilft der märchenhafte Aufstieg mittels Geld, wenn am Ende alles wie am Anfang ist?), die vielen kleinen Peripetien lassen das nicht mehr zu. Jederzeit ist der Absturz möglich, aber es eröffnen sich auch immer wieder unerhörte Chancen des Gelingens. Das Geschehen erweist sich als prinzipiell offen. Die vielen kleinen Glücks Wechsel erlauben keine totale Sinndeutung. Sie provozieren eher Fragen wie: Was wäre geschehen, wenn? Wenn z.B. Fortunatus schon der Gerichtsgewalt des Waldgrafen zum Opfer gefallen, in der Höhle des heiligen Patricius verlorengegangen, für den versehentlichen Totschlag des Wirtes in Konstantinopel bestraft, von den Schiffen des Sultans gestellt worden wäre? Das Glück will es anders, so wie es dann umgekehrt später in der Geschichte Andolosias alle Wendungen zum Besseren konterkariert. Man muß sich einmal die haarsträubenden Zufälle vergegenwärtigen, die die Handlung in Gang halten: Zufällig sind dem Grafen von Flandern einige Knechte gestorben, wenn Fortunatus einen Dienst sucht. Zufällig gerät er ins Haus eines Mannes, der dank einer Verkettung von Zufällen mit all seinen Dienern hingerichtet wird. Zufällig erschlägt sein Reisebegleiter einen diebischen wirt. Oder im zweiten Teil: Zufällig mißlingt Andolosias klug eingefädelter Racheplan, denn zufällig spricht das ahnungslose Opfer Agripina die Worte aus, die sie vor ihm retten und mit Hilfe des Wunschhütleins aus der Wüste zurück nach Hause bringen. Besonders die verbrecherische Laufbahn des Glücksritters Andrean ändert ihre Richtung bei jeder Chance, die er ergreifen zu können glaubt: Da er sein Vermögen durchgebracht hat, muß er neue Einnahmequellen erschließen. Den Plan, in Florenz eine reiche Witwe zu heiraten, gibt er auf, als er auf dem Weg dorthin in Frankreich einen Boten des Königs von England in Gefangenschaft trifft und hoffen kann, ihn mit Hilfe seiner Freunde gewinnbringend auslösen zu können. Als seine Londoner Geschäftspartner zögern, geht er zum König, gibt aber seinen Plan sofort auf, wenn er bei Hof von kostbarem Schmuck erfährt. Jetzt will er den in seine Gewalt bringen. So wird er zum Mörder, doch mißlingt sein Plan, weil er den Schmuck nicht finden kann. Jetzt muß er sich vor der Strafe retten; er eilt nach Venedig, dann weiter ins heidnische Ägypten, wo man ihn nicht verfolgen kann. Zufällig wird der Leichnam des Ermordeten entdeckt. Die Strafe müssen andere leiden. Ihre Hinrichtung bringt den verlorenen Schmuck nicht zurück, zu dessen Entdeckung ein weiterer Zufall nötig ist.9 9

Gerade diese Entdeckung sollte allen Interpreten zu denken geben, die den >Fortunatus< als

221

Jan-Dirk

Müller

In dieser K e t t e u n v o r h e r s e h b a r e r W e n d u n g e n herrscht blanke W i l l k ü r , u n d ihr w i r d nirgends sub specie aeternitatis ein h ö h e r e r Sinn a b g e w o n n e n . D e r Glückswechsel tritt nicht ein, weil sich, v o n G o t t zugelassen, w i e d e r einmal das R a d gedreht hätte, sondern weil dergleichen jederzeit eintreten k a n n . Kein Schlag der F o r t u n a m u ß endgültig sein, alles ist u m k e h r b a r : so sich das glük wider zu mir kort wil ich es alles wider gelten (S. 528), sagt Andolosia als er - nicht z u m letzten M a l — w i e d e r einmal Pech gehabt hat, u n d siehe da, seine H o f f n u n g erfüllt sich, bis zur nächsten Katastrophe. In der D r e h u n g des Glücksrades w ü r d e sich letztlich doch w i e d e r eine p r o videntielle O r d n u n g offenbaren, i n d e m die falsche W a h l des Titelhelden, R e i c h t u m statt Weisheit, exemplarisch bestraft w ü r d e oder mindestens sich rächte. Aufs Ganze gesehen, liegt d e m R o m a n insofern das alte »Inversionsschema« z u g r u n d e , das hier freilich negativ besetzt ist, d.h. nicht aus einem Gleichgewicht ü b e r eine S t ö r u n g in ein neues Gleichgewicht f ü h r t , sondern aus einem defizienten Z u s t a n d ü b e r einen erfüllten w i e d e r in einen defizienten Zustand. 1 0 Dieses narrative Schema determiniert die Geschehensfolge aber nicht vollständig, d e n n die >Motivation v o n hintenMotivation v o n vornemythischen AnalogonsMotivation von hintenFortunatus< nämlich hält keinen einzigen durch. Meist ist überhaupt von keiner Instanz die R e d e , die das Geschehen lenkt. W o Gott und Glück überhaupt in Verbindung gebracht werden, bleibt es bei Floskeln wie got gab ym aber glück daz er allenthalb durch kam (S. 464: wenn Fortunatus durch das unsichere Franken zieht). Warum fällt Gott dem Erzähler ausgerechnet hier, und nicht etwa beim gefährlichen Zug durch Asien, ein?13 O b man Gott oder dem Glück die Verantwortung zuschiebt, scheint nicht nur beliebig, sondern die Entscheidung des Erzählers oder einer seiner Figuren für das eine oder andere ist manchmal sogar erkennbar falsch. So behauptet der Kaufmann Roberti, der unter der Anklage auf Beihilfe zum M o r d steht, der Mörder Andrean habe aus Notwehr gehandelt und aus glük sei er dem Angreifer zuvorgekommen; das stützt sich auf eine Schutzbehauptung des Andrean: Andrean hatte den M o r d geplant; nicht er wurde von einem Angriff überrascht, sondern überraschte selbst seinen gutgläubigen Partner. Oder: aus ihrer Perspektive zu R e c h t muß die Hofmeisterin der kranken Agripina glauben, Gott selbst habe ihr den einzig kompetenten Arzt über den Weg laufen lassen, der ihrer Herrin helfen könne (S. 542); tatsächlich hat Andolosia alles arrangiert; die Krankheit, die Verkleidung zum Arzt, das Brimborium der Heilung, und er will Agripina auch gar nicht heilen, sondern betrügen. Oder: der Gewalt, die er über sie gewinnt und rücksichtslos ausübt, hofft Agripina zu

drehung des Glücksrades als Folge falscher Wahl) wird also von Fall zu Fall in Frage gestellt. Die »kompositorische Motivation« (Strukturierung des Geschehens nach einem übergreifenden Prinzip, also als Folge spektakulärer Glückswechsel) ist so kleinteilig organisiert, daß sich der Eindruck von Regellosigkeit (Verzicht auf Komposition) ergibt. Diese scheinbare Regellosigkeit eröffnet den Spielraum »kausaler Motivation«, erzählt als je besondere Reaktion auf die rasch wechselnden, je besonderen Umstände; zur Begrifflichkeit und ihrer Begründung künftig Martinez (Anm. 10). 12

Schilling (Anm. 4), S. 296 und insgesamt Bildmaterial und -auslegung dieser Abhandlung; Kirchner (Anm. 4), S. 4 1 - 5 4 ; Dören (Anm. 4), S. 76f„ 83f., 104f„ 1 1 0 - 1 1 2 .

13

Vollends aus dem Blick gerät das Lieblingsthema von Fortuna-Traktaten der Renaissance, der Sieg der Virtus über die Fortuna; vgl. Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz 1958 (Studi italiani 1).

223

Jan-Dirk

Müller

entgehen, indem sie die fromme Hoffnung ausspricht: ich hon ain groß vertrauten zu gott [!] es komme

noch ain glückhajftige

[!] stunde / darinnen

er euer edels

hertze

bewegt zu gutigkait (S. 556); tatsächlich ist es allein Andolosia, der aus O p portunität entscheiden kann, ob es mit der Rache genug ist. Doch bedient er sich ähnlicher Mystifikationen: Mit der hylf gotes (S. 559), behauptet er, könne er Agripina an den Hof von Cypern bringen; so fragt niemand nach den Mitteln, die er tatsächlich anwendet, und nach der Herkunft seines Wissens von ihrem Aufenthaltsort. Religiös fundierte Deutungen des Weltlaufs sind keineswegs völlig aufgegeben, aber sie treten nurmehr von Fall zu Fall auf, sind oft floskelhaft, manchmal objektiv falsch, gelegentlich rein ideologisch. Versuche, die Schicksalsinstanzen aufeinander zu beziehen, gelingen immer nur okkasionell. Mit Formeln wie von vngeschicht (S. 428), die an novellistisches Erzählen erinnern, wird die überraschende Wendung als eine quasi anonyme eingeleitet. Die Welt des >Fortunatus< ist chaotisch. Die Instanzen, die in sie eingreifen, garantieren nicht ihre Ordnung, sondern steigern allenfalls Zufall und Willkür. Es gibt religiöse, aber auch rein säkulare Deutungen des Geschehens. Wenn z.B. Andolosia flucht:

verflucht

sey [. . .] die stund

stund darin ich geborn

darinn

ich kommen

bin [. . .] verflucht

ward / vnd die tag vnd stund die ich ye gelebt

sey

die

hab (S. 5 3 4 ) ,

dann ist das die astrologische Vorstellung von der Determination des Schicksals durch die (Geburts-) Stunde. Manche Formulierungen bemühen sich um einen Kompromiß; so heißt es mit der hylffgots vnd des alten mans seien Fortunatus und sein Gefährte aus der Höhle des heiligen Patricius befreit worden; tatsächlich werden sie durch ein technisches Gerät, das instrument, gerettet, das der alte Mann für Bezahlung einsetzt (S. 447). Wer will, mag dahinter noch das Wirken Gottes sehen, ähnlich wie in der Rettung der Reisegesellschaft aus Konstantinopel durch die entschlossene Initiative des Lüpoldus, der gesagt hatte: lond vns vernunfft

brauchen wie wir durch die sach kommen

der hilff gots mit leib vnd gut vnd on alle hyndernus

[. . .] So wil ich vns

von hynnen

bringen

mit

(S. 4 6 0 ) .

Freilich zieht sich der Erzähler nicht auf die Immanenz des Geschehenszusammenhangs zurück. Dem widerspricht schon der Auftritt der Jungfrau des Glücks. Sie scheint eine Personifikation der Fortuna — und so ist sie in späteren Ausgaben des Romans auch gedeutet worden. 14 Sie sagt von sich: ich byn die junckfraw

14

des glucks

/ und durch einfliessung

des himels

vnd der Sternen / vnd

der

Josef Valckx, Das Volksbuch von Fortunatus, Fabula 16 (1975), S. 91-112, hier S. 101. Ein späterer Augsburger Druck des >Fortunatus< (o. O. u. J., Ex. Universitätsbibliothek Jena) trägt auf dem Titel das Bild der nackten Göttin vor einer gebirgigen Landschaft, auf einer Kugel einher rollend, mit wehendem Haar auf der einen Seite (man muß das Glück beim Schopf fassen), hinter sich einen segelartigen, vom Wind geblähten Umhang (prospera fortuna!), in der Rechten das Wunschhütlein, in der Linken das Glückssäckel (vgl. Romane [Anm. 1], Abb. 8).

