Flucht – Bildung – Integration?: Bildungspolitische und pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen [1. Aufl.] 978-3-658-23590-1;978-3-658-23591-8

In diesem Band werden Fluchtverhältnisse aus Sicht verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen beleuchtet. Zudem wird d

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German Pages XII, 219 [219] Year 2019

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Flucht – Bildung – Integration?: Bildungspolitische und pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen [1. Aufl.]
 978-3-658-23590-1;978-3-658-23591-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Front Matter ....Pages 1-1
Flüchtlinge, Politik und Kosmopolitismus (Micha Brumlik)....Pages 3-21
Migration: Hintergründe, Bedingungen und Formen. Eine Skizze (Jochen Oltmer)....Pages 23-41
Aufenthalt gegen Leistung? Der Einzug meritokratischer Elemente in die deutsche Flüchtlingspolitik (Hannes Schammann)....Pages 43-61
Flucht, Rassismus, Bildung (Kenneth Horvath)....Pages 63-78
Front Matter ....Pages 79-79
Wann und warum können Fluchtgeschichten traumatisierend wirken? (Sibylle Rothkegel)....Pages 81-91
Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften (Dorothee Frings)....Pages 93-117
Flüchtlingskinder in Kitas (Ute Günzel, Monika Rebitzki)....Pages 119-135
Traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen. Hintergründe, Versorgungsbarrieren und die Rolle Psychosozialer Zentren (Armin Wühle, Gisela Penteker)....Pages 137-150
Front Matter ....Pages 151-151
Bildung schafft Integration? – Dilemmata bildungspolitischer und pädagogischer Herausforderungen von Fluchtverhältnissen (Tatjana Freytag)....Pages 153-163
GEW Handlungsempfehlungen zur Gewährleistung von Bildungszugängen und Teilhabe für Geflüchtete und Asylsuchende (Isabel Rojas Castañeda, Maren Kaminski)....Pages 165-183
Selbst-Bemächtigung, Selbst-Organisation von geflüchteten Personen und Soziale Arbeit in einem zunehmend nationalistisch-rassistischen Land (Claus Melter)....Pages 185-202
Fremd, nicht immer anders (Anselm Böhmer)....Pages 203-219

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Meike Sophia Baader Tatjana Freytag Darijusch Wirth Hrsg.

Flucht – Bildung – Integration? Bildungspolitische und pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen

Flucht – Bildung – Integration?

Meike Sophia Baader · Tatjana Freytag · Darijusch Wirth (Hrsg.)

Flucht – Bildung – Integration? Bildungspolitische und ­pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen

Hrsg. Meike Sophia Baader Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim Hildesheim, Deutschland

Tatjana Freytag Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim Hildesheim, Deutschland

Darijusch Wirth Volkshochschule Nienburg Nienburg (Weser), Deutschland

ISBN 978-3-658-23590-1 ISBN 978-3-658-23591-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Fluchtbewegungen sind kein ausschließliches Phänomen der Gegenwart, sondern fanden in vielen Epochen infolge von (Bürger-)Kriegen, dem Zerfall von Staaten oder auch Hungersnöten überall auf dem Globus statt. Allein im Zweiten Weltkrieg waren schätzungsweise 60 Mio. Menschen in Europa auf der Flucht. Um einen Rechtsrahmen für diese Flüchtlinge zu schaffen, wurde 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet, die wiederum 1967 erweitert wurde, um den Fluchtbewegungen infolge der Ablösung der Kolonialherrschaft gerecht zu werden. Laut dieser Konvention gelten jene Personen als Flüchtlinge, die ihre Herkunftsorte verlassen, da ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Freiheit und Rechte bedroht sind, weil sie aufgrund ihrer Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnische Herkunft verfolgt werden (vgl. Oltmer 2016a, b). Die Zahl der Geflüchteten ist weltweit in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Bereits für das Jahr 2013 registrierte das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) 51,2 Mio. Menschen, die aufgrund von Krieg, Gewalt, sozialer Not und Verfolgung ihre Lebens- und Herkunftsorte verlassen mussten (UNHCR 2014, S. 2). Diese Zahl stellte bereits einen tragischen Rekordwert dar (UNHCR 2014, S. 5; Kolb 2018). In den letzten Jahren haben sich diese Zahlen jedoch weiter dramatisiert. Im Jahr 2017 wuchs die Zahl auf nunmehr 68,5 Mio. Menschen an, mehr als die Hälfte davon waren jünger als 18 Jahre (UNHCR 2018, S. 3 f.). Diese Gesamtzahl der Geflüchteten setzt sich aus 40 Mio. Binnenvertriebenen innerhalb ihres jeweiligen Herkunftslandes, 25,4 Mio. Geflüchteten, welche ihre Herkunftsländer verlassen mussten, und 3,1 Mio. Asylsuchenden zusammen. Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen – beispielsweise im Nahen und Mittleren Osten oder in Afrika – nehmen dabei den Großteil der Geflüchteten

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Vorwort

auf, nur relativ wenige leben in den Industriestaaten (UNHCR 2018, S. 2; UNO-Flüchtlingshilfe 2018). Durch die Destabilisierung diverser Staaten am Rande der Europäischen Union, etwa infolge des sogenannten „Arabischen Frühlings“, suchen immer mehr Menschen auch in Europa Schutz. Dies stellt die europäischen Nationalstaaten, aber auch die Europäische Union vor neue Herausforderungen. Insbesondere nach der Weltfinanzkrise 2007 und die sich daraus in den Folgejahren entwickelnden Krisen der Weltwirtschaft und des Euroraums verschärfte sich die Problematik. Traditionelle Erstaufnahmeländer wie Griechenland und Italien sind zunehmend finanziell nicht mehr in der Lage, Geflüchtete aufzunehmen und zu versorgen, während andere europäische Staaten ihre Asylpolitik verschärfen und ihre Grenzen regelrecht abschotten, um Geflüchtete an der Einreise zu hindern. Dies stellt die europäische Union vor neue Fragen der Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Asylpolitik sowie im Hinblick auf eine „gerechte Verteilung“ der Geflüchteten (vgl. Oltmer 2016b; Bukovec 2016; Wilkens 2016). Mit den wachsenden Fluchtbewegungen entstand ein Handlungsbedarf in den Aufnahmeländern. Die Fluchtbewegungen haben in vielen europäischen Staaten zu Verunsicherungen in der Bevölkerung geführt, die insbesondere von rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Gruppen und Parteien für eigene Interessen und den Wahlkampf instrumentalisiert werden, aber auch rassistische Tendenzen fördern. Auch die Bundesrepublik, die 2015 und 2016 ca. 1 Mio. Geflüchtete aufgenommen hat, ist vor diese Herausforderungen gestellt und muss Antworten auf die Frage finden, wie sich Integrationsprozesse angesichts der Fluchtverhältnisse und -geschichten auf der politischen und institutionell-organisationalen Ebene konkret gestalten lassen. Dabei hat die anhaltende Instrumentalisierung des ­Themas im politischen Diskurs dazu geführt, dass die Frage zum Schauplatz heftigster Kämpfe und Polarisierungen auf den verschiedensten Ebenen geworden ist, was die Positionierung in den Debatten insgesamt erschwert. Laut aktuellen Statistiken „waren im Juli 2018 etwa 28 Prozent der Geflüchteten abhängig beschäftigt und 23 Prozent waren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis“ (Brücker und Luft 2018). Dennoch finden Geflüchtete primär im Niedriglohnsektor eine Anstellung. Dies liegt vor allem an fehlenden Sprachkenntnissen, aber auch an fehlenden Qualifikationen bzw. nicht erteilten Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen (vgl. ebd.). Eine zentrale Rolle in diesen Debatten spielt der Begriff der Integration. Er bezieht sich schwerpunktmäßig sowohl auf das Bildungssystem als auch den

Vorwort

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Arbeitsmarkt und wirkt sich damit vor allem auf die Handlungsfelder des Sozialen sowie der Erziehung und Bildung aus. Diese Betrachtungsweise war bei der Entstehung dieses Sammelbandes handlungsleitend, in dessen Fokus die Handlungsfelder Erziehung, Bildung, soziale Arbeit und Fragen der Versorgung mit psychischen Gesundheitsleistungen stehen. Konkret ging es um die Frage, wie sich Integrationsprozesse angesichts der Fluchtverhältnisse und -geschichten praktisch gestalten lassen. Dabei wurde die These vertreten, dass Integration keine Aufgabe ist, die nur einseitig von den Geflüchteten geleistet werden muss. Vielmehr geht es nach Auffassung der Herausgeber_innen dabei um eine gemeinsame und wechselseitige Verhältnisgestaltung, die sich macht-, vorurteils- und auch geschlechterpolitisch reflexiv versteht und anknüpfend an die kritische Migrationspädagogik eine Neuausrichtung erfordert. Mit dem Begriff der „Fluchtverhältnisse“ ist zum einen die Bedeutung von gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen sowie sozial- und bildungspolitischen Rahmungen angezeigt. Der Umgang mit Flucht, Geflüchteten und Fluchtverhältnissen macht insbesondere auch Auseinandersetzungen mit den rechtlichen Rahmenbedingungen erforderlich. Zum anderen wird auf je spezifische Bedingungen, Kontexte sowie Interaktionen und deren jeweilige Gestaltung, etwa in Kommunen, verwiesen. Akzentuiert werden damit Relationierungen auf den verschiedensten Ebenen. In die Fluchtverhältnisse eingelassen sind wiederum – über die Unterscheidungen zwischen den Herkunftsländern hinaus – weitere Differenzen, wie Klasse, Geschlecht, Religion, Alter, Ausbildung, Sprache etc. Auch Familienkonstellationen spielen, vor allem bei der Arbeit mit sogenannten „unbegleiteten Minderjährigen“, eine Rolle. Dies alles zeigt die Komplexität der Wechselverhältnisse auf, zu der auch die Perspektiven der Geflüchteten und ihre subjektiven Wahrnehmungen gehören. Die vorliegende Publikation geht auf die Ringvorlesung „Flucht – Bildung – Integration? Bildungspolitische und pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen“ im Sommersemester 2017 zurück, die an der Stiftung Universität Hildesheim in Zusammenarbeit mit der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften Hannover-Hildesheim realisiert werden konnte. Die Vorträge der Veranstaltungsreihe bilden die Grundlage dieses Sammelbandes, in den zusätzliche Beiträge aufgenommen wurden. Entsprechend der Zielsetzung der Veranstaltungsreihe verfolgt auch dieser Band den Anspruch, theoretische Überlegungen und Erfahrungen von Aktiven aus der praktischen Arbeit mit Geflüchteten zusammenzubringen und zu kombinieren. Angesichts des breiten gesellschaftlichen Engagements für Geflüchtete in den letzten Jahren bietet sich diese Vorgehensweise nicht nur an, sondern gewährt darüber hinaus wertvolle Einblicke in die Motivation, Problemstellungen und

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Vorwort

Handlungsweisen von Aktiven im direkten Umgang mit den Geflüchteten. Die komplementäre Ergänzung von Theorie und Praxis stellt nach unserer Überzeugung daher eine besondere Stärke des Sammelbandes dar. Aus dieser Verwiesenheit ergibt sich, dass bezüglich der ganz praktischen Fragen der sozialen, pädagogischen und psychologischen Arbeit mit Geflüchteten auch durchaus unterschiedliche Antworten gegeben werden. Diese unterschiedlichen Positionen mögen zur Reflexivität pädagogischen Tuns und Handelns in den verschiedenen Kontexten beitragen. Mit diesem Ansatz wird ferner dem konzeptionellen Grundgedanken der Kooperationsstellen Hochschulen und Gewerkschaften gefolgt. Dieser besteht nicht nur darin, Wissenschaft und Arbeitswelt bzw. Praxis in einen Dialog zu bringen und gewissermaßen „Übersetzungsarbeit“ zu leisten, sondern geht darüber hinaus. Es geht darum „einen dialogisch-reflexiven Prozess [zu organisieren], in dessen Verlauf Akteur[_ inn]e[n] aus Wissenschaft und Arbeitswelt gemeinsam daran arbeiten, handlungsrelevante und wissenschaftlich interessante Erkenntnisse zu erzielen. Beide Seiten lernen dabei voneinander, wissenschaftliches und praktisches Wissen fließen in den Prozess ein“ (Kock 2007, S. 20).

In diesem Sinne hoffen wir, dass die vorliegende Publikation einen Beitrag zu diesem Prozess leisten kann. Dieser ist in keiner Weise als abgeschlossen zu verstehen und muss weiter gedacht und ergänzt werden. Abschließend gilt unser ausdrücklicher Dank der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften Hannover-Hildesheim für die Realisierung der Ringvorlesung und der Publikation sowie Katrin Patscheider für die Unterstützung bei der Manuskripterstellung. Hildesheim Hildesheim Nienburg/Weser Deutschland

Meike Sophia Baader Tatjana Freytag Darijusch Wirth

Literatur Brücker, H., & Luft, S. (2018). Zuwanderung und Arbeitsmarktintegration. http://www. bpb.de/politik/innenpolitik/demografischer-wandel/279842/herbert-bruecker-stefan-luft-­ zuwanderung-und-arbeitsmarktintegration. Zugegriffen: 30. November 2018.

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Bukovec, N. (2016). Wie sich Nordeuropa gegen Flüchtlinge abschottet. http://www.bpb. de/gesellschaft/migration/flucht/235280/wie-sich-nordeuropa-gegen-fluechtlinge-­ abschottet. Zugegriffen: 30. November 2018. Kock, K. (2007). Zwischen Lehrstühlen und Werkbänken. Aufgaben und Arbeitsweisen von Kooperationsstellen. Arbeitspapier 139 der Hans-Böckler-Stiftung. https://www. kooperationsstellen.de/wp-content/uploads/2018/09/p_arbp_139.pdf. Zugegriffen: 7. November 2018. Kolb, M. (19. Juni 2018). Zahl der Flüchtenden steigt auf Rekordniveau. Süddeutsche Zeitung online vom 19. Juni. http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-unhcr-bericht-rekordzahlen-1.4021162. Zugegriffen: 7. November 2018. Oltmer, J. (2016a). Deutschland und die globale Flüchtlingsfrage. https://zeitgeschichte-online.de/thema/deutschland-und-die-globale-fluechtlingsfrage. Zugegriffen: 30. November 2018. Oltmer, J. (2016b). Warum ist die Bundesrepublik Deutschland 2015 Ziel umfangreicher globaler Fluchtbewegungen geworden? http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/224849/fluchtziel-deutschland?p=all. Zugegriffen: 30. November 2018. UNHCR (Hrsg.). (2014). Global Trends 2013. War’s human cost. http://www.unhcr.org/ statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html. Zugegriffen: 7. November 2018. UNHCR (Hrsg.). (2018). Global Trends 2017. Forced displacement in 2017. http://www. unhcr.org/statistics/unhcrstats/5b27be547/unhcr-global-trends-2017.html. Zugegriffen: 7. November 2018. UNO-Flüchtlingshilfe (Hrsg.). (2018). Flüchtlinge weltweit. Zahlen & Fakten. https://www. uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten. Zugegriffen: 7. November 2018.

Wilkens, C. (2016). Südeuropas Herkulesaufgabe. http://www.bpb.de/gesellschaft/ migration/flucht/236883/suedeuropas-herkulesaufgabe?p=0#bio0. Zugegriffen: 30. November 2018.

Inhaltsverzeichnis

Fluchtverhältnisse I – Theoretische Rahmungen Flüchtlinge, Politik und Kosmopolitismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Micha Brumlik Migration: Hintergründe, Bedingungen und Formen. Eine Skizze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Jochen Oltmer Aufenthalt gegen Leistung? Der Einzug meritokratischer Elemente in die deutsche Flüchtlingspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Hannes Schammann Flucht, Rassismus, Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Kenneth Horvath Fluchtverhältnisse II – Verletzlichkeiten Wann und warum können Fluchtgeschichten traumatisierend wirken?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Sibylle Rothkegel Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften. . . . . . . . . . . . . . . . 93 Dorothee Frings Flüchtlingskinder in Kitas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ute Günzel und Monika Rebitzki Traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen. Hintergründe, Versorgungsbarrieren und die Rolle Psychosozialer Zentren . . . . . . . . . . 137 Armin Wühle und Gisela Penteker XI

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Inhaltsverzeichnis

Fluchtverhältnisse III – Teilhabe und Bildung Bildung schafft Integration? – Dilemmata bildungspolitischer und pädagogischer Herausforderungen von Fluchtverhältnissen. . . . . . . 153 Tatjana Freytag GEW Handlungsempfehlungen zur Gewährleistung von Bildungszugängen und Teilhabe für Geflüchtete und Asylsuchende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Isabel Rojas Castañeda und Maren Kaminski Selbst-Bemächtigung, Selbst-Organisation von geflüchteten Personen und Soziale Arbeit in einem zunehmend nationalistisch-rassistischen Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Claus Melter Fremd, nicht immer anders. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Anselm Böhmer

Teil I Fluchtverhältnisse I – Theoretische Rahmungen

Flüchtlinge, Politik und Kosmopolitismus Micha Brumlik

Zusammenfassung

Der Beitrag erörtert vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten der sog. „Flüchtlingskrise“ neuere sozial- und moralphilosophische Theorien des „Kosmopolitismus“ in der Tradition von Immanuel Kants Überlegungen zu einem „Weltbürgerrecht“ in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“. Dabei zeigt sich, dass rein moralphilosophisch gesehen eine grundsätzliche Niederlassungsfreiheit aller Menschen auf jedem Ort der Erde widerspruchsfrei denkbar ist, sich die Umsetzung dieser moralphilosophischen Position freilich im Spannungsfeld von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bewähren muss.

1 Vorbemerkung Auf die Frage, warum die Union eine bürgerlich-konservative Erneuerung brauche, heißt es im siebten Punkt des kürzlich von der CSU publizierten Grundsatzpapiers:

Überarbeitete Fassung eines erstmals in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ publizierten Beitrags (Brumlik 2017b). M. Brumlik ()  Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin Brandenburg, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_1

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M. Brumlik Weil gesunder Patriotismus und Liebe zur Heimat wichtig sind. [Hervorh. im Original, M. B.] Wir können stolz sein auf das, was Deutschland in den letzten 70 Jahren erreicht hat. Die Werte und Prägung unserer Heimat sorgen für Identität und Zusammenhalt. Nur wer der eigenen Sache sicher ist, kann anderen offen und tolerant begegnen. Dagegen müssen wir klarmachen: Wer Kreuze abnehmen, Schweinefleisch verbannen und Martinsumzüge in Lichterfest umbenennen will, ist nicht tolerant, sondern betreibt gefährliche Selbstverleugnung (CSU 2017).

Was aber genau ist Heimat? Jener Ort, an dem Menschen schon immer gelebt haben? Der Ort ihrer Herkunft? Oder doch vielleicht ein Ort der Ankunft? Das Thema, die Frage hat jedenfalls auch die neueste sozialwissenschaftliche Literatur, aber auch das allerneueste Feuilleton (Greiner 2017, dazu kritisch Brumlik 2018) erreicht: Von Überlegungen zur „Transzendentalen Heimatlosigkeit des modernen Menschen“ (Recki 2017) bis zu einer Studie über die „Literatur der Verlassenheit“ (Liebsch 2017) reicht etwa ein soeben erschienener Sammelband mit „politisch-philosophischen Perspektiven“ zum Thema. Schon ein Jahr zuvor hatte die renommierte „Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“ den damit zusammenhängenden Fragen eine Sonderausgabe gewidmet.1 Wären etwa jene westdeutschen Städte, Länder und Gemeinden, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 12 Mio. aus Ostdeutschland Vertriebene eine – ja – „neue“ Heimat fanden, Beispiele für diese Erfahrungen? Auch in der Geschichte der europäischen Expansion sind derartige Erfahrungen überliefert. Stets ging es um Her-kunft, An-kunft und: Zu-kunft: Auswanderer, etwa die „Pilgrim Fathers“, die im frühen siebzehnten Jahrhundert von England mit der Mayflower nach Nordamerika segelten, suchten einen Ort, an dem sie ihren im Herkunftsland bedrängten Glauben in Freiheit – also in geistiger Heimat – leben konnten. Neu ist die Debatte um die „Heimat“ hierzulande jedenfalls nicht: Schon vor dreißig Jahren drehte der Regisseur Edgar Reitz seine mit Prolog und Epilog insgesamt fünfteilige Filmserie „Heimat“ – eine Serie, die alles in allem aus dreißig Fernsehfilmen besteht und deren Handlung im fiktiven Dorf „Schabbach“ im Hunsrück nach dem Ersten Weltkrieg beginnt, um die Jahre des Zweiten Weltkrieges fernab der Front zu zeigen und schließlich die Binnenwanderung der Hauptpersonen nach München zu verfolgen. „Heimat“ – das zeigte dieses monumentale Filmprojekt in ungewöhnlicher Eindringlichkeit – ist eben dies, was die CSU unterstellt, genau nicht: ein territorialer, sozialer und geistiger Ort, an dem

1Psyche

9/10 2016 zum Thema „Heimat-Fremdheit-Migration“. Stuttgart: Klett Cotta 2016.

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man sich der eigenen Sache auf jeden Fall sicher ist, ein Ort, an dem man sich auskennt, wohlfühlt, anerkannt wird und eben auch – last but not least – ein materielles Auskommen findet. Damit wird sofort deutlich, dass „Heimat“ allemal mehr und anderes ist als lediglich „Herkunft“. Dann aber stellt sich sofort eine moralische Frage, ein Gerechtigkeitsproblem: Ist es gerecht, dass die einen über „Heimat“ verfügen und die anderen nicht? Erst kürzlich hat Edgar Reitz (2017) in einem großen Interview in der FAZ zu all dem noch einmal Stellung bezogen und darauf hingewiesen, dass „Heimat“ so vor allem ein deutsches Wort sei – die einzige andere Sprache, in der es mit ähnlichem Sinngehalt vorkäme sei Russisch: „Rodina“. Ist es aber umgekehrt – ein Lebensgefühl aus dem sich der neue Rechtspopulismus auch speist – wirklich so, dass die An-kunft der Anderen, ihre Be-Heimatung auf neuem Territorium die Heimat der anderen, genauer gesagt: deren „Heimatgefühl“ in unzumutbarer Weise beeinträchtigt, beeinträchtigen muss, etwa, wenn allmählich immer mehr Kopftücher im Quartier zu sehen sind oder wenn man in Berlin beim Bäcker, wie vor geraumer Zeit der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beklagte, keine „Schrippen“ sondern nur noch „Weckle“ erhalte? 1959 jedenfalls beendete Ernst Bloch sein über tausend Seiten langes Werk „Das Prinzip Hoffnung“ mit diesen Worten: Hat sich der die Verhältnisse umbildende Mensch erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat (Bloch 1976, S. 1628).

Daran ist soviel richtig, dass der Begriff der „Heimat“ immer auch eine Erinnerung an eine – keineswegs von allen Kindern erfahrene, ersehnte Geborgenheit – darstellt. Indes: ernüchtert von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, wird man gegenüber Blochs Hoffnung auf ein Leben ganz ohne Entfremdung skeptisch sein. An die Stelle seines utopischen Begriffs der Heimat sollte daher ein kleinformatigerer – ja – liberaler Begriff von „Heimat“ stehen: Heimat als territorialer, sozialer und geistiger Ort gar nicht einmal versöhnter, wohl aber respektierter Verschiedenheit – was ohne ein Minimum an materieller Sicherheit kaum vorstellbar ist.

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2 Zurück zum Nationalstaat? Es sind keineswegs nur rechte Bewegungen, die eine Rückkehr zum klassischen Nationalstaat anstreben – in Deutschland etwa war vor einiger Zeit von einer Aktion der früher als „linksalternativ“ geltenden Tageszeitung „taz“ zu lesen, sich auch öffentlich für einen neuen Patriotismus einzusetzen. So schrieb etwa Nina Apin (2017) am 25. Januar 2017, dass sich die linke Hoffnung auf ein Ende von Religion und Nationalstaat „gründlich zerschlagen“ habe und es daher darauf ankäme, Deutschland als „Vaterland, das auch Mutterland ist“, als „Heimat und Partizipationsangebot“ nicht nur zu verstehen, sondern auch zu propagieren. Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Chancen einer solchen Programmatik zu bewerten, wohl aber darauf, darüber nicht zu vergessen oder zu verdrängen, in welcher politischen Lage sich die Menschheit als Ganze befindet: die Menschheit als Ganze und das seit mindestens einhundertundfünfzig Jahren. Schon 1848 stellte Karl Marx (Marx und Engels 1959, S. 465 f.) in seinem „Kommunistischen Manifest“ klar: Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.

Es bedurfte offenbar der durch die noch immer unverstandene Globalisierung möglich gewordenen Flüchtlingskrise, in der sich Menschen auf langen, gefährlichen Wegen auf die Suche nach einer besseren Heimat machen, um westlichen Gesellschaften den Umstand klar zu machen, dass menschliche Existenz immer auch raumgebunden ist.

3 Von der Antike zur Aufklärung: Welt und Flucht Daher scheint es, als ob das jedenfalls im Winter 2017/2018 abgeflaute Flüchtlingsproblem – jedenfalls ab einer bestimmten Größenordnung (Mavroudi und Nagel 2016) – sämtliche bekannten Ausdrucks- und Erscheinungsformen des „Politischen“, vor allem des klassischen Nationalstaats, neuerdings aber auch übergreifender, partiell politisch und rechtlich geordneter Großräume wie etwa

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der EU ihres systematischen, nicht nur moralischen Ungenügens überführt. Indes: sowenig derzeit für die Verwirklichung weltbürgerlicher Zustände spricht und so sehr bestenfalls begrenzte – verantwortungs- oder gesinnungsethische – Antworten auf die Flüchtlingskrise denkbar sind, so sehr verweist doch zumal die gegenwärtige Erfahrung auf älteste Dokumente unserer Zivilisation: etwa die in der Bibel bezeugten wandernden Erzväter und -mütter, bzw. der Kinder Israel mit ihrer Flucht aus Ägypten und ihrer Trauer über das zwangsweise verlassene Jerusalem, wie sie in Psalm 137 geäußert wird: „Vergess ich Dein Jerusalem, verdörre meine rechte Hand und klebe die Zunge mir am Gaumen…“. Das ist bei den griechischen Grundlagen des Westens nicht anders. Es kann kein Zufall sein, dass ein nur unwesentlich jüngerer Text, des Aischylos Drama „Die Schutzflehenden“, eine ganz ähnliche Erfahrung wie die der Kinder Israels behandelt – eigentümlicherweise auch hier mit Bezug auf Ägypten: Zeus, Flüchtlingshort, Schau gnädig herab auf unseren Zug, Der zu Meer von des Nilstroms Mündungen her, Von den feinsandigen, Aufbrach; und verlassend die heilge Heimat, die an Syria grenzt, flohn wir, Um Blutschuld nicht ins Elend zu gehn, Vom Gerichte des Volkes verurteilt (Aischylos 2016, S. 117).

Es sollte freilich noch mehr als zweitausend Jahre dauern, bis sich herumgesprochen hatte, dass tatsächlich eine Welt, eine Menschheit in einem Raum existierte. So war es die Philosophie der Aufklärung, namentlich Immanuel Kant, die sich dieser Einsicht unter dem Begriff eines möglichen, eines denkbaren „Weltbürgerrechts“ genähert hat. So hat Kant in seiner Schrift zur Metaphysik der Sitten im § 62 die Idee eines „Weltbürgerrechts“ konzipiert, eines Rechts, in dem das „Recht des Erdenbürgers“ postuliert wird, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird (Kant O.J.-b, S. 353).

Zwei Jahre zuvor schon, 1796, hatte Kant in seiner Schrift zum „Ewigen Frieden“ die Idee eines Weltbürgerrechts postuliert: Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind

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M. Brumlik (ius cosmopoliticum). Diese Einteilung ist nicht willkürlich, sondern notwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andern, und doch im Naturzustande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges verbunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist (Kant O.J.-b, S. 349).

Zuvor hatte Kant angenommen, dass der von ihm unterstellte, auf jeden Fall zu überwindende Naturzustand darin bestehe, Einzelnen keine Rechtssicherheit garantieren zu können. Daher könne der so gefährdete Einzelne all jene Personen oder Staaten, die diese Rechtssicherheit nicht zu garantieren bereit sind, sogar nötigen, entweder in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten oder aus seiner Nachbarschaft zu weichen. Man sieht freilich sofort, dass dies – jedenfalls heute – gerade nicht die Lage von politisch Verfolgten oder anderweitigen Flüchtlingen ist, von Menschen also, deren Lage ja nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass sie über keinerlei Druckmittel verfügen. Gleichwohl: Bedeutsam ist an Kants Erläuterungen, dass völlige Rechtssicherheit zunächst nur in einzelnen Staaten zu erlangen ist, das anzustrebende Weltbürgerrecht aber zumindest eine allgemeine Freizügigkeit beinhalten solle.

4 Der neue Kosmopolitismus Genau dieser Frage widmet die neueste politische Philosophie ihre Anstrengungen. So etwa die an der Yale University forschende Seyla Benhabib, die sich in dem von ihr 2008 herausgegebenen Sammelband „Kosmopolitismus und Demokratie“ (Benhabib 2008) mit den philosophischen Grundlagen kosmopolitischer Normen auseinandersetzt und dabei wesentlich auf Kant bezug nimmt; aber auch der ebenfalls früher in Yale lehrende Thomas McCarthy (2009), der sich in seiner Monografie „Race, Empire and the Idea of Human Development“ mit dem Paradox auseinandersetzt, dass ein universalistisch gesonnener Philosoph wie Kant gleichwohl herrschaftsdienliche Rassentheorien unterstützte; schließlich die in Utrecht lehrende Pauline Kleingeld (2012), die in ihrem Buch „Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of World Citizenship“ nachweist, dass und wie genau diese Philosophie der Aufklärung, Kants Philosophie, die Basis für ein reales Weltbürgertum gelegt hat. Kant gab nämlich seinem Weltbürgerrecht – um jedem kolonialistischem Missbrauch vorzubeugen – folgenden Wortlaut: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ (Kant 1970, S. 213). Hospitalität aber umfasst das Recht eines Fremdlings, „seiner Ankunft auf dem Boden eines a­ nderen wegen, von diesem nicht f­ eindselig

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behandelt zu werden.“ Kant ­postuliert darüber hinaus, dass „der andere“ den Fremdling nur abweisen kann, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann.“ Das aber ist die entscheidende Passage: Das Weltbürgerrecht, das „Hospitalitätsrecht“, verbietet das Abweisen von Fremden, sofern es den absehbaren Untergang des Fremdlings zur Folge hat. Aus diesem Verbot folgt eine positive Konsequenz: Die Pflicht zur Aufnahme aller an die Grenzen eines Landes Kommenden, sofern ihre Zurückweisung nicht mit möglichen schweren Beeinträchtigungen ihrer Würde, ihrer Gesundheit oder ihres Lebens verbunden ist. Präzisiert man dieses Prinzip um die in der globalisierten Welt unabweisbar gewordene Einsicht, dass „politische“ Verfolgung keineswegs notwendig an die gezielte Verfolgung durch staatliche Akteure gebunden ist, sondern um politisch verursachte Fluchtgründe, so kann daraus nichts anderes folgen, als dass Bürgerkriegsflüchtlinge allemal asylantragsberechtigt sind. Das sieht eine für die Globalisierung sensibilisierte politische Philosophie und die ihr entsprechende Ethik nicht anders. Benhabib drückte das so aus, dass sie einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Kants Postulaten der Gastfreundschaft feststellte. Demnach ist der Status des Fremden durch staatliche wie durch internationale Gesetze geschützt; der Gast also ist nicht länger Gast, sondern – wie es in den USA heißt – ein „resident alien“, oder „foreign citizen“, ein „ausländischer Mitbürger“, wie Europäer sagen (Benhabib 2008, S. 36–39). Man wird indes fragen müssen, ob sich gegenwärtig in den Ländern des Westens nicht eine Gegenbewegung abzeichnet, jene Anfänge weltbürgerlicher Vergemeinschaftung wieder zurückzunehmen, wovon die Flüchtlingspolitik der EU zeugt.

5 Politische Philosophie der Migration Die neuere politische Philosophie hat sich auch dieser Frage angenommen und Grenzen und Möglichkeiten eines Kosmopolitismus, der seinen Namen verdient, diskutiert. So hat der in Oxford lehrende Philosoph David Miller (2007) schon vor zehn Jahren eine gewichtige Studie zum Thema „National Responsibility and Global Justice“ vorgelegt, auf die sich 2013 der kanadische Philosoph Joseph. H. Carens, der für eine grundsätzliches Recht aller Menschen, sich überall niederzulassen, kritisch bezog. Nicht verschwiegen sei, dass gewichtige Einwände gegen die im folgenden dargestellten Positionen eines radikal erneuerten Kosmopolitismus vorliegen. So etwa der ebenfalls von David Miller (2017) verfasste Band „Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung“. Hierzulande hat etwa Christoph Menke (2016) unter Bezug auf Hannah Arendt zu einer k­ eineswegs nur n­ üchternen

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Betrachtung aufgerufen. Menke will im Aufeinanderprallen v­erschiedener moralisch-rechtlicher Ansprüche – von Flüchtlingen und E ­ inwohnern – Strukturen der Gewalt erkennen: mit allen Konsequenzen.

6 Globale Niederlassungsfreiheit Carens (2013) sorgfältig argumentierendes Buch „The Ethics of Immigration“ dürfte an Radikalität kaum zu überbieten sein – fordert er doch nicht mehr und nicht weniger als ein auch rechtlich abgesichertes Niederlassungsrecht für alle Menschen an allen Orten der Erde. In deutscher Sprache hat der Schweizer Philosoph Andreas Cassee (2016) diese Überlegungen in einer kürzlich erschienenen bahnbrechenden Arbeit aufgenommen: Sein Buch „Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen“ votiert vor dem Hintergrund einer globalen Verantwortungsethik ebenfalls für ein universales Niederlassungsrecht. Schon 2012 hat dieser Autor gemeinsam mit Anna Goppel dazu einen Sammelband herausgegeben, in dem sich so gut wie alle bisher zu dieser Frage geäußerten Positionen finden (Cassee und Goppel 2012). Im Hintergrund steht eine gar nicht so neue universalistische Philosophie nicht mehr national(staatlich) gebundener Gerechtigkeit (Pogge und Moellendorff 2008; Pogge und Horton 2008), die soeben in konziser Weise auf Deutsch vorgelegt wurde: Valentin Becks „Theorie der globalen Verantwortung“ (2016) entfaltet, „was wir Menschen in extremer Armut schulden.“ Wie brennend dies Thema ist, erweist sich auch daran, dass nun ausgerechnet die gemeinhin als trocken geltende, oft rein wissenschaftstheoretisch orientierte analytische Philosophie im vergangenen Jahr ein Preisausschreiben zum Thema „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ veranstaltet hat, dessen Ergebnisse seit einiger Zeit vorliegen (Grundmann und Stephan 2016).

7 Noch einmal: Kosmopolitismus Damit steht das Programm eines seit der Antike erstmals wieder ernsthaft erörterten Kosmopolitismus auf der Tagesordnung (Benhabib 2008; Appiah 2009; Benhabib 2016). Schon die frühe griechische Philosophie kannte den Gedanken des Kosmopolitismus, in platonischen Dialogen wird das Prinzip einer vorstaatlichen, natürlichen Vergesellschaftung bereits angesprochen, freilich wird erst die im vierten Jahrhundert vor der Zeitrechnung entstehende stoische Philosophie, die bis weit in die Zeit des römischen Reiches gilt, Prinzipien artikulieren, wonach alle Menschen im Rahmen eines göttlichen Vernunftgesetzes Bürger

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der einen Welt sind (Horstmann 1976). Die neuere, die neueste philosophische Debatte geht freilich anders vor und bewegt sich im Spannungsfeld von Moralphilosophie und politischer Philosophie. Grob gesprochen – auf technische Varianten und Einzelheiten ist an dieser Stelle keine Rücksicht zu nehmen – geht es zunächst darum, die sogenannte „Standardhaltung“ infrage zu stellen: dass es nämlich eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit sei, dass Menschen natürlicherweise als Angehörige eines und nur eines Staates gelten; und – wenn dem so wäre – dass diese Staaten sich legitimerweise durch von ihnen kontrollierte Grenzen voneinander unterscheiden und damit darüber bestimmen können, wer sich in ihren Grenzen aufhalten darf. Wohlbemerkt: Diese Argumentation ist nicht im engeren Sinne anarchistisch – sie zieht das Wesen des Staates als Bewahrer von Recht und Frieden, wie es etwa Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ (1966) 1651 begründete, gar nicht infrage; tatsächlich geht es lediglich um die Frage, warum Menschen, sofern sie bereit sind, sich den jeweiligen Rechtssatzungen zu unterwerfen, sich nicht in jedem Staat der Erde sollen aufhalten können. Damit liegt die Beweislast bei den Vertretern der Standardansicht, während die Verfechter eines universellen Aufenthaltsrechts aller Menschen an allen Orten der Erde ihrerseits zu begründen haben, warum Einschränkungen moralphilosophisch nicht akzeptabel sind.

8 John Rawls als Kosmopolit? Rawls’ (1971) auf Englisch, erstmals 1975 auf Deutsch erschienene „Theorie der Gerechtigkeit“ beruht auf einer Kritik des Utilitarismus und einem zunächst verblüffend anmutenden Grundgedanken. Gegen all diejenigen, die glauben, dass moralisches und gerechtes Handeln darin bestünde, das größte Glück der größten Zahl zu erstreben und dementsprechend das Wohl und die Rechte von Minderheiten mindestens zeitweise vernachlässigen zu können, zeigt Rawls, dass solche Politiken nicht zu einem gerechten Ergebnis, das seinen Namen verdient, führen können. Eine gerechte soziale Ordnung kann nur eine Ordnung sein, die unter fairen Bedingungen zustande kommt, d. h. unter Bedingungen, denen alle möglicherweise Betroffenen zustimmen würden. Da diese Bedingungen im wirklichen Leben nie gegeben sein können, steht die Philosophie vor der Aufgabe, einen fiktiven Urzustand, eine Existenz unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 1975, S. 159–166) zu konstruieren, in dem die Menschen zwar Lebenspläne und Gerechtigkeitsintuitionen haben, aber nicht wissen, in welcher sozialen Position sie sich befinden: wie alt sie sind, welches Geschlecht sie haben, wie hoch ihre Einkünfte und Vermögen sind, auf welcher Sprosse der sozialen Leiter

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sie sich befinden. Unter diesen Umständen würden vernünftige, an ihren eigenen Interessen ebenso wie am Wohl ihrer Mitmenschen interessierte Personen eine Grundordnung wählen, die auf zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit beruht: 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System aller Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so gestalten, daß (a) sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen (Rawls 1975, S. 81 f.).

Rawls hat zumal das zweite Prinzip dahin gehend präzisiert, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu regeln, dass sie stets auch den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen. Jede Verteilungspolitik, die nicht garantieren kann, auch die Situation der Ärmsten der Armen zu verbessern, ist demnach unzulässig. Tatsächlich ist Rawls Ansatz von Anfang an heftig kritisiert worden, neuerdings nun hält ihm die jüngere politische Philosophie auch in Deutschland vor, mit seinem reinen, moralischen Normativismus nicht mehr zur Analyse realer Krisen und Konflikte in der Lage zu sein (Kreide 2016, aber auch Vogelmann 2016). Carens und Cassee übertragen diese Argumentation auf das Leben der Menschen, auf den politisch gestalteten Raum der gegenwärtigen Welt. Sie fragen, welche weltgesellschaftlich-politischen Prinzipien Menschen, die nicht wissen, in welchem Land und unter welchen Umständen sie geboren werden, bezüglich ihres Wohn- und möglichen Arbeitsortes wählen würden. Dabei geht es darum, die ohnehin bereits bestehende menschenrechtlich positivierte Freiheit der Ausreise aus jedem Staat – so etwa die Europäische Menschenrechtskonvention in Absatz 2 Artikel 2 des Protokolls Nr. 4 (für den Wortlaut siehe Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2010) – um ein ebenso bindendes, positiviertes Recht auf Einreise in jeden Staat zu ergänzen. Bei diesem Argument müssen Carens und Cassee freilich zur Kenntnis nehmen, dass John Rawls selbst sein Argument des „Schleiers des Unwissens“ nur für je einzelne Staaten gelten lassen wollte und daher eine Übertragung auf die Weltgesellschaft nicht in Rechnung zog: seine inzwischen heftig kritisierte Unterscheidung zwischen einer „idealen“ und einer „nicht idealen“ Theorie. In seiner erstmals 1999, dann 2001 erschienenen Schrift „The Law of peoples“ – einer Skizze der „nicht idealen“, d. h. realistischen Theorie macht er deutlich, dass die Prinzipien seiner idealen „Theorie der Gerechtigkeit“ als Prinzipien einer „idealen Theorie“ nur innerstaatlich und zwar für liberaldemokratische wie für „anständige“ Gesellschaften gelten, sie aber nicht zur Begründung eines Weltstaats gelten. Neueste TheoretikerInnen (Bratu und Dittmeyer 2017) des Liberalismus

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versuchen freilich zu zeigen, dass sich auch diese Prinzipien w ­ eltgesellschaftlich anwenden lassen. Auf jeden Fall: Die grundsätzliche Frage, warum es ein unbeschränktes Einreiserecht aller nicht straffälligen Personen in alle Staaten geben soll, verhandeln Carens und Cassee anhand der Frage, was Staaten als territorial begrenzte, öffentliche Ordnungen von allen möglichen Formen des Privateigentums bzw. privater Klubs wie Tennisklubs unterscheidet. Ist die Beziehung der mündigen BürgerInnen eines Staates zu seinem öffentlichen Territorium identisch mit dem rechtlich garantierten exklusiven Nutzungsrecht von Privatpersonen über Dinge, also mit dem Eigentumsrecht? Das etwa meint der ansonsten eher universalistisch argumentierende Philosoph Julian Nida-Rümelin (2017) in einem immigrationsskeptischen Essay, in dem er den sozialen Nahbereich moralisch mit staatlicher Politik analog setzt. Ein Kategorienfehler, da der öffentliche Raum auch jenseits aller Migrationsfragen die BürgerInnen oft genug nötigt, Zustände hinzunehmen, die ihnen missfallen. Sind Staaten – so ein anderes, kommunitaristisches Argument – nicht letztlich mit den ebenfalls eigentumsrechtlichen garantierten Ansprüchen von Klubmitgliedern identisch? So etwa Michael Walzer (2017). Tatsächlich existiert ja bereits in gegenwärtigen Gesellschaften eine Differenz zwischen öffentlichem, allen Personen offenstehenden Räumen und Privatbesitz. Vor allem aber fällt – historisch gesehen – auf, dass die heute bereits innerstaatlich garantierte Freiheit der Mobilität im alten Europa keineswegs gegeben war: in häufig kleinteilig gegliederten Territorien waren – etwa im alten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – beim Eintritt in Städte Zölle zu entrichten; mehr noch, bestimmte Personengruppen, etwa Juden, war der Zugang immer wieder einmal versperrt. Offensichtlich hat die gesellschaftliche Entwicklung zum territorial verstandenen Nationalstaat im Europa des 19. Jahrhunderts zu einer Öffnung des Raums geführt und Kontrollrechte, sei es von Herrschern oder körperschaftlichen Institutionen wie Bürgerschaften, Schritt für Schritt zurückgenommen. Wenn aber – so etwa Carens und Cassee – dies möglich gewesen ist, warum sollte das nicht auch weltgesellschaftlich möglich sein?

9 Staaten als Gemeinschaften? Die gewichtigsten Einwände gegen diese weltgesellschaftliche Konzeption stammen von David Miller (2007, 2012) und Michael Walzer (2006, 2012). Während für Miller – wie übrigens auch für Walzer – feststeht, dass eine moralische Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen besteht, sind beide der grundsätzlichen Überzeugung, dass die Bevölkerung demokratischer Nationalstaaten mehr

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sind und sein sollen als lediglich Agglomerate unterschiedlicher, wenn auch ­rechtstreuer Gruppen von Menschen. So führt Miller (2012, S. 64) aus: Die politische Philosophie […] versteht demokratische Staaten als politische Gemeinschaften, deren Grundlage die Gleichheit unter ihren Mitgliedern ist, und so wie dies einerseits Staaten das Recht zum Ausschluss gibt, bringt es andererseits auch die Verpflichtung mit sich, den gleichen Status aller, die in ihren Grenzen leben, zu schützen.

Ähnlich, freilich noch massiver argumentiert Michael Walzer, der unter Bezug auf die klassische, griechische Philosophie der Politik zwischen Bürgern und „Metöken“ („Beisassen“) unterschied. Walzer ist davon überzeugt, „dass Einreise und Zuwanderungsbeschränkungen den Zweck haben, Freiheit und Wohlfahrt sowie Politik und Kultur einer Gruppe von Menschen zu bewahren, die sich einander einem gemeinsamen Leben verpflichtet fühlen“ (Walzer 2012, S. 117). Walzer unterstellt, dass nur ein gemeinschaftsgebundenes Leben ein vollgültiges, lebenswertes Menschenleben darstellt; alle anderen Lebensweisen würden eine Welt, eine Weltgesellschaft ohne spezifische Mitgliedschaften, also eine Welt von einander letztlich als Fremdlingen gegenüberstehenden Menschen zur Folge haben. Ein Menschenleben jedoch, das einen vollen Wert hat, besteht nach Walzers Überzeugung darin, in Gemeinschaften zu leben, die Bedeutungen generieren, Sinnhaftigkeit erzeugen und somit Sinn und Orientierung verleihen. Denn nur als Mitglieder einer Gemeinschaft können Menschen darauf hoffen, an all den Sozialgütern – Sicherheit, Wohlstand, Ehre und Ansehen, Ämter und Macht – zu partizipieren, die das gemeinschaftliche Leben hervorzubringen imstande ist (Walzer 2012, S. 144).

All dies setzt eine Theorie des „liberalen Nationalismus“ voraus, die als solche tatsächlich bereits konzipiert wurde (Tamir 1993). Diese neueren Debatten politischer Philosophie in weltbürgerlicher Absicht führen freilich auf sehr grundsätzliche Fragen, die derzeit auch die Überlegungen einer anspruchsvollen Philosophie der Neuen Rechten, der „Identitären“ motivieren. Sie vor allem beharren auf der Raum- und Gemeinschaftsgebundenheit jedweder menschlichen Existenz (Sellner und Spatz 2015, dazu Brumlik 2017a). Moralphilosophisch jedenfalls, das haben Bratu und Dittmeyer (2017) überzeugend nachgewiesen, lässt sich mit Rawls idealer Theorie nicht gegen eine menschenrechtlich begründete, unbegrenzte Aufnahme von Immigranten argumentieren. Postuliert doch die ideale Theorie, dass sozialstaatliche Umverteilung kein Argument gegen radikale Gleichstellung aller BürgerInnen sein kann. Was

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nichts anderes heißt, als dass auch evtl. Einkommenseinbußen Ortsansässiger aufgrund von Immigration nicht gegen deren Recht spricht, sich unbegrenzt niederzulassen (Bratu und Dittmeyer 2017). Somit bleibt nur, das Immigrationsproblem aus der Perspektive einer normativ schwächeren, nicht-idealen Theorie zu behandeln (vgl. Nullmeier 2016). In „The Law of Peoples“ immerhin hofft Rawls, dass durch die gerechte Gestaltung innerstaatlicher Zustände die Migrationsproblematik mittelfristig verschwinden werde: „The problem of immigration is not, then, simply left aside, but it is eliminated as a serious problem in a realistic utopia“ (1999, S. 8 f.).

10 Raumbindung, Grenzen und Flucht Das aber verweist nun doch auf eine Leerstelle liberaler Argumentation, auf eine Leerstelle, die eher konservative Positionen sehr wohl berücksichtigt haben ­(Günzel 2012). Die Raumgebundenheit menschlicher Existenz war auch der ansonsten als unbedingt optimistischen, fortschrittsgläubig geltenden Aufklärung durchaus bewusst, was aber lange Zeit vergessen war. Die Raumgebundenheit des Menschen war daher auch dem nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern eben auch dem schon oben erwähnten Immanuel Kant mehr als bewusst. Kant, der sein ganzes Leben lang seine Heimatstadt Königsberg nie verließ, schrieb im § 62 der im Jahr 1797, acht Jahre nach Beginn der französischen Revolution erschienenen „Metaphysik der Sitten“ Folgendes: Die Natur hat sie [nämlich die Völker der Erde, M.B.] alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder ein ursprüngliches Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (Kant 1969, S. 475).

Mit anderen Worten: Nur wenn der Lebensraum der Menschheit eine unbegrenzte, unendliche Fläche wäre, entfiele die Notwendigkeit einer rechtlich – und das heißt dann in letzter Instanz auch politisch – gestalteten Form des von Menschen bewohnten Raums. Freilich sind auch innergesellschaftliche, politische Instanzen und Institutionen nicht ohne Raumbezug zu verstehen – insbesondere nicht die zumal im breiten linksliberalen Milieu seit Jürgen Habermas sowie Alexander Kluge und Oskar Negt immer wieder beschworene Kategorie der „Öffentlichkeit“. Es war Hannah

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Arendt, die in ihrem Buch „Vita Activa“ darauf hinwies, dass das „Politische“ nicht ohne die konkreten Räumlichkeit eines allen (freien) Bürgern zugänglichen Raumes, der „Agora“ der griechischen Polis (im Unterschied zur Geschlossenheit des privaten Haushalts), zu denken ist (Arendt 1960). Kein Zufall ist es auch, dass im aktuellen zivilgesellschaftlichen Begriff der „Öffentlichkeit“ die Raumkategorie des „Offenen“ – im Unterschied zum „Ge-“ oder „Verschlossenen“ – mitschwingt, eines Raumes also, in dem sich die Mitglieder des politischen Gemeinwesens mit dem Zeigen ihres Antlitzes und also ihrer Individualität wechselseitig anerkennen, zugleich verschonen und sich aufeinander beziehen. Darauf hat etwa Judith Butler (2016) in ihrer letzten Publikation noch einmal hingewiesen. Damit ist die Frage nach der Möglichkeit bzw. nach der Bedingung der Möglichkeit einer alle Menschen umgreifenden (Welt-) Öffentlichkeit gestellt. Es sind die Flüchtlinge, die – wie schon anfangs dargestellt – diese noch immer viel zu wenig beachtete Frage unmissverständlich stellen. Denn: Wer flüchtet, bewegt sich von einem politisch durchwalteten Ort zum anderen, wer flüchtet, passiert „natürliche“ Grenzen, also Landschaftsbarrieren sowie – vor allem! – „politische“ Grenzen – Demarkationslinien. Die von der neuen Rechten, der „Identitären Bewegung“ propagierte, Flüchtlinge ausgrenzende „eurasische“ Ideologie stellt daher gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und zumal für Vertreter und Vertreterinnen einer universalistischen, globalen politischen Ethik eine Herausforderung dar, die anzunehmen ist, will man nicht rechtem Denken den politischen Raum überlassen. „Raum“ ist daher als fundamentale politische Kategorie unbedingt wiederzuentdecken – auch und sogar dann, wenn dazu als Bezugsautoren vorerst nur „rechte“ Denker wie Carl Schmitt oder eben Heidegger zur Verfügung stehen.2 Das verweist systematisch auf eine Theorie der Grenze. Grenzen aber unterliegen, das ist spätestens seit Hegel bekannt, einer eigenen Dialektik. In § 92 von Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ aus dem Jahr 1830 lese ich im erklärenden Zusatztext: Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Man darf somit die Grenze nicht als dem Dasein bloß äußerlich betrachten, sondern dieselbe geht vielmehr durch das ganze Dasein hindurch (Hegel 1970, S. 197).

2Dass

die Thematik von „Raum und Grenzen“ derzeit wieder verstärkt Aufmerksamkeit findet – etwa in den Arbeiten der Historikerin Susanne Rau (2016) oder den Forschungen zur Raumsoziologie von Martina Löw (2001) – ist wohl weit mehr als ein Zufall.

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Im Weiteren geht Hegel tatsächlich auch auf geografische, wenn auch nicht ­politische Grenzen ein und stellt fest, dass etwa ein Grundstück soundsoviel „Morgen“ groß ist – seine quantitative Grenze. Sofern es nun eine Wiese und nicht ein Teich oder ein Wald ist, wäre dies seine qualitative Grenze. Ein näherer Blick auf die Dialektik von Grenzen kommt dann zu dem Schluss, dass die Grenze einerseits die Realität des Daseins ausmacht, aber andererseits dessen Negation darstellt – fällt „uns“ doch beim „Etwas sogleich das Andere ein.“ (Hegel 1830, S. 197) – im hier diskutierten Fall die Relation „Inland/Ausland“ sowie – politisch konkretisiert – „Bürger/Nichtbürger“. Flüchtlinge wären demnach der Wirklichkeit gewordene Ausdruck dieser Spannung, Wirklichkeiten, die im wahrsten Sinne des Wortes jene Grenzen, die politische Gemeinwesen überhaupt erst zu dem machen, was sie sind, im wahrsten und wörtlichen Sinne „durchkreuzen“.

11 Zurück zur Politik: Verantwortungsethik und Flüchtlingsfrage Für den Fall nach wie vor existierender Nationalstaaten hat der Philosoph Konrad Ott (2016) – durchaus unter Bezug auf die anfangs erörterte neuere politische Philosophie weltgesellschaftlich unbeschränkter Mobilität – die sozialontologische Frage nach dem Wesen begrenzter politischer Räume auf die leichter zu handhabende Frage reduziert, welche moralischen Verpflichtungen den Bürgern von staatlichen Territorien, die über einen gewissen Wohlstand verfügen, gegenüber jenen, die fliehen mussten, erwachsen. Indem Ott mit Max Weber zwischen „Gesinnungsethik“ hier und „Verantwortungsethik“ dort unterscheidet, kann er strikt moralische Universalisten, die der prima facie Überzeugung sind, dass ihr Land allen, die in ihm – aus welchen Gründen auch immer – Zuflucht suchen, als „Gesinnungsethiker“ bezeichnen, also als Personen, die unter keinen Umständen bereit sind, die erwartbaren Folgen ihrer universalistischen Gesinnung in ihre Überzeugungen und dann ihr Handeln mit aufzunehmen. Im Ausblick seiner Überlegungen hält Ott fest, dass sich eine auf Flüchtlinge bezogene Gesinnungsethik aus verantwortungsethischer Perspektive politisch nicht durchhalten lässt, während umgekehrt die Verantwortungsethik aus gesinnungsethischer Perspektive moralisch inakzeptabel ist. Gleichwohl erklärt Ott im Versuch – durchaus im Sinne von Arendt – eine politische Antwort auf dieses Dilemma zu finden: Falls unsere Gesellschaft mehrheitlich eine Willkommenskultur als Moment einer im Alltag gelebten Sittlichkeit etablieren möchte, also wirklich gewillt und habituell darauf

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M. Brumlik eingestellt ist, mit den Konsequenzen einer auf Dauer gestellten Massenzuwanderung zu leben, werden Verantwortungsethiker dies uneingeschränkt respektieren (Ott 2016, S. 90).

Jedenfalls, so wäre Ott zu ergänzen, sofern sich diese Verantwortungsethiker wiederum selbst gesinnungsethisch auf ein Demokratieprinzip verpflichtet haben. Das ist jedoch keineswegs ausgemacht. Eine Willkommenskultur muss von Herzen kommen und darf nicht bloß als moralische Pflicht auferlegt werden. Falls jedoch eine gelebte Sittlichkeit einer dauerhaften und von Herzen kommenden Willkommenskultur nicht als gesichert gelten kann und gesinnungsethisch motivierte Hilfsbereitschaft auch rasch wieder abebben könnte, so bleiben politische Szenarios möglich, die Verantwortungsethiker vermeiden oder verhindern möchten (Ott 2016, S. 90).

Ott führt als Beispiel dafür größere Flüchtlingsproteste an bzw. Wahrnehmungen von Zuwanderung, die einen Ausdruck wie „Völkerwanderung“ angemessen erscheinen lassen und damit – so wäre zu ergänzen – zum Teil paranoide rechtspopulistische Protestszenarien hervorrufen könnte. Das allerdings ist derzeit zumal in (ehemals?) westlichen Gesellschaften – wie nicht zuletzt die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen hat – durchaus der Fall.

12 Ausblick Es konnte in den oben angestellten Überlegungen noch nicht darum gehen, mehr oder minder konkrete politische Lösungsvorschläge vorzulegen. Die Darstellung neuester philosophischer Positionen zu Staatsbürgerschaft, menschenrechtlich verbürgten Migrationsansprüchen sowie einer Ethik der Zuwanderung sollte vor allem dem Nachweis dienen, dass politisches Denken, das auf der Höhe der Zeit sein will, sich weder auf einzelne Nationalstaaten noch gar auf supranationale Räume wie die EU beschränken kann, sondern weltgesellschaftlich verfahren muss. Es war der Soziologe Niklas Luhmann, der schon vor Jahren den Nachweis geführt hat, dass nach der „Entdeckung“ der letzten tribalen Kulturen des Erdballs auf Neu Guinea in den 1930er Jahren sinnvoll nur noch von einer einzigen, freilich in sich vielfältig segmentierten und differenzierten Weltgesellschaft die Rede sein kann (Luhmann 1975). Digitalisierung, Verkehrstechnik und ökonomische Globalisierung lassen politische Theorien, die sich auf begrenzte Räume beziehen, zwar nicht sinnlos, wohl aber so begrenzt erscheinen, dass sie kaum noch e­rnsthafte

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Orientierung bieten können. Ausdruck dieser weltgesellschaftlichen Lage sind die Flüchtlinge; sie markieren einen politisch-philosophischen Einschnitt hinter den es – zumal für ernsthaftes Nachdenken – kein Zurück mehr geben kann.

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Micha Brumlik,  Seniorprof. Dr., geboren 1947 in Davos, Schweiz. Nach einem Studium der Pädagogik und Philosophie in Jerusalem und Frankfurt am Main war er wissenschaftlicher Assistent der Pädagogik in Göttingen und Mainz, danach Assistenzprofessor in Hamburg. Von 1981 bis 2000 lehrte er Erziehungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Von 2000–2013 Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt „Theorie der Erziehung und Bildung“. Emeritierung 2013, seit Oktober 2013 Senior Advisor am Selma Stern Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Daneben leitete er von Oktober 2000 bis 2005 als Direktor das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, in Frankfurt am Main. Stadtverordneter der GRÜNEN in Frankfurt am Main von 1989–2001; Mitherausgeber von „BABYLON – Beiträge zur jüdischen Gegenwart“; Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“; Autor und regelmäßiger Kolumnist der taz: „Gott und die Welt“. Eine erweiterte Publikations- und Vortragsliste ist unter www.michabrumlik.de verfügbar.

Migration: Hintergründe, Bedingungen und Formen. Eine Skizze Jochen Oltmer

Zusammenfassung

Gegenwart und Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt lassen sich nur unter Berücksichtigung der Veränderung der Migrationsverhältnisse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zureichend beschreiben. Der Beitrag strebt danach, zentrale Hintergründe, Bedingungen und Formen von Migration einzuordnen. Dazu werden im knappen Aufriss zum einen Grundlinien des Wandels globaler Wanderungsverhältnisse diskutiert, bevor zum anderen einige Aspekte der Initiierung und Durchsetzung von räumlichen Bevölkerungsbewegungen durch Gewalt untersucht werden. Fokussiert wird hierbei auf die Frage, warum Europa und die Bundesrepublik Deutschland 2015 zum Ziel umfangreicherer Bewegungen von Schutzsuchenden geworden sind. Migration ist weder grundsätzlich gut noch schlecht. Dennoch beherrschen einseitige Positionierungen und Polarisierungen das Reden und Schreiben über das soziale Phänomen: Die einen verstehen Migration als Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten – und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand, gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der intensiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf. Die anderen wiederum sehen vornehmlich Potenziale für die Entwicklung des Arbeitsmarkts sowie Perspektiven für ökonomische, soziale und kulturelle Innovationen – im Zielland wie im Herkunftsland der Bewegungen.

J. Oltmer ()  Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_2

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Nichts daran ist falsch: Wie für jedes soziale Phänomen können die Folgen und Effekte von Migration sehr unterschiedlich wahrgenommen und eingeschätzt werden. Migration vermag dann zur gesellschaftlichen Obsession zu werden, wenn die Zugehörigkeit der Eingewanderten zum Kreis der Gleichberechtigten auf längere Sicht oder auf Dauer infrage gestellt wird und Möglichkeiten der Teilhabe im ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Bereich verwehrt werden. Begrenzte Teilhabe und dadurch eingeschränkte Handlungsmacht von Einzelnen führen oft zu Diskriminierung, Marginalisierung und Ausbeutung, effektiver Schutz durch (staatliche) Institutionen oder Gerichte bleibt aus. Die deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnisse, ihre Dimensionen, Muster und Ausprägungen, aber auch die mit den räumlichen Bewegungen verbundenen Chancen und Risiken werden insbesondere seit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert breit diskutiert. Vornehmlich die intensiven Debatten der Jahre 2015 und 2016 um das globale Fluchtgeschehen und deren Gewicht für Europäische Union und Bundesrepublik Deutschland haben die Aufmerksamkeit gegenüber dem sozialen Phänomen Migration weiterwachsen lassen. Im Folgenden werden im knappen Aufriss zum einen Grundlinien des Wandels globaler Wanderungsverhältnisse in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten diskutiert, bevor zum anderen einige Aspekte der Initiierung und Durchsetzung von räumlichen Bevölkerungsbewegungen durch Gewalt untersucht werden. Fokussiert wird hierbei auf die Frage, warum Europa und die Bundesrepublik Deutschland 2015/2016 zum Ziel umfangreicherer Bewegungen von Schutzsuchenden geworden sind.

