Fjodor M. Dostojewskij 9783205789253, 3205789253

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Fjodor M. Dostojewskij
 9783205789253, 3205789253

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Fjodor M. Dostojewskij, 1861

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: J. Hamacher, Neuss Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78925-3

Inhaltverzeichnis Vorwort ................................................................................................... I.

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Annäherungen 1. Dostojewskij: Ein „Heiliger“ oder eine „Pathologische Erscheinung“? .............................................................................. 7 2. Von der „Lüge“ zum „Patriotischen Konsens“ ............................ 29 3. Zur Funktion von literarischen Quellen und Modellen bei Dostojewskij................................................................................. 55 4. Die Genres Roman und Erzählung / Novelle ............................... 73

II. Werkstudien 1. Die Erniedrigten und Beleidigten: Ein Dichter bei der Arbeit an seinem Text .................................................................................. 2. Der Erzähler in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus ........ 3. Der Spieler. Dostojewskij: Ein Vorläufer der Moderne............... 4. Olympia und Olympiada: Dostojewskij und Édouard Manet ...... 5. Der Autor und sein Erzähler in den Dämonen ............................. 6. Der Lohn des Glaubens und der Bürger des Kantons Uri: Dostojewskijs Böse Geister..........................................................

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III. Wirkungsgeschichte 1. Die Dostojewskij-Rezeption in Russland (1881–2010) ............... 173 2. Mord in Moskau: Ein postsowjetischer Raskolnikow. Makanins Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit ........................ 195 3. Dostojewskij und Meša Selimović: Prolegomena zu einer vergleichenden Studie .................................................................. 211

4 Die Geschichte vom Alten Mandarin. Varianten eines Motivs .... 227 5. What is Wrong with America? Today’s Criticized Neoliberalism from the Point of View of the Nineteenth Century ...................... 239 Drucknachweise .............................................................................. 259

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Vorwort

Es sei dem Autor gestattet, in diesem Vorwort etwas weiter auszuholen und einen Blick in eine bereits ferne Vergangenheit zu werfen. Die intensive Beschäftigung mit der Thematik der hier erneut vorgelegten Essays aus vergangenen Jahrzehnten hat Erinnerungen erweckt, die weit zurückliegen. Es war ein eiskalter Winter 1945/46, als ich als 12-jähriger Junge mit der Schultasche zehn Kilometer über eine schneebedeckte Landstraße durch den kniehohen Schnee unterwegs ins heimatliche Dorf war. Ich hätte erfrieren können, wäre da nicht ein russischer Lkw gekommen. In der Fahrerkabine auf den Knien des Beifahrers, eines Soldaten, der Fotos seiner Kinder aus der Uniformjacke hervorzog und mir zeigte, war es warm. Damals verstand ich kein Wort, aber die Schokolade, die er mir anbot, genoss ich und fühlte mich bei ihm gut aufgehoben. Ein anderes Bild taucht auf, – endlose Züge von Pferdewagen mit Gepäck und Soldaten. Der Zwölfjährige sah aus dem Fenster zu, als ein Soldat mit der Pistole auf ihn zielte und die Mutter ihn weg vom Fenster riss. In der Dunkelheit der Abendstunden kletterte der Junge auf die große Eiche im Garten, sah über den Zaun auf die riesige „Herrschaftswiese“, wo sich Zelt an Zelt reihte, Lagerfeuer loderten und melancholische und dann wieder mitreißend temperamentvolle Lieder herüber klangen. Nicht lange davor hatte auf dieser Wiese ein französischer Kriegsgefangener Rinder gehütet und über den Zaun mit mir geplaudert. Worüber weiß ich nicht, aber es war eine Kommunikation, die beiden gut tat, wenngleich keiner die Sprache des anderen sprach. Dann kam die Rückkehr nach Wien, die blassgesichtigen, oft jugendlich, fast kindlich wirkenden Gesichter der amerikanischen Besatzer, und die Russischstunden bei Gräfin Tschetwerikowa im alten Adelspalais im Zentrum der Stadt, ein Überbleibsel des alten Russlands. Unvergessen und wie aus einem russischen Märchen! Zwanzig Jahre später, inzwischen Institutsvorstand des Slawistik Instituts an der University of Western Ontario, kam die Bekanntschaft, dann Freundschaft mit Leonid Pawlowitsch Ignatieff, meinem Vorgänger als Vorstand, einem der fünf Söhne des letzten Unterrichtsministers unter Zar Nikolaus II. Sein Vorfahre steht immer noch auf einem Sockel in Sofia, gefeiert als Befreier der Bulgaren von türkischer Herrschaft. Leonid Pawlowitsch, in Aussehen und Benehmen ein Aristokrat des vorrevolutionären Russlands, sprach mit Petersburger Akzent, den ich unmerklich von ihm übernahm. All dies prägt. Wie auch die intensive Befassung mit der Geschichte des vorrevolutionären Russlands, der Sowjetunion, der Perestroika und dem Danach. Alles in allem widersprüchliche Bilder und Erfahrungen. 3