224

Die Fortuna

des

Fortunatas

platteten. So ist mir verlihen sechs tugendt / die ich fürter verleühen mag aine zwu me oder gar (S. 430). Sie kann also übermäßige Glücksgüter verteilen, ist aber weder in der Wahl der Zeit noch der Person frei, vielmehr an die Sterne gebunden. Nichts dagegen verlautet über ihr Verhältnis zu Gott. 15 Die Personifikation des Glücks gab der Titelfigur den Namen, auch wenn sie nicht Fortuna genannt wird. Sie genießt geradezu numinose Verehrung: Zum Gedenken an ihre Gabe stiftet sie eine Art von Feiertag, an dem der Held zur sexuellen Enthaltsamkeit, zur Niederlegung der Arbeit und zum Almosengeben verpflichtet ist.16 Wenn der Gedenktag (1. Juni) mit dem Tag des heiligen Fortunatus zusammenfällt, eines italienischen Heiligen, dessen Kult allerdings in Deutschland unbekannt war, 17 dann entlarvt sich die Einsetzung noch deutlicher als Parodie eines kirchlichen Festes. Der Fortunakult erscheint gleichwohl nicht als blasphemisch, denn seine religiöse Bedeutung ist verwischt. Aus der Sicht des Fortunatus ist er ein Akt der Dankbarkeit; ausgesprochene Kulthandlungen werden ihm nicht auferlegt; was er im Gedenken an Fortuna zu tun hat, konkurriert nicht mit christlicher Devotion, schließt sich in Konstantinopel im Gegenteil einem Kirchbesuch an (S. 454); und wenn Fortuna herkömmlicherweise als meretrix beschimpft wird, die ihre Gunst wahllos verteilt, dann tritt die junckfraw des glucks hier als Ehestifterin auf, die ihrem Diener befiehlt, ein armes Liebespaar zur Ehe auszusteuern: die Dirne Glück als Förderin des christlichen Hausstandes. Begründet wird kein Gegenkult, sondern neben Gebeten, Messen, Almosen, Wallfahrten, Begräbnisriten hat auch die Verehrung des Glücks ihren Platz. Die junckfraw verschwindet nach ihrem kurzen Auftritt für immer, und ihr Kult bleibt auf eine einzige Episode beschränkt. Sie konkurriert nicht mit Gott, wie überhaupt christliches Denken und christliche Lebensordnungen nicht verTrotz fehlender religiöser Einbettung kann Fortuna nicht, wie in älterer Forschung, als Märchenfigur, die Histori als eine Art Zaubermärchen betrachtet werden (zu diesem Ansatz: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509, hg.v. Hans-Gert RolofF, Stuttgart 1981, S. 207). 16 Wolfgang Haubrichs, Glück und Ratio im >FortunatusFortunatus< Ansätze zu solch funktionaler Differenzierung erkennen: 19 Gott wird auf ein Teilsystem eingeschränkt, in dem er seine Macht behält und von den Menschen anerkannt wird. Jenseits dieses Bereichs gelten in Wahrheit andere Instanzen, auch wenn das häufig verschleiert wird. So ergeben sich i m m e r wieder Brüche zwischen dem, was der Erzähler seinen Figuren als Bewußtsein zuschreibt, und den Gesetzen der Welt, von der er erzählt. Welche Interpretationsschwierigkeiten die skizzierten Ansätze zu funktionaler Differenzierung bereiten, zeigt etwa der einzige größere Versuch, sich aus der Perspektive der alten Lebensordnung einen R e i m auf das Glück des Fortunatus zu machen. Der K ö n i g von England räsoniert nämlich darüber, w a r u m es Unrecht war, Andolosia das Säckel zu nehmen; Anlaß sind ihm nicht moralische Skrupel, sondern der Mißerfolg: Andolosia habe sich erfolgreich zur Wehr gesetzt:

18

A m deutlichsten in den Reisen des Fortunatus, der Pilgerrouten folgt, doch ohne daß das

19

Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der m o -

Heilsversprechen der Pilgerschaft irgend noch sein Ziel wäre. dernen Gesellschaft I, Frankfurt a.M. 1980, S. 27f., 162f.; III, Frankfurt a.M. 1989, S. 259-357. Ähnlich koppeln sich die Funktionsbereiche >Geld< und >Ehre< ( Ö k o n o m i e und politisch-soziale Ordnung) voneinander ab; vgl. die systemtheoretisch angeleitete Analyse von Detlef Kremer u. Nikolaus Wegmann, Geld und Ehre. Z u m Problem frühneuzeitlicher Verhaltenssemantik im >FortunatusFortunatus< ist viel geschrieben worden. 2 0 Das Geld ist wichtigstes I n s t r u m e n t des Glücks. Es destruiert die überlieferten Gemeinschaftsformen. M i t den W o r t e n es ist noch vil glüks in der weit (S. 391) verläßt der Held das Vaterhaus, n a c h d e m der Vater i h m eröffnet hat, statt unser alt herkommen vnd stammen in würde zu setzen (S. 390), habe er alles verloren. Das alt herkommen läßt er hinter sich, w e n n er m i t d e m erstbesten H e r r n in die Welt zieht. 21 Die D e s t r u k t i o n traditionaler B i n d u n g e n drückt sich 20

Besonders Hans-Jürgen Bachorski, Geld und soziale Identität im >Fortunatusfortunatus< braucht, wenn er alles hinter sich läßt. Das Problem wird gelöst werden. Vorerst bewegt er sich in einer Welt, die anders denkt. Für den Grafen, seinen neuen Herrn z.B. - wie andere Vertreter der alten Feudalwelt eine Gegenfigur zum Titelhelden —, gelten die alten Bindungen weiter. Ihn leidet es nicht lange in Venedig, der ersten Station der Reise: sein begird stund wider zu seinem land vnd seinen guten fründen (S. 393). Er will durch eine Heiratsverbindung mit einem benachbarten Fürstenhaus stam und herkommen fortsetzen. Einen Augenblick sieht es so aus, als solle auch Fortunatus in die Haus- und Hofgemeinschaft des Feudalherrn integriert werden, eine Gemeinschaft, die sich wesentlich über ihre Traditionen definiert. An ihnen m u ß Fortunatus teilhaben, wenn er wirklich dazugehören will. U n d so erzählt man ihm von alten geschickten; der Grund: was auff die mainung / er het ainen gnädigen herren bey dem er sein lebtag mocht beleiben / so wäre jm auch nott von aldten Sachen tzuwissen. (S. 397). Doch die Pointe ist, daß eben diese Einweisung in die Traditionen des Hofs nur zum Schein geschieht, in Wirklichkeit Teil einer hinterlistigen Intrige ist, die darauf abzielt, Fortunatus v o m H o f zu entfernen. U n d so löst er sich zum zweiten Mal aus einer traditionalen Welt, die ihm diesmal sogar Fortkommen versprach. Er gibt die neue Gemeinschaft so rasch auf wie die, in die er hineingeboren wurde. 2 2 in der Hoffnung auf eine unbestimmte Zukunft sich löst, unterscheidet sich dieser Einsatz der Handlung nicht nur durch den veränderten Gesellschafts- und Geschehenszusammenhang. Anders als dort nämlich geht dem Auszug der Zusammenbruch der angeborenen Welt voraus, anders als dort ist der Aufbruch ausdrücklich als traumatisch und Bruch mit der Konvention (vngesegnet vnd on vrlaub) erzählt, und anders als dort gibt es keine Reintegration, keine Verschmelzung von altem und neuem Lebenskreis. 22

Diese Gemeinschaft des Hofs ist, wie man beobachtet hat, von vornherein schon zerfallen. Nur der Graf kann glauben, daß sie sich nach innen durch Eintracht und Solidarität auszeichnet und nach außen abgrenzt, so daß beim Turnier anläßlich seiner Hochzeit alles sein hoffgesynn den

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Die Fortuna des Fortunatus

Das kann keiner verstehen, der die Intrige nicht kennt. U m seine Flucht zu erklären und die Intrige zu verschleiern, müssen seine Gegner deshalb eine Geschichte erfinden, die wieder innerhalb der traditionalen O r d n u n g verständlich ist: Angeblich ist sein Vater am H o f zu C y p e r n aufgestiegen, indem er eine Grafschaft verliehen b e k o m m e n hat, u n d angeblich beeilt der Sohn sich, am neuen Glanz des Hauses teilzuhaben, kehrt also in die angeborenen Lebensverhältnisse zurück (S. 404). Das ist eine Lüge, aber offenbar eine n o t w e n d i g e u n d plausible in einer Welt, die auf die alte Fiktion einer stabilen Ständeordnung nicht verzichten will und ein Verhalten wie das des Fortunatus zur Ausnahme stempelt. U n d noch einmal gibt es einen Versuch einer Integration in die traditionale O r d n u n g , nach dem Geschlecht altz Herkommens u n d d e m Hof: das >Haus< des Kaufmanns R o b e r t i . Hier nun zeigt die Fiktion solidarischer Gemeinschaften nach Vermögensverfall und Intrige — z u m dritten Mal ihre Kehrseite. Statt gemeinschaftlichen Schutz bietet das Haus nämlich die gemeinschaftliche Exekution; es wird O p f e r eines nur halbherzig gerechtfertigten Justizmordes (S. 422), dem Fortunatus nur deshalb entgeht, weil er wieder einmal nicht recht dazugehörte, abwesend w a r u n d nichts von allem wußte. 2 3 D e m Glück begegnet Fortunatus in radikaler Isolation, im wilden Wald, w o seit langem kein Mensch m e h r w o h n t (S. 427). 24 U n d was d i e j u n k f r a w gewaltig des glüks von ihm fordert und er später von seinen Söhnen, ist Isolation in der Gesellschaft: Keinem Menschen soll er sein Geheimnis eröffnen, nicht einmal der eigenen Frau oder Geliebten: wann so bald das ain mensch innen wurd / so wurden es darnach mer jnnen (S. 506), und jeder w ü r d e nach d e m Besitz des Säckels trachten. Sich mißtrauisch gegen alle zu verschließen, ist die zweckmäßige Konsequenz aus dem Charakter des Mittels, dem Fortunatus von n u n an seinen Erfolg verdankt, dem Geld. W i e brüchig die Grundlagen der neuen Form der Vergesellschaftung sind, erhellt der Fortgang. Der oft k o m m e n t i e r t e Anschlag des Waldgrafen auf Fortunatus' Besitz wird dadurch gefördert, daß dieser von so verren landen was (S. 434), also keine Hilfe zu erwarten hat. Die Garantien der Ständeordnung sind in ihrer Reichweite begrenzt; wird sie überschritten, dann nutzt m a n das sogleich rücksichtslos aus. Die Reisen mit Hilfe des Säckels haben weder ein Ziel, noch sind sie wie Wallfahrten oder Reisen >nach der R i t t e r s c h a f t durch die Zugehörigkeit zu eigenen Mann, Fortunatus, lieber als einen Fremden siegen sieht (S. 396); in Wirklichkeit ist der H o f von Rivalität und N e i d zerfressen, und der Sieg des Fortunatus verschärft die Spannungen. 23

Plötzliche Begnadigung bei einer Exekution nennt Pontano (vgl. Anm. 29) als ein Beispiel für

24

Er übernachtet in ainer aldten glaßhütten - w i e Theisen in seinem Beitrag zu diesem Bd., S. 1 4 3 -

die bona fortuna (Anm. 7, S. 535). 191, hier S. 175, vermutet, eventuell eine Anspielung auf die fortuna vitrea - do was er fro vnd maint er solt leüt darinnen gefunden haben / aber da was nyemandt innen (S. 427).

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einer bestimmten Gemeinschaft (die Kirche, den Ritterstand) motiviert. Fortunatus bleibt überall Gast. Mit den Venezianern gelangt er nach Konstantinopel, aber w o h n e n darf er mit ihnen nicht: die wolten niemmant fremder bey yn lassen (S. 450). Er m u ß sich seinen W i r t selbst suchen, und der bietet i h m nicht Sicherheit, sondern erweist sich als dieb (S. 450). Wenn er beim Versuch des Diebstahls getötet wird, sind Fortunatus u n d seine Begleiter als gest,frembd erst recht bedroht, denn die freund des Wirts werden für Bestrafung sorgen (S. 459f.); das Geld wird allenfalls die Begehrlichkeit von Richtern u n d Rechtsbeiständen wecken (S. 460). Es bleibt nur die Flucht. Fortunatus' R ü c k k e h r nach Cypern ist nicht wirkliche R ü c k k e h r : Er m u ß sich Hausrat zusammenkaufen, u m als Herr in C y p e r n auftreten zu können. Die Eltern sind tot, ihr Haus verkauft, von Verwandten oder Freunden des Vaters keine Spur. Fortunatus m u ß das Haus zurückkaufen, kauft die Nachbarhäuser gleich mit, doch nicht u m darin zu w o h n e n , sondern u m alles abreißen zu lassen und an die Stelle einen Palast, Kirche, Familiengrablege zu bauen. So k n ü p f t er nicht an Früheres an, sondern beginnt neu. Die familiäre Position, die der Vater eingebüßt hat, ist f ü r Geld zurückzubekommen und mit Geld zu verbessern. Sein >Haus< beginnt mit ihm neu. Er tritt in einen anderen Heiratskreis ein, kauft eine Grafschaft, durchbricht die alte ständisch-dynastische O r d n u n g . D a bei n i m m t er die jüngste von drei Töchtern zur Frau: D e r vnmut der Mutter 2 5 darüber wird mit 1000 Dukaten in bar besänftigt. W a r u m es gerade die jüngste sein m u ß , läßt sich weder aus — allgemein verbindlichen — Vorzügen ableiten 26 noch aus dynastischen Erwägungen: Es ist Sache unbegründbaren persönlichen Gefallens. Nicht einmal der Reisebegleiter Lüpoldus will R a t geben: wann ainem gefeit oft ein ding vast woll / vnd seinem aignen bruder gantz nichts (S. 472), und die Prozedur, die er für die Auswahl der Braut vorschlägt, zielt darauf, den R a t g e b e r , der nach allgemeineren Kriterien zu urteilen hätte, von Verantw o r t u n g zu entlasten. Schließlich löst sich, k a u m ist er eingerichtet, der Sozialverband der Hausgemeinschaft auf C y p e r n wieder auf: Lüpoldus, der Fortunatus auf seinen Reisen begleitete, erhält einen eigenen Hausstand mit Unecht u n d magt (S. 479); ein halbes Jahr später ist er ohnehin tot. Einen Fortunatus aber hält das w o h l b e 25

B e g r ü n d e t w i r d der U n m u t der M u t t e r über die W a h l der j ü n g s t e n Tochter m i t persönlicher Vorliebe: wann sy ir die liebste was (S. 474). A b e r die Wahl verletzt auch die >natürliche< R e i h e n f o l g e der Verheiratung.