1 Grundmuster Migrationen sind räumliche Bewegungen von Menschen. Jedoch wird keineswegs jede dieser Bewegungen als Migration verstanden, touristische Unternehmungen, Reisen oder das tägliche Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort etwa zählen nicht dazu. Gemeint sind vielmehr jene Formen regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert (Oltmer 2016a, 2017a). Migration kann das Überschreiten politisch-territorialer Grenzen bedeuten. Aber auch räumliche Bewegungen innerhalb eines staatlichen Gebildes lassen sich als Migration fassen; denn selbst sie können es erfordern, dass Migrantinnen und Migranten sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinandersetzen, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.

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Migration kann unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasst aber nicht selten auch Zwischenziele, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienen. Fluktuation, beispielsweise zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer ein zentrales Element von Migration. Die dauerhafte Ansiedlung andernorts stellt also nur eines der möglichen Ergebnisse von Wanderungsbewegungen dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: In die Bundesrepublik Deutschland kamen vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 rund 14 Mio. Arbeitskräfte aus anderen Staaten („Gastarbeiter“), mehr als elf Mio., also 80 %, kehrten wieder in ihre Herkunftsländer zurück (Münz et al. 1997, S. 35–42; in europäischer Perspektive: Oltmer et al. 2012). Der Prozess der Migration bleibt grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei weitem nicht immer der Wanderungsintention: Räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Migration kann eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten, ist aber auch häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzen: Saisonwanderungen, die mehr oder minder regelmäßig zu wochen- oder monatelangen Aufenthalten andernorts führen, sind beispielsweise darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen, um die Existenz der Familie am Ort des Lebensmittelpunktes aufrechterhalten zu können. Zahlreiche Beispiele für solche mitunter über längere Zeit hinweg strukturstabilen Formen zirkulärer Migration finden sich in agrarisch geprägten Herkunftsgesellschaften bzw. Herkunftsregionen, aber auch im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert weltweit beschleunigten Urbanisierung: Eine lineare Wanderung vom Land in die Stadt als „Einbahnstraße“ bietet nur eines unter vielen Mustern jener Migrationen, die das massive Wachstum der städtischen Agglomerationen in aller Welt wesentlich tragen. Ein weiteres Mobilitätsmuster ist der Kreisverkehr von temporären Land-Stadt-Land-Wanderungen, die nach Jahren in dauerhaften Niederlassungen in den Städten enden können, aber nicht notwendigerweise müssen (Lenger 2014, Kap. II und III; Langewiesche 1977; Hochstadt 1999).

2 Motive Migrationsentscheidungen unterliegen in der Regel multiplen Antrieben. Meist sind wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Motive in unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenem Gewicht eng miteinander

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verflochten. Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der Situation nach der Abwanderung können dabei immer auch Enttäuschungen über die individuelle Lage in der Herkunftsgesellschaft widerspiegeln. Sieht man von den Gewaltmigrationen ab (zur Einordnung siehe unten), streben Migrantinnen und Migranten danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern und sich neue Chancen durch eigene Initiative zu erschließen. Die räumliche Bewegung soll ihnen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. In diesen Kontext gehören beispielsweise auch die großen interkontinentalen Wanderungen von wahrscheinlich 55 bis 60 Mio. Europäern im „langen“ 19. Jahrhundert, die überwiegend Nordamerika erreichten (Bade 2000, S. 121–168). Diese auffällig starke Massenabwanderung aus Europa darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wanderungsbewegungen ansonsten meist kleinräumig waren und nur zu einem geringeren Teil Grenzen von Herrschaftsräumen oder gar Kontinenten überschritten. Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen, sozialen und emotionalen Kosten von Migration sind sie motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität dort einzusetzen, wohin sie sich bewegt haben. Dafür sind sie oft bereit, Lebens-, Erwerbs- oder Wohnbedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen. Migration verbindet sich häufig mit biografischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, Eintritt in einen Beruf oder Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind folglich Jugendliche und junge Erwachsene. Die migratorische Chancenwahrnehmung bedingen spezifische sozial relevante Merkmale, Attribute und Ressourcen, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu „Ethnien“, „Kasten“, „Rassen“ oder „Nationalitäten“, die sich nicht selten mit Privilegien und (Geburts-)Rechten verbinden. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften bzw. Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen zielten keineswegs immer auf eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr häufig Angehörige

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aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden „Rücküberweisungen“ oder ­anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern. Solche mehr oder minder regelmäßigen Geldüberweisungen durch Migranten haben bis in die Gegenwart eine ausgesprochen hohe Bedeutung für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien oder selbst für ganze Volkswirtschaften. Indien empfängt gegenwärtig die weltweit höchsten Transferzahlungen: Über 70 Mrd. US$, die vornehmlich von indischen Arbeitswanderern in den Golfstaaten stammen, machten im Jahr 2015 mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts des südasiatischen Staates aus (World Bank 2016, S. 143). Eine zentrale Bedingung für das Funktionieren solcher translokaler ökonomischer Strategien bildet die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen – Netzwerke – über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Die Abwandernden senden häufig nicht nur Geld in die Herkunftsregion, sondern fungieren auch innerhalb ihrer Netzwerke als Mittler anderer Weltsichten, neuer technischer oder technologischer, ökonomischer oder kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Damit verschaffen sich Migrantinnen und Migranten, aber auch jene, die in den Herkunftsgesellschaften Geld und Wissen empfangen, ein Mehr an Einfluss und Entscheidungskompetenz.

3 Netzwerke Ob und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wird, hängt entscheidend vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten ab. Damit Arbeits-, Ausbildungs- oder Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichen, bedarf es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Solcherlei Wissen vermitteln mündliche und schriftliche Auskünfte staatlicher, religiöser oder privater Organisationen oder Beratungsstellen. Die Medien verbreiten zudem Informationen, die für den Wanderungsprozess von Belang sein können – von der „Auswanderungsliteratur“ des 19. Jahrhunderts über Artikel in Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu Berichten im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internet. Auch die staatliche oder private Anwerbung von Arbeits- oder Siedlungswanderern – zum Beispiel mit Hilfe von Agenten oder Werbern – kann als eine Form des Transfers von Wissen über Chancen der Migration verstanden werden. Wesentlich bedeutsamer für die Vermittlung von Informationen über Chancen und Gefahren der Ab- oder Zuwanderung, über räumliche Ziele, Verkehrswege sowie psychische, physische und finanzielle Belastungen waren und sind

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allerdings vorausgewanderte (Pionier-)Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein hoher Informationswert beigemessen wird. Sie etablieren Kettenwanderungen, bei denen Migrantinnen und Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgen. Herkunftsräume und Zielgebiete sind mithin in der Regel über Netzwerke miteinander verbunden (Bommes 2011). Loyalität und Vertrauen bilden zentrale Bindungskräfte solcher Netzwerke. Die Bedeutung der Informationsvermittlung mit Hilfe verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht überschätzt werden: Mindestens 100 Mio. private „Auswandererbriefe“ sind beispielsweise zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland geschickt worden und kursierten in den Herkunftsgebieten im Verwandten- und Bekanntenkreis (Elliot et al. 2006). Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungsentschlusses zureichende Informationen stehen potenziellen Migranten häufig nur für einen Zielort, für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Erwerbsbereiche zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Zielen nicht bestehen. Die migratorische Handlungsmacht des Einzelnen bleibt damit zwar einerseits beschränkt, andererseits aber verfügt das Zielgebiet über ein umfangreiches Netzwerk verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Beziehungen. Je umfangreicher dieses ist und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gepflegt werden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bietet es – gerade an der Intensität und Größe des Netzwerkes bemisst sich immer auch die Attraktivität eines Migrationszieles. Vor diesem Hintergrund erhöht ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfindet. Vielmehr konstituiert es auch Wanderungstraditionen und beeinflusst damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet, die zum Teil über Generationen existieren. 94 % aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen, suchten zum Beispiel zuerst Verwandte und Bekannte auf und verringerten damit ihre soziale Verwundbarkeit (Hoerder et al. 2010, S. 35). Am Zielort garantieren Migrantennetzwerke Schutz und Orientierung im fremden Raum, vermitteln Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten, helfen bei Kontakten mit Obrigkeiten, staatlichen und kommunalen Institutionen. Die Migrantennetzwerke werden nicht nur durch Kommunikation und durch den Austausch von Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrechterhalten, sondern reproduzieren sich durch (nicht selten translokal und transkontinental ausgehandelte) Eheschließungen, die Etablierung von Vereinen und Verbänden, eine spezifische Geselligkeits- oder Festkultur, aber auch gemeinsame ökonomische Aktivitäten.

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Migrantennetzwerke bedeuten für den Einzelnen aber immer auch soziale Zwänge und Verpflichtungen. Die Aufrechterhaltung des Netzwerkes, das im Kontext der Migration existenzielle Bedeutung haben kann, fordert Loyalität und die mit Leistung und Gegenleistung verbundene Akzeptanz kollektiver Verantwortung. Migrantinnen und Migranten werden genötigt, spezifische Normen, Handlungsrationalitäten und Handlungsziele zu teilen. Mitglieder der Netzwerke unterliegen wegen der Geschlossenheit der verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Verbindungen enger sozialer Kontrolle, selbst über Tausende von Kilometern Entfernung hinweg. Vertrauen wird erzwungen, Sanktionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen gibt es viele: Verlust von Reputation aufgrund des Schwundes von Vertrauenswürdigkeit, Entzug von Leistungen, soziale Isolation und Exklusion. Im Kontext der Migration erhöhen alle diese Faktoren die soziale Verletzbarkeit sowie die Risiken enorm und minimieren die Möglichkeiten der Chancenwahrnehmung (Portes und Sensenbrenner 1993, S. 1332).

4 Erscheinungsformen In der Moderne lassen sich verschiedene Erscheinungsformen globaler räumlicher Bevölkerungsbewegungen unterscheiden, Tab. 1 fasst die wesentlichsten zusammen. Ein Großteil der Migrationen ist auf die Verbesserung von Erwerbsmöglichkeiten (oder die Erschließung von zukünftigen Erwerbsmöglichkeiten durch Bildung oder Ausbildung) ausgerichtet. Nicht auf den Erwerb, sondern auf den Konsum zielen demgegenüber Formen der Lebensstil-Migration („lifestyle migration“). Kennzeichnend ist der relative Wohlstand der Migrantinnen und Migranten. Häufig war und ist ihre räumliche Bewegung privilegiert, Probleme des Übertritts von Grenzen, des Zugangs zu Visa und Aufenthaltstiteln bestehen für Lebensstil-Migrantinnen und -Migranten in der Regel nicht. Ihre räumlichen Ziele sind solche, die höhere Lebensqualität und Selbstverwirklichung zu bieten scheinen (Benson und Osbaldiston 2012): Finanziell weitgehend unabhängige Personen verlegen vor allem aus klimatischen, gesundheitlichen oder kulturellen Erwägungen ihren Wohnsitz auf Zeit oder auf Dauer – im späten 19. Jahrhundert zum Beispiel nach Nizza in Südfrankreich, Sotschi am Schwarzen Meer oder Darjeeling in Britisch-Indien, heute nach Mallorca oder in den „Sunshine State“ Florida. Im Kontext von Lebensstil-Migrationen können urbane Kultur- und Bildungsräume attraktiv sein, in besonderen Fällen aber auch spezifische kulturelle Rückzugs- oder Experimentierräume, wie sie sich beispielsweise als „Künstlerkolonien“

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Tab. 1   Migrationsformen Formen

Merkmale, Teilphänomene und Beispiele

Arbeitswanderung

Migration zur Aufnahme unselbstständiger Erwerbstätigkeit in Gewerbe, Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungsbereich

Bildungs- und Ausbildungswanderung

Migration zum Erwerb schulischer, akademischer oder beruflicher Qualifikationen (Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrlinge/Auszubildende)

Dienstmädchen-/Hausarbeiterinnenwanderung

Migration im Feld der haushaltsnahen Dienstleistungen, häufig gekennzeichnet durch relativ enge Bindungen an eine Arbeitgeberfamilie, ungeregelte Arbeitszeiten und prekäre Lohnverhältnisse

Entsendung

Grenzüberschreitende, temporäre Entsendung im Rahmen und im Auftrag von Organisationen/Unternehmen: „Expatriats“/„Expats“; Kaufleute und Händlerwanderungen zur Etablierung/ Aufrechterhaltung von Handelsfilialen; Migration im Rahmen eines militärischen Apparates (Söldner, Soldaten, Seeleute), von Beamten oder von Missionaren

Gesellenwanderung

Wissens- und Technologietransfer durch Migration im Handwerk, Steuerungsinstrument in gewerblichen Arbeitsmärkten durch Zünfte

Gewaltmigration

Migration, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt (Flucht, Vertreibung, Deportation, Umsiedlung)

Heirats- und Liebeswanderung

Wechsel des geografischen und sozialen Raumes wegen einer Heirat oder einer Liebesbeziehung

Lebensstil-Migration

Migration finanziell weitgehend unabhängiger Personen (nicht selten Senioren) aus vornehmlich kulturellen, klimatischen oder gesundheitlichen Erwägungen (Fortsetzung)

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Tab. 1   (Fortsetzung) Formen

Merkmale, Teilphänomene und Beispiele

Nomadismus/Migration als Struktur

Permanente oder wiederholte Bewegung zur Nutzung natürlicher, ökonomischer und sozialer Ressourcen durch Viehzüchter, brandrodende Bauern, Gewerbetreibende oder Dienstleister

Siedlungswanderung

Migration mit dem Ziel des Erwerbs von Bodenbesitz zur landwirtschaftlichen Bearbeitung

Sklaven- und Menschenhandel

Migration (Deportation) zum Zweck der Zwangsarbeit, das heißt jeder Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung von Strafen verlangt wird

Wanderarbeit

Arbeitswanderung im Umherziehen, ortlose Wanderarbeitskräfte finden sich vor allem im Baugewerbe (Eisenbahnbau, Kanalbau, andere Großbaustellen)

Wanderhandel

Handelstätigkeit im Umherziehen, meist Klein- und Kleinsthandel, zum Beispiel Hausierer

Quelle: Eigene Darstellung

vornehmlich im Europa des späten 19. Jahrhundert ausprägten (zum Beispiel ­Barbizon südlich von Paris, Worpswede bei Bremen oder Pont-Aven in der Bretagne). Hier zeigt sich, dass Lebensstil-Migration trotz der Orientierung an Konsum mit Erfordernissen des Erwerbs einhergehen kann: Künstlerkolonien als Räume der Selbstvergewisserung und Selbsterfahrung, aber auch der künstlerischen Produktion zur Sicherung der Subsistenz; Bildungs- und Universitätsstädte als kulturelle Zentren, aber auch als Arbeitsmärkte für Akademiker; mehr oder minder geschlossene Siedlungen („gated communities“) von britischen oder deutschen Altersmigrantinnen und Altersmigranten im Süden Spaniens oder auf Mallorca, die mit einer Infrastruktur britischer oder deutscher Ärzte und Geschäftsleute einhergehen. Entsendungen bilden eine weitere spezifische Migrationsform. Eine Organisation (Handelsfiliale, multinationales Unternehmen, diplomatischer Dienst, Streitkräfte) initiiert und ermöglicht die räumliche Bewegung, in der Regel für einen begrenzten Zeitraum, und erleichtert die Teilhabe am Zielort. Entsendungen

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sind im ökonomischen Bereich Ausdruck langfristiger Unternehmensstrategien, die auf die konstante Präsenz von Spezialisten in den verschiedensten Unternehmensstandorten zielen (Findley 2009). Sie rahmen den Aufenthalt in der Zielgesellschaft durch die Einrichtung oder Unterstützung spezifischer, nicht selten exklusiver Infrastrukturen (Schulen, Klubs, Vereine, Verbände) (Cohen 1976). Nomadismus bildet eine weitere, traditionsreiche Migrationsform. Die Lebens- und Wirtschaftsweise der Nomaden ist ganz auf die Bewegung im Raum ausgerichtet; dauerhafte Mobilität erschließt natürliche, ökonomische und soziale Ressourcen, die die Sicherung der Subsistenz ermöglichen. Von anderen Wanderungsformen unterscheidet sich Nomadismus insofern, als Nomaden zwar den geografischen, nicht aber unmittelbar zugleich den sozialen Raum wechseln; vielmehr sind größere Kollektive mit festen Sozialstrukturen, also ganze Gesellschaften, mobil – anders als bei den meisten anderen Wanderungsformen, wo Einzelne oder kleinere Gruppen aus einer Gesellschaft in eine andere wechseln (Scholz 1995; Gertel und Calkins 2012). Die räumliche Bewegung der Nomaden folgt häufig mehr oder minder langen Zyklen und ist geprägt durch zum Teil sehr alte Wanderungstraditionen. Der Wechsel der Wanderungspfade bildet eine der zentralen Strategien der Anpassung an wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche oder umweltbedingte Veränderungen, der Übergang zur Sesshaftigkeit eine andere. Abwechselnde, jeweils längere Phasen von Sesshaftigkeit und von Mobilität kennzeichnen die (Übergangs-)Form des Teilnomadismus. Im Europa der Neuzeit verloren die ohnehin nur in den Peripherien in größerem Maßstab verbreiteten Formen extensiver Weidewirtschaft fortschreitend an Bedeutung und bildeten seit dem späten 19. Jahrhundert nur noch ein marginales Phänomen. In Asien und Afrika hingegen gestalteten relativ viele und umfangreiche Kollektive mobiler Viehzüchter Wirtschaft und Gesellschaft auch noch im 19. und 20. Jahrhundert. Hirtennomadismus prägt große Teile der Bevölkerung im durch Wüsten, Halbwüsten, Steppen und Savannen gekennzeichneten Trockengürtel von Nordchina und der Mongolei über den Hindukusch, Zentralasien und Anatolien bis nach Arabien und Nordafrika. Das galt – abgesehen von den Küstengebieten – ebenfalls für den Gürtel südlich der tropischen Zone Afrikas. Auch wenn nomadische Lebensweisen aufgrund von Industrialisierung, Urbanisierung, Agrarmodernisierung, der Verkehrsrevolution und der zunehmenden Verdichtung staatlicher Herrschaft an Bedeutung v­ erloren, sind Nomaden dennoch nicht zuletzt aufgrund traditionell sehr flexibler Anpassungsstrategien bis in die Gegenwart ein selbstverständlicher Teil regionaler Ökonomien und Gesellschaften geblieben – von den Samen im skandinavischen Norden über die westsibirischen Nenzen und die ostafrikanischen Massai bis hin zu den südwestafrikanischen Himba.

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5 Der Nexus Gewalt und Migration Eine weltweit in Vergangenheit und Gegenwart äußerst gewichtige Migrationsform bilden Gewaltmigrationen. Formen von Gewaltmigration zeigen sich dann, wenn staatliche, halb-, quasi- und zum Teil auch nicht staatliche Akteure das Leben von Einzelnen oder Kollektiven weitreichend beschränken. Da deren (Über-)Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte und Freiheit, politische Partizipationschancen, Souveränität und Sicherheit bedroht werden, sehen sie sich zum Verlassen ihrer Herkunftsorte gezwungen. Gewaltmigration kann dann als eine Nötigung zur räumlichen Bewegung verstanden werden, die keine realistische Handlungsalternative zuzulassen scheint (Oltmer 2017b). Der Begriff der Flucht verweist dabei auf das Ausweichen vor Gewalt, die zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen, genderspezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Im Falle von Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen organisieren und legitimieren institutionelle Akteure unter Androhung und Anwendung von Gewalt räumliche Bewegungen. Ziel ist es hierbei meist, (Teile von) Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen und zur Sicherung bzw. Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen, nicht selten aus eroberten oder durch Gewalt erworbenen Territorien (für einen Überblick siehe Brandes et al. 2010). Durch Androhung oder Anwendung von offener Gewalt bedingte räumliche Bewegungen sind kein Spezifikum der Gegenwart – ebenso wenig wie Krieg, Staatszerfall und Bürgerkrieg als wesentliche Hintergründe von Gewaltmigration. Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen finden sich vielmehr in allen Epochen. Vor allem die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sowie der Kalte Krieg bildeten elementare Katalysatoren in der Geschichte der Gewaltmigration in der Neuzeit. Die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten allein im Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf 60 Mio. geschätzt – also auf mehr als 10 % der Bevölkerung des Kontinents (Kulischer 1948, S. 264). Die Nachkriegszeit beider Weltkriege war zudem durch millionenfache Folgewanderungen gekennzeichnet. Aber auch der langwährende und weitreichende Prozess der Dekolonisation brachte insbesondere von den späten 1940er bis zu den frühen 1970er Jahren weltweit umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Auch nach dem Abschluss des Prozesses der Dekolonisation und nach dem Ende des Kalten Krieges blieb im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert die globale Flüchtlingsfrage im Kontext der Szenarien von Krieg, Bürgerkrieg und ­Staatszerfall

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in vielen Teilen der Welt bestehen – in Europa (Jugoslawien), im Nahen Osten ­(Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen), in Ostafrika (Äthiopien, Somalia, Sudan/Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste, Mali, Nigeria), in Zentral- und Südasien (Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in Lateinamerika (Kolumbien). „Flüchtlinge“ sind laut der im Jahr 1951 verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention jene Migrantinnen und Migranten, die vor Gewalt über Staatsgrenzen ausweichen, weil ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Rechte direkt oder sicher erwartbar bedroht sind. Die von inzwischen 147 Staaten unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention wurde entwickelt, um einen Rechtsrahmen für den Umgang mit der europäischen Flüchtlingsfrage des Zweiten Weltkriegs zu finden. Sie war deshalb zunächst weder auf globale Fluchtbewegungen ausgerichtet noch auf die Zukunft. Eine Erweiterung der Konvention über europäische Flüchtlinge und über Fluchtbewegungen nach dem Jahr 1949 erfolgte erst im Jahr 1967 im Kontext der weitreichenden Kämpfe um die Ablösung der europäischen Kolonialherrschaft. Das heißt: Europa bildete im 20. Jahrhundert lange das Hauptproblem der globalen Flüchtlingsfrage – Europa als Kriegsschauplatz und Europa als Träger eines weltumspannenden Kolonialismus (im Detail: vgl. Zimmermann 2011). Trotz der Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Etablierung regionaler Schutzregime, wie sie beispielsweise auch in der Europäischen Union entwickelt wurden, entscheiden weiterhin Staaten mit weiten Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener, die als schutzberechtigte Flüchtlinge anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, ist dabei immer ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des Aushandelns durch Individuen, Kollektive und (staatliche) Institutionen, deren Beziehungen, Interessen, Kategorisierungen und Praktiken sich stets verändern. Mit der permanenten Transformation der politischen, publizistischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung von Migration verbindet sich ein Wandel im Blick auf die Frage, wer unter welchen Umständen als Flüchtling bezeichnet und wem in welchem Ausmaß und mit welcher Dauer Schutz oder Asyl zugebilligt wird (Oltmer 2016b). Flucht ist selten ein linearer Prozess, vielmehr bewegen sich Schutzsuchende meist in Etappen: Sie brechen häufig überstürzt auf und weichen in einen anderen, als sicher erscheinenden Zufluchtsort in der unmittelbaren Nähe aus. Oft wandern sie dann weiter zu Verwandten und Bekannten in einer benachbarten Region beziehungsweise einem Nachbarstaat oder sie suchen ein informelles oder reguläres Lager auf. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter Flucht finden sich ebenfalls oft. Hintergründe können dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verändernden und verschiebenden Konfliktlinien sein, sondern auch die

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Schwierigkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbs- bzw. Versorgungsmöglichkeiten zu finden. Durch die nicht selten extrem beschränkte Handlungsmacht der Betroffenen ist Flucht oft durch Immobilisierung gekennzeichnet: vor Grenzen oder unüberwindlichen natürlichen Hindernissen, infolge des Mangels an (finanziellen) Ressourcen, aufgrund von migrationspolitischen Maßnahmen oder wegen fehlender Netzwerke. Daher rührt auch das Phänomen der Verstetigung von Lagern mit der Folge einer „Camp-Urbanisierung“ und der Entwicklung von „Camp-Cities“ – Städten, die aus Lagern hervorgegangen sind. Ein Großteil der Flüchtlinge weltweit ist immobilisiert, unterliegt in sogenannten „protracted refugee situations“ einem – nicht selten prekären – Schutz, hat aber zum Teil durch die Unterbindung von Bewegung Handlungsmacht eingebüßt und ist extrem sozial verletzlich, das heißt konkret: prekäre rechtlicher Status, Provisorien als Unterkünfte, kaum Zugang zu legalen Arbeitsmöglichkeiten, eingeschränkte Bildungschancen für die Kinder. Die Zahl der sogenannten Flüchtlinge, die der Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) für die vergangenen Jahrzehnte ermittelt hat, schwankt in relativ geringem Maße. Für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges lassen sich zwei Hochphasen im globalen Fluchtgeschehen erkennen: die frühen 1990er Jahre und die Mitte der 2010er Jahre. In den Jahren von 1990 bis 1994 erreichten die Flüchtlingszahlen einen Höchststand zwischen 20,5 Mio. (1992) und 18,7 Mio. (1994). Ähnlich hohe Werte wurden Mitte der 2010er Jahre ermittelt: 19,5 Mio. (2014) und 21,3 Mio. (2015). Rund die Hälfte waren noch keine 18 Jahre alt. Zwischen diesen beiden Hochphasen lagen die Flüchtlingszahlen niedriger und erreichten im Zeitraum von 1997 bis 2012 einen Höchstwert von 15,9 Mio. (2007) und einen Mindestwert von 13,5 Mio. (2004).1 Wesentlich stärker als die Zahl der Flüchtlinge veränderte sich die Zahl der sogenannten Binnenvertriebenen. Weil sie keine Staatsgrenzen überschreiten, fallen sie nicht in den Regelungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und auch nicht in das Mandat des UNHCR. Deshalb sind die UN-Angaben über die Zahl der Binnenvertriebenen noch deutlich weniger gesichert als über die Zahl der Schutzsuchenden, die Grenzen überschritten haben. Auch bei den Binnenvertriebenen lässt sich ein Schwerpunkt Anfang der 1990er Jahre feststellen, 1994 zählte der UNHCR 28 Mio. Während die Zahl der Flüchtlinge Anfang der 2000er

1Zu

diesen und den folgenden Daten siehe UNHCR (o. J.), insbesondere die Statistical Yearbooks. Dort finden sich zudem permanent aktualisierte statistische Angaben zu den globalen Fluchtbewegungen.

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Jahre allerdings für ein Jahrzehnt ein Tief erreichte, steigt die der Binnenvertriebenen seither mehr oder minder kontinuierlich an, von 21,2 Mio. (2000) bis auf 40,8 (2015). Größere Fluchtdistanzen sind relativ selten, weil finanzielle Mittel dafür fehlen und Transit- oder Zielländer die Migration behindern. Weil Flüchtlinge zudem nach einer Rückkehr streben, suchen sie ohnehin meist Sicherheit in der Nähe der überwiegend im globalen Süden liegenden Herkunftsregionen. 95 % aller afghanischen Flüchtlinge (2015: 2,6 Mio.) leben in den Nachbarländern Pakistan oder Iran. Ähnliches gilt für Syrien, das sich seit dem Jahr 2011 im Bürgerkrieg befindet: Der Großteil der syrischen Flüchtlinge, rund 4,8 Mio., ist in die Nachbarländer Türkei (2016: 2,7 Mio.), Jordanien (640.000), Irak (246.000) und Libanon (1,1 Mio.) ausgewichen. Die Zahl der Menschen, die vor Gewalt innerhalb Syriens flohen und zu sogenannten Binnenvertriebenen wurden, lag mit 7,6 Mio. noch deutlich höher. Deshalb überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens im Jahr 2015 nicht weniger als 86 % aller weltweit registrierten Flüchtlinge und 99 % aller Binnenvertriebenen beherbergten – mit seit Jahren steigender Tendenz. Denn im Jahr 2003 nahmen die ärmeren Länder lediglich 70 % aller Geflüchteten auf. Der Anteil der Schutzsuchenden, die im globalen Norden Zuflucht fanden, lag entsprechend höher. Vorwiegend der globale Süden ist also betroffen von der Zunahme der weltweiten Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen seit Anfang der 2010er Jahre. Obwohl vor allem der globale Süden Ziel der Fluchtbewegungen der Welt ist, strebten seit dem Jahr 2012, und ganz besonders 2015/Anfang 2016, viele Schutzsuchende explizit nach Deutschland. Aber warum? Grundlegend lassen sich sechs Elemente eines komplexen Zusammenhangs skizzieren, die diesen Wandel hervorriefen. Die Reihenfolge der Argumente repräsentiert keine Hierarchie, alle genannten Faktoren stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander und verstärken sich gegenseitig: 1. Finanzielle Mittel: Viele Studien belegen, dass Armut die Bewegungsfähigkeit massiv einschränkt. Ein Großteil der Menschheit kann sich eine Migration über weite Distanzen nicht leisten (für Afrika: Haas 2008). Aber im Jahr 2015 lagen wichtige Herkunftsländer von in der EU registrierten Asylsuchenden in relativer geografischer Nähe zu Europa – das galt vor allem für Syrien, den Irak oder Südosteuropa. Die Kosten für eine Bewegung aus diesen Regionen hielten sich in Grenzen – zumindest im Vergleich zu Migrationen aus anderen globalen Konfliktherden wie etwa West- oder Ostafrika, Südasien oder Lateinamerika, die selten Europa erreichen. Hinzu kam, dass die Türkei als w ­ ichtigstes

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­ rstziel des Großteils syrischer Flüchtlinge unmittelbar an EU-Länder grenzt – E und zugleich angesichts der hohen Flüchtlingszahl nur geringe Zukunftsperspektiven, einen prekären Aufenthaltsstatus und beschränkte Möglichkeiten des Zugangs zu Bildung und zum regulären Arbeitsmarkt bot. 2. Netzwerke: Migration findet meist in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft geprägt sind. Deutschland war im Jahr 2015 auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel von Asylsuchenden geworden, weil es hier seit längerem recht umfangreiche Herkunftskollektive gab, die für Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg und Maßnahmen autoritärer Systeme auswichen, eine zentrale Anlaufstation bildeten. Das galt nicht nur für Syrer, sondern auch für Iraker, Afghanen, Eritreer und Südosteuropäer. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, hat die Zuwanderung von Asylsuchenden in die Bundesrepublik die 2015/Anfang 2016 zu beobachtende Dynamik gewonnen. 3. Aufnahmeperspektiven: In den frühen 2010er Jahren und bis weit in das Jahr 2015 hinein ließ sich eine relativ große Bereitschaft zur Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland beobachten. Verantwortlich dafür war eine vergleichsweise positive Zukunftserwartung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aufgrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Die seit Jahren laufende breite Diskussion um Fachkräftemangel und demografische Veränderungen führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge. Aus der Vorstellung, Schutz bieten zu müssen, resultierte auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement. 4. Aufhebung von Migrationsbarrieren: Seit den 1990er Jahren hat die EU und haben einzelne Mitgliedsländer ein System zur Abwehr von Fluchtbewegungen aufgebaut. Eine vielfältige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine verhinderte lange weitgehend, dass Flüchtlinge die Grenzen der EU erreichen und um Asyl nachsuchen konnten (instruktive Beiträge bieten Geiger und Pécoud 2012). Diese EU-Vorfeldsicherung ist aufgrund der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU – etwa im Kontext des sogenannten Arabischen Frühlings und des Ukraine-Konflikts – zusammengebrochen. Der Zerfall der politischen Systeme war eng verbunden mit den tief greifenden Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den Jahren 2007/2008. Sie verschärfte gesellschaftliche Konflikte in zahlreichen EU-Anrainerstaaten, beschnitt staatliche Handlungsmöglichkeiten und minimierte die Bereitschaft einer Zusammenarbeit mit der EU.

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5. Auflösung des „Dublin-Systems“: Die Weltwirtschaftskrise wirkte nicht nur auf den äußeren Ring der Vorfeldsicherung gegen Flüchtlingszuwanderung jenseits der Grenzen der EU, sondern auch auf den inneren Ring. Das seit den frühen 1990er Jahren entwickelte „Dublin-System“ führte zur Abschließung der EU-Kernstaaten und besonders Deutschlands gegen weltweite Fluchtbewegungen, indem es die Verantwortung für die Durchführung eines Asylverfahrens jenen Staaten überließ, in die Schutzsuchende einreisten (Lavenex 2001). Das konnten nur Staaten an der EU-Außengrenze sein. Lange funktionierte das System, nicht zuletzt deshalb, weil die Zahl der Flüchtlinge, die europäische Grenzen erreichten, seit Mitte der 1990er Jahre relativ gering war. Aber aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise und im Kontext des Anstiegs der Zahl der Asylsuchenden waren diverse europäische Grenzstaaten, vor allem Griechenland und Italien, in den vergangenen Jahren immer weniger bereit und in der Lage, die ungleich verteilten Lasten des Dublin-Systems zu tragen, die Schutzsuchenden zu registrieren und in das jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen. 6. Deutschland als „Ersatz-Zufluchtsland“: Innerhalb der EU führte die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise dazu, dass die Bereitschaft traditionsreicher und sehr gewichtiger Asylländer wie beispielsweise Frankreich oder Großbritannien erheblich sank, Schutz zu gewähren. Damit wurde Deutschland 2015/2016 gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Fluchtgeschehen. Die globale Flüchtlingsfrage ist erst mit der deutlich gestiegenen Zahl von Schutzsuchenden in den Jahren 2015/2016 Gegenstand intensiver Diskussionen in Deutschland und Europa geworden. Zuvor war das sehr selten der Fall, nicht zuletzt, weil das System der Abwehr von Flüchtlingszuwanderung der EU über viele Jahre zu funktionieren schien. In ihrer Asylpolitik haben sich die EU-Staaten seit den frühen 1990er Jahren vor allem auf Abwehrinstrumente einigen können. Die Vergemeinschaftung einer Politik des Schutzes von Flüchtlingen ist zwar bereits seit Jahren Teil der EU-Agenda. Einige wesentliche Vereinbarungen konnten vor allem in den Jahren 2004/2005 getroffen werden – just in einer Phase geringer Zugangszahlen: Mindeststandards für Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden sowie Verfahrensgarantien und Regelungen zum subsidiären Schutz. Der Rahmen aber muss als fragmentiert bezeichnet werden, gewissermaßen ein in den Anfängen stecken gebliebenes Projekt (Bendel 2015). Bereits seit dem Ersten Weltkrieg wird die Flüchtlingsfrage als internationale Herausforderung verstanden. Ein Flüchtlingshochkommissar, damals des Völkerbundes, amtiert seit dem Jahr 1921. Aber auch nach beinahe 100 Jahren fehlen

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einem internationalen Schutzregime weiterhin Regeleinrichtungen, die über ­ausreichende Etats und Mitarbeiterstäbe verfügen und die nicht ausschließlich in einem Notfallmodus agieren. 2015 wurde zwar ein großer Teil der von den Vereinten Nationen für Nothilfe verausgabten 28 Mrd. US$ für Flüchtlinge verwendet, allerdings blieben die zur Verfügung stehenden Mittel deutlich hinter den benötigten Summen zurück, weil Krisenaufrufe nicht genügend Spenden und Beihilfen einbrachten. 28 Mrd. US$ mag als viel erscheinen, bleibt aber doch ein geringer Betrag angesichts von 14,76 Billionen US$, die weltweit für das Führen von Kriegen und Bürgerkriegen sowie für Rüstungsausgaben 2017 aufgewendet worden sind (Institute for Economics & Peace 2018). Zu diskutieren ist, ob nicht gerade eine deutlich bessere Ausstattung des UN-Flüchtlingshochkommissars einen zentralen Beitrag dazu leisten könnte, die Möglichkeiten zur Durchsetzung der Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu verbessern, Fluchtkonstellationen im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer Systeme bereits im Ansatz zu erkennen und frühzeitig – also präventiv und proaktiv – Schutzmaßnahmen für Menschen, die durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt mobilisiert worden sind, zu ergreifen, um humanitäre Katastrophen zu verhindern – oder zumindest in ihrem Ausmaß erheblich zu reduzieren.

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Jochen Oltmer,  Dr. phil. habil., ist Apl. Professor für Migrationsgeschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Er arbeitet zu deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart; Buchpublikationen zuletzt u. a.: (Hrsg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin/ Boston: de Gruyter 2016; Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, 3. überarb. und aktualisierte Aufl. München: C. H. Beck 2016; Migration vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86), 3. überarb. und aktualisierte Aufl. Berlin/ Boston: de Gruyter 2016; (zus. mit Nikolaus Barbian), Vom Ein- und Auswandern. Ein Blick in die deutsche Geschichte [Jugendsachbuch]. Berlin: Jacoby & Stuart 2016; Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017, weitere Informationen: http://www.imis.uni-osnabrueck.de/oltmer_jochen/ zur_person/profil.html.

Aufenthalt gegen Leistung? Der Einzug meritokratischer Elemente in die deutsche Flüchtlingspolitik Hannes Schammann

Zusammenfassung

Über Flüchtlingspolitik wurde in Deutschland seit dem Jahr 2015 viel gestritten. In der öffentlichen Wahrnehmung ging es dabei meist darum, ob die Grenzen nun zu offen oder nicht offen genug seien. Blickt man allerdings etwas genauer auf die Entwicklungen in der deutschen Flüchtlingspolitik, so fällt auf, dass diese trotz der aufgeregten Debatten und nicht zu verleugnenden restriktiven Tendenzen in manchen Aspekten auch deutlich liberaler geworden ist. Der Beitrag wird auf Basis einer Analyse gesetzlicher und untergesetzlicher Änderungen der letzten Jahre argumentieren, dass zunehmend leistungsorientierte Kriterien Eingang in die deutsche Flüchtlingspolitik finden. Teilhabechancen und sogar den Aufenthaltstitel, insbesondere den dauerhaften, muss man sich auch als Flüchtling zunehmend durch Leistung in Arbeit und Bildung verdienen. Damit tut sich ein Spannungsfeld zwischen humanitärem Schutzanspruch und einer marktförmigen Migrations- und Flüchtlingspolitik auf, das in Forschung und Praxis bislang wenig thematisiert wird.

Große Teile dieses Beitrags sind einem Beitrag des Autors in der Zeitschrift Sozialer Fortschritt entnommen (Schammann 2017). In Gegensatz zum ursprünglichen Beitrag fehlt hier ein Kapitel zu organisatorischen Neujustierungen. Hinzugefügt wurden dagegen einige Ausführungen zu bildungspolitischen Entwicklungen. Aus redaktionellen Gründen sind rechtliche Änderungen nur bis zum Ende des Jahres 2018 berücksichtigt. H. Schammann ()  Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_3

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1 Einleitung Die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen nach dem Leistungsprinzip ist eine Gerechtigkeitsvorstellung, die als politische Idee seit der Antike existiert (Gruber 2016, S. 14 ff.). Wenn auch noch nicht als Meritokratie bezeichnet, wurde sie in Zeiten zementierter Standes- und Klassengesellschaften häufig als Idealvorstellung von jenen ins Feld geführt, die eine größere soziale Durchlässigkeit forderten. Soziale Ungleichheit sollte als Ergebnis von Leistung und nicht von Herkunft entstehen. Dies galt für die Revolutionen im Gefolge der Aufklärung ebenso wie für die Arbeiterbewegungen ab dem 19. Jahrhundert. Auch wenn rein meritokratische Vorstellungen bis heute kaum als durchgängig verwirklicht gelten können, ist das Leistungsprinzip mittlerweile doch zur allgemein akzeptierten Legitimationsgrundlage für gesellschaftliche Ungleichheit in westlichen Demokratien avanciert (Hadjar 2008). Dementsprechend sind zahlreiche Politikfelder von leistungsorientierter Rhetorik sowie entsprechenden policies, also politischen Maßnahmen und Gesetzen, durchdrungen. Im Mainstream politischer und wissenschaftlicher Diskussion versteht man Leistung dabei meist als messbares Ergebnis einer individuellen Anstrengung – oder zumindest als nachgewiesenermaßen vollbrachte Anstrengung. Dies gilt besonders für Bildungs- und Sozialpolitik. Auch in der Migrationspolitik westlicher Einwanderungsländer lassen sich, wie der erste Abschnitt dieses Beitrags in Erinnerung rufen wird, zahlreiche Traditionslinien meritokratischen Denkens nachzeichnen. Diese reichen von Einwanderungsregelungen bis hin zu Integrationsanforderungen. Ein Bereich der Migrationspolitik nimmt allerdings eine Sonderstellung ein: die Flüchtlingspolitik. Internationale Institutionen, wie die Genfer Flüchtlingskonvention, schreiben nicht Leistung, sondern das individuelle Schutzbedürfnis als zentrales Beurteilungs- und Selektionskriterium fest. Während klassische Einwanderungsländer wie die USA oder Australien in ihre flüchtlingspolitischen Maßnahmen dennoch längst meritokratische Prinzipien einflechten, galt dies für Deutschland bislang nur sehr eingeschränkt. Dies ändert sich seit einigen Jahren. Dieser Beitrag wird auf der Grundlage einer Analyse flüchtlingspolitischer policies, insbesondere der Jahre 2015 und 2016, argumentieren, dass die deutsche Flüchtlingspolitik eine meritokratische Wende erlebt: Arbeit und Leistung erscheinen als neue Strukturprinzipien. Ein Augenmerk wird dabei auch auf bildungspolitische Anpassungen gerichtet.

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2 Das Leistungsprinzip in der (deutschen) Migrations- und Integrationspolitik Hintergrund für das Verständnis meritokratischer Prinzipien in der Migrationspolitik Deutschlands und anderer westlicher Einwanderungsländer ist die Idee und der Kontext liberaler Demokratie. In einer bekannt gewordenen Denkfigur argumentiert James Hollifield, dass liberale Demokratien zwar beständig zwischen expansiver und restriktiver Migrationspolitik schwanken würden, ihre Migrationspolitik jedoch aufgrund eines institutionell „eingebetteten Liberalismus“ tendenziell immer liberaler würde (Hollifield 1992). Er unterscheidet dabei zwei Spielarten des Liberalen: Politisch liberale Institutionen, wie das Recht auf Familienzusammenführung, gelten für alle Menschen und erzwingen somit eine Öffnung der Grenzen. Gleichzeitig sorgen ökonomisch liberale Mechanismen, insbesondere freier Handel, dafür, dass Migration als Bestandteil globalisierter Wirtschaft geduldet oder gar befördert wird. Für Gary Freeman sind es insbesondere die Arbeitgeber, die ein hohes Interesse an offenen Grenzen haben und auf liberalere policies drängen (Freeman 1995). Sie erhoffen sich damit eine Vergrößerung des Pools an Arbeitskräften und befürworten Zuwanderungsregelungen, die sich am arbeitsmarktrelevanten Potenzial der Migrant/innen orientieren. Dies führt letztlich zu leistungsorientierten Kriterien bei der Regelung von Zuwanderung – und zu einer fortschreitend liberalen Migrationspolitik westlicher Demokratien (Cornelius et al. 1994). Autor/innen, die überwiegend der kritischen, an Marx und Gramsci orientierten Migrationspolitikforschung zuzurechnen sind, sehen meritokratische Elemente als Teil eines größeren hegemonialen Projektes, das die Migrationspolitik westlicher Demokratien präge und eng mit dem Terminus des „Migrationsmanagement“ verknüpft sei (Buckel et al. 2014). Ob aus einer akteurszentrierten Perspektive wie bei Freeman, aus institutionalistischer Sicht wie bei Hollifield oder aus der Warte kritischer Ansätze: In der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung wird das Leistungsprinzip als elementarerer Bestandteil bei der Gestaltung von Migrationspolitik begriffen. Besonders anschaulich tritt es in den sogenannten Punktesystemen mehrerer Staaten zutage (Hunger und Krannich 2015). So werden beispielsweise in Neuseeland, Kanada und Australien Zuwanderungswillige nach Leistungskriterien bewertet. Besonders relevant sind dabei Bildungsabschlüsse, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und ein unterschriebener Arbeitsvertrag. Aber auch das Alter sowie die Sprachkenntnisse und der Bildungsstand von Lebenspartnern spielen eine Rolle. Richten sich die Einwanderungssysteme dabei ausschließlich an den Leistungspotenzialen der Zuwandernden aus, so werden die entsprechenden

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Regelungen als angebotsorientiert bezeichnet. Wenn die Leistungskriterien auf die nationale oder regionale Bedarfslage, etwa an Fachkräften in einer bestimmten Branche, ausgelegt sind, spricht man von nachfrageorientierten Regelungen. Galten die Punktesysteme klassischer Einwanderungsländer lange als nahezu ausschließlich angebotsorientiert, während die Einwanderungspolitik Deutschlands als nahezu ausschließlich nachfrageorientiert angesehen wurde, lassen sich heute kaum mehr Extremtypen finden. Einerseits hat beispielsweise Kanada die Bevorzugung nachgefragter Branchen aufgenommen (Kolb 2014). Andererseits hat Deutschland im Jahr 2012 mit dem § 18c des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz, nachfolgend AufenthG) die wohl weltweit liberalste und eindeutig angebotsorientierte Regelung erlassen: Danach können Hochschulabsolventen gleich welcher Fachrichtung ein sechsmonatiges Visum zur Arbeitssuche in Deutschland beantragen. Diese Regelung trägt dazu bei, dass Deutschlands Migrationspolitik mit Blick auf Fachkräfte von der OECD seit längerem als besonders progressiv bezeichnet wird (OECD 2013). Der § 18c AufenthG ist der vorläufige Höhepunkt einer fortschreitenden Liberalisierung der deutschen (Fachkräfte-)Migrationspolitik, als deren gesetzlicher Startschuss die deutsche Version der „Green Card“ unter der ersten Regierung Schröder im Jahr 2000 gelten kann. Vor dem Hintergrund eines prognostizierten Fachkräftemangels in der IT-Branche war es das Ziel des Gesetzes, 20.000 IT-Spezialisten, vorwiegend aus dem asiatischen Raum, anzuwerben. Auch wenn die – weiterhin stark nachfrageorientierte – Maßnahme nur bescheidenen Erfolg zeitigte (Kolb 2004), wurde doch deutlich, dass sich Deutschland erstmals seit dem Anwerbestopp von 1973 wieder aktiv um die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland bemühte. Zahlreiche weitere Initiativen auf gesetzlicher und untergesetzlicher Ebene folgten. Dazu gehörten unter anderem das parteiübergreifende Nachdenken über effiziente Migrationspolitik, beispielsweise in der Süßmuth-Kommission im Jahr 2001 (Schneider 2008) oder einer „Konsensgruppe“ zur Fachkräftezuwanderung im Jahr 2011 (Hochrangige Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung 2011). Darüber hinaus gab es zahlreiche konkrete, parteiübergreifend konsentierte Gesetzesinitiativen wie das Berufsqualifikationenfeststellungsgesetz (BQFG) im Jahr 2012, das den Weg zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse in Deutschland normierte und Deutschland sowohl für Fachkräfte attraktiver machen sollte als auch einen „Brain Waste“ (Englmann und Müller 2007), das heißt eine Verschwendung des Humankapitals bereits Zugewanderter, zu vermeiden suchte. Unterhalb gesetzlicher Regelungen stießen sowohl Bundesregierung als auch Landes- und Kommunalverwaltungen zahlreiche Initiativen zur Etablierung einer behördlichen und zivilgesellschaftlichen

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„Willkommenskultur“ an. Auch wenn dieser Begriff ab dem Jahr 2015 zunehmend im Kontext von Flüchtlingsdebatten genutzt wurde, ist es wichtig festzustellen, dass er von Spitzenpolitiker/innen zunächst in der Fachkräftedebatte – etwa ab dem Jahr 2010 – erfolgreich verwendet wurde. Auf Bundesebene brachten insbesondere die Unionsminister Thomas de Maizière (Inneres) und Annette Schavan (Bildung) den Begriff in die Diskussion ein, später griff ihn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf, versuchte sich an einer Definition, gründete Arbeitsgruppen und förderte viele Projekte unter diesem Schlagwort (Schammann et al. 2012). Zahlreiche Bundesländer und Kommunen zogen nach. Insgesamt kann man festhalten, dass spätestens seit 2010 verstärkt politische Maßnahmen ergriffen wurden, um Deutschland im weltweiten Wettbewerb um die „besten Köpfe“, sprich: die Leistungsträger, attraktiv zu machen. Diese Neuorientierung in der (Fachkräfte-)Migrationspolitik wurde begleitet von der zunehmenden Relevanz meritokratischer Prinzipien in der Integrationspolitik. Diese wurden teilweise ebenfalls von der Suche nach Fachkräften und ungenutztem Erwerbspersonenpotenzial angetrieben, teilweise aber auch durch generelle meritokratische und (neo)liberale Änderungen der deutschen Sozialpolitik befördert. Ähnlich wie die Regelungen im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“), die den Sozialleistungsbezug von der Beteiligung an Qualifizierungsmaßnahmen etc. abhängig machten, wurden auch verpflichtende Integrationsleistungen und daran knüpfende Belohnungen bzw. Sanktionen eingefordert. Ergebnisse dieser Debatte sind unter anderem die Gesetzgebung zur Einbürgerung im Jahr 2000 sowie die Diskussion um die dazugehörigen Einbürgerungstests der Bundesländer, etwa im Zeitraum zwischen 2006 und 2008. Die Liste der Voraussetzungen für die deutsche Staatsbürgerschaft liest sich seitdem wie die Anforderung für die Mitgliedschaft in einem exklusiven Klub (generell zu Staaten als Clubs siehe Kolb 2008): Es müssen Sprach- und Wissenstest absolviert werden, außerdem muss der Lebensunterhalt gesichert und es dürfen keine Straftaten begangen worden sein. Der eigentlich erforderliche achtjährige Aufenthalt in Deutschland kann durch „besondere Integrationsleistungen“ (§ 10 Abs. 3 Staatsangehörigkeitsgesetz, nachfolgend StAG), insbesondere besonders gute Sprachkenntnisse, auf sechs Jahre verkürzt werden. Hier zeigt sich deutlich die Präsenz von meritokratischen Belohnungsmechanismen in der deutschen Integrationspolitik. Dazu gehört auch, dass Sanktionsmechanismen diskutiert wurden. Dies geschah insbesondere parallel zur Debatte um Fachkräftemangel und Willkommenskultur ab 2010, als der Umgang mit „Integrationsverweigerern“ in Politik, Medien und Verwaltung thematisiert wurde. Gemeint waren damit vor allem Menschen, die den Integrationskurs nicht besuchen. Der neu eingefügte § 44a AufenthG regelt daher, dass

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Ausländer/innen zur Kursteilnahme verpflichtet werden können. Im Falle einer Weigerung besteht ein weites Sanktionsarsenal, das bis zur Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis reicht (§ 44a Abs. 3 AufenthG).1

3 Die Rolle von Leistung in der (deutschen) Flüchtlingspolitik Während also meritokratische Elemente seit vielen Jahren Einzug in die deutsche Fachkräfte- und Integrationspolitik finden (dazu auch Bade und Oltmer 2007), stellt sich die Frage für humanitäre Zuwanderung, und hier besonders das Asylverfahren, in anderer Weise. Versteht man im Sinne des bisher Umrissenen unter Leistung den tatsächlichen oder anzunehmenden Erfolg auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt, so spielt sie in den internationalen Regelungen zum Flüchtlingsschutz, und hier vor allem der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), keine Rolle. Maßgebend ist hier allein die Schutzbedürftigkeit. Wenn man also Leistung nicht als besonderen Grad der Schutzbedürftigkeit definiert, so hat Flüchtlingspolitik ihrem Grundsatz nach frei zu sein von meritokratischen Erwägungen. Schutz erhält, wer Schutz braucht – und nicht, wer ihn sich verdient. Eine Ausnahme macht die GFK nur, wenn die jeweilige Person die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ des Aufnahmelandes bedroht (Art. 32 GFK). Die faktische Umsetzung der GFK durch die unterzeichnenden Staaten folgt diesem Prinzip zwar dem Grunde nach.2 Dennoch lassen sich, insbesondere in der Flüchtlingspolitik traditionell leistungsorientierter Einwanderungsländer wie den USA oder Australien, bereits seit längerer Zeit meritokratische und, weiter gefasst, nutzenorientierte Elemente identifizieren. Deutlich wird dies beispielsweise im Resettlement-Programm der USA, bei dem schon lange darüber debattiert wird, wie die Interessen der USA am besten eingebracht werden können (Steinbock 2002). Das Prinzip, sich durch Leistung in der Gesellschaft behaupten zu müssen, gilt zudem ganz offiziell für die Zeit nach der Aufnahme. Sowohl in den USA als auch in Australien sind die Integrationsangebote für Flüchtlinge

1Ausführlich

am Beispiel Österreichs vgl. Gruber et al. (2016). ließe sich einwenden, dass gefährliche Migrationsrouten, die Geflüchtete auf dem Weg zu internationalem Schutz zurücklegen müssen, ein hartes und leistungsorientiertes Selektionskriterium darstellen und durch die Bundesregierung mit verantwortet werden. Dies ist sicherlich ein gewichtiges Argument in politischen Debatten, soll aber hier nicht weiter Berücksichtigung finden.

2Es

Aufenthalt gegen Leistung? …

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zeitlich stark begrenzt (meist auf maximal ein Jahr). Anschließend wird davon ausgegangen, dass sich auch Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen können und müssen. In Forschung und Praxis häufig referiert wird auch auf das Beispiel Schwedens: Dort ist es möglich, bei Vorliegen eines Arbeitsvertrags aus dem laufenden Asylverfahren „auszusteigen“ und einen Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken zu erhalten (Parusel 2014). Individuelle Leistung weist bei diesem „Spurwechsel“-Modell den Weg aus dem unsicheren Status als Asylsuchender in den unter Umständen weniger prekären Status des Arbeitsmigranten.

3.1 Situation in Deutschland vor 2015 Im Gegensatz zu den genannten internationalen Beispielen war die deutsche Flüchtlingspolitik vor 2015 traditionell wenig von meritokratischen Elementen geprägt. Zwar lässt sich eine Orientierung der Asylpolitik an ökonomischen Kriterien kaum leugnen (Oltmer 2016). Doch dies betraf in der Vergangenheit zumeist ganze Personengruppen. Individuelle Leistung wurde im ansonsten individualisierten Asylverfahren grundsätzlich nicht berücksichtigt. Wollten Schutzsuchende aus dem Asylverfahren in einen anderen Aufenthaltstitel wechseln, so mussten sie ausreisen und ein Visum zur erneuten Einreise beantragen – für irregulär eingereiste Geflüchtete aus Krisengebieten nahezu unmöglich. Auch in den raren humanitären Aufnahmeprogrammen Deutschlands wurden eher humanitäre Kriterien (bspw. besonderer Schutzbedarf aufgrund chronischer Krankheit, Familienzusammenführung) als individuelle Leistungskriterien berücksichtigt. Kurz gesagt: Die deutsche Flüchtlingspolitik vor 2015 orientierte sich stark an den Defiziten, das heißt in diesem Fall: an den politisch anerkannten Schutzbedarfen der Zugewanderten. Potenziale für den deutschen Arbeitsmarkt oder die Gesellschaft generell blieben weitgehend unberücksichtigt. Dies hatte im Bildungsbereich u. a. zur Folge, dass junge Geflüchtete, die nicht mehr schulpflichtig waren, aber keinen Schulabschluss aufwiesen, kaum eine Möglichkeit hatten, eine qualifizierte (Schul)Ausbildung zu erhalten. Der bloße Gedanke an die Hebung ihrer Potenziale durch zielgruppenspezifische und/oder inklusive Bildungsprogramme wurde durch einen omnipräsenten Diskurs der Defizitorientierung geradezu unmöglich gemacht. Dennoch gab es im deutschen Flüchtlingsrecht bereits vor 2015 einige wenige Elemente, die man als Vorläufer einer meritokratischen Neuausrichtung bezeichnen könnte. Beispielsweise wurden in allen Bundesländern sogenannte Härtefallkommissionen geschaffen, die selbst bei vollziehbar Ausreisepflichtigen die Möglichkeit haben, der Landesregierung zu empfehlen, dennoch ein

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­ ufenthaltsrecht zu erteilen. Dieser „Gnadenakt“ ist jeweils an den individuellen A Fall und die spezifische Entscheidung der jeweiligen Kommission gebunden. Die im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 in Kraft getretene Bundesregelung zur Härtefallkommission (§ 23a AufenthG) empfiehlt jedoch, dass die Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes ein Kriterium für eine positive Entscheidung sein könne. In der Praxis der Härtefallkommissionen haben Anträge zudem insbesondere dann Aussicht auf Erfolg, wenn Integrationsleistungen wie Sprachkenntnisse, Bildungserfolg oder ehrenamtliches Engagement vorgewiesen werden können. Gerade bei jungen Erwachsenen können ggf. auch Gutachten von Lehrer/innen entscheidend sein. Individuelle Integrationsleistungen rechtfertigen somit im Gesetz, aber vor allem in der Verfahrenspraxis, die Einstufung von Schutzsuchenden als „Härtefall“. Auch der Umgang mit langjährig Geduldeten, also Personen, deren Ausreisepflicht nicht durchsetzbar ist, wird von ähnlichen Kriterien bestimmt. So regelt der im Jahr 2009 in Kraft getretene § 18a AufenthG, dass „qualifizierte Geduldete“ bei Vorliegen einer abgeschlossenen Berufsausbildung bzw. eines absolvierten Studiums oder einem regelmäßigen Einkommen ein Aufenthaltstitel gewährt werden kann, wenn weitere Voraussetzungen (insbesondere Sprachkenntnisse, Wohnraum und Straffreiheit) erfüllt sind. Der seit dem Jahr 2011 gültige § 25a AufenthG richtet sich an geduldete Jugendliche, denen ein Aufenthaltstitel unter anderem aufgrund ihres Bildungserfolgs und einer daraus abgeleiteten positiven Integrationsprognose erteilt werden kann. Auch hier kommt Lehrkräften im Zusammenspiel mit lokalen Behörden eine entscheidende Rolle zu. Während die Regelung des § 18a AufenthG eine „Kann“-Regelung ist, wird der § 25a AufenthG zwei Jahre später durch eine „Soll“-Formulierung bereits schärfer formuliert. Hierin zeigt sich neben einer höheren Schutzabsicht bei Jugendlichen auch das oben bereits beschriebene, um das Jahr 2010 wachsende politische Interesse, Leistung aufenthaltsrechtlich zu belohnen. Die Regelungen nennen einige Punkte, an denen die Integrationsleistung festzumachen ist (insbesondere Arbeits- und Bildungserfolg), sie enthalten aber auch jeweils vage Formulierungen zu sonstigen Leistungskriterien – etwa, dass „gewährleistet scheint, dass sich der Geduldete auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann“ (§ 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Solche unbestimmten Formulierungen sind in der Migrationspolitik vergleichsweise häufig anzutreffen und bewirken, dass die Umsetzung und Ausdifferenzierung des Gesetzes – und die Definition des Leistungsbegriffs – überwiegend durch lokale Behörden erfolgen muss (Schammann 2015b). In der Folge gingen kommunale Ausländerbehörden mit den Neuregelungen für Geduldete sehr unterschiedlich um: Während einige progressive

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­ usländerbehörden (u. a. München und Köln) aktiv auf langjährige Geduldete A zugingen und sie in einen Daueraufenthalt zu bringen suchten, wurden die Möglichkeiten dieser Regelungen in anderen Kommunen kaum wahrgenommen (Schammann und Kühn 2016). Die Forschung zur kommunalen Flüchtlingspolitik zeigt, dass Kommunen im Rahmen ihrer freiwilligen Aufgaben bereits weit vor 2015 bildungspolitische Neuausrichtungen für Geflüchtete angeregt haben (im Folgenden: Schammann und Kühn 2016, S. 21). Als Beispiel dafür kann die bayerische Landeshauptstadt München gelten. Dort adressiert die private Initiative der SchlaU-Schule (Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge) seit dem Jahr 2000 die Zielgruppe von nicht mehr schulpflichtigen Jugendlichen ohne Bildungsabschluss, meist im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Diese Jugendlichen hatten in den meisten Bundesländern keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen und einen Abschluss nachzuholen. Die SchlaU-Schule bot ein Angebot für genau diese Zielgruppe und führte zahlreiche Jugendliche mit Fluchterfahrung zum Schulabschluss. Die Stadt München unterstützte das Projekt ab dem Jahr 2001 finanziell. Der Erfolg von SchlaU und die intensive Lobbyarbeit des Vereins gab auf Landesebene den Anstoß dafür, dass das bayerische Kultusministerium die Berufsschulpflicht im Jahr 2011 auf die betreffenden Gruppen ausweitete und inzwischen nahezu flächendeckend spezielle Klassen in Berufsschulen anbietet, in denen ein Schulabschluss nachgeholt werden kann. Andere Bundesländer haben im Zuge der Zuwanderung ab 2015 ähnliche Angebote eingerichtet, das bayerische Modell setzte aber bereits weit vorher ein.