Churchill meinte 1939, „Russland ist ein Rätsel, verpackt in etwas Mysteriösem, inmitten eines Geheimnisses. Aber vielleicht gibt es dazu einen Schlüssel.“ Nach diesem „Schlüssel“ haben Generationen von Dichtern, Philosophen, Historikern und Literaturwissenschaftlern seit eineinhalb Jahrhunderten gesucht, so auch Dostojewskij. Er meinte, ihn gefunden zu haben. Von ihm und seinen bis heute nachwirkenden Ideen handelt dieser Band ausgewählter Essays. Wer sich in seine Gedanken vertieft, dem enthüllt sich, wie ich meine, etwas überaus Wesentliches an der russischen Mentalität – die russische Psyche wird transparenter für den „westlichen“ Menschen, wenngleich man vorsichtig mit Verallgemeinerungen umzugehen hat! Nur die Jugend ist bereits zum Teil von weltweiter Internet-Kommunikation geprägt, und da dominieren Gemeinsamkeiten über Kontinente hinweg, was nicht jedem russischen Politiker recht ist, denn viele von ihnen sind überaus traditionsbewusst! Vergessen wir nicht, das alte Russland vor dem Einfall der Mongolen (Tartaren) war mit Mittel- und Westeuropa gut vernetzt. Dann kam eine drei bis vierhundert Jahre währende Unterbrechung. Die Zeitalter von Humanismus und Renaissance kamen und gingen, vorbei an Russland. Als Moskau die russischen Länder „sammelte“, verloren die russischen Hansestädte ihre Unabhängigkeit und demokratischen Einrichtungen. Nach 1700 kam ein Aufholprozess in Gang, als Peter der Große die Stadt St. Petersburg als sein „Fenster nach Europa“ schuf. Die deutsche Fürstin von Anhalt-Zerbst gab als Katherina die Große einen weiteren Anstoß zur Liberalisierung. Seitdem wechseln Perioden der Stagnation („zastoj“) mit solchen einer „Aufholjagd“ ab, gesteuert von den jeweiligen Machthabern, einst Zaren, dann Parteisekretäre, heute Präsidenten, wobei die imperialen Machtansprüche des größten Binnenlandes der Welt eine wichtige Rolle spielten und immer noch spielen. Mit erstaunlicher Zähigkeit hat sich dieses Muster eines Wechselspiels zwischen Stagnation, begleitet von einer autoritären Innenpolitik, und liberalen Reformen nach westlichem Vorbild gehalten. Eines muss aber betont werden: Russland gehört zu Europa. Russen verstehen sich als Europäer, wenngleich sie immer wieder gerne auf Distanz zu Europa gehen und wie die „Eurasier“ unter ihnen ihre Verbundenheit mit Asien und ihr daraus erwachsendes „Anderssein“ betonen. So sind auch Dostojewskij wie Puschkin und andere vor ihm mit der französischen und deutschen Literatur ihrer Zeit aufgewachsen. Sein erstes Werk war die Übersetzung eines Romans von George Sand. Seine formativen Jahre standen im Zeichen westlicher intellektueller und literarischer Einflüsse, wobei die von ihm verehrten russischen Autoren wie Puschkin und Gogol selbst unter dem Einfluss der (west)europäischen Literatur standen. Mit 28 Jahren wurde er wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet und zu Tode verurteilt.

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Bereits am Schafott im Angesicht des Todes wurde ein revidiertes Urteil verlesen. Dostojewskij kam erst zehn Jahren später nach vierjähriger Lagerhaft, Soldatendienst und Verbannung nach St. Petersburg zurück. Geläutert (?) und zunehmend konservativ war er dem orthodoxen Glauben tief verbunden, der sich bei ihm wie schon seit frühester Jugend auf die Person des Religionsgründers Jesus konzentrierte. Er verehrte weiterhin Europa, meinte nun aber damit das mittelalterliche Europa, denn das zeitgenössische Europa wäre sich selbst untreu geworden. Wie sein Zeitgenosse, der französische Maler Manet, verachtete und verurteilte er den Bourgeois und die bürgerliche Gesellschaft. Im Vergleich mit Manet enthüllt sich allerdings Dostojewskijs rückwärtsgewandte Sicht, die sich dabei geradezu als das Gegenteil von Manets Sicht darstellt (II.4). Zwei längere Essays (I.1; I.2) zeichnen die Entwicklung des Schriftstellers nach. Ein Schwerpunkt ist die vom Leser oft als kontroversiell empfundene und sehr unterschiedlich interpretierte weltanschauliche Positionierung Dostojewskijs, die zu vielen Widersprüchen Anlass gegeben hat. Eine tiefe Gläubigkeit steht tiefgehendem Glaubenszweifel gegenüber. So ist es nicht verwunderlich, dass die Dostojewskij-Rezeption durch Höhen und Tiefen gegangen ist, heute aber in Russland erneut einen Höhepunkt erreicht, dem der dritte längere Essay nachgeht (III.1). Was die kürzeren Essays betrifft, so sei auf den Spieler hingewiesen, der charakteristische Züge der frühen Moderne (Dekadenz), etwa 20 Jahre bevor sie in der Literatur erschien, vorweg nimmt (z. B. II.3). Einen Schwerpunkt bilden ferner Essays, die der literarischen Technik Dostojewskijs gewidmet sind (z. B. II.1). Dies betrifft die Figur des Erzählers (II.2, II.5), die Rolle von literarischen Allusionen und Modellen (I.3) und die unterschiedliche Funktion der Genres Roman und Erzählung (I.4) im literarischen Universum Dostojewskijs. Es zeigt sich, dass die beiden Genres ganz unterschiedlichen Zielsetzungen dienen! Ein zentrales Thema Dostojewskijs, der Griff des Individuums nach grenzenloser Macht, ist Thema zweier Essays, die dieses Thema in der postsowjetischen und serbisch-bosnischen Literatur behandeln (III.2; III.4). Zwei weitere Essays liegen dem Autor besonders am Herzen, da sie zentrale Positionen im Denken des Schriftstellers beleuchten. Im Essay über den Roman Die Dämonen (II.6; neuerdings mit neuem Titel Die bösen Geister) wird die Frage nach der Ursache von Dostojewskijs lebenslangen Glaubenszweifeln gestellt – der Glaube an Christus erscheint da als unvereinbar mit dem Glauben an Gottvater zu sein. Zugrunde liegt diesen Überlegungen die „exchange logic“, wie es die amerikanischen Slawistin Susan McReynolds genannt hat, in der die von Gott dem Menschen durch den Opfertod seines Sohnes gewährte Vergebung der Sünden in Analogie mit Dostojewskijs Verständnis der Funktion des Geldes in der zeitgenössischen Gesellschaft gese5