26

B e z e i c h n e n d , w i e das M ä r c h e n m o t i v der B r a u t p r o b e ausgestaltet ist: D i e drei M ä d c h e n g e b e n auf die P r ü f u n g s f r a g e des Werbers g a n z ähnliche A n t w o r t e n , so daß nicht, w i e sonst üblich, die eine - meist die jüngste, u n k o n v e n t i o n e l l s t e - sich g e g e n ü b e r den berechnend-taktischen der anderen als besser e r w e i s e n kann. N a c h ihren A n t w o r t e n sind die drei nicht zu unterscheiden, so daß es Fortunatus reiner Zufall scheint, daz Lüpoldo geuiel daz im gefallen hett (S. 473).

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Die Fortuna des Fortunatus

stellte Haus mit weib vnd kind nicht auf Dauer. Seine Söhne bringen es nicht einmal zu einem eigenen Hausstand.

Zeit und Selbstmächtigkeit des Subjekts Im b e r ü h m t e n 25. Kapitel seines >Principe< hat Machiavelli auf die Offenheit allen politischen Geschehens verwiesen, indem er an die Rolle der Zeit erinnerte. >Ferner glaube ich, daß der Glück hat, welcher mit seiner Art zu handeln in die Zeit paßt, u n d ebenso der Unglück, dessen Handlungsweise nicht zur Zeit stimmt.< Die Zeit — das sind die unvorhergesehenen U m w ä l z u n g e n , die sich alle Tage ereignen u n d >aller menschlichen Berechnung entziehen«. 27 Ihre zufällige Verkettung hat als Gegenhalt nicht eine religiöse Instanz, sondern allein die Aktivität des Menschen, der sie für seine Zwecke nutzen kann oder aber scheitert. 28 Fortunatus handelt >mit der Zeitc Das Gefühl f ü r die Chancen des A u g e n blicks zeichnet den >fortunatus< aus. W o es ihn verläßt, gerät er in Lebensgefahr (wie beim Waldgrafen) oder verfällt in tatenlose L ä h m u n g (wie beim Töten des diebischen Wirtes in Konstantinopel). Aus dem, was der unglückliche Z u fall einem zuspielt, m u ß m a n das beste machen: die sach ist beschehen / wir künden den dieb nymer lebendig machen (S. 460). In diesem Fall befreit die vernunfft des Lüpoldus die Reisegesellschaft aus der mißlichen Lage. Doch meist läßt die Situation keine Zeit nachzudenken. Z u m >fortunatus< gehört Spontaneität. Es gibt kein Bedenken, nicht nur im Kairos der Glückswahl. 29 Die Glücksjungfrau drängt: bedenck dich nit lang / wann die stund des glücks zu gebn ist gar nach verschynen. Allso bedachte er sich nit lang (S. 430). Schon vorher, als ein stechen die Chance großen Gewinns, aber auch völligen Verlusts bietet, bedacht er sich nit lang / wie wol er vor nit mehr gestochen het (S. 396). Fortunatus der bedacht sich nit lang (S. 469), w e n n es u m Vorbereitung seiner Ehe geht, und später, w e n n ein Abschiedsmahl bei seinem Freund, dem Sultan, ihm unvermutet die Möglichkeit bietet, zu seinem Glückssäckel 27

Niccolò Machiavelli, II Principe, c. 25; dt. D e r Fürst. Aus d e m Italienischen übertragen v o n Ernst Merian-Genast, Stuttgart 1961, S. 137. — Es versteht sich, daß der Verfasser Machiavellis »Principe« nicht g e k a n n t haben kann. M i r k o m m t es allein auf gewisse gemeinschaftliche M o t i v e an u n d das neue Bild der Fortuna, das sich beide Male abzeichnet.

28

Machiavelli thematisiert die Fortuna deshalb i m K o n t e x t v o n virtù; sie erfordert Entschlossenheit: »Deshalb ist der Bedächtige nicht fähig zu u n g e s t ü m e m Handeln, w e n n die Zeit es fordert, u n d das ist sein Verderben; denn w e n n er nach Zeit u n d U m s t ä n d e n sein Wesen änderte, w ü r d e sich sein Glück nicht ändern« (S. 136). In diesem Licht läßt sich das Schicksal des A m p e d o verstehen.

29

Z u m Verhältnis v o n Zufall / Occasio / Kairos: Kirchner ( A n m . 4), S. 2 7 - 3 1 .

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ein weiteres Zaubermittel zu rauben, reagiert er ebenso schnell wie unsentimental. Die Geste, mit der er seinen J a g d v o g e l in die Luft wirft und ihm die Freiheit gibt, drückt die Risikobereitschaft dessen aus, der in der Welt sein Glück macht. Er nutzt instinktsicher die Gunst des Augenblicks und hat Erfolg: Als er zum Sultan geht, kann er noch nicht wissen, wie klug es war, sein Schiff schon aus dem Hafen herausfahren zu lassen, und als er dem Sultan das Wunschhütlein raubt, ahnt er noch nichts v o m günstigen W i n d und v o n der erzwungenen Rückkehr der Verfolger, dank denen seine Flucht gelingt. D i e rechtspolitische Konstellation, die ihn in C y p e r n vor den Ansprüchen des Sultans schützt, setzt er erst nachträglich dessen Unterhändler auseinander; an der raschen Entscheidung hatte sie nicht Teil. J e unwahrscheinlicher das Gelingen, desto mehr geht davon auf das K o n t o des >fortunatusFortunatus< G i o v a n n i Pontanos Fortuna-Traktat ( A n m . 7) kannte, ist e x t r e m unwahrscheinlich. U m s o auffälliger ist, w i e genau er erzählerisch umsetzt, was P o n t a n o an Beschreibungen des >fortunatus< gibt: D e r >fortunatus< hat sein Glück nicht verdient, das i h m dauerhafter als anderen anhängt; er handelt spontan; sein Glück fällt i h m unerwartet zu; es fuhrt ihn in kürzester Zeit aus verzweifelten U m s t ä n d e n e m p o r ; ein innerer impetus treibt ihn zu d e m , was i h m Erfolg verspricht, auch w e n n alle anderen, Vernunft, E r f a h r u n g , weise alte Leute abraten; er kann nicht darüber A u s k u n f t geben, w a r u m er so handelt, w i e er handelt; nicht die Vernunft, sondern der Trieb ist i m Spiel (S. 523f., 526f., 529, 541f., 548, 551; vgl. D ö r e n [ A n m . 4], S. 124).

31

Auch Pontano ( A n m . 7) spricht i m m e r wieder v o n der Ausschaltung sorgfältig-vernünftiger Ü b e r l e g u n g b e i m >fortunatus< : Voraussetzung seines Glücks seien non aßidue prudenterque tationes atque consilia, non ingenij ualidae uires, solertiaque permagna diuturnior exercitatio ac rerumplurimarum

cogi-

et rara, non maioribus in rebus

usus (S. 523f.). Nicht mit Vernunft (ratio) gehe er v o r : At

impetus secus sese habet ad haec omnia, nam nihil cum consideret, nihil respectet, nihilque ubique Ordinate

232

Die Fortuna des Fortunatus

Es ist das Risiko, die Gefahr, die der >fortunatus< bei der raschen Tat läuft, die ihm ein R e c h t am geraubten Besitz zu geben scheint und ihn jeden Gedanken an Rückgabe zurückweisen läßt (S. 500f.). Ähnlich wie Fortunatus hier wird später Agripina die Zumutung ihres Vaters ablehnen, ihm das geraubte Säckel auszuhändigen, mit dem Argument sy het ir leben daran gewagt (S. 524). Noch einmal Machiavelli: >Doch halte ich dafür, daß es besser ist, ungestüm zu handeln, als bedächtig, denn Fortuna ist ein Weib, und wer sie bezwingen will, muß sie schlagen und stoßen. Auch zeigt die Erfahrung, daß sie sich leichter von solchen besiegen läßt als von denen, die kaltblütig zu Werke gehen. U n d als Weib ist sie stets den Jünglingen hold, weil sie unbedenklicher und gewalttätiger sind und ihr dreister befehlenfortunati< sind die, >denen, wie man zu sagen pflegt, das Glück zufällt, wenn sie schläfern fortuna dormientibus advigilat.34

U n d so bereitet

sich auch der Glückswechsel durch einen narkotischen Schlaf vor, in den Agripina ihren unwillkommenen Liebhaber Andolosia versenkt, um ihm — ain vngeleicher Wechsel (S. 524) - seinen Glückssäckel gegen einen anderen Beutel zu gerat, uiolentius ipse et tanquam caecus progreditur, rapiturque magis quam incedit (S. 526). Leute seines Schlags würden sine ratione, sine consilio, consultationeque

aliqua repente zu etwas getrieben, ex

incogitato (S. 529). 32

Machiavelli (Anm. 27), S. 138. Zum Verhältnis von Risiko / Gefahr zur Fortuna auch Erich Maschke, Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, in: Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, hg.v. Paul Wilpert u. Willehad Paul Eckert, Berlin 1964 (Miscellanea mediaevalia 3), S. 306-335, hier S. 319; 323f.

33

Vergil, Aeneis I 10, 284. Derartige Sentenzen haben klassische Tradition; vgl. auch Fortes fortuna adiuvat

(Terenz, Phormio I 4,26); zu ihrer Verbreitung in der Frühen Neuzeit: Kirchner

(Anm. 4), S. 12. Die Devise wird auch auf Fürsten, etwa Maximilian als domitor fortunae,

ange-

wandt. 34

Dem Spruch liegt ein Psalmvers zugrunde: >Es ist umsonst, daß ihr früh aufstehet und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er's schlafend< (Ps 127,2; vgl. Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 3, 4 1986, S. 839). Er ist weit verbreitet und geht auch in die einschlägige Traktatliteratur ein; Pontano (Anm. 7, S. 528) zitiert ihn mit der Fortuna statt Gott als Akteur - als gängiges Sprichwort (peruulgate); vgl. auch Dören (Anm. 4), S. 124. Für den deutschen Sprachraum vgl. Sebastian Franck: Sprichwörter / Schöne / Weise / Herrliche Clugreden und Hoffsprüch [1541]. Mit einem Vorwort von Wolfgang Mieder, Hildesheim/Zürich/New York 1987 (Volkskundliche Quellen 7), Bl. 60 r,v etwa: Er gewinnt sein ding schlaffend oder die Anekdote von Dionisius, dem land vnd leut zufallen, während er schläft, durch eittel glück statt durch rhat /sterck / anschlag / manlich that (Bl. 60"). Gegenüber dem Psalm fehlt dem Sprichwort und seiner situativen Umsetzung im R o m a n der religiöse Bezug. Pontano erläutert das Sprichwort am Beispiel des Menschen, der von einem Schatz träumt und ihn nach dem Erwachen dort findet, wo ihn der Traum zeigte (S. 535). So liegt der Vergleich zwischen der Begabung des >fortunatus< mit der des Sehers nahe (S. 530).