3.2 Flüchtlingspolitische Innovationen in den Jahren 2015 und 2016 Die medial intensiv begleitete Zuwanderung von Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 hat zu zahlreichen, teils grundlegenden Änderungen in der deutschen Flüchtlingspolitik geführt. Aufgrund der Tatsache, dass Gesetzesnovellen kurzfristig erneut geändert oder gar wieder zurückgenommen wurden, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, die deutsche Flüchtlingspolitik sei in dieser Zeit eher durch einen hektischen Aktivismus denn durch ein stringentes Reformbemühen gekennzeichnet. Die im Folgenden ausgewählten gesetzlichen und untergesetzlichen Maßnahmen machen jedoch deutlich, dass es durchaus eine gewisse Kohärenz jenseits der aufgeregten Debatten gab. Diese besteht weniger in der öffentlich viel diskutierten, vermeintlichen Verschärfung des Asylrechts,

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sondern im Gegenteil in seiner punktuellen Liberalisierung durch meritokratische Elemente.

3.2.1 Asylpakete I und II Auf die Öffnung der Balkanroute Anfang September 2015 reagierte die Bundesregierung mit einem teils ohnehin bereits geplanten Gesetzesvorhaben: dem Asylpaket I, das auch als Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz oder, in Anlehnung an den letzten großen Umbau des Asylrechts 1992/1993, als neuer „Asylkompromiss“ bezeichnet wurde. Letztlich waren die dort versammelten Maßnahmen jedoch weit weniger umfassend als bei seinem historischen Vorgänger, der unter anderem das Asylgrundrecht eingeschränkt und das Asylbewerberleistungsgesetz ins Leben gerufen hatte. Die Neuerungen des Asylpakets I waren vergleichsweise bescheiden und deutlich weniger restriktiv: einige Einschränkungen bei der Leistungsgewährung und die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsländer standen einer Ausweitung des Teilnehmendenkreises an Integrationskursen sowie einer Liberalisierung des Arbeitsmarktzugangs für Asylsuchende gegenüber. Kennzeichnend für die Öffnung der Integrationskurse war die Einführung einer „guten Bleibeperspektive“. Diese wird seitdem einer Person attestiert, die aus einem Herkunftsland kommt, dessen Anerkennungswahrscheinlichkeit bei mehr als 50 % liegt. Im Jahr 2015 traf dies auf Irak, Iran, Syrien und Eritrea zu. Im Jahr 2016 kam Somalia dazu. Asylsuchende mit einer guten Bleibeperspektive haben seit dem Asylpaket I die Möglichkeit, den Integrationskurs im Rahmen verfügbarer Kursplätze bereits während des Asylverfahrens zu durchlaufen und im Anschluss eine berufsbezogene Deutschförderung nach dem neu eingefügten § 45a AufenthG zu erhalten. Dies soll vor allem der schnelleren Arbeitsmarktintegration dienen. Für Asylsuchende aus „sicheren Herkunftsländern“, zu denen nun auch Kosovo, Albanien und Montenegro zählten, wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert. Doch gleichzeitig wurden legale Zugangswege für arbeitsmarktfähige Personen aus diesen Staaten durch eine Änderung der Beschäftigungsverordnung ermöglicht. Eine deutliche Liberalisierung brachte das Asylpaket I auch für Studierende mit Fluchterfahrung. Diese haben seitdem nach 15 Monaten (bislang 48) prinzipiell Anspruch auf eine BAföG-Förderung (zum Hochschulzugang s. Abschn. 3.2.3). Dem Asylpaket I folgte etwa drei Monate später, Anfang 2016, das Asylpaket II mit wenigeren, überwiegend restriktiven Neuerungen. Interessant aus der Perspektive dieses Beitrags heraus sind besonders zwei Regelungen: Erstens wurde der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für den Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt. Damit wurden Personen, die in den politischen und medialen Debatten eher als defizitäre Transferleistungsempfänger denn als potenzielle

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Leistungsträger portraitiert wurden, vom Zuzug ausgeschlossen. Zweitens wurde gesetzlich festgestellt, dass einer Abschiebung grundsätzlich keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Damit müssen die Betroffenen selbst beweisen, dass sie im Herkunftsland nicht medizinisch versorgt werden können. Psychologische Gutachten sind zudem explizit ausgeschlossen. Das Asylpaket II führte somit zwar keine neuen meritokratischen Elemente in das Flüchtlingsrecht ein, aber es sorgte dafür, dass die humanitäre Orientierung im Flüchtlingsrecht weiter abgeschwächt wurde.

3.2.2 Integrationsgesetz Im September 2016 trat dann das dritte große Gesetzespaket in Kraft. Es wurde etwas euphemistisch als Integrationsgesetz bezeichnet, auch wenn es keineswegs ein neues Gesetzbuch darstellt, sondern als Artikelgesetz Änderungen in verschiedenen Gesetzen und Verordnungen enthält. Schwerpunkt ist zudem keineswegs die Integration von Zugewanderten insgesamt, sondern weiterhin Flucht und Asyl. Das Integrationsgesetz kann somit einfach als ein Asylpaket III angesehen werden. Gleichzeitig ist es ein Kristallisationspunkt meritokratischer Orientierung im deutschen Flüchtlingsrecht. Über die Ausrichtung und den Geist des Gesetzes gibt die Gesetzesbegründung im Entwurf der Bundesregierung Aufschluss: „[Der] Schwerpunkt [liegt] auf dem Erwerb der deutschen Sprache sowie einer dem deutschen Arbeitsmarkt gerecht werdenden Qualifizierung der betroffenen Menschen. Je früher damit begonnen wird, umso höher sind die Erfolgsaussichten. Der deutsche Arbeitsmarkt benötigt eine Vielzahl von Fachkräften. Dieser Bedarf kann auch durch die nach Deutschland kommenden schutzsuchenden Menschen teilweise abgedeckt werden.“ (BT Drucksache 18/8829, S. 1). Interessant an dieser Formulierung sind zwei Dinge: Erstens definiert das Gesetz Integration als Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt sowie als Erlernen der deutschen Sprache. Weitere Integrationsdimensionen spielen keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle. Zweitens werden Flüchtlingsschutz und Fachkräftemangel direkt in einen Zusammenhang gebracht. Flüchtlingsschutz und vor allem Flüchtlingsintegrationspolitik muss danach so ausgerichtet werden, dass sie dabei hilft, den Fachkräftemangel zu beheben. Hier zeigt sich bereits eine deutliche Akzentverschiebung – weg von humanitären, aber auch weg von sicherheitsorientierten Argumenten hin zu utilitaristischen Begründungsmustern. Nimmt man die programmatische Aussage der Begründung ernst, so hat die Förderung arbeitsmarktrelevanter Potenziale zudem möglichst früh, also mindestens bereits im Rahmen schulischer Bildung, anzusetzen. Im Folgenden werden vier Regelungen des

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Integrationsgesetzes herausgegriffen, an denen die neue Leistungsorientierung der Flüchtlingsintegrationspolitik sehr deutlich wird. 1. 3 + 2-Regelung („Spurwechsel“): Bereits beim Asylpaket II waren sich die Regierungsparteien im Grunde einig, dass man – getreu den bereits seit langem artikulierten Forderungen der Arbeitgeberverbände und Kammern – abgelehnten, aber geduldeten Geflüchteten die Möglichkeit einräumen wollte, einen Aufenthaltstitel zu erhalten, sofern sie einen Ausbildungsplatz fänden. In der Praxis wurde dies beispielsweise im Land Niedersachsen bereits seit dem Sommer 2015 auf dem Erlasswege praktiziert. Die entsprechenden Auszubildenden erhielten dann eine Duldung für die Dauer der Ausbildung. Die Neufassung des § 18a AufenthG weitet diese Praxis noch weiter aus und sieht vor, dass die Betroffenen nach den im Regelfall drei Jahren Ausbildungsdauer einen Aufenthaltstitel für weitere zwei Jahre erhalten („3 + 2“). Damit wird im Grunde der „Spurwechsel“ nach schwedischem Vorbild ermöglicht: Asylsuchende können sich jetzt ihr Bleiberecht trotz Ablehnung durch einen Erfolg auf dem Ausbildungsmarkt verdienen. Ergänzt wird diese Ausrichtung durch die Ausweitung der Ausbildungsförderung („Ausbildungs-BaföG“). 2. Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM): Die FIM stellen das deutlichste Zeichen der Arbeitsmarktorientierung des Integrationsgesetzes dar. Über die Neuschaffung des § 5a AsylbLG sollten Personen im Geltungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes, also vor allem Asylbewerber im Verfahren, nicht aber Geduldete und Menschen aus sicheren Herkunftsländern, dazu verpflichtet werden, Arbeitsgelegenheiten wahrzunehmen, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) finanziert und (überwiegend) von den Kommunen organisiert werden sollten. Als Entgelt erhalten die Teilnehmenden 80 Cent pro Stunde, dies entspricht dem Satz für die bereits existierenden Arbeitsgelegenheiten im bereits vorher bestehenden § 5 AsylbLG. In der Richtlinie des BMAS zu den FIM heißt es, die Teilnehmenden sollten „mittels niedrigschwelliger Angebote in Arbeitsgelegenheiten an den Arbeitsmarkt herangeführt werden“ (BMAS 2016, S. 1). Damit war die Hoffnung verbunden, dass „die Teilnehmenden Einblicke in das berufliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland erhalten“ (ebd.). Allerdings dürfen – gemäß der Logik des § 5 AsylbLG – die FIM keine qualifizierten oder qualifizierenden Tätigkeiten sein, die tatsächlich zum ersten Arbeitsmarkt hinführen. Dieser logische Bruch innerhalb der FIM hatte zur Folge, dass zahlreiche Kommunen, aber auch viele Akteure Sozialer Arbeit die FIM

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als Arbeitsmarktmaßnahme ablehnten und auf die vom BMAS eigens zur Verfügung gestellte Mittel verzichten. In der Folge wurden die ­ eigentlich ­vorgesehenen Mittel von rund einer Milliarde Euro bereits weniger als ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes um mehr als zwei Drittel gekürzt. Doch auch wenn die FIM als politische Maßnahme mit Blick auf das selbst gesteckte Ziel scheitern mussten, zeigen sie doch das Bestreben, selbst Gesetze wie das AsylbLG, die eigentlich keineswegs die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen zum Ziel haben, entsprechend zu modifizieren. 3. Wohnsitzauflage: Für viel Diskussionsstoff in Fachwelt und Öffentlichkeit sorgte die neue Regelung des § 12a AufenthG. Danach sind selbst anerkannte Flüchtlinge verpflichtet, für die ersten drei Jahre in dem Bundesland zu leben, in dem sie ihr Asylverfahren durchlaufen haben. Den Ländern obliegt es, die Wohnsitzauflage noch weiter einzuschränken, wovon sie in der Praxis recht unterschiedlich Gebrauch machen. An dieser Stelle soll jedoch besonders interessieren, auf welcher Grundlage individuelle Ausnahmen von der Wohnsitzauflage vorgesehen sind. Einerseits sind dies die grundgesetzlich gedeckten Fragen der Familienzusammenführung. Andererseits muss die Wohnsitzauflage auf Antrag des Flüchtlings aufgehoben werden, wenn „ein den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen oder ein Ausbildungs- oder Studienplatz zur Verfügung steht“ (§ 12a Abs. 5 Nr. 1a AufenthG). An diesem Beispiel zeigt sich, dass im Integrationsgesetz selbst vermeintlich harte, restriktive Regelungen durch individuelle Integrationsleistungen – definiert vor allem über nachweisbaren Arbeits- und Bildungserfolg – ausgehebelt werden können. 4. Niederlassungserlaubnis: Vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes erhielten anerkannte Flüchtlinge zunächst einen dreijährigen Aufenthaltstitel, der nach Ablauf und erneuter Prüfung ihres Fluchtgrundes zumeist direkt in eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis umgewandelt werden konnte. Die Neufassung des § 26 AufenthG legt fest, dass wesentliche Elemente des § 9 AufenthG, in dem die Niederlassungserlaubnis für Ausländer im Allgemeinen geregelt wird, nun auch für anerkannte Flüchtlinge gelten. Orientiert an den Voraussetzungen für die Einbürgerung (§ 10 StAG) wird die Niederlassungserlaubnis an zahlreiche Integrationsleistungen gekoppelt:3

3Für Geflüchtete gelten die im Folgenden genannten Punkte des § 9 AufenthG in ähnlicher Form, der § 26 AufenthG modifiziert sie nur leicht, was in der Darstellung zu einem etwas verschachtelten und umständlichen Gesetzestext führt. Aus Gründen der Lesbarkeit und da die generelle Stoßrichtung identisch ist, wird hier der allgemeinere § 9 AufenthG zitiert.

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H. Schammann Einem Ausländer ist die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn 1. er seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis besitzt, 2. sein Lebensunterhalt gesichert ist, 3. er mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat […] 4. Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung […] nicht entgegenstehen, 5. ihm die Beschäftigung erlaubt ist, sofern er Arbeitnehmer ist, 6. er im Besitz der sonstigen für eine dauernde Ausübung seiner Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse ist, 7. er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, 8. er über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt und 9. er über ausreichenden Wohnraum für sich und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen verfügt (§ 9 Abs. 2 AufenthG).

Migrationspolitik lässt sich grundsätzlich in drei typische Debattenfelder einteilen: Identität, Sicherheit und Wirtschaft bzw. Wohlfahrt (Rosenblum und Cornelius 2012). Bei Diskussionen um Identität geht es vor allem um die Kompatibilität von Ethnizität und Religion der Zuwanderer mit der Aufnahmegesellschaft. Das zweite Debattenfeld, Sicherheit, kann durch die Frage beschrieben werden, wie das Verhältnis von humanitärer Verpflichtung und nationalen Sicherheitsinteressen gestaltet werden soll. Dabei herrscht meist weniger Uneinigkeit über das Ziel der Politik (Schutz vor Gefahr) als vielmehr über die Intensität von Bedrohung und Gegenmaßnahmen. Das dritte Debattenfeld, Wirtschaft und Wohlfahrt, ist vor allem durch die Frage geprägt, wie man Zuwanderung effizient gestalten, ihre Nettogewinne maximieren und dabei Verteilungsgerechtigkeit garantieren kann (dazu ausführlicher Schammann 2015a). Betrachtet man die Gewichtung der Integrationsleistungen zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis, so fällt auf, dass das Debattenfeld der Wirtschaft/Wohlfahrt klar dominiert: Vier der neun Punkte (2, 3, 5, 6) sind direkt mit der Arbeitsmarktintegration verbunden, zwei (7, 9) indirekt. Leistung wird somit – ganz im Sinne des Integrationsverständnisses des Integrationsgesetzes – überwiegend als Erfolg auf dem Arbeitsmarkt definiert. Zwei weitere Punkte decken die Themen Sicherheit (4) und (nationale) Identität (8) ab. Einer (1) bezieht sich einzig auf die Aufenthaltsdauer. Diese scheint im hier gewählten Ausschnitt nicht beeinflussbar. Allerdings lässt das Gesetz eine Verkürzung der Dauer auf drei Jahre zu: „Ein besonderer Integrationsanreiz wird durch die Möglichkeit geschaffen, bei herausragender Integration bereits nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten. Die herausragende Integration zeigt sich insbesondere am Beherrschen der deutschen Sprache bei gleichzeitiger weit überwiegender Lebensunterhaltssicherung.“ (BT Drucksache 18/8829, S. 3). Auch dieser Punkt wird somit letztlich über erfolgreiche Bildungs- und

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­ rbeitsmarktintegration definiert. Erfüllen Flüchtlinge die Kriterien nicht, werden sie A keineswegs abgeschoben. Sie erhalten jedoch weiterhin auf ein Jahr befristete Aufenthaltstitel. Das Fortdauern der gefühlten Unsicherheit haben sie sich aber, so die Logik des Gesetzes, selbst zuzuschreiben. Die angesprochene meritokratische Orientierung gesetzlicher Änderungen setzt sich auch in der Organisation der Flüchtlingspolitik fort, indem beispielsweise Sozialressorts auf allen Ebenen mehr Einfluss erhielten (Schammann 2017). Sie zeigt sich aber auch bei Entwicklungen im Bildungsbereich, in denen sich meritokratische Elemente mit restriktiven Tendenzen bzw. mit einer gewissen „Verwertungslogik“ für den Arbeitsmarkt verschränken.

3.2.3 Bildungspolitische Neuausrichtungen auf der untergesetzlichen Ebene: das Beispiel der Hochschulen Seit dem Wintersemester 2015/2016 lassen sich an deutschen Hochschulen zunehmend Angebote für Studieninteressierte mit Fluchterfahrung feststellen (im Folgenden Schammann und Younso 2016, 2017a, b). Zu Beginn konnten an der Mehrzahl engagierter Hochschulen alle Geflüchteten, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, an den Maßnahmen teilnehmen. In den Gasthörerprogrammen saßen somit sowohl Geflüchtete mit einer Hochschulzugangsberechtigung als auch Geflüchtete, die realistischerweise nicht unmittelbar studierfähig waren. Viele Hochschulen begriffen in dieser Phase ihr Angebot als eine „Beschäftigungsmaßnahme“, die den Alltag der Geflüchteten strukturieren sollte. Die Geflüchteten selbst erhofften sich dagegen mehrheitlich die Möglichkeit, ein „echtes“ Studium aufzunehmen und ihre Zukunft in Deutschland zu gestalten. Diese unterschiedlichen Erwartungen führten auf beiden Seiten immer wieder zu Enttäuschungen, insbesondere wenn das Gasthörerstudium nicht an eine umfassendere Bildungsberatung geknüpft war. Die Hochschulen konzentrierten sich somit zusehends auf ihr „Kerngeschäft“ und beschränkten den Zugang zu ihren Angeboten auf formal studierfähige Geflüchtete, denen nur noch die nötigen Sprachkenntnisse fehlten. Einerseits zogen sie damit Leistungsprinzipien in die Arbeit mit Geflüchteten ein, auch um den Hochschulzugang generell nicht zu entwerten. Im Gegensatz zu den Arbeitgeberverbänden und Kammern setzten sich die Hochschulen aber nicht für eine aufenthaltsrechtliche Belohnung von Leistung ein. Die oben erwähnte 3 + 2-Regelung gilt schließlich nur für eine Ausbildung, nicht aber für ein Studium. Stattdessen wurde von zahlreichen Hochschulen eine „gute Bleibeperspektive“ zum Teilnahmekriterium erhoben. Hochschulen vollziehen also durchaus eine Öffnung für leistungswillige und -fähige Geflüchtete. Die meritokratische Wende wird hier jedoch, wie in anderen Bereichen der Flüchtlingspolitik auch, durch restriktive Diskurse überlagert. Der Befund einer ­Schärfung

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der ­ Zielgruppe entlang der Kriterien Hochschulzugang ­ (leistungsorientierte ­Restriktion) und Bleibeperspektive (asylpolitische Restriktion) ist an den Hochschulen besonders eindeutig. Anstelle sich in gesellschaftlichen Diskussionen um rechtliche Rahmenbedingungen für Bildungsteilhabe Geflüchteter aktiv – und möglicherweise unbequem – zu positionieren, stehen die Programme der Hochschulen geradezu paradigmatisch für die Verschränkung neoliberaler und konservativ-restriktiver Diskurse.

4 Arbeit und Leistung als neue Strukturprinzipien deutscher Flüchtlingspolitik? Viel ist in den hitzigen Debatten der Jahre 2015 und 2016 darüber gestritten worden, ob die deutsche Flüchtlingspolitik nun zu restriktiv oder noch nicht restriktiv genug sei. Häufig wurde ihre Kurzsichtigkeit und Sprunghaftigkeit bemängelt. Und eigentlich immer wurde sie gescholten, eine inhaltliche Kohärenz vermissen zu lassen. Dieser Beitrag hat versucht zu zeigen, dass sich trotz unbestreitbar restriktiver Linien in der Flüchtlingsgesetzgebung und einer sicherlich keineswegs widerspruchslosen Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis die steigende Bedeutung meritokratischer Prinzipien wie ein roter Faden durch die flüchtlingspolitischen Maßnahmen zieht. Dieser hat seine Ursprünge weit vor dem Jahr 2015, insbesondere in der Fachkräftedebatte ab dem Jahr 2010, wird aber erst unter dem Eindruck der hektischen Aktivitäten der Jahre 2015 und 2016 deutlich sichtbar. Leistung wird in der Folge zum Selektionskriterium in einem ursprünglich vorwiegend durch die Arena der Sicherheit – das heißt durch die Aushandlung zwischen individuellem Schutzbedarf und nationaler Sicherheit – geprägten Politikfeld. Dies bedeutet zwar nicht, dass humanitäre oder auch sicherheitspolitische Erwägungen keinerlei Rolle mehr spielen würden – entsprechende Absätze finden sich in allen neuen Regelungen. Außerdem ist die Entscheidung, wer als Flüchtling gilt, zumindest de lege weiterhin weitgehend frei von Leistungsgedanken. Aber die Orientierung an Leistung – definiert vor allem über den Erfolg bei Arbeit und Bildung – wird relevant für die Verstetigung des Aufenthaltes und die Teilhabe in zahlreichen Lebensbereichen. Meritokratische Prinzipien gesellen sich dabei nicht nur hinzu, sondern dominieren bei einigen, hier ausgewählten policies sogar das Feld. Arbeit und Leistung scheinen dabei ganz bewusst zu Strukturprinzipien der deutschen Flüchtlingspolitik erhoben zu werden. Nun lässt sich mit Fug und Recht einwenden, dass man die Geschichte flüchtlingspolitischer Maßnahmen der Jahre 2015 und 2016 auch anders erzählen könnte, etwa als Rückkehr vergessen geglaubter Abschottungsversuche oder

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wahlweise als Krise oder Sternstunde von Verwaltung. Die hier skizzenhaft vorgebrachte These von einer meritokratischen Wende der deutschen Flücht­ lingspolitik schließt solche und andere Schwerpunktsetzungen nicht aus, im Gegenteil: Sie versteht sich als ein Beitrag unter vielen zur Beschreibung der flüchtlingspolitischen Entwicklung der Bundesrepublik der letzten Jahre. Gerade in bildungspolitischen Diskussionen darf sicherlich auch die vielerorts feststellbare humanitäre Orientierung nicht unterschlagen werden, die zahlreiche Projekte und Programme treibt. Doch genauso wie sich konservativ-restriktive Diskurse mit leistungsorientierten verschränken, so lässt sich in der Praxis auch ein Überlappen humanitärer und meritokratischer Ausrichtung feststellen. Diese Entwicklungen gilt es zu reflektieren. Im Grunde geht es um zwei einfache, miteinander verbundene Fragen, die auf gesellschaftlicher und politischer Bühne endlich offen zu diskutieren sind: Soll im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung von humanitärem Schutz Leistung im Sinne eines Bildungserfolgs oder einer gelungenen Arbeitsmarktintegration aufenthaltsrechtlich belohnt werden? Und soll, zweitens, ausbleibende Leistung dazu führen, dass der Aufenthaltsstatus unsicher bleibt?

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Aufenthalt gegen Leistung? …

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Hannes Schammann, Prof. Dr., ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre in der migrations- und integrationspolitischen Praxis: als Projektleiter für Migration und Integration bei der Robert Bosch Stiftung, als Referent für Grundsatzfragen der Integration beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und als Koordinator für Integrationsprojekte bei der BAG Ev. Jugendsozialarbeit. Ein Forschungsschwerpunkt ist die Rolle von Kommunen in der Migrationspolitik.

Flucht, Rassismus, Bildung Pädagogische Problematisierungen und sozialwissenschaftliche Analyseperspektiven im Kontext aktueller Migrationsdynamiken Kenneth Horvath

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden Implikationen einer rassismustheoretischen Perspektive für die Auseinandersetzung mit aktuellen Bildungs- und Migration-­ verhältnissen diskutiert. Rassismus wird als Element diskursiver Formationen definiert, die Ungleichheiten, die entgegen anerkannter Gleichheitspostulate bestehen, naturalisierend erklären und dadurch legitimieren. Ausgehend von einer von Foucault inspirierten Problematisierungsheuristik werden typische Eigenschaften rassistischer Wissensordnungen identifiziert, allen voran die Vielseitigkeit und Adaptivität rassistischer Argumentationsweisen. Auf dieser Grundlage werden vier zentrale Implikationen für die aktuelle Bildungs- und Migrationsforschung besprochen: i) die Notwendigkeit, die strukturelle Verankerung rassistischer Problematisierungen in den institutionellen Formen schulischer Bildung zu berücksichtigen; ii) die Anregung, Formen professionellen pädagogischen Unterscheidens spezielle Aufmerksamkeit zu schenken; iii) der Bedarf an interdisziplinären Zugängen, die verschiedene gesellschaftliche Teilfelder in ihrem Wechselspiel in den Blick nehmen; sowie iv) die Forderung nach neuen Formen eines kritisch-reflexiven Theorie-Praxis-Dialogs.

K. Horvath ()  Universität Luzern, Luzern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_4

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1 Einleitung Der Begriff des Rassismus ist im deutschsprachigen Raum von einer seltsamen Spannung geprägt. Einerseits scheint es auf politisch-rhetorischer Ebene einen breiten anti-rassistischen Grundkonsens zu geben, der Selbstbekundungen zufolge vom Deutschen Fußballbund (Fritsch 2011) bis zu (Teilen) der AfD reicht (Zeit Online 2017). Dieser Rhetorik zufolge scheint man sich einig zu sein, dass Rassismus ein virulentes und politisch zu bekämpfendes gesellschaftliches Problem ist. Andererseits war Rassismus als analytisches Konzept in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften über Jahrzehnte praktisch tabu – ein Umstand, der sich vor allem historisch erklären lässt: Nach 1945 schien die Gefahr groß, durch allzu leichtfertige Mobilisierung eines Rassismusbegriffs den Holocaust zu bagatellisieren; gleichzeitig konnte so auch die Selbsterzählung eines scharfen Bruchs zu nationalsozialistisch belasteten sozialwissenschaftlichen Tendenzen aufrecht erhalten werden (Christ und Suderland 2014; Kranebitter und Horvath 2015). Vor diesem Hintergrund verfolgt dieser Beitrag das Ziel, das Potenzial einer rassismustheoretischen Perspektive für die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Wechselspiel von Flucht, Migration und Bildung auszuloten. In Abschn. 2 wird eine Analyseperspektive vorgeschlagen, die Rassismus als Element spezifischer Formen der essenzialisierenden Problematisierung sozialer Verhältnisse fasst. Das Konzept der Problematisierung dient dabei als doppelte Heuristik. Einerseits kann es helfen, wichtige Aspekte der Genealogie und Architektur rassistischer Wissensordnungen zu erhellen, wie in Abschn. 2 skizziert wird. Andererseits bietet es eine Grundlage zur Formulierung konkreter Forschungsfragen und Forschungsprogramme. Welche Konsequenzen sich aus einer solchen Problematisierungsheuristik für die Analyse und Reflexion der Wechselbezüge zwischen Migrations-, Ungleichheits- und Bildungsordnungen ergeben, wird thesenhaft in Abschn. 3 besprochen. Dabei geht es auch um die Entwicklung neuer Formen der Auseinandersetzung mit handlungspraktischen Problemen des pädagogischen Alltags – darum, das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu denken und so einen sozialtheoretisch und empirisch fundierten, kritischen und reflexiven Dialog zu ermöglichen. Die folgenden Ausführungen haben einen essayistischen Charakter. Sie bauen auf einem Vortrag auf, der im Rahmen der Ringvorlesung „Flucht – Bildung – Integration? Bildungspolitische und pädagogische Herausforderungen von Fluchtverhältnissen“ im Sommersemester 2017 an der Universität Hildesheim gehalten wurde. Das zentrale Anliegen dieses Vortrags bleibt auch für den vorliegenden Beitrag leitend: Ansatzpunkte für neue Formen sozialwissenschaftlicher ­Analyse

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und Reflexion zu identifizieren, die den Komplexitäten aktueller Dynamiken gerecht werden.

2 Was ist Rassismus? Aspekte einer komplexen Problematisierungspraxis Rassismus ist, zunächst einmal, ein umstrittener und mehrdeutiger Begriff (Miles 1991; Räthzel 2000). Eine Reihe von gesellschaftlichen Phänomenen, die das 19. und 20. Jahrhundert geprägt haben, können heute unstrittig als rassistisch bezeichnet werden: koloniale Sklaverei, der Holocaust, Eugenik und Apartheidsregime sind prominente Beispiele. Weniger Einigkeit herrscht mit Blick auf andere und speziell aktuelle Situationen und Problemlagen. Ist es sinnvoll, von einem anti-muslimischen Rassismus zu sprechen, oder handelt es sich nicht doch eher um „Islamophobie“ (Kaya 2016)? Sind die militarisierten Grenzräume der EU Ausdruck einer rassistischen Migrationspolitik (Horvath 2014a)? Und ist nicht jede/r irgendwie rassistisch? Die Antworten auf derartige Fragen hängen an erster Stelle von der zugrunde gelegten Begriffsdefinition ab. Rassismusdefinitionen sind aber so vielfältig wie das Spektrum an Phänomenen, das sie erfassen sollen. Aspekte und Kriterien, die in einem Verständnis als notwendig angesehen werden, gelten in anderen als kontingent oder gar irrelevant. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird unter Rassismus meist entweder eine spezifische Verhaltensweise oder ein Set an Einstellungen bzw. Vorurteilen verstanden. In beiden Fällen wird der Begriff ontologisch auf der Ebene von Individuen verortet. Rassismus wird zu einer Diagnose, die in Bezug auf Einzelpersonen getroffen werden kann, und die häufig mit psychologisierenden Erklärungen einhergeht – prominentes Beispiel dafür sind Sündenbocktheorien. Einem solchen individualisierenden Verständnis stehen Perspektiven gegenüber, die Rassismus als gesellschaftliche Wissensordnung fassen (Miles 1991; Goldberg 1990), als „système perceptif et significatif“ (Guillaumin 1995), das als institutionalisiertes Klassifikationswissen verfügbar ist (Douglas 1991) und sich dadurch auszeichnet, dass es in biologisierender und/oder kulturalisierender Manier quasi-natürliche Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen postuliert (Guillaumin 1998). Ein solches überindividuelles Begriffsverständnis eröffnet eine Reihe von Forschungsperspektiven: Wir können nach den (historischen, politischen, interaktionalen) Situationen fragen, aus denen solche Wissensordnungen hervorgehen, können deren semantische Architektur in den Blick nehmen, ihre innere Dynamik rekonstruieren oder nach den Formen fragen, in denen sie in konkreten Praxiszusammenhängen aufgegriffen und s­ ituativ relevant

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werden – Rassismus wird damit als diskursive Komponente komplexer sozialer Formationen greifbar (Goldberg 1990). Aber auch die abstrakte Definition von Rassismus als „Wissensordnung“ lässt noch viele Fragen offen. Um ein konkreteres Bild der Implikationen einer rassismustheoretischen Perspektive für die Auseinandersetzung mit aktuellen Migrations- und Bildungsordnungen zu zeichnen, wird im Folgenden vorgeschlagen, Rassismus als Element einer Problematisierungspraxis in den Blick zu nehmen (Dean 2010, S. 38). Die Heuristik der Problematisierung ist von Foucault inspiriert, der sie im zweiten Band von „Sexualität und Wahrheit“ (Foucault 1989, S. 19) einführt – in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen eigenen rassismustheoretischen Überlegungen (Stoler 1995). Die Frage, was Rassismus denn nun konkret sei, wird damit nicht auf dem Weg einer quasi immer konkreteren ontologischen Begriffsbestimmung zu beantworten versucht. Vielmehr wird die Gegenfrage gestellt, wie rassistische Wissens-, Denk- und Handlungsweisen aus konkreten „handlungspraktischen“ Problemdefinitionen hervorgehen. Aus einer solchen Analyseperspektive zeichnet sich Rassismus dadurch aus, dass er an spezifische Formen der Thematisierung sozialer Verhältnisse gebunden ist, die dazu führen, Ungleichheiten, die trotz einem eigentlich anerkannten Gleichheitspostulat bestehen, naturalisierend zu erklären und so zu legitimieren. Wesentlich an dieser Bestimmung ist, dass Rassismus nicht als isolierte und dekontextualisierte Klassifikationsweise verstanden wird, sondern als mehrfach strukturell verwoben und historisch situiert: Rassistische Diskursordnungen werden in ihrem komplexen Bezug auf bestehende Ungleichheiten und vorherrschende Gerechtigkeitsvorstellungen fokussiert; als Elemente von Problematisierungspraktiken sind sie zudem an politische und handlungspraktische Situationsdefinitionen und die Entwicklung von Strategien und Koordinationsformen gebunden. Eine solche Problematisierungsheuristik erhellt Aspekte der Genese rassistischer Wissensordnungen, die im Umkehrschluss Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen eröffnen. Wenn Rassismen eine Antwort auf die Frage geben, wie entgegen allgemein akzeptierter Gleichheitspostulate bestehende Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse einerseits verstanden, andererseits akzeptabel werden können, wird die „Modernität“ von Rassismus verständlich. Ohne prinzipiellen Gleichheitsanspruch hat er als gesellschaftlich verbreiteter Erklärungsansatz schlicht nicht dieselbe Relevanz. Rommelspacher (2011, S. 26) bringt diesen fundamentalen Umstand zum Ausdruck, wenn sie Rassismus definiert als „Legitimationslegende […], die die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen ‚rational‘ zu erklären versucht, obgleich die Gesellschaft von der prinzipiellen Gleichheit aller M ­ enschen ausgeht“. Boltanski (2010, S. 60) argumentiert ganz in diesem Sinne, dass

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Rassismus zwangsläufig zur Begleiterscheinung der Moderne wird: „Eine sich meritokratisch verstehende Gesellschaft entgeht nur schwerlich der Bedrohung durch irgendeine Form von Rassismus oder zumindest von biologisierendem Naturalismus.“ Rassismus ist als Wissensordnung im Verhältnis zum Problem der Deutung und Gestaltung einer von Ungleichheiten durchzogenen, dem Anspruch nach aber egalitären Gesellschaft zu verstehen. Sie ist daher notwendig beides: Teil einer (wenn auch notwendig spannungsreichen, weil eigentlich „illegitimen“) Rechtfertigungsordnung (Boltanski und Thévenot 2007, S. 116 ff.) und Element symbolischer Gewalt (Schmidt und Woltersdorff 2008; Alkemeyer und Rieger-Ladich 2008; Weiß 2013). Die Heuristik der Problematisierungspraxis ermöglicht unter anderem, Rassismus als Komponente liberaler Regierungstechnologien in den Blick zu nehmen (Lemke 2008; Dean 2010). Als solche trägt Rassismus durch die Erzeugung und Verwaltung von Ein- und Ausschlüssen zur Regulierung sozialer Verhältnisse im modernen Nationalstaat bei. In seinen Gouvernementalitätsanalysen hat Foucault diese Grundproblematik explizit als Kernelement liberaler Regierungskunst definiert: „Durch welches System des Ausschlusses kann die Gesellschaft zu funktionieren beginnen, wen muss sie ausschließen, welche Trennlinien muss sie ziehen, welches System von Negation und Verwerfung braucht sie?“ (Foucault 2002, S. 656) Foucault definiert Rassismus entsprechend als die Möglichkeit, „eine Zäsur einzuführen zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss“ (Foucault 2001, S. 301). Dabei geht es in aller Regel nicht um absoluten Ausschluss, sondern um die Verteilung von Lebenschancen über partielle und bedingte Ein- und Ausschlussverhältnisse (Lemke 2008, S. 111). Die von Foucault angeregte Betrachtung von Rassismen in ihrem Wechselverhältnis mit liberalen Regierungspraktiken hat eine Reihe wichtiger Implikationen (Stoler 1995). Erstens lenkt sie unsere Aufmerksamkeit auf die Gleichzeitigkeit von Ein- und Ausschlüssen und auf das Zusammenspiel von nach außen und ins „Innere“ gerichteten Formen der Regulierung sozialer Verhältnisse. Foucaults primäres Interesse in seiner Analyse moderner Normalisierungs- und Regierungstechniken (bzw. von Disziplinar- und Biomacht – Foucault 1997, 2001) galt der Frage, wie liberale Techniken der Steuerung moderner Gesellschaften mit spezifischen Sicherheitslogiken und Maßnahmen zur Selbstoptimierung der Bevölkerung verwoben sind. Diese „nach innen“ gerichteten Logiken und Praktiken des Regierens haben historisch ihren markantesten Ausdruck in den Eugenikbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden (Haller und Niggeschmidt 2012). Diese eugenische Spielart moderner Rassismen steht in einem engen Verhältnis zu ihren „imperialen“ Varianten, die postkoloniale Konstellationen bis heute prägen. Diese zweite Form postkolonialer Rassismen stand über die

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v­ergangenen Jahrzehnte im Zentrum der internationalen Rassismusforschung (wohl auch aufgrund der Ausblendung der Rassismusfrage in deutschsprachigen Kontexten und der daraus resultierenden fehlenden Auseinandersetzung mit der Frage nach dem „eugenischen“ Erbe des Nationalsozialismus). Eugenischer und kolonialer Rassismus sind historisch eng verwoben, markieren aber dennoch distinkte Logiken, die das Problem von Ein- und Ausschluss auf je eigene Art formulieren und bearbeiten. Gerade für die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Migrations- und Bildungsordnungen sind dem Muster nach „eugenische“ Spielarten rassistischen Problematisierens aber augenscheinlich nach wie vor zentral. Ansatzpunkte zu deren Berücksichtigung finden sich beispielsweise in Bourdieus (1993, 2001) Formel vom „Rassismus der Intelligenz“, mit der er die schon in den 1960er Jahren getroffene Diagnose von der Illusion der Chancengleichheit noch einmal zuspitzt (Bourdieu und Passeron 1971; Horvath 2017a). Bourdieu analysiert und kritisiert die Naturalisierung sozialer Unterschiede in gegenwärtigen Intelligenzdiskursen, in denen komplexe Konstellationen von Diskursen, Subjektivierungsprozessen und schulischen Selektions- und Positionierungsdynamiken essenzialisierend auf ein schlichtes und biologisierendes Ursache-Wirkungs-Verhältnis reduziert werden. Neben der Sarrazin-Debatte sind auch Teile der rein IQ-orientierten „Hochbegabtenförderung“ ein Beleg für die Aktualität dieser Diagnosen (Ribolits 2006; Haller und Niggeschmidt 2012; Horvath 2014b). Die Differenzierung von eugenischen und postkolonialen Ordnungen verweist bereits auf eine weitere wesentliche Implikation einer Problematisierungsheuristik. Rassistische Wissens- und Denkformen können auf ganz unterschiedliche Arten in sehr verschiedene politische und wissenschaftliche Projekte eingebunden werden. Die Eugenikbewegung ist ein aussagekräftiges Beispiel. An ihr waren eben nicht nur nationalsozialistische Ideolog/innen beteiligt, sondern auch Größen der Statistik, prägende Sozialwissenschaftler/innen und zahlreiche aktive Sozialdemokrat/innen (Haller und Niggeschmidt 2012). Eugenische Topoi wurden von den Protagonist/innen ganz unterschiedlich aufgegriffen und zu ihren spezifischen Problemstellungen in Bezug gesetzt. Ganz in diesem Sinne hat Foucault darauf hingewiesen, dass Rassismus zunächst in Form subversiver, gegen feudale Herrschaftsverhältnisse gerichtete contre-histoires in bürgerliche politische Projekte verwoben wurde, bevor sich im Lauf des 19. Jahrhunderts durch die Rekuperation und Neuartikulation von Diskursen und Praktiken ein effektiver Staatsrassismus bilden konnte (Foucault 2001). Rassismus ist, in anderen Worten, wandelbar, weil er variabel kombinier- und einsetzbar ist. Die Unentschiedenheit und Mehrdeutigkeit, die auch die aktuelle Rassismusforschung kennzeichnet, erscheint damit weniger als Folge begrifflicher Unschärfen denn als Teil des Phänomens selbst (Stoler 1995).

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Rassismus ist flexibel, weil er ganz unterschiedlich an politische ­ roblematisierungen anschlussfähig gemacht werden kann – und sich mit jeder P Re-Artikulation neue Formen der naturalisierenden Legitimation ansonsten nicht gerechtfertigter Ungleichheiten ergeben. Umgekehrt müssen Rassismen, um als flexible Diskurselemente funktionieren zu können, Anschlussfähigkeit an gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeits- und Wahrheitsvorstellungen wahren. Balibar (2007) attestiert dem Neo-Rassismus der Nachkriegsjahrzehnte in diesem Zusammenhang, soweit gegangen zu sein, den anti-rassistischen Nachkriegskonsens aktiv aufzugreifen und sich als der bessere, weil „realistische“ Anti-Rassismus darzustellen. An die Stelle hierarchisierender Differenzkonstruktionen ist ein Differenzrassismus getreten, der rhetorisch die Gleichwertigkeit verschiedener (ethnischer) Gruppen betont, aber vor einer zu starken Durchmischung warnt, weil diese zwangsläufig Gegenreaktionen nach sich ziehe. Naturalisiert werden hier nicht Ethnien oder Rassen, naturalisiert wird Rassismus selbst: Abwehrreaktionen gegen Fremdes lägen in der Natur des Menschen, sie zu vermeiden erfordere eine entsprechende Bevölkerungspolitik. Der Neo-Rassismus, von dem Balibar spricht, ist nicht nur von Biologisierung zu Kulturalisierung übergegangen, sondern arrangiert die gesamte Argumentationsweise neu. Das geht so weit, dass heute nicht nur von einem „Rassismus ohne Rassen“, sondern von einem „Rassismus ohne Rassisten“ gesprochen werden kann (Bonilla-Silva 2010). Die Schwierigkeit, gerade aktuelle Entwicklungen im Hinblick auf ihren „rassistischen“ Charakter einzuschätzen, erscheint damit in neuem Licht. In ihr drückt sich der Umstand aus, dass Rassismus eben kaum in Reinform vorkommt, sondern stets eingebettet in Problematisierungen aktueller gesellschaftlicher Phänomene und unter Berücksichtigung etablierter und allgemein als akzeptabel geltender Klassifikations- und Argumentationsweisen. Rassismus ist in diesem Sinn nicht „unvernünftig“ und nicht „unwissenschaftlich“, sondern argumentiert, scheinbar ganz im Gegenteil, stets unter Berücksichtigung eines gesellschaftlichen Common-Sense und im Modus der Wissenschaftlichkeit.

3 Von pädagogischen Problematisierungen zu sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven Was bedeutet die skizzierte rassismustheoretische Perspektive für die Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen und pädagogischen Implikationen aktueller Migrations- und Fluchtdynamiken? In welchen Hinsichten und in welchen Formen kann „Rassismus“ als Analyse- und Reflexionsheuristik für

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Bildungszusammenhänge dienen? Kann die vorgeschlagene Problematisierungsheuristik einen Rahmen bieten, um Logiken und Praktiken pädagogischen Handelns analytisch und reflexiv in den Blick zu nehmen? Im Folgenden werden vier Thesen präsentiert, die abstecken, was aus der skizzierten Perspektive für die Analyse aktueller Bildungsverhältnisse folgt. Der inhaltliche Schwerpunkt wird, ganz einseitig, auf die Rolle pädagogischer Praxis in gegebenen institutionellen und gesellschaftlichen Kontexten gelegt. Die Thesen beginnen bei einer abstrakten Gegenstandsbestimmung und schreiten zu Überlegungen zum Verhältnis von Sozialwissenschaft und pädagogischer Praxis fort. These 1 – abstrakte Gegenstandsbestimmung: Die Notwendigkeit rassismustheoretischer Analyse- und Reflexionsformen ergibt sich unabhängig von aktuellen Migrations- und Fluchtdynamiken schon aus den institutionellen Formen und gesellschaftlichen Funktionen pädagogischer Praxis. Schulische Bildung erfüllt mehrere gesamtgesellschaftliche Funktionen (Fend 1980). Neben den allgemeinen Zielen der Wissensvermittlung und Qualifizierung hat sie ungleichheitsrelevante Selektionen und Positionierungen vorzunehmen, übernimmt Sozialisationsaufgaben bzw. Subjektivierungsfunktionen und trägt auf diesem Weg auch zur Legitimation sozialer Ordnungen bei. Schule soll gleichberechtigte Teilhabe und Potenzialentwicklung ermöglichen, gleichzeitig aber bewerten und (aus-)sortieren. Schule ist, in anderen Worten, als Institution per definitionem mit dem Problem konfrontiert, Ungleichheitseffekte hervorzubringen, obwohl sie einem Gleichheitsanspruch zu entsprechen hat. In der Erfüllung dieser Funktionen bewegt sie sich zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis von egalitären und exklusiven Logiken (Derouet 1992). Von diesen Grundspannungen sind auch pädagogische Problematisierungsweisen durchzogen. Pädagogisches Handeln unterliegt einem Rechtfertigungsdruck und einer Wahrheitsorientierung – muss also stets mit Blick auf ein Allgemeininteresse rechtfertigbar sein und soll gleichzeitig theoretisch unterfüttert und wissenschaftlich fundiert sein. Diese zwei Formen der Verallgemeinerbarkeit zu erreichen, wird im pädagogischen Alltagsgeschäft strukturell verunmöglicht. Pädagogisches Handeln ist notwendig antinomisch und überfordernd und kann so gesehen im besten Fall auf einen gelungenen Kompromiss zwischen widerstreitenden Ansprüchen hinauslaufen (Helsper 2002). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchen Situationen Lehrkräfte auf essenzialisierende Klassifikationen und Logiken zurückgreifen, um Handlungen, Bewertungen und Unterscheidungen zu rechtfertigen und/oder Ungleichheiten zu erklären. Diese Form, die Frage zu stellen, öffnet zwei Modi der Auseinandersetzung, die über die vergangenen Jahre im Zusammenhang der Migrationspädagogik ausgearbeitet wurden, einer breiten Umsetzung aber noch harren

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(Mecheril et al. 2010; Melter und Mecheril 2011; Mecheril et al. 2013): einen der ­professionellen Reflexion pädagogischer Praktiken und einen der sozialwissenschaftlichen Entschlüsselung des Wechselspiels von inner- und außerpädagogischen Wissensordnungen im Kontext bestehender sozialer Ungleichheiten. These 2 – mögliche konkrete Forschungsperspektiven: Als erster und zentraler Gegenstand sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung ergeben sich die vielgestaltigen und komplexen Unterscheidungspraktiken des pädagogischen Alltags und die Formen, in denen diese auf gesellschaftliche Klassifikationssysteme bezogen sind. Die oben erläuterte erste These spiegelt eine Grundform rassismustheoretischer Analyse und Reflexion in schulischen Kontexten wider und schließt unmittelbar an die oben skizzierte Problematisierungsheuristik an. Für die konkrete empirische Forschung impliziert sie zunächst, zu analysieren, an welchen Stellen und in welchen Formen Lehrkräfte zur Definition und Bewältigung überfordernder Situationen auf Klassifikationsformen zurückgreifen, die als Elemente einer rassistischen Wissensordnung funktionieren können. Bewerten und Unterscheiden sind Teile des pädagogischen Kerngeschäfts. Lehrkräfte klassifizieren Leistungen, Sozialverhalten, Lernvoraussetzungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse – und zwar mit mutmaßlich weitreichenden Folgen für soziale Positionierungen und Subjektivierungsprozesse. Zwar kann dieses Unterscheidungshandeln sich an verschiedenen „legitimen“ Prinzipien wie Leistungsfähigkeit, Effizienz oder Inspiration orientieren (Imdorf 2011). Die Frage bleibt aber, wie und wo dieser Raum als legitim anerkannter pädagogischer Unterscheidungen mit naturalisierenden Klassifikationen kombiniert wird – mit ungleichheitslegitimierenden Konsequenzen. In Migrationszusammenhängen geht es dabei naheliegenderweise in erster Linie um Formen der Markierung „natio-ethno-kultureller“ Andersartigkeit (Mecheril et al. 2010). In deutschsprachigen Kontexten wäre etwa konkret die Funktionsweise der Differenzkategorie des Migrationshintergrunds zu diskutieren (Perchinig und Troger 2011). In ihren semantischen Konnotationen handelt es sich dabei um eine pseudo-ethnisierende Kategorie, die mit ihrer Operationalisierung über „objektive“ Merkmale wie Geburtsland und Staatsbürgerschaft aber zusehends weniger dazu imstande ist, die „eigentlich gemeinte“ Bevölkerungsgruppe zu erfassen (Horvath 2017b). Damit stellt sich die Frage nach möglichen neuen Leitkategorien, die in den kommenden Jahren den „Migrationshintergrund“ ablösen oder zumindest mit neuer Bedeutung versehen könnten. Die Figur des „Flüchtlings“ ist wohl zu eng an Vorstellungen von ereignishaften Ausnahmezuständen geknüpft, um dauerhaft als essenzialisierende Differenzlinie zu funktionieren. In der Form, die sie in aktuellen medialen und politischen Debatten angenommen hat, könnte sie aber quasi als Übergangskategorie funktionieren und Räume für neue Formen der Differenzdefinition öffnen, auch in pädagogischen

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Kontexten. Die starken Assoziationen der Figur des „Flüchtlings“ in aktuellen Debatten mit kulturalisierenden und geradezu orientalistischen Zuschreibungen sind offensichtlich. Der „Islam“ zeichnet sich als Kandidat für eine neue dominante Differenzkategorie ab, die im Gegensatz zum Migrationshintergrund explizit ethnisiert. Aufbauend auf der These von den postkolonialen und eugenischen Elementen rassistischer Diskursformationen stellt sich gleichzeitig die Frage nach den Zusammenhängen zwischen ethnisierenden Zuschreibungen und naturalisierenden Bewertungslogiken: Im weitesten Sinne „postkoloniale“ Kategorisierungen müssen in ihrem Verhältnis zu „eugenischen“ Unterscheidungslogiken verstanden werden. Der Wechsel zwischen „sozialer Herkunft“, „Migrationshintergrund“ und „Bildungsnähe“ passiert schließlich auch in aktuellen Debatten fließend. Konkret wäre etwa nach dem Wechselspiel von migrationsbezogenen Differenzsetzungen und Begabungsdiagnosen zu fragen (Horvath 2014b). Bourdieus Diagnose vom Rassismus der Intelligenz wurde in den Nachkriegsjahrzehnten vorwiegend mit Blick auf „intranationale“ Ungleichheitsordnungen getroffen (Horvath 2014a). Die reale Ethnisierung sozialer Ungleichheiten als Folge der Gastarbeitsregime verkompliziert die gegenwärtige Konstellation im Vergleich dazu deutlich, weil „Klassenrassismen“ und ethnisierende Klassifikationen heute untrennbar verwoben sind. Diese Entwicklung hat auch in bildungswissenschaftlichen Thematisierungen Spuren hinterlassen: Wo in den 1960er und 1970er Jahren die Bedeutung der Beherrschung einer Bildungssprache herausgearbeitet wurde, ist heute von den Ungleichheitseffekten von Muttersprachen die Rede. Die Frage ist, ob sich hier – auch angesichts migrationspolitischer Entwicklungen hin zur selektiven Rekrutierung der „besten Köpfe“ und der damit verbundenen teilweisen Neubewertung von Migration als positives Potenzial – neue Problemkonstellationen bzw. genauer neue Problematisierungsweisen ergeben. These 3 – aktuelle analytische Herausforderungen: Für die Sozial- und Bildungswissenschaften besteht eine der ersten zentralen Herausforderungen darin, Forschungsstränge stärker zu verknüpfen, die sich bisher weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben. Pädagogische Problematisierungen stehen in einem vielfältigen Wechselspiel mit politischen, statistischen, sozialwissenschaftlichen und medialen Argumentationen und Deutungen und können daher nur im Zusammenhang mit außerpädagogischen Entwicklungen sinnvoll analysiert und reflektiert werden. Was pädagogisch als Problem wahrgenommen wird und wie es definiert wird, ist nur teilweise mit Rekurs auf innerpädagogische Gegebenheiten zu beantworten. Es zeichnet sich eine doppelte und verzahnte Problematik ab. Auf der einen Seite gilt es, mit diffusen Überforderungs- und Verantwortungsgefühlen umzugehen und professionelle Reflexions- und Handlungsweisen

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zu entwickeln (Hamburger et al. 2005; Mecheril et al. 2010). Diagnosen zum ­ erhältnis von „Bildung“ und „Migration“, die für die 1970er oder 1980er Jahre V angemessen gewesen sein mögen, sind dabei nicht unmittelbar auf die heutige Situation übertragbar. Soll das Wechselspiel von schulischen Bildungsprozessen mit wechselnden und vielfältigen Migrationsphänomenen professionell und rassismustheoretisch fundiert reflektiert werden, sind Begrifflichkeiten und Reflexionsformen notwendig, die es erlauben, eine Brücke zwischen pädagogischem Alltag und konkreten historisch-strukturellen Konfigurationen zu schlagen. Gleichzeitig geht es – zweitens – darum, den Beitrag von Bildungseinrichtungen zur Reproduktion und Transformation gesamtgesellschaftlicher Zugehörigkeitsund Ungleichheitsverhältnisse zu analysieren. Wie beeinflussen pädagogische Praktiken und institutionelle Bildungsprozesse gesamtgesellschaftliche Verhältnisse und deren Entwicklung? Auch um die wechselseitigen Implikationen dieser gesellschaftlichen Ebenen zu fassen, sind Heuristiken und Forschungsstrategien gefragt, die es erlauben, Bildungs- und Migrationsordnungen analytisch aufeinander zu beziehen. In aktuellen Auseinandersetzungen werden diese Aspekte häufig eher oberflächlich aufeinander bezogen. Klar scheint, dass europäische Bildungssysteme von den Migrationsdynamiken der vergangenen Jahrzehnte und speziell auch von den jüngsten Fluchtereignissen zentral betroffen sind (Maaz et al. 2016, S. 161 ff.). Die konkrete Form der Wechselbezüge bleibt aber unklar. Zu reflektieren wäre etwa der Umstand, dass westeuropäische Migrationsordnungen in den vergangenen Jahren fundamentale Transformationsprozesse durchgemacht haben (Amelina et al. 2016). Eine der zentralen Aspekte der Dynamiken der jüngeren Vergangenheit ist die massive Politisierung von Migration, gepaart mit dem (Wieder-)Erstarken rechtsextremer politischer Formationen. Das lässt auch pädagogische Praxiszusammenhänge nicht unberührt, weil sich neue Fronten für Kritik und Handlungsunsicherheit öffnen und ein verstärktes Ausbalancieren von professionellen Orientierungen und politischen Einstellungen nötig wird. Dazu kommt die weitreichende Ausdifferenzierung und Hierarchisierung westeuropäischer Migrationsregime (Youkhana und Sutter 2017; Horvath et al. 2017). Zunehmenden Restriktionen und einer De-facto-Immobilisierung von großen Teilen der Weltbevölkerung stehen erweiterte und besser abgesicherte Bewegungsfreiheiten anderer Gruppen gegenüber (Horvath 2014a). Das führt im pädagogischen Alltag zu mehrdeutigen und unübersichtlichen Situationen, in denen beispielsweise der „Migrationshintergrund“ eines Kindes oder Jugendlichen immer weniger als Indikator für eine bestimmte Konstellation an Lebensumständen, Erfahrungen und Erwartungen dienen kann. Die Nachwirkungen der Gastarbeiterära mit der Etablierung neuer „ethnischer“ Minderheiten

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­(Castles  et  al. 1984) sind gleichzeitig mit EU-Binnenmigration von Akademiker/ innen und aktuellen Fluchterfahrungen in Klassenzimmern präsent. These 4 – zum Theorie-Praxis-Verhältnis: Aus dieser rassismustheoretischen Perspektive ergibt sich für die Sozialwissenschaften eine Rolle, die von der Gleichzeitigkeit von analytischer Distanz zu und reflexivem Dialog mit pädagogischer Praxis geprägt ist. Die konkreten Formen essenzialisierend-legitimierender Problematisierungen, die rassistische Wissensordnungen auszeichnen, sind flexibel und variieren in Abhängigkeit von historischen Konstellationen. Für die pädagogische Praxis äußert sich dieser Umstand in zwei Herausforderungen: Erstens ist einer der problematischen Aspekte rassistischer Denk-, Deutungsund Handlungsweisen ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. Auch eugenische Argumentationen, die im Rückblick fundamental irritierend wirken, schienen bis Mitte des 20. Jahrhunderts einer breiten Allianz an Praktiker/innen, Gelehrten und Politiker/innen unverdächtig. Welchen Unterscheidungen, die heute in Migrations- und Fluchtfragen fraglos akzeptiert werden, dasselbe Schicksal blüht, ist nicht prognostizierbar. Zweitens ergeben sich die Effekte pädagogischer Unterscheidungspraxis erst in Relation zu und im Wechselspiel mit gesellschaftlichen Kontexten, über die Lehrkräfte nie vollständig informiert sind. Es sind daher systematische Strategien der Irritation und Kontextualisierung etablierter und scheinbar selbstverständlicher pädagogischer Logiken und Praktiken notwendig. Sozialwissenschaften können die beschriebene Irritations- und Kontextualisierungsaufgabe zwar leisten. Es ist aber kaum zu vermeiden, dass sich aus der damit verbundenen Distanz zu praxisverankerten Denk- und Deutungsweisen im Umkehrschluss ein schwieriges Kommunikationsverhältnis ergibt. Gefordert sind daher neue Formen eines reflexiven und kritischen Dialogs, der Brücken schlägt, ohne an analytischer Tiefe zu verlieren. Im Kern wird damit Bourdieus Programm einer rationalen Pädagogik aufgegriffen, die gesellschaftliche Grundlagen und Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns reflektiert (Bourdieu und Passeron 1971; Bourdieu 2002, 2008). Dieses Programm ist aber um eine wesentliche Komponente zu ergänzen: Sozialwissenschaftliche Reflexion und Kritik müssen die Performativität sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion ernstnehmen (Diaz-Bone 2011). Auch die essenzialisierenden Problematisierungen und Erklärungen von pädagogischen Praktiker/innen kommen nicht aus dem luftleeren Raum – es ist anzunehmen, dass sozialwissenschaftliche Diskurse zu den zentralen Quellen gehören, auf die Pädagog/innen in ihrem professionellen Handeln zurückgreifen, um Handlungsprobleme auf eine akzeptable und generalisierbare Art und Weise zu fassen. Die Begriffe und Logiken, nach denen diese pädagogisch problematisiert werden, sind auch als Ergebnis sozialwissenschaftlicher Diskurspraxis zu deuten.

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4 Schlussbemerkung Lange Jahre gültige Leitbegriffe der deutschsprachigen Migrationsforschung – allen voran jener der Integration (Korteweg 2017) – können zentrale Aspekte der gegenwärtigen, von massiver Politisierung, komplexer Hierarchisierung und vielfältigen Überlagerungen geprägten migrationsgesellschaftlichen Realitäten nicht angemessen fassen. Rassismustheoretische Ansätze können vor diesem Hintergrund einen wichtigen Beitrag leisten. Die oben skizzierte Problematisierungsheuristik lenkt den Blick dabei auf die Mechanismen, durch die Ungleichheits- und Dominanzordnungen akzeptabel, verstehbar und handhabbar gemacht werden. Die Mehrdeutigkeit und Vagheit des Rassismusbegriffs erscheint aus einer solche Analyseperspektive weniger als Folge begrifflicher Unschärfen, denn als wesentliches Merkmal des Phänomens Rassismus selbst. Die zentrale Anregung ist, die konkreten Situationen, in denen rassistische Klassifikationen zum naheliegenden und scheinbar selbstverständlichen Element von Problemdefinitionen werden können, zum Ausgangspunkt von Analyse und Reflexion zu machen.

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Dr. Kenneth Horvath  ist als Oberassistent an der Universität Luzern tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf Methoden und Methodologien der Sozialwissenschaften sowie auf dem Wechselspiel von Bildungs-, Ungleichheits- und Migrationsordnungen im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse.