hen wird. Der abschließende Essay ist Dostojewskijs kritischer Einstellung Amerika (= USA) gegenüber gewidmet, geht aber darüber hinaus und berührt Fragen, die gerade heute im Jahre 2013 in einer globalisierten Welt, in der neoliberale Tendenzen vorherrschen, von geradezu beklemmender Aktualität sind. Von Dostojewskijs Interpretation der Geschichte vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte, spannt sich ein weiter Bogen bis zu Wladimir Odojewskijs amerikanischer Kolonie „Benthamia“ und Charles Sealsfield’s weltbeherrschender Clique der 10 „Großkaufleute“. Dieser Essay wurde – dem Thema entsprechend – in englischer Sprache verfasst und so belassen, ist doch Englisch inzwischen zur verbindenden Sprache der Wissenschaft geworden. All dies zeigt, dass Dostojewskij zweifelsohne von allen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts noch heute der aktuellste, modernste und faszinierendste Autor ist! Im Text der Essays wurde zur besseren Lesbarkeit für die der russischen Sprache nicht mächtigen Leser die konventionelle und im Deutschen übliche Umschrift mit einigen Adaptionen verwendet. In den Anmerkungen, die eher den Slawisten interessieren, wurde allerdings vorzugsweise die wissenschaftliche Umschrift benützt, die für eine größere Genauigkeit sorgt. Mein Dank gilt allen jenen, die am Entstehen dieser Bände mitgewirkt haben, besonders aber zwei Personen, ohne deren Hilfe die Bände nicht entstanden wären: Dies ist mein Kollege Prof. Žarko Bebić, selbst Literat und Autor, der nicht im Computer vorhandene Texte digitalisierte, und mein lieber Freund Joachim Hamacher, eine wahre Koryphäe in Sachen Computer, der trotz der Belastung durch seine Berufstätigkeit es sich nicht nehmen ließ, bei den zahlreichen Problemen am PC, vor allem der Formatierung der Texte, die er durchführte, mit Rat und Tat zu helfen. Last, but not least gilt mein Dank meiner lieben Frau Christa-Maria, die mir stets mit Geduld zur Seite gestanden ist, die Mühen und die Belastung der Arbeit an diesen Essays mitgetragen, stets mit Rat geholfen und im Notfall mit einem Glas Vintage Port für frische Energie gesorgt hat! Ihr ist dieser Band in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.

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I.

Annäherungen

1.

Dostojewskij: Ein „Heiliger“ oder eine „Pathologische Erscheinung“?

Wenn wir uns mit den Texten Dostojewskijs und ihrem Schöpfer näher befassen, dann können wir uns einer gewissen Ambivalenz nicht entziehen. Recht betrachtet stehen uns mindestens „zwei Dostojewskijs“ gegenüber, der 1821 geborene und 1881 verstorbene Schriftsteller, über den wir recht genau Bescheid wissen, und ein anderer, bei näherer Betrachtung nur teilweise mit ihm identischer Dostojewskij, der das Produkt einer fast 150-jährigen Rezeptionsgeschichte ist und sich nicht eindeutig erfassen lässt, viele Dimensionen umspannt und nicht nur für Russen mitunter geradezu mythische Ausmaße besitzt! Auch er tritt in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen vor uns, deren eine negativ, die andere positiv akzentuiert ist. Schon kurz nach Dostojewskijs Tod sprach der Kritiker Michajlowskij von ihm als einem „grausamen Talent“. Gorkij bezeichnete ihn gar als „Russlands bösen Genius“ und der sowjetische Autor Fadejew, einst Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbandes, meinte, er hätte „der Menschheit unermesslichen Schaden zugefügt!“ Noch Friedrich Heer, renommierter österreichischer Historiker, schrieb vor nicht so langer Zeit in seiner Studie europäischer Zivilisation Europa – Mutter der Revolutionen (Stuttgart 1964): „Dostojewskij, eine schwer pathologische Erscheinung, ein Mensch, der wohl auch ein Kinderschänder war ...“. Die gegenteilige Akzentuierung finden wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Autoren der religiösen Renaissance in Russland, aber darüber hinaus auch bei einer Vielzahl von prominenten Verehrern des großen Russen. Wladimir Solowjow, der junge Freund Dostojewskijs und Philosoph, sah in ihm einen genialen Dichter, der die Kunst der Zukunft, nach Solowjow eine „neue und freie Vereinigung von Kunst und Religion“, vorwegnahm. Für Mereschkowskij war Dostojewskij der „Prophet der Revolution“, bei Askoldow (1921) ein „Lehrer des Lebens“, und in den Worten von Middleton Murray ein „Riese, zu dessen Füßen die Schriftsteller anderer Nationen bloß spielen können.“ Hugo von Hofmannsthal definierte die Bedeutung Dostojewskijs für die Jugend seiner Zeit: „Hat die Epoche einen geistigen Beherrscher, so ist es Dostojewskij. Seine Gewalt über die Seele der Jugend ist unberechenbar – er und kein anderer ist Anwärter auf den Thron des geis-