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vertauschen. Was Fortunatus zufiel, verspielt der S o h n bei der gleichen Gelegenheit: vnd wißt nit das er gelück vnd hail verschlaffen hett (S. 525). 35 U n d mit d e m Glück verläßt ihn bezeichnenderweise auch der Schlaf: ruwet ain klayne weil, er kund aber nit schlaffen vor angst die er het / versach sich nit anders dann er wurde in der wildnuß sterben / vnnd on alle gotzrecht verfaren (S. 535). Andolosia geht z u g r u n d e , weil er nicht m i t j e n e r traumwandlerischen Sicherheit unter allen U m s t ä n d e n das R i c h t i g e tut. 3 6 Er ist, j e länger, j e w e n i g e r H e r r des raschen Wechsels, w i r d z u m Spielball des Glücks.

Fortuna velox37 D i e Histori erzählt v o n rasch wechselnden Schauplätzen. R u h e gibt es f ü r die Protagonisten selten. Einzig der aus der A r t geschlagene A m p e d o bleibt sein Leben lang, w o er g e b o r e n ist. Er h o r t e t das Geld in T r u h e n . D a ß ausgerechnet er zeitweise ü b e r das Wunschhütlein v e r f u g t , zeigt n u r die Absurdität der Teilung. Von einem Verlassen Famagustas, der Teilnahme an Festen des K ö n i g s hofs ist keine R e d e . N i c h t einmal als sein B r u d e r v e r s c h w u n d e n ist, verläßt er das Haus: der sendet bald botten zu dem künig (S. 570), m e h r ist i h m nicht zuzum u t e n . Er v e r b r e n n t das Wunschhütlein aus Angst, begibt sich also der M ö g lichkeit des raschen Ortswechsels, w a r t e t einen B o t e n nach d e m anderen ab, u n d als er keine gute Nachricht erhält, nam er so grossen vnmut vnd hertzen layd das er viel in ain todtliche krankhait [. . .] vnd starb also (S. 571). Anders Fortunatus: E l e m e n t der F o r t u n a ist das Meer, 3 8 u n d so m u ß F o r t u natus an des mores gestad (S. 391) gehen, w e n n er sein Glück machen will. D o c h ist das M e e r nicht O r t j ä h e n Glückswechsels: Hier w i e später glücken die Ü b e r f a h r t e n , v o n denen Reisebeschreibungen der Zeit so viel A u f h e b e n s m a chen, k o m m e n t a r l o s glatt. Fortunatus k o m m t in kurtzer zeit mit allem glück gen 35

Im Schlaf wechselt auch sonst das Glück. Agripinas U n g l ü c k v e r k e h r t sich wieder z u m Besseren, w ä h r e n d sie ain schiaßin tut (S. 545). Die ganze H e i l u n g erfolgt i m Schlaf (S. 546, 547, 548).

36

>Ich k o m m e also zu d e m Schluß, daß, da die Zeiten sich ändern, die Menschen aber an ihrer A r t festhalten, sie glücklich sind, solange beide zusammenpassen, u n d unglücklich, sowie diese Ü b e r e i n s t i m m u n g fehlt< (Machiavelli [ A n m . 27], S. 137f.). Für P o n t a n o ( A n m . 7) ist das situationsgerechte H a n d e l n eine N a t u r g a b e wie j e d e besondere B e g a b u n g sonst; so behauptet er: Fortunatos infortunatosque a natura esse institutos (S. 542).

37

Z u dieser Vorstellung: D ö r e n ( A n m . 4), S. 99f. u.ö.; vgl. auch P o n t a n o ( A n m . 7), f ü r den alles im U m k r e i s der Fortuna v o n j ä h e r Plötzlichkeit repente ist (passim).

38

D ö r e n ( A n m . 4), S. 121, 124f., 132-135 u.ö. - Bei anderen als den Glückskindern versteht sich das günstige Wetter nicht v o n selbst u n d m u ß m i t höheren Instanzen erklärt w e r d e n : Füren also dahyn in dem namen gottes / vnd der verlieh ynen gut weiter / das es yn gar getücklichen ging / wann wolicher von engelandgen eipernfaren wil / muß über das spaniolisch mor Jaren / doch so kämmen sy mit der hilffgotz

vnd mit allem lieb gen Cipren an das land (S. 565).

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Die Fortuna des Fortunatas

Venedig (S. 393). Er selbst wie sein Schiff mit Handelswaren durchqueren ohne Zwischenfälle die Meere (S. 485, 492). U n d wenn er den Sultan bestohlen hat, hat er auf der Flucht einen grossen nachwind — den Rückenwind der prospera fortuna (S. 497). Andolosia hat zum Meer, dem Element des >fortunatusfortunatus< quasi angemessene B e w e g u n g durch zwei E x t r e m e ersetzt. D e r eine, A m p e d o , b e w e g t sich ü b e r h a u p t nicht m e h r . D e r andere hetzt m e t e o r e n h a f t durch die Länder, u m a m E n d e m i t verfaulten Gliedmaßen in einem Block erdrosselt zu werden. 4 0 Das rasende T e m p o einer neuen Welt ist zu seinem tödlichen Stillstand gelangt.

F o r t u n a u n d alte O r d n u n g D i e Histori v o n Fortunatus ist voller F o r t u n a - S y m b o l e , u n d sie zitiert die j a h r h u n d e r t e a l t e n A r g u m e n t e , m i t denen m a n die unheimliche F o r t u n a - E r f a h r u n g zu bewältigen oder wenigstens aus der Perspektive einer ewigen Welt in ihrer Bedrohlichkeit abzumildern suchte. Die Weisheit, die Fortunatus statt des R e i c h t u m s wählen k o n n t e , steht eng bei j e n e r philosophisch b e g r ü n d e t e n T u gend, die sich in Traktaten u n d Disputationen, in Sinnsprüchen u n d Briefen, in Festspielen u n d P a n e g y r i k e n zur Z ä h m u n g der launischen F o r t u n a anbot. Diese R ü c k b i n d u n g an die Tradition hat eine >boethianische< Lektüre des R o m a n s bis heute nahegelegt, zumal sie sich auf das b e r u f e n kann, was in zeitgenössischen R e f l e x i o n e n über die M a c h t der Fortuna, sieht m a n v o n w e n i g e n A u s n a h m e n wie P o n t a n o oder Machiavelli ab, ganz ü b e r w i e g e n d d o m i n i e r t u n d selbst noch dort, w o anders über Fortuna gedacht w i r d , meist das letzte W o r t hat. W e r n u r die w o h l b e k a n n t e n Spielmarken der R e d e über Fortuna beachtet u n d nicht auch ihren narrativen K o n t e x t , der v e r k e n n t ihre veränderte F u n k tion. 4 1 G e w i ß verschiebt sich, w i e viele Interpreten zeigten, unter der H a n d

40

Auch das rasche H a n d e l n geht jetzt auf andere über: eylent läßt der K ö n i g den H e n k e r holen

41

Ähnlich zeigte Franz Josef W o r s t b r o d c i m Reisensburger K o l l o q u i u m an Petrarcas >De r e m e -

u n d on sonder lenger bedencken verurteilt er die M ö r d e r Andolosias (S. 577f.). diis< auf, wie Petrarca M o t i v e traditioneller, >boethianischer< Fortunadarstellungen a u f r u f t , u m sie durch den K o n t e x t in Frage zu stellen. — Auch i m >Fortunatus< ist, wie v o r allem Kästner ( A n m . 1) gezeigt hat, die alte Weisheitslehre noch präsent, doch w i r d sie, w o sie ü b e r h a u p t einmal positiv gefüllt w i r d , i m Epilog nämlich, sogleich wieder an äußere Glücksgüter zurückg e b u n d e n : hette der iung Fortunatus im utalde betrachtlichen Weißhait / für den seckel der reichtumb [. . .] erwölt vnnd begert / sy wäre ym auch mit hauffen gegeben worden [. . .]. durch welche

weißhait

vnnd vernunfft / er auch tzeitlich gut / eerliche narung vnd grosse hab j het mugen erlangen (S. 579). I m m e r h i n , Weisheit gilt als die G r u n d l a g e v o n allem. Von der entgegengesetzten Seite a r g u mentiert P o n t a n o ( A n m . 7), w e n n er mehrfach wortreich ausfuhrt, daß o h n e felicitates (im Sinne äußerer Glücksgüter) die Vorzüge des animus u n d die virtus sich ü b e r h a u p t nicht zeigen k ö n n t e n , da die Möglichkeiten zu handeln fehlen (S. 520). Mindestens die felicitas ciuilis, die er von der felicitas durch K o n t e m p l a t i o n absetzt, k ö n n e absque bonis externis, ü b e r die allein die Fortuna gebietet, nicht v o l l k o m m e n sein (S. 537).

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auch die Bedeutung von Weisheit. Entscheidend jedoch ist, daß der Held sie verwirft und sich unter die Gewalt der Fortuna stellt, so daß Gelingen oder Mißlingen unabhängig von bona animi gleich welcher Art sind. Bedenkt man die Letzten Dinge, dann stellen sich wie beim Tod des Fortunatus und erst recht des Andolosia erbauliche Betrachtungen ein. Doch die Dynamik des R o mans resultiert daraus, daß man solche Betrachtungen nur noch dann und wann anstellt. Die boethianische Reflexion, die Reflexion von anderthalb Jahrtausenden Moralphilosophie mit ihrem religiös-heroischen Lebensentwurf wird nicht mittels einer neuen Reflexion abgelöst. Sie wird unterboten und weithin schlicht vergessen, und so erhält Fortuna, Inbegriff eines chaotischen Weltlaufs, R a u m .

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JOSEPH LEO KOERNER

The Fortune of Diïrer's >Nemesis
Liber Fortunae< w o u l d be published, and that its d r a w i n g s w o u l d be engraved. F o r t u n e had it that this 1

Ludovic Lalanne, T h e B o o k o f Fortune: T w o Hundred Unpublished Drawings by Jean Cousin, trans. H. Mainwaring Dunstan, Bibliothèque Internationale de l'Art, Paris/London, 1883, p. 7.

2

Lalanne (ebd.), p. 25.

239

Joseph Leo

Fig. 1

Koemer

Jean Cousin, Fortuna vitrea, from Liber Fortunae, 1568, pen and ink, Paris, Library of the Institute of France (tracing by Drouot).

never happened, and what we have is but the sketch for an outline of a figure with no outline. Take this as the impresa of the Reisensburg >Gesprache< on the passage from the Middle Ages to modern times. Fortuna Vitrea is neither behind nor before the window, just as the >Epochenwende< is neither an alteritous past nor a reflection of ourselves. The fugitive threshold appears after »sleepless nights« spent preparing our arguments, and during happy and prosperous days which »perish and quickly pass away.« And how much more fugitive will the image on that threshold be when it is of the presiding deity herself: Fortuna, goddess of all futures, here studied as she was imagined in the past. 240

The Fortune of Dürer's >Nemesis
Little Fortunes the print is of great importance in the history of art. For within Dürer's printed œuvre, this is both the first female nude and the first treatment of a classical subject. O f course, images of the R o m a n Goddess of fortune were common throughout the Christian Middle Ages. Earlier than this print, however, no Northern artist had depicted her nude, and in a consciously classicizing style. If, following Erwin Panofsky, we define Renaissance art as »the union of classical form and classical content,«4 then the >Little Fortune< marks nothing less than the start of the Renaissance in the North. The print's visual sources are mostly Italian. Its general arrangement, the placement of an allegorical figure with attributes in an abstract space and against a low horizon, recalls the composition of the fifty so-called >Tarocchi< produced in Ferarra some time around 1450 and copied by the young Dürer. I show here the first of the series as sketched by Dürer at about 1494 (figure 3).5 The >Angel of the Primum Mobile< strides on the outermost concentric sphere of the universe. And Fortune's pose may depend on one of the dancing Muses in Andrea Mantegna's >ParnassusBStraussNemesisNemesis
Little Fortune< (figure 5, Strauss 1493/3). Yet he also includes the homey slippers that keep his model warm while she models for him. Unlike the idealized, abstracted nudes of Italian art, Diirer's early nudes always look like real, specific people who, against custom and climate, have undressed for the artist. The >Little Fortune< is similarly homey, although in the double sense of the German »heimlich.« O n the one hand, she is the familiar and domestic, a Nuremberg >Hausfrau< engraved in a Nuremberg manner. O n the other hand, surrounded by mysterious attributes, isolated from any recognizable world, and exposed indecorously, she is the uncanny, the obscure, the inaccessible: as Freud writes in his 1919 essay, »something hidden and dangerous [. . .] so that 244