Teil II Fluchtverhältnisse II – Verletzlichkeiten

Wann und warum können Fluchtgeschichten traumatisierend wirken? Sibylle Rothkegel

Zusammenfassung

Jede Flucht hat ihre eigene Geschichte. Menschen fliehen vor Krieg, ­staatlicher Gewalt, Terror und Verfolgung oder auch wegen der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und damit einhergehender Hungersnöte. Flüchtende sind meist nicht nur im Herkunftsland, sondern auch während einer oft langen, lebensgefährlichen und anstrengenden Flucht wie auch im Ankunftsland komplexen psychosozialen Zerstörungsprozessen ausgesetzt, sodass Traumata sich kumulativ in Sequenzen entwickeln können. Mit dem Konzept der sequenziellen Traumatisierung wird nachgewiesen, dass Trauma als Prozess zu begreifen ist, in dem soziale Unterstützung eine bedeutende Variable zu seiner Bewältigung darstellt. Das weist uns auf unsere Verantwortung hin: Wenn wir alle an diesem Prozess beteiligt sind, können wir auch helfen, ihn weniger zerstörerisch zu gestalten. Jede Flucht hat ihre eigene Geschichte. Flüchtende Menschen sind die unausweichliche Begleiterscheinung von Krieg, staatlicher Gewalt, Terror und Verfolgung oder auch der Zerstörung von Lebensgrundlagen und damit einhergehenden Hungersnöten. Nach einem im September 2017 erschienenen Bericht der Vereinten Nationen leiden zurzeit weltweit 815 Mio. Menschen extrem unter Hunger (FAO et al. 2017, S. 1). Flüchtlinge brauchen in erster Linie existenzielle Sicherheit und materielle Versorgung. Gleichzeitig sind sie meist komplexen psychosozialen Zerstörungs-

S. Rothkegel ()  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_5

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prozessen ausgesetzt, wie z. B. Traumata, die sich in Sequenzen entwickeln ­können: traumatische Erlebnisse im Herkunftsland, während der Periode einer oft langen, lebensgefährlichen und anstrengenden Flucht, der Sequenzen nach der Ankunft im sogenannten Aufnahmeland und der nach einer möglichen Rückkehr in die frühere Heimat, die freiwillig, aber auch erzwungen sein kann (Becker und Weyermann 2006). Niemand kann sich diesen Fluchtgeschichten mehr entziehen. Beinah täglich können Zuschauer im Fernsehen Bilder von Kriegen, gewalttätigen Konflikten und Naturkatastrophen und die damit einhergehenden Flüchtlingsströme in die Nachbarländer sehen. Wir erfahren erschreckende Zahlen der Flüchtenden aus süd- oder zentralafrikanischen Ländern, die auf ihren Fluchtwegen nun einer zwangsweisen und menschenunwürdigen Unterbringung in Sammellagern der Maghrebzone entkommen wollen und in mangelhaften und überfüllten Booten an den Mittelmeerküsten stranden oder gar im Meer ertrinken. Gravierende Gründe, die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat, Hab und Gut sowie nahestehende Menschen zu verlassen, habe ich oben aufgezählt. Ob sich diese erste Sequenz der Verletzungen im Herkunftsland traumatisierend auswirkt, hängt davon ab, in welchem Entwicklungsalter und wie lange Menschen in bedrohlichen, hilflosen Situationen waren, wie intensiv traumatische Einwirkungen waren und nicht zuletzt davon, ob es schützende Faktoren gegeben hat. Ich werde zunächst die möglichen psychosozialen Folgen für die Betroffenen von Traumata beschreiben, das Konzept der sequenziellen Traumatisierung erläutern und dabei den Fokus setzen auf mögliche traumatische Belastungen, denen Geflüchtete während der Phase der Flucht oder auch im Zielland Deutschland ausgesetzt sein können. Im Anschluss stelle ich Überlegungen an, welche Faktoren dazu beitragen, dass sich eine Fluchtgeschichte traumatisierend auswirkt oder eben nicht.

1 Traumatische Erfahrungen und ihre Folgen für die Betroffenen Traumatische Erfahrungen gehen einher mit Gefühlen von Bedrohung, Angst, totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit und können zu dauerhaften psychischen und somatischen Beschwerden sowie sozialen Beeinträchtigungen führen. Wir beobachten dann eine dauerhafte Erschütterung des Selbstverständnisses und des Vertrauens in die Welt und eine lebenslang erhöhte psychische Verletzbarkeit. Viele Symptome, die auch verzögert auftreten können, sind unter den drei Hauptgruppen der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung in der aktuellen International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10), der

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Systematik für medizinische Diagnosen der Weltgesundheitsorganisation WHO, erfasst (WHO 2016): • Wiedererleben der traumatischen Ereignisse, z. B. in Albträumen oder in Flashbacks; • Vermeidungsverhalten gegenüber Reizen, die direkt oder indirekt mit dem Trauma verbunden sind, z. B. der Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen zu den Geschehnissen; • Übererregung, z. B. Angst- und Panikattacken, Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen und unkontrollierbare Aggressionsdurchbrüche; Bei Menschen, die in sehr frühem Lebensalter komplexen traumatischen Einwirkungen ausgesetzt waren, sprechen wir von einem Entwicklungstrauma, das sich in einer verzögerten Entwicklung oder auch in unsicher vermeidendem oder unsicher ambivalentem Bindungsmustern zeigen kann. Menschen mit unsicher vermeidendem Bindungsmuster wenden sich mit ihren Bedürfnissen und Emotionen wenig an andere Menschen. Bei unsicher-ambivalentem Bindungsmustern zeigt sich hingegen ein stark maximiertes Bindungsverhalten. Auffallend ist dabei, dass im Gegensatz zur Schutzsuche bei sicher gebundenen Menschen kaum Beruhigung in der Nähe der Bindungsperson eintritt (Scherwath und Friedrich 2012). Kumulative Traumatisierung entsteht in einer Anhäufung von Verletzungen sowohl gleichzeitig als auch in zeitlichen Abständen. Die unter Umständen nicht traumatischen Einzelerfahrungen werden es in der Anhäufung (Khan 2004). Sequentielle Traumatisierung bedeutet eine Folge von seelischen und körperlichen Verletzungen, die durch die Wiederholung zu besonders einschneidenden und schwerwiegenden Folgen führt. Hans Keilson (1979) hat nach dem II. Weltkrieg eine international viel beachtete Langzeitstudie mit 400 jüdischen Waisenkindern durchgeführt, deren Eltern von Nationalsozialisten ermordet worden waren. Er hat nachgewiesen, dass die den erlittenen Traumata folgende Lebensphase für die Entstehung und Überwindung psychischer Symptome von entscheidender Bedeutung ist. Soziale Unterstützung gilt demnach als eine bedeutende Variable zur Bewältigung von Traumata. Traumatische Widerfahrnisse und die damit verbundenen Konsequenzen für die Betroffenen müssen demnach in ihrem Kontext gesehen und als Prozess beschrieben werden, der von den Wechselwirkungen zwischen der sozialen Umwelt und der psychischen Befindlichkeit der Menschen bestimmt wird (Rothkegel 2011, 2017). Diesem neuen Konzept von „Trauma als Prozess“ liegt insofern ein völlig anderes Verstehen von Trauma zugrunde, als nun nicht mehr ein e­inzelnes

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traumatisches Ereignis, sondern eine Abfolge von Ereignissen in den Blick genommen wird. Hans Keilson konnte nachweisen, dass für die langfristige „psychische Gesundheit“ der Waisen nicht unbedingt der Schweregrad der ersten beiden traumatischen Phasen entscheidend war, sondern der Verlauf ihres Lebens unmittelbar danach und später. Diese Erkenntnisse sind von enormer Bedeutung sowohl für die individuelle Therapie als auch für die Reflexion kollektiver Prozesse. Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung ist vor allem deshalb revolutionär, weil es hier – wie dargestellt – nicht nur um die Aufarbeitung vergangener Verbrechen geht, sondern auch um die „fortgesetzte Relevanz der sozialen Umwelt, auch viele Jahre später noch“ (Kühner 2002, S. 27; Abb. 1).

2 Auf der Flucht Betrachten wir zunächst die Sequenz der Flucht. Nach Schätzungen des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich zum Jahresende 2017 auf der ganzen Welt 68,5 Mio. Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Im Vergleich dazu waren es zehn Jahre zuvor 37,5 Mio. Menschen (UNO-Flüchtlingshilfe 2018). Auch die Anzahl der Binnenflüchtlinge, die bei Hilfseinrichtungen Schutz und Unterstützung suchen, ist zwischen 1999 und 2015 beinahe um das Vierfache angestiegen. Etwa 34 Mio. Menschen in über 50 Staaten mussten 2015 innerhalb ihres Ursprungslandes fliehen. Sie bilden den größten Anteil unter den Vertriebenen weltweit und sind meist die ärmsten und schwächsten Beteiligten an einem Konflikt. Die Hilfsorganisation Terre des Hommes schätzt, dass es sich bei 70 % der Binnenflüchtlinge um Frauen und Kinder handelt (Neumayer 2017). Auf ihren langen und beschwerlichen Wegen in Gebiete, von denen sie sich mehr Sicherheit versprechen, sind sie weiteren Gefahren ausgesetzt. Flüchtlingstrecks werden oft von bewaffneten Gruppen verfolgt und ausgeplündert, Frauen und Mädchen müssen Vergewaltigungen fürchten, männliche und weibliche Kinder und Jugendliche sind der Gefahr ausgesetzt, möglicherweise verschleppt und als Kindersoldaten zwangsrekrutiert zu werden. Fast immer fehlt es an Nahrung und hygienischer wie medizinischer Versorgung. Auch wenn das Ziel erreicht ist, bleibt die Lage oft dramatisch. Die meisten Vertriebenen hoffen, möglichst schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können und lassen sich in überfüllten Notunterkünften und Slums nieder, wo sich Krankheiten schnell ausbreiten und die Versorgungslage wieder äußerst mangelhaft ist. Einigen fehlen jegliche berufliche Perspektiven, und um Überleben zu können, sehen sie keinen anderen Ausweg als kriminell zu werden oder sich auf

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Prostitution einzulassen. Im Vergleich zu Flüchtenden, die ihr Land verlassen, haben Binnenflüchtlinge weniger Schutz, Unterstützung und Möglichkeiten, ihre Rechte einzufordern (Rothkegel 2017).

3 Veränderungen von Migrationsprozessen Wie oben erwähnt befinden sich immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht. Jedoch sind die Lasten, die den Transit- oder Ankunftsländern dadurch entstehen, im globalen Vergleich extrem ungleich verteilt. In den beiden letzten Dekaden ist der Anteil der Geflüchteten, die sich in benachbarten sog. Entwicklungsländern niederlassen, von 70 auf 86 % aller Flüchtlinge weltweit angestiegen (UNHCR 2016, S. 18). Fluchtgeschichten dauern immer länger, denn politische Prozesse haben Migrationsprozesse verändert. Die sich am längsten hinziehenden gewalttätigen Konflikte werden in Afrika südlich der Sahara ausgetragen, wie beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo, in Somalia und im Sudan. Hinzu kommen die Libyenkrise mit dem Fall des Diktators Muammar Al-Gaddafi und die politischen Umwälzungen durch die arabische Rebellion 2010–2011. Immer mehr Menschen haben ihre Heimatländer zunächst in Richtung oder auch innerhalb der Region des Maghreb verlassen, während gleichzeitig die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik immer restriktiver gestaltete. Das führte dazu, dass die Zahl der Auswanderer oder Flüchtenden, die in Nordafrika unfreiwillig und auf völlig ungewisse Dauer „feststecken“, kontinuierlich ansteigt, während sich ihre Lebensbedingungen dort zunehmend dramatisch verschlechtern. Unter anderem wird von permanenter rassistisch motivierter Gewalt gegen die aus Ländern südlich der Sahara Geflüchteten berichtet (Bonfiglio 2011; Brachet 2009), wobei es für viele wegen der dort andauernden Bürgerkriege weder die Möglichkeit zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer gibt, noch eine Perspektive besteht, die Migration fortzusetzen. Wir hören immer mehr Fluchtgeschichten aus dieser Region, die fragmentarisch verlaufen sind: Geflüchtete, die zunächst im Herkunftsland Unterschlupf fanden, dann aber doch das Land verlassen haben und in mehreren Ländern aufgehalten wurden, bevor sie schließlich ihr Zielland Deutschland erreichen konnten. Fragmentarisch kann auch eine Flucht aus dem Bürgerkriegsland Syrien verlaufen, wenn Familien getrennt werden, Flüchtende mitunter auch jahrelang in großen Sammellagern in Nachbarländern wie Libanon und der Türkei unterkommen, bis sie es schaffen, mit oder auch ohne Einreisevisum zu uns zu kommen. Für viele Kinder und Jugendliche bedeutet dies, dass sie oft jahrelang mangelhaften oder überhaupt keinen Schulunterricht bekommen und auch in

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keine sonstige Struktur eingebettet sind. Je länger sich eine Flucht hinzieht, umso größer ist das Potenzial einer Traumatisierung.

4 Herausforderungen im Ankunftsland Deutschland In der Ankunftszeit der Geflüchteten stehen Themen wie Unterkunft, Klärung der rechtlichen Situation, Gesundheitsversorgung, Stabilisierung durch Existenzsicherheit, eventuell Familienzusammenführung und Integration im Vordergrund. Die Ankommenden werden zunächst in Sammellagern untergebracht. Auch hier spielt wieder eine Rolle, wie lange sie fremdverwaltet ohne privaten Raum und Rückzugsmöglichkeiten leben müssen. Leben zu viele Menschen auf zu engem Raum mit hohem Lärmpegel kann es leicht zu Konflikten, Auseinandersetzungen und genderspezifischer Gewalt kommen. Asylverfahren und somit die Klärung der rechtlichen Situation ziehen sich oft über einen längeren Zeitraum hin. Dies verstärkt nicht nur möglicherweise vorhandene traumabedingte Symptome wie Übererregung und Angstzustände, sondern wirkt sich immer auf das allgemeine psychische wie auch somatische Befinden aus. Menschen, deren Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist, erhalten nur eingeschränkte Hilfe im Krankheitsfall. Innerhalb einer unsicheren Existenz ist es fast unmöglich, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Dies gilt auf der psychischen wie auch rein praktischen Ebene, denn Bewerber*innen mit beschränkter Aufenthaltsdauer, wie z. B. bei einer Duldung, bleiben bestimmte Ausbildungsgänge verwehrt. Ebenso werden sie auf ausgeschriebene Stellen oft nicht eingestellt, obwohl sie möglicherweise für deren Besetzung bestens geeignet wären und gleichzeitig alles dafür gäben, um dem deutschen Staat nicht mehr „zur Last zu fallen“ und ein eigenständiges Leben führen zu können. Für diejenigen, deren Aufenthaltsdauer beschränkt ist, werden auch das Recht auf Freizügigkeit, Bewegungsfreiheit und der im Grundgesetz verankerte Schutz der Familie eingeschränkt. In Deutschland waren rund 28.500 unbegleitete minderjährige Jugendliche am 5. Januar 2018 in Betreuungs- und Jugendhilfemaßnahmen registriert (Mediendienst Integration 2018 und eigene Berechnungen), die wie alle anderen Geflüchteten eine heterogene Gruppe darstellen. Für ihre weitere Entwicklung sind verschiedene Fragen wichtig, etwa, ob sie Angehörige auf dem Fluchtweg verloren haben oder allein mit Aufträgen ihrer Eltern gekommen sind. Entweder haben sie dafür zu sorgen, dass die Familie schnell nachreisen kann oder baldmöglichst Geld zu schicken oder zügig eine akademische Ausbildung mit Erfolg zu beenden. Für adäquate pädagogische ­Konzepte sind nicht nur F ­ ragen nach

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ihrem Bildungsstand wichtig, sondern ­müssen auch die Belastungen ­derjenigen einbezogen werden, denen kumulativ Traumata widerfahren sind, die große ­ menschliche Verluste zu beklagen haben oder heftig unter Druck gesetzt werden. Für die Zukunft sind starke Entfremdungsprozesse in den Familien zu befürchten, die über einen längeren Zeitraum getrennt in sehr unterschiedlichen Kontexten leben müssen, was eine erneute große Belastung für die Betroffenen darstellt. Alle Maßnahmen und Interventionen zur Integration von Geflüchteten betreffen nicht nur die direkt Betroffenen, sondern die Gesamtbevölkerung. Im Zentrum steht dabei die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Partizipation an sozialen Prozessen. Artikel 1 unseres Grundgesetzes garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Bei allen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Würde“ geht es immer auch um die Gegenseite, nämlich die Entwürdigung, Demütigung und Beschämung. Wir sind aufgerufen, uns damit zu befassen und genau hinzusehen, wo und wie oft Geflüchtete bei uns diskriminiert, gedemütigt und beschämt werden und gegebenenfalls dagegen Stellung zu beziehen. Spannungen und Konflikte sowie fehlende Akzeptanz in der sogenannten Aufnahmegesellschaft können zu einer sequenziellen Traumatisierung führen, anhaltende Gefühle von Unsicherheit und Wertlosigkeit hervorrufen und den Wiederaufbau einer stabilen und selbstbewussten Identität erschweren. Widerfahrnisse von gravierender Gewalt können ein breites Spektrum an psychischen, somatischen und sozialen Belastungsfolgen hervorrufen. Dies wird durch spezifische Postmigrationsstressoren verstärkt. Zunächst tauchen ganz allgemein die Probleme eines kulturfremden Lebens in einem unbekannten Land auf, d. h. Verlust von Vertrautem, Sprache, Unsicherheit. Geflüchtete können zusätzlich unter Zuständen von Entfremdung und Akkulturationsstress leiden (Grinberg und Grinberg 1984). Untersuchungen haben gezeigt, dass sich körperliche und psychische Erkrankungen bei Migrantinnen und Migranten besonders dann zeigen, wenn sie gleichzeitig mit Benachteiligung in unterschiedlichen Lebensbereichen verbunden sind. Die Altersgruppe der neunzehn- bis vierundzwanzigjährigen Geflüchteten bildet den höchsten Anteil der Geflüchteten. Wir müssen die Herausforderung annehmen, auch für sie adäquate Bildungsangebote zu schaffen. Allgemein gilt, dass für Pädagog*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen auch entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten und Supervision zur Verfügung gestellt werden müssen. Neben medizinischen oder psychotherapeutischen Behandlungen ist es ebenso wichtig, psychosoziale Interventionen zu entwickeln, die die Integration von Menschen mit Fluchtgeschichten in unsere Gesellschaft fördern. Wir können davon ausgehen, dass das Gefühl der Zugehörigkeit Heilungsprozesse fördert.

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5 Generationenkontext Themen wie Migration und Trauma müssen auch im Generationenkontext betrachtet werden. Konflikte und die damit verbundenen Affekte der Eltern oder auch Großeltern, die in ihrer Generation nicht ausreichend verarbeitet werden konnten, werden an die nachfolgende Generation weitergegeben (Rothkegel 2011). Manchen Flüchtenden gelingt es, mit ihrer gesamten Familie zu kommen. Dies kann emotionale und soziale Unterstützung bedeuten, aber auch zu einer großen Belastung werden. Die Situation und die emotionale Befindlichkeit der Kinder werden in den Familien häufig ausgeblendet, möglicherweise auch, weil die Eltern sehr mit ihren eigenen psychischen und sonstigen Belastungen beschäftigt sind. Die Kinder gehen bestenfalls zur Kita oder in die Schule, lernen schneller die deutsche Sprache und finden sich leichter in der neuen Gesellschaft zurecht. Oft müssen sie dann Dolmetscherdienste für die Eltern übernehmen, was zu einer Rollendiffusion in der jeweiligen Familie führen kann. Manche Eltern befürchten, ihre Kinder würden ihnen durch die Vermittlung anderer Werte und meist sehr unterschiedliche pädagogische Konzepte entfremdet. Was bedeutet das für den pädagogischen Bereich? Was brauchen Kinder und ihre Familien mit Fluchtgeschichten? Welche Kompetenzen sind im beruflichen Kontext gefragt? Das sind zum einen Basiskenntnisse über Fluchtgeschichten und ihre möglichen Traumafolgen, um Reaktionen der Kinder, Jugendlichen und ggf. ihrer Familien richtig einschätzen und einen „sicheren Ort“ schaffen zu können, an dem sie sich aufgehoben und respektiert fühlen. Zum anderen braucht es auch Handlungskompetenz im interkulturellen Kontext. Hier geht es mehr um gegenseitige Wertschätzung als um Toleranz. Integration kann nur gelingen, wenn im pädagogischen bzw. schulischen Rahmen auch die Eltern einbezogen werden. Auch für eine gesunde Entwicklung der Kinder ist es wichtig zu erleben, dass ihre Eltern respektiert werden. Wir müssen dabei bewusst mit Hierarchien und Machtgefällen umgehen, die sich allein schon um die Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder eben einer Minderheitsgesellschaft bilden und uns mit unseren oder auch gegenseitigen Vorurteilen bewusst auseinandersetzen. Solidarität und Abwehr, das sind zwei Seiten des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses zur Situation Geflüchteter in Deutschland. Auf der einen Seite stehen strukturelle Diskriminierung, Asylrechtsverschärfungen, rassistische Angriffe und das Erstarken von ausländerfeindlichen Parteien. Auf der anderen Seite finden wir Solidarität, viel kreatives, unermüdliches ehrenamtliches Engagement, Wahrnehmen und Erkennen der Bereicherung durch Vielfalt und auch die deutlich wachsende Selbstorganisation geflüchteter Menschen. Geflüchtete ­brauchen ein klares Signal, dass sie dort, wo sie ankommen, willkommen sind.

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Nur so können sie langsam mögliche Traumata überwinden. Dieses Signal ist am deutlichsten in allen realen Möglichkeiten zu ihrer Integration und Partizipation am gesellschaftlichen Leben in Deutschland erkennbar. Die Erschütterung über Themen wie Flucht und Vertreibung führt meist zu einer Zentrierung auf schreckliche und defizitäre Aspekte traumatischer Belastungen. Häufig übersehen wir dabei, dass traumatisierte Menschen mit ihrem Leben weiterhin zurechtkommen müssen und dies vielen unter großen Anstrengungen auch gelingt. Wir brauchen daher einen Perspektivenwechsel: weg von der Zentrierung auf die Pathologie und hin zur Zentrierung auf die vorhandenen Ressourcen, Wertschätzung und Achtung (Rothkegel 2017). Die Überlebenskraft und -kreativität der Geflüchteten können erstaunlich konstruktive Kräfte entfalten, wenn sie angemessen unterstützt werden. Keilson weist uns mit seinem Konzept auf unsere Verantwortung hin: Wenn wir alle am traumatischen Prozess beteiligt sind, können wir auch helfen, ihn weniger zerstörerisch zu gestalten (Gahleitner 2012).

Erste traumatische Sequenz: Vom Beginn der Verfolgung bis zur Flucht

Zweite traumatische Sequenz: Auf der Flucht Dritte traumatische Sequenz: Übergang I – Die Anfangszeit am Ankunftsort

Vierte traumatische Sequenz: Die Chronifizierung der Vorläufigkeit Fünfte traumatische Sequenz: Übergang II – Die Rückkehr

Sechste traumatische Sequenz: Nach der Verfolgung Aus Flüchtlingen werden Aus Flüchtlingen Sibylle Rothkegel, FU BerlinMigranten/innen werden Rückkehrer/innen. Büro für psychosoziale Prozesse

Abb. 1   Die sequenzielle Traumatisierung von Flüchtlingen. (Quelle: Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung übertragen von Becker und Weyermann 2006 auf die Sequenzen potenzieller Traumatisierung von Flüchtlingen in Rothkegel 2017, S. 74.)

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Wann und warum können Fluchtgeschichten traumatisierend wirken?

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Sibylle Rothkegel ist Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin in freier Praxis in Berlin. Sie arbeitet außerdem als Dozentin und führt Evaluationen und konzeptionelle Beratung für psychosoziale Konzepte im In- und Ausland durch, u. a. für den UNHCR. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Trauma im interkulturellen Kontext; freiwillige und erzwungene Migration; Entwicklungszusammenarbeit und psychosoziale Prozessbegleitung für Betroffene von Gewalt. Wissenschaftlich war sie tätig an der Internationalen Akademie für Innovative Psychologie, Pädagogik und Ökonomie (INA) Berlin zum Thema „Einwanderungsgesellschaft“ und am Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen im privaten und institutionellen Kontext.

Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften Dorothee Frings

Zusammenfassung

Der Schutz von Flüchtlingsfrauen vor Gewalt im sozialen Nahbereich ist in Deutschland unzureichend gesetzlich geregelt und steht im Widerspruch zu europäischem und internationalem Recht. Obwohl das Gewaltschutzgesetz formal für alle legal in Deutschland lebenden Frauen gilt, kann es seine Wirkung in Flüchtlingsunterkünften nur unzureichend entfalten. Sammelunterkünfte sind zudem Orte, an denen Frauen entmächtigt werden, weil ihnen die Grundvoraussetzungen fehlen, sich selbst zu schützen. Schutzkonzepte für diese Unterkünfte müssen an den Bedarfen von Frauen ansetzen und ihnen die Möglichkeit der Partizipation und des Zusammenkommens bieten. Auch die individuellen Ansprüche auf Schutz vor Gewalt müssen gestärkt werden. Dafür ist es besonders wichtig, den Zugang zu Frauenhäusern gesetzlich abzusichern und die Finanzierung auch dann sicherzustellen, wenn Frauen die Stadt oder auch das Bundesland wechseln müssen. Derzeit finden sich je nach dem Stadium des Verfahrens verschiedene und oft unklare Zuständigkeiten für die erforderlichen Genehmigungen. Die Finanzierung des Lebensunterhalts, der Unterkunft und der sozialen Unterstützung sind nicht ausdrücklich geregelt, es bestehen Lücken in der Absicherung und auch die Sozialgerichte kommen zu unterschiedlichen Zuständigkeits- und Leistungsentscheidungen. Es besteht dringender Handlungsbedarf auf der Ebene der Gesetzgebung.

D. Frings ()  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_6

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Frauen auf der Flucht erleben Gewalt als Fluchtursache, als Fluchterfahrung und in Flüchtlingslagern. Sie fliehen vor Krieg und politischer Verfolgung, aber auch vor sexualisierter Gewalt als Begleiterscheinung von Krieg, Bürgerkrieg, Zwangsrekrutierung und Inhaftierung sowie vor Gewalt, welche sich direkt gegen ihre geschlechtliche oder sexuelle Identität richtet. Auf der Flucht werden sie oft erneut Gewalterfahrungen ausgesetzt, insbesondere allein reisende Frauen sind Vergewaltigungen, sexuellen Übergriffen und Sex als Währung für die Schlepper oder männlichen Schutz (survival sex) ausgesetzt (so etwa Stevens 2017, S. 237). Die Flucht von Frauen gestaltet sich oft als ein längerer sequenzieller Prozess, in der Arbeitsmigration und Fluchtentscheidungen zusammentreffen oder sich ablösen können. So wandern Frauen aus den ärmsten Regionen Afrikas in die reichen arabischen Staaten aus, weil ihnen eine Existenzmöglichkeit als Dienstbotinnen angeboten wird. Die Ausbeutung in den Privathaushalten ist aber oft so gewaltvoll und unerträglich, dass sie aus dieser Situation fliehen. Wenn sie aber nicht zu ihren Familien zurückkehren können, versuchen sie zum Teil, sich nach Europa durchzuschlagen. Andere Frauen fliehen zunächst vor Verfolgung, Krieg oder Gewalt, müssen aber in den verschiedenen Transitstaaten Arbeit oder Unterhalt gegen sexuelle Dienstleistungen suchen, weil sie nicht über das nötige Geld für die Fortsetzung der Flucht verfügen. Angekommen in Deutschland sind viele Frauen schon mit Gewalterfahrungen belastet, die einer medizinischen und psychologischen Behandlung bedürfen. Die beengte und provisorische Unterbringung von asylsuchenden Frauen in Gemeinschaftsunterkünften setzt sie jedoch erneut dem Risiko von sexuellen Belästigungen, Gewalthandlungen oder zumindest Retraumatisierungen durch Ohnmachtserlebnisse aus. Zwar bestehen in Deutschland entwickelte Instrumentarien des Gewaltschutzes, welche allen Frauen und damit auch Flüchtlingsfrauen auf dem gleichen Niveau zugänglich sein sollten, entgegen stehen dem aber bislang zum einen die fehlenden Schutzvorkehrungen in den Flüchtlingsunterkünften und zum anderen die Einschränkungen der Freizügigkeit, die durch das Integrationsgesetz (BGBl. I vom 31.07.2016, S. 1939, in Kraft seit dem 06.08.2016) auf anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte erstreckt wurden.

1 Besondere Lebensbedingungen von Flüchtlingsfrauen Frauen werden während und nach einem Asylverfahren oder auch als Geduldete in Not- und Sammelunterkünften entmächtigenden und entmündigenden Situationen ausgesetzt; es gibt Schlafplätze, die weder vor den Blicken noch vor

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dem Zutritt Fremder geschützt sind, Wasch- und Toilettenräume, die nicht ­abschließbar sind, und ungeschützte Wege zu diesen Räumen (Bekyol und Bendel 2016, S. 21 ff.). Frauen leiden in besonderem Maß unter dem völligen Mangel an geschützter Intimsphäre, weil sie verhüllende Kleidung und Kopftücher nicht ablegen können, Babys außerhalb der Blicke fremder Männer stillen, ihre Regelblutung verstecken müssen und manchmal sogar um die Ausgabe von Binden bitten müssen (siehe Oestreich 2015 und Rabe 2015). Das Problem des Gewaltschutzes beginnt schon im Vorfeld, die fehlende Möglichkeit der Abgrenzung und des Selbstschutzes löst Angst, Schlaflosigkeit und andere psychosomatische Beschwerden aus, und bewirkt eine extreme Abhängigkeit vom Schutz durch die Ehemänner oder andere schutzbereite Männer. Ein wirksamer Gewaltschutz ist auch deshalb so schwierig, weil asylsuchende und geduldete Frauen die Gefahrenorte nicht einfach verlassen können. Es drohen ihnen der Verlust der Unterkunft, Ordnungswidrigkeits- und Strafverfahren und sogar die Einstellung ihres Asylverfahrens und damit die Abschiebung ohne Prüfung ihrer Verfolgungs- und Gefährdungssituation. Auch der Zugang zum Schutz in Frauenhäusern bleibt oft versperrt, wenn die Finanzierung für asylsuchende und geduldete Frauen nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist, oder für Frauen mit einem Schutzstatus an Zuständigkeitsregelungen scheitert.

2 Internationale Standards Der Hohe Flüchtlingskommissar der UN stellt ganz allgemein fest: The breakdown in social and cultural systems, the separation from or loss of family members and community, and the impunity with which perpetrators of crimes against refugees act, render refugees, and particularly refugee women and children, vulnerable to abuse (UNHCR 2003, S. 14).1

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, eingesetzt zur Überwachung der UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen (Convention on the Elimination of All Forms

1„Der

Zusammenbruch sozialer und kultureller Systeme, die Trennung oder der Verlust von Angehörigen und Gemeinschaft, und die Straflosigkeit, mit der Verbrecher gegen Flüchtlinge handeln können, bedeuten, dass Flüchtlinge, und besonders geflüchtete Frauen und Kinder, besonders gefährdet sind, Opfer von Gewalttaten zu werden“, Übersetzung D.F.

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of Discrimination against Women, CEDAW), beschäftigt sich in seiner ­General Recommandation Nr. 32 vom 14.11.2014 mit der genderbezogenen Situation der Flüchtlingsanerkennung, des Asylverfahrens, der Staatsangehörigkeit und der Staatenlosigkeit. Unter Ziffer 48 wird ausdrücklich der Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften eingefordert. Neben einer getrennten Unterbringung von allein reisenden Frauen und geschützten Sanitäranlagen werden auch Überwachungs- und Beschwerdemöglichkeiten in den Einrichtungen und eine Information für die Frauen verlangt, die ihnen ihre Rechte und den praktischen Zugang zu Unterstützung und Schutz aufzeigen (General Recommandation Nr. 32 vom 14.11.2014, CEDAW/GC/32, Ziff. 48). Die „Women Refugee Commission“, eine international seit 1989 agierende NGO, hat 2015 zu Art. 6 der UN-Behindertenrechtskonvention (Frauen mit Behinderung) einen Draft General Comment verfasst (Women’s Refugee Commission 2015), welcher sich u. a. mit der besonderen Situation von physisch, psychisch und geistig behinderten Frauen und Mädchen in Flüchtlingseinrichtungen beschäftigt. Betont wird die Verantwortung der Mitgliedstaaten der Konvention für besondere Schutzmaßnahmen zugunsten behinderter Frauen in Einrichtungen mit einem besonders hohen Gewaltrisiko, unabhängig von der Nationalität oder dem Aufenthaltsstatus einer Person.2 Die Istanbul-Konvention des Europarates3 verpflichtet alle Mitgliedstaaten zu angemessenen Maßnahmen zur Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Anwendung der Konvention erfolgt auf dem Territorium der Mitgliedstaaten ohne jede Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthalts- oder Flüchtlingsstatus (Art. 4 Satz 3). Eine solche Regelung v­ erlangt

2Wörtlich

(herv. im Original): „We suggest highlighting the needs of displaced and refugee women and girls with disabilities […] under the following points: • Paragraph 38 – ‚The built environment and urban design must be planned in accordance with civil safety standards to enable citizens to circulate safely, while ensuring that groups at greater risk of violence and abuse (such as women, boys and girls, older people, refugee, asylum seeker and internally displaced persons with disabilities) feel safe and protected.‘ • Paragraph 39 – ‚All care services and information for women (and especially those related to health, motherhood, violence against women and childcare) must be fully accessible to all women and girls with disabilities, including those who are migrants, asylum seekers refugees or internally displaced.‘“

3Übereinkommen

zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt vom 11.05.2011, in Kraft seit dem 01.08.2014, von Deutschland noch nicht ratifiziert.

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von den Mitgliedstaaten, dass neben den Regelungen und Maßnahmen zum Gewaltschutz selbst auch die aufenthaltsrechtlichen Restriktionen, die leistungsrechtlichen Differenzierungen und die Vorschriften zur Datenweitergabe an die Ordnungsbehörden zu prüfen sind. Wesentliche Hürden beim Zugang zum Schutz sind die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit während und nach dem Asylverfahren. Auch die Finanzierung der Schutzmaßnahmen, insbesondere der Frauenhäuser, entscheidet über den realen Zugang zum Gewaltschutz. Derzeit führen die Ausschluss- und Ausnahmeklauseln (§ 23 Abs. 1–3 SGB XII oder § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–3 SGB II) zu einer Ausgrenzung sowohl von asylsuchenden und geduldeten Frauen als auch von Frauen mit einem gesicherten Schutzstatus.4 Art. 60 Abs. 3 der Konvention verpflichtet die Staaten auch auf ein geschlechtersensibles Aufnahme Asylverfahren.

3 Standards in Gemeinschaftsunterkünften nach EU-Recht 3.1 Allgemeine Vorgaben des EU-Rechts Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS), entwickelt seit der Sondersitzung 1999 in Tampere und gegründet auf Art. 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), schafft einheitliche Standards sowohl in der Bestimmung der Schutzkriterien (Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU) als auch in Durchführung des Anerkennungsverfahrens (Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU) und der Aufnahmebedingungen (Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU). Die Bedingungen der Aufnahme sind dabei uneingeschränkt und umfassend an den Grundsätzen der Europäischen Grundrechtecharta zu messen (Art. 18 GRCh), ebenso auch an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Genfer Flüchtlingskonvention (siehe Art. 78 Abs. 1 Satz 2 AEUV). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt in der Entscheidung vom 27.9.2012 (C-179/11 „Cimade und GISTI“) zur Anwendung der damals noch geltenden Vorgängerrichtlinie fest:

4Dieselbe

Situation wird im GREVIO-Bericht zu Österreich festgestellt (GREVIO 2017, S. 32, Nr. 106).

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D. Frings die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, [stehen] dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags und vor seiner tatsächlichen Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird (Rn. 56).

Verdeutlicht wird durch die Entscheidung, dass eine Differenzierung der Aufnahmestandards nach den Stadien des Asylverfahrens nicht zulässig ist. Auch die Hinnahme von Unterbringungen ohne angemessene Schutzvorkehrungen ist weder in einer Erstaufnahmeeinrichtung, einer kommunalen Sammelunterkunft noch einer kurzfristigen Notunterkunft zulässig: In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Mitgliedstaaten darauf achten müssen, dass die betreffenden Einrichtungen die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern einhalten. Die Vollauslastung der Aufnahmenetze rechtfertigt keinerlei Abweichung von diesen Normen (Rn. 50).

Ebenso wenig kann es eine Differenzierung im Standard der Unterbringung nach der Prognose in Hinblick auf die Schutzgewährung geben. Ferner ergibt sich aus den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2003/9, dass diese nur eine Kategorie von Asylbewerbern vorsieht, die alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Asylantrag stellen. Die Richtlinie enthält keine Bestimmung, die den Schluss zuließe, dass ein Asylantrag nur dann als gestellt betrachtet werden könnte, wenn er bei den Behörden des Mitgliedstaats eingereicht wird, der für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist (Rn 40).

Auf diesen Umstand soll vor allem deshalb hingewiesen werden, weil Frauen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ nach § 29a AsylG5 immer wieder das Recht abgesprochen wird, während des Asylverfahrens die Standards einer menschenwürdigen Unterbringung und eines angemessenen Gewaltschutzes einzufordern (Pelzer und Pichl 2015, S. 337).

5Dies

sind derzeit (9/2018): Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal, Serbien. Geplant sind die Aufnahme von Algerien, Marokko, Tunesien und Georgien.

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3.2 Die Regelungen der Aufnahmerichtlinie 2013/33/ EU zum Gewaltschutz Die erste Aufnahmerichtlinie (2003/9/EG) wurde neu gefasst in der Richtlinie 2013/33/EU und erhält konkretere Anforderungen hinsichtlich des Schutzstandards bei der Unterbringung von Flüchtlingsfrauen. Nachdem die Umsetzungsfrist am 20.07.2015 abgelaufen ist, sind diese Standards als unmittelbar geltendes Recht zu beachten. Die Bundesregierung hatte eine Umsetzung durch wortgleiche Übernahme des Richtlinientextes erstmals im ersten Entwurf zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 14.09.2015 vorgelegt, diese Umsetzung jedoch wenige Tage später im zweiten Entwurf wieder zurückgezogen. Ein zweiter Anlauf findet sich im Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums (BMI) vom 01.11.2015, der jedoch ebenfalls wieder zurückgezogen wurde. Die Europäische Kommission hat zwischenzeitlich ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der fehlenden Umsetzung sowohl der Aufnahme- als auch der Verfahrensrichtlinie eingeleitet (Europäische Kommission 2015). Unmittelbar anwendbar sind nun die Vorgaben der Richtlinie, die in ihrer Ausgestaltung so konkret sind, dass sie von den Behörden und Gerichten ohne weitere gesetzliche Bestimmungen angewendet werden können (EuGH 23.02.1994 – C-236/92; Ruffert 2016, Art. 288 Rn. 54). Die Aufnahmerichtlinie enthält folgende für den Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften relevante Regelungen: • Geschlechts- und altersspezifische Aspekte und die Bedarfe besonders schutzbedürftiger Personen sind zu berücksichtigen (Art. 18 Abs. 3). • In Einrichtungen müssen geeignete personelle bzw. bauliche Maßnahmen implementiert werden, damit es dort zu keinen Übergriffen bzw. geschlechtsbezogener Gewalt (einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigungen) kommt (Art. 18 Abs. 4). • Die Richtlinie verpflichtet zur Einrichtung eines speziellen Verfahrens zur Identifizierung von Personen mit besonderen Bedürfnissen (Art. 21). Zu diesen Personen gehören u. a. Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen, Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien. Die Feststellung hat völlig unabhängig von der inhaltlichen Bewertung des Asylantrags zu erfolgen (Art. 22 Abs. 4).

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3.3 Die Konsequenzen für die Gestaltung der Unterbringung von geflüchteten Frauen Aus diesen Vorgaben folgen zunächst zwingende Kriterien bei der Errichtung von Sammelunterkünften und für den Umbau und die Sanierung von bestehenden Unterkünften. Grundsätzlich muss allen geflüchteten Frauen eine Unterbringung getrennt von Männern angeboten werden können. Nicht nur die Schlafräume müssen in separaten Gebäudeteilen untergebracht werden, sondern auch Sanitäreinrichtungen, Küchen und Gemeinschaftsräume ohne gemeinsame Zugänge erreichbar sein. In aller Regel sollten die Unterkünfte für Frauen und Männer an verschiedenen Standorten geplant werden. Wo aber in kleineren Kommunen schon gemeinsame Einrichtungen bestehen, muss zumindest ein begegnungsfreier Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen gewährleistet sein. Zusätzlich gehören verschließbare Sanitäranlagen zum selbstverständlichen Minimum an Privat- und Intimschutz. Auch weiteren besonderen Bedarfen von besonders schutzbedürftigen Frauen ist durch die bauliche Gestaltung zu entsprechen. Die Bewegungsmöglichkeiten für behinderte, schwangere, ältere Frauen sowie alleinstehende Mütter mit Kleinkindern bieten indirekt auch mehr Schutz vor Gewalt und Übergriffen. Deshalb ist auch die Barrierefreiheit von Flüchtlingsunterkünften immer mitzudenken. Auch die Unterbringung in Einzelzimmern für traumatisierte Frauen, Mütter, Schwangere, behinderte und kranke sowie ältere Frauen verbessert die Möglichkeiten, sich selbst zu schützen, erheblich. Jede Einrichtung benötigt Frauenräume als Treffpunkte; sie bieten Möglichkeiten des gegenseitigen Austauschs, der Hilfe und der Ermutigung in der Abwehr sowohl familiärer Gewalt als auch gegenüber Übergriffen unbeteiligter Männer. Angeboten werden sollten auch stationäre Jugendhilfeeinrichtungen speziell für unbegleitete Mädchen. Zum Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünfte gehört auch die Ausstattung mit ausreichend Personal, welches speziell qualifiziert ist. Die Aufnahmerichtlinie fordert dazu allgemein, dass die Mitarbeiter*innen im Bereich der Flüchtlingsaufnahme „die nötige Grundausbildung erhalten haben, um den Bedürfnissen männlicher und weiblicher Antragsteller gerecht werden zu können“ (Art. 29 Abs. 1). Auch für das in Unterbringungseinrichtungen eingesetzte Personal wird eine angemessene Schulung verlangt (Art. 18 Abs. 7). Spezifisch für die Betreuung von gewaltbetroffenen Personen heißt es weiter in Art. 25 Abs. 2 Aufenthaltsrichtlinie: Das Betreuungspersonal für Opfer von Folter, Vergewaltigung und anderen schweren Gewalttaten muss im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer adäquat ausgebildet

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sein und sich angemessen fortbilden; es unterliegt in Bezug auf die Informationen, die es durch seine Arbeit erhält, der Schweigepflicht, wie sie im einzelstaatlichen Recht definiert ist.

Weiter wird die Inanspruchnahme einer kostenlosen Rechtsvertretung bei der Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen im Zusammenhang mit den Aufnahmebedingungen, d. h. auch dem effektiven Gewaltschutz, in Art. 26 vorgeschrieben. Die Möglichkeiten der Beratungs- und Prozesskostenhilfe dürften diesen Ansprüchen grundsätzlich Rechnung tragen, müssen aber zum einen ausreichend bekannt gemacht werden, und zum anderen muss die konkrete Bewilligungspraxis der Gerichte auf die Übereinstimmung mit Art. 26 Aufnahmerichtlinie überprüft werden. Hilfreich ist die klare Positionierung des BVerfG (Beschluss vom 29.8.2017 – 2 BvR 351/17 u. a.), welche zu einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe verpflichtet, wenn es sich um eine schwierige, obergerichtlich nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage handelt. Als weitere Konsequenz muss der Informations- und Beratungsbedarf von Flüchtlingsfrauen sorgfältig ausgelotet werden. Merkblätter über die Rechtsansprüche und Anschriften von Frauenorganisationen sind vielleicht geeignet, den Beratungsanspruch nach Art. 5 Aufnahmerichtlinie formal zu erfüllen, sie bleiben jedoch weitgehend wirkungslos. Flüchtlinge werden bereits im Verfahren mit einer Unmenge von Formularen und Merkblättern überhäuft. So lässt sich kaum noch unterscheiden, welche Information für welche Situation bedeutend ist. Hinzu kommen die Probleme des nicht erkannten Analphabetismus oder zumindest der fehlenden Lesegewohnheiten, die bei Frauen aus einigen Herkunftsregionen stärker ausgeprägt sind als bei Männern, weil ihnen nur wenige Jahre des Schulbesuchs zugestanden werden. Helfen können Informationsveranstaltungen, am besten unmittelbar im Zusammenhang mit niederschwellig zugänglichen Treffpunkten für Frauen. Die Informationsangebote sollten dabei offen für alle, aber freiwillig und in überschaubaren Gruppen nach Sprachen getrennt erfolgen. Um die Frauen wirklich zu erreichen und ihr Vertrauen zu gewinnen, müssten Frauen aus den jeweiligen Herkunftsländern bzw. -regionen und Vertreter*innen der jeweiligen Religionsgruppe einbezogen werden. Auch wird es darauf ankommen, verschiedenen Stufen von Unterstützungsangeboten zu entwickeln; zunächst eine reine Beratung, u. a. die anonyme Telefonberatung6, dann Unterstützungen für die Frauen und

6Diese

wird durch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bereits in 17 Sprachen angeboten. https://www.hilfetelefon.de.

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Kinder vor Ort, auf einer weiteren Stufe Mediationen und Ansprachen der Täter, und als eingreifende Maßnahme die Beendigung der Bedrohungssituation durch Wegverweisung der Täter, Verlassen der Einrichtung und Unterbringung in einem Frauenhaus oder einer geschützten Einrichtung. Die Frau entscheidet selbst und jeweils aktuell, welche Stufe der Maßnahmen sie wählt, es sei denn das Wohl betroffener Kinder ist unmittelbar gefährdet. Die gesetzlich verpflichtende Einrichtung von Beschwerdestellen in jeder Einrichtung für alle Formen der Diskriminierung einschließlich sexueller und sonstiger Belästigung ist wesentliches Element eines Schutzkonzepts. Ein effektiver Gewaltschutz setzt immer auch die Einbeziehung der Bewohner*innen bei der Entwicklung konkreter Schutzkonzepte voraus. Die Aufnahmerichtlinie enthält hierzu in Art. 18 Abs. 8 die Option, in den Unterbringungseinrichtungen einen Beirat oder eine Abordnung der Bewohner*innen einzurichten. Eine derartige Interessenvertretung und Beteiligung an den organisatorischen Abläufen bietet eine wichtige Möglichkeit der Partizipation, aber auch der Stärkung der Handlungskompetenzen von geflüchteten Frauen. Bei Familienunterkünften oder Unterkünften für beide Geschlechter setzt dies voraus, dass die Beteiligung der Frauen nicht zufällig erfolgt, sondern paritätisch. Ein solcher Beirat könnte auch in das erforderliche Beschwerdemanagement eingebunden werden.

4 Individueller Schutz in Gewaltsituationen Für den Gewaltschutz im sozialen Nahraum bildet das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene „Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“ (vom 11.12.2001, BGBl. I, S. 3513) einen Meilenstein. Es bildet das Kernelement eines Gewaltschutzsystems, welches durch Regelungen in den Polizeigesetzen der Bundesländer ergänzt wird, die sowohl ein Wegverweisen aus der Wohnung als auch ein polizeiliches Näherungsverbot ermöglichen. Weitere wichtige Elemente dieses Systems sind die Finanzierung von Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt, die Einrichtung eines bundesweiten Nottelefons und der lokalen Netzwerke zwischen Frauenhäusern, Beratungsstellen, Polizei und Sozialbehörden. Dieses System des Gewaltschutzes ist jedoch auf Frauen ausgerichtet, die in abgeschlossenen Wohneinheiten leben und die rechtlich über die Möglichkeit verfügen, über den Ort ihres Aufenthalts selbst zu entscheiden. Für Frauen in Flüchtlingsunterkünften ohne geschlossene Wohneinheiten ergeben sich erhebliche Hürden beim Zugang zum Gewaltschutz durch Polizei, Schutzeinrichtungen und Zivilgerichte.

Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften

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4.1 Das polizeiliche Eingreifen In Situationen akuter Gewalt gegen Frauen tragen die Betreiber*innen einer Einrichtung und auch die Sozialarbeiter*innen die Verantwortung für die Anforderung der Polizei schon aus dem Gesichtspunkt der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Eine Zustimmung der betroffenen Frau ist für die Verständigung der Polizei zwar nicht erforderlich, weil es um die Verfolgung eines Offizialdeliktes geht, also um eine strafbare Handlung, welche von Amts wegen verfolgt werden muss. Für die Sozialarbeiter*innen ist aber bei jedem Handeln gegen den Willen der Frau das Verbot des Geheimnisverrats (§ 203 StGB) zu beachten, welches nur durchbrochen werden darf, wenn eine Gefahr für Leib und Leben nicht anders abgewendet werden kann. Die Polizeigesetze aller Bundesländer enthalten spezifische Eingriffsgrundlagen für den Einsatz bei häuslicher Gewalt. Allgemein kann die Polizei eine gewalttätige Person durch einen Platzverweis von einem Ort entfernen. Die spezielle Eingriffsermächtigung bei häuslicher Gewalt ermöglicht und verlangt darüber hinaus ein Rückkehrverbot für zehn Tage, die Überwachung dieses Verbots und die Verlängerungsmöglichkeit bis zu 20 Tagen, wenn ein zivilrechtliches Verfahren eingeleitet wurde. Verfügen Flüchtlingsfrauen über eine eigene Wohneinheit, so lassen sich die polizeilichen Ermächtigungsgrundlagen für die Wegverweisung aus der Wohnung weitgehend anwenden. Für die polizeiliche Bewertung kommt es auf die ordnungsrechtliche Perspektive an, nicht auf die zivilrechtliche Unterscheidung zwischen einem Miet- und einem Nutzungsverhältnis. Die Verlängerung auf 20 Tage ist jedoch nicht möglich, da eine zivilrechtliche Wohnungszuweisung mangels Besitzansprüchen an der Unterkunft nicht erfolgen kann (Reinken 2017, § 2 GewSchG Rn. 13). In Notunterkünften ohne eigene Privatsphäre können die Wegverweisung und das Rückkehrverbot nicht effektiv umgesetzt werden. Die Polizei trägt also eine erhöhte Verantwortung für die Entfernung des Täters und die Verhinderung der Rückkehr. Möglich ist das nur, wenn dem Täter ein neuer Aufenthaltsort zugewiesen bzw. er bis zur Zuweisung in Gewahrsam genommen wird (z. B. § 34 PolG NRW). In vielen Fällen reicht die Wegverweisung allein nicht, weil dadurch für die Frauen keine Möglichkeit der Eigensicherung geschaffen wird und sie sich allein in einer Sammelunterkunft ohne den Ehemann noch schutzloser fühlen als zuvor. Vordringlich ist deshalb die Unterbringung der Frau an einem zumindest relativ sicheren Ort. Angesichts der stets latent weiterbestehenden Bedrohungssituation

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ist ein Raum mit einer Möglichkeit zur Eigensicherung unverzichtbar. Zusätzlich erfordert die erlittene Gewalt, die Bearbeitung und der Schutz vor Traumatisierungen ein geeignetes Unterstützungsangebot. Deshalb muss bereits der Einsatz der Polizei darauf gerichtet sein, die Frau entweder an einem sicheren Ort zurückzulassen oder ihr einen solchen zu beschaffen. Entscheidungen dürfen in dieser Frage immer nur unter Beteiligung der Betroffenen und mit deren Zustimmung getroffen werden.

4.2 Die zivilrechtlichen Regelungen des Gewaltschutzes Erst wenn Flüchtlingsfrauen eine reguläre Wohnung mit ihrer Familie oder ihrem Partner bewohnen, können die Regelungen zur Wohnungszuweisung7 nach § 1361b BGB (Verheiratete), § 14 LPartG (eingetragene Lebenspartnerschaft) oder § 2 GewSchG (sonstige Formen des Zusammenlebens) angewendet werden, weil sie zwingend eine Wohnung, d. h. einen abgegrenzten Raum, zur Zuweisung voraussetzen. In Sammelunterkünften, deren Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Nutzung zur Verfügung stehen, besteht keine Rechtsposition des Gewalttäters an dem Wohnraum, mit der Wegverweisung geht auch das Aufenthaltsrecht in der Einrichtung verloren (Reinken 2017, § 2 GewSchG, Rn. 13). Eine Wohnungszuweisung nach dem Gewaltschutzgesetz kommt daher nicht in Betracht. Es bleibt zivilrechtlich die Möglichkeit, eines Näherungsverbots für den Gewalttäter nach § 1 GewSchG. Dieses Verbot muss zur Umsetzung verbunden werden mit der Zuweisung einer anderen Unterbringung an den Täter. Verbleibt der Täter in räumlicher Nähe zum Opfer, so kann ein solches Näherungs- und Kontaktverbot zwar einen flankierenden Charakter haben, ersetzt aber nicht weitergehenden Maßnahmen des Gewaltschutzes, die der Gewalt-Betroffenen einen sicheren Ort und angemessene Unterstützung bieten. Nur unter Beteiligung der Betroffenen darf die Entscheidung über den Aufenthalts- bzw. Wohnort in einem Frauenhaus, erforderlichenfalls in einer anderen Stadt oder auch einem anderen Bundesland, bei Verwandten oder Freund*innen oder in einer anderen geeigneten Flüchtlingsunterkunft getroffen werden.

7Es

handelt sich um die zivilgerichtliche Verpflichtung des Gewalttäters, eine gemeinsam genutzte Wohnung der anderen Person zur alleinigen Nutzung zu überlassen. Die Zuweisung der Wohnung setzt voraus, dass ein Besitzrecht, also entweder ein Mietvertrag oder ein Eigentumsrecht an dem Wohnraum besteht.

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5 Zuweisungen und räumliche Beschränkungen Die größten Schwierigkeiten beim Gewaltschutz für Flüchtlingsfrauen in Deutschland liegen in den Regelungen der räumlichen Beschränkung des Aufenthalts und der Leistungsansprüche nach AsylbLG, SGB II und SGB XII außerhalb des Ortes der Zuweisung.

5.1 Residenzpflicht Zu Beginn des Asylverfahrens8 entsteht die Verpflichtung, sich ausschließlich auf dem Gebiet der zuständigen Ausländerbehörde aufzuhalten (Residenzpflicht, § 56 Abs. 1 AsylG). Müssen gewaltbetroffene Frauen in dieser Zeit die Unterkunft zu ihrem eigenen Schutz verlassen, so benötigen sie die Genehmigung des BAMF (§ 57 Abs. 1 AsylG). Alternativ können sie auch die Aufhebung der Verpflichtung, in einer Landesaufnahmeeinrichtung zu leben, bei der Landesstelle für Verteilung beantragen (§ 48 Nr. 1 AsylG). Welcher Weg gewählt wird, hängt schlicht davon ab, welche Behörde bereit ist, schneller zu entscheiden. Die Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung und die Zuweisung zu der Kommune, in der das Frauenhaus liegt, bringt eine längerfristige Rechtssicherheit. Die Anträge können parallel gestellt werden. In den meisten Fällen wird es nicht möglich sein, die Entscheidung abzuwarten. Verlässt die Frau dennoch den zugewiesenen Bezirk, so stellt dies zwar eine Ordnungswidrigkeit (im Wiederholungsfall sogar eine Straftat) dar (§§ 86, 85 Nr. 2 AsylG), allerdings wird der Gesetzesverstoß gerechtfertigt durch den Schutz von Leib und Leben, d. h. es liegt eine klassische Notwehrhandlung vor. Bis zur Entscheidung entsteht das Problem der Sicherung des Lebensunterhalts und vor allem der Übernahme der Unterkunftskosten. Verpflichtet ist nach § 10a Abs. 1 AsylbLG das für die Aufnahmeeinrichtung zuständige Sozialamt. Dieses kann die Übernahme der Kosten des Frauenhauses

8Beginnend

mit der Aufnahme in einer Landesaufnahmeeinrichtung und der Ausstellung des Ankunftsnachweises entsteht die Residenzpflicht; sie dauert an bis zur Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung, mindestens jedoch drei Monate. Die Verpflichtung, in der Aufnahmeeinrichtung zu leben, kann bis zu sechs Monate aufrechterhalten werden (§ 47 Abs. 1 AsylG), durch eine Regelung im Landesrecht auch bis zu 24 Monate (§ 47 Abs. 1b AsylG) und für Menschen aus „sicheren Herkunftsstaaten“ zeitlich unbegrenzt (§ 47 Abs. 1a AsylG).

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oder einer anderen sicheren Unterkunft zusichern. Eine Verpflichtung dazu besteht, wenn die Unterbringung zum Schutz für Leib und Leben zwingend geboten ist, weil der Grundrechtsschutz nach Art. 2 Abs. 2 GG das Ermessen auf Null r­ eduziert. Zusätzlich besteht jedoch für die Kommune des tatsächlichen Aufenthalts eine Notzuständigkeit, die eine Leistungspflicht auslöst, wenn das zuständige Sozialamt die Leistungen nicht zeitnah erbringt. Leistungen an einem anderen Ort als dem der Zuweisung sind zwar nach § 11 Abs. 2 AsylbLG im Regelfall auf die Rückreisekosten begrenzt, der Wohnortwechsel zum Schutz vor Gewalt ist aber gerade ein Ausnahmefall. Dennoch muss jede gewaltbetroffene Frau zunächst gegenüber dem Sozialamt darlegen, dass sie sich in einer Ausnahmesituation befindet, die ein Abweichen von der Regel nicht nur ermöglicht, sondern sogar erzwingt (LSG Nordrhein-Westfalen v. 02.04.2012 – L 20 AY 24/12 B ER, L 20 AY 25/12 B; Groth 2017, SGB XII, § 11 AsylbLG Rn. 36.1). Die aushelfende Kommune am Ort des tatsächlichen Aufenthalts kann sich die entstandenen Kosten von der Kommune der Zuweisung zurückholen (§ 102 Abs. 1 SGB X). Die Kosten des Frauenhauses umfassen jedoch zusätzlich – in einigen Bundesländern auch einschließlich der Unterkunftskosten – die sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung, einzuordnen entweder als Leistung zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach §§ 67 ff. SGB XII oder als Eingliederungsleistung nach SGB II (SG Kassel, Urteil vom 13.10.2014 – S 3 AS 762/11). Frauen im Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG sind sowohl von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen (§ 23 Abs. 2 SGB XII) als auch nach SGB II (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II). Möglich ist allerdings eine Kostenübernahme als Ermessensleistungen nach § 6 AsylbLG, weil sie zur „Sicherung … der Gesundheit unerlässlich“ ist. Seit die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU in Deutschland unmittelbare Wirksamkeit entfaltet9, kann § 6 AsylbLG nur noch unter Einbeziehung der Vorgaben der Richtlinie angewendet werden. Für die Situation von Frauen, die in Flüchtlingseinrichtungen Gewalt ausgesetzt wurden, ist Art. 25 der Richtlinie einschlägig. Danach erhalten von Gewalt betroffene Frauen eine Behandlung, die in Bezug auf den erlittenen Schaden angemessen ist. Die Regelung stellt nicht auf die Frage ab, ob die Gewalt vor, während oder nach der Flucht erlitten wurde, sondern ausschließlich auf die Betroffenheit als solche.

9Die Umsetzungsfrist ist wie oben beschrieben nach Art. 31 Abs. 1 Richtlinie 2013/33/EU am 20.07.2015 abgelaufen.

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Für die Frauenhäuser bedeutet dies allerdings oftmals, dass sie nach der ­ ufnahme einer Flüchtlingsfrau die Kostenübernahme erst in einer AuseinanderA setzung mit den Behörden oder auch vor Gericht durchsetzen müssen.

5.2 Wohnsitzauflage während des weiteren Asylverfahrens Nach der Zuweisung zu einer Kommune und Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung, frühestens jedoch ab dem 4. Monat entfällt die Residenzpflicht und wird durch eine Wohnsitzauflage10 ersetzt. Bis zum Ablauf des 15. Monats bleibt es bei den Leistungen nach § 3 AsylbLG. Für die Kostenübernahme bei Aufnahme in einem Frauenhaus außerhalb der Wohnsitzverpflichtung wird das Problem dadurch verschärft, dass es keine Möglichkeit gibt, eine Genehmigung zum Verlassen des Zuweisungsortes einzuholen, weil die Wohnsitzauflage die tatsächliche Bewegungsfreiheit nicht mehr einschränkt. Möglich bleibt nur ein Umverteilungsantrag nach § 50 (landesintern) oder § 51 (landesübergreifend) AsylG. Bis zu einer entsprechenden Verfügung müssen der Lebensunterhalt und die Unterkunftskosten von dem Sozialamt der bisherigen Zuweisungs-Kommune sichergestellt werden. Auch hier besteht ergänzend die Eilzuständigkeit nach § 11 Abs. 2 AsylbLG des für den Ort des Frauenhauses oder der sonstigen Unterkunft zuständigen Sozialamtes. Hinsichtlich der Betreuungskosten nach §§ 67 ff. SGB XII entsteht ab dem 16. Monat eine veränderte Rechtsgrundlage. Die Leistungen werden nunmehr abweichend von der Regelung in § 6 AsylbLG analog zum SGB XII erbracht (§ 2 AsylbLG). Ein Rechtsanspruch auf Unterstützung besteht aber nicht. Die Leistungen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten dürfen nur nach Ermessen erbracht werden, „soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist“ und solange kein auf Dauer ausgelegter Aufenthaltstitel erteilt wurde. Die Betroffenen und mit ihnen die Frauenhäuser bleiben also weiter in der Pflicht, im Einzelnen darzulegen, welche besonderen Umstände die Aufnahme in ein Frauenhaus rechtfertigen und diese erforderlichenfalls glaubhaft zu machen. Die praktischen Anforderungen überfordern die Frauenhäuser mit ihrer geringen Personalausstattung und führen bei einem Teil der Träger dazu, die Aufnahme generell abzulehnen.

10Die

Verpflichtung, den Wohnsitz in einer bestimmten Kommune oder einer bestimmten Unterkunft zu nehmen, wobei dieser Ort vorübergehend verlassen werden darf.