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tigen Imperators“ (1921). 1 Was ist Dostojewskij nun wirklich? Ein engstirniger Nationalist, ein fundamentalistischer Christ, ein Antisemit, oder aber der „Seher des Geistes“ (Mereschkowskij), Prophet und Verkünder einer neuen Spiritualität, deren ästhetische und ethische Komponenten allein die Welt noch retten können? Es ist mein Anliegen, den mythischen Dostojewskij so weit wie möglich auf seine ursprüngliche Dimension zu reduzieren und aufzuzeigen, wo die Wurzeln für die angesprochenen Tendenzen in seiner Rezeption liegen, was nun tatsächlich die weltanschaulichen und ideologischen Grundgedanken sind, die ihn bewegen. Dostojewskij war ein Mensch des 19. Jahrhunderts, geprägt von der Literatur der Romantik und der Philosophie des Idealismus. Für ihn waren die Ideale des Guten, Schönen und Wahren verpflichtend, wenngleich später das Gegenbild des Bösen, Hässlichen, der Lüge mehr und mehr in den Vordergrund trat, nicht zuletzt aufgrund der eigenen Lebenserfahrung, und überdies seine eigene Einstellung zu den Idealen der Jugend brüchig und zwiespältig wurde. Mit dem Tode Hegels (1831), Goethes (1832) und Schleiermachers (1834) endete in Deutschland wesentlich früher als in Russland eine Epoche. Der Verfall der Kunstperiode wie Heine es nannte, setzte allerdings schon Mitte der 1820er-Jahre ein. Eine junge Generation deutscher Schriftsteller begann sich kritisch mit der Epoche des romantischen Idealismus auseinander- und von ihr abzusetzen. Man sprach von der vergangenen Literatur und dem Menschentypus, der sie trug, zunehmend verächtlich. So Mundt, der rückblickend von der „künstlichen Selbstreflektierung der Poesie“, von „reflektierender Künstelei“, „subjektivem Phantasieren“ sprach. Laube meinte, „ ... die Literatur flüchtete in künstlich gemachte Ideale. Wir erfanden die Romantik“. Die romantische Seele nannte er ähnlich wie Goethe eine kranke Seele. 2 Die Generation der 1830er-Jahre empfand das Erbe der Romantik als Last und litt an dem in Romantik und Idealismus angelegten Zwiespalt, an der Polarität von idealer und realer Lebenssphäre. In der russischen Literatur sehen wir eine analoge Entwicklung, die allerdings mit einer Verspätung von etwa 10 Jahren einsetzte. Mit Menzel und den Jungdeutschen definierte Herzen die deutsche Literatur der Kunstperiode als transzendental und weltfremd. Er übertrug diese Ansicht in der Folge auf Russland und stellt als Erbe des romantisch-idealistischen Zeitalters folgende Züge heraus: Ein Sichversenken ins Leid mit der Intention, sich selbst im 1 2

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So Hugo von Hofmannsthal 1921 in Sydsvenska dagbladet (s. rororo Bildmonographie). J. Hernand (Hg.), In: Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1967, S. 24, S. 27, S. 31. H. Koopmann, In: Das Junge Deutschland. Stuttgart 1970, S. 118f.

Leid zu erleben; eine Tendenz zu Tagträumen und daraus folgend die Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden; und zuletzt eine Erziehung aus romantischen Büchern, die zur Weltfremdheit führt. 3 In seinen Notizen eines jungen Mannes (1840–1841) und der Novelle Wessen Schuld ist es? (1845) hat er diese Züge auch literarisch verarbeitet. Mehr als ein Jahrzehnt später versuchte Apollon Grigorjew den Gegensatz von Kunstperiode und der darauf folgenden Epoche zu definieren. In dem Essay Ein Blick auf die russische Literatur seit dem Tode Puschkins (1859) schreibt er: „Auf die philosophische Epoche [Heines Kunstperiode, bzw. das idealistischromantische Zeitalter, R. N.] – d. h. im Gefolge der Epoche mächtiger, philosophischer Bestrebungen – folgte in unserem intellektuellen Leben die analytische Epoche, die Epoche eines Rückblicks auf uns selbst, des Überprüfens der Anforderungen des Lebens, die Epoche des Zweifelns an jenen Bestrebungen und des Zweifels an der Berechtigung der Bemühungen, die daraus erwuchsen“. 4

Der beiden Epochen gemeinsame Zug wurde von Grigorjew als Idealismus, „eine der Krankheiten unseres Zeitalters“ definiert. Die jungen russischen Autoren, die in den 1840er-Jahren zu publizieren begannen, gehören eben dieser nachromantischen, analytischen Epoche an. Einerseits wuchsen sie noch ganz im Geist der Romantik und des Idealismus auf. Andererseits aber hatten sie den Glauben an die Ideale der romantischen Literatur verloren. In ihren Werken setzten sie sich kritisch mit der vorangegangenen Epoche auseinander. Diese kritisch-analytische Auseinandersetzung kristallisierte sich oft an dem Ideal der Liebe, der im romantischen Idealismus eine besondere Rolle zugefallen war. Der romantische Kult der Liebe, Freundschaft, Verehrung ist uns gleichermaßen aus Lebenszeugnissen und literarischen Werken bekannt. Er überdauerte das Ende der Kunstperiode im Gedankengut des utopischen Sozialismus, wo die Liebe als sozial wirksame Kraft gesehen wurde. Für den in Russland besonders geschätzten utopischen Sozialisten Charles Fourier war die Liebe geradezu die zentrale und mächtigste Antriebskraft des Menschen. Wie auch andere utopische Sozialisten sah er in der Frustrierung der Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich dem Egoismus verschrieben hatte, die Wurzel des Übels in der Welt. Nur die erneute Beachtung des urchristlichen Prinzips der brüderlichen Liebe von Mensch zu Mensch innerhalb einer neu geordneten Gesellschaft könnte das Böse in der Welt überwinden. Der egoistischen Liebe der bürgerlichen Gesellschaft stellte Fourier die freie Liebesbindung gegenüber. Die utopische