The Fortune

5

of Dürer's

>Nemesis
heimlich< comes, to have the meaning usually ascribed to >unheimlichNemesis
ApocalypseSelf-Portrait< and >Little Fortune< are infinitely gentler in tone than this. T h e y miniaturize divine fate, recasting it as personal m o t t o o r h u m a nistic love allegory. T h e r e is certainly little threatening a b o u t the artist's y o u t h f u l likeness, save perhaps that D ü r e r ' s apparent narcissism bodes ill for his u p c o m i n g betrothal. Indeed given w h a t w e k n o w a b o u t D ü r e r ' s u n h a p p y , childless marriage, and a b o u t his possible attraction to boys, the >Self-PortraitNemesis
Self-Portrait< of seven years later. With this combination of self-assertion and submission to divine ananke, we encounter that aspect of the Renaissance cult of Fortune that fascinated Aby Warburg in his great 1907 study, >Francesco Sassettis letztwillige Verfügung^ The will of a fifteenth-century Florentine merchant, preserved by his declining seventeenth-century heirs, becomes for Warburg a window on a whole culture's relation to the world. On the one hand, Sassetti admitted his 254

The Fortune of Dürer's

>Nemests
Where Fortune will let us land, I do not k n o w , in the face of the turmoil and dangers in which w e find ourselves and f r o m which m a y God permit us safe arrival at the harbor of salvations O n the other hand, he v o w e d to wrestle valiantly with the wind goddess, and demands of his heirs the same: >Do not for any reason refuse to succeed to m y estate, and even if I leave you more debt than wealth, I want y o u to live and die under the same Fortune, because that seems to m e your debt.storm< w h e n he w r o t e in the diary of his 1521 trip to the Netherlands: Item es ist ein walfisch zu Zürche in Zeland mit einer großen Fortuna und Sturmwind an Land kummen, [. . .] Wolt den großen fisch gesehen haben, da hett in die Fortuna wieder weg geführt.17 Here the object of the artist's m o d e r n curiositas is simultaneously subject to the w h i m s of the antique w i n d - d e m o n . For Warburg, Fortune, as both w o r d and image, is the impresa of the threshold to our era. It is the >Energiesymbol< par excellence that balances a Christian submission to God against the humanist faith in self, the mitia fata mihi of the Middle Ages against the secular a mon pouvoir of the Renaissance. Neutralizing fear by framing it as image, affording individuals a u t o n o m y and inward c o m posure in the face of n e w and sometimes threatening situations, mediating between the past and an u n k n o w n future, Fortuna is not merely a product of Renaissance art, but is synonymous with art itself. Art, according to a tradition that reaches f r o m W a r b u r g back t h r o u g h Alois Riegl, Gottfried Semper, and Franz Kugler to Hegel and Kant, functions to liberate m a n f r o m his submission to an inexorable destiny, f r o m a servitude to things. 18 T h e artist's constructive freedom in shaping his material, composing and controlling preexistent elements, and absorbing them into his o w n w o r k , was believed to bring about, historically, a deeper freedom of the m i n d over nature. As Hegel writes near the opening of his >ÄsthetikGleichgewichtszustandNemesis
Kunstkammer< effected some kind of aesthetic neutralization. In 1522, when under the influence of an iconophobic Reformation the >Bilderstifter< became >BilderstürmerartLittle Fortune< and even the >Monstrous Pig of Landsen — formed the core of these proto-art museums in Germany. 22 What I propose to discuss is the artful fabrication and secret instability of this sublimely balanced space. Images of Fortune are particularly auspicious for this task. For as emblem of luck in love and of pecuniary wealth, of the passions and the interests, Fortune discovers in the beautiful rooms of art the hidden, but foundational, element of desire. Few images of the German Renaissance seem to work as hard to achieve the Warburgian idea of aesthetic equilibrium as does Dürer's large engraving of 1501—2 called, in the older literature, the >Great Fortune< (figure 14, B. 77).23 This title goes back at least to Joachim Sandrart's >Teutsche Akademie< of 1675, and assumes that the print represents an elaborate reworking of the >Little Fortunes 24 There are obvious similarities between the two prints: the women's 20

21

22

According to the famous phrase of Hermann Heimpel (Das Wesen des deutschen Spätmittelalter, in: ders., Der Mensch in seiner Gegenwart. Sieben historische Essais, Göttingen 1954, pp. 109-135). Franz von Sickingen's 1522 >Sendschreiben< is discussed in Martin Warnke, Durchbrochene Geschichte? Die Bilderstürme der Wiedertäufer in Münster, Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, ed. Warnke, Munich 1973, p. 73. In Frans Francken the Younger's great >Picture Gallery* of 1636, n o w in Berlin, an album of Dürer prints, opened to the >Monstrous Pig of LandserKunstkammer< and the founding example of artistic self-consciousness.

23

There are t w o states of the print, and at least 7 copies, as well as one interesting sketch after the print by Urs Graf; discussed in The Illustrated Bartsch, 10 ed. (note 3), pp. 172-175. 24 Joachim von Sandrart, Teutsche Academie, Frankfurt 1675, the title »Großes Glück< appears also in Bartsch, Peintre-Graveur (note 3), and even in the catalogue of the great 1971 Dürer exhibition in Nuremberg (Nuremberg, Germanisches Nationalmuseum, 1471 Albrecht Dürer 1971, ed. Peter Strieder, exh. cat., Nuremberg 1971, no. 481.

257

Joseph Leo

Fig. 14

Koerner

Albrecht Dürer, Nemesis or The Great Fortune, c. 1501-2, engraving.

258

The Fortune

of Dürer's

>Nemesis
Little Fortune< and forty percent larger, even, than the three >Meisterstiche< of 1513—14. Indeed it is Diirer's largest print, with the one exception of the >St. Eustace< (1500—1). Dürer demonstrates on this new, monumental scale the distance he has travelled in the five years since his earlier print in his treatment of artifice (the lovingly rendered bridle and ornamental goblet), of human anatomy, and of microscopic and macroscopic nature (the feathered wings and the vast worldscape). The conceit of a landscape spreading out b e l o w an airborne figure repeats a formula Dürer invented for his >Apocalypse< series and used many times afterward throughout his >ceuvreLittle Fortunes Of course, the learned iconographer will have already guessed that Diirer's sister prints are altogether different also >as< allegories, and that wings, goblet, and bridle are not attributes of Fortune at all. The name of Diirer's goddess was not recovered until 1856, when a historian discovered in the artist's own diaries of his 1521 trip to the Netherlands several references to a print called the >NemesinMantowalks aloft, floating in empty air [. . .] girded with a cloudthe ancients called her Nemesis, begotten by Father Ocean out of silent Nightexchange high and low, mixing and tempering our actions by turns, as she is borne hither and thither by the whirling motion of the winds.in the company of her mother Night in the remoter parts of the heavens, far beyond the regions of the earth.occasio< for Diirer's >NemesisNemesis
heimlich< pseudo-sister in the >Little Fortunes is particularized, and not only through Dürer's attention to the complex surface of her flesh. Her face is not that of a general being, but of an individual; indeed several scholar — including Panofsky — identify her as Pirckheimer's wife Crescentia, whom Pirckheimer married in 1496. She appears in two charcoal sketches by Dürer from 1503, one of which served as the basis of an illustration in the Imhoff family chronicle of 1596 (figure 16, Strauss 1503/6).32 If we accept and add up these references, an appealing plot unfolds. Fashioning for Pirckheimer the mythic goddess of the noble inevitability of defeat, Dürer endows her with the features of Crescentia who, blown up to cosmic proportions and equipped with a bridle, metes out divine justice as a tyrannic, >unheimlich< housewife. A vision like this might well have appealed to Pirckheimer's misogyny, for the theme of »women on top,« here monumentalized, was a common period motif. 33 It represented, in terms specific to a threatened patriarchy, that »exchange of high and low« that Polizian's Nemesis effects. Such a bathetic tone is hard to detect in Dürer's engraving, although, as we shall see, it totally dominates the print's immediate reception, and it also fits the tone of Dürer's jesting relation to Pirckheimer as documented in his letters from Venice. I have entered slippery ground here, and I can feel myself log-rolling like Dame Fortune. The print certainly has more stable foundations than these. For whilst Nemesis has a highly arcane pedigree in the Renaissance, having been reinvented — through erudition and imagination — after-her virtual absence in 31

Berthold Haendcke, Die Chronologie der Landschaften Albrecht Dürers, Strasbourg 1899, p. 12; and Hans Eugen Pappenheim, Dürer im Etschland, Zeitschrift des deutschen Vereins fiir Kunstwissenschaft 3 (1936), pp. 60-79.

32

Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 vols., Berlin 1936, no. 279; Panofsky, Dürer (note 8), p. 184; Maria Lanckoronska, Die zeitgeschichtliche Komponente in Dürers Kupferstich >NemesisReymen< of E m p e r o r Maximilian was Tene Mediocritatem, or in German, as w e read on the Emperor's w o o d c u t >Triumphal ArchVita< he refers to it as Temperanza and praises its paese minutissimo. Yet like all messages behind the hieroglyph, the virtue of measure as the content of Dürer's great print satisfies n o viewer, lest they be as blind as the Little Fortune. W h a t is interesting about the sheet as an ethical statement is the w a y it expresses >Maß< aesthetically, which means the w a y it preaches ethical measure t h r o u g h an image that is itself a sublime, and indeed epochal demonstration of artistic measure. A project drawing makes this intention clear (figure 17, Strauss 1502/25). Dürer sketches the outline of his goddess of retribution over a faint grid punctuated here and there by the needle of a compass. As in so m a n y of Dürer's studies of the h u m a n b o d y in the period after 1500, these marks of measurement construct the figure according to a fixed canon of proportion, in this case 34

David M. Greene, The Identity of the Emblematic Nemesis, Studies in the Renaissance 10 (1963), pp. 31-43. O n Nemesis in antiquity, see Hans Volkmann, Studien zum Nemesiskult, Archiv für Religionswissenschaft 26 (1928), pp. 296-321. 35 The relevant passages in Aristotle are: Nicomachean Ethics, 2, 1108a35; 3, 1117b—1118b; and 7, 1145a-1152a; Eudemian Ethics 2, 1221a3, and 3, 1233b26; and Magna Moralia, 1, 1192b8. 36 Ludwig Volkmann, Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923, p. 88; on Dürer's >Nemesis< as emblem of measure, see Peter-Klaus Schuster, Melencolia I. Dürers Denkbild, 2 vols., Berlin 1991, vol. 1, pp. 261—264 and >passimDe architectura< Book III: the length of the head 1/8 of the body; the length of the face, 1/10; of the forearm, 1/4; etc.37 Only the foot has been adjusted by Dürer, reduced from Vitruvius's 1/6 to a more lady-like 1/7.38 Such details are important. For proper measurements make a thing natural or unnatural, good or bad. As Walther von der Vogelweide writes: Unmäze, nim dich beidiu an, manlichiu wip, wipliche man . . ,39

Dürer echoes this anxiety about miscegenating the sexes when he writes: Und doch als ich sag, was weibliche oder männliche Art sei, ist also zu verstehn, daß man ein Mann oder ein Weib nit also veränder, daß die Art im Mann nimmer mannlich zu erkennen sei, desgleichen im Weib nimmer weibisch.40

This notwithstanding the fact that, to modern eyes, Dürer's female nudes are exceptionally >mannlich< despite their little feet.41 And >Nemesis< herself, with her massive bridle and reins, certainly occupies a masculine power position. At the very least, the principle of sexual inversion, emblematized in a >Narrenschiff< illustration of the winged Venus and her catch, attributed to the young Dürer (figure 18) ,42 suggests that the idea of measure is not as balanced, indeed as measured, as either Dürer the theorist or his erudite modern interpreters would like, and that >Maß< — ethical, aesthetic, or sexual — sustains itself only against the inescapable omnipresence of >UnmaßLucretia< in Munich; on the measurements of Nemesis as judged by some modern eyes, see the poem by Morris Bishop, published in >The N e w Yorken, May 9, 1952: I said bewildered to the Missus // »I don't get what this Nemesis is.« // The Missus said, a trifle gloomy, ¡I »I clearly see what's coming to me // I clearly see that Albrecht Dürer // Reveals h o w ladies get maturer. // The artist here depicts with vigor // The Nemesis of woman's figure. II >Gird up your loins!< O h surely this is 11 The helpful hint of Nemesis's.«

41

42

43

Albert Schramm and the Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, 23 vols., Leipzig 1920—43, no. 1117. Michel Foucault, The History of Sexuality, 1, An Introduction, trans. Robert Hurley, N e w York 1980, pp. 105-6.