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5.3 Wohnsitzauflagen für Flüchtlingsfrauen mit einem Schutzstatus Das Integrationsgesetz (BGBl. I vom 31.07.2016, S. 1939, in Kraft seit dem 06.08.2016) sieht für alle Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlinge, subsidiär Schutzberechtigten und aufgenommenen Flüchtlinge (§§ 23 Abs. 4, 24 AufenthG) eine Wohnsitzauflage vor. Flüchtlingsfrauen sind damit nicht nur während des Asylverfahrens, sondern auch nach der Zuerkennung eines Schutzstatus in ihrer Freizügigkeit beschränkt und damit auch in ihrer Freiheit, selbst zu bestimmen, wo und wie sie sich vor Gewalt im sozialen Nahraum schützen. Die Vereinbarkeit der Regelung in § 12a AufenthG mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und dem Europäischen Flüchtlingsrecht ist insgesamt fraglich. Nach Art. 26 GFK gilt für anerkannte Flüchtlinge der Grundsatz der Freizügigkeit im Aufnahmeland. Art. 33 der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/ EU (QRL) erstreckt diese Rechtsposition auf subsidiär Schutzberechtigte. Darauf weist sowohl das Urteil des BVerwG vom 15.01.2008 (AZ: 1 C 17/07) zur GFK als auch die Entscheidung des EuGH vom 01.03.2016 (AZ: C-443/14, „Alo & Osso“) zur Qualifikationsrichtlinie hin. Allerdings gehen beiden Entscheidungen nicht von einem absoluten Verbot von Wohnsitzauflagen aus. Art. 23 GFK gebietet eine Gleichbehandlung mit Inländern auf dem Gebiet der Fürsorgeleistungen. Aus dem Zusammenhang von Fürsorgeleistungen und Freizügigkeitsrecht folgert das BVerwG (a. a. O.) das Verbot einer Wohnsitzauflage zum Zweck der gleichmäßigen Verteilung von Soziallasten auf die Kommunen (so auch: Pelzer und Pichl, ZAR 2016, 97). Der EuGH (vom 01.03.2016–C-443/14, „Alo & Osso“) argumentiert vergleichbar, indem er auf das Zusammenspiel von Freizügigkeit nach Art. 33 QRL und Gleichstellung bei den Fürsorgeleistungen nach Art. 29 QRL abstellt. Wohnsitzauflagen hält der EuGH allerdings für zulässig, wenn sie andere Drittstaatsangehörige in gleicher Weise treffen würden oder wenn für die betroffenen Schutzberechtigten ein „objektiv“ feststellbarer Unterschied in Hinblick auf den Integrationsbedarf bestehe. Nicht belegt oder plausibel sind die angenommenen positiven Integrationseffekte einer solchen Wohnsitzauflage, bezogen auf die im Gesetz genannten Bereiche Arbeit, Wohnen und Erwerb der deutschen Sprache. Tatsächlich erfolgt die Verteilung allein nach den sozialen Lasten, also nach einem unzulässigen Kriterium. Um nunmehr die Aufnahme in einem Frauenhaus oder einer anderen Unterkunft außerhalb des Bereichs der Wohnsitzauflage zu ermöglichen und zu finanzieren, muss sowohl ein ausländerrechtliches als ein sozialrechtliches Verfahren durchgeführt werden.

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Zu unterscheiden sind die gesetzlich bestimmten Wohnsitzauflagen, die mit der Anerkennung bzw. Erteilung der Aufenthaltserlaubnis automatisch und ohne behördliche Verfügung wirksam werden (§ 12a Abs. 1 AufenthG)11 und die darüberhinausgehenden „gemeindescharfen“ Zuweisungen, die auf der Grundlage einer Regelung des jeweiligen Bundeslandes ergehen können (§ 12a Abs. 2–4 AufenthG). Die Option, eine Zuweisung zu einer konkreten Kommune vorzunehmen, haben nur wenige Bundesländer umgesetzt (Bayern, Baden-Württemberg, NRW, Sachsen-Anhalt). Dabei wird in der Regel die Zuweisung zu der Kommune fortgeführt, für die bereits während des Asyl- oder Aufnahmeverfahrens eine Zuweisung bestand. Es bedarf eines eigenständigen Verwaltungsaktes, die Entscheidung ist nach Ermessen unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit innerhalb von sechs bzw. zwölf Monaten nach Anerkennung oder Aufnahme zu treffen. Es gibt hierzu drei Varianten: • Personen, die noch in einer Aufnahmeeinrichtung oder kommunalen Flüchtlingsunterkunft wohnen, können dem bisherigen oder einem anderen Ort zugewiesen werden. In diesen Fällen genügt es, wenn die Zuweisung der Integration nicht schadet (§ 12a Abs. 2 AufenthG). • Personen können unabhängig von ihrer derzeit bestehenden Unterkunft einem Ort zugewiesen werden, wenn dies der Integration nutzt (§ 12a Abs. 3 AufenthG, Wohnraum, Spracherwerb, Arbeitsmarkt). Es muss also positiv begründet werden, warum die Integration individuell gefördert wird. Weil die Verwaltung diese Begründung gerade nicht liefern kann, wurden diese Wohnsitzauflagen für NRW vom Oberverwaltungsgericht NRW für rechtswidrig und nichtig erklärt (OVG NRW vom 04.09.2018 – 18 A 256/18). • Alternativ kann auch die Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort, in einem Stadtteil oder Wohnkomplex untersagt werden, um „soziale und gesellschaftliche Ausgrenzung“ zu vermeiden (§ 12a Abs. 4 AufenthG). Der Gesetzestext verweist auf das Risiko, dass die deutsche Sprache an diesem Ort nicht als

11Die

gesetzliche Wohnsitzauflage besteht für die Dauer von drei Jahren ab der Anerkennung bzw. im Fall der Aufnahme ab der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Zuweisung gilt ohne besonderen Verwaltungsakt auch für nachziehende Familienangehörige, die Frist folgt der Frist für die Stammberechtigten (§ 12a Abs. 6 AufenthG). Die Zuweisung entfällt von Gesetzes wegen bei Aufnahme einer Beschäftigung (15 Std. wöchentlich bei mind. 712 € mtl.), einer Ausbildung oder einem Studium.

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die wesentliche Verkehrssprache genutzt wird. Es dürfte schwer werden, eine Gemeinde oder einen Stadtteil in Deutschland zu finden, in der eine andere als die deutsche Sprache die wesentliche Verkehrssprache ist, da es anders als in anderen Ländern keine monosprachlichen Areale gibt. Von dieser Variante hat kein Bundesland Gebrauch gemacht. So erfolgt die Zuweisung in NRW aufgrund der Ausländer-Wohnsitzregelungsverordnung (AWoV) vom 15.11.2016. Die AWoV nimmt keine trennscharfe Unterscheidung zwischen diesen Varianten vor und lässt dadurch die gesetzlichen Anforderungen an den Nachweis des Integrationsnutzens unberücksichtigt. Besonders problematisch ist § 5 Abs. 7 Satz 3 AWoV: Bei der Zuweisung nach Absatz 4 bedarf es keiner Anhörung der Ausländerin und des Ausländers und Begründung der Zuweisungsentscheidung.

Die Regelung ist offenkundig rechtswidrig, weil das Gesetz eine Ermessensentscheidung verlangt. Das VG Arnsberg (vom 7. Februar 2017 – AZ: 9 L 5/17) hat die auf dieser Grundlage ergangenen Verfügungen aufgehoben und von einem „Ermessenstotalausfall“ gesprochen (so auch: VG Köln vom 31.07.2017 – 5 K 155 9/17). Eine Aufhebung der Auflage ist auch in Härtefällen vorgesehen (§ 12a Abs. 5 Nr. 2 AufenthG), eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der gesamten Regelung (Lehner und Lippold, ZAR 2016, S. 87; Zabel, NJW 2016, S. 1057 ff.). Der Gewaltschutz wird als Härtegesichtspunkt im Gesetz nicht genannt. In der Gesetzesbegründung wird allerdings darauf hingewiesen: Eine unzumutbare Beschränkung durch eine Wohnortbindung besteht beispielsweise auch dann, wenn die Verpflichtung oder Zuweisung einen gewalttätigen oder gewaltbetroffenen Partner an den Wohnsitz des anderen Partners bindet, einer Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz entgegensteht, oder sonstigen zum Schutz vor Gewalt erforderlichen Maßnahmen entgegensteht (BT-Drs. 18/8615 vom 31.05.2016, S. 46).

Problematisch in der Umsetzung bleiben die Verfahrensabläufe angesichts des beim Gewaltschutz bestehenden kurzzeitigen Handlungsbedarfs. Zwar steht die Wohnsitzauflage einer schnellen Entscheidung über eine auswärtige Unterbringung nicht entgegen, weil sie nur die Begründung eines neuen Wohnsitzes hindert, nicht aber eine Aufenthaltsveränderung.

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Die praktischen Auswirkungen im Bereich des Gewaltschutzes entstehen erst durch die Sonder-Zuständigkeiten im SGB II für die Leistungen zum Lebensunterhalt. Nach § 36 Abs. 2 SGB II liegt die Zuständigkeit für Personen mit einer Wohnsitzauflage nach § 12a AufenthG ausschließlich bei dem Jobcenter am Ort der Zuweisung. Ausnahmen hiervon sind nicht vorgesehen, sodass bei einem akuten Schutzbedarf und der Aufnahme in einem auswärtigen Frauenhaus oder bei Privatpersonen, der Antrag auf Übernahme der Unterkunftskosten beim Jobcenter am Ort der noch bestehenden Zuweisung gestellt werden muss. Grundlegend zu unterscheiden ist dabei erneut zwischen der gesetzlichen Wohnsitzzuweisung zu einem Bundesland nach § 12a Abs. 1 AufenthG und einer „gemeindescharfen Zuweisung“. Soweit und solange nach einer Anerkennung kein Zuweisungsbescheid ergeht, kann der Leistungsanspruch an jedem Ort innerhalb des Bundeslandes gestellt werden, in dem die Kommune liegt, zu der im Verfahren zugewiesen wurde. So kann eine gewaltbetroffene Frau, die im Asylverfahren der Stadt Wolfsburg in Niedersachsen zugewiesen war, nach ihrer Anerkennung in einem Frauenhaus in Hannover Aufnahme finden und die Leistungsansprüche gegenüber dem Jobcenter Hannover geltend machen. Für sie gilt die Wohnsitzauflage für Niedersachsen und damit wird die Zuständigkeit eines Jobcenters durch den Aufenthalt im Frauenhaus bestimmt; die Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs. 2 SGB II lässt sich damit vereinbaren und das Jobcenter Hannover erhält durch § 36a SGB II den üblichen Erstattungsanspruch gegenüber dem Jobcenter in Wolfsburg. Kommt es zu einem Umzug in ein anderes Bundesland, etwa weil sich die gewaltbetroffene Frau von Wolfsburg nach Bielefeld in NRW begibt, gilt weiter die Regel des § 36 Abs. 2 SGB II, wonach „der Träger zuständig [ist], in dessen Gebiet“ der Wohnsitz zu nehmen ist. Dieses Gebiet ist ein Bundesland; ein für ein Bundesland zuständiger Träger existiert jedoch nicht. Die Bestimmung einer Zuständigkeit, etwa am Ort der bisherigen Zuweisung für das Asylverfahren, entbehrt einer gesetzlichen Grundlage. Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt schließt eine Begründung der Zuständigkeit ohne gesetzliche Grundlage aus. Es bleibt daher nach § 36 Abs. 2 Satz 2, letzter Halbsatz SGB II, wonach das Jobcenter am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zuständig bleibt, wenn die Regelungen des Abs. 2 nicht greifen (LSG NRW vom 17.03.2017 – L 7 AS 228/17 B ER; LSG NRW vom 03.04.2017 – L 19 AS 466/17 B ER; Koppenfels-Spies, NZS 2017,474; a. A. LSG Berlin-Brandenburg vom 26.06.2017 – L 31 AS 618/17 B ER). Problematischer wird der Gewaltschutz bei einer „gemeindescharfen Zuweisung“. Bei der Aufnahme in einem Frauenhaus außerhalb des zugewiesenen Bereichs wird oder bleibt das Jobcenter der Zuweisung zuständig. Muss eine Frau zum Schutz vor Gewalt eine Flüchtlingsunterkunft in Essen/NRW v­ erlassen

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und findet Aufnahme in einem Frauenhaus in Aachen/NRW, so bleibt für sie das ­Jobcenter in Essen zuständig. Dies führt nicht zwingend zu einem Ausschluss von Leistungen, die außerhalb dieses Bereiches in Anspruch genommen werden. Zunächst sprach dafür die Neuregelung in § 22 Abs. 1a SGB II, der allerdings zum 01.08.2017 wieder gestrichen wurde.12 Aber auch nach der jetzt bestehenden Rechtslage ist die Bewilligung einer Leistung außerhalb des Bezirks des zuständigen Jobcenters nicht ausgeschlossen. Der Leistungsanspruch setzt aber die Erreichbarkeit nach § 7 Abs. 4 a SGB II voraus. Zu prüfen ist aber, ob die Frauenhausaufnahme einen wichtigen Grund für die Zustimmung zur Abwesenheit bildet (BT-Drs. 18/8615 vom 31.05.2016, S. 33). Ein wichtiger Grund kann dabei sein, dass ein Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage aus Härtegründen gestellt wurde und über diesen noch nicht entschieden wurde. Zur Finanzierung des Aufenthalts im Frauenhaus sind also Anträge bei der Landesstelle für Verteilung und bei einem Jobcenter an einem anderen Ort als dem des Frauenhauses zu stellen, Sondergenehmigungen einzuholen und Entscheidungen abzuwarten, für die den Behörden keine rechtlich eindeutigen Grundlagen zur Verfügung stehen.

6 Fazit Die derzeitige Situation des Gewaltschutzes von Frauen in Flüchtlingsunterkünften ist skandalös, sie widerspricht den gesetzlichen Vorgaben der Aufnahmerichtlinie und unterschreitet die Anforderungen aus internationalen Konventionen erheblich. Die Möglichkeiten, einer bedrohlichen Situation zu entfliehen und in einem Frauenhaus Schutz zu finden, sind rechtlich so kompliziert geregelt, dass sie weder für die betroffenen Frauen noch für die Betreiberinnen der Frauenhäuser handhabbar sind. Hoch problematisch ist vor allem, dass es kaum möglich ist, die Frage der Kostenübernahme vorab zu klären. Es muss immer zunächst entgegen der Zuweisung, Aufenthaltsbeschränkung oder Wohnsitzauflage gehandelt werden, um dann im Nachgang die Verletzung der Weisung mit einer notwehrrechtlichen Zwangslage zu begründen und die Kostenübernahme in langwierigen Auseinandersetzungen und sozialgerichtlichen Verfahren zu klären. Die derzeit auf der politischen Bühne geführte Integrationsdebatte ist angefüllt mit Wertevermittlungen gegenüber allen Flüchtlingen, die das Grundrecht auf

12Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17. Juli 2017, Art. 20, BGBl. I vom 24.07.2017, S. 2541.

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Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frau auf einen der vordersten Plätze gerückt hat. Zugleich aber wird denselben Frauen das Recht abgesprochen, über den Ort ihres Aufenthalts selbst zu entscheiden. Ihnen wird ein staatlich gelenkter und kontrollierter Integrationsprozess13 so rigide vorgegeben, als solle das individuelle Patriarchat der Familie ersetzt werden durch das öffentliche Patriarchat14 und eine paternalistische Emanzipationspädagogik.

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13Siehe

dazu auch die Zwangsverpflichtung auf Arbeitsgelegenheiten (§§ 5, 5a AsylbLG), Sprachkurse (§ 5b AsylbLG), das damit verbundene System der Sanktionierung jeder Verweigerung (§§ 5 Abs. 3, 5a Abs. 3, 5b Abs. 2, § 11 AsylbLG) und die Integrationsanforderungen an die Niederlassungserlaubnis in der Neuregelung des § 26 Absatz 3 Satz 1 und 2 AufenthG.. 14Siehe zu diesem Verhältnis allgemein: Gottschall (2000, S. 144).

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Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2017). Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz – LPartG). http://www.gesetze-iminternet.de/lpartg/BJNR026610001.html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2017). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG). https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949. html. Zugegriffen: 27. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2017). Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende. https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/BJNR295500003.html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2017). Strafgesetzbuch (StGB). https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2018). Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/BJNR001950896.html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2018). Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG). https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/ BJNR195010004.html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2018). Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe. https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/BJNR302300003. html. Zugegriffen: 15. November 2018. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. (2018). Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X). https://www.gesetze-iminternet.de/sgb_10/BJNR114690980.html. Zugegriffen: 27. November 2018. Committee on the Elimination of Discrimination against Women (Hrsg.). (2014). General recommendation No. 32 on the gender-related dimensions of refugee status, asylum, nationality and statelessness of women. CEDAW/C/GC/32. https://documents-dds-ny. un.org/doc/UNDOC/GEN/N14/627/90/PDF/N1462790.pdf?OpenElement. Zugegriffen: 27. November 2018. Europarat. (2011). Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht („Istanbul-Konvention“). https://rm.coe.int/1680462535. Zugegriffen: 27. November 2018. Europarat. (o. J.). Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14. (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK). https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/0900001680063764. Zugegriffen: 27. November 2018. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen. (2016). Verordnung zur Regelung des Wohnsitzes für anerkannte Flüchtlinge und Inhaberinnen und Inhaber bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz (Ausländer-Wohnsitzregelungsverordnung – AWoV). https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_ id=15964&vd_back=N971&sg=0&menu=1. Zugegriffen: 15. November 2018. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen. (2018). Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW). https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_ id=3120071121100036031. Zugegriffen: 15. November 2018.

Gewaltschutz für Frauen in Flüchtlingsunterkünften

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UNHCR. (o. J.). Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967. (Genfer Flüchtlingskonvention). http://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/GFK_ Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf. Zugegriffen: 24. August 2018.

Gerichtsurteile, -entscheidungen und beschlüsse EuGH, 23.2.1994 – C-236/92. BVerwG vom 15.1.2008 (AZ: 1 C 17/07). LSG Nordrhein-Westfalen v. 02.04.2012 – L 20 AY 24/12 B ER, L 20 AY 25/12 B. EuGH, Entscheidung vom 27.9.2012 (C-179/11 „Cimade und GISTI“). SG Kassel, Urteil vom 13.10.2014 – S. 3 AS 762/11. EuGH vom 1.3.2016 (AZ: C-443/14, „Alo & Osso“). VG Arnsberg vom 7. Februar 2017 – AZ: 9 L 5/17. LSG NRW vom 17.3.2017 – L 7 AS 228/17 B ER. LSG NRW vom 3.4.2017 – L 19 AS 466/17 B ER. LSG Berlin-Brandenburg vom 26.6.2017 – L 31 AS 618/17 B ER. VG Köln vom 31.7.2017 – 5 K 155 9/17. BVerfG, Beschluss vom 29.8.2017 – 2 BvR 351/17. OVG NRW vom 4.9.2018 – 18 A 256/18.

Dorothee Frings, Prof. in Dr. in i. R., war von 1997 bis 2017 Professorin für Verfassungs-, Verwaltungs- und Sozialrecht an der Hochschule Niederrhein, Fachbereich Sozialwesen. Von 1983 bis 1997 war sie als selbstständige Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Migrationsrecht tätig. Sie studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und Bologna. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte und Publikationen liegen im Bereich des deutschen und Europäischen Sozial- und Migrations- und Antidiskriminierungsrechts.

Flüchtlingskinder in Kitas Ute Günzel und Monika Rebitzki

Zusammenfassung

Der Besuch der Kindertageseinrichtung ist nicht nur eine notwenige, sondern die beste Voraussetzung für gelingende Integration und Lernentwicklung von Kindern Geflüchteter. Aus den Blickwinkeln der ehrenamtlichen Arbeit im Unterstützungsnetzwerk einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete, dem einer Kitaleitung im Umfeld der Unterkunft und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft berichten wir von den schwierigen Prozessen der Umsetzung des Rechtsanspruchs der Kinder auf einen Kitaplatz in der Hochzeit der Flüchtlingsströme zwischen 2013 und 2016. Den breitesten Raum nimmt der Prozess der Öffnung einer Kita für die neue Herausforderung ein. Aber auch die Einbindung der Eltern, die Chance, den Erziehermangel durch die Qualifizierung von Geflüchteten zu mindern, der Abbau von bürokratischen Hürden und die gewerkschaftlichen Forderungen, die mit der neuen Facette der Inklusion verbunden sind, werden behandelt.

U. Günzel ()  JAO gGmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Rebitzki  Bildungsgruppe Pankow hilft, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_7

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1 Der Rahmen für unser Thema Die Konflikte im arabischen Raum und die wirtschaftlich-politische Lage in Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie in Exjugoslawien vertrieben immer mehr Menschen aus ihrer Heimat. In Deutschland hat sich die Zahl der Asylsuchenden von 2013 bis 2016 jährlich fast verdoppelt (BAMF 2017). Nachdem im Laufe des Jahres 2015 die meisten Geflüchteten aus den Balkanstaaten wieder abgeschoben oder „freiwillig“ ausgereist waren, weil ihre Herkunftsländer für sicher erklärt wurden, kommen die Geflüchteten in unserer Region überwiegend aus den Kriegs- und Krisengebieten im arabischen Raum und Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Menschen leben in der Regel zunächst in Gemeinschaftsunterkünften. Dort gibt es Unterstützung für die bürokratischen Anforderungen des Aufnahmeverfahrens. Die Kinder der Geflüchteten haben einen Rechtsanspruch auf Bildung, der auch die vorschulische Kita-Bildung einschließt. (BT-Drs. 13/5876 vom 22.10.1996). Der Zugang zur schulischen Bildung war trotz häufiger Verzögerungen und anderer Stolpersteine gewährleistet. Der Rechtsanspruch auf den Kitaplatz wurde auch nicht bestritten (Rebitzki 2013). Doch 2013, als die Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft (GEW) Berlin zusammen mit dem Flüchtlingsrat Berlin und „Jugendliche ohne Grenzen“ (JoG) den Fachtag „Bildung(s)los“ durchführte (zur Dokumentation des Fachtages siehe GEW Berlin 2013), waren nicht einmal 6 % der Kinder von Geflüchteten im Kitaalter untergebracht (Landespressedienst Berlin 2013). 4 Jahre später konnte uns die Leiterin der Gemeinschaftsunterkunft Pankow Mühlenstraße mitteilen, dass alle Kinder über zwei Jahren einen Kitaplatz haben Das war ein hartes Stück auch ehrenamtlicher Arbeit und ein solches Ergebnis können sicher nicht viele Gemeinschaftsunterkünfte vorweisen. Bei der Umsetzung gab es erhebliche Schwierigkeiten, weil die Kommunen noch mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf den Kitaplatz bis zum August 2013 zu tun hatten (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017 auch mit Berichten zum jeweiligen Stand der Umsetzung). Die Lage hat sich aber inzwischen etwas entspannt. Der Vorteil von frühkindlicher Gemeinschaftserziehung – auch und besonders für diese Kinder – wird von Politik und Verwaltung nicht bestritten. Wir selbst erleben alltäglich, wie schnell und unkompliziert die Kinder sich in diesem Alter in zwei Sprachen zurechtfinden und in Kindergruppen integrieren. Der Vorteil für die spätere schulische ­Entwicklung ist nicht zu übersehen. Aber es fehlt in vielerlei Hinsicht an den

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richtigen Rahmenbedingungen. 2013 wurde eine Gemeinschaftsunterkunft in unserem Bezirk geöffnet und besonders aufgrund der erschreckenden Medienberichte aus zwei anderen Bezirken im Ostteil Berlins, wo rechte Gruppierungen die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften gewaltsam zu verhindern versuchten, bildete sich hier schnell ein starker Unterstützungskreis „Pankow hilft“, dem wir angehören. Wir schlossen uns der Arbeitsgruppe Bildung innerhalb dieses Kreises an, die zunächst Kontakt zu den Bildungseinrichtungen der Umgebung aufnahm, um sie positiv auf die neue Situation einzustimmen und widmeten uns dann konkreten Kita- und Schulthemen. Es stellte sich schnell heraus, dass sich die quantitative Situation allmählich entspannte. Die bürokratischen Hürden waren jedoch erheblich. So befürchteten die bezirklichen Jugendämter durch die ungleiche Verteilung von Flüchtlingsunterkünften unterschiedlich belastet zu werden. Berliner Eltern beantragen den Gutschein in den Gutscheinstellen im Jugendamt ihres Wohnbezirks. Das gilt nicht für Eltern in Gemeinschaftsunterkünften. Für ihre Kinder müssen sie den Kitagutschein bzw. den Bedarf an ergänzender Betreuung in der Grundschule in dem Bezirk beantragen, der dem Geburtsmonat ihres Kindes zugeordnet ist – 12 Monate hat das Jahr und 12 Bezirke die Stadt! Auch für den Fall, dass der Geburtsmonat nicht zu ermitteln ist, gibt es eine Lösung: Der Anfangsbuchstabe des Familiennamens ist dann einem der 12 Bezirke zugeordnet. Die Geflüchteten, die in einer Pankower Unterkunft wohnen, mussten also meist ihren Antrag im Jugendamt eines anderen oft sehr weit entfernten Bezirks stellen. Das war eine erhebliche Belastung. Außerdem fehlte es gänzlich an den inhaltlichen Voraussetzungen für die neue Aufgabe. Entsprechende Fortbildungsangebote für Kitas gab es erst 2016. Mit unserer „Pankow hilf“-Arbeitsgruppe haben wir den Erzieher*innen im Bezirk Informationsveranstaltungen angeboten, um sie bei den ersten Schritten fachlich zu unterstützen. Über unsere Erfahrungen, die Widerstände, die wir erlebt haben und Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, möchten wir in den folgenden fünf Kapiteln berichten. Wir beginnen damit, wie Kindertageseinrichtungen für neue Herausforderungen wie die Aufnahme von Kindern von Geflüchteten geöffnet werden können. Darauf aufbauend beschreiben wir, wie Eltern zu Bildungspartner*innen gemacht werden können. Daran schließt sich eine Betrachtung an die Berufsperspektive „Erzieher*in“ für Geflüchtete angesichts der Fachkräftesituation der Branche an. Schließlich wird die Notwendigkeit betont, dass Politik und Verwaltung im Sinne der Familien in Bewegung gebracht werden müssen sowie gewerkschaftliche Forderungen benannt.

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2 Kinder von Geflüchteten – Kindertageseinrichtungen öffnen für neue Herausforderungen Die Kitas bekamen in den letzten Jahren ein weiteres pädagogisches Betätigungsfeld hinzu: Wir betreuen Kinder aus geflüchteten Familien. Von jeher sind Kitas die Vorreiter bei vielen gesellschaftlichen Anforderungen. Der Anspruch von Kindern mit besonderem Förderbedarf, in der Kita nach Wahl der Eltern betreut zu werden, ist in Berlin seit langem gesetzlich verankert. Die individuelle, nach dem jeweiligen Entwicklungsstand eines jeden Kindes differenzierte Bildung und Erziehung wurde in allen Bundesländern durch diverse Bildungsprogramme festgeschrieben. 2014 gab es in meiner Pankower Kita erstmals eine Anfrage, ein Kind einer Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Erfahrungen mit Menschen nichtdeutscher Herkunftssprache gab es in diesem Berliner Stadtbezirk nur wenige. Meist kannten wir nur Familien, bei denen ein Elternteil eine andere Muttersprache spricht. Einige wenige Kolleg*innen sprachen sich zu meiner Verwunderung gegen die Betreuung des afghanischen Kindes aus. Es gab Ängste, was Verständigung und Anderssein betraf. Es gab daraufhin heiße Diskussionen im Team. Doch mit übergroßer Mehrzahl entschieden wir uns schließlich für das Kind und für die gemeinschaftliche Aussage: Egal woher eine Familie kommt, welchen Hintergrund sie hat. Wir fühlen uns für die Kinder dieser Familien verantwortlich. Das ist unsere Profession, unsere Verantwortung. Das Kind afghanischer Eltern, 3 Jahre alt, ist da. Nur der ältere Bruder kann etwas deutsch. Wir suchen nach Unterstützung zur Verständigung. Bücher, Broschüren, Internetseiten.

2.1 Information über Fluchthintergründe Durch den kostenpflichtigen Gemeindedolmetscherdienst erhalten wir dann die Möglichkeit zu einem intensiven, sehr berührenden Gespräch mit den Eltern. Später lernen wir den Journalisten Jürgen Stryjak1 durch seinen ehrenamtlichen Dolmetschereinsatz bei syrischen Familien in Pankow und in unserer Kita kennen. Er arbeitet seit vielen Jahren im arabisch sprechenden Raum. Jürgen war

1Für

Informationen zur Person siehe http://weltreporter.net/author/Juergen_Stryjak.

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zu Gast bei einer Dienstberatung in unserem Team und als Referent einer unserer Informationsveranstaltungen für Erzieher*innen. Wir alle waren von seinen Schilderungen aus diesen Ländern extrem beeindruckt. Es ist ein großer Unterschied, nur aus den Medien zu den Themen Religion, Menschen, IS usw. zu lesen oder Informationen von einem Menschen zu erhalten, der seit langem im arabischen Raum lebt und arbeitet. Hier in Stichworten unsere Haupterkenntnisse: • Syrische und generell arabische Familien kennen für ihre Kinder kaum eine Kita. • Diese Bildungseinrichtungen sind, wenn überhaupt, nur für die Oberschicht gegen hohe Beiträge verfügbar. Und wenn, dann erst für Kinder über drei Jahren, für wenige Stunden am Tag. • Die Großfamilie übernimmt fast ausschließlich die Betreuung der Kinder bis zur Schule. • Viele Familien sind sehr froh, gemeinsam in Deutschland angekommen zu sein. Doch die Eltern halten es nach dem Erlebten nicht aus, ihre Kinder wegzugeben. An Menschen, die sie nicht verstehen, die anders aussehen, anders leben, sich anders kleiden, anders essen. • Oft sind die Eltern auf sich allein gestellt. Der Beistand, die Unterstützung der Großfamilie fehlt. • Die Familien wägen sorgsam das Risiko ab, wer auf den Fluchtweg geschickt wird. Männern wird oft die bessere Chance eingeräumt. Frauen und Kindern drohen häufiger Gewalt und Missbrauch. • Männer werden häufig zuerst auf die Flucht geschickt, damit sie ein neues Zuhause, eine neue gute Verdienstmöglichkeit erkämpfen, weil sie für stärker, unverletzbarer gehalten werden. • Die Familien müssen entscheiden, welches das größere Risiko für Frau, Mann und/oder Kinder ist: das Daheimbleiben oder die Flucht. Egal was sie beschließen, sie müssen dabei mit dem eigenen Tod rechnen. Die wenigsten Menschen, die heute mit dem Thema befasst sind, haben selbst Erfahrungen mit Krieg, Vertreibung und Flucht. Wir empfehlen deshalb als Beispiel für die Einführung in das Thema Krieg und Flucht das Buch „Krieg. Stell Dir vor, er wäre hier“ von Jane Teller (2011). Es ist sowohl für ältere Kinder als auch Erwachsene geeignet. Die heutige Welt ist nicht nur durch die Flüchtlinge größer und bunter geworden. Vielfalt wird immer mehr wahrgenommen und gelebt. Deshalb müssen wir Erwachsenen umdenken.

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2.2 Fortbildung zu interkultureller Kompetenz, z. B. vorurteilsbewusste Erziehung Im Interesse aller betreuten Kinder begannen wir, uns mit den Grundsätzen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung vertraut zu machen, um dadurch sensibler im Umgang mit Kindern und Familien sowie im Team zu werden. Wir reflektieren unsere eigene persönliche Entwicklung, diskutieren über das Stigmatisieren von Menschen, das Abschieben in bestimmte Schubladen. Wir verinnerlichen in einem stetigen pädagogischen Prozess Qualitätsansprüche Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung (Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten 2016): • Wir üben mit Kindern, zu schildern, was ihnen Ungerechtes passiert ist und wie sie sich dabei gefühlt haben. • Wir widersprechen ausdrücklich Äußerungen oder Kommentaren, die Menschen abwerten und herabwürdigen können, und begründen unseren Widerspruch in einer sachlich-ruhigen Form. • Wir greifen Ungerechtigkeiten auf, die Kindern in ihrem Umfeld oder innerhalb der Kindergruppe aufgefallen sind und überlegen, was sie dagegen tun können. • Wir nehmen abwertende Äußerungen, einseitige Darstellungen und unfaire und unwahre Botschaften über Menschen zum Anlass für kritische Untersuchungen und Erkundungsprojekte mit den Kindern. • Wir sind aufmerksam für die besondere Situation von Kindern, die mit bestimmten Merkmalen eine Minderheit in der Gruppe bilden, und stärken diese gezielt. • Wir bestätigen jedes Kind darin, dass seine Familie richtig ist, so wie sie ist, und es zu ihr gehört. • Wir üben mit Kindern ein, wie sie bei Abwertung und Ausgrenzung, auch durch Erwachsene, widersprechen können. • Wir thematisieren mit Kindern, dass auch Worte wehtun können. • Wir greifen ein, wenn Kinder aufgrund bestimmter Merkmale ihrer Identität beleidigt oder ausgegrenzt werden. Natürlich achten wir die Vorschriften der Religionen für die Mahlzeiten. Doch es fällt uns schwer, den betroffenen Kindern zu erklären, warum sie kein Schnitzel, keine Bratwurst usw. erhalten können, obwohl sie es möchten und wir Partizipation in unserer Kita großschreiben. Da kommen wir an unsere Grenzen.

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2.3 Exkurs: Traumatisierung erkennen und verantwortlich handeln Pädagog*innen müssen sich mit verschiedenen fluchtspezifischen Themen bekannt machen, z. B., wie man Traumatisierungen bei Kindern erkennen und mit diesen umgehen kann. Die dafür relevantesten Punkte wurden in einem Referat von Hanne Shah auf einem Fachtag der Unfallkasse Berlin am 18. Mai 2018 ­vorgestellt:2 • Traumatisierungen gibt es überall auf der Welt und bereits so lange, wie es Menschen gibt. • Flüchtlingswellen gab es schon immer (Hugenotten, Russlanddeutsche, Juden, Schlesier). • Traumatherapie gibt es als Wissenschaft erst seit wenigen Jahren. • In Deutschland haben traumatisierte Flüchtlinge erst nach 15 Monaten Anspruch auf Therapie. • Es gibt auch deutsche traumatisierte Kinder (Missbrauch, Gewalt, Tod eines Elternteils). • Nach einem Trauma kann es bis zu 10 Jahren dauern, bis sich die bzw. der Betroffene öffnet. • Oft ist das Immunsystem noch ca. ein Jahr nach dem erlittenen Trauma so geschwächt, dass es häufig zu Infekten kommt. Wir erleben bei den von uns betreuten Flüchtlingskindern aus verschiedensten Herkunftsländern: • Sehr unsichere sowie ängstliche Eltern, Kinder und Pädagog*innen. • Die Eltern wissen, dass die Kita sehr wichtig ist, um Deutsch zu lernen. • Eltern kennen das Bildungsangebot Kita nicht, dieses gibt es im Herkunftsland nicht in dieser Form. • Pädagog*innen kennen die Gegebenheiten in den Herkunftsländern nicht. • Nur wenn wir uns selber kümmern, bekommen wir die Informationen, die wir benötigen. • Kinder, die bei jedem lauten Geräusch zusammenzucken.

2Ute Günzel (Vortragsmitschrift, 18. Mai 2016). Ausführlich findet sich der Inhalt des Vortrags in Unfallkasse Berlin (2015). Zusätzlich empfehlen die Autorinnen zum Thema Traumatisierung die Publikation der Bundespsychotherapeutenkammer (2016).

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• Kinder, die im Sommer nicht wie andere ausgezogen die Wasserspiele in der Kita genießen können. • Kinder, die Angst um ihre Eltern haben, Angst, diese nach der Kita nicht wieder zu sehen. • Eltern, die sehr große Angst um ihre Kinder haben, wenn sie diese in der fremden Kita zurücklassen.

2.4 Aufnahmegespräch und Eingewöhnung Wir lernen mit jedem weiteren Kind viel dazu, beginnend schon in der Eingewöhnung. Die Bandbreite der Erfahrungen bei der Eingewöhnung bewegt sich zwischen diesen Beispielen: 1. Kinder werden ohne Eingewöhnungszeit gleich am ersten Tag ohne Begleitung abgegeben und bewegen sich ohne erkennbare Einschränkungen in der Gruppe. Diese Kinder wurden innerhalb der Herkunftsgroßfamilien oft hin und hergegeben. Sie haben gelernt, dass ihre Eltern sie nur an gute und sichere Orte geben und sie diesen vertrauen können. Für die Eltern sind die Pädagogen*innen das Fachpersonal, dem sie ihre Kinder ohne Einschränkungen anvertrauen, denn dafür sind sie ausgebildet. 2. Eine Eingewöhnung scheint kaum möglich – das Kind kommt nicht an, die Eltern lassen nicht los. Es herrscht Angst, sich gegenseitig nicht wiederzusehen und/oder es gibt kein Vertrauen zu fremden Menschen. Manche Eltern und Kinder sind von so vielem Neuen durch den Kita-Alltag auch überfordert. Möglicherweise sind Eltern und/oder Kinder traumatisiert, vielleicht gab es in der Vergangenheit Situationen, in denen Eltern das Kind nicht schützen konnten oder umgekehrt. Dadurch ist das Bindungsverhalten gestört. Zu bedenken sind außerdem, dass es große Unterschiede zwischen den Kulturen, auch zwischen einzelnen Volksgruppen und Religionen sowie ausgeübten Traditionen gibt. Oft herrschen darüber hinaus andere Einstellungen zu Kind und Erziehung vor, etwa eine geringere Bedeutung von Individualität und eine größere der Großfamilie. Zumeist gibt es auch einen anderen Umgang mit Körperlichkeit, Nacktheit und beim Essen und ein anderes Verständnis von Partizipation des Kindes im Alltag. Doch der Aufenthalt in einer Kita ist allein schon quantitativ bedeutend für die Kinder, gerade auch für Kinder mit Fluchterfahrungen. Eine Woche hat 168 h. Davon schläft ein Kind ungefähr 70 h, 35 h wird es in der Kita betreut. Ob wir

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wollen oder nicht: Die Zeit und damit die Menschen in der Kita haben automatisch einen großen Einfluss auf jedes Kind. Wir sind stark an der Bewältigung von Erlebtem beteiligt, ebenso wie am Hineinwachsen der Familie in das neue Umfeld. Wenn Familien von einer Gemeinschaftsunterkunft in eine Wohnung wechseln, liegt diese häufig weit entfernt von der Kita und das Kind muss in eine andere Kita wechseln. Dann beginnt der Prozess fast von vorne und ist eine neue Belastung für das Kind und die Familie. Wir müssen lernen zu beachten, dass Geflüchtete jeglichen Alters Sicherheit, Stabilisierung und Strukturierung der Situation benötigen. Kinder brauchen die Kita als Ort zum sicheren Spielen, Bewegen (insbesondere wegen der Enge in den Unterkünften) und Kontakt mit nicht traumatisierten Erwachsenen und Kindern sowie Mitgefühl, Empathie, Verständnis und Zuwendung der Pädagog*innen. Mitleid ist fehl am Platz, denn es nutzt nichts, wenn der Erwachsene handlungsunfähig wird, weil er selbst beginnt zu leiden. In diesem Fall zieht das Kind sich zurück, weil es die Last des mitleidenden Erwachsenen nicht auch noch tragen kann. Eltern brauchen entgegengebrachtes Vertrauen, die Erklärung weniger, aber wichtiger Regeln in der Kita, Verständnis und Interesse der Pädagog*innen für andere Erziehungsmodelle, genaues Zuhören und die Berücksichtigung der sozialen und kulturellen Unterschiede beispielsweise bei Gruppenfahrten. Damit die Pädagog*innen in der Kita dies gewährleisten können, brauchen sie Fortbildung, die sie nicht nur mit der Lage von Geflüchteten vertraut macht, sondern auch mit deren Familientraditionen und mit Spielmaterial aus den Herkunftsländern. Sie werden den Kindern immer wieder Beteiligung anbieten und für diese Kinder wie für alle anderen da sein, ohne deren Situation zu dramatisieren. Und vor allem brauchen sie Geduld. Auf Informationsmaterial und Fortbildung mussten die Erzieher*innen aber zunächst warten. Erst 2016 wird die hilfreiche überregional einsetzbare Broschüre „Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge – Ratgeber für Schulen und Kindergärten“ (Unfallkasse Berlin o. J.) an alle Berliner Kitas verteilt. Diese Broschüre war für uns die erste wirkliche breitenwirksame Unterstützung für unsere Arbeit mit Flüchtlingen. Inzwischen gibt es sehr viele Materialien und Fortbildungen werden vermehrt angeboten. Doch diese sind häufig, wie auch Bücher, DVDs, Wörterbücher und Kinderbücher kostenintensiv. Kommerzielle Anbieter sind auf den lukrativen Flüchtlingszug aufgesprungen. Kolleg*innen, die an Fortbildungen teilnehmen, fehlen im angespannten Kitaalltag. Zur Bewältigung dieser neuen Herausforderung gibt es weder mehr Geld noch Personal. Diese Gemengelage skizziert die Herausforderung, die nicht leicht zu meistern ist.

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3 Eltern zu Bildungspartner*innen machen Mütter mit Kleinkindern haben kaum Gelegenheit, Sprachkurse zu besuchen. Wenn es außerdem noch ältere Geschwisterkinder gibt, sind es in der Regel die Mütter, die sie in die Kita oder Schule bringen und abholen. Wir erfahren immer wieder, dass das Kontaktbedürfnis der Frauen groß ist, doch ohne Sprache sind die Mutter-Kind- bzw. Krabbelgruppen nicht der richtige Ort. Ein bisher kaum bekanntes Förderwerkzeug sind vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanzierte Sprachkurse für Mütter mit Kindern bis zu einem Jahr – einschließlich Kinderbetreuung in Kleingruppen (auch mit nur fünf Teilnehmerinnen möglich). Eine Liste der zugelassenen Integrationskursträger mit Kursorten, die hierfür Mittel beantragen können, findet sich unter BAMF (2018). Hier könnte Raum sein, mit den Müttern über kindliche Entwicklung und die Bildungseinrichtungen zu sprechen. Das ist eine Aufgabe für Familien- und Nachbarschaftszentren, die diese in enger Kooperation mit den Unterkünften aufbauen sollten, bevor die Familien in Privatwohnungen ziehen. Vor allem im großstädtischen Raum besteht sonst die Gefahr der Isolation. Nicht nur die Kindertageseinrichtungen müssen sich auf die Geflüchteten und ihre Kinder vorbereiten. Auch die Eltern in den Einrichtungen können mit einbezogen werden. Wir hatten einige Eltern von Kitakindern im Unterstützungskreis und in unserer kleinen Arbeitsgruppe, die ihre Erfahrungen in ihre Kitas und auch in die bezirklichen Elterngremien einbringen konnten. Bei uns in der Kita gab und gibt es Eltern, die dolmetschen und die vereinzelt Familien zu sich nach Hause einladen. Können die Kinder besser Deutsch, werden sie auch zu Kindergeburtstagen eingeladen. Ausgrenzungen geflüchteter Familien konnten wir in unserer Kita nicht erleben. Sicher auch, weil wir als Team eine einheitliche Meinung zum Thema erarbeitet haben und diese auch offen vertreten. Notwendig ist es aber vor allem, mit den geflüchteten Eltern ins Gespräch zu kommen. Wir müssen davon ausgehen, dass die Eltern keine oder eine andere Vorstellung von vorschulischer Gemeinschaftserziehung haben. Dass die Kinder die deutsche Sprache hier schnell lernen, ist am leichtesten zu vermitteln. Alles darüber Hinausgehende, das Hineinwachsen in die hier geltenden Normen und Werte, die arbeitsteilige Kooperation von privater und öffentlicher Erziehung ist ein Prozess, den es zu begleiten gilt. Als Voraussetzungen für diese Arbeit müssen Sprachmittler*innen für die Zusammenarbeit mit Eltern nichtdeutscher Herkunftssprache besonders für

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das Aufnahmegespräch und in der Eingewöhnungsphase bereitgestellt werden. Mehrsprachiges Informationsmaterial über die Kita als Bildungseinrichtung und das Antragsverfahren sind ebenso unerlässlich wie Fortbildungen für das ­Fachpersonal. Ferner ist insbesondere für Mütter mit mehreren Kindern im Vorschulalter zu prüfen, ob sie in der Kita Sprachkurse bekommen können, in denen auch Themen der kindlichen Entwicklung und Erziehung eingebaut werden können. Wenn dieser Prozess in der Kita gelingt, sind Kinder und Eltern auf die Anforderungen schulischen Lernens gut vorbereitet. Diese Eltern könnten auch „Lotsen“ für die geflüchteten Eltern sein, die ohne Kita-Erfahrung auf die Schule zukommen.

4 Erzieher*innenmangel – Berufsperspektive für Geflüchtete? 17 % der Geflüchteten haben eine Hochschule besucht und 21,6 % das Gymnasium besucht – unabhängig vom schließlich erreichten Abschluss (Neske und Rich 2016, S. 6 f.). Wenn die berufsbegleitende Erzieher*innenausbildung mit Sprachkursen kombiniert würde, wäre das eine gute Möglichkeit zur beruflichen Integration. Bei der Berufsorientierung von Geflüchteten sollte diese Option immer mit berücksichtigt werden. Nach unserer Erfahrung ist der Weg über unspezifische Sprachkurse zur Erlangung des für die Ausbildung erforderlichen Niveaus nicht nur zu lang, sondern er vernachlässigt auch die Sprechkompetenz, die in einer berufsbegleitenden Form ungleich besser gefördert wird. Wenn auf diesem Weg die benötigte Sprachkompetenz in den Sprachen der Geflüchteten in den Kitas Einzug hält, erleichtert das die sprachliche wie interkulturelle ­Verständigung mit den Eltern. Und das wiederum fördert die Entwicklung der Kinder. Aber auch für Geflüchtete, die als Lehrer*innen in ihren Herkunftsländern tätig waren, kann die Erzieher*innenausbildung interessant sein, um z. B. im Hort mit älteren Kindern arbeiten zu können. Wir haben in der GEW Berlin seit dem Schuljahr 2016/2017 regelmäßige Treffen „Peer up“ für geflüchtete Lehrkräfte angeboten und festgestellt, wie lang und beschwerlich die berufliche Anpassung in diesem Feld ist. Die Universität Potsdam war die erste, die ein Vorbereitungsprogramm für diesen Personenkreis eingerichtet hat, um den langen Weg zur Lehrbefähigung in Deutschland zu unterstützen (siehe dazu Universität Potsdam 2017).

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5 Politik und Verwaltung in Bewegung bringen Wir halten den Besuch der Kindertageseinrichtung für Kinder von Geflüchteten im Vorschulalter für unabdingbar und die beste Voraussetzung für deren inklusive Entwicklung. Die aktive Einbeziehung der Eltern erleichtert zudem die aktive Teilhabe der Eltern als Bildungspartner*innen von Kita und Schule im Interesse der Kinder. Durch unsere berufliche, ehrenamtliche und Gewerkschaftsarbeit kennen wir die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem Kitaplatz insbesondere für Geflüchtete in Berlin. Jedes Bundesland hat da möglicherweise andere Herausforderungen. Da die GEW als Bildungsgewerkschaft permanent in Kontakt mit Bildungspolitiker*innen und -verwaltung steht, hat sie gute Möglichkeiten, auf Missstände hinzuweisen. Dabei haben wir auch nach Verbündeten bei den Parteien gesucht. Auch die untere kommunale Ebene hat Spielräume im Verwaltungshandeln, die genutzt werden können. Nach den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen im Herbst 2016 hat unser Netzwerk „Pankow hilft“ die neu gewählte Bezirksregierung mit den Problemen und Forderungen konfrontiert. Das alles sind mühsame, meist langwierige Schritte zu Veränderungen bei Rahmenbedingungen und Verwaltungsvorgängen. Doch es ist sehr wertvoll für alle Einrichtungen und Eltern, wenn hier Lobbyarbeit betrieben und so bürokratische Hürden abgebaut werden.

5.1 Gewerkschaftliche Forderungen Die Übernahme von zusätzlichen Kosten für die Betreuung geflüchteter Kinder ist völlig unzureichend geregelt. Dies betrifft je nach notwendiger Maßnahme und Hilfsmittel die Kita selbst sowie die/den Träger*in der Einrichtung und die Pädagog*innen. Ebenfalls nicht geklärt ist, wer den Personalaufwand für zusätzliche Fortbildungen ausgleicht. In Berlin gibt es erst dann höhere Mittel und damit mehr Personal für eine Kita, wenn mindestens 40 % der Kinder einer Kita eine nichtdeutsche Herkunftssprache aufweisen. Dies bedeutet, dass unterhalb dieser Schwelle sämtliche Kosten und alles Engagement von Träger und Personal aufzubringen sind. Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass die mangelnde finanzielle Ausstattung in Care-Berufen einmal mehr zulasten der Betroffenen und der Beschäftigten geht.

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Es wird wieder einmal verdrängt, dass es hier um Menschen geht, die dringend auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Angesichts der Tatsache, dass wir in einem der reichsten Länder der Erde leben und kein Mensch davor sicher ist, nicht selbst einmal flüchten zu müssen, ist das ein fragwürdiges Vorgehen. Aus gewerkschaftlicher Sicht existieren daher Mindestanforderungen zum Gelingen der täglichen pädagogischen Arbeit in der Kita wie folgt: • Vorbereitende Information der Eltern in Gemeinschaftsunterkünften über die Bildungseinrichtungen Kita und Schule in mehrsprachiger schriftlicher Form und durch Informationsveranstaltungen. • Kleingruppenangebote für Mütter von Kleinkindern mit pädagogischer und Sprachförderbegleitung. • Als Voraussetzung für eine gute Akzeptanz und gelingende Integration in der Kita braucht es unbedingt mehr Personal, um auch Kindern aus Flüchtlingsfamilien gerecht werden zu können. • Als Voraussetzung für positive Bedingungen für den Erwerb der deutschen Sprache benötigt ein Kind Menschen mit ausreichend Zeit, Geduld, Empathie und Wissen als Partner. • Mehr Personal als Voraussetzung für die erste vertrauensvolle Bindung und Vermittlung grundlegender Kenntnisse zum deutschen Bildungssystem. • Mehr Geld für die Kita ab dem ersten Kind nichtdeutscher Herkunftssprache bzw. mit besonderem Förder- bzw. Unterstützungsbedarf, das in der Einrichtung betreut werden soll. • Sprachmittler*innen, die über eine längere Zeit verbindlich die Familie und die Pädagog*innen begleiten, damit die Eltern über diese/n Sprachmittler*in ein Vertrauensverhältnis aufbauen können. • Abbau von bürokratischen Hürden auf dem Weg zum Kitagutschein und Kitaplatz. • Mehrsprachiges Informationsmaterial über die Kita als Bildungseinrichtung und das Antragsverfahren. • Gut handhabbare Wörterbücher, beispielsweise Sauer und Weber (2006). • Übersetzungsapps sowie technische Voraussetzungen, um diese Apps sowie auch andere moderne Möglichkeiten für alle Pädagog*innen nutzbar zu machen. • Berufsbegleitende Erzieher*innenausbildung von Geflüchteten mit integrierter Deutsch-Sprachförderung.

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U. Günzel und M. Rebitzki

Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.). (2017). Das Bundesamt in Zahlen 2016. Asyl, Migration und Integration. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/ DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2016.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 23. September 2018. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.). (2018). Liste der zugelassenen Integrationskursträger mit Kursorten. Stand: 05.06.2018. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Integrationskurse/Kurstraeger/ListeKurstraeger/ liste-der-zugelassenen-kurstraeger-pdf.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 23. September 2018. Bundespsychotherapeutenkammer (Hrsg.). (2016). Ratgeber für Flüchtlingshelfer. Wie kann ich traumatisierten Flüchtlingen helfen?: https://www.bptk.de/uploads/ media/20160513_BPtK_Ratgeber-Fluechtlingshelfer_2016_deutsch.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin (GEW Berlin) (Hrsg.). (2013). „Bildung(s)los?!“. Anspruch und Wirklichkeit der Bildungschancen junger Flüchtlinge. Dokumentation des Fachtags. https://www.gew-berlin.de/public/media/ Fachtag_Bildungslos.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.). (2016). Qualitätshandbuch für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kitas. Verfahren und Instrumente für die interne Evaluation zur Weiterentwicklung inklusiver pädagogischer Praxis. ­Berlin: Wamiki Verlag Landespressedienst Berlin (2013). Kleine Anfrage 17/12407. Warum werden fast alle Berliner Flüchtlingskinder von Kita und Hort ausgeschlossen?: http://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/17/KlAnfr/ka17-12407.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Neske, M., & Rich, A-K. (2016). Asylantragsteller in Deutschland im ersten Halbjahr 2016. Sozialstruktur, Qualifikationsniveau und Berufstätigkeit. Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 4. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Kurzanalysen/ kurzanalyse4_sozial-komponenten-erstes-halbjahr%202016.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 23. September 2018. Rebitzki, M. (2013). Flüchtlingskinder in die Kitas. Berliner Lehrerzeitung 11. https:// www.gew-berlin.de/7_7789.php. Zugegriffen: 23. September 2018. Sauer, K., & Weber, S. (2006). Dolmetscher für Erzieher/innen (7. Aufl.). Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor. Teller, J. (2011). Krieg. Stell Dir vor, er wäre hier. München: Carl Hanser Verlag. Unfallkasse Berlin (Hrsg.). (o.J.) Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge – Ratgeber für Schulen und Kindergärten. Berlin: Eigenverlag. Zu bestellen unter http:// www.unfallkasse-berlin.de/ehrenamtlich-taetige/fluechtlingshilfe-versicherungsschutz-und-hinweise-zur-praevention/. Zugegriffen: 23. September 2018.

Flüchtlingskinder in Kitas

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Universität Potsdam (Hrsg.). (2017). Refugee Teachers – Qualifizierungsprogramm für geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer geht in die dritte Runde. https://www.uni-potsdam.de/nachrichten/detail-list/article/2017-03-24-refugee-teachers-qualifizierungsprogramm-fuer-gefluechtete-lehrerinnen-und-lehrer-geht-in.html. Zugegriffen: 23. September 2018.

Drucksachen Bundestagsdrucksache 13/5876 vom 22. Oktober 1996. http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/13/058/1305876.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018.

Gesetze Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.). (2008.). Das Kinderförderungsgesetz (KiföG). https://www.fruehe-chancen.de/ausbau/kinderfoerderungsgesetz/. Zugegriffen: 23. September 2018.

Anhang: Material zum Themenfeld Zusammenarbeit von Eltern und Kita, Aufnahmegespräch, Betreuungsvertrag, Eingewöhnungsphase, Sprachliche Verständigung, bürokratische Hürden Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg (Hrsg.). (2018). Broschüre und Film (mehrsprachig). Ein Kita-Platz für unser Kind. http://www.hamburg. de/kita/4362936/ein-kitaplatz-fuer-unser-kind/. Zugegriffen: 23. September 2018. Bietet Kurzfilme und Broschüren in mehreren Sprachen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.). (2018). Geflüchtete Kinder in der Kita – Elterninformationen & fachliche Unterstützung. https://www.kindergesundheit-info.de/fuer-fachkraefte/arbeiten-mit-fluechtlingsfamilien/kita/. Zugegriffen: 23. September 2018. Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (Nifbe) (Hrsg.). (o.J.). Good-Practice von A-Z: https://www.nifbe.de/das-institut/good-practice/goodpractice-von-a-z. Zugegriffen: 23. September 2018. Materialien in neun Sprachen, Themen u.a. Aufnahmegespräch, Eingewöhnungsphase, Elternfragebogen zum Ende der Eingewöhnung. Unfallkasse Berlin (Hrsg.). (o.J.). Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge – Ratgeber für Schulen und Kindergärten. Berlin: Eigenverlag. Zu bestellen unter http:// www.unfallkasse-berlin.de/ehrenamtlich-taetige/fluechtlingshilfe-versicherungsschutz-und-hinweise-zur-praevention/. Zugegriffen: 23. September 2018.

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U. Günzel und M. Rebitzki

Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden e.V. (DaKS) (Hrsg.). (2016). Familien mit Fluchterfahrung in Kinderläden und Kitas. Wie schaffen wir eine Willkommensstruktur?. http://www.daks-berlin.de/downloads/daks-familien-mit-fluchterfahrung.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK), Bundesverband (Hrsg.). (o.J.). Kinder mit Fluchterfahrung sind in erster Linie KINDER!. https://www.ktk-bundesverband.de/unserangebotunserearbeit/kinder-mit-fluchterfahrung. Zugegriffen: 23. September 2018. Wir empfehlen insbesondere die Filme auf der Seite unter der Rubrik „Filmmaterial“ sowie unter der Rubrik „Handreichungen für die tägliche Arbeit in der Kita“ diese Datei: Landesverband Katholischer Kindertagesstätten Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. (Hrsg.). (2016). Verantwortungsvoller Umgang mit Flucht und Asyl in Kindertageseinrichtungen. Leitfaden. Stuttgart. https://www.lvkita.de/media/files/ Arbeitshilfen/20160225_Leitfaden_Flucht_Asyl.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder, KTK-Bundesverband e.V., „Handreichungen für die tägliche Arbeit“ aus der Diözese Rottenburg Stuttgart. Fragebögen zum Thema Aufnahme und Eingewöhnung, Begleitung im pädagogischen Alltag und Begleitung der Familie finden sich unter: www.ktk-bundesverband.de/unserangebotunserearbeit/kinder-mit-fluchterfahrung. Außerdem können Filme heruntergeladen werden. Suche nach Sprachmittler*innen: Wir empfehlen, die Eltern nach Vertrauenspersonen zu fragen, die hinreichend Deutsch verstehen, bei Nachbarschafts-, Familien- und Stadtteilzentren zu fragen oder bei Vereinen der jeweiligen Migrantengruppen. In Berlin gibt es außerdem den kostenpflichtigen Gemeindedolmetschdienst Berlin (Hrsg.). (o.J.). https://www.gemeindedolmetschdienst-berlin.de. Zugegriffen: 23. September 2018. Publikationen zur Mehrsprachigkeit: Panagiotopoulou, A. (2016). Mehrsprachigkeit in der Kindheit. Perspektiven für die frühpädagogische Praxis, Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF) Expertise (Bd. 46). https://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/Exp_Panagiotopoulou_web.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018. Deutsches Jugendinstitut, Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (Hrsg.). (2016). Inklusive Sprachliche Bildung. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung, WiFF Wegweise Weiterbildung (Bd. 11). https://www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/WiFF_WW_11_Sprache_web.pdf. Zugegriffen: 23. September 2018.

Ute Günzel ist Pädagogin und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Berlin. Sie leitet schon viele Jahre eine Kindertagesstätte im Bezirk, die in der Nähe der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete Mühlenstraße, Berlin-Pankow, liegt. Die Einrichtung hat sich intensiv auf die Aufnahme von Kindern der Gemeinschaftsunterkunft vorbereitet und in den vergangenen drei Jahren seit Eröffnung der Unterkunft Erfahrungen gesammelt. Ute Günzel arbeitet außerdem in der Arbeitsgruppe Bildung des Unterstützungsnetzwerks „Pankow hilft“ mit, die u. a. Informationsveranstaltungen für Erzieher*innen zum Thema „Kinder von Geflüchteten in der Kita“ im Bezirk durchführt.

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Monika Rebitzki  ist Dipl. Päd. und Mediatorin. Ihr beruflicher Schwerpunkt lag in der Elternbildung. Im Ruhestand ist sie weiterhin aktiv im Landesausschuss für Migration, Diversität und Antidiskriminierung – LAMA – der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin. Ihr Schwerpunkt liegt bei den Bildungschancen von Kindern Geflüchteter. Seit der Einrichtung einer Gemeinschaftsunterkunft in ihrem Wohnbezirk arbeitet sie in dem ehrenamtlichen Unterstützungsnetzwerk „Pankow hilft“ Mühlenstraße in mehreren Arbeitsgruppen mit.

Traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen. Hintergründe, Versorgungsbarrieren und die Rolle Psychosozialer Zentren Armin Wühle und Gisela Penteker Zusammenfassung

Geflüchtete sind aufgrund der Erlebnisse in ihren Herkunftsländern und wegen ihrer Fluchterfahrungen häufig schwer traumatisiert. Um dieser Situation gerecht zu werden, müssen neben der medizinischen Unterstützung auch asylrechtliche und integrative Belange berücksichtigt werden. Aus diesem Grund haben sich im gesamten Bundesgebiet Psychosoziale Zentren gegründet, in Niedersachsen das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. (NTFN). Im vorliegenden Beitrag wird die Entstehung des Netzwerks von der ersten Konzeptionsphase in den 90er-Jahren bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Dabei wird auch auf die Probleme eingegangen, die traumatisierten Geflüchteten und ihren Behandler/innen bis heute widerfahren, insbesondere hinsichtlich der Erstattung von Behandlungs- und Dolmetschendenkosten. Ob und wie stark traumatische Erfahrungen zu Trauma-Folgestörungen führen, hängt maßgeblich von der Situation im Aufnahmeland ab. Deswegen ist auch eine Kritik aktueller asylrechtlicher, behördlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse nötig, um den Gesundheitszustand der Betroffenen nachhaltig zu verbessern.