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A. I. Herzen, In: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Moskau, 1954–65, Bd. I, S. 65; Bd, II, S. 71; Bd. III, S. 29, S. 31; Bd. IV, S. 157. A. A. Grigorev, In: Literaturnaja kritika. Moskau 1967, S. 52f.

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Konzeption der Liebe als Ideal von gesellschaftsformender Kraft wurde auch seitens der radikalen Philosophie eines Feuerbach gefördert. Sein Werk Das Wesen des Christentums (1841), ein Buch, das in Russland populär war, stellt die Liebe als „Selbstgefühl der Gattung“ heraus. 5 So sagt er, „ ... in der Liebe spricht der Mensch seine Ungenügsamkeit an seiner Individualität für sich aus, postuliert er das Dasein des anderen als ein Herzensbedürfnis, rechnet er den anderen zu seinem eigenen Wesen, erklärt er nur sein durch die Liebe mit ihm verbundenes Leben für ein wahres, menschliches, dem Begriffe des Menschen, das ist der Gattung entsprechendes Leben.“

Dieser Betonung des idealen Charakters der Liebe, der sich die Dichter der 1840er-Jahre aufgrund ihrer romantisch-idealistischen Erziehung und Lektüre noch verbunden fühlten, stand eine tiefe Skepsis gegenüber, die aus der Kritik an der Kunstperiode erwuchs und vom hegelianischen Rationalismus, der Analyse und Reflexion des Bewusstseins im Gefolge Hegel’scher Philosophie gefördert wurde. Für den Intellektuellen der 1840er-Jahre wurde das Liebeserlebnis geradezu zum Prüfstein seiner Weltschau. Der aus der Tradition und dem persönlichen Erleben kommende Glaube an das Ideal und die aus der Kritik der gesellschaftlichen Wirklichkeit stammende und vom Hegel’schen Rationalismus gespeiste Skepsis führten zu einem Konflikt, der sich auch in der Literatur niederschlug. Aus dieser Sicht gilt für die Literatur der 1830er- und 40er-Jahre, was Gert Sautermeister von George Sands Roman Lelia (1833 und 1839) sagt, ein Roman, der übrigens in Russland viel gelesen wurde und auch Dostojewskij beeindruckt hat. Sautermeister wendet sich gegen die einseitig autobiografische Interpretation des Romans und meint, „viel mehr sollen alle Romanfiguren zusammen ein Spektrum von Ich-Möglichkeiten ergeben. Skeptizismus, Naivität, Stoizismus und Sensualismus werden als Lebenshaltungen gegeneinander gestellt und am Phänomen ,Liebe‘ auf ihre Tauglichkeit hin erprobt.“ 6

Die Liebe als zentrale Lebenserfahrung des Menschen ist damit auch bei Sand Prüfstein der Echtheit individueller Bestrebungen. An der Liebe, d. h. in der Aufgabe des Egoismus, wächst der Mensch über sich selbst hinaus und

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Feuerbach säkularisiert und anthropolisiert christliche Vorstellungen. So wird bei ihm das Prinzip „Gott ist die Liebe“ zum Axiom „die Liebe ist göttlich“. Kindlers Literaturlexikon, Bd. 13. München 1974, S. 5590. Vgl. H. Heine: „Die deutschen Jünglinge lieben Hamlet, weil sie fühlen, dass die Zeit aus den Fugen gegangen ist“ (zitiert bei Koopmann, S. IIIf.). Bei Herzen lesen wir, „wir vollen keinen Schritt tun, ohne ihn überlegt zu haben, unaufhörlich halten wir an wie Hamlet und denken...“, (Herzen, op. cit., Bd. 2, S. 49)