264

The Fortune of Dürer's >Nemesis
Lehrbuch der Malereivera icon< of Christ, and whose organizing principle, as in the >NemesisUnmaß< of oblique perspectival projection. After 1500, the project of anthropometry, of bodies constructed according to a measure, shifts f r o m selfportraiture to the nude. W h a t Dürer called nackete Bilder were first of all figures shown to him by the itinerate Italian painter Jacopo de' Barbari. As Dürer writes of this encounter: [E\inen man Jacobus genent van Venedig geporn ein Üblicher moler. Der wies mir, man vnd weib dy er aws der mas gemacht het das ich awff dyse zeit libr sehen wold was sein mainung wer gewest dan ein new kunigreich.45 Jacopo kept his mainung a shop secret, and Dürer had to make due with Vitruvius, and with his o w n efforts. T h e >Nemesis< represents his first major effort in this area, and he engraves his constructed nude so that she covers the horizon of the worldscape below, concealing any new kunigreich to pay for her beauty. It is n o exaggeration to say that Dürer's interest in the nude was passionate, and that in searching for its measure he was profligate of his labor. Yet measurement, the object of Dürer's desire, was also that which ought to restrain the passions; that is the message of the >NemesisNemesiscogitatio immoderata< o f inflamed desire or lovesickness; against aesthetic elevation above the passions and the interests there is the rude, but beautifully sketched prostitute, whose trade is sex for money. In his recent two-volume study >Melencolia I — Dürers DenkbildNemesis< as >The Great Fortune< is an »Indiz ikonographischer Unkenntnis,« a »für eine Göttin der Mäßigkeit fatale Wirkungsgeschichte.« 51 To transume both this false history o f

49

Discussed in Kauffmann (note 6), p. 137; and Panofsky (note 6), p. 29. Holbein's frontispiece exists in four versions from 1521—2; see Salomon Vögelin, Ergänzungen und Nachweisungen zum Holzschnittwerk Hans Holbein der Jüngere, Repertorium fur Kunstwissenschaft 5 (1882), pp. 179—203; and Alfred Woltmann, Holbein und seine Zeit, 2nd ed., Leipzig 1876, vol. 2, no. 227.

50

Emil Major and Erwin Gradmann, Urs Graf, with a Preparatory Note by Kenneth Clark, London 1942, no. 66; henceforth referred to in the text as >M & GNemesis< engraving in a pen and ink drawing, now in the Thum und Taxis Collection.

51

Schuster (note 36), vol. 1, p. 262.

269

Joseph

Leo

Koertier

CORNVCO P I A E. S E V

L A T I N AE

C O H H E N T A í

II

LINGVAE

L O C V P L E T I S S Is

m i , N i c o l a o P c r o t t o . S i p u n t í n o pontífice a u t n o ; r e , t a n t a a d u e t c r u m fcriptorú, codicumcp fidcm, diligciia r e c o g n n i : u n d c d o p r o m p i i f u n t , tantacp folertia, d i u e r f l i a t e c h a r a f t c r u m , dcluccdiftinfi«, ut nulla f u p r r i o r u m x d i t i o n u m , c u m h a c iurecertarcque.it. Cxteraquaehoc uolumine complcfluntur, iec]t»cns indicabil pagina.

ANNO

H.

D.

Cum grail j c?

XXXII. Vnuilrgio.

'tJENlVS

Fig. 20

Hans Holbein the Younger, Cebetis Tabula, w o o d c u t title page of b o o k first published in 1521.

270

The Fortune of Dürer's >Nemesis
Nemesis< simultaneously evokes and >reins in< those very desires which are Fortuna's dominion. Urs Grafs drawings, however, demand that we not stop here, at the measuring line of Diirer's intentions. Against originology, then, which sees the print's literary and visual sources, and beyond Schuster's idealizing account that regards Diirer's project as wholly stabile and finished, I propose to read the >Nemesis< from the perspective of its futures, of its fickle fortunes in the commerce and art in which it will circulate.52 52

The intersection between the erotic and the economic, here expressed in the figure of fortune as wealth and as luck in love, forms the core of one global account of the rise of merchant

272

The Fortune

of Dürer's

>Nemesis
Nemesis< to the m o m e n t of its initial circulation. In his 1521 Netherlands diary, in the entry for A n t w e r p , that great commercial center of the N o r t h , Dürer records that he has given to Peter Gilles ein Eustachium und ein Nemesin, and to the factor von Portugal, Joäo Brandäo, a carved kindlein, some fine prints, and die Nemesin. Das ist alles werth, D ü r e r notes, 5 gulden. Eben so viel hab ich auch geschenckt Signory Ruderigo. Der Ruderigo hat meinem weib geschenckt ein klein grünnen papagai. In Cologne he gives to the servant of Niclas Groland 1 gulden [. . .] für ein helffenbein todtenköpfflein. Mehr i weißpfennig für ein gedräht püchslein, mehr 7 weißpfenningfür ein paar schuh, und hab zu leczt geben des niclasen knecht ein Nemesin. And later, to b u y white paint and 6 jndische nuß: Jch hab gelöst 1 Nemesin.53 T h e >Nemesis< circulates, first of all, in the mixed e c o n o m y of early m o d e r n Europe. It can be exchanged for necessary goods and services, and for materials required by the artist's trade (lead white, oil nuts, etc.) It can be traded for other luxury items: a green parrot, some rare seashells, gold rings, capers, and olives. It can be gambled away: D ü r e r notes each time he looses at games of fortune, and by the end of his trip his loss is 4 gulden total — about the price of a set of all his prints. And it can function as a gift, a valuable whose monetary w o r t h is k n o w n (Das ist alles werth 5 gulden), but unstated to the recipient — although Marcel Mauss and Pierre Bourdieu have taught us that gifts demand counter-gifts, and differ f r o m commodities chiefly in their inextricable connection to the person (as, say, his or her honor), and in the temporal strategies of their exchange (to give the same gift back, and at once, is as bad as giving nothing back at all). 54 D ü r e r experiences the u n recipricated gift in his negotiations with Margarette of Austria. He visits her estate in Mecheln, makes drawings for her and presents of his prints, is shown all ihr schön ding - including, w e believe, Jan van Eyck's >Arnolfini Wedding Portraits But when he goes to ask for an object in her collection, a Büchlein b y Jacopo de' Barbari (perhaps his secret >ProportionslehreNemesis< was, in a real sense, the source of Diirer's fortune. Mechanically produced, and made of cheap materials, its value far exceeded the artist's expenditure of time and money. Yet this value was difficult to measure, and depended on such intangibles as genius, originality, and beauty. These could be stolen and no one would recognize the theft, hence the threat of Marcantonio Raimondi's plagiary of Diirer's early woodcuts. 57 Moreover, works such as the >Nemesis< were produced outside of any commission, indeed were published within the entrepreneurial speculation that there would be a public willing to buy them. The variety of Diirer's subjects has predicated this new freedom of an open art market, where art could circulate, indeed had to circulate, in advance of a known viewership. Variety of receptions was the other side of the coin; the fortune of Diirer's >NemesisNemesis
iudex< is kept pointing to the mean. Behind the balance of debt and credit, of course, lie older, sacral images of measure and justice: Last Judgments where the scales weigh men's souls, and where the damned fall to God's left and the saved rise to His right. Diirer's >Nemesis< might lie somewhere between his >ApocalpyseMantoNemesis
De constantia< ein scheinbarer Gegensatz zwischen der Notwendigkeit und dem freien Willen enthalten sei, weil Gott in seiner Vorsehung die Sünde und den Sünder schon kenne, der Mensch jedoch freiwillig sündige, obwohl andererseits nichts gegen den Willen Gottes geschehen könne. 19 Laevinus Torrentius, Kanonikus in Lüttich (später Bischof von Antwerpen), konzentrierte sich in seiner ausführlichen Kritik auf die ausgesprochene Vorliebe des Autors für die antike Philosophie und die Vernachlässigung der Nachfolge Christi in der Sittenlehre von >De constantiaDe constantia< Lipsius jedoch auch viel Lob ein: Das Buch wurde sehr schnell populär. Nichtsdestoweniger machte er sich noch im gleichen Jahr an die Vorbereitung einer zweiten Auflage, in der er einige Passagen änderte.22 Auch in späteren Editionen — zuletzt noch im Druck von 1599, der die Grundlage des Texts in den posthum erschienenen >Opera OmniaPolitica< (1589), rückte Fortuna mehr in den Vordergrund. Das Werk gehört zum Genre des Fürstenspiegels und ist fast ausschließlich aus Zitaten aus klassischen Autoren zusammengestellt. Lipsius wollte ein Handbuch des praktischen politischen Lebens bieten, das durch die Erziehung der Fürsten direkt zur Lösung der brennenden Fragen der Zeit beitragen sollte. So behandelt der Autor in den ersten zwei Büchern die politische Sittenlehre, insbesondere die Herrschertugenden, im dritten und vierten Buch die Einrichtung und Verwaltung des Staates und schließlich in den zwei letzten Büchern Heerwesen und Krieg, insbesondere den Bürgerkrieg. 24 Obwohl der Begriff des Fatums auch in diesem Werk noch eine wichtige Rolle spielt als die unausweichliche Determination alles Geschehens, arbeitete Lipsius allmählich den Begriff der Fortuna heraus, indem er sie in gewissem Sinne als Kehrseite des Fatums darstellte. Denn nicht nur das unerschütterliche Schicksal, auch die offensichtliche Unbeständigkeit der Dinge brauchte einen Platz in seinem politisch-philosophischen System. Ziemlich am Anfang des ersten Buchs definiert Lipsius den Begriff des Fatums als etwas, das von Gott stammt, mit Frömmigkeit und Gottesfurcht (pietas) verbunden ist und nichts mit den Himmelskörpern zu tun hat. Man kann seinem Schicksal nicht entfliehen, denn Gott hat alles zuvor angeordnet. Nichtsdestoweniger soll der Mensch nicht den Kopf hängen lassen, sondern handelnd auftreten, aber dabei im Einklang mit seinem Schicksal, das heißt, mit Gott bleiben: >Nur ein schlechter Soldat folgt seinem Feldherrn seufzendDe constantiaPolitica< in einem ganz anderen Zusammenhang. In >De constantia< wird das Schicksal nur als ein der Vorse23

Oestreich ( A n m . 7), S. 90-93; J. Lipsius, O v e r standvastigheid bij algemene rampspoed, übers, u. hg.v. P . H . Schrijvers, Baarn 1983, S. 20-22, 26; J . Lipsius, T w e e boecken van de Stantvasticheyt, übers, von J. M o u r e n t o r f , hg.v. H . van C r o m b r u g g e n , A n t w e r p e n 1948; ILE Bd. 2, N r . 274. 83 09 11 M: Lipsius (Delft) an Moretus (Antwerpen). C o o r n h e r t hatte auch den Plan gehabt, das Buch zu übersetzen, siehe ILE B d . 2, N r . 326. 84 03 18.

24

Oestreich (Anm. 7), S. 106—147, behandelt die ersten vier Bücher der >PoliticaAristarchusReform< Christian Wagenknecht, Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie, München 1971, bes. S. 66-75.

313

Wilfried

Barner

gentümlich fremd: der volltönende Einsatz mit einer Schimpfkaskade auf Fortuna und ihre Lustfeindlichkeit, das Schwanken zwischen Aggression und Bitte, schließlich (vorbereitet durch v. 23) die christliche >Kurve< (v. 25: Gott aber ist mein schütz) und eine Acht-Zeilen-Folge (v. 2 5 - 3 2 ) , die in ihrem erbaulich-konsolatorischen Grundton fast ganz vom Vorausgehenden abgelöst zu sein scheint. 17

Fortuna und Beständigkeit als Zeitthemen Zu dem solchermaßen Tastenden dieses frühen Versuchs gehört freilich auch, daß sich Opitz mit der Exposition ein europäisches Modethema der Zeit 18 gewählt hat: nicht ohne Geschicklichkeit das Schillernde der Fortuna gleich zu Anfang durch die wechselnde Betonung versinnlichend (v. 1) und mit der Apokopierung der Endung (Fortun) zugleich eine nationalsprachliche Fixierung spielerisch vermeidend. 19 U n d obwohl schon die ersten Verse keinen Zweifel daran lassen, daß es fast ausschließlich um Liebes-Fortuna geht, gelingt es dem Autor, auch das Thema >Beständigkeit< prinzipieller in seinem Text zu verankern. Der scheußlich-mißgünstigen Fortuna, die den ich Sagenden vernichten will, hält er entgegen, daß er von kindheit an (und nun ist das pleonastisch Nachdrückliche bezeichnend) mit unverwandtem sin j Standhafft vnd vnverzagt alzeit gewesen sei (v. 10f.). Selbst an die Siegerin Fortuna appelliert er, wie ein freyer heldt (v. 17) Mäßigung zu üben. Schließlich wird auch das christliche Märtyrermodell noch bemüht, in der Kennzeichnung des eigenen Passionsweges, auf dem Fortuna ihn durch viel creutz vnd leidt / durch angst vnnd noth geführt habe (v. 23). Aufgehoben wird das Ganze endlich in der lapidaren, glaubensstarken Halbzeile: Gott aber ist mein schütz (v. 25). Solchermaßen wird Fortuna in die Schranken gewiesen, gezähmt.