A. Wühle () · G. Penteker  Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V., Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Penteker E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_8

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1 Hintergrund Viele Geflüchtete in Deutschland haben in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht traumatische Erfahrungen machen müssen. Der Entscheidung zur Flucht geht in der Regel eine ernsthafte Bedrohungslage voraus, die etwa auf Bürgerkriege, Folter, Diskriminierung, Naturkatastrophen oder wirtschaftliche Not zurückzuführen ist. Die Flucht selbst gestaltet sich meist nicht weniger traumatisch. Mit der zunehmenden Abschottung der europäischen Außengrenzen nehmen Menschen immer waghalsigere und tödlichere Fluchtwege in Kauf, die Abhängigkeit von Schleuserbanden steigt und führt nicht selten zu körperlicher wie sexueller Gewalt. Mit solchen und ähnlichen Erfahrungen kommen Menschen in Deutschland an. Allerdings führt nicht jede traumatische Erfahrung automatisch zu einer Trauma-Folgestörung. Die psychische Widerstandsfähigkeit („Resilienz“) hängt einerseits von individuellen Faktoren ab, wie z. B. Vorerkrankungen oder dem sozialen Umfeld. Andererseits sind die Rahmenbedingungen im Aufnahmeland für die Resilienz der Betroffenen gleichfalls entscheidend, wie verschiedene Studien zeigen. In einer Untersuchung von Marija Bogic et al. (2012, S. 216 ff.) mit 854 bosnischen Kriegsflüchtlingen in Italien, Großbritannien und Deutschland zeigte sich, dass ein unsicherer Aufenthaltsstatus sowie das Gefühl, von der Aufnahmegesellschaft nicht akzeptiert zu sein, zu höheren Raten affektiver Störungen und Angststörungen führten. Symptome bei Patient/innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus waren deutlich stärker ausgeprägt als bei jenen mit sicherem Aufenthaltsstatus. Zu demselben Ergebnis kommen Wissenschaftler der Universität Düsseldorf, die traumatisierte Geflüchtete mit sicherem und unsicherem Aufenthaltsstatus verglichen und bei letzteren eine signifikant erhöhte Symptomschwere feststellten (Gerlach und Pietrowsky 2012, S. 5). Die Gründe dafür liegen mitunter in der Struktur von Traumatisierungsprozessen. Diese entwickeln sich prozesshaft und akkumulativ. Statt eines singulären Ereignisses ist es häufig die Abfolge unterschiedlich stark traumatisierender Erlebnisse, die zur Entwicklung einer psychischen Erkrankung führen. Unterteilt man eine Flucht in drei Phasen (vor, während und nach der Flucht), erreicht die Akkumulation traumatischer Erfahrungen in der dritten und letzten Phase ihren höchsten Verdichtungsgrad. Wirken in dieser angespannten Situation weitere belastende Faktoren auf die Betroffenen ein, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene eine TraumaFolgestörung entwickeln oder dass sich bestehende Erkrankungen verschlimmern.

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Die Situation im Aufnahmeland ist daher im hohen Maße entscheidend. Wie Armin Wühle in einer bislang unveröffentlichten Masterarbeit argumentiert (Wühle 2017, S. 3), beeinträchtigen asylrechtliche, behördliche und gesellschaftliche Stressfaktoren in Deutschland die Resilienz der Betroffenen. Abb. 1 versucht, ein Verständnis dafür zu schaffen, in welcher Situation sich geflüchtete Menschen in Deutschland befinden. Neben den teils traumatischen Erfahrungen, die sie vor und während ihrer Flucht machen mussten, begegnen ihnen im Aufnahmeland „naturgemäße“ und „gemachte“ Belastungen. „Naturgemäß“ zieht eine Flucht etwa den Verlust sozialer Bezüge, die Eingewöhnung in eine fremde Kultur oder Sprachbarrieren nach sich (Böttche et al. 2016, S. 1142). Hinzu kommen etwa repressive Asylgesetzgebungen, die die erlebten Angstzustände verstetigen und aufrechterhalten, etwa durch die Angst vor einer Abschiebung. Hier seien exemplarisch die Dublin-III-Regelungen oder jahrelang

Abb. 1   Belastungs- und Stressfaktoren für Geflüchtete im Aufnahmeland. (Quelle: Eigene Darstellung Armin Wühle.)

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aufrechterhaltene Duldungen genannt.1 Auch die Behörden tragen ihren Teil zu dieser Angst bei, indem sie Personen aus bestimmten Ländern immer seltener einen Flüchtlingsschutz zusprechen, obwohl die Bedrohungslage dort unverändert ist (PRO ASYL 2017, o. S.). Auch schleppend verlaufene Familienzusammenführungen und die Unterbringung in Sammelunterkünften können neue Belastungen erzeugen. Nicht zuletzt zeichnet sich das gesellschaftliche Klima neben solidarischen Impulsen aus der Zivilgesellschaft auch durch einen signifikanten Anstieg rechtsextremer Gewalttaten auf Geflüchtete, ihre Unterkünfte und ihre Unterstützer/innen aus (Reuters Nachrichtenagentur 2017, o. S.). Unter dem Druck, der von all diesen Stressfaktoren auf das Individuum ausgeht, brechen die Betroffenen häufig zusammen. Sie „dekompensieren“ – ihre psychische Folgeerkrankungen werden also erst jetzt, angesichts des erhöhten Drucks sichtbar. Die komplexe Lage, in der sich Geflüchtete befinden, bedarf eines spezialisierten Behandlungskonzepts. Die Angebote der gesundheitlichen Regelversorgung werden dieser Situation häufig nicht gerecht. Was für ein psychologisches Gutachten nötig ist, damit es im Asylverfahren Anerkennung findet, ist bei den Fachkräften der Regelversorgung selten bekannt, genauso wenig wie asylrechtliche Fragestellungen, die den Alltag der Patient/innen maßgeblich prägen. Viele Praxen und Kliniken scheuen Finanzierungshindernisse (etwa durch das Asylbewerberleistungsgesetz – AsylbLG – oder aufgrund von Dolmetschendenkosten, siehe dazu auch den Abschnitt „Politische Forderungen“ unten) und den damit verbundenen bürokratischen Aufwand. Geflüchtete sind daher nicht immer willkommen. Nicht zuletzt ist das deutsche Gesundheitswesen auf westliche Krankheitskonzepte fokussiert. Eine kultursensible Behandlung beachtet den Umstand, dass in anderen Kulturen anders mit Leid und Schmerz umgegangen wird – insbesondere psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel oder Magenschmerzen spielen in soziozentrierten Gesellschaften eine weitaus größere Rolle (Kostoula 2011, S. 4). All dies machte es erforderlich, auch in Niedersachsen ein Psychosoziales Zentrum zu gründen, das sich explizit auf Flüchtlinge und Folteropfer spezialisiert.

1Im

Jahr 2016 lebten in Deutschland etwa 41.000 Menschen seit mehr als acht Jahren mit einer Duldung. Davon hielten sich 24.000 sogar seit mehr als 15 Jahren im Bundesgebiet auf (Reinsch 2016, o. S.). In dieser Extremform werden für die Betroffenen Passivität und Ohnmacht vor behördlicher Weisungsbefugnis zum Alltag. Eine gesetzlich festgeschriebene Höchstdauer der Duldung könnte diesem ins Unendliche perpetuierten Schwebezustand ein Ende bereiten.

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Für diese Gruppe „bedarf es eines multi-disziplinären Behandlungskonzeptes, das psychotherapeutische, medizinische, sozial-arbeiterische sowie aufenthaltsrechtliche und integrative Angebote mit einschließt“ (Böttche et al. 2016, S. 1140).

2 Die Entstehung des ersten Psychosozialen Zentrums in Niedersachsen Erste Überlegungen zur Gründung eines Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge und Folteropfer lassen sich in die 90er-Jahre datieren. Damals kamen während des Jugoslawienkriegs 350.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina (Grimmer 2015) nach Deutschland, die nach dem Friedensvertrag von Dayton 1995 aufgefordert wurden, in ihre Heimat zurückzukehren. Im Kontext zunehmender rechter Umtriebe und Übergriffe war zudem 1993 das im Grundgesetz verankerte Asylrecht eingeschränkt und das AsylbLG eingeführt worden, das u. a. die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen auf die Behandlung von schmerzhaften und akuten Erkrankungen einschränkte. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York wurde die politische Diskussion zunehmend von Sicherheits- und Ordnungsaspekten geprägt. Bundesweit waren diese Auswirkungen zu spüren und viele Gruppen und Initiativen versuchten, die humanitären Gesichtspunkte wieder in den Vordergrund zu rücken. Ärzt/innen, Anwält/innen, Flüchtlingsinitiativen und Verbände forderten ein Bleiberecht für diese Personen und den Zugang zur Behandlung. Die Behörden unterstellten schon damals, dass die psychische Erkrankung häufig als letztes Mittel vorgetäuscht werde, um eine Abschiebung zu verhindern – ein Vorwurf, dem sich behandelnde Fachkräfte bis heute ausgesetzt sehen.2 Den Ärzt/innen wurde pauschal Komplizentum unterstellt, der Begriff des „Gefälligkeitsgutachten“ tauchte auf. Ihrerseits versuchten die Behörden Ärzte zu finden, die bei Abschiebungen Reisefähigkeit bescheinigten und Begleitung nach Behördenvorgaben durchführten. Es handelt sich dabei teils um fachfremde Ärzte wie etwa Orthopäden. Immer wieder

2Bundesinnenminister

Thomas De Maizière sagte der Rheinischen Post am 16. Juni 2016: „Es werden immer noch zu viele Atteste von Ärzten ausgestellt, wo es keine echten gesundheitlichen Abschiebehindernisse gibt. Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden“ (Bröcker und Quadbeck 2016). Das Innenministerium musste später einräumen, dass diese Zahlen statistisch nicht gedeckt waren (Bulka 2016, o. S.).

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setzen sich diese über alle vorliegenden psychiatrischen Vorbefunde hinweg. Es ist bislang nur vereinzelt gelungen, gerichtlich gegen diese Praxis vorzugehen. Der Weltärztebund bezog 1998 Stellung zu den ethischen Verpflichtungen von Ärzten im Umgang mit Flüchtlingen. Eine Projektgruppe von Fachärzt/innen und Psychotherapeut/innen um Hans-Wolfgang Gierlichs entwickelte Standards zur Begutachtung reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren und ein Curriculum zur Ausbildung von qualifizierten Gutachter/innen. Sie führten Verhandlungen mit der Arbeitsgruppe „Rückführung“ der Innenministerkonferenz, wobei ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen ausgehandelt, aber nie umgesetzt wurde (Gierlichs 2003, A-2198). Der Weltärztebund sowie mehrere Deutsche Ärztetage beschäftigten sich mit den Einschränkungen der Gesundheitsversorgung bei Flüchtlingen und fassten dazu Beschlüsse, die sich etwa gegen die Verabreichung von Beruhigungsmitteln wandten, wenn diese ohne medizinische Indikation erfolgt und ausschließlich vollzogen wird, um Probleme bei der Durchführung der Abschiebung zu vermeiden (World Medical Association 1998). In Niedersachsen nahmen sich parallel viele Gruppen und Organisationen der Thematik an. Eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Behandlungssituation zeigte, dass es große Sprachprobleme gab, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch zwischen Ärzt/innen, Psychotherapeut/innen und Anwält/innen. Dabei gab es immer zwei Schwerpunkte, die auch heute noch unsere Arbeit erschweren: zum einen das aufenthaltsrechtliche Verfahren mit der Notwendigkeit, Atteste und Bescheinigungen zu erstellen, die gerichtsverwertbar sind. Zum anderen die leistungsrechtlichen Barrieren auf dem Weg zur notwendigen Behandlung psychischer Trauma-Folgestörungen. Es kristallisierte sich heraus, dass nur ein interdisziplinärer Ansatz sinnvoll sein würde, der Ärzt/innen, Psychotherapeut/ innen, Menschenrechtler/innen, Flüchtlingsinitiativen und Jurist/innen einbeziehen musste. Auf der Suche nach Mitstreiter/innen und Finanzierung bildete sich ein Netz von Akteuren. Dazu zählten die Ärztekammer Niedersachsen, Amnesty International, das Asklepios Fachklinikum Göttingen (Schwerpunkt Kulturen, Migration, psychische Krankheit), die Caritasverbände für die Diözesen Hildesheim und Osnabrück, der Flüchtlingsrat Niedersachsen, IPPNW – Ärzte in sozialer Verantwortung, die KRH Psychotherapie Wunstorf, die Medizinische Hochschule Hannover (Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie), die Psychotherapeutenkammer Niedersachsen sowie das Zentrum für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen. Ziel war die Schaffung eines Psychosozialen Zentrums in Hannover und die Vermittlung von traumatisierten Flüchtlingen in Therapie. Dazu mussten Psychotherapeut/innen und Dolmetschende gewonnen werden, möglichst landesweit.

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Ab 2001 konnte der Flüchtlingsrat Mittel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF) und von der UNO-Flüchtlingshilfe akquirieren. Im Rahmen des Projektes SPuK („Sprache und Kultur: Grundlagen für eine effektive Gesundheitsversorgung“) konnte das Netzwerk mit einer Personalstelle in einem Raum des Flüchtlingsrats mit der Vermittlung von Patient/innen beginnen. Daneben veranstaltete es zusammen mit dem Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen (VNB), der Universität Osnabrück, dem Niedersächsischen Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben und dem Caritasverband Osnabrück Befragungen und Symposien. Die Ergebnisse wurden in zwei Dokumentationen festgehalten: „Defizite in der Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge“3 und „Gesundheit von Flüchtlingen – zwischen Staatsinteresse und Patientenwohl“.4 Diese griffen auf knapp fünfhundert Seiten verschiedenste Aspekte der Behandlung von Geflüchteten auf, die von sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen bis hin zu divergierenden Traumakonzepten in nicht-europäischen Ländern reichten. Im Mai 2005 konnte der damalige Ministerpräsident Christian Wulff als Schirmherr des Netzwerks gewonnen werden. Finanzielle Unterstützung vom Land oder die Eröffnung eines eigenen Psychosozialen Zentrums waren deswegen aber nicht in Sicht. Das Netzwerk wuchs zu einem breiten Bündnis heran. Bald wurde klar, dass es nicht weiter nur als Projekt des Flüchtlingsrats geführt werden konnte. Um auf dem Weg zu einem Psychosozialen Zentrum in Hannover einen Schritt weiter zu gehen, mussten das Netzwerk und seine Anliegen deutlich sichtbarer werden. 2007 wurde schließlich ein eigenständiger Verein unter dem Namen Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. (NTFN) gegründet. Erst mit Antritt der Rot-Grünen Landesregierung 2013 gab es den politischen Willen, ein Psychosoziales Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen auch finanziell zu unterstützen. Das NTFN konnte Räume in Hannover anmieten und das nötige Personal einstellen, die damalige niedersächsische Sozialministerin Cornelia Rundt wurde zur neuen Schirmherrin. Zum ersten Mal konnte das Netzwerk auch mit eigenem Personal Hilfesuchende behandeln.

3Zeitschrift

für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Sonderheft 89/90, November 2002. http://www.behandeln-statt-verwalten.de/fileadmin/user_upload/pdfs/fluechtlingsrat_89_90.pdf. Zugegriffen: 15. November 2018. 4Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Sonderheft 99, September 2004. http:// www.behandeln-statt-verwalten.de/fileadmin/user_upload/pdfs/fluechtlingsrat_99.pdf. Zugegriffen: 15. November 2018.

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3 Das Angebot Der Verein mit Sitz in Hannover fungiert als zentrale Anlaufstelle für die psychotherapeutische Behandlung von Geflüchteten und Folteropfern und verfolgt dabei einen niedersachsenweiten Auftrag. Das therapeutische Angebot setzt sich neben Einzeltherapien aus diversen Gruppenangeboten zusammen, darunter eine Elterngruppe, eine Frauengruppe sowie Entspannungs- und Stabilisierungsgruppen. Auch ein Krisentelefon für dringende Fälle ist eingerichtet. Über eine offene Sprechstunde können Geflüchtete ohne vorherige Ankündigung ein therapeutisches Gespräch führen. Das Team besteht aus Psychotherapeut/innen, Psycholog/ innen, Sozialpädagog/innen, und einem Facharzt für Psychosomatik. Nicht nur als Anbieter eigener therapeutischer Angebote tritt das NTFN in Erscheinung, sondern als koordinierende Kraft für ganz Niedersachsen. So vermittelt es Betroffene in die Regelversorgung und an praktizierende Therapeut/innen in Wohnnähe der Patient/innen. Um eine flächendeckende Versorgung gewährleisten zu können, arbeitet der Verein mit hauptamtlichen und ehrenamtlichen Therapeut/innen im gesamten Bundesland zusammen. Angestellte des NTFN koordinieren zudem den Einsatz von Sprachmittelnden und übernehmen die teils langwierigen Beantragungsprozeduren für Psychotherapien bei Sozialämtern und Krankenkassen. So wird der Weg in die Regelversorgung für Patient/innen wie für Fachkräfte vereinfacht. Neben der psychosozialen und psychotherapeutischen Begleitung gehört auch das Verfassen von Stellungnahmen und Gutachten zu den Aufgaben der behandelnden Fachkräfte. Durch eine großzügige Förderung des Landes Niedersachsen konnte im Mai 2017 das Projekt refuKey gestartet werden. Dieses setzt sich zum Ziel, den Ausbau von regionalen Strukturen zur Versorgung traumatisierter Flüchtlinge voranzutreiben. Gerade in einem Flächenland wie Niedersachsen ist das von großer Bedeutung. Im Zuge des Projekts wurden weitere NTFN-Standorte in Braunschweig, Göttingen, Osnabrück, Oldenburg, Cuxhaven, Bremerhaven und Lüneburg geschaffen. Dadurch können auch im ländlichen Raum untergebrachte Flüchtlinge zeitnah Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Vier dieser Standorte bilden zusammen mit einer örtlichen psychiatrischen Klinik ein sogenanntes Kooperatives Kompetenzzentrum. Damit wird ein bedarfsgerechter Übergang zwischen Klinik und Psychosozialem Zentrum für die Patient/innen erleichtert, gleichzeitig wird die transkulturelle Kompetenz in der Regelversorgung ausgebaut. Infolgedessen verbessert sich die medizinische Qualität der Behandlung. Dieses Pilotprojekt, das gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) entsteht, hat eine

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Laufzeit bis April 2019 und ist in dieser Form einzigartig in Deutschland. Eine begleitende Evaluation wird Erkenntnisse über dieses Modell liefern, die über Niedersachsen hinaus von Relevanz sein können. Im Jahr 2017 wurden Menschen mit etwa 27 verschiedenen Sprachen aus 44 Herkunftsländern durch das NTFN betreut. Wie im Vorjahr kamen die meisten Patient/innen aus Afghanistan, gefolgt von Syrien und Irak. 2015 kamen die meisten Patient/innen des NTFN noch aus den Balkanstaaten, vor Syrien und Afghanistan. In den vergangenen Jahren ist ein kontinuierlicher und deutlicher Anstieg der Behandlungszahlen im NTFN zu verzeichnen. Sie stiegen von insgesamt 414 Personen im Jahr 2014 um beinahe das Doppelte auf 758 Personen im Jahr 2015. Im Folgejahr 2016 waren es 917 Personen, im Jahr 2017 bereits 1449 Personen (NTFN 2015, S. 1, 2016, S. 9, 2017, S. 3, 2018, S. 20). Damit haben sich die Behandlungszahlen binnen zwei Jahre fast verdoppelt. In Anbetracht der deutlich gestiegenen Zugangszahlen nach Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 wird die Nachfrage auch weiterhin steigen. Es ist abzusehen, dass die bestehenden Kapazitäten diesen Bedarf nicht decken werden. Das derzeitige Angebot muss daher konsolidiert und weiter ausgebaut werden, um den Versorgungsengpass nicht noch weiter zu verschärfen.

4 Politische Forderungen Wie bereits geschildert, löste sich das NTFN als eigenständige und unabhängige Institution aus den Strukturen des Flüchtlingsrats Niedersachsen. Dies geschah auch, um die nötige Neutralität zu gewährleisten, die im Gesundheitswesen und bei der Behandlung von Patient/innen notwendig ist, etwa beim Verfassen psychologischer Stellungnahmen. Nichtsdestotrotz bewegt sich die Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten nicht in einem apolitischen Raum. Asylrechtliche Rahmenbedingungen, die das Leben von Geflüchteten beeinflussen, können nicht losgelöst von ihrem gesundheitlichen Zustand betrachtet werden. Im Gegenteil: Die Rahmenbedingungen und deren Folgen können vorhandene Beschwerden verschlimmern oder sogar initial auslösen. Wie eingangs gezeigt, belegen verschiedene Studien die Korrelation zwischen dem sozialen und rechtlichen Status als „Flüchtling“ und der psychischen Gesundheit. Aus diesem Grund bezieht das NTFN regelmäßig zu politischen Entwicklungen Stellung, wenn diese das Leben ihrer Patient/innen maßgeblich beeinträchtigen und damit ein Risiko für ihren Gesundheitszustand darstellen. Etwa, als im April 2016 die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte

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beschlossen wurde. Gemeinsam mit Menschenrechts- und Ärzteorganisationen hat sich das NTFN gegen Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen. Ebenso kritisiert es den schleppenden Prozess der Familienzusammenführung, der selbst bei anerkanntem gesetzlichem Anspruch vier bis fünf Jahre dauern kann (Flüchtlingsrat Niedersachsen 2016, o. S.). Mit den Folgen dieser politischen Entscheidungen und behördlichen Prozesse sind Behandler/innen im Praxisalltag regelmäßig konfrontiert – etwa, wenn ein Patient nach jahrelanger Trennung von seiner Familie eine depressive Erkrankung entwickelt. Oder wenn sich die traumabedingten Schlafstörungen eines afghanischen Patienten verschlimmern, weil er befürchten muss, nachts aus seinem Bett geholt und in ein Bürgerkriegsland abgeschoben zu werden. Zu solchen Entwicklungen kann sich eine neutral behandelnde Institution wie das NTFN nicht neutral verhalten, da mit ihnen das Patient/innenwohl massiv gefährdet ist. Andere politische Entscheidungen wirken sich direkt auf die Behandlungsmöglichkeiten eines Psychosozialen Zentrums aus. Dazu zählt insbesondere das Asylbewerberleistungsgesetz. In den ersten fünfzehn Monaten, in denen Geflüchtete sich in Deutschland aufhalten, übernimmt das Sozialamt die Kosten der gesundheitlichen Versorgung. Erst nach Ablauf der fünfzehn Monate erhalten Betroffene eine elektronische Gesundheitskarte, die Abrechnung erfolgt über die Krankenkassen. Bis dahin können verschiedene Leistungen vom Sozialamt vorenthalten werden, darunter etwa Psychotherapien. Diese werden mit Hinweis auf § 4 AsylbLG häufig abgelehnt, nach dem ausschließlich Leistungen „[z]ur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2017) gewährt werden. Aber auch andere notwendige Untersuchungen werden in diesen ersten fünfzehn Monaten verwehrt, wie ein Fall aus dem Psychosozialen Zentrum Hannover zeigt. Ein traumatisiertes Folteropfer aus Syrien klagte über anhaltende Kopfschmerzen. Die behandelnde Psychotherapeutin wollte mittels Magnetresonanztomografie (MRT) untersuchen lassen, ob es sich bei den Beschwerden um somatische oder psychosomatische Ursachen handelte, doch die Untersuchung wurde vom Sozialamt mit Hinweis auf § 4 AsylbLG abgelehnt. Der Patient musste warten, bis die fünfzehn Monate abgelaufen waren und der Übertritt in die Krankenkasse erfolgte, um die für die Behandlung richtungsweisende Untersuchung durchführen zu lassen. Das Asylbewerberleistungsgesetz erschwert auf diese Weise die Behandlung von Patient/innen. Es verletzt darüber hinaus die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU, die gesonderte Rechte für besonders schutzbedürftige Personen einräumt. Berücksichtigt wird die spezielle Situation von

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Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien (Amtsblatt der Europäischen Union 2013, S. 106).

Art. 21 der EU-Aufnahmerichtlinie legt fest, dass besonders schutzbedürftige Personen Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenkassen haben (Frings 2017, S. 104 f.). Das Asylbewerberleistungsgesetz steht jedoch mit dieser Richtlinie in deutlichem Widerspruch. Auch die Finanzierung von Dolmetschenden ist höchst problematisch geregelt und wird von den Krankenkassen nicht übernommen. Trotz entsprechender gesetzlicher Möglichkeiten im AsylbLG verweigern selbst manche Sozialämter immer wieder die Kostenerstattung. Es ist von traumatisierten Menschen nicht zu erwarten, innerhalb weniger Monate (oder auch Jahre) deutsche Sprachkenntnisse auf einem Niveau zu erwerben, das eine nuancierte Mitteilung ihrer Erlebnisse und Gefühle zulässt. Gleichzeitig verfügen nur wenige behandelnde Fachkräfte über Sprachkenntnisse in den für die Zielgruppe relevanten Sprachen, wie etwa Arabisch, Kurdisch oder Persisch. Freunde oder Verwandte der Patient/innen als Dolmetschende zu bemühen, widerspricht dem Verständnis einer professionellen psychotherapeutischen Behandlung. Daher sind insbesondere sprachgestützte Therapien auf eine Sprachmittlung angewiesen. Ohne sie kann eine Behandlung in der Regel nicht begonnen werden. Das NTFN tritt dafür ein, dass Dolmetscherleistungen als Bestandteil der Behandlungskosten von Sozialämtern und Krankenkassen übernommen werden.

5 Ausblick Im August 2017 konnte das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen auf sein zehnjähriges Bestehen zurückblicken. Das vertrauensvolle Verhältnis, das sich der Verein in den vergangenen Jahren auch bei Politik und Behörden erarbeitet hat, zeigte sich nicht zuletzt an den Grußredner/innen der Fachtagung anlässlich dieses Jubiläums. Zu diesen zählten neben der niedersächsischen Sozialministerin und NTFN-Schirmherrin Cornelia Rundt (SPD) auch die damalige Vorsitzende der Landtagskommission zu Fragen der Migration und Teilhabe Filiz Polat (Bündnis 90/Die Grünen) und der Präsident der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen Jens Grote. Auch wenn die Zugangszahlen von

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Flüchtlingen nach Deutschland aufgrund der europäischen Abschottungspolitik spürbar gesunken sind, kann von einer Entspannung der Situation aus Sicht der Psychosozialen Zentren nicht gesprochen werden. Wie die bereits dargestellten Statistiken belegen, ist der Zulauf zu psychotherapeutischen Angeboten in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und wird weiter steigen. Nicht jede und jeder Geflüchtete sucht gleich nach der Ankunft psychosoziale Hilfe auf – neben Unkenntnis über das Vorhandensein eines solchen Angebots und kulturbedingten Zugangsbarrieren wird nicht zuletzt der zermürbende Prozess des Asylverfahrens dazu führen, dass Geflüchtete erst in den nächsten Jahren den Weg zu uns finden werden. Dieser Mehrbelastung muss mit finanzieller Ausstattung der psychosozialen Angebote, mit der Förderung migrantischer Fachkräfte und einer unbürokratischen Kostenübernahmeregelung für Psychotherapien und Dolmetschende begegnet werden. In dieser Hinsicht sind noch einige Anstrengungen seitens der Politik nötig. Mit dem Ausbau flächendeckender Angebote und einer dementsprechenden Verbesserung der Versorgungslage ist jedoch ein wichtiger Schritt getan worden. Dass ein psychosoziales Angebot für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer in Niedersachsen notwendig ist, scheint weitestgehend ein parteiübergreifender Konsens zu werden. Bei der Gründung des NTFN im Jahr 2007 schien diese Aussage noch in weiter Ferne. Dennoch blickt das NTFN auch mit Sorge auf den erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, der in Form von gewalttätigen Angriffen und gesellschaftlicher Stimmungsmache das Wohl ihrer Patient/innen bedroht. Mit dem Einzug der AfD in die Parlamente wird auch die Finanzierung notwendiger Angebote der Flüchtlingssozialarbeit wieder infrage gestellt. Dies zeigt nicht zuletzt ein Antrag der AfD-Ratsfraktion Hannover. Sie begründete ihre Forderung nach einer drastischen Etat-Kürzung des Ethno-Medizinischen Zentrums (einer Einrichtung zur Integration von Migrantinnen und Migranten in das Gesundheitssystem, mit der das NTFN eng zusammenarbeitet) mit den Worten, dass eine „Sonderförderung von bestimmten ethnischen Gruppen im Gesundheitswesen […] nicht sozial gerechtfertigt“ sei (AfD-Ratsfraktion 2017, o. S.). Solchen Argumentationsmustern ist konsequent entgegen zu treten, um auch in Zukunft die Versorgung traumatisierter Flüchtlinge in Niedersachsen nicht zu gefährden.

Literatur Alternative für Deutschland (AfD), Ratsfraktion Hannover (2017). Haushaltsplan 2017/2018. Änderungsantrag gemäß § 34 der GO des Rates der LHH zur DS1685/2016. https://www.afd-fraktion-hannover.de/images/Haushaltsantraege/EthnoMedZentrum. pdf. Zugegriffen: 11. Oktober 2017.

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Bogic, M., Ajdukovic, D., Bremner, S., Franciskovic, T., Galeazzi, G. M., Kucukalic, A., Lecic-Tosevski, D., Morina, N., Popovski, M., Schützwohl, M., Wang, D., & Priebe, S. (2012). Factors associated with mental disorders in long-settled war refugees: refugees from the former Yugoslavia in Germany, Italy and the UK. The British Journal of Psychiatry 200(3), 216–223. Böttche, M., Stammel, N., & Knaevelsrud, C. (2016). Psychotherapeutische Versorgung traumatisierter geflüchteter Menschen in Deutschland. Der Nervenarzt 87(11), 1136– 1143. Bröcker, M., & Quadbeck, E. (16. Juni 2016). Mit Hilfspolizisten gegen Einbrecher. Minister de Maizière im Interview. Rheinische Post online vom 16. Juni. http://www. rp-online.de/politik/deutschland/thomas-de-maiziere-wachpolizei-soll-einbrueche-verhindern-aid-1.6051826. Zugegriffen: 22. März 2018. Bulka, H. (18. Juni 2016). Zahlen zu Flüchtlings-Attesten. Innenminister de Maizière gibt Fehler zu. Rheinische Post online vom 18. Juni 2016. http://www.rp-online.de/politik/ deutschland/berlin/atteste-fuer-fluechtlinge-innenminister-thomas-de-maiziere-gibt-fehler-zu-aid-1.6058530. Zugegriffen: 15. Oktober 2017. Flüchtlingsrat Niedersachsen (29. Januar 2016). Beschränkung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz. Pressemitteilung vom 29. Januar 2016. http:// www.nds-fluerat.org/18460/pressemitteilungen/keine-beschraenkung-des-familiennachzug-fuer-fluechtlinge-mit-subsidiaerem-schutz/. Zugegriffen: 15. Oktober 2017. Frings, D. (2017). Flüchtlinge als Rechtssubjekte oder als Objekte gesonderter Rechte. In C. Ghaderi & T. Eppenstein (Hrsg.), Flüchtlinge: multiperspektivische Zugänge (S. 95–112). Wiesbaden: Springer VS. Gerlach, C., & Pietrowsky, R. (2012). Trauma und Aufenthaltsstatus: Einfluss eines unsicheren Aufenthaltsstatus auf die Traumasymptomatik bei Flüchtlingen. Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin 33(1), 5–19. Gierlichs, H. W. (2003). Konflikt mit ärztlich-ethischen Belangen. Begutachtung psychotraumatisierter Flüchtlinge. Deutsches Ärzteblatt 100(34–35), A2198–A2199. https:// www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=38151. Zugegriffen: 14. November 2018. Grimmer, C. (11. September 2015). Da war doch was? Die 90er in Deutschland. Beitrag des Bayerischen Rundfunks vom 11. September 2015. https://www.br.de/nachricht/ fluechtlinge-rueckblick-kosovo-balkan-100.html. Zugegriffen: 21. August 2018. Kostoula, O. (2011). Trauma und posttraumatische Belastungsstörung unter kulturtheoretischer Betrachtung. Journal für Psychologie, 19(3). https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/download/87/33. Zugegriffen: 15. Oktober 2017. Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN) (2015). Sachbericht 2014. https://www.ntfn.de/wp-content/uploads/2013/06/PSZ-Bericht-13-14.pdf. Zugegriffen: 15. Oktober 2017. Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN) (2016). Sachbericht 2015. https://www.ntfn.de/wp-content/uploads/2013/06/Jahresrückblick_Reader.pdf. Zugegriffen: 15. Oktober 2017. Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V. (NTFN) (2017). Sachbericht 2016. https://www.ntfn.de/wp-content/uploads/2016/12/NTFN-Sachbericht-2016_endg%C3%BCltig-final-04april.pdf. Zugegriffen: 15. Oktober 2017.

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Armin Wühle  studierte am Literaturinstitut der Universität Hildesheim sowie am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Er ist seit 2017 im Projekt „refuKey“ beschäftigt, einem Projekt des NTFN in Kooperation mit der DGPPN und verfasste seine Master-Abschlussarbeit zur Situation traumatisierter Geflüchteter in Niedersachsen. Gisela Penteker,  Dr.′in med., ist Fachärztin für Allgemeinmedizin im Ruhestand. Sie ist seit dem Jugoslawienkrieg ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit tätig und war bis 2017 im Vorstand des niedersächsischen Flüchtlingsrats. Sie ist zudem Gründungsmitglied und im Vorstand des NTFN.

Teil III Fluchtverhältnisse III – Teilhabe und Bildung

Bildung schafft Integration? – Dilemmata bildungspolitischer und pädagogischer Herausforderungen von Fluchtverhältnissen Tatjana Freytag Zusammenfassung

In politischen und pädagogischen Kontexten zu Flucht und dem Umgang mit Geflüchteten wird oft die Gleichung angeboten „Bildung schafft Integration“. Welche Dilemmata mit dieser Formel verbunden sind, wird in diesem Beitrag reflektiert. Darüber hinaus geht er der Bedeutung von struktureller Desintegration als Folge von Modernisierung nach. Noch nie haben die Vereinten Nationen so viele flüchtende Menschen verzeichnen müssen wie in den letzten Jahren. Mit zunehmenden Fluchtbewegungen entsteht in den Aufnahmeländern Handlungsbedarf in diversen Bereichen des „Absorptionsprozesses“ der Newcomer. In diesem Zusammenhang erhält der schillernde Begriff der Integration eine spezifische Relevanz und wirft gesamtgesellschaftliche Fragen auf. Die Bewältigung der von diesen Fragen aufgeworfenen Probleme hat auf den politischen und institutionell-organisationalen Ebenen Folgen und wirkt sich vor allem auf die Handlungsfelder des Sozialen sowie der Erziehung und Bildung aus. Fluchtverhältnisse sind auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu betrachten. Um ihre Ursachen und ihre Auswirkungen zu begreifen, um Handlungsoptionen zu schaffen und zu verstehen, wo subjektive bzw. systembedingte Grenzen wirken, ist ein multiperspektivischer Blick unerlässlich. Flucht hat verschiedene ­Ursachen (Kriege, Verfolgung, Naturkatastrophen, Staatszerfall, Hoffnung auf ein ­besseres

T. Freytag ()  Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_9

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Leben) und lässt sich nicht als monolithisches, in eine Richtung gehendes Phänomen beschreiben. Und trotzdem liegen fast allen Fluchtursachen sich weltgesellschaftlich verschärfende Ungleichheitsverhältnisse zugrunde, die sich auf Einkommen, Zugänge, Vermögen und allgemeine Lebenschancen auswirken (vgl. Urban 2018, S. 103). Flucht bezieht sich auf die Länder und Regionen, aus denen geflüchtet wird, und verändert auch diese. Ihre Auswirkungen rufen ebenso Strukturveränderungen in den Ländern hervor, die auf den Fluchtrouten liegen (Verwaltung, Abriegelung, Engagement und konkrete Unterstützung durch Aktivist*innen und Ehrenamtliche, Lager). Flüchtende Menschen werden aufgenommen, festgehalten, sozialisiert oder abgeschoben. Obwohl Flucht mit Bewegung assoziiert wird, ist sie zumeist unfreiwillig immobil. Auch die subjektiven Ebenen werden von Fluchtverhältnissen affiziert. Verhältnisse zu Geflüchteten (Angst, Offenheit, Konkurrenz, Gewalt, Identität etc.), Verhältnisse der Geflüchteten untereinander, Selbstverhältnisse von Geflüchteten (Zutrauen, Ohnmacht, Gestaltungswille, Trauma, Identität), Selbstverhältnisse von Menschen im Aufnahmeland (Angst, Zugehörigkeit, Solidarität, Identität etc.) – all diese Affekte, Gefühle, Befindlichkeiten und kognitiven Ausrichtungen generieren ein komplexes Wechselspiel sozialer Interaktion, bei dem Sozialisiertes und Angeeignetes, Traditionelles und Gewohntes, zugleich aber auch Neugier, Zugang zum Unvorhersehbaren, Auseinandersetzung mit Krisensituationen und genuine Hilfsbereitschaft ineinander greifen mögen. Ende des Jahres 2018 verhandelt die deutsche Politik über Obergrenzen von Geflüchteten, über „atmende Deckel“, Kontingente, Aufnahmekapazitäten und Belastungsgrenzen des deutschen Staates. Dabei werden, so hat es oftmals den Anschein, die Menschen, die von Flucht betroffen sind, Geflüchtete und in der Flüchtlingsarbeit ehrenamtlich und professionell Tätige, instrumentalisiert für Positionskämpfe zwischen und innerhalb der politischen Lager, die wenig hilfreich sind für die Auseinandersetzung mit akuten Handlungsbedarfen und diffizilen Problemkonstellationen, die sich auf besagten Ebenen gebildet haben. Besonders soziale und pädagogische Kontexte, die am Ende der Kette von komplexen globalen Geschehen stehen und die sich zumeist sehr konkret mit dem einzelnen Menschen zu befassen haben, sehen sich vor Herausforderungen gestellt, die sicherlich nicht einfach mit der oft zitierten Gleichung „Bildung = Integration“ (BMBF 2017) zu beantworten sind, eine Gleichung, die allzu leichtfertig, zumeist floskelhaft immer wieder eingesetzt wird. Welche Problemlagen in dieser Gleichung stecken, ist Gegenstand dieses Beitrags.

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1 Bildung und Integration Um es vorab klarzustellen: Es soll hier nicht einem Bildungsbashing das Wort geredet werden, denn es ist ja klar, dass auch Bildung einen (sozialen) Kontext hat, vor allem aber auch nicht vor heteronomer Ideologisierung gefeit ist. Und doch lässt sich im hier erörterten Zusammenhang feststellen, dass nach wie vor eine verklärte Aufladung des Bildungsbegriffes, mit dem gearbeitet wird, besteht, um ein Mittel der Integration anbieten zu können, für das sich individuelle Anstrengung doch lohnt. Unbestritten ist, dass eine Verbesserung der Bildungschancen, Bildungsbeteiligung und Bildungserfolge für alle ein gesamtgesellschaftliches Ziel darstellen sollte. Aber wie kann es sein, dass diese Zielvorgabe, besonders auch in politischen Debatten, sich immer wieder mit Versprechen auflädt, durch Bildung Integration und Gerechtigkeit zu fördern, Versprechen, die weder historisch noch gegenwärtig sich mit bzw. durch Bildung realisiert haben? Ganz im Gegenteil lässt sich behaupten, dass es auch Bildung, und hier besonders Bildungssysteme waren und sind, die Ungleichheit produziert haben und weiterhin produzieren. Der Begriff der Bildung weist von Anbeginn eine gewisse Ambivalenz in sich auf. Zum einen verdankte er sich dem fortschrittsgläubigen Aufklärungspathos und verstand sich durchaus als Mittel der „Verbesserung des Menschen“ (hier auch schon exklusiv vor allem des bürgerlichen, weißen, männlichen Menschen), wobei er aber auch praktisch dem Analphabetismus und der vernunftfernen Dumpfheit entgegenzuwirken trachtete. Bildung sollte zur Steigerung geistiger wie kultureller Potenziale des Menschen beitragen. Zum anderen erwies sich aber Bildung auch bald genug – gerade in der Zeit der Aufklärung und in ihrer Folge – als probates Medium der Verfestigung herrschaftlicher Ansprüche und klassen- bzw. schichtbedingter Divergenzen. Dies kommt nicht zuletzt mit dem zur Parole des deutschen Bürgertums geronnenen Diktums „Besitz und Bildung“ deutlich zum Ausdruck. Dass Bildung auch mit ökonomischen Machtverhältnissen etwas zu tun haben könnte, war der gebildeten Schicht bereits in der Frühgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft zumindest vorbewusst gewärtig. Gleiche Bildungschancen für alle gelten als Schlüssel für Integration und drücken auch das Selbstverständnis einer demokratisch verfassten Gesellschaft aus. Diese herausragende Bedeutung von Bildung für die Lebensperspektiven junger Menschen gewinnt mit Blick auf die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund und sogenannten bildungsfernen Milieus noch zusätzlich an Gewicht. Für sie spielt der Erwerb schulischer und beruflicher Bildungsqualifikationen eine Schlüsselrolle im sozialen Integrationsprozess.

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Nur über Bildungsabschlüsse können sie langfristig gesellschaftlich anerkannte Positionen einnehmen (auch wenn ein sozialer Aufstieg objektiv immer schwerer geworden ist und Bildung längst keine Garantie mehr dafür darstellt). Doch verschiedene Studien (PISA, IGLU, OECD) weisen seit längerer Zeit schon auf erhebliche Vernachlässigungen dieser Gruppen durch das deutsche Bildungssystem hin. Schule nimmt Selektions- und Allokationsfunktionen wahr, platziert mithin junge Menschen auf der Basis von individuellen Leistungen im gesellschaftlichen Ganzen. An sich betrachtet, lässt sich nichts dagegen einwenden, insofern dies ja in einem vom Leistungsprinzip beherrschten sozialen Gefüge geschieht. Leistung ist hier allerdings eine ideologische Vorgabe. Das Problem besteht nur darin, dass Ungleichheiten und Benachteiligungsstrukturen dabei nicht berücksichtigt werden. Schon darin ist im Hinblick auf den Integrationsanspruch ein gravierendes Hindernis gestellt. Bildungsgerechtigkeit müsste sich also mit individualisierten Förderprogrammen auseinandersetzen, die es schaffen, alle Kinder und Jugendlichen so zu unterstützen und zu begleiten, dass niemand dabei ‚auf der Strecke bleibt‘. Das kann nur mit Strukturveränderungen der Bildungsinstitutionen gelingen, die sich ihrerseits auf einem umfassenden diskursiven Selbstverständigungsprozess der Gesellschaft, was Schule überhaupt leisten soll, zu stützen hätte. Bündig formuliert sich diese Einsicht bei Astrid Messerschmidt, die mit Bezug auf Erving Goffman schreibt: „Wenn das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Bildungsintegration bei faktischer struktureller Diskriminierung angesprochen werden kann, bieten sich Räume für kritische Interventionen. Solang aber Schule ein unproblematisches Selbstbild pflegt, verschließt sie sich den Wirklichkeiten ihrer Mitglieder, die dann tatsächlich zu Insassen werden, weil alles, was außerhalb der institutionellen Ordnung liegt, ignoriert werden kann.“ (Messerschmidt 2016, S. 176). Entsprechend gelangt sie zur Schlussfolgerung: „Wer von Diskriminierung nicht sprechen will, der sollte auch von Integration schweigen. Und wer von Diskriminierung spricht, untersucht nicht mehr Integrationsdefizite von Minderheiten, sondern konfrontiert sich mit deren Erfahrungen, diskriminiert zu werden.“ (Ebd., S. 175).

2 Integration und die Frage nach dem „common sense“ Mit die schwerste Hürde für Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund und flüchtenden bzw. vertriebenen Menschen besteht darin, dass Integration oftmals nur als Einbahnstraße verstanden wird, als eine Leistung, die diejenigen zu erbringen haben, die dazugekommen, also Newcomers sind. Dabei ist das, worin

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man sich zu integrieren hätte, mitnichten klar – was schon für die Gesellschaft ohne Massen von Dazugekommenen stimmt. Debatten um Leitkultur (vgl. de Maizière 2017), um die Anerkennung von der Geleichberechtigung von Mann und Frau und um christliche Werte skizzieren die vorgebliche Festigkeit eines homogenen Wertesystems als Anweisungsschema, das vorgibt „common sense“ zu sein1. Schon Alfred Schütz (1972, S. 53–69) hatte in seinem zum Klassiker avancierten Aufsatz „Der Fremde – Ein sozialpsychologischer Versuch“ darauf aufmerksam gemacht, dass Relevanzsysteme (im Sinne von Werte- und Wissenssystemen) der Abgrenzung zum Fremden dienen und festlegen, was die geltende Norm, also der „common sense“ zu sein hat. Dabei haben Relevanzsysteme gegenüber einem eng gefassten Kulturbegriff den Vorteil, dass sie nicht auf einer ethno-nationalen Folie gefasst, sondern lebensweltlich verstanden werden. Die von Schütz beschriebenen Relevanzsysteme sind demnach dadurch charakterisiert, dass sie inkohärent, nicht immer klar und auch nicht konsistent sind (ebd., S. 56 ff.); sie bilden keine feste Bezugsgröße für „Fremde“, sollen aber Normen und Standards aufweisen, die Neuankömmlinge anzunehmen haben. Doch wie soll ein ‚Denken-wie-üblich‘, ein ‚hier machen wir das so‘, etwas sein, worin man sich integrieren kann, wenn es für den, der diese Vorgaben anzunehmen hätte, unfassbar (vielleicht auch wesentlich fremd) bleibt? Schütz beschreibt dieses unkommunizierbare Relevanzsystem folgendermaßen: „Jedes Mitglied, das in der Gruppe geboren oder erzogen wurde, akzeptiert dieses fix-fertige standardisierte Schema kultureller und zivilisatorischer Muster, das ihm seine Vorfahren, Lehrer und Autoritäten als eine unbefragte und unbefragbare Anleitung für alle Situationen übermittelt haben, die normalerweise in der sozialen Welt vorkommen“ (ebd., S. 57). Das Wissen, das diesen kulturellen und zivilisatorischen Mustern entspricht, habe seine Evidenz in sich selbst – oder es werde vielmehr aus Mangel an gegenteiliger Evidenz fraglos hingenommen: „Es ist ein Wissen von vertrauten Rezepten, um damit die soziale Welt auszulegen und um mit Dingen und Menschen umzugehen, damit die besten Resultate in jeder Situation mit einem Minimum von Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen erlangt werden können“ (ebd., S. 58). Das Rezept erfüllt dabei eine Doppelfunktion: Es „fungiert einerseits als eine Vorschrift für Handlungen und dient daher als Anweisungsschema: wer immer ein bestimmtes Resultat erreichen will, muß so verfahren, wie es das Rezept, das für diesen speziellen Zweck gilt, angibt. Auf

1Dabei

ist nicht das Wissen von der gemeinsamen rechtsstaatlichen Grundlage des Grundgesetzes gemeint, die ja u. a. Gegenstand des sogenannten Orientierungskurses des Bamf für Zugewanderte ist (vgl. BAMF o. J.).

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der anderen Seite dient aber das Rezept als ein Auslegungsschema: wer immer so verfährt, wie es das spezifische Rezept anzeigt, zielt vermutlich auf das entsprechende Resultat.“ (Ebd.). Schütz folgert daraus: „Daher ist es die Funktion der Kultur- und Zivilisationsmuster, ermüdende Untersuchungen auszuschließen, indem es fertige Gebrauchsanweisung anbietet, um die schwer zu erreichende Wahrheit durch bequeme Wahrheiten zu ersetzen und um das Selbstverständliche mit dem Fragwürdigen zu vertauschen“ (ebd.). Diese, so Schütz, geraten bei dem Versuch des Übergangs von ihrem in ein anderes Relevanzsystems in eine Krise: Sehr häufig aber entspringt der Vorwurf der zweifelhaften Loyalität aus dem Erstaunen der Mitglieder der in-group, daß der Fremde nicht die Gesamtheit von deren Kultur- und Zivilisationsmuster als den natürlichen und angemessenen Lebensstil akzeptiert und als die beste aller für jedes Problem möglichen Lösungen. Der Fremde wird undankbar genannt, da er sich weigert anzuerkennen, daß die ihm angebotenen Kultur- und Zivilisationsmuster ihm Obdach und Schutz garantieren (Ebd., S. 69).

Das Problem liegt für Schütz bei denen, die das „Obdach“ vermeintlich gutwillig anbieten: „[…] die Leute, die das sagen, verstehen nicht, daß der Fremde im Übergangszustand diese Muster nicht als ein schützendes Obdach betrachtet, sondern als ein Labyrinth, in welchem er allen Sinn für seine Verhältnisse verloren hat“ (ebd.). Und was passiert mit den bedeutungslos gewordenen Relevanzsystemen der Neuankömmlinge? Wie umgehen mit den identitären Krisen, die von dem Gefühl ausgelöst werden, dass alles, was ich mitbringe, im neuen Kontext, in den ich hineingeraten bin, für andere kaum oder keine Bedeutung mehr, oder eine andere vermeintlich falsche, hat? Und wie sinnvoll ist es, angesichts eines prekären Aufenthaltsstatus bei allem, was dieser auch so schon an Schwierigkeiten und Problemen generiert, sprachliche etwa, dies abzuverlangen?

3 Strukturelle Fremdheit und die Konstruktion von Feinden Für Schütz ist der Fremde aus gruppensoziologischer Sicht jemand, „der von einer Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte“ (Schütz 1972, S. 53). Das kann für ihn schon der Fall beim Eintritt in eine andere Familie sein (beispielsweise durch Heirat). Begreift man Fremdheit als strukturelles Moment der modernen Gesellschaft, wie sie sich in

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der durch die Masse geförderten Anonymität, der vom Protestantismus religionsethisch und vom Liberalismus ideologisch postulierten Individualisierung sowie in der vom Kapitalismus etablierten Lohnarbeit artikuliert, und katalysiert sich dieses ontologische Merkmal im Zuge der Globalisierung und der ihr verschwisterten Postmoderne durch Verhandelbarkeit und Relativierung von Geschlecht, Religion, Zugehörigkeit, dann lässt sich behaupten, dass der unterstellte Angriff des/der Fremden auf die soziale Ordnung, auf das ‚Denken-wie-üblich‘, eine Chimäre sei, ein letztlich imaginierter Angriff auf die schon lange immanent aus den Fugen geratenen Moderne. Nicht durch Fremde geraten die Vorstellungen von Sozialität als Basis für Selbstverortung und Selbstverhältnis ins Wanken, vielmehr ist es die systemische Desintegration als Folge von Modernisierung. Armin Nassehi beschreibt diesen Effekt folgendermaßen: Ich möchte diesen Sachverhalt als strukturelle Fremdheit in der modernen Gesellschaft bezeichnen, ohne aber damit eine kulturkritische Klage zu führen und einer Verklärung früherer Sozialisationsformen Vorschub zu leisten. Im Gegenteil: Diese strukturelle Fremdheit ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß individualisierte Lebensformen und relativ freie persönliche Orientierung ästhetischer, ethischer, religiöser und sexueller Art überhaupt möglich sind. Die Kehrseite dieser Destandardisierung und Desintegration von Lebensformen ist ohne Zweifel eine der entscheidenden Modernisierungsfolgen, deren kurative Behandlung kaum möglich erscheint, deren symptomatische Milderung aber nicht zuletzt durch die Konstruktion des Fremden als Differenzfokus erfolgt, der eine Identität stiftet, die es letztlich nicht gibt (Nassehi 1995, S. 454).

Fremde wirken hier als identitäres Kompensat und werden letztlich als Negativ­ folie zur eigenen Selbstvergewisserung und als Stabilisationsgarant angesichts der strukturellen Desintegration benötigt. Eine Integrationsperspektive ist hier gar nicht angelegt oder erwünscht, ja sie wäre geradezu kontraproduktiv gegenüber der identitären Funktionserfüllung. Nassehi beschreibt aber noch einen qualitativen Umschlag in der Figur des Fremden, die er als paradox begreift: Er wird als Fremder spätestens dann wahrgenommen, wenn er nicht mehr fremd ist, d. h. wenn er als formal gleicher Nachfrager knapper Ressourcen diejenigen Mittel in Anspruch nimmt, von denen er zuvor als ‚Fremder‘ ausgeschlossen war. Zum tatsächlichen Feind wird der Fremde dann, wenn es einer Gesellschaft nicht gelingt, Positionszuweisungen innerhalb ihrer Sozialstruktur gemäß dem universalistischen Paradigma einer freien und gleichen Konfliktregelung zu organisieren (Ebd., S. 457).

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Der Fremde wird demnach zum Feind, wenn er als formal Gleicher dieselben Rechte in Anspruch nimmt, nicht zuletzt gerade im Bereich von Bildung und im Sozialem. Als bestmöglich Integrierter/Integrierte wird er/sie zum Konkurrenten/zur Konkurrentin um Lebenschancen, tritt in den Wettbewerb ein und nimmt die Positionsanweisungen innerhalb der Sozialstruktur der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr an, insofern diese ihn im deprivilegierten Status des bedrohlichen „Fremden“ belassen möchte. Der Fremde als Feind erscheint als ein Vertrauter (und ist darin im Freudschen Sinne „unheimlich“). Der Vertraute, der zum Feind wird, fordert aber formalrechtliche Gleichheit ein und verlässt somit die ihm zugedachte Nische. Als Konkurrent um Ressourcen und Chancen wird er für Verknappungen verantwortlich gemacht und ethnisch etikettiert. Es kommt zur Feindbildung und als Folge dessen zu einem kollektiven Ausschluss des Fremden. Diese gruppenbildenden Stereotype beinhalten die Möglichkeiten, Personen nach bestimmten Merkmalen zu kategorisieren. Die Kategorisierung erfüllt eine psycho-ideologische Funktion: Der Fremde, so Nassehi, werde als Ursache für auftretende Knappheit gesehen. „Der Fremde […] wird tatsächlich dann zum Feind, wenn er in den vertrauten Antagonismus innergesellschaftlicher Zuschreibungen und Gruppenkonstruktionen eingeordnet werden kann.“ (Ebd., S. 458). Die beschriebenen sozialen Mechanismen, die die paradoxe „vertraut-unvertraute“ Position des Fremden erzeugen und mithin das Defizitäre der eigenen Gesellschaft generieren, führen zum Umschlag vom Fremden zum Feind und widerspiegeln somit deutlich die destabilisierenden Folgen sozialer Ungleichheit. „Sieht man die ‚Ethnisierung der sozialen Beziehungen‘ in der Tat als eine ‚Folgewirkung des unter Druck geratenen Systems sozialer Ungleichheit‘ (Jaschke 1994, S. 184) an“, so stellt sich die Feindschaft des Fremden als „Phänomen einer Gesellschaft dar, deren Oberfläche dünner und brüchiger ist, als es das selbstbewusste Selbstverständnis der modernen (universalistischen) Kulturen suggeriert.“ (Nassehi 1995, S. 458 f.). Die beschriebene Problematik sei kein Randgruppenphänomen, sondern eines der Mittelschicht. Solange der Fremde in den ihm zugewiesenen Bereichen „defizitärer Funktionserfüllung“ bleibt, ist alles in Ordnung. Problematisch wird es jedoch, sobald die nachfolgende Generation sich aus dieser Nische herausbewegt und formalrechtliche Gleichheit einfordert. Nun beginnt der Kampf um Zugänge zu (scheinbar knapp vorhandenen) Ressourcen oder begrenzt angebotenen Lebenschancen. Um das Paradoxon des „Fremden“ nochmals lapidar zu formulieren: Der Fremde wird zum Konkurrenten und kann zum Feind werden, wenn er sich (erstens) nicht mehr in den „ihm zugeordneten“ Bereichen aufhält, und (zweitens) der Eindruck von Ressourcenknappheit in ein Gefühl existenzieller Bedrohung umschlägt. Dabei geht es nicht um den einzelnen Fremden, sondern um Gruppenzuweisung, mithin auch um die stereotypisierende Anonymisierung

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dessen, der zum „Feind“ erkoren wurde. Ob eine solche Fremdgruppe real existiert oder nur imaginiert ist, spielt dabei keine Rolle. In dieser Übermacht von Zuweisungen besteht eine große Herausforderung der antirassistischen Bildungsarbeit. Auch kommt es bei derlei Prozessen nicht auf eine tatsächlich nachweisbare Ursächlichkeit für die Knappheit von bestimmten Ressourcen an, vielmehr sind sie als Ideologem das Resultat gelingender Etikettierung, die ihrerseits gebraucht wird, um das eigentliche Problem des strukturbedingten gesellschaftlich Defizitären (sich selbst entlastend) umgehen zu können. Folgt man dieser Argumentation, so bedeutet das für das allseitig bemühte Ziel von Integration ein Dilemma, das sich nicht aufheben lässt: In dem Moment, in dem Integration erreicht ist, wird der/die Fremde zum Feind.

4 Integration und Ambivalenz als Wunde Bisher ist mit Schütz und Nassehi argumentiert worden, dass es schwierig sei, das zu benennen und zu kommunizieren, worin es sich zu integrieren gilt, welches die gültigen Werte und Normen sein sollen, was es mit der „Leitkultur“ auf sich habe, und was das Integrationsziel letztlich sein soll. Integration erscheint hier als ein extrem amorphes und unbestimmtes, auch widersprüchliches Ziel. Zudem macht Nassehi darauf aufmerksam, dass Integration in die strukturell bedingt desintegrierte Gesellschaft zum Ausschluss führen kann. Es ist demnach die Frage zu stellen, warum Integration überhaupt immer wieder als Zielperspektive für vertriebene, geflüchtete und migrierte Menschen angegeben wird. Zum einem wird damit eine homogene, nicht existente Verständigung vom „common sense“ der Aufnahmegesellschaft unterstellt, zum anderen scheint es, als wäre die Sehnsucht nach Integration ein Beleg für das, was Bauman als typisches modernes Phänomen und als Ausdruck einer Kriegserklärung an Differenz, als einer Idee, die der Nation inhärent ist, kritisiert (vgl. Bauman 1991, S. 40). Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Beherrschbarkeit, Binarität und Klassifikation steht der Amivalenz von Vielfalt und ihrer Unbestimmtheit entgegen und bildet damit eine Wunde, die er als „größte[n] Schmerz der Moderne und beunruhigendste ihrer Sorgen“ (Bauman 1995, S. 34) apostrophiert. Das Dilemma, demzufolge Integration bei Nassehi in die Desintegration mündet, wird hier noch einmal durch die Absurdität des Bedürfnisses, Ambivalenz zu vereindeutigen, zu integrieren und zu absorbieren, katalysiert. Julia Kristeva sieht hier denn in der Tat eine (auch psychoanalytisch begründete) Grenze der Möglichkeit, den Fremden als Anderen, als Verkörperung der Differenz, zu absorbieren: „Ausschlaggebend dabei ist, daß die von unseren Gesellschaften vorgeschlagene Absorption des Fremden sich für das moderne Individuum als

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unannehmbar erweist; dieses ist nicht nur eifersüchtig auf seine nationale und ethische, sondern auch auf seine wesentlich subjektive, irreduzible Differenz bedacht.“ (Kristeva 1990, S. 12). In der FR, vom 31. Juli 2018 bezieht sich Nassehi auf Magarete Stokowski, die aufzählt, wie unterschiedlich die Orte des Eigenen sind und wie wenig homogen dieses Eigene tatsächlich ist – auch was die immer wieder viel beschworenen ‚Werte‘ angeht. Das Eigene, also all das, was ‚wir‘ ohne Migration und Einwanderung wären, ist so uneinheitlich und widersprüchlich, dass das ganze Gerede von der Integration in sich zusammenfällt. ‚Wir‘ sind weltoffen und homophob, Demokraten und Rechtsradikale, religiös pluralistisch und fundamentalistisch usw. – alles zugleich. Soziologisch weitergedacht: Vielleicht muss man nicht nur darüber nachdenken, unter welchen Bedingungen ‚Fremde‘ ‚Eigene‘ werden können, sondern unter welchen Bedingungen das ‚Eigene‘ als so unbeobachtbar erscheint (Nassehi 2018, S. 31).

Kann Bildung das leisten? Unter den hier erörterten Strukturbedingungen wohl kaum. Sie ist gleichwohl unentbehrlich, um selbst noch diese (Un)möglichkeit reflektieren zu können.

Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.). (o. J.). Inhalte und Ablauf eines Integrationskurses. http://www.bamf.de/DE/Infothek/TraegerIntegrationskurse/Paedago­ gisches/InhaltAblauf/inhaltablauf-node.html;jsessionid=DEE98A7628D08013A15C47087E47D4C7.2_cid368#doc1367408bodyText3. Zugegriffen: 15. Oktober 2018. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.). (2017). Integration durch Bildung. https://www.bmbf.de/de/integration-durch-bildung-1092.html. Zugegriffen: 15. Oktober 2018. Broden, A., & Mecheril, P. (Hrsg.). (2010). Rassismus bildet, Einleitende Bemerkungen. In Rassismus bildet, Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft (S. 7–19). Bielefeld: transcript Verlag. Bauman, Z. (1991). Moderne und Ambivalenz. In U. Bielefeld (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt (S. 23–49). Hamburg: Junius. Bauman, Z. (2017 [1995]). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (4. Aufl. September 2017). Hamburg: Hamburger Edition. de Maizière, T. (29. April 2017). Leitkultur für Deutschland, was ist das eigentlich – Wir sind nicht Burka. Bild am Sonntag vom 29. April 2017. Online unter: https://www.bild. de/politik/inland/thomas-de-maiziere/leitkultur-fuer-deutschland-51509022.bild.html. Zugegriffen: 15. Oktober 2018. Kristeva, J. (1990). Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

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Messerschmidt, A. (2016). Differenzreflexive Kritik machtkonformer Bildung. In S. Müller & J. Mende (Hrsg.), Differenz und Identität, Konstellationen der Kritik (S. 166–181). Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Nassehi, A. (1995). Der Fremde als Vertrauter – Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47(3), 443–463. Nassehi, A. (2016). Vertraute Fremde. Eine Apologie der Weltfremdheit. In P. Felixberger & A. Nassehi (Hrsg.), Fremd Sein! Kursbuch (Bd. 185, S. 137–154). Hamburg: Murmann. Nassehi, A. (31. Juli 2018). Frankfurter Rundschau Nr. 175, 31. Schütz, A. (1972). Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch. In A. Brodersen (Hrsg.), (übers. von A. Baeyer), Alfred Schütz. Gesammelte Aufsätze (Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, S. 53–69). Den Haag: Springer Netherlands. Simmel, G. (1992 [1908]). Exkurs über den Fremden. In O. Rammstedt (Hrsg.), Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe (Bd. 11, S. 509–512). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Urban, H.-J. (2018). Epochenthema Migration: Die Mosaiklinke in der Zerreißprobe. Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2018, 103 ff.