erweist sich als verantwortliches, mit Würde und Willen ausgestattetes Wesen. Innerhalb des von Sautermeister angesprochenen Spektrums von IchMöglichkeiten erscheint allerdings die Liebe in sehr verschiedenem Gewand, sei es als sinnlich-erotische Leidenschaft oder sentimental-romantische Sehnsucht, wobei aus der Perspektive der Kritik der Kunstperiode und des Hegel’schen Rationalismus die Möglichkeit einer echten Liebe zum Problem wird. Zur Darstellung der Liebe in ihren Konkretisationsformen in der zeitgenössischen Gesellschaft gesellt sich die gleichermaßen vom utopischen Sozialismus und Hegel’schen Gedankengut gespeiste Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, eine Kritik, die bereits implizit in der Verdammung der Kunstperiode als romantisch-idealistische Abwendung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit angelegt war. Nach Hegel hatte das bourgeoise „System der Bedürfnisse“ seine materialistische Ausrichtung mit einer romantischen „Schönseligkeit“ verdeckt und den Menschen seiner wahren geistigen Natur entfremdet. Nach Fourier wurden die gottgegebenen Antriebskräfte im Menschen von der bürgerlichen Gesellschaft verdorben, frustriert und pervertiert. Die Ablehnung literarästhetischer Werte der Kunstperiode verband sich bei den jungen Intellektuellen im Russland der 1840er-Jahre auf diese Weise mit Hegel’scher und utopisch-sozialistischer Gesellschaftskritik. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass der junge Intellektuelle der 1840erJahre noch mit den im wörtlichen wie übertragenen Sinne „erlesenen“ Idealen romantischer Literatur und idealistischer Philosophie aufgewachsen war, und sich im Konflikt, mit einer Wirklichkeit sah, die diesen Idealen nicht entsprach und ihnen auch keine Lebensberechtigung einräumte. Er wandte sich gegen sie, blieb ihnen jedoch zuinnerst verhaftet. Er verlor sich in der Analyse seines gespaltenen Bewusstseins und verharrte darin mit dem Egoismus des romantischen Träumers, der er im Grunde geblieben war. In der Erfahrung der Liebe, die zugleich in der idealen Sphäre wie auch der konkreten Wirklichkeit beheimatet ist, enthüllt sich sein tragisches, gespaltenes Wesen, das in seiner Widersprüchlichkeit an den von ihm selbst oft zitierten Hamlet gemahnt. Jener Liebe, die eine Aufgabe des egoistischen Sichversenkens in das eigene Ich verlangte, war er nicht gewachsen. Dieses damit skizzierte Charakterbild findet sich in vielen literarischen Werken der Zeit. Hier sollen einige Aspekte der beiden Erstlingswerke Dostojewskijs gegen diesen Hintergrund gesehen werden. Daraus ergeben sich Gemeinsamkeiten, die für das Frühschaffen des Dichters wie auch für die Literatur der 1840er-Jahre in Russland überhaupt von Bedeutung sind. Ich möchte aber noch weiter ausholen. Zwei Tendenzen charakterisieren das Denken des 19. Jahrhunderts: Die Tendenz zur Abstraktion und Vereinfachung, und die Tendenz zu großen, umfassenden Synthesen und Verallgemeinerungen. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit groß angelegter philosophi11

scher Systeme und darauf aufbauender, in sich geschlossener, logisch schlüssiger Weltbilder, die schließlich als Resultat von Reduktion und Simplifikation auf wenige Thesen aufbauende Ideologien hervorbrachten. Der kennzeichnende Zug der Zeit, der den Philosoph mit dem Revolutionär und Terroristen verbindet, ist jedoch der universelle Gültigkeitsanspruch des Denkens: Man will Geschichte und Gesellschaft der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihren materiellen wie geistigen Ausformungen erklären und – wobei die Reflexion von einer „Philosophie der Tat“ (Moses Heß) überlagert wurde – auch verändern! Dostojewskij, in seiner Jugend ein „Schillerianer“, glaubte an das humanistische Bildungsideal seiner Zeit. Als Zwanzigjähriger wurde er mit dem christlich-utopischen Sozialismus, vor allem St. Simon und Fourier, bekannt, welche die Welt durch eine Rückbesinnung auf Grundprinzipien der urchristlichen Lehre reformieren wollte und zu diesem Zweck utopische Zukunftsvisionen entwarf, die der junge Autor enthusiastisch aufnahm. Die Folgen sind bekannt. Nach Haft und Exil in Sibirien wurde er mit Hegels Denkkategorien näher bekannt und dürfte sich mit dessen Phänomenologie des Geistes befasst haben. Er übertrug, wie es scheint, die Kategorien der Hegel’schen Logik in naiver Form, so wie er sie rezipierte, auf den „russischen Geist.“ Daraus erwuchs ein schematisches und starres, jedoch umfassendes utopisches Zukunftsbild. Zwar wandte er sich gegen die Überbetonung der Vernunft und Logik in den radikalen Ideologien der Zeit, wie es die Tiraden des Menschen aus dem Untergrund zeigen, und betonte dagegen das Irreale, die Vorzüge des „2 x 2 = 5“, blieb aber selbst im Grunde dem systemhaften und utopischen Denken verhaftet. Als in den 60er-Jahren Wissenschaft und Technik in einem utopischen Fortschrittsglauben das goldene Millenium versprachen, was Tschernyschewskijs Roman Was tun? (1863) inspirierte – Dostojewskij diente dafür als Symbol der Glaspalast der Weltausstellung in London von 1862 –, da verbanden die radikalen Gesellschaftskritiker dies mit sozialistischer Ideologie. Dostojewskij erhob seine warnende Stimme und entwarf eine Art „Gegenutopie“, die auf einer romantischen Überschätzung slawischrussischer Charakterzüge, verbunden mit einer nahezu fundamentalistischen Auffassung orthodoxer Religiosität und auf Aspekten seiner frühen Faszination für den utopischen Sozialismus beruhte. Aber auch Dostojewskijs Vision folgte den gleichen Grundzügen, wie wir sie bei seinen ideologischen Gegnern finden. Auch er entwarf ein umfassendes Denksystem, verallgemeinerte, reduzierte und simplifizierte, und wollte zugleich gesellschaftsverändernd wirken. Wo er dem ideologischen Gegner kritisch begegnete, kann man ihm oft auch heute noch folgen. So sah er deutlich die Schwachstellen sozialistischer und marxistischer Denkansätze, aber auch die Schwächen der philosophisch orientierten, schöngeistigen Bildung des zeitgenössischen Menschen. 12