17

Das unmittelbar darauf folgende Epigrammation

(mit der Thematik der lust) knüpft an den

erbaulichen Ton ebenfalls nicht an. 18

Bisher eingehendste Untersuchung hierzu, bis ins 16. Jahrhundert und in die >Vorgeschichte< (Antike, Mittelalter) zurückgreifend: Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock, Stuttgart 1970 (die sehr gründliche, auch mit viel Bildmaterial arbeitende Studie krankt an einer doxographischen Überschematisierung, hinter der die historischen Profile oft verschwinden). Z u r englischen Literatur des elisabethanischen Zeitalters (mit nur sehr wenigen Ausblicken auch nach Deutschland) Klaus Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des W e c h sels, Frankfurt a.M. 1985. Vgl. zum K o m p l e x Troilus und Cressida in England auch den Beitrag von J o e r g O . Fichte, Von der Historie zur Tragödie: Macht und Ohnmacht des Schicksals über Troilus und Cressida, in diesem Bd., S. 192—215, (mit neuerer Literatur).

"jedenfalls ist denkbar, daß Opitz hier sowohl die F o r m fortune umgehen versucht.

314

als auch fortuna

bewußt zu

Die gezähmte

Fortuna

Die Zeitsignale sind unverkennbar. Opitz zeigt sich gegenwartsbewußt, >aktuell< nicht nur dadurch, daß er die Überfälligkeit des Anschlußfindens an die muttersprachliche europäische Kunstdichtung im Gefolge Petrarca, Ronsard, Heinsius anmahnt — und selbst, mit Pionierstolz, ein Muster des eingedeutschten Alexandriners setzt. Er greift auch zentrale Stichworte der neueren »Anthropologie«-Debatte auf, die für das ausgehende 16. Jahrhundert 20 zuerst W i l helm Dilthey im Zusammenhang und in ihrer epochalen Bedeutung dargestellt hat. 21 Diese auf das »Prinzip der Selbsterhaltung« 22 zentrierte Bewegung, mit ihren neustoizistischen Grundzügen und ihrer Leitfigur Justus Lipsius, braucht hier nicht eigens charakterisiert zu werden. 23 Für Opitzens >TrostGedichte in Widerwertigkeit Deß Krieges< (um 1620 entstanden, zuerst 1633 gedruckt) 24 hat man nähere Beziehungen zu Lipsius seit längerem gesehen. Warum sollen sie nicht schon für das Fortuna-Gedicht von 1617 gelten? Lipsius' einschlägiger Haupttraktat >De constantia< ist 1584 zuerst erschienen, 25 die deutsche Übersetzung durch Andreas Viritius (die Opitz selbst wohl gar nicht benötigte) bereits 1599 in Leipzig. 26 Einem jungen Gelehrten von der Belesenheit Opitzens im Jahre 1617 ist Lipsius selbstverständlich vertraut. Fast erübrigt es sich hinzuzufügen, daß Jörg-Ulrich Fechner gerade für das Beuthener Gymnasium eine besondere Lipsius-Präsenz hervorgehoben hat. 27 Bei alledem geht es gar nicht um >Einfluß< oder >AbhängigkeitDurchrechnen< wird freilich der interdiskursiven Machart dieses Textes nur bedingt gerecht.

Der eine und der andere Petrarca Die Fährte, auf die der Kontext des >Aristarchus< gerade mit der erwähnten Einfuhrung des muttersprachlichen Exempels den Hörer/Leser setzt, fuhrt zunächst einmal zu R o n s a r d als dem Muster für den Alexandriner (und dessen poetische elegantia), dann aber — v o m erotischen Rollensprechen her — zu Petrarca (in dessen Wirkungsfeld w i e d e r u m R o n s a r d und viele der von Opitz

sei h i e r ein S a m m e l b a n d h e r v o r g e h o b e n : D i s k u r s t h e o r i e n u n d Literaturwissenschaft, h g . v . J ü r g e n F o h r m a n n u . H a r r o M ü l l e r , F r a n k f u r t a . M . 1988 ( d o r t freilich auch p r o n o n c i e r t e I n f r a g e stellungen, so d u r c h M a n f r e d F r a n k , S. 2 5 - 4 4 ) . 29

Z u D i l t h e y s. A n m . 21; G e r h a r d Oestreich, Geist u n d Gestalt des f r ü h m o d e r n e n Staates, B e r l i n 1969, bes. S. 1 1 - 1 5 7 ( z u m N e u s t o i z i s m u s u n d zu Justus Lipsius.). Vgl. u n t e r d e n vielen n a c h f o l g e n d e n A r b e i t e n v o r allem G ü n t e r A b e l , S t o i z i s m u s u n d F r ü h e N e u z e i t , B e r l i n / N e w Y o r k 1978; H e r f r i e d M ü n k l e r , I m N a m e n des Staates. D i e B e g r ü n d u n g d e r Staatsraison in der F r ü h e n N e u z e i t , F r a n k f u r t a . M . 1987; X a v e r Stalder, F o r m e n des b a r o c k e n Stoizismus. D e r E i n f l u ß d e r Stoa a u f die deutsche B a r o c k d i c h t u n g , B o n n 1976.

30

D i e T e n d e n z zur >Versöhnung< des a n t i k e n Stoizismus m i t christlichen G o t t e s v o r s t e l l u n g e n h a t schon D i l t h e y h e r v o r g e h o b e n ; s. j e d o c h v o r allem d e n B e i t r a g v o n M o u t ( A n m . 23).

31

So e t w a zwischen der B e s t i m m u n g der Providentia

in K a p i t e l 14 einerseits u n d d e r b e t o n t e n

U n t e r s c h e i d u n g zwischen >wahrem< u n d stoischem fatum

316

in K a p i t e l 20 andererseits.

Die gezähmte

Fortuna

genannten Autoren bereits stehen). Die drei unmittelbar folgenden Kurzgedichte32 handeln von Wollust, Schönheit, liebe, brunst, von glantz und hitze und schmertzen. Und das dann sich anschließende Sonnet ist eine freie Wiedergabe von Petrarcas erstem Lied aus dem >Canzoniere< (oder den >RimeBeraterin< sich a u f d r ä n g t u n d v o n i h r e r M a c h t spricht, i m N u fröhlich o d e r t r a u r i g zu s t i m m e n , ü b e r h a u p t alles G e schehen auf der W e l t (mondo) zu lenken. W ä h r e n d er >wie ein Adler< in die >Sonne< schaut, g i b t F o r t u n a eine prophetische Vision des Lebensgangs der Laura, v o n der G e b u r t u n t e r >glücklicher< Astral-Konstellation (v. 61 f.), g ö t t licher W u n d e r w i r k u n g a u f die N a t u r w i e d e n v o m >Feuer< der Liebe Verzehrten, bis z u m j ä h e n Hinscheiden:

105

Ma parmi che sua subita partita tosto ti fia cagion d'amara vita.

M i t dieser Voraussage eines >bitteren Lebens< w e n d e t die Donna sich ab, zu i h r e m R a d (rota), auf d e m sie m n s e r e n Faden< spinnt. U n d die C a n z o n e endet:

110

Detto questo, a la sua volubil rota si volse, in ch'ella fila il nostro stame, trista et certa indivina de' miei danni; ché dopo non molt'anni. quella per ch'io ò di morir tal fame, canzon mia, spense Morte acerba et rea, che più bel corpo occider non potea.

F o r t u n a präsentiert sich hier — das Versunkensein in d e n Anblick der göttlichen Laura a k k o m p a g n i e r e n d - als die M ä c h t i g e , Allmächtige, die v o n e i n e m A u genblick z u m a n d e r e n F r e u d e in T r ü b n i s v e r w a n d e l n k a n n . I m H o r i z o n t der C a n z o n e b e h a u p t e t sie dies nicht n u r . Als u n ü b e r b i e t b a r e r B e w e i s ihrer A l l m a c h t f i g u r i e r t j e n e vaticinatio ex eventu, d a ß Lauras >schöner E r d e n k e r k e n , f ü r d e n der j u n g e M a n n e n t f l a m m t ist, d u r c h plötzliches H i n w e g s c h e i d e n seine Liebesglut in >bitteres Leben< v e r w a n d e l n w i r d . G e r a d e darin, d a ß F o r t u n a in der G e d i c h t f i k t i o n dies als W i s s e n d e m i t t e n in die Liebeserfulltheit hinein v e r k ü n d e t , erscheint sie zugleich als die zutiefst G r a u s a m e . A u f f ä l l i g ist, w i e sorgfältig F o r t u n a v o n Petrarca als persona e i n g e f ü h r t u n d verabschiedet w i r d . Ihr A u f t r i t t ist sicher u n d selbstbewußt, ihre Erscheinung w i r d als >gesetzt< geschildert — aber v o n j u g e n d l i c h e m Aussehen. U n d sie fixiert d e n v o n Laura Hingerissenen genau, b e o b a c h t e t seine Gesichtszüge. A u f d e m H ö h e p u n k t der vaticinatio (>bitteres LebenwirCanzoniere< (v. 6,14) programmatisch f o r m u liert. 40 Es ist jenes Gedicht, das Opitz i m >Aristarchus< kurz nach den MusterAlexandrinern an Fortun in freier Bearbeitung darbietet. 41 Z w e i Z ü g e der Adaptation ins deutsche M e d i u m seien nur angedeutet. 4 2 Die vane speranze sind zu einer begrifflich zuspitzenden fimitas-Antithetik verschärft: Als ich für wahre lust hielt' einen falschen schein (v. 7). U n d Petrarcas Schlußzeile mit dem breve sogno findet man nachgerade zu einer moralphilosophischen M a x i m e verwandelt: Auß Tugend wahre lust allein wird zubereitet (v. 14). Das läßt aufhorchen. D e n n in dem Fortun-Gedicht hält der Ich-Sagende eigentümlich ostentativ der grausamen, lustfeindlichen Göttin seine von kindheit an geübte constantia entgegen (v. 10f.). Ihre Erfüllung findet sie im vertrawen auf Gott, das der gesamte Schlußteil (v. 25—32) bekenntnishaft entfaltet. Was hat sich hier ereignet? Es hat nicht lediglich eine >Christianisierung< der A m o r Fortuna-Thematik stattgefunden, wie sie den Dichtergenerationen von Petrarca bis zu Opitz in den großen römischen exempla besonders des Horaz, des Properz u n d des Tibull gegenwärtig war. 4 3 Eine bei Opitz oft beobachtete Tendenz zur moralphilosophischen Vereindeutigung — und damit auch A b sicherung seines neuartigen poetischen Ehrgeizes - ist hier f r ü h greifbar. Aber der charakteristische Vermischungsprozeß, der in dem ForfuM-Gedicht wie in dem Sonnet nach Petrarca sich ein wenig unbeholfen noch andeutet, läßt sich wohl grob kennzeichnen als das Interferieren zweier Diskurse: des petrarkistisch getönten Amor-Fortuna-Diskurses und des christlich-stoizistischen C o n stantia-Diskurses (für den auch hier wieder Lipsius als Leitfigur stehen mag).

39

Diese bildliche Verknüpfung der Fortuna mit der Tätigkeit der Parcae (die ja auch Fatae heißen) läßt sich aus der antiken Uberlieferung, wie es scheint, nicht nachweisen.