Tatjana Freytag,  Dr.′in, ist Soziologin, Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim.

GEW Handlungsempfehlungen zur Gewährleistung von Bildungszugängen und Teilhabe für Geflüchtete und Asylsuchende Isabel Rojas Castañeda und Maren Kaminski Zusammenfassung

Durch die zunehmenden Fluchtbewegungen verändern sich unsere Bildungseinrichtungen. Viele Professionen stehen vor neuen Herausforderungen wenn nicht gar vor einer grundsätzlichen Veränderung vieler Herangehensweisen. Dabei dürfen nicht das Recht auf Bildung und die Veränderung der Pädagogik als Beruf gegeneinanderstehen. Immer wieder bleibt zu betonen, dass die Ermöglichung von Teilhabe und der Umgang mit Diversität von einer individuellen und offenen Grundhaltung getragen sein muss. Die GEW als nicht staatliche Organisation kann Handlungsempfehlungen anbieten und dazu beitragen, dass Beschäftigte sich neuen Situationen souverän stellen können. Darüber hinaus bleibt es unerlässlich, staatlichen Stellen die notwenige Unterstützung abzufordern, die es langfristig benötigt, damit Integration gelingen kann. Viele geflüchtete Menschen sind in den letzten Jahren nach Deutschland gekom­ men und werden auch zukünftig hierher kommen. Das stellt unsere Bildungseinrichtungen vor neue Herausforderungen. Dabei sieht sich die GEW nicht nur als Interessenvertreterin der Beschäftigten im Bildungs- und Erziehungsbereich. Der Blick muss politisch weiter reichen, denn jeder Mensch hat das Recht auf ­Bildung. Dieses Recht gilt uneingeschränkt und ist nicht abhängig von einem Aufenthaltsstatus. I. Rojas Castañeda () · M. Kaminski  GEW Bezirksverband Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Kaminski E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_10

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1 Die rechtliche Situation Das Recht auf Bildung ist in internationalen Verträgen sowie in nationalen Gesetzen festgeschrieben und somit nicht verhandelbar. Vielmehr sind die einzelnen Bundesländer eindeutig dafür verantwortlich, das Recht auf Bildung zu gewährleisten und den Zugang zu Bildungseinrichtungen zu garantieren. Weil die Kenntnis der rechtlichen Bestimmungen von hoher Bedeutung für die Praxis der handelnden Akteure ist, werden diese nachfolgend im Wortlaut zitiert.

1.1 Internationale Verträge In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen genehmigt und verkündet wurde (Vereinte Nationen o. J., S. 1), ist in Bezug auf das Recht auf Bildung Folgendes festgeschrieben (Vereinte Nationen o. J., S. 5 f.): Artikel 26 1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen. 2. Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen den Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. 3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die Kindern zuteil werden soll. Die AEMR ist völkerrechtlich keine verbindliche Rechtsquelle. Das bedeutet, dass die darin festgeschriebenen Rechte nicht einklagbar sind. Darüber hinaus nehmen aber weitere internationale Übereinkommen Bezug auf die AEMR bzw. lehnen sich inhaltlich an sie an.1

1Zum

Beispiel wurden in den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte Artikel aus der AEMR übernommen (vgl. dazu OHCHR o. J.).

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Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 stellt in Bezug auf den Bildungszugang in Artikel 22 klar (UNHCR o. J., S. 18): 1. Die vertragschließenden Staaten werden den Flüchtlingen dieselbe Behandlung wie ihren Staatsangehörigen hinsichtlich des Unterrichts in Volksschulen gewähren. 2. Für über die Volksschule hinausgehenden Unterricht, insbesondere die Zulassung zum Studium, die Anerkennung von ausländischen Studienzeugnissen, Diplomen und akademischen Titeln, den Erlass von Gebühren und Abgaben und die Zuerkennung von Stipendien, werden die vertragschließenden Staaten eine möglichst günstige und in keinem Falle weniger günstige Behandlung gewähren, als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Bedingungen gewährt wird. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) (Unicef o. J., S. 9 f. und S. 28 f.) bestimmt u. a.: Artikel 2: Achtung der Kindesrechte; Diskriminierungsverbot (1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird. […] Artikel 28: Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Bildung an; um die Verwirklichung dieses Rechts auf der Grundlage der Chancengleichheit fortschreitend zu erreichen, werden sie insbesondere (a) den Besuch der Grundschule für alle zur Pflicht und unentgeltlich machen; (b) die Entwicklung verschiedener Formen der weiterführenden Schulen allgemeinbildender und berufsbildender Art fördern, sie allen Kindern verfügbar und

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zugänglich machen und geeignete Maßnahmen wie die Einführung der Unentgeltlichkeit und die Bereitstellung. finanzieller Unterstützung bei Bedürftigkeit treffen; (c) allen entsprechend ihren Fähigkeiten den Zugang zu den Hochschulen mit allen geeigneten Mitteln ermöglichen; (d) Bildungs- und Berufsberatung allen Kindern verfügbar und zugänglich machen; (e) Maßnahmen treffen, die den regelmäßigen Schulbesuch fördern und den Anteil derjenigen, welche die Schule vorzeitig verlassen, verringern. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Disziplin in der Schule in einer Weise gewahrt wird, die der Menschenwürde des Kindes entspricht und im Einklang mit diesem Übereinkommen steht. (3) Die Vertragsstaaten fördern die internationale Zusammenarbeit im Bildungswesen, insbesondere um zur Beseitigung von Unwissenheit und Analphabetentum in der Welt beizutragen und den Zugang zu wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen und modernen Unterrichtsmethoden zu erleichtern. Dabei sind die Bedürfnisse der Entwicklungsländer besonders zu berücksichtigen. Durch die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1992 betont die Bundesregierung, dass sie das Recht auf Bildung anerkennt.

1.2 Nationale Umsetzung Zunächst stand die Ratifizierung unter dem Vorbehalt, dass das in Deutschland geltende Ausländerrecht Vorrang vor den Verpflichtungen der Kinderrechtskonvention habe. Erst 2010 beschloss der Bundesrat die Vorbehaltserklärung von 1992 zurückzunehmen. Die Zurücknahme des Vorbehaltes hat gewichtige Veränderungen herbeigeführt. Der Wegfall der höheren Geltung ausländerrechtlicher Regelungen macht seither eine direkte Bezugnahme auf die Artikel 2 und 28 möglich. Demnach darf einem Kind weder rechtlich noch faktisch der Zugang zu Bildung verwehrt werden. Das gilt unabhängig von einem deutschen Pass oder einer Aufenthaltserlaubnis. Auch Kinder mit einer Duldung, einer Aufenthaltsgestattung oder gänzlich ohne Aufenthaltspapiere genießen ein Recht auf Zugang zu Bildung in staatlichen Bildungsinstitutionen.

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Damit für Kinder und Jugendliche das Recht auf Bildung uneingeschränkt eingeräumt werden kann, ist es unerlässlich, Kenntnis über diese gesetzlichen Regelungen zu haben. Nur dann können staatliche Stellen, Beschäftigte in Bildungseinrichtungen, aber auch interessierte Eltern und Kinder bzw. Jugendliche und in Unterstützergruppen tätige Personen wirklich handlungsfähig sein. Damit das Recht auf Bildung für Kinder ohne Papiere in Deutschland umgesetzt werden kann, sind wesentliche gesetzliche Hindernisse abgebaut worden. Seit 2011 sind Bildungs- und Erziehungseinrichtungen von der aufenthaltsrechtlichen Meldepflicht ausgenommen. Explizit heißt es im Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz o. J.a): § 87 Übermittlungen an Ausländerbehörden (1) Öffentliche Stellen mit Ausnahme von Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen haben ihnen bekannt gewordene Umstände den in § 86 Satz 1 genannten Stellen auf Ersuchen mitzuteilen, soweit dies für die dort genannten Zwecke erforderlich ist. […] Das Recht auf den Besuch einer Kita oder Schule darf demnach nicht vom Vorhandensein von Papieren oder einem festen Wohnort anhängig gemacht werden. Die einzelnen Bundesländer sind sogar gefordert, gesetzliche Regelungen in den Schulgesetzen zu verankern, um Kindern ohne einen legalen Aufenthaltsstatus den Schulbesuch zu gewährleisten. Das ist aber nicht in allen Bundesländern der Fall (Funck et al. 2015) und könnte als Verstoß gegen geltendes Verfassungs- und Völkerrecht bewertet werden. Ebenso steht das Sozialgesetzbuch VIII in Bezug auf den Besuch von Kitas in einem Widerspruch zu geltenden internationalen Verträgen. Die Jugendhilfe sieht eine finanzielle Förderung nur dann vor, wenn ein Kind rechtmäßig oder aufgrund einer Duldung den Aufenthalt in Deutschland belegen kann. Die Träger der Einrichtungen müssen Möglichkeiten schaffen, Kindern, die keinen Aufenthaltsstatus vorweisen können, den Besuch ihrer Einrichtung zu ermöglichen, auch wenn sie damit auf öffentliche Förderungen verzichten müssen, da die Kinder nicht gemeldet sind. Sowohl für Kitas als auch für Schulen gilt, dass sie das Anmeldeverfahren so gestalten müssen, dass die Aufnahme in eine Bildungseinrichtung ohne Angabe von Belegen und Papieren ermöglicht wird. Der oft routinemäßige Abgleich mit Meldedaten ist daher mehr als fragwürdig. Besonders schwierig kann es werden,

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wenn Einrichtungen öffentlicher Träger das Anmeldeverfahren zentral über das zuständige Jugendamt organisieren. Denn die Jugendämter sind nicht von der Meldepflicht nach § 87 (1) AufenthG ausgenommen! In diesen Fällen kann eine Meldung des Kindes an die Ausländerbehörde nicht ausgeschlossen werden. Die rechtlichen Regelungen und die Fallstricke zu kennen, ist die Voraussetzung dafür, das individuelle Recht auf Bildung einzulösen. Bei aller Unsicherheit, die auch Beschäftigte mit einer solchen Situation haben, ist es wichtig, das gesamte Kollegium und im besten Fall auch die Eltern der anderen Kinder, die die Einrichtung besuchen, für die Situation der Kinder, die es betrifft, zu sensibilisieren. Unter der Maxime „Bildung kann nicht warten!“ veröffentlicht die GEW immer wieder aktuelle Informationsmaterialen, die einen sicheren und kompetenten Umgang mit dieser für alle Beteiligten nicht einfachen Situation herzustellen versucht.2 Dabei gilt der Grundsatz: „Das Grundrecht auf Bildung und das Grundrecht auf Asyl sind nicht verhandelbar!“.

2 Situationsbeschreibung Ein Drittel der Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche; viele sind unbegleitet, etwa ein Drittel ist traumatisiert. Alle haben existenzbedrohende Erfahrungen gemacht (vgl. Blaß und Himmelrath 2016, S. 3). Najem Al Khalaf, Fotojournalismus-Student in Hannover, hat ein Interview mit einem elfjährigen Jungen dokumentiert, der ohne seine Eltern und Geschwister Syrien verlassen musste. Das Interview bzw. der Film „Die Flucht nach Deutschland aus Kinderaugen: Der 11-jährige Osama erzählt von seinen Erlebnissen“ (Al Khalaf 2016) ist in fünf Teile gegliedert. Die Zeit vor dem Bürgerkrieg in Syrien, der Bürgerkrieg, die Flucht, sein Leben hier und seine Zukunftswünsche werden skizziert. Najem Al Khalaf lässt den elfjährigen Osama sprechen und seine Erlebnisse aus seiner Perspektive beschreiben. Der Film informiert; Osama berührt, macht traurig und ermöglicht uns persönliche und empathische Momente. Er zeigt, was in den politischen und öffentlichen Debatten wie Flüchtlingsanstürme und Obergrenzen verschwindet: Es geht nicht um Massen, es geht um Menschenschicksale, die jeder Einzelne mit sich trägt.

2Dazu

dient die Website www.gew.de/flucht-und-asyl.

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2.1 Situation in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen Die Zahlen, wie viele Kinder und Jugendliche in den Bildungseinrichtungen zwischen 2015 und 2016 angekommen sind, variieren zwischen 200 000 und 300 000 (vgl. dazu exemplarisch Mediendienst Integration o. J.; Agarwala et al. 2016). Die ankommenden Kinder und Jugendlichen haben meist schon lange keinen geregelten Alltag mehr gehabt. Nicht selten sind ihre Eltern und sie selbst traumatisiert. Zusätzlich plagen sie Sorgen um den Status und die Angst, abgeschoben zu werden, nie wieder zurück zu können, und Menschen, die sie lieben, für immer verloren zu haben. Dazu kommen neben sprachlichen Hürden, Erwartungen, Anforderungen, Probleme und Frustrationen, die sie in der neuen Lebenssituation zu bewältigen haben. Viele Kinder und Jugendliche im schulfähigen Alter haben schon lange keine Schule mehr besuchen können oder noch nie eine Schule besucht. Manche kennen unsere Schriftzeichen nicht oder können gar nicht lesen und schreiben. Die ersten geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die 2015 und 2016 in die Schulen kamen, fanden sich nicht selten in Regelklassen ohne entsprechende Förderung. Die Schulen und Lehrkräfte waren personell und methodisch-didaktisch auf die Situation nicht vorbereitet. Nach und nach wurden Klassen für die geflüchteten Schülerinnen und Schüler eingerichtet. Je nach Bundesland heißen diese Vorkurs, Internationale Vorbereitungsklasse, Willkommensklasse oder Sprachlernklassen. Von Bundesland zu Bundesland und z. T. auch von Schule zu Schule unterscheidet sich die Anbindung an bzw. Integration der geflüchteten Schülerinnen und Schüler in die Regelklassen. Über die Regelklassen haben die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Schwierig bleibt dabei, dass sie irgendwie dazugehören aber irgendwie auch nicht. In den Sprachlern- bzw. Vorbereitungsklassen werden Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Nationen und Religionen mit äußerst differierenden Lernvoraussetzungen und Kenntnissen sowie verschiedenen Alters gemeinsam beschult. Das ist für die Schülerinnen und Schüler selbst und auch für die pädagogischen Fachkräfte bzw. Lehrkräfte eine enorme Herausforderung, auf die sie selten in der Ausbildung vorbereitet wurden. Nach einem Jahr sollen die geflüchteten Schülerinnen und Schüler bereit sein für die Regelklassen. Der Anspruch an sie ist groß. Sie müssen den sprachlichen Vorsprung und manchmal auch den Wissensvorsprung der anderen Schülerinnen und Schüler in kurzer Zeit aufholen, um mithalten zu können. Ob sie das schaffen können, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: wie lange sie eine Schule besucht haben, wie lange

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der Bildungsgang unterbrochen wurde, wie gut sie sozial eingebunden sind, wie stabil ihr soziales Umfeld ist, ob sie einen sicheren Status und damit eine Perspektive haben und nicht zuletzt auch, wie alt sie sind, wenn sie kommen (vgl. z. B. Agarwala et al. 2016). Agarwala, Schenk und Spiewak fassen die Situation für die alles in allem unübersichtliche Datenlage wie folgt zusammen: Für Zahlen und Statistiken ist es noch zu früh: Übergangsquoten, Schulabschlüsse – es gibt sie nicht. Sogar die genaue Zahl der Flüchtlinge an deutschen Schulen kennt niemand. Doch aus vielen Einzeleindrücken beginnt sich ein erstes Bild abzuzeichnen (Agarwala et al. 2016, S. 2).

2.2 Konkrete Alltagssituationen Die besonderen Situationen im Alltag von Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen mit Flucht- bzw. Migrationserfahrung sind vielfältig. Im Folgenden haben wir verschiedene verbale Situationen, die sich in verschiedenen Schulen zugetragen haben, aufgelistet, um zu zeigen, wie facettenreich die in Bildungseinrichtungen tätigen Personen gefordert sind. Um in manchen Fällen nicht (vor)verurteilend zu reagieren, macht es Sinn, sich zu fragen, wie man selbst in einer solchen Situation als verantwortlicher Erwachsener oder Zuhörer reagieren würde. Situation 1: Andrea (alle Namen geändert), zehn Jahre alt und schon immer ein ziemlich lebhaftes Kind, stürmte eines Morgens in die Klasse und verkündete: „Alle Flüchtlinge sind Ziegenficker. Alles Kanaken! Ich hasse Allah!“3 (Blaß und Himmelrath 2016, S. 3). Situation 2: Im Werte und Normen-Unterricht einer 8. Klasse schlägt Moritz zum Thema Tierversuche vor: „Wir können ja jetzt Flüchtlinge für Tierversuche nehmen, dann müssen die Tiere nicht so leiden.“4 In der Klasse selbst ist ein Mädchen aus Afghanistan, das erst seit drei Jahren in Deutschland ist.

3Der Artikel

beschreibt sehr empathisch die engagierte und professionelle Arbeit einer Lehrerin, die die Aufnahme von Flüchtlingen trotz schwieriger Situationen und Bedingungen als Bereicherung erlebt. Im Bericht wird darüber hinaus dargestellt, wie die Lehrerin mit Situation 1 umgegangen ist.

4Beispiel

aus eigener Praxis.

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Situation 3: Eine andere Lehrerin sagt zu einem Schüler, der die Mitarbeit verweigert: „Sei doch mal dankbar, dass Du hier bist.“ Der Schüler ist vor zwei Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen.5 Die beschriebenen Situationen haben in allen Fällen die betroffenen Kinder oder Jugendlichen stark beschäftigt, gekränkt und/oder verunsichert. Zum Teil waren sie Anlass für weiterführende Gespräche mit den Eltern, Kollegen und Kolleginnen und ganzen Lerngruppen. Eine direkte Beleidigung wie im ersten Beispiel scheint auf den ersten Blick leichter und schneller als Angriff oder Ausgrenzung zu entlarven zu sein. Aber wie reagiert man, wenn man das eine Kind schützen und auffangen möchte und dabei das andere nicht bloßstellen will? Und wie tut man das, wenn man auf die Situation u. U. gar nicht gefasst war und sich auf diese nicht vorbereiten konnte? Klar muss allen sein: Wenn man nicht reagiert, akzeptiert man die Beleidigung, Kränkung und aggressive Aussage. Schweigen wird als Zustimmung verstanden. Daraus folgt ein hoher Anspruch, den Erwachsene zu erfüllen haben.

3 Handlungsempfehlungen für Beschäftigte in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen Wie die oben skizzierte Situation in Bildungseinrichtungen zeigt, ist der Alltag unter den gegebenen Bedingungen nicht immer leicht. Immer wieder liest man in der Presse und hört von Beschäftigten in Bildungseinrichtungen, dass sie sich alleine gelassen und den Aufgaben nicht gewachsen fühlen. Das muss man ernst nehmen. Schnell ist man versucht, mit Tipps und Allgemeinplätzen zur Seite zu stehen. Und obwohl die Herausforderung eine gesellschaftliche ist und sein sollte, ist sie auch eine persönliche, die ggf. die Grundfeste unseres professionellen Selbstverständnisses infrage stellt. Die folgenden Handlungsempfehlungen sind zwar vor dem Hintergrund der Gewährleistung von Bildungszugängen und -teilhabe für Flüchtlinge und Asylsuchende von der GEW formuliert worden; sie sind aber für das Verhalten derjenigen, die mit geflüchtete Menschen arbeiten allgemeingültig.

5Beispiel

aus der Praxis nach dem Bericht einer Lehrkraft einer niedersächsischen Schule.

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3.1 Offene Grundhaltung Im Grunde geht es in erster Linie um eine grundrechtssichere Haltung, die Vielfalt auf der einen Seite selbstverständlich zulässt und Grundwerte auf der anderen Seite verteidigt: eine Haltung, die nicht infrage stellt, dass die Kinder und Jugendlichen da sind, sondern sie als Teil der Gemeinschaft versteht; eine Haltung, die ihre kulturellen Eigenschaften und Werte nicht angreift, sondern sich mit ihnen wertschätzend auseinandersetzt.6 Die Kinder und Jugendlichen (und Erwachsenen) müssen die Möglichkeit bekommen, in dieser neuen fremden und nicht immer freundlichen Welt anzukommen und sich hier zu Hause zu fühlen. Das ist ein hoher Anspruch an alle, die in Bildungseinrichtungen arbeiten, und nicht einfach umzusetzen. Die Konflikte, die sich in Bildungseinrichtungen auftun, sind nicht selten gesellschaftliche, politische und religiöse Konflikte, die vor Ort miteinander ausgetragen und geklärt werden müssen (Edler 2017, S. 5). Um dazu fähig zu sein, bedarf es der Kenntnis anderer Kulturen und Religionen, politischer Ereignisse und Konfliktgeflechte. „Die Weltlage ist im Klassenzimmer, in der Kita angekommen“ (ebd., S. 2) und wir müssen uns dazu verhalten.

3.2 Kollegialer Austausch Viele Kolleginnen und Kollegen fühlen sich alleingelassen. Sie tragen die Fragen, Unsicherheiten, Sorgen und Überforderungen mit sich allein aus. Oft plagt sie die Unsicherheit, ob sie richtig handeln oder auch Unzufriedenheit darüber, an Grenzen zu stoßen. Wichtig ist hier der kollegiale Austausch: das Abladen, sich Beraten, Austauschen und das ermöglichte Reflektieren der eigenen Handlungen sowie der Reaktionen der Kinder und Jugendlichen. Der Austausch bietet aber auch im Bildungssystem selbst die Möglichkeit, Unterstützungssysteme zu schaffen und gemeinsame Ressourcen und Kompetenzen zu nutzen. Ausgehend davon, dass Bildung auch Beziehungsarbeit ist, muss man den Gedanken zulassen dürfen, dass man – trotz des Anspruches, professionell im Umgang mit Schülerinnen und Schülern zu sein – manchmal an eigene Grenzen stößt und eigene Vorurteile nicht überwinden kann.

6Sehr

ausführlich befasst sich die Broschüre der GEW im Kontext der Inklusion mit der Frage der Haltung als Kern pädagogischer Arbeit (vgl. Dupuis et al. 2017).

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3.3 Vernetzung Es gibt immer wieder Situationen, die von den Kolleginnen und Kollegen in Bildungseinrichtungen nicht aufgefangen oder Probleme, die dort nicht gelöst werden können. Nicht selten geht es dabei um bürokratische und formale Fragen. Wer ist zuständig? Wen muss ich informieren? Darf ich das? Fragen, die nicht immer leicht zu klären sind und unnötige Hürden schaffen, handlungsunsicher machen und Stress bei allen Betroffenen produzieren. Dazu wäre es notwendig, Institutionen mit den Bildungseinrichtungen zu vernetzen. Nicht zuletzt bedeutet dies auch, dass Bildungseinrichtungen lokal untereinander vernetzt sein müssten, um sich auszutauschen und gegenseitig professionell zu unterstützen.

3.4 Fortbildung Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen sind 2015 auf Bildungseinrichtungen gestoßen, die nicht auf sie vorbereitet waren. Strukturell, ressourcentechnisch, aber auch auf der individuellen Handlungsebene sind die Bildungseinrichtungen und arbeitenden Menschen in diesen an ihre Grenzen gestoßen. Wie umgehen mit Kindern und Jugendlichen, die traumatisiert sind, mit Schülerinnen und Schülern, die alphabetisiert werden müssen, mit kulturellen und religiösen Konflikten und Sprachbarrieren? Der Fortbildungsbedarf besteht nicht nur im methodisch-didaktischen Bereich zum Umgang mit zu alphabetisierenden Kindern und Jugendlichen, zu Fragen der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache, Techniken zur Erleichterung der Kommunikation und sprachlichen Reduktion von Materialien. Es besteht darüber hinaus ein flächendeckender Fortbildungsbedarf zum Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Kaum jemand ist neben Freunden und Verwandten so nah an Kindern und Jugendlichen dran wie Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen und -pädagogen und Lehrkräfte. Nicht zuletzt muss es aber auch Fortbildungsmöglichkeiten geben, die eine Auseinandersetzung mit interkulturellen Unterschieden, den eigenen Haltungen und den eigenen Vorurteilen ermöglichen, um Probleme und Widerstände zu antizipieren, zu verstehen und zu vermeiden.

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3.5 Bürokratische Hürden absenken für das Recht auf Bildung Die Schulpflicht in Deutschland gilt auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Wann jedoch die Schulpflicht bei diesen einsetzt, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Berlin, Bremen und Hamburg beispielsweise setzt die Schulpflicht schon mit dem Asylantrag ein. In Bayern, Thüringen und Niedersachsen müssen die Kinder und Jugendlichen drei Monate und in Baden Württemberg sogar sechs Monate warten (vgl. dazu Angaben des Mediendienst Integration o. J.). Nicht nur die Regelungen, wann ein Kind eingeschult werden muss, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Auch die Anmelderegularien und -praxen sind jeweils andere, manchmal sind diese auch kommunal unterschiedlich. Das erschwert die Information der Betroffenen sehr und führt zu vielen Verfahrens- und Handlungsunsicherheiten bei allen Beteiligten. Die sprachlichen Hürden kommen in den meisten Fällen erschwerend hinzu.

4 Grundsätze und Forderungen für den Zugang zur Bildung für Flüchtlinge und Asylsuchende Bildung ist die zentrale Voraussetzung zur Vermittlung grundlegender Kompetenzen für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben in wirtschaftlicher Unabhängigkeit (GEW 2015, S. 2).

Die Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland kommen, haben sehr unterschiedliche Bildungsbiografien und Berufserfahrungen. Das bedeutet auch, dass sie unterschiedliche Bedarfe haben, die nicht nur altersspezifisch sind. Die Zugänge zu Bildungsangeboten müssen deshalb vom Bildungsstand des Einzelnen ausgehend und unabhängig vom Aufenthaltsstatus ermöglicht werden. Das ist entscheidend, um die Grundrechte auf Bildung und Asyl in die Praxis umzusetzen und nicht zu relativieren. Der Ausbau der personellen Ressourcen und der finanziellen Mittel für Bildung in Bundes- und Landeshaushalten sowie kommunalen Haushalten muss oberste Priorität haben. Dazu müssen Aufgabenbereiche koordiniert und ggf. neu verteilt werden. Der Bund muss einen wesentlichen Teil der Finanzierungsverantwortung tragen, um Kommunen und Länder bei der Umsetzung der Voraussetzungen vor Ort zu entlasten und zu unterstützen (GEW 2015, S. 5).

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4.1 Notwendige Anpassungen der geltenden Rechtslage und Verwaltungspraxis (vgl. GEW 2015) Um das Recht auf Bildung umsetzen zu können, bedarf es der Änderung der geltenden Rechtslage und Verwaltungspraxis. Nicht selten behindern bürokratische Hürden und unsichere Akteure eine zügige Umsetzung des Rechts auf Bildung. Im Folgenden sind Empfehlungen der GEW aufgelistet, die dazu beitragen den unbeschränkten Zugang für Flüchtlinge und Asylsuchende zu Bildung zu gewährleisten, die Arbeit der Bildungseinrichtungen und ihrer Beschäftigten zu unterstützen und die Voraussetzungen für die erfolgreiche Bildungsbiografien zu schaffen (GEW 2015, S. 4).

a. Grundsätzlich müssen bürokratische Hürden bei der Umsetzung von Rechtsansprüchen abgebaut werden. Dazu gehört auch, dass Betroffene umfassend und verständlich über ihre Situation, Rechte und Möglichkeiten informiert werden. (Vgl. GEW 2015, S. 5) b. Den Betroffenen und ihren Familien ist eine sichere Aufenthaltsperspektive bis zum Ausbildungsende zu garantieren. (Vgl. GEW 2015, S. 5) c. Die Residenzpflicht ist aufzuheben, um Betroffenen die nötige Mobilität und Bewegungsfreiheit zu ermöglichen. (Vgl. GEW 2015, S. 5) d. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung sowie die Schulpflicht zügig umgesetzt werden. Kinder und Jugendliche sollten ab dem ersten Tag, spätestens drei Monate nach ihrer Ankunft eine Schule besuchen können. (Vgl. GEW 2015, S. 5) e. Das Recht auf den Besuch einer berufsbildenden Schule muss bis zum Alter von 25 Jahren garantiert werden, um jungen Menschen trotz existenzieller Brüche in den Biografien eine bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. (Vgl. GEW 2015, S. 5) f. Es darf keine Ausbildungs- und Studienverbotsauflagen durch Ausländerbehörden mehr geben. (Vgl. GEW 2015, S. 5) g. Die Mindestaufenthaltsdauer für BAföG- und BAB-Bezüge ist auf drei Monate zu senken. (Vgl. GEW 2015, S. 5) h. Bürokratische Hürden zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen sind abzubauen. (GEW 2015, S. 7)

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4.2 Notwendige Maßnahmen in Bildungseinrichtungen Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Maßnahmen unabhängig vom Bildungsbereich frühkindliche Bildung, Allgemeinbildende und Berufsbildende Schulen, Hochschule und Erwachsenenbildung gedacht werden können und damit auch nicht verallgemeinerbar sind. Trotzdem wird es im Folgenden um wesentliche verallgemeinerte und allgemeine Forderungen der GEW gehen, die für alle Bildungsbereiche zutreffen.7 Sie sind in diesem Kontext eher als grobe zusammenfassende Skizze der Maßnahmen zu verstehen. a. Personelle Ressourcen: Alle Bildungsbereiche müssen mit zusätzlichem Fachpersonal ausgestattet werden. Bereits in den Erstaufnahmelagern müssen Pädagoginnen und Pädagogen eingesetzt werden, um die Menschen und vor allem die Kinder und Jugendlichen vor Ort zu begleiten (ebd., S. 5 f.). b. Aus-, Fort- und Weiterbildung: Das Personal muss aus-, fort- und weitergebildet werden; nicht zuletzt auch, um prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu verhindern. c. Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten: Zusätzlich müssen Beratungs- und Unterstützungsangebote für geflüchtete Menschen und in Bildungseinrichtungen Tätige ausgebaut werden, um diesen Handlungssicherheit zu geben und um bürokratische Hürden bewältigen zu können. d. Sprachliche Hürden absenken: Sprachliche Barrieren müssen durch die Qualifizierung des Personals einerseits – auch an Hochschulen – sowie den Ausbau von Sprachmittlungsleistungen andererseits abgesenkt werden. e. Integration: Kinder und Jugendliche müssen von Anfang an Zugang zu Bildungseinrichtungen mit gleichaltrigen Sprachvorbildern haben, damit sie Freundschaften knüpfen können und die Notwendigkeit der Kommunikation in der fremden Sprache haben (ebd., S. 6). Das ersetzt zwar nicht die Notwendigkeit der intensiven Sprachförderung, es beschleunigt jedoch den Spracherwerb.

7Ein

detaillierter und auf die Bildungsbereiche spezifisch ausgerichteter Forderungs- bzw. Maßnahmenplan ist den Handreichungen der GEW (2015, S. 5 f.) zu entnehmen.

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5 Exkurs: Handlungsanleitung bei drohender Abschiebung eines Kindes oder eines Jugendlichen Der unsichere Aufenthaltsstatus ist für viele Menschen mit Fluchthintergrund, die bei uns Schutz suchen, eine zusätzliche Belastung. Besonders schlimm kann es werden, wenn die unsicheren und auch lebensbedrohlichen Nachrichten aus dem Herkunftsland nach wie vor alltäglich sind, aber dennoch eine Abschiebung droht. Immer wieder ist von der Solidarisierung mit den von Abschiebung bedrohten Menschen aus Schulen zu hören. Dies ist verständlich vor dem Hintergrund, dass Menschen sich begegnet sind, mithin Verständnis und Sympathie füreinander erlernen durften. Die Erfahrung, dass nun eine geschätzte Person von heute auf morgen eine zusammengewachsene Gemeinschaft zwangsweise verlassen muss und die Unsicherheit über ihre Zukunft macht nicht nur den Betroffenen Angst. Diese Situation ist für alle empathischen Menschen aufwühlend und kann zu einer Traumatisierung führen. Viele Beschäftigte in den Schulen haben sich der zusätzlichen Belastung der Integration der vielen geflüchteten Kinder und Jugendlichen völlig selbstverständlich gestellt. Dabei ist die Gewissheit, dass ein unsicherer Aufenthaltsstatus immer auch zu einer Abschiebung führen kann, auch ein mitgedachtes Szenario. Nun ist es an etlichen Schulen bundesweit tatsächlich dazu gekommen, dass die Polizei in der Schule war und einzelne Kinder unangekündigt mitgenommen hat. Das war bei dem erklärten Ziel der Politik, die Zahl der Abschiebungen deutlich steigern zu wollen, zu erwarten. Denn dieses Ziel hat dazu geführt, dass Abschiebungen aus rechtlicher Sicht entsprechend § 59 AufenthG nicht mehr angekündigt werden müssen (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz o. J.b). Mögliche Abschiebungen sollten für alle Bildungseinrichtungen Anlass sein, um sich auf das mögliche Szenario im Vorfeld vorzubereiten. Das pädagogische Ethos erfordert es, Schülerinnen und Schüler zu schützen. Daher kann es nicht darum gehen, ob der Schutz organisiert werden soll, sondern nur darum, wie dies möglichst erfolgreich geschehen kann. Der enge Kontakt zu der Schülerin oder dem Schüler ist eine Voraussetzung. Es sollte jederzeit bekannt sein, welchen Aufenthaltsstatus das Kind derzeit genießt. Mit den Eltern oder bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sollte mit den betreuenden Personen/Institutionen beraten werden, was in einem akuten Fall unternommen werden kann. Das Kind selber sollte so weit wie möglich herausgehalten werden, um es nicht zusätzlich zu verunsichern. Über örtliche Unterstützergruppen sowie Gliederungen z. B.

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vom Flüchtlingsrat und Pro Asyl kann Unterstützung und viel Erfahrungswissen eingeholt werden. Es sollte beraten werden, ob die örtliche Presse einbezogen wird, damit diese in einer akuten Situation den Fall so schnell wie möglich öffentlich machen kann. Um sich auf eine drohende Abschiebung aus der Bildungseinrichtung vorzubereiten, an der man persönlich tätig ist, gibt es von der GEW einige Informationsmaterialen, die als Handlungsanleitung dienen. Diese sind entstanden, weil in den betreffenden Bundesländern tatsächlich Abschiebungen aus Schulen versucht worden sind. Die Beispiele stammen aus Baden-Württemberg (GEW 2017b) und Bayern (GEW 2017a). Ob und inwieweit die Abschiebung aus einer Schule heraus rechtlich zulässig ist, hängt von vielen Punkten ab. Befindet sich eine Schülerin oder ein Schüler bereits in einer Ausbildung, während der Asylantrag negativ beschieden wird, greift die sog. Ausbildungsduldung. Zur Ausbildungsduldung als Schutz vor einer Abschiebung hat der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg eine umfangreiche Handreichung erstellt (Röder 2017). Ob und inwiefern eine Abschiebung aus der Schule heraus zulässig ist, wird zukünftig sicher anhand konkreter Fälle juristisch entschieden werden. Bereits jetzt gilt, dass eine Abschiebung aus dem direkten Unterricht heraus nicht erfolgen darf. Im Vorfeld ist gar die Frage zu erörtern, ob durch die Schulleitung eine Kooperationspflicht mit der durchführenden Ausländerbehörde oder Polizei besteht. Dies ist für Privatschulen nämlich ausgeschlossen. In deren Fällen greift der Grundrechtsschutz nach Artikel 13 des Grundgesetzes, wonach die Unverletzlichkeit der Wohnung anzuwenden ist. Für Schulen in öffentlicher Trägerschaft gilt § 87 AufenthG, wonach die Übermittlung von Daten der betreffenden Person datenschutzrechtlich nicht erfolgen muss. Eine Schulleitung muss demnach keine Auskunft über den Aufenthaltsort des Kindes geben. Zudem gilt für die Abschiebung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es darf durch den Polizeieinsatz nicht zu Unruhe in der Schule kommen. Da dies immer der Fall sein wird, kommt der Autor Hubert Heinold mit seiner Handreichung „Abschiebungen aus Schulen und Betrieben“ zu dem Schluss, dass die Abschiebung aus einer Schule immer zu Unruhe und Ängsten führt. Damit kann eine Verhältnismäßigkeit nie gegeben sein (GEW 2017a).

6 Fazit und Ausblick Unsere Gesellschaft ist geprägt von Verschiedenheit; migrationsbedingte Diversität gehört zur Alltagsrealität (GEW 2015, S. 8).

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Aus dieser Feststellung ergeben sich Fragen für unsere gesamte Gesellschaft und nicht zuletzt auch für das Bildungssystem. Diese müssen systemisch und im Dialog mit politischen Akteuren sowie Interessensvertretungen diskutiert, geklärt und angegangen werden. Unser Bildungssystem verändert sich nicht allein durch Menschen aus anderen Ländern; auch die Umsetzung des Menschenrechtes auf Inklusion in der Schule macht ein Hinterfragen der liebgewonnenen, aber veralteten Schulstrukturen dringend notwendig. Durch die Presse gehen Meldungen, die sowohl die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen als auch von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf unter den gegebenen Bedingungen problematisieren. Meist wird der Fokus dann auf die mangelnden Ressourcen, mangelndes Fachpersonal und die großen Klassen gelegt. Fazit ist nicht selten, dass es zu viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind. Das Problem wird also nicht systemisch, sondern vom Phänomen ausgehend betrachtet. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft verändert hat, die Bedarfe und auch die Herausforderungen und Voraussetzungen, vor denen Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt Kinder, Jugendliche und Erwachsene stehen, ist es nur logisch, dass man das Bildungssystem grundsätzlich infrage stellen muss. Nicht zuletzt, um auch dem Bildungsauftrag der Bildungseinrichtungen gerecht werden zu können (vgl. z. B. § 1 in den Schulgesetzen von Bayern – Bayerische Staatskanzlei 2018 – und Berlin – Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz 2018). Immer wieder sind wir in der vorliegenden Erörterung und Darstellung der GEW Handlungsempfehlungen zur Gewährleistung von Bildungszugängen und Teilhabe für Geflüchtete und Asylsuchende auf grundlegende Haltungsfragen gestoßen. Es kann jedoch nicht die Verantwortung der einzelnen pädagogischen Fachkraft sein und bleiben, sich mit seinem Selbstverständnis und seiner Haltung kritisch und reflektierend auseinanderzusetzen, um auf gesellschaftliche Veränderungen oder Herausforderungen reagieren zu können. „Jede Pädagogik steht in ihrer politischen Gegenwart. Zu dieser muss sie sich verhalten“ (Edler 2017, S. 5). Der Staat darf sich der Verantwortung nicht entziehen, Kindergärten, Schulen und Hochschulen entsprechend einer kritischen, demokratischen und emanzipatorischen Grundhaltung als Pfeiler der Demokratie zu gestalten. Insbesondere dann nicht, wenn die freiheitlichen Grundwerte infrage gestellt werden und ins Wanken geraten.

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Isabel Rojas Castañeda ist Studienrätin und als Lehrkraft an der Integrierten Gesamtschule Büssingweg in Hannover tätig. Sie unterrichtet die Fächer Deutsch, Spanisch und Darstellendes Spiel. Zudem hat sie aktuell den Vorsitz im Schulbezirkspersonalrat der Niedersächsischen Landesschulbehörde – Regionalabteilung Hannover inne. In der GEW ist sie als Vorsitzende des Bezirksverbandes Hannover als auch als Vorsitzende der Landesfachgruppe Gesamtschulen Niedersachsen tätig. Maren Kaminski  ist diplomierte Sozialwissenschaftlerin. Ihr Studium an der Universität Hannover umfasste die Fächer Politik, Soziologie und Sozialpsychologie sowie Rechtswissenschaften im Nebenfach. Seit 2013 ist sie als Gewerkschaftssekretärin beim GEW Bezirksverband Hannover beschäftigt.

Selbst-Bemächtigung, Selbst-Organisation von geflüchteten Personen und Soziale Arbeit in einem zunehmend nationalistischrassistischen Land „Flüchtlinge sind keine Babys. Es braucht Solidarität und Räume statt alter Kleider“ (Rex Osa) Claus Melter Zusammenfassung

Die Soziale Arbeit muss sich den Tatsachen kolonialer und nationalsozialistischer sowie aktueller rassistischer Gewalt und menschenrechtsverletzender nationalstaatlicher Diskriminierung stellen. Ist Soziale Arbeit eher Teil eines Menschenrechtsverletzungssystems oder tritt sie für Menschenrechte ein? Kennen Sozialarbeitende die verschiedenen UN-Konventionen und Formen von Gewalt und Diskriminierung? Respektieren Sie das Selbst- und Mitbestimmungsrecht aller Menschen? Treten Sie im Alltag für die Würde, konkret die Integritäten, aller Menschen ein? Werden Selbstorganisationen von geflüchteten Personen und ihre Forderungen ernst genommen? In diesem Artikel geht es vor dem Hintergrund von Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen um die Konkretisierung von Menschenwürde und Forderungen der Selbstorganisation von geflüchteten Menschen, die oft ignoriert werden.

C. Melter ()  Fachhochschule Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_11

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Alle Menschen sind gleichwertig. Alle Menschen haben die gleiche Würde. Alle Menschen haben die gleichen Integritäten1. Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte. Diese Prinzipien sind in UN-Menschenrechtskonventionen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Grundgesetz der BRD festgeschrieben und bilden die Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland. Diese Aussagen haben einen Feststellungs- und einen SollensCharakter. Körperliche Integrität heißt, über den eigenen Körper, seine Grenzen und Bewegungsmöglichkeiten, seinen Schutz selber zu entscheiden. Psychische Integrität bedeutet das Recht auf den Schutz, die freie Entfaltung und den Ausdruck der eigenen seelischen Befindlichkeiten. Gedankliche (kognitive) Integrität heißt das Recht auf eigenes Denken und das Recht, sich Bildungsinhalte anzueignen. Rechtliche Integrität heißt im Sinne von Hannah Arendt das Recht auf Rechte, das Recht auf Rechtsschutz und Rechtssicherheit. Soziale Integrität heißt das Recht auf Respekt vor der eigenen Person und den Gruppen, denen sich Personen verbunden sehen. Räumliche Integrität ist das Recht auf geschützten konkreten physischen Raum und dessen Nicht-Verletzung (vgl. Gebrande et al. 2017). Gleichzeitig wurden und werden die Prinzipien der Gleichwertigkeit, der gleichen Würde, der gleichen Integritäten und der gleichen Menschenrechte real systematisch gebrochen, auch in der BRD. Dies geschieht durch Ideen, Gesetze, Regelungen und Handlungen. Ausgeübt werden diese Praxen von Einzelpersonen, Gruppen, Arbeitgebenden, Institutionen und Nationalstaaten sowie Staatenverbünden. Die Konstruktion in unterschiedliche Menschengruppen, ihre Auf- und Abwertung, ihre Bevorzugung und Diskriminierung, ihr Schutz und ihre Verfolgung sind verbunden mit der Herstellung unterschiedlicher Differenzen. So bestehen Vorstellungen unterschiedlicher Geschlechter, unterschiedlicher militärischer, ökonomischer und generativer (Fähigkeit des Zeugens und Gebärens von Kindern) Verwertbarkeit, Vorstellungen von „Normalität“ und „Andersheit“ (vgl. Kessl und Plößer 2010), Vorstellungen von „normal“ und „behindert“ (vgl. Mürner 1996), „gesund“ oder „krank“ sowie Vorstellungen religiöser, kultureller und nationaler Zugehörigkeit oder rassistische Unterscheidungen (vgl. Melter 2016). In Bezug auf Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit bzw. Nationalität sind die Menschenrechte die Grenze nationalstaatlicher Diskriminierung.

1In

diesem Text wird die Wortneuschöpfung „Integritäten“ als Konkretisierung von Menschenwürde verwendet (im Deutschen wird Integrität nur im Singular verwendet), um körperliche, psychische, gedankliche, soziale, rechtliche und räumliche Integritäten zu unterscheiden (vgl. Gebrande et al. 2017).

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Das bedeutet, dem Staat sind Grenzen gesetzt bei der Benachteiligung von Nicht-Staatsbürger*innen. Hierzu bedarf es einer genauen Kenntnis der rechtlich verbindlichen UN-Konventionen, anderer internationaler Abkommen, des Grundgesetzes und der Sozialgesetzbücher, um eine klare Analyse vornehmen und eindeutige Interventionen verwirklichen zu können (vgl. Prasad 2011, 2017). Neben der Frage, ob Unterschiede als gegeben oder hergestellt (konstruiert) angesehen werden, geht es im Folgenden darum, ob, wie und mit welchen Wertungen, Rechten und Zuschreibungen die benannten Unterscheidungen verbunden sind, und ob sie Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde bzw. Integritäten darstellen. Gegen Ideologien, Gesetze und Handlungen der Ungleichwertigkeit gab und gibt es immer schon Widerstand seitens der diskriminierten Gruppen, die gleiche Rechte und Ressourcen einforderten und sich innerhalb ungleicher Machtverhältnisse Taktiken und Strategien (vgl. Seukwa 2006) aneigneten und einsetzten, um ihre Ziele zu erreichen, mithin sich verbündeten, um auf ihre Situation öffentlich aufmerksam zu machen. In diesem Text soll es, nach einer kurzen Skizze aktueller und historischer gesellschaftlicher Verhältnisse, darum gehen, wie zu „Migrant*innen“, „Fremden“ und „Flüchtlingen“ gemachte Personen in Deutschland leben, wie die Rechts- und Wohnsituation ist, wie Selbstorganisation erfolgt, und welche Rolle Soziale Arbeit in diesem Kontext einnimmt und menschenrechtsorientiert einnehmen sollte.

1 Ungleiche Ressourcen-, Lebens- und Machtverhältnisse Laut Daten der International Labour Organisation (ILO) und der Walk Free Foundation waren 2016 mehr als 40 Millionen Menschen Opfer von modernen Formen der Sklaverei. Die ILO hat zudem Schätzungen zur Kinderarbeit veröffentlicht, die bestätigen, dass 152 Millionen Kinder im Alter zwischen fünf und siebzehn Jahren Kinderarbeit leisten. Die Zahlen zeigen, dass Frauen und Mädchen mit 29 Millionen oder 71 Prozent überproportional häufig von moderner Sklaverei betroffen sind. Frauen sind zudem zu 99 Prozent Opfer von Zwangsarbeit in der kommerziellen Sexindustrie. 84 ­Prozent erleiden Zwangsheiraten (ILO und Walk Free Foundation 2017).

In Deutschland bestehen ebenfalls dramatische soziale Ungleichheitsverhältnisse: 50 % der Menschen in Deutschland besitzen zusammen lediglich 0,9 % des

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gesamten Nettovermögens der BRD (BMAS 2017, S. 506–509). Arme Menschen sterben in Deutschland laut dem Paritätischen Gesamtverband elf Jahre früher als reiche Menschen (Der Paritätischer Gesamtverband 2017, S. 98 f.). Mädchen und Frauen erleiden in Deutschland seit Jahrzehnten vielfach sexualisierte und häusliche Gewalt (vgl. Meyer 2017), verdienen in der Erwerbsarbeit im Durchschnitt 21 % weniger als männliche Erwerbs-Arbeitstätige (Statistisches ­ Bundesamt 2018), sind bei Weitem mehr alleinerziehend, üben überwiegend die Sorge-/ Care-Arbeit in den Familien aus und sind überproportional von Armut betroffen, insbesondere von Altersarmut (vgl. BMAS 2006). 2017 befinden sich weltweit über 65,6 Mio. Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Verfolgung, Natur- und Hungerkatstrophen (vgl. UNHCR 2017): mit dem Ziel, zu überleben, zu leben; mit dem Ziel, würdevoll und selbstbestimmt zu leben, um mit der Familie und Freund*innen zusammen zu sein. Nur ein kleiner Teil der Personen auf der Flucht kommt nach Europa, denn „86 Prozent der Flüchtlinge finden Schutz in unterentwickelten Regionen“ (Pro Asyl 2016, S. 4). Die Europäische Union schottet sich mit Grenzzäunen, Grenzpolizei, Grenzpatrouillen, Abschiebeabkommen und einer auf Abschreckung und Unterwerfung orientierten Migrationspolitik ab. „Seit 2000 sind weit über 30.000 Flüchtlinge entlang der europäischen Grenzen gestorben“ (Pro Asyl 2016, S. 10). Nur wenige Verfolgte, vorzüglich jene, die noch gut wirtschaftlich verwertbar sind, erhalten ein dauerhaftes Bleiberecht. Viele geflüchtete Personen sind aus Deutschland in andere Länder weiter migriert (Pro Asyl 2016, S. 28). Personen, die nach Deutschland geflohen sind, werden nach der polizeilichen Identitätsfeststellung erst einmal nach Herkunftsland und Reiseweg überprüft, um sie gemäß den Dubliner Abkommen evtl. in ein anderes Land bringen zu lassen. Dürfen die Personen bleiben und stellen einen Asylantrag, erfolgt – laut Vorschrift – eine gesundheitliche Überprüfung und nach dem Aufenthalt in Erstaufnahmeeinrichtungen die Verteilung in die Bundesländer. Später dann wird die Asylanhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführt. In der Regel werden die geflüchteten Personen nicht ausreichend über ihre Rechte und den Inhalt und die Spielregeln der Anhörung wie des Asylverfahrens sowie die möglichen Folgen der Anhörung durch staatliche Behörden oder die Soziale Arbeit informiert. Ein weiteres Thema sind die rassistischen Übergriffe auf Wohnungen von geflüchteten Personen. Allein im Jahr 2016 wurden 970 rassistische Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte vom Bundesinnenministerium erfasst (Migazin 2017). Mit diesen Fakten korrespondierend ist der öffentliche Diskurs über geflüchtete Personen in Deutschland mittlerweile von Themen wie Kontrolle, „notwendigen Abschiebungen“, Begrenzungen und Abschreckung gekennzeichnet.

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Auch die meisten Parteien stellen diese Themen in den Mittelpunkt und verbinden dies mit einer auf die deutsche Sprache und Anpassung reduzierten Integrationspolitik für diejenigen, die eine längere Bleibeperspektive haben. Insgesamt werden geflüchtete Personen anhand der nationalen Herkunft eingeteilt und Personen aus vielen Ländern sowohl eine sichere Bleibeperspektive als auch Sprach-, Bildungsund Arbeitsmöglichkeiten nur eingeschränkt ermöglicht oder ganz verwehrt. Geflüchtete Personen organisieren sich gegenüber diesem System der bürokratischen und polizeilichen Kontrollen, gegenüber den rassistischen Anschlägen auf Unterkünfte, den in der Regel schlechten Wohnverhältnissen, der unzureichenden Gesundheitsversorgung und der ständigen Sorge vor Ausweisung und Abschiebung selbst. Dies geschieht in Heimen, in kleinen Begegnungen oder in Organisationen wie Refugees for Refugees in Stuttgart2, The Voice Refugee Forum in Jena3 und Women in Exile in Berlin und Brandenburg4 oder International Woman Space sowie die Monitoring Initiative für Heime von geflüchteten Personen in Berlin – sie sind Beispiele von aktiver Selbstorganisation. Beachtenswert ist, dass diese Selbstorganisationen mitunter daran erinnern, dass die Verhältnisse, in denen sie heute leben, koloniale Praxen aufweisen, die ohne Rückerinnerungen an die kolonialen Geschichten und Erfahrungen dieser Menschen nicht verstanden werden können.

2 „Wir sind hier, weil ihr bei uns wart und weil ihr unsere Länder ausbeutet.“ Koloniale Gewalt und Völkermorde „Nichts über uns ohne uns“ ist ein Prinzip sowohl der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (vgl. Köbsell 2006) als auch der Selbstorganisation von Refugees. In Bezug auf den von Deutschen 1904 bis 1908 im heutigen Namibia verübten Völkermord an den Herero und Nama spricht Israel Kaunatjike von diesem Prinzip: „Everything about us without us is against us“ – „Alles über uns ohne uns ist gegen uns“ (vgl. Kaunatjike 2017). Bereits auf der Berliner KongoKonferenz 1884/1885 wurde dieses gewaltsame Prinzip des Sprechens und Entscheidens über andere durchgesetzt: Europäische Regierende teilten auf dieser

2https://refugees4refugees.wordpress.com. 3http://www.thevoiceforum.org. 4https://www.women-in-exile.net.

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Konferenz den afrikanischen Kontinent unter sich auf, um diesen zu überfallen, zu ­unterwerfen und auszubeuten, Menschen, ihre Arbeitskraft und natürliche Ressourcen. Deutschland erstellte „Schutzverträge“ zum Schutz der wirtschaftlichen Ausbeutungsinteressen deutscher Firmen und zur Unterwerfung der afrikanischen Bevölkerung. „Die heutigen Staaten Namibia, Tansania, Togo, Kamerun, Nigeria, Ghana, Ruanda, Burundi, Papua Neuguinea, die Republik der Marshall-Inseln, die Republik Nauru, die nördlichen Marianneninseln, Palau, die Föderierten Staaten von Mikronesien und West-Samoa standen ganz oder teilweise unter deutscher Kolonialherrschaft.“ (Dietrich und Strohschein 2011, S. 117). Im deutschen Kolonialreich lebten zeitweise auf etwa einer Million Quadratkilometer 12 Mio. Einwohner*innen. „Es war territorial das drittgrößte, nach seiner Bevölkerungsgröße das fünftgrößte europäische Kolonialreich“ (Dietrich und Strohschein 2011, S. 116–117). Rechtlich galt die Unterscheidung zwischen dem privilegierenden Recht für die Deutschen und der diskriminierenden Gesetzgebung über die „Eingeborenen“. Daniel Kariko schreibt zu seinen Erfahrungen im von Deutschen kolonisierten „Deutsch-Ostafrika“, dem heutigen Namibia, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Unser Volk wurde durch deutsche Händler rundum beraubt und betrogen und das Vieh mit Gewalt genommen. Unser Volk wurde geprügelt und misshandelt und ihm wurde keine Wiedergutmachung zuteil. Die deutsche Polizei unterstützte die Händler, statt uns zu schützen“ (zit. in van Dijk 2005, S. 102). Gegen systematische Formen von Enteignung, Vergewaltigung, Entrechtung und Polizeigewalt organisierten Herero und Nama Proteste und Anschläge gegen besonders grausame Farmer. Daraufhin entschieden sich die Deutschen zu massiver militärischer Gewalt. Nach dem Befehl von Lothar von Trotha wurde zwischen 1904 und 1908 der erste Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts von Deutschen an den Herero und Nama verübt (vgl. Witboi 1996; Zimmerer 2011). Dieses Verbrechen ist international gemäß der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“5 als Völkermord eingestuft worden, da „in der Absicht […], eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, die folgenden Handlungen ausgeübt und nachgewiesen wurden:

5Der

vollständige Wortlaut der Konvention findet sich unter http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/ start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl254s0729.pdf.

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(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen […] (BGBl. II vom 12.08.1954, S. 730).

Und doch hat keine Regierung in Deutschland den Völkermord gemeinsam mit dem Parlament in einer Bundestags-Resolution als Völkermord anerkannt, sich offiziell entschuldigt und Reparationszahlungen getätigt. Mehr als 60 % des Farmlandes in Nambia sind heute im Besitz der kolonialen deutschen Gewalttäter (vgl. Kaunatjike 2017). Und die Bundesregierung verweigerte 2017 auf beschämende Weise die Annahme der in New York von Vertretern der Herero und Nama eingereichten Klage wegen Völkermords (Pfaff 2017). In Tansania, welches gegen vielfache Widerstände mit militärischer Gewalt erobert wurde, reagierten die deutschen Besatzer von 1905 bis 1907 auf Anschläge gegen die Kolonialherrscher mit einer Praxis der „verbrannten Erde“. Ganze Landstriche wurden mit dem Ziel in Brand gesetzt, widerständige Gruppen wie die Maji Maji zu vertreiben und zu töten. „Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung – rund 250.000 bis 300.000 Menschen – im Krieg, auf der Flucht und durch die Hungerkatastrophe getötet worden ist.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2015) Auch bei diesem Genozid erfolgte von keiner deutschen Regierung eine Anerkennung der Tatsache des Völkermordes, es gab weder eine Entschuldigung, noch Reparationen. Die von Deutschen generierte „Beihilfe zum Völkermord“ 1914 bis 1917 an den Armeniern, ausgeübt von der türkischen Regierung, wurde von hochrangigen deutschen Militärs mit Zustimmung und auf Befehl des deutschen Kaisers vollzogen (vgl. Gottschlich 2015). Im Rahmen der „Armenien-Resolution“ des Bundestages vom 2. Juni 2016 wurde der Türkei nahegelegt, dieses Verbrechen als Völkermord anzuerkennen und Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen. Die Beteiligung deutscher Soldaten wurde in einigen Reden im Bundestag erwähnt, u. a. von Cem Özdemir, der an dieser Stelle auch auf den von Deutschen begangenen Völkermord an den Herero und Nama hinwies6. Infolge der Kritik der türkischen Regierung erfolgte später durch den deutschen Regierungssprecher Seibert eine faktische Distanzierung vom

6Für

den Wortlaut der Debatte siehe Plenarprotokoll 18/173: Stenografischer Bericht zur Sitzung des Deutschen Bundestages vom 02.06.2016, Berlin 2016, S. 17027 ff. http:// dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18173.pdf. Zugegriffen: 30. September 2018.

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­ arlamentsbeschluss; Seibert sprach davon, dass der Beschluss keine rechtliche P Verbindlichkeit besäße (Neues Deutschland 2016). Im Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 begingen Deutsche den Holocaust an den europäischen Juden und Jüdinnen, den Porajmos an den Roma und Sinti (vgl. http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-holocaust-ansinti-und-roma/), die Zwangssterilisierung und Ermordung („Euthanasie“) an als krank oder behindert angesehenen Personen, die Verfolgung und Ermordung von Schwulen, von als „asozial“ oder oppositionell eingestuften Personen. Auch um wieder in die Gemeinschaft der bündnisfähigen Staaten aufgenommen zu werden, anerkannten deutsche Regierungen gegenüber Israel sowie den Jüdinnen und Juden und der Weltgemeinschaft die Tatsache des Völkermordes an den Juden, und es kam zu einem offiziellen Schuldeingeständnis, einer Erklärung der eigenen Verantwortlichkeit und sogenannten „Wiedergutmachung“-Zahlungen. Die anderen Gruppen mussten und müssen für die Anerkennung der erlittenen Verfolgung lange streiten. So wurden Sinti und Roma über Jahrzehnte nicht als Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt und erleben auch heute vielfache Diskriminierung seitens Behörden und anderer Bevölkerungsteile (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014). Auch Homosexuelle mussten und müssen für die Anerkennung der damals erlittenen Verfolgung streiten (Zeit Online 2018), ebenso wie Angehörige und Opfer von Zwangssterilisierung und „Euthanasie“, den Morden an Menschen, die als „behindert“ und „krank“ galten (Schulte 2017; Dassler 2016; ausführlich zur „Euthanasie“ siehe den Sammelband Westermann et al. 2011; Degen 2014).

3 Verleugnungspraxen in Deutschland nach dem Nationalsozialismus Durch die Gelder des Marshallplans und die auferlegte Demokratie der BefreiungsMächte gelang der BRD der Aufstieg zu einer wirtschaftlichen und politischen Macht in Europa. Die DDR realisierte einen Staatssozialismus, der neben Großbetrieben und angestrebter Vollbeschäftigung auch Ausreiseverweigerung und Stasi-Bespitzelung vorsah. Nach dem Zusammenschluss von DDR und BRD ist das demokratisch-­ kapitalistische Deutschland eines der ökonomisch reichsten Länder der Welt und das wohl politisch einflussreichste in Europa. Dies ist jedoch weder damit verbunden, dass alle in die BRD migrierten Personen gleiche Rechte haben, noch dass ihre Menschenrechte geachtet werden. In Deutschland werden viele Opfergruppen der von Deutschen ausgeübten kolonialen und nationalsozialistischen Völkermorde

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nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft der Erinnerungswürdigen der Menschheit und konkret Deutschlands gesehen. Ihr Leid wird nicht oder nur geringfügig anerkannt. Und es gibt das diskriminierende Denken des Bevorrechtigtseins und der Überlegenheit von „Deutschen“, insbesondere von als „christlich“ und „weiß“ angesehenen Personen. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass Migrant*innen und geflüchtete Personen nicht die gleichen Rechte in Bezug auf Wahlrecht, Gesundheit, Wohnen und Bewegungsfreiheit haben (vgl. Dawod et al. 2017). Und es ist selbstverständlich, dass über Flüchtlinge gesprochen wird, Tagungen zu Migration und Flucht veranstaltet werden, ohne dass Vertreter*innen der geflüchteten Personen bzw. von Selbstorganisationen eingeladen werden. Die Rede von Überlastung, Ängsten und Schwierigkeiten mit den zu „Anderen“ gemachten Personen ist dem Muster nach übereinstimmend mit dem, wie als „christlich“ und „deutsch“ definierende Personen in Deutschland über deutsche Juden und Jüdinnen in der Zeit von 1800 bis 1933 gesprochen haben (vgl. Aly 2012). Doch den dominanten nationalistischen und rassistischen Diskursen steht auch zivilgesellschaftlicher Widerspruch gegenüber – am klarsten zu verfolgen an den von den kritischen Communities migrierter und geflüchteter Personen etablierten Diskursen.