Aber er unterlag auch Vorurteilen, vor allem solchen, die tief in der russischen Geschichte verwurzelt waren, und wie es mitunter scheint, auch noch heute sind! Dazu gehört die einseitige Kritik an mittel- und westeuropäischen Lebensformen: Dostojewskij verdammte den Parlamentarismus, die westliche Form der Rechtssprechung mit Geschworenen und bestellten Strafverteidigern, die westlichen Kirchen, den westlichen Bourgeois, die liberalkapitalistische Wirtschaft, aber auch das europäische Judentum. Er verurteilte den polnischen, deutschen und französischen Nationalcharakter in ausdrucksvollen, von Ironie strotzenden Tiraden, die nicht selten von klischeehaften Vorurteilen ausgingen, wie sie die sowjetische Propaganda zur Zeit des Kalten Krieges pflegte! Seine Religiosität verband sich mit russophilen Tendenzen und imperialistischen Großmachtträumen. Der „russische Christus“ sollte sein Reich bis Konstantinopel ausdehnen und darüber hinaus in ganz Europa die Herrschaft erlangen, wenn nötig mit dem Schwert! Der Raster vorgefasster ideologischer Positionen legte sich über die geschichtlichen Abläufe der Zeit, verzerrte sie und führte zu einer Einseitigkeit der Wahrnehmung. Alle Ereignisse ließen sich in ein Koordinatensystem einordnen und entweder zur positiven Achse, die nationalrussische, orthodoxe Tradition, oder zur negativen, die westliche, besonders die katholische Tradition, in einen Bezug setzen. Damit stand Dostojewskij in der Tradition eines Denkschemas, das für Russland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert charakteristisch war. Man muss aber hinzufügen, dass dies weniger seine literarischen, als vielmehr die journalistischen Texte charakterisiert! Dazu eine Bemerkung: Historische Reflexion tendierte in Russland seit den 1820er-Jahren dazu, sich einer von zwei antagonistischen weltanschaulichen Positionen zu bedienen, der nationalrussischen, orthodoxen, oder der westlichen, emanzipatorischen Position. Dostojewskij bekannte sich in seiner Jugend ganz zur westlichen, „kosmopolitischen“ Tradition. Hinter dieser Polarisation der weltanschaulichen Grundeinstellung stand ein historisches Trauma: Die Herrschaft mongolischer Khane, die Russland für Jahrhunderte vom Westen isolierte: Erst im 17. Jahrhundert begann die erneute Annäherung an die westliche Welt. Doch die bittere Erfahrung der Unterwerfung durch asiatische Reiterheere blieb. Russland war in seiner Entwicklung zurückgeblieben. Als es sich im 18. Jahrhundert als Folge der Reformen des Zaren Peter des Großen bemühte, Anschluss an die europäische Entwicklung zu finden, da beschleunigte sich notwendigerweise auch der Prozess der Selbstfindung als Nation. Es begann die verhängnisvolle Gegenüberstellung „nationalrussischer“ Werte und „verderblicher westlicher“ Einflüsse. Schon Nikolaj Karamsin, bedeutendster Schriftsteller des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Historiker und Begründer einer Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Der Bote Europas, 13

wurde von seinen Gegnern im nationalrussischen Lager, den „Slaworeussen“, wie sie genannt wurden, als „Kosmopolit“ bezeichnet, ein Begriff, der wieder unter Stalin (und darüber hinaus!) Verwendung finden sollte. Durch das ganze 19. Jahrhundert zog sich die Polemik zwischen Kosmopoliten und Westlern einerseits, denen sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Nihilisten zugesellten, und den russophilen Nationalisten andererseits, die als Slawophile in die Geschichte eingegangen sind. In den 60erJahren entwickelte Dostojewskij die These von der Rückkehr des russischen Adels und der Intelligenz, die sich, wie er meinte, durch eine zu rasche und weitgehend unkritische Europäisierung dem Volk entfremdet hatten, zurück zur russischen Scholle. Als Rettung vor dem verderblichen westlichen Gedankengut sollten sich die oberen Klassen der Gesellschaft dem Bauernstand zuwenden. Dostojewskij, seit den 50er-Jahren im Grunde selbst Slawophiler, obgleich er diese Bezeichnung für sich ablehnte, wollte damit dem Einfluss der Nihilisten, aber auch den russischen Entrepreneurs mit ihren vom Westen übernommenen kapitalistischen Anschauungen entgegentreten, wie es sein Roman Der Idiot deutlich zeigt. Fanden die Nihilisten in den Bolschewiken späte Nachfahren, wie Dostojewskij vermutlich sagen würde, so finden wir in gesellschaftlichen Vereinigungen wie einst „Pamjat“ („Gedächtnis“) und heute Putins Jugendorganisation „Naschi“ („Die Unsrigen“) Vertreter eines oft aggressiven Nationalismus. Das starre, bipolare Denken ist noch keineswegs überwunden. Ja, es erscheint von erneuter Aktualität zu sein, so wie auch das Werk Dostojewskijs heute wieder aktuell geworden ist! Noch eine Zwischenbemerkung sei gestattet. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Russland die Schriftsteller seit jeher intellektuelle Führer, Wegweiser in der langen und dunklen Nacht autoritärer Herrschaft waren. So bestand seitens der Leser auch stets die Neigung, sie entweder als Handlanger der Macht zu verdammen oder aber sie unkritisch zu rezipieren, sie zu idealisieren. Dostojewskij selbst sah sich zweifelsohne als „Wegweiser“ in diesem Sinne! Sagte er doch selbst im Tagebuch eines Schriftstellers: „Die Aufgabe der Kunst sind nicht die Zufälligkeiten des Alltagslebens, sondern die ihnen gemeinsame Idee, mit scharfem Blick erkannt.“ Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich in größerer Ausführlichkeit zu drei Themenkreisen sprechen: 1. Der weltanschauliche Hintergrund zu Dostojewskijs Frühwerk von den Armen Leuten bis zu den Texten, die er in den 50er-Jahren, bereits nach der Rückkehr aus Sibirien schrieb; 2. Der Wandel in seiner Weltanschauung, der sich in Sibirien und dem ersten Jahrzehnt nach der Rückkehr vollzog; 3. Dostojewskijs christliche Utopie, dies vor allem anhand der Brüder Karamasow. Vorerst jedoch ein Rückblick auf die Genese seiner Religiosität, denn sie führte nach seiner Haft zu der religiösen Utopie, in deren Zentrum 14