40

Z u m größeren Zusammenhang Alfred Noyer-Weidner, Poetologisches Programm und e r h a benen Stil in Petrarcas Einleitungsgedicht z u m >CanzoniereStränge< für die Opitz-Generation (aber auch für Ronsard und Heinsius etwa) bis zu Petrarca zurückleiteten: auch der stoizistisch-moralphilosophische. Die Petrarca-Forschung, nicht zuletzt die mit der Rezeptionsgeschichte Petrarcas befaßte, leidet immer noch tendenziell — wenngleich heute weniger ausgeprägt — an der althergebrachten Trennung der Interessen zwischen dem italienisch-poetischen und dem lateinisch-humanistischen (prosaischen wie poetischen) Petrarca. 44 Wie früh und intensiv gerade in Deutschland Petrarcas >De remediis utriusque fortunae< (in zwei Büchern), d a s hier einschlägige Handbuch, durch Übersetzungen verbreitet war, ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden. 45 Das zwischen 1354 und 1366 entstandene Werk hat 1468 in Straßburg seinen lateinischen Erstdruck gefunden. 46 1478 bereits sind Teilübersetzungen in Niklas von Wyles >Translatzen< enthalten, ein Innsbrucker Fragment (das vor einigen Jahren Joachim Knape veröffentlicht hat), 47 ist offenbar noch wesentlich älter.48 Den eigentlichen >Durchbruch< in den deutschmuttersprachlichen Markt brachte (nicht zuletzt wegen der prachtvollen Illustrationskupfer des >GlücksbuchesVon der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen< von Georg Spalatin und Peter Stahel.49 Es ist keine Frage, daß Petrarcas >RemediaCanzoniereTusculanae disputationesÖffnung< zu. 45 Die einschlägige Literatur ist zusammengestellt bei Joachim Knape, Die ältesten deutschen Übersetzungen von Petrarcas >GlücksbuchDe consolationeSelbsterhaltung< des Individuums einsetzt, gehört Petrarcas >De remediis< — das hat Dilthey seinerzeit übersehen 55 - zum selbstverständlichen >Substrat< auch für den epochalen Diskursführer Justus Lipsius.56 Daß Fortuna als antik-heidnische Göttin, auch nach der christlichen vindicatio durch Boethius und andere, eine theologische Hypothek mit sich trägt, ist Petrarca (wie bei anderen antiken Göttern) 57 sehr wohl bewußt; er spricht es in der epistolaris praefatio an Azzo da Corregio sogleich an. Wie in der Canzone 325 des >Canzoniere< spielt er schon hier beispielsweise mit der Vorstellung vom >Rad< (gyrus) der Fortuna. 58 Aber er läßt sich auf eine autonome Instanz Fortuna gar nicht erst ein (es dominiert die Providentia Dei). Vielmehr gehe es um ein permanentes duellum cum Fortuna,59 ein zweifaches im Sinne des Werktitels: um das Übermütigwerden in der prosperitas und um das Niedergedrücktwerden durch die adversitas. Z u m Hauptzweck der Schrift deklariert es Petrarca deshalb — und hier legitimiert er die kasuistische Konkretheit der remedia —, die Regulierung der Affekte an typischen Situationen der vita humana zu zeigen. Ziel dieser beständigen Regulierung ist, im Sinne seines lebenslangen Geleiters Augustin, die Gewinnung des Seelenfriedens. Doch das stoizistische Erbe wird nicht nur in der Definition und Handlung der Affekte mobilisiert, sondern auch in der zentralen Forderung, daß der Unverläßlichkeit der Fortuna zuletzt nur die virtus standhalten kann. 60 N u r so kann sie >gezähmt< werden.

52

Gerade dies hat freilich dazu gefuhrt, daß Petrarca f r ü h von Kritikern auch der Mangel an philosophischem Niveau, ja an Bildung (in dieser Schrift) v o r g e w o r f e n wurde. 53 Von Senecas >Remedia fortuitorum< sind nur Fragmente erhalten, zur Zeit Petrarcas war jedoch Ps.- Seneca, >De remediis fortuitorum< recht verbreitet. 54 Schottlaender/Keßler (Anm. 50), S. 57 u. ö. 55 In den »Anthropologie«-Kapiteln (vgl. A n m . 21) erscheint die >RemediaMusters< Petrarca gerade darin, daß die christlich-stoizistische firfus-Programmatik, wie sie sich in der >RemediaCanzoniere< (Nr. 325) die grausame Fortuna den j u n g e n , hingerissenen Anbeter der Laura zerrt, 63 bildet das unüberbietbare existentielle Exempel für jene incertos(que) et subitos rerum morus, von denen gleich i m ersten Satz der praefatio zu >De remediis utriusque fortunae< die R e d e ist. O p i t z zieht in seinem frühen Foriutt-Gedicht beides sozusagen modellhaft zusammen. N u r so ist einerseits die volltönend einsetzende Beschimpfung der Fortuna als Anfeinderin der lust zu verstehen, andererseits die schließliche >Wende< zur fast martyriologisch gefaßten constantia und zu: Gott aber ist mein schütz.

D a s T o p i s c h e u n d die V i t a Untersuchungen wie die zu fortuna oder constantia stehen bekanntermaßen allzu leicht in der Gefahr, im bloß Ideen- und Motivgeschichtlichen zu verharren. Es begegnet nicht alles zu jeder beliebigen Zeit, auch nicht in der Geschichte des fortuna-Denkens. Petrarcas >De remediis utriusque fortunae< mit seiner dezidierten R ü c k w e n d u n g zu antiken autoritates ist aus einer sehr bestimmten, krisenhaften, auch explizit benannten Epochenerfahrung heraus (presentis etatis execratio) geschrieben. 64 Lipsius' fundamentales Interesse an constantia und seine ostentative - aber nicht widerspruchsfreie 6 5 - christliche Einfärbung der fortuna sind nicht denkbar ohne seine intensive Reflexion auf das kriegerische, katastrophengeprägte Zeitalter (aevum calamitosum, vastitas Europae u. dgl.) 66 u n d

61

Z u m größeren philosophischen Z u s a m m e n h a n g Jason Lewis Saunders, Justus Lipsius. T h e Phil o s o p h y o f Renaissance Stoicism, N e w York 1955, S. lOlff.

62 63

>AristarchusEntsagung< geübt habe.

64

Z u diesem Zeithorizont Keßler ( A n m . 57), passim.

65

Vgl. o b e n S. 316.

66

D i e G r u n d m o t i v e nennt bereits die praefatio zu »De constantiaKarriere< das wiederholte Sich-Arrangieren m i t recht unterschiedlichen >Herren< einschließt. 67 Für das Fortun-Gedicht des j u n g e n O p i t z m i t seiner sehr prinzipiellen »Anklage« hat schon M a r i a n Szyrocki auf das M o m e n t der »schweren Jugendzeit« hingewiesen, auf die A b h ä n g i g k e i t v o n unterschiedlichen B r o t g e b e r n , seit er die Vaterstadt Bunzlau verlassen hat. 6 8 Die M o d e l l h a f t i g k e i t dieses Gedichts indes w i r d v o r allem durch dreierlei b e s t i m m t : durch die exponierte Stellung des muttersprachlichen A l e x a n d r i n e r - E x p e r i m e n t s innerhalb der (lateinischen) >Aristarchusjugendliches< u n d ein zugleich ehrgeizig-gelehrtes Rollensprechen; u n d durch den interdiskursiven (Petrarca alludierenden) R e i z des stoizistischen constantia-Dcnkens u n d des erotischen Petrarkismus. Das Ganze aber steht nach b e w ä h r t e m römisch-antikem M u s t e r unter d e m Schutz, unter der besonderen licentia des opus iuvenile oder auch kollektiv der iuvenilia.69 Dieses A r g u m e n t schließt die Anfängerschaft in der poetischen ars ebenso ein wie v o r allem die Freizügigkeit in der erotischen Thematik. G e n a u diese A r g u m e n t a t i o n b e m ü h t O p i t z n u r w e n i g e J a h r e später (1620), als er d e m vierten B u c h der >Poetischen Wälder< (Darinnen Liebesgedicht der Ersten Jugendt begriffen sind)70 sein programmatisches P o e m An die Deutsche Nation voranstellt. 7 1 Das Vergänglich-Gefährliche ist in den ersten beiden Zeilen ebenso präludiert wie der petrarkistische G r u n d z u g : DEr blinden Venus Werck / die süsse Gifft zu lieben / Vnd schöne Zauberey / in dieses Buch geschrieben.72 Wieviel >Erlebnis< hinter dieser f r ü h e n Liebespoesie stehen m a g (Opitz arbeitet mit d e m A r g u m e n t , Venus habe ihn in der Person der Asterie 7 3 v o n d e m schon b e g o n n e n e n patriotischen Heldenepos abgezogen), k a n n durchaus offen bleiben. 7 4 D i e f r ü h e Lebensphase stellt der noch j u n g e A u t o r , hier ganz den g r o ß e n 67

Gedrängte Skizze mit verständnisvollen Deutungen bei Szyrocki (Anm. 1).

68

Szyrocki (Anm. 1), S. 24f.

69

Grundmotiv von Catull über Horaz bis in die Kaiserzeit hinein (Martial u.a.). Zu Opitzens erotischer Poesie und Vita vgl. Janis Little Gellinek, Liebesgedichte und Lebensgeschichte bei Martin Opitz, DVjs 62 (1968), S. 161-181.

70

Gut zugänglich in: Martin Opitz, Gedichte. Eine Auswahl, hg.v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart

71

Ebd., S. 139f.

72

Ebd., S. 139.

1970, S. 139-151.

73

Sie ist Adressatin der frühen lateinischen Gedichte >Hipponax ad Asterien< (1618), Schulz-Behrend, Bd. 1 (Anm. 2), S. 98-113.

74

Z u m biographischen Kontext Szyrocki (Anm. 1), S. 13-31.

323

Wilfried Barner

M u s t e r n Petrarca, R o n s a r d u n d Heinsius folgend, 7 5 unter die typisierende Leitf o r m e l Venus süsse Pein (v. 40), die ihn das enge Meer der Eitelkeit (v. 20) gewiesen habe. In welcher w i r k e n d e n B e z i e h u n g Venus u n d F o r t u n a zueinander vorgestellt w e r d e n , bleibt unausgemacht. Arbeiten beide sozusagen H a n d in H a n d ? Ist Fortuna die mächtigere, i m Sinne des >Canzoniere< (Lied 325) >alles< d o m i nierende Göttin? I m Fortun-Gedicht ist es die Glücksgöttin, die m i ß g ü n s t i g verhindert, daß das junge leben die erotischen frewden, die lust auszukosten v e r m a g . Vanitas ist d o r t die anthropologische G r u n d e r f a h r u n g , die den e i g e n t ü m lichen Anschluß an den (christlich-)stoizistischen constantia-Diskurs ermöglicht. W o h l i m gleichen J a h r , in d e m O p i t z seine iuvenilia m i t d e m Gedicht An die Deutsche Nation verabschiedet, b e g i n n t er (vermutlich in Heidelberg, d a n n in J ü t l a n d fortgesetzt) 7 6 das >TrostGedichte in W i d e r w e r t i g k e i t D e ß Krieges* in vier Büchern, 1633 zuerst gedruckt. 7 7 D e r G r o ß e Krieg tobt bereits seit zwei Jahren, er hat die Vita des j u n g e n (nicht nur) kulturpatriotisch gesonnenen Poeten gründlich verändert. D e r Titel bereits stellt das G r o ß g e d i c h t in vier B ü c h e r n (mit 568, 612, 560 u n d wieder 568 Alexandrinern) in den G a t t u n g s z u s a m m e n h a n g der konsolatorischen (weshalb der Text später auch in O p i t z e n s >Geistliche Poemata< a u f g e n o m m e n w u r d e ) . In einem P r o ö m i u m , das sich in Analogie z u m M u s e n a n r u f an Gottes >Geist< w e n d e t , pointiert der A u t o r dieses newe Feld (v. 11) in p r o g r a m m a t i s c h e r Absetzung gegen Liebespoesie (Wer hat doch nicht geschrieben Von Venus Eytelkeit / und von dem schnöden Lieben der blinden Jugend Lust? v. 13—15), gegen das L o b g r o ß e r H e r r e n u n d gegen Sagen- u n d M y t h e n d i c h t u n g . Sein Ziel (v. 27—29): Ich bin Begierde voll Zu schreiben / wie man sich im Creutz' auch frewen sol / Sein Meister seiner selbst. D i e christlich-stoizistische Vorgabe mit Creutz (adversitas) u n d conservatio sui ipsius ist o f f e n k u n d i g , ebenso w i e der patriotisch-muttersprachliche Ehrgeiz 75

Zusammenfassend, mit detaillierten Beobachtungen, Gellinek (Anm. 35), S. 27-119 (zur Straßburger Ausgabe 1624); vgl. auch die in A n m . 8 genannten Überblicke von Trunz und (zu Heinsius) Becker-Cantarino.

76

Jörg-Ulrich Fechner, Martin Opitz' >TrostGedichte< in der Nachfolge von Petrarcas >De remediis utriusque fortunae