4 Selbstbemächtigung und Selbstorganisation von geflüchteten Personen und Migrant*innen Rex Osa ist einer der Gründer und Aktivisten von Refugees4Refugees in Stuttgart. Er verwirklicht die Selbstbestimmung und Selbstorganisation von geflüchteten Personen durch vielfältige Aktionen, Besuchen in Heimen für geflüchtete Personen, auf Selbstorganisationstreffen und bei Reden auf Demonstrationen. In einem Vortrag an der Hochschule Esslingen 2016 betonte er, dass geflüchtete Personen sich selber organisieren müssen, da nur diese selber wissen, wie es ist, die eigenen repressiven Erfahrungen gemacht zu haben, und nur sie die eigenen Bedürfnisse und Ziele kennen. Rex Osa sagte, dass letztlich nur geflüchtete Personen sich selber für eigene Ziele effektiv einsetzen können. Die Erfahrung zeige, dass wir uns nur auf uns selber verlassen können. Die erste Regel, wenn Flüchtlinge sich treffen und sich austauchen, ist: Keine Sozialarbeiter*innen! Die haben ihre eigene Agenda. Aber wir wissen, was wir wollen, wem wir vertrauen können. Die Erfahrenen kennen die Gesetze und rechtlichen Schritte, gute Anwält*innen und wissen, wie man mit Behörden umgeht. Von der Sozialen Arbeit, von Ehrenamtlichen und Initiativen brauchen wir Unterstützung beim Finden und Anmieten von Räumen, um uns zu treffen, manchmal Hilfe beim Schreiben von Texten. Vor allem

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aber ­brauchen wir solidarische Unterstützung für die von uns aufgestellten Forderungen wie der Abschaffung der Residenzpflicht, Bleiberecht, angemessene Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, keine rassistischen Polizeikontrollen (Osa 2014).

In einem Interview mit Radio Dreieckland bringt Rex Osa es so auf den Punkt: „Flüchtlinge sind keine Babys. Es braucht Solidarität und Räume statt alter Kleider“ (Osa 2018). Diese Praxen der Selbstbemächtigung und Selbstorganisation betonen Möglichkeit und Verantwortung geflüchteter Personen, sich für die eigenen Rechte und die von Angehörigen, Freund*innen und Bekannten einzusetzen. Es geht um die Verantwortung, für bessere Verhältnisse einzutreten, mithin gegenwärtige und vergangene Diskriminierungen zu kritisieren. Auch hinsichtlich weltweiter kolonialer und neokolonialer Gewalt und Ausbeutung arbeitet Refugees4Refugees mit The Voice Refugee Forum in Jena zusammen. The Voice hat sich als Selbstorganisation von geflüchteten Personen gegründet und kämpft gegen Deportationen von Menschen in Länder, in denen ihnen Hunger, Verfolgung, Krieg und Gewalt drohen: Our main focus of discussion will be breaking the deportation chain from within; with discussions on strategies of Break Deportation Acts: Our historical backgrounds and past political struggles against deportation and social exclusion will be the guide to our continued engagement for justice and human dignity. We want to discuss how we, the refugee-migrant community activists in Germany overcome the different faces of injustice in Europe. We will speak about our experiences, the struggles and campaigns of the refugee community against the deportation cultures of the German and European racist nationalism, against social exclusion in Germany. About how we fight against the abuse and violation of our rights, the corruption of the deportation system, societal ignorance including German elites and politicians vis-à-vis human dignity and freedom of movement (The Voice Refugee Forum 2017)7.

7„Unser

Hauptfokus liegt auf der Diskussion, wie wir die Ketten von Abschiebungen von innen zerreißen können; mit Diskussionen über Strategien, wie Abschiebungen verhindert werden können: Unsere historischen Hintergründe und vergangenen politischen Kämpfe gegen Abschiebungen und sozialen Ausschluss werden uns leiten bei unserem fortgeführten Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Wir wollen darüber sprechen, wie wir als Gemeinschaft von Migrant*innen/Flüchtlingen die unterschiedlichen Formen von Ungerechtigkeit in Europa überwinden können. Wir sprechen über unsere Erfahrungen, Kämpfe und Kampagnen der Flüchtlings-Gemeinschaften gegen die Abschiebekultur in Deutschland und den europäisch-nationalistischen Rassismus, den sozialen Ausschluss in Deutschland. Wir kämpfen gegen den Missbrauch und die Verletzung unserer Rechte, die Korruption im Abschiebe-System, die gesellschaftliche Ignoranz – auch von sozialen und politischen Eliten – gegenüber unserer Menschenwürde und dem Recht auf Bewegungsfreiheit.“ (The Voice Refugee Forum 2017, Übersetzung C.M.).

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Weitere Themen sind der Widerstand gegen rassistische Polizeigewalt (wie Öffentlichkeitsarbeit und Demonstrationen) und die fehlende Verfolgung und Aufklärung von Polizeigewalt durch Staatsanwaltschaften und Gerichte. Insbesondere die Gerichtsprozesse zum Mord an Oury Jalloh wurden von The Voice begleitet (siehe exemplarisch The Voice Refugee Forum 2012). Die Frauen von Women in Exile praktizieren konkrete Solidarität zwischen migrierten/geflüchteten Frauen durch den Besuch in Heimen von geflüchteten Personen, in Unterkünften, Wohnungen und durch gemeinsame Treffen in öffentlichen Räumen. Neben der Frage des Aufenthalts geht es um Gesundheit, Wohnund Arbeitsverhältnissen betreffende Fragen sowie die Gegenwehr gegenüber sexualisierter Gewalt und häuslicher Gewalt in Heimen (Gürsel und Women in Exile 2015). Die Studie von Dilger, Dohrn und International Women Space (2016) über die Perspektive und Erfahrungen von Frauen in Flüchtlingsunterkünften in Berlin zeigt, wie insbesondere Frauen durch die überfüllten Räume, zu wenige Toiletten und Duschen, fehlende Privatsphäre und minimale Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten negativ betroffen sind. Auch die Situation unbegleiteter, aber auch begleiteter Kinder zeichnet sich in vielen Bereichen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnverhältnisse, aufenthaltsrechtliche Sicherheit, Familieneinheit als ein Verstoß gegen Menschenrechte, konkret die UN-Kinderrechtskonvention aus (vgl. Bliemetsrieder et al. 2016). Selbstorganisation und Selbstbemächtigung wird zum Teil auch mit dem Konzept des Selbst-Empowerment benannt. In diesem Kontext hat William Edward Burghardt du Bois als einer der Begründer der Soziologie, als Historiker, Literat und Aktivist, als Mitbegründer der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung in den USA wesentliche Beiträge zur Analyse kapitalistischer und rassistischer Verhältnisse geliefert und umfangreiche Veränderungskonzepte im Sinne der Selbstorganisation, der Bildung und des Empowerments unterdrückter Gruppen vorgestellt (vgl. Melter 2018a). W. E. B. du Bois setzte sich angesichts rassistischer und kapitalistischer Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen dafür ein, dass Schwarze8 sich eigene Arbeitsmärkte und Bildungsinstitutionen schaffen, da es

8„‚Schwarz‘

ist ein Ausdruck der selbst gewählten sozialpolitischen Positionierung von Personen und Personengruppen, die ihren Ursprung in Afrika haben und durch Kolonialrassismus diskriminiert sind. Schwarz wird stets mit einem großen ‚S‘ geschrieben, auch in der adjektivistischen Verwendung, um die biologisierende Vorstellung von (Haut-)Farbe zu brechen und die soziale Realität, die aufgrund dieser kolonisierenden Vorstellung hergestellt wird, zum Ausdruck zu bringen“ (Kelly 2016, S. 7). Ein anderes Verständnis betont, dass „Schwarz“ auf diejenigen Unterscheidungspraxen verweist, die einerseits zur rassistischen Diskriminierung der einen Gruppe bzw. die Bevorzugung der als „weiß“ (im Folgenden kursiv geschrieben) angesehenen Gruppen führt.

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lange Zeit brauchen würde, Diskriminierungspraxen der privilegierten Mehrheitsgesellschaft zu verändern. In dieser Zwischenzeit, in der rassistische institutionelle Denk- und Handlungsmuster von und in Institutionen abgebaut werden, müssten die jetzt zur Schule und Universität gehenden Schüler*innen und Studierenden angemessen gefördert werden. Neben dem Wahlrecht für alle forderte er auch freien Bildungszugang für alle Personengruppen und eine systematische Analyse von bestehenden Diskriminierungspraxen, von Fördermaßnahmen und einen Plan, um jetzige und zukünftige Lehrende diskriminierungskritisch fortzubilden. Auch das historische und sozialwissenschaftliche Curriculum u. v. a. bedürften einer Überarbeitung, da Personen afrikanischer Herkunft und afrikanische Länder ignoriert oder abwertend in Lehrbüchern und Curricula dargestellt werden. Zudem hatte er die Idee einer Encyclopedia Africana, in der die Geschichte, die sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften afrikanischer Länder, ihre Traditionen und herausragenden Persönlichkeiten dargestellt werden. Zunehmend wurde er auch ein Kritiker kapitalistischer Verhältnisse und sah im Sozialismus eine notwendige Gesellschaftsutopie (Du Bois 2003). Das Wissen um die Geschichte der Länder, des Kolonialismus und des Rassismus weltweit, sowohl im transatlantischen Versklavungshandel als auch in den kolonisierten und kolonisierenden Ländern, den Ländern der eigenen Vorfahren, hielt du Bois für wichtig, um verallgemeinernden rassistischen Abwertungen und Wissenslücken fundiert entgegen treten zu können. Hierbei war Du Bois stets einer klaren methodischen wissenschaftlichen Analyse und der Idee gleicher Rechte aller Menschen verpflichtet. In ihrem für rassismuskritische Pädagogik wegweisenden Buch „Erziehung als Empowerment-Aufgabe“ beschreibt Nkechi Madubuko zentrale Prinzipien des Empowerment-Ansatzes aus der Perspektive von Eltern und Erziehenden, die rassismuserfahrene Personen begleiten: Wesentliches Element der Empowerment-Arbeit ist, sich von Fremdbestimmung, d. h. von Vorurteilen in den Köpfen der anderen, zu befreien. Stereotype Vorstellungen darüber, wie jemand, der einer bestimmten Kultur, sozialen Gruppe oder Religion angehört, sein soll, reduzieren einen Menschen und engen ihn auf dieses Bild ein (Madubuko 2016, S. 48).

Weiter heißt es: Distanz zu diesen Stereotypen im eigenen Umfeld aufzubauen, ist ein erster Schritt. Der zweite Schritt besteht darin, sein eigenes Selbst jenseits der Projektionen zu finden (über Erfahrungen in geschützten Räumen, Gespräche, Selbstdefinitionen). Offene, wertschätzende Erziehung und Wissen über die eigene Herkunft/Religion

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spielen noch eine größere Rolle, um sich gegenseitig von Stereotypisierung abzugrenzen (Madubuko 2016, S. 48).

So ist das Wissen um historische Bezüge, die Abwehr von Vorurteilen und der Aufbau von sich stärkenden Communities ein zentrales Moment rassismuskritischer Sozialer Arbeit. Verbunden werden muss dies mit einer Kritik nationalstaatlicher Diskriminierung, die durch das Aufenthalts- und Asylgesetz vielfach rechtlich und faktisch Menschenrechte bricht.

5 Aufgaben und Praxen der Sozialen Arbeit Aus den Forderungen der selbst organisierten geflüchteten und migrierten Personen sowie dem Empowerment-Ansatz im Sinne von W. E. B. du Bois, Rex Osa und Nkechi Madubuko ergeben sich viele Herausforderungen für eine emanzipatorisch und kritisch ambitionierte und menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit (vgl. Gebrande et al. 2017; Prasad 2017): • Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Selbstartikulation geflüchteter Personen müssen geschaffen werden; • Vor der Asylanhörung müssen geflüchtete Personen umfangreich und sprachlich angemessen über den Inhalt und die Regeln der Anhörung informiert ­werden; • Die Profession und Disziplin Soziale Arbeit sowie einzelne Sozialarbeitende müssen sich gemeinsam mit geflüchteten Personen für menschenwürdige Wohnungen und gegen das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz einsetzen, das Ansprüche unterhalb der Menschenwürde festlegt (z. B. Behandlung nur bei akuten und nicht bei chronischen Krankheiten); • Die Forderung nach absoluter Abschaffung der Residenzpflicht muss unterstützt werden; • An Abschiebungen dürfen Sozialarbeitende sich durch ihren Menschenrechtsauftrag nicht beteiligen; • Räume für die Selbstorganisation von geflüchteten Personen sollen zur ­Verfügung gestellt werden; • Die bestehende Gesellschaft und die Lebensverhältnisse von geflüchteten Personen müssen anhand bestehender UN-Konventionen und der Menschenrechte/Integritäten analysiert werden und es muss gegen Integritätsverletzungen seitens der Sozialen Arbeit interveniert werden;

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• Es muss eine Auftrags- und Selbstklärung erfolgen, dass bei diskriminierenden staatlichen Aufträgen (Anwesenheitskontrollen, Beihilfe bei Abschiebungen usw.) das Primat der Würde aller Menschen absoluten Vorrang hat; • Hierzu bedarf es auch Praxen des zivilen Ungehorsams gegenüber integritätsverletzenden Bedingungen und Aufträgen; • Es bedarf einer Analyse fachlich professioneller Aufgaben der Sozialen Arbeit, die klare Haltung und Einsatz für Menschenrechte realisiert, und entsprechende Konzepte erstellt. Die vom Staat beauftragte, gesetzlich gerahmte und finanzierte Soziale Arbeit trifft einerseits auf die vielfach diskriminierende und menschenrechtswidrige Aufenthalts- und Asylgesetzgebung und einen Abwertungsdiskurs gegenüber geflüchteten Personen seitens Politik und Dominanzgesellschaft. Andererseits besteht der Auftrag der Unterstützung der Adressat*innen sowie des Einsatzes für die Menschenrechte laut Grundgesetz, Sozialgesetzbüchern sowie dem internationalen Ethik-Codex der Sozialen Arbeit (vgl. Prasad 2017). Real erfüllen Sozialarbeitende die menschenrechtlichen Anforderungen oft nicht (vgl. Prasad 2017; Dawod et al. 2017), aber es gibt auch viele Sozialarbeitende, die sich für und mit geflüchteten Personen für deren Rechte einsetzen (Deleva 2017). Das Prinzip „Nichts ohne uns über uns“ wird jedoch auch von Sozialarbeitenden noch zu wenig umgesetzt. Die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Personen sind gekennzeichnet von massiver personaler Unterbesetzung. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Baden-Württemberg verwiesen, wo ein*e Sozialarbeiter*in 100 bis 136 Geflüchtete Personen betreuen soll (vgl. Melter 2018b). So können Sozialarbeitende die Ansprüche einer professionellen menschenrechtlich und kritisch-emanzipatorisch ambitionierten Sozialen Arbeit aufgrund des Personalschlüssels nicht erfüllen. Diese politisch gesetzten Rahmenbedingungen mögen so gedeutet werden, dass Soziale Arbeit als Feigenblatt instrumentalisiert wird, um geflüchtete Personen in schwere Lebensbedingungen ohne effektive Unterstützung zu bringen, freilich mit dem Anschein von angemessener Versorgung. Hier stellt sich jedoch zum einen der Anspruch der Sozialen Arbeit an Fachlichkeit, Professionalität und Menschenrechtsorientierung und die Frage, wieso sich Träger der Sozialen Arbeit auf derartig unangemessene Betreuungsverhältnisse einlassen und seitens der Profession und Disziplin so wenig Kritik an der rechtlichen, materiellen und sozialen Diskriminierung von geflüchteten Personen sowie auch an den schlechten Arbeitsbedingungen erfolgt. Das Positionspapier „Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – Professionelle

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Standards und sozialpolitische Basis“9 von Professor*innen und Pädagog*innen für Standards in der Arbeit mit geflüchteten Personen ist demgegenüber nur als erster Schritt des Protestes einzustufen. Hinsichtlich der Selbstorganisation und Forderungen geflüchteter Personen wiederum muss gefragt werden, wie sich Disziplin und Profession sowie die einzelnen Sozialarbeitenden den Anfragen an Solidarität sowie Diskriminierungs- und Rassismuskritik positionieren. Konkret geht es um die Vermittlung und Aneignung von Kenntnissen von UN-Konventionen, von Theorien und Praxen der Diskriminierungs- und Rassismuskritik. Zudem braucht es eine Kommunikations- und Konflikt-Kompetenz, um sich für die Menschenrechte aller Menschen einzusetzen, auch gegenüber nationalstaatlicher Diskriminierung und institutionellem Rassismus.

Literatur Aly, G. (2012). Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933. Frankfurt a. M.: Fischer. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.). (2014). Fragen und Antworten zu Sinti und Roma. http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Ethnische_ Herkunft/Themenjahr_2014/fragen_antworten_Sinti_Roma/faq_Sinti_und_Roma_ node.html. Zugegriffen: 30. September 2018. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.). (2006). Lebenslagen von Frauen in Deutschland. Berlin. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.). (2017). Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin. http://www. bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Pressemitteilungen/2017/5-arb-langfassung. pdf?__blob=publicationFile&v=9. Zugegriffen am 29. September 2017. Bliemetsrieder, S., Kindermann, A., & Melter, C. (2016). Selbst- und Mitbestimmung sowie Integritäten geflüchteter minderjähriger Personen in Benachteiligungs-/Diskriminierungsverhältnissen. In J. Fischer & G. Graßhoff (Hrsg.), Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. „In erster Linie Kinder und Jugendliche!“. (1. Sonderband Sozialmagazin, S. 136–152). Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.). (2015). 1905: Maji-Maji-Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft. http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/209829/1905-der-maji-maji-aufstand. Zugegriffen: 20. September 2017. Dassler, S. (08. Oktober 2016). Die vergessenen Opfer. Seit 2014 gibt es ein Denkmal, das an die „Euthanasie“ -Morde erinnert. Und auch an die Zwangssterilisierten, die bis heute nicht als „rassisch Verfolgte“ anerkannt sind. Der Tagesspiegel. https://www. tagesspiegel.de/berlin/film-nebel-imaugust-in-berlin-die-vergessenen-opfer/14658794. html. Zugegriffen: 30. September 2016.

9Für

den Wortlaut siehe www.fluechtlingssozialarbeit.de.

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Dawod, H., Melter, C., & Bliemetsrieder, S. (2017). Stationen verweigerter Menschenrechte am Beispiel der Kindeswohlgefährdung eines Kindes mit Fluchterfahrung – Professionalisierungsbedürftigkeit, systematisch politisch-institutionelle Praxen und Erfahrungen individueller Verantwortungsverweigerung. In J. Gebrande, C. Melter & S. Bliemetsrieder (Hrsg.), Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Intersektional praxeologische Perspektiven (S. 269–294). Weinheim und Basel: Beltz/Juventa. Degen, B. (2014). Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte. Homburg: VAS-Verlag. Deleva, Z. (2017). Rede zum Sommerfest und Zuckerfest in der Ulme, einem Wohnheim für geflüchtete Personen in Berlin. http://www.interkulturanstalten.de/index. php/2017/07/17/zuckerfest-2017-bilder-und-eine-eindrucksvolle-rede/. Zugegriffen: 21. September 2017. Der Paritätische Gesamtverband (Hrsg.). (2017). Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017. Berlin. Dietrich, A., & J. Strohschein (2011). Kolonialismus. In S. Arndt & N. Ofuatey-Alazard (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache (S. 110–119). Münster: Unrast-Verlag. Dilger, H., & Dohrn, K. (2016). In colloboration with International Women Space. Living in Refugee Camps in Berlin. Women’s Perspectives and Experiences. Berlin: Weißensee Verlag. Du Bois, W. E. B. (2003). Die Seelen der Schwarzen. The Souls of Black Folk. (Übersetzt von B. Meyer-Wendt und J. Meyer-Wendt. Mit einem Vorwort von H. Louis Gates Jr.). Freiburg: Orange-Press. Gebrande, J., Melter, C., & Bliemetsrieder, S. (2017). Anregungen für Orientierungspunkte und Analysekriterien einer kritisch ambitionierten Sozialen Arbeit. In J. Gebrande, C. Melter & S. Bliemetsrieder (Hrsg.), Kritisch ambitionierte Soziale Arbeit. Intersektionale praxeologische Perspektiven (S. 390–405). Weinheim und München: Beltz/Juventa. Gottschlich, J. (2015). Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin: Christoph Links Verlag. Gürsel, D., & Women in Exile – Refugee Women for Refugee Women (2015). „Der Kampf muss weitergehen – wir werden nicht aufgeben!“ Duygu Gürsel im Gespräch mit Women in Exile – Refugee Women for Refugee Women. In Ç. Zülfukar & T. Savaş (Hrsg.), Gespräche über Rassismus, Perspektiven und Widerstände (S. 161–178). Berlin: Verlag Yilmaz Günay. ILO. International Labour Organisation und Walk Free Foundation (Hrsg.). (2017). Weltweit leben 40 Millionen Menschen in moderner Sklaverei und 152 Kinder müssen arbeiten. http://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_575502/lang–de/index. htm. Zugegriffen: 20. September 2017. Kaunatjike, I. (2017). Everything about us without us is against us. [Vortrag zum Völkermord an den Herero und Nama]. Bielefeld: FH Bielefeld. Kelly, N. A. (2016). Afrokultur. der Raum zwischen gestern und morgen. Münster: Unrast. Kessl, F., & Plößer, M. (2010). Differenzierung, Normalisierung, und Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS-Verlag. Madubuko, N. (2016). Empowerment als Erziehungsaufgabe. Praktisches Wissen im Umgang mit Rassismuserfahrungen. Münster: Unrast-Verlag.

Selbst-Bemächtigung, Selbst-Organisation von geflüchteten …

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Claus Melter,  Prof. Dr. phil., ist Professor an der Fachhochschule Bielefeld. Seine Lehrund Forschungsgebiete sind Geschichte und Theorien Sozialer Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Fragen zu Sozialer Arbeit im Kolonialismus und Nationalismus sowie in aktuellen rassistischen Kontexten. Forschungsinteresse: Wie werden in der Praxis Sozialer Arbeit Grund- und Menschenrechte thematisiert und eingefordert und wie diese in Kooperation mit den Adressat*innen sowie Selbstorganisationen – zum Beispiel von geflüchteten Personen oder Antidiskriminierungsstellen – konkret erreicht?

Fremd, nicht immer anders Zur Bildungsarbeit mit Geflüchteten Anselm Böhmer

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz fragt nach den gesellschaftlichen und bildungsbezogenen Konsequenzen der jüngeren Zuwanderung. Zu diesem Zweck entwickelt er zunächst erziehungswissenschaftliche Kategorien, die sich aus einem als „Pädagogik der Fremde“ konzipierten Ansatz ableiten. In einem weiteren Schritt stellt er ausgesuchte Befunde eines internationalen Pilotprojektes zu bildungsbezogenen und sozialräumlichen Erfahrungen Geflüchteter vor und nutzt diese Erträge, um erste Impulse für einen Wandel bisheriger Bildungskonzepte vorzuschlagen. Geflüchtete wanderten in den vergangenen Jahren in bis dahin nicht bekanntem Ausmaß nach Europa und nach Deutschland (vgl. Bundesregierung 2016; historisch rekonstruierend Oltmer 2016). Daraus ergeben sich eine Vielzahl von Herausforderungen, die Veränderungen der deutschen Gesellschaft dann bedeuten, wenn diese Herausforderungen nicht schlicht mit dem Ruf nach Assimilation der „Neuen“ beantwortet werden. Folglich bedarf es auch veränderter gesellschaftlicher Ansätze, um den Ansprüchen an Inklusion, Wohlstand und Teilhabe in einer postmigrantischen Gesellschaft (vgl. Yildiz 2016) Rechnung zu tragen. Zudem steht Bildung im Ruf, für die Integration von MigrantInnen allgemein (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016) und Geflüchteten im Besonderen von Bedeutung zu sein. Daraus leiten sich zahlreiche politische Initiativen, aber auch praktische Impulse des Bildungssystems und seiner Vorfelder

A. Böhmer (*)  Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. S. Baader et al. (Hrsg.), Flucht – Bildung – Integration?, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23591-8_12

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ab (vgl. Böhmer 2017b). Um dieses Verständnis untersuchen zu können, bietet es sich an, das Verhältnis von gesellschaftlicher Integration und Bildung zunächst theoretisch zu bestimmen. Daher soll mit diesem Beitrag im Hinblick auf die derzeitigen Prozesse der deutschen Gesellschaft eine bildungstheoretische Selbstverortung unter der Perspektive von Flucht und den damit einhergehenden Bildungsherausforderungen erfolgen (1) Um die damit gesellschaftlich konkretisierten theoretischen Ansatzpunkte zu überprüfen, werden im nächsten Schritt Befunde eines aktuellen Forschungsprojekts dargestellt: „Refugee Spaces“ (2) In einem weiteren Schritt werden die neu identifizierten Fragestellungen umschrieben und für die künftige erziehungswissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht (3) Auf diese Weise lassen sich erste Erkenntnisse gewinnen, die Impulse für eine Fortschreibung bisheriger Konzepte bieten können.

1 Flucht: bildungstheoretisch – prekär und provokativ Soll bildungstheoretisch von Flucht gesprochen werden, so ist aus einer praxeologischen Perspektive (vgl. Bourdieu 1993, 1998, 2009) auf eine Lesart von Migration als doing migration zu verweisen. Unter Flucht wird damit jene Form der transnationalen Migration verstanden, die aufgrund von Zwang und den daraus resultierenden subjektiven und kollektiven Konsequenzen entsteht, ohne sie allein auf diese Variante einzuschränken (zur Einordnung, Differenzierung und Formaten der Zuschreibung von „forced migration“ vgl. Berlinghoff et al. 2017; historisch Kleist 2017). Bislang wurde die erzwungene Form von Migration zumeist menschenrechtlich (über die Genfer Flüchtlingskonvention; GFK), aber auch nationalstaatlich und ökonomisch normiert (vgl. Scherr und Inan 2017). Angesichts der einleitend adressierten Umstände wird Flucht nunmehr mehrdeutig konzeptualisiert – als menschlicher Extremfall, als Ausdruck einer politisch und humanitär prekären Lage in den Herkunftsländern und als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zugleich. Folglich kann eine komplexe „Produktion“ von Flucht im Spannungsfeld zwischen politischer Entscheidung, gesellschaftlichen Politiken und Strukturen sowie existenziellen und habituellen Aspekten der Individuen angesetzt und als interpretativer Orientierungspunkt der folgenden bildungstheoretischen Untersuchungen aufgefasst werden. Migration erzeugt unter dieser Hinsicht eine Form

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von intersubjektiver Differenz, die Fremde als bildungspraktische Herausforderung, politische Gestaltungsaufgabe und überdies als erziehungswissenschaftlichen Reflexionsanlass zum Ausdruck bringt. Im Folgenden wird die These vertreten, dass diese Vielfalt von Perspektiven nicht allein in nationalen und internationalen, sondern auch in subjektiven und gemeinschaftlichen Ordnungen und Praktiken ihren Niederschlag findet. Angesichts der gesellschaftlichen Einbettung von Bildung provozieren diese Sachverhalte besondere Anlässe gesellschaftlicher und subjektiver Veränderungen. Damit kann Flucht nicht allein durch bestehende Zwangslagen als prekär eingestuft werden (GFK), sondern ebenso als provokativ. Um diese Zusammenhänge bildungstheoretisch vertiefen zu können, soll zunächst der Blick auf eine erziehungswissenschaftliche Kategorie gerichtet werden, die als Ansatz zur Interpretation der skizzierten Herausforderungen formuliert wurde: die der Fremde als Kategorie intersubjektiver Unvertrautheit (vgl. Friebertshäuser 2016, S. 19 f.).

1.1 Fremde An dieser Stelle wird ein sehr allgemeines Verständnis von Intersubjektivität beschrieben, das auf eine generelle Solidarität von Menschen rekurriert. Eine Solidarität, die mit der Philosophie Jan Patočkas (vgl. Patočka 2010; erziehungswissenschaftlich rezipierend Böhmer 2014) gerade dann praktisch wird, wenn die Ausmaße des Unverständnisses zwischen den Menschen vordergründig erheblich erscheinen, wenn also Fremde und Fremdsein festgestellt werden (zur Attribuierung und sozialen Wirkmächtigkeit von Fremdsein vgl. Brumlik 2014, S. 206 ff.).1 Nach Patočka ist gerade dann eine solche Solidarität möglich, wenn existenzielle Erfahrungen der Erschütterung maßgeblich werden, so dass sich im zwischenmenschlichen Bezug eine Ebene auftut, auf der sich die Betreffenden noch vor aller Genese einer jeweils

1Zur

begrifflichen Unterscheidung sei knapp umrissen: Von Fremde soll im Folgenden gesprochen werden, wenn Unbekanntheit, ein Mangel an Verstehen und intersubjektiver Erfahrung zur Sprache kommen; von Anderen – und mithin Alterität – dann, wenn von intersubjektiven Differenzen allgemein gehandelt wird. Dass es sich hier semantisch nicht um „konzentrische Begriffe“ handelt, sondern Konzepte, die Ich und Du ebenso wie Bekanntes und Unbekanntes in unterschiedlicher Weise in Beziehung setzen, zeigen die folgenden Darstellungen.

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d­ ifferenten Subjektivität nicht unterschiedlich, also nicht als Andere erfahren.2 Diese weiterreichenden Erfahrungen der Fremden, die einander keine Anderen sind, stellen nach Patočkas Auffassung jene dar, die in einer existenziellen Krise und deren Bewältigung wurzeln (vgl. ausführlicher Böhmer 2014, S. 236 sowie 250 ff.). Möglich, dass sich aus dieser Perspektive der Anschluss an Subjektivitätspositionen ergibt, die im Umfeld poststrukturalistischen Denkens formuliert wurden: „Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen“ (Foucault 1994, S. 250).3 Wie noch zu zeigen sein wird, ist somit in entsprechenden Situationen eine Transformation bisheriger Subjektivitätsformate anzusetzen und anhand der im Folgenden dargebotenen ersten empirischen Funde ggf. eine „Spur des Anderen“ (Levinas 1992) aufzunehmen, ohne die Kluft der Fremdheit damit zu tilgen. Ferner kann eine bildungstheoretische Perspektive auf die Herausforderungen der Zuwanderung damit rechnen, dass Auffassungen von Fremde und ihren wechselseitigen Verweisungen zu Vermischungen führen. Damit lassen sich Hybridität (vgl. Bhabha 2000, 2007) und ein „offener Raum“ als Elemente eines Konzeptes „diversifizierten Fremdseins“ verstehen. Hybridität ist demgemäß kulturelle Praxis in Migrationsgesellschaften. Deutlich wird, dass sich kulturelle

2Auf diese Weise eröffnet sich mit Patočka ein anderer Problemhorizont als jener, den Michael Wimmer mit seinem Konzept von Alterität als Ausdruck einer Paradoxie pädagogischer Selbstverständigung per se eröffnet. Auf diese Weise nämlich werden Alterität und Fremdheit in eins gesetzt (vgl. Wimmer 2016, S. 9). Instruktiv ist seine These, dass ohne eine differenzierte epistemologische Rekonstruktion dieser paradoxalen Zusammenhänge zu befürchten ist, dass „ganz grundlegend das (persönliche, soziale, pädagogische oder politische) Verhältnis zu Anderen, Fremden in einer Verkennungs- und Abwehrstruktur befangen“ (ebd.) zu bleiben droht. 3Ohne die Thematik an dieser Stelle umfänglich vertiefen zu können, sei darauf verwiesen, dass mit diesem „Bypass“ in die Subjektivierungsphilosophie Ansätze gewonnen werden, die sich für eine weiterführende erziehungswissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar machen lassen. Zu denken ist hier neben den machttheoretischen Ansätzen Foucaults auch an die zur Analyse neoliberaler Vergesellschaftung (vgl. Böhmer 2017a) sowie diejenigen einer Ästhetisierung von Subjektivität mit den Mitteln von Bildung (vgl. Böhmer 2012). Indem die hier angedachte „neue Form der Subjektivität“ mit Patočka asubjektiv konzeptualisiert wird, unterscheidet sie sich von einer subjektivierenden Kategorie, wie sie Levinas als Konstituens des Verhältnisses zu sich als verantwortlich für den Anderen entwirft (vgl. Levinas 1992, 1993). Es wird hier eine asubjektive Kategorie entworfen, die noch vor aller Subjektivität die solidarische Bezogenheit adressiert auf den Fremden bzw. die Fremde, aber in der Erschütterung nachgerade nicht Andere, sondern Übereinstimmende.

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Grenzen in praxi keineswegs eindeutig festschreiben lassen, sondern vielmehr als Vermischung kultureller Praktiken und daraus folgender Selbstverständnisse jeweils neu konstituieren. Dabei kommt dem „offenen Raum“ des Austauschs besondere Bedeutung deshalb zu, weil in diesen Austauschprozessen die Wechselseitigkeit kultureller Selbstverständnisse nicht allein zwischen zwei Polen festgeschrieben wird („unsere“ Kultur vs. die „andere“), sondern weil sich so vielgestaltige Rezeptions- und Ausschlussprozesse erklären lassen (vgl. Böhmer 2016, S. 15). Diese Prozesse haben ihrerseits eine gemeinsame Basis – die existenziell verstandene Solidarität. Insofern ist auch das hier angeführte Verständnis von Fremde ein komplexes, das polyvalent und prozessual unterschiedliche Formen und (Zwischen-)Ergebnisse des vielfältigen Austauschs solidarisierender Befremdung ermöglicht. Die mit einem solchen komplexen und vielgestaltigen Bildungsverständnis verbundenen Ansätze zu einer Pädagogik der Fremde werden in den Kategorien von Fremde, Subversion und Inklusion konkretisiert. Wie bereits angedeutet, lassen sich in diesem Fragehorizont intersubjektive Bezüge ansetzen, die auf Fremdsein und zugleich gemeinsame existenzielle Erfahrungen verweisen. Diese Auffassung mag ihrerseits befremden: ein Fremdsein, das Gemeinsames fokussiert. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, inwieweit die Debatte um Geflüchtete und neu Zugewanderte dazu angetan ist, Transformationen zu bewerkstelligen, die bisherige Schemata – hier der Theorie – in Frage stellen. Denn während bislang ein Entweder-Oder für das Verstehen von Fremde oder „Einheit“ (Patočka 2010, S. 64) maßgeblich zu sein schien, zeigt sich nun, dass beides zugleich gelten kann, freilich ohne dabei in eins gesetzt zu werden, sondern auf verschiedenen Ebenen von Intersubjektivität zu fungieren: Während die rationalen Bezüge einander noch fremd sind, müssen es die existenziellen nicht mehr zwingend sein.

1.2 Subversion Damit rückt die zweite Kategorie einer Pädagogik der Fremde ins Blickfeld – die Subversion. Diese im Sinn Butlers verstandenen Terminologie (vgl. dazu auch die Debatten in Butler und Athanasiou 2013) verschiebt gegebene Normen, Strukturen und Verhältnisse, um auf diese Weise bestehende Ordnungen zu erweitern oder auch zu unterlaufen. Die bereits mit Rekurs auf Bhabha (2000, 2007) erwähnten Hybridisierungen hatten in kolonialen Kontexten nicht selten solche subversiven Intentionen einer Umordnung bestehender Ordnungsvorstellungen und -praktiken.

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Für die Bildung Geflüchteter ergibt sich mit dieser Kategorie die Möglichkeit, subversive Praktiken durch selbstbestimmte und -organisierte Bildungskonzepte anzubahnen und dadurch den Geflüchteten – und letztlich allen Beteiligten – entsprechende Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dass dies nicht immer über Subversion bestehender Ordnungen, sondern mitunter auch durch den Rückbezug auf bestimmte pädagogische Traditionen möglich sein kann, wurde andernorts bereits deutlich gemacht (vgl. Böhmer 2016, S. 79 sowie 89 ff.). Wo allerdings solche pädagogischen Traditionen nicht mehr in ihrer Zielperspektive erreichbar oder bekannt sind, kann eine dezidiert auf subtile Abweichung dringende Praxis ihren strategischen Sinn und praktischen Erfolg suchen.

1.3 Inklusion Soll der Unterschiedlichkeit der Individuen auf einer gemeinsamen Basis Rechnung getragen werden, kann Inklusion als die Eröffnung von möglichst vielseitigen Zugängen zu Bildung für die heterogenen Akteure, ihre Prozesse sowie die gegebenen Strukturen und Ordnungen von Bildungsinstitutionen aufgefasst werden. Es ergibt sich der Anspruch auf ein „universelles Design“, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 2 formuliert (vgl. Vereinte Nationen 2008). Im Hinblick auf die Bildung Geflüchteter folgen daraus umfängliche Konsequenzen für Räume, Zeiten, Sprache, Methoden u. v. m. (vgl. Böhmer 2016, S. 90 ff.). Auch ein solches, migrationstheoretisch konzipiertes Verständnis von Inklusion hat eine breite Veränderung bestehender bildungspraktischer Gewohnheiten zur Folge, die hier nur knapp skizziert werden können: • deutlich wird, dass der „monolinguale Habitus“ gerade deutscher Schulen einer Revision bedarf, um der sprachlichen Vielfalt Rechnung zu tragen (vgl. Gogolin 2008; Gogolin et al. 2011), • weiter zeigt sich, dass Inklusion nur zielführend verfolgt werden kann, wenn sie als partielle in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen – des Bildungssystems wie weiterer gesellschaftlicher Felder – nebeneinander ­verwirklicht wird (vgl. Böhmer 2016, S. 90 f.), • zudem kann auch unter der hier diskutierten Perspektive gesellschaftlicher Heterogenität nur mit denjenigen Menschen Veränderung bewirkt werden, die bislang in einzelnen gesellschaftlichen Sektoren als am Rand stehend wahrgenommen werden.

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1.4 Mehrfaches Fremdsein in der postmigrantischen Gesellschaft Mit diesen Perspektiven lässt sich bildungstheoretisch für eine Pädagogik der Fremde festhalten: Fremdsein prägt Menschen in spätmodernen Gesellschaften allgemein und ist damit eine aktuelle Perspektive auf Bildungsprozesse in diesen gesellschaftlichen Konstellationen. Daraus erwachsen als Konsequenzen das Bildungskonzept des „offenen Raumes“, das in Anlehnung an Bhabha mit sozialen, subjektiven und folglich auch bildungsspezifischen Hybridisierungen einhergehen kann. Insofern sind Mehrfachzugehörigkeiten (vgl. Yildiz 2016; Canan 2015) statt dichotomer Bildungs- und Subjektivitätskonzepte anzusetzen und hinsichtlich subversiver Praktiken und inklusiver Strukturen zu untersuchen. Bildung wird auf diese Weise nicht allein individualistisch, sondern ästhetisch konzeptualisiert, insofern unterschiedliche biografisch-subjektive Ausdrucksgestalten möglich und unter Berücksichtigung koexistenzieller Bezüge der Beteiligten verwirklicht werden können (vgl. Böhmer 2012). Ertrag einer solchen theoretischen Standortbestimmung ist die Erkenntnis, dass dann „Solidarität“ anstelle von „Identität und Identifizierung“ leitend sein kann – im zuvor umschriebenen Sinn einer Fremdheit, die gerade als solche den Blick auf das eröffnet, was die einander fremden Menschen miteinander verbinden kann – die Frage nach der neuen gemeinsamen Haltung des Zusammenlebens. Unter bildungstheoretischer Hinsicht wird Flucht zum Moment und zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung. Dabei sollten weder die Mühen solcher Entwicklungsprozesse ausgeblendet noch die subjektiven Belastungen und vielfältigen Traumata der Geflüchteten zu einer „schönen neuen Welt“ transformierter Ordnungen verkürzt werden. Doch bleibt bei allen erschütternden Erfahrungen der Geflüchteten und allen Unklarheiten gesellschaftlicher Turbulenzen kenntlich, dass aus der neuen Zuwanderung tatsächlich wertvolle gesellschaftliche Impulse erwachsen können und in der Bildungsarbeit nutzbar werden.

2 „Refugee Spaces“ Ausgehend von diesen theoretischen Verortungen soll nunmehr ein Forschungsprojekt vorgestellt werden, das den skizzierten Fragestellungen und Auffassungen empirisch auf den Grund zu gehen suchte. Im Zeitraum von März

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bis Juli 2017 sammelte das amerikanisch-deutsche Projekt „Refugee Spaces“4 erste Erfahrungen mit Bildungs- und sozialen Räumen neu Zugewanderter, um von dorther Hinweise formulieren zu können, welche positiven Ansätze für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten genutzt werden können. Auf diese Weise sollten weitere Untersuchungen vorbereitet werden, die empirisch validierte Aussagen darüber erlauben, wie unter den aktuellen sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Bedingungen bisherige Bildungsangebote der Teilhabe Zugewanderter organisiert, für die künftige Bildungsarbeit aufbereitet und zu weiterführenden Praxismodellen inklusiver Bildungsarbeit mit neu Zugewanderten genutzt werden könnten. Das Forschungsdesign wurde so gewählt, dass sich die Fragestellung auf alltägliche Erfahrungen mit Prozessen formaler Bildung neu Zugewanderter und ihre sozialräumlichen Rahmungen bezog. Der Forschungsstand zu den Lebenslagen Geflüchteter ermöglicht mittlerweile eine recht differenzierte Erkenntnislage (vgl. nicht zuletzt UNHCR 2017; Unicef 2016, 2017; Brücker et al. 2016), doch sind just Fragen zu institutioneller Bildung und ihren sozialräumlichen Bedingungen unter einer praxeologischen Perspektive noch weitgehend unerforscht. Diese Forschungslücke zu schließen, war das Vorhaben, das mit Hilfe der hier skizzierten Pilotstudie vorbereitet werden sollte. Als theoretischer Rahmen fungierte die oben dargelegte Pädagogik der Fremde. Die Methodik der Pilotstudie war qualitativ angelegt und wurde durch leitfadengestützte Interviews mit Geflüchteten, Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung, der Schulverwaltung, Lehrkräften, Professionellen der offenen Bildungsarbeit sowie Freiwilligen (in der deutschen Teilstudie: n = 10) realisiert. Die transkribierten Interviews wurden deduktiv und induktiv analysiert. Möglich wurde somit eine differenzierte Kategorienbildung, in deren Zusammenhang zwei Linien der Auswertung besonders erwähnenswert sind: Zunächst eine deduktive hinsichtlich der institutionalisierten Bildung und sozialräumlicher Prozesse; die daran anschließende induktive Untersuchung bot weitere Einblicke in Zusammenhänge, die Bildungserfahrungen und die alltägliche Lebensführung der neu Zugewanderten erhellten. Aus den vielfältigen Erkenntnissen der Interviews sollen hier jene Erträge vorgestellt werden, die Chancen und Barrieren für Bildung sowie weitere Aspekte des Bildungsbegriffs aufzeigen. Der Anlage des Projektes gemäß können in dieser Befundlage insbesondere weiterführende Fragestellungen identifiziert ­werden,

4Dieses

Projekt erfolgte in Kooperation mit der University of North Carolina, Charlotte (USA), und wurde gefördert durch die Pädagogische Hochschule Ludwigsburg.

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die der Aufgabe einer Inklusion neu Zugewanderter durch Bildung weitere ­Perspektiven eröffnen. Bereits an dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass sich in den Befunden eine insgesamt hoch prominente Rolle der Sprache zeigt. In einer Vielzahl von Aussagen wurde betont, dass die InterviewpartnerInnen der Sprache und der Sprachkompetenz der neu Zugewanderten besonders hohe Relevanz zusprechen. Insofern werden dieser Kategorie im Folgenden eher weniger detaillierte Darstellungen gewidmet, was seinen Grund in der besonderen, querschnittbezogenen Bedeutung der alltagstauglichen und der institutionell brauchbaren Sprachkompetenz hat.

2.1 Motivation Mit Blick auf die Motivation wird einerseits deutlich, dass bei neu Zugewanderten die eigene Motivation zum Sprachenlernen oft ausgeprägt ist und nochmals gesteigert werden kann, wenn bereits erste positive Erfahrungen mit der eigenen Sprachkompetenz gesammelt wurden. Hierbei wirken sich persönliche Kontakte mit Deutschsprachigen förderlich auf die Lernmotivation aus. Zugleich ergibt sich, dass im untersuchten Umfeld die Chancen einer beruflichen Integration durch ausgewiesene Deutschkenntnisse als merklich höher eingestuft werden und folglich motivationsfördernde Wirkung entfalten. Weiter wurde von Konzernen in der Region berichtet, die vereinzelt Praktika oder gar Ausbildungen auch in nicht-deutscher Sprache anbieten, auf diese Weise erste sprachliche Barrieren abbauen und die Motivation der neu Zugewanderten dahin gehend zu steigern vermögen, sich leichter auf berufliche Integration einzulassen. Der Kontakt mit Angehörigen der deutschsprachigen KollegInnen im Betrieb erwies sich ebenfalls als förderlich für den Erwerb von Sprachkenntnissen. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, welche Motivlagen sich bei den nicht neu zugewanderten Beteiligten einstellen, inwieweit diese Lagen also ihrerseits integrations- oder sogar transformationsförderlich sind. In dieser Hinsicht konnten nur wenige Anhaltspunkte in den Interviews ausgemacht werden.

2.2 Persönliche Beziehungen Deutlich wird ferner, dass persönliche Beziehungen zwischen neu Zugewanderten und bereits seit Langem Ansässigen als wichtig für die Teilhabe eingeschätzt werden. So werden von den Geflüchteten u. a. kulturelle Gemeinsamkeiten

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gesucht, um jene im Alltag intensivieren zu können. Dazu zählen die Mitgliedschaft in Vereinen oder gemeinsam gestaltete kulturelle Veranstaltungen. Habituelle Aspekte lassen sich mit (jugend-)kulturellen Angeboten verbinden, aber auch die Beziehungen der Geschlechter stehen immer wieder im Mittelpunkt der Diskussionen. So schildert eine Sozialarbeiterin: Merk’ da bei mir momentan auch, dass […] ich mir natürlich auch meiner Sonderrolle als Frau, die auf eine Gruppe junger erwachsener Männer zugeht und sie einlädt, hierher zu kommen … jetzt erst im Nachhinein mehr Gedanken mach’ (4, 530 ff.)5.

In dieses Themenfeld hinein spielt offenkundig ein weiterer Gesichtspunkt, der gerade von allein eingereisten jungen Männern berichtet wird – die als besonders schmerzhaft erlebte Trennung von der eigenen Familie und dort explizit von der Mutter: Und dann gibt’s so die jüngeren Geflüchteten, also die jungen Männer. […] Aber bei denen kriegt man halt viel mit: Sie vermissen ihre Mutter. Ich glaub’, […] bei denen schwingt viel mit, wodurch sie dann auch nicht so viel lernen, weil das auch oft im Vordergrund steht (3, 375 ff.).

Als eher belastend werden die hierarchischen Gefälle erlebt, die verschiedene Gruppen der Geflüchteten untereinander errichten und die sich nicht selten entlang nationaler Identitätskonzepte bewegen. Solche Gefälle schränken zumindest anfänglich die Möglichkeiten ein, persönliche Beziehungen untereinander aufzubauen. Besonders ausgeprägt ist das Interesse der neu Zugewanderten, PatInnen zu finden, mit deren Hilfe die deutsche Sprache leichter erlernt werden soll. In diese Motivlage hineinspielen dürfte aber sicher auch das rege Interesse neu Zugewanderter, den deutschen Alltag am Beispiel persönlicher Bekannter erleben zu können.

2.3 Arbeit Häufig wurde von den Befragten auf die Bedeutung der Erwerbsarbeit verwiesen. Dies verwundert nicht angesichts der Bedeutung der Erwerbstätigkeit für die ­ Vergesellschaftung in der späten Moderne (vgl. Böhmer 2017a). In d­iesem

5Die

Interviewzitate werden ausgewiesen mit der laufenden Nummer des Einzelinterviews und den Zeilennummern des Transkripts.

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Zusammenhang wurde einerseits auf förderliche Strukturen wie die bereits erwähnten nicht-deutschsprachigen Praktikums- und Ausbildungsangebote aufmerksam gemacht, die allerdings nur vereinzelt gegeben sind. Zudem wurde auf die Bedeutung der faktisch bestehenden Sprachbarrieren hingewiesen, deren Überwindung insbesondere für Menschen aus sog. sicheren Herkunftsländern nahezu unmöglich erscheint angesichts der Tatsache, dass sie von staatlichen Unterstützungen in Form von Integrations- und Sprachkursen ausgeschlossen werden. Doch nicht allein auf der Seite der arbeitssuchenden MigrantInnen lassen sich merkliche Probleme ausmachen. Auch die potenziellen ArbeitgeberInnen tun sich angesichts befürchteter rechtlicher Hürden schwer, den Schritt bis zum Angebot eines Praktikumsplatzes zu wagen: Man hat eher den Eindruck, es ist so im Kopf: ‚Ja, da ist viel Bürokratie mit Geflüchteten, da sind dann die Sprachprobleme, da muss zu viel geregelt werden … einfach zu schwierig, was beizubringen in dieser einen Woche oder zwei Wochen, wo dann so ein unverbindliches Praktikum läuft. Es lohnt sich dann nicht‘ (1, 465 ff.).

2.4 Politik Unter dieser Kategorie versammeln sich die Hinweise der Befragten zu politisch codierten und legitimierten Bedingungskontexten von Inklusion. Dabei spielen insbesondere aufenthaltsrechtliche Aspekte (vgl. Markard 2015) eine Rolle, da die einen vor einer Zuerkennung des Aufenthaltsstatus’ als Geflüchtete emotionale Belastungen erleben und die anderen keine Chancen auf Anerkennung eines legalen Aufenthaltsstatus bekommen, so dass ihnen eine Vielzahl von integrativen Möglichkeiten (Erlernen der Sprache, Erwerbsarbeit, allgemein das subjektive Gefühl von Sicherheit des Aufenthalts etc.) nicht gewährt wird. Eine Lehrkraft berichtet: Die Bleibeperspektive, das ist ein großer Konflikt auch innerhalb der Klassen. Wenn ich da EU-Jugendliche drin hab’, bei denen Bleibeperspektive kein Thema ist – ist gegeben – und Jugendliche, die eigentlich damit rechnen müssen, dass sie abgeschoben werden […]. Der Prozess, wenn es denen dämmert, ist kritisch und führt dann auch oft zu viel Frust, zu Perspektivlosigkeit (5, 132 ff.).

Hinzu kommt die Situation der Finanzen, die für die Zugewanderten einerseits unterschiedliche Beschränkungen bedeuten können (etwa, wenn Sachleistungen

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die finanziellen Zuwendungen minimieren), andererseits aber auch die Unterstützung durch Freiwillige mitunter deutlich schmälern, wie das Beispiel kommunal finanzierter Sprachkurse zeigt: […] plötzlich kam von der Stadt: ‚Wir haben jetzt Geld.‘ […] die Stadt hat da Deutschkurse bezahlt und dann waren da die Geflüchteten, die mussten da dann auch hin. Aber ohne irgendwelche Absprache und nichts. Und so haben sich auch die Deutschkurse aufgelöst, von den Ehrenamtlichen […] (3, 241 ff.).

Bisweilen scheinen die politischen Weichen auch lokal nicht zureichend gestellt, um die Koordination kommunaler Programme und ihrer Ressourcen sicherstellen zu können. Eine besondere Ressource ist dabei eigens zu erwähnen – die der ­Freiwilligen. Nach wie vor bilden sie ein wichtiges Netz der Versorgung, Betreuung und alltagsnahen Integration, das temporär durch politisch gesteuerte finanzielle Zuwendungen kompensiert wird. Eine der befragten Freiwilligen schätzten es als unabdingbar ein, ihre Tätigkeiten fortzusetzen, da spezifische Bedarfe kaum durch professionelle Kräfte gewährleistet werden könnten: Was ich erlebt hab’, war eigentlich eher so, dass wir Ehrenamtlichen eher die Ansprechpartner waren, und dass wir dann auf die Sozialarbeiter zugegangen sind und da Druck gemacht haben, weil die Sozialarbeiter einfach so viel zu tun hatten (3, 690 ff.).

2.5 Bildung Angesprochen wurde zunächst die mangelnde Flexibilität des Bildungssystems: Aber mir tut’s dann immer weh, wenn die jetzt eigentlich so viel Erfolg haben – eben im Ausbildungsplatz gelandet sind – und dann scheitern an so ‘ner blöden Berufsschule, weil man’s nicht schafft, das wirklich gut aufzusetzen und ‘ne Form zu finden, wie diese jungen Männer – vielleicht mit weniger Theorie – trotzdem ihren Platz hier finden werden. Dass die Systeme da so starr sind (5, 586 ff.).

Des Weiteren kam zur Sprache, dass Bildung wichtige Aspekte der Ermöglichung oder Verunmöglichung von Arbeit umfasst. So wurde berichtet, dass die mangelnde Anerkennung formaler Bildungsabschlüsse Zugewanderte auch dann in handwerkliche Tätigkeiten drängt, wenn sie zuvor gänzlich andere Pläne hatten oder bereits Erfahrungen in anderen (z. B. akademischen) Berufen sammeln konnten. Bei nicht wenigen stellt sich in der Folge Enttäuschung ein, die in der

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Regel keine förderlichen Wirkungen auf die Integrationsprozesse hat. Umgekehrt wurde von jungen Zugewanderten berichtet, die sich individuell um intensiveres Sprachlernen bemühten, da sie damit offenkundig die Hoffnung auf bessere Integrationschancen verbanden. Im Hinblick auf Bildung wurde zudem moniert, dass zu wenige Ausbildungsplätze in den Herkunftssprachen angeboten würden. Leitungskräfte eines ­außerschulischen Bildungsangebots bedauerten ferner, dass die an ihrer Maßnahme teilnehmenden SchülerInnen zwar durch eine enge Verzahnung mit dem schulischen Alltag noch weit intensiver gefördert werden könnten, eine solche Verbindung aber faktisch nicht bestehe. Berichtet wurde auch, dass ein gänzlich anders gelagerter Faktor der Bildungsbeschränkung die Trennung Geflüchteter von ihrer Familie im Herkunftsland sei, die ggf. zwar noch telefonisch kontaktiert werden, allerdings im Alltag nicht mehr präsent sein könne. Dies scheinen insbesondere geflüchtete junge Männer als belastend zu erleben, was wiederum Auswirkungen auf das Sprachenlernen habe. Faktoren, die allgemein von den Befragten als wichtig für die Bildungsarbeit angesehen wurden, sind • Wertschätzung, • Flexibilität, • Egalität, • Kommunikation, • Ausdauer, • Kontinuität, • Diversifizierung der Angebote (nach Vorerfahrungen und Wünschen der Geflüchteten), • verschiedene Sprachen verknüpfendes Lernen. Nimmt man diese Teilaspekte von Bildungserfahrungen und -ansätzen zur Kenntnis, so wird deutlich, dass damit auch ein revidiertes Verhältnis der Individuen zu einander verbunden ist, das sich in der Bildungspraxis als die Notwendigkeit einer eigenen Zeit zum Ankommen ausdrückt. In diesem Kontext wurde die Hoffnung artikuliert, dass Möglichkeiten geschaffen werden, sich gegenseitig intensiver und rascher verstehen zu lernen (vgl. 2, 131 ff.). Mit diesen Erträgen des Projekts „Refugee Spaces“ ergibt sich für die Bildungspraxis und ihr theoretisches Fundament die Notwendigkeit, organisatorisch und inhaltlich bisherige Angebote der Integration von MigrantInnen auf den Prüfstand zu stellen und die Verbindung von subjektiven (Motivation, persönliche

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Beziehungen) und strukturellen Momenten (Arbeit, Politik, Bildungsangebote) auf die Möglichkeiten hin zu befragen, einer grundlegenden Konzeption von Fremde mit den Möglichkeiten subversiver Verschiebung ebenso wie struktureller (Teil-)Inklusion zu begegnen. Konkrete Antworten auf diese Herausforderungen lassen sich mit den hier skizzierten (sowie den hier aus Platzgründen nicht weiter dargebotenen) gelingenden Momenten der Bildungsarbeit und der sozialräumlichen Möglichkeiten neu Zugewanderter gewinnen. Wie dies aussehen könnte, sollen die abschließenden Hinweise andeuten.

3 Impulse für einen Wandel bisheriger Konzepte Werden die inklusiven Potenziale der Bildungsprojekte für neu Zugewanderte ermittelt, so sind in einem ersten Schritt die Bedingungen von Inklusion näher zu definieren. Dabei tritt vonseiten der Geflüchteten wie der mit ihnen freiwillig sowie professionell Arbeitenden eine häufig wiederkehrende subjektive Faktorenhierarchie (in der Relevanz für die Befragten absteigend) zutage: Sprache – Arbeit – Alltag. In dieser Abfolge ließen sich insofern Bildungsmaßnahmen entwickeln und anbieten. Sodann ist ein nicht-lineares Lernverständnis zugrunde zu legen. Wohl aufgrund der geschilderten subjektiven wie der strukturell-politischen Gegebenheiten sind die Möglichkeiten des individuellen Lernens nicht in der stets gleichen Form möglich. Vielmehr lassen sich vormals scheinbare Stillstände oder gar Rückschritte anschließend je nach Lage durchaus zügig kompensieren: Man merkt aber […] gerade in der Sprache. Echt in so kurzer Zeit … manchmal geht’s richtig schnell, manchmal aber auch schleppend. Also es ist sehr unterschiedlich (1, 76 ff.).

Für die praktische Lernbegleitung bedeutet dies die Notwendigkeit, sich auf z. T. lange, zumeist undurchsichtige und dennoch ggf. zu einem positiven Lernergebnis gelangende Prozesse einzulassen. Weiter ist nach den bislang bereits erfolgreichen inklusiven Praktiken zu fragen sowie danach, inwiefern hier nicht subjektivierend-disziplinierende, sondern emanzipatorische Möglichkeiten einer rational begründbaren Selbstleitung möglich werden (vgl. Foucault 1992, S. 15 f.). Dass solche Möglichkeiten nicht für alle Beteiligten in derselben Weise zu realisieren sind, legen die bereits eingangs dargelegten Hinweise der

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UN-Behindertenrechtskonvention bezüglich des universalen Designs nahe. Wie dies allerdings im Einzelnen aussehen könnte, muss gerade für die Inklusion Geflüchteter in Bildungs- und sozialen Räumen noch weiterer untersucht werden. Im untersuchten Sample waren die mit Bhabha zu erwartenden subjektiven Hybridisierungen noch kaum zu erkennen. Folglich ist zu klären, ob und wenn ja, welche Faktoren in dieser Hinsicht wirksam werden – insbesondere aus der strukturellen Umgebung mitsamt ihren institutionellen, politischen und materiellen Gegebenheiten. Der eingangs ebenfalls thematisierte offene Raum diversifizierten Fremdseins wurde zur Zeit der Befragung lediglich artifiziell in einer Institution produziert, er war bis dahin kaum Praxis alltäglicher Lebensführung. Daraus ergibt sich die Frage, ob sich evtl. später solche Offenheit empirisch nachweisen lässt. Auch in dieser Hinsicht ist also nach weiteren Befunden und ihren möglichen Begründungsformen zu fragen. Eine pädagogische Kategorie als „Ästhetik der Fremde“ wurde im untersuchten Zusammenhang sichtlich beschränkt durch die alltägliche Exklusion. Auch die Erklärung für diesen von der einleitenden Theorie abweichenden Befund wäre noch zu leisten und wird insofern Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Insgesamt findet sich die somit konzeptualisierte und empirisch hinterfragte Pädagogik der Fremde eingebettet in gesellschaftliche Bedingungen und Politiken, die ihre Möglichkeiten wie ihre Konkretisierungen kontingent qualifizieren: Was eine Pädagogik der Fremde tatsächlich bieten und wie sie auf die bestehenden Fremdheiten antworten kann, ist erst von ihren gesellschaftlichen und politischen Rahmungen her zu verstehen. Gegenwärtig ergibt sich ein Bildungskonzept, das • hybride, • nicht-linear, • mehrstufig und • zwischen Offenheit und Anpassung verortet ist. Insofern kann die hier dargestellte Position verstanden werden als reflexiver Impuls einer Pädagogik, die mittels transformierter Ordnungen des Wissens nach dem fragt, wie jene in ihren Bildungsprozessen unterstützt werden können, die fremd sind – und doch nicht immer anders.

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Anselm Böhmer, Prof. Dr., ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Erziehungswissenschaft; Bildungstheorie in der späten Moderne; poststrukturalistische Ansätze der Subjektivierung; Armut, Bildung und soziale Ausgrenzung; Inklusion und Partizipation; Migration; soziale Räume.