Dostojewskijs Russische Idee steht, die auch Schatow in den Dämonen vertritt. In der Familie der Dostojewskijs war das erste und einzige Lesebuch der Kinder die Lesefibel Hundert und vier heilige Geschichten aus dem alten und neuen Testament zum Nutzen der Jugend des protestantischen Theologen und Pädagogen Johannes Hübner (deutsch 1714), die in Russland in Übersetzung weit verbreitet war. Noch in den 1870er-Jahren erinnerte sich Dostojewskij mit Begeisterung an dieses Buch, von dem er ein Exemplar in seiner Bibliothek hatte. In den Brüdern Karamasow wird der Titel von Sossima erwähnt. 7 Hier wurde der Grundstein für seine Religiosität gelegt. Dostojewskij bestätigte noch 1873: „In unserer Familie kannten wir das Evangelium von der frühesten Kindheit an.“ 8 In René de Chateaubriands Genius des Christentums, einem Werk, das Dostojewskij in den späten 1830er-Jahren las, wurde er mit der Poetisierung und Ästhetisierung des Christentums konfrontiert, was ihn begeisterte und starke Spuren hinterließ. Man möge bloß das Kapitel „Die Existenz Gottes, bewiesen an den Wundern der Natur“ (I. Teil, 5. Buch) aus Chateaubriands Buch mit Sossimas Ausführungen vergleichen! Chateaubriand schreibt da: Es ist ein Gott; die Kräuter des Tales und die Zedern des Gebirges preisen ihn, das Insekt summt sein Lob, der Elefant begrüßt ihn beim Anbruch des Tages, der Vogel besingt ihn zwischen den Blättern, der Blitz lässt seine Macht leuchten und der Ozean verkündigt seine Unendlichkeit. Nur der Mensch hat gesagt: Es gibt keinen Gott. Dieser hat also niemals im Missgeschick die Augen zum Himmel erhoben, noch im Glück seine Blicke zur Erde gesenkt? Ist ihm die Natur so fern, dass er sie nicht betrachten kann, oder hält er sie für das bloße Werk des Zufalls? Aber welcher Zufall hat einen so ungeordneten und widerstrebenden Stoff zu bewältigen vermocht, dass er einer so vollkommenen Ordnung sich fügte? Man möchte sagen, der Mensch sei der offenbare Gedanke Gottes, und das All sei seine dargestellte Einbildungskraft. 9

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Vgl. Die Brüder Karamazov, II. Teil, 6. Buch, Kap. 2b. F. M. Dostojewskij: Tagebuch eines Schriftstellers, 1873, Kap. XVI. PSS (= 30bändige Akademieausgabe), Bd. 21, S. 134. Kap. 2 des 5. Buches: François-René de Chateaubriand, Geist des Christentums. Oder Schönheiten der christlichen Religion. Hg. Jörg Schenutt, Morus Verlag, Berlin 2004, S. 116. „Spectacle général de l’univers“. „Il est un Dieu; les herbes de la vallée et les cèdres de la montagne le bénissent, l’insecte bourdonne ses louanges, l’éléphant le salue au lever du jour, l’oiseau le chante dans le feuillage, la foudre fait éclater sa puissance, et l’Océan déclare son immensité. L’homme seul a dit: Il n’y a point de Dieu. Il n’a donc jamais, celui-là, dans ses infortunes, levé les yeux vers le ciel, ou, dans son bonheur, abaissé ses regards vers la terre? La nature est-elle si loin de lui qu’il ne l’ait pu contempler, ou la croit-il le simple résultat du hasard? Mais quelle hazard a pu

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Nach 1845 kamen die Vorstellungen der christlich-utopischen Sozialisten St. Simon, Proudhon, Cabet u. a. dazu, mit denen Dostojewskij im Kreise der revolutionären Geheimgesellschaft der Petraschewzen bekannt wurde, die eine auf den Grundgedanken der Lehre Jesu Christi beruhende utopische Neuordnung der Gesellschaft entwickelten. Von da war es nicht weit bis zur Utopie eines irdischen Paradieses mit einem Christentum ohne Hierarchie und Dogmen, das allein dem Vorbild eines idealmenschlichen Christus verpflichtet war. Es war vor allem, wie Konrad Onasch dies formuliert hat, die „Humanisierung und Poetisierung der Person Christi“, die bei Dostojewskij zu einer zentralen Komponente seiner Weltanschauung wurde. Dostojewskij: „Ich glaube, dass es nichts Schöneres, Tieferes, Symphatischeres, Vernünftigeres, Männlicheres und Vollkommeneres gibt als den Heiland.“ 10 Aber noch etwas ganz anderes darf nicht verschwiegen werden, da wir darin eine Quelle seiner Glaubenszweifel erkennen können. Dostojewskij hatte mehrfach Belinskijs berühmten Brief an Gogol im Petraschewskij-Kreis verlesen, in dem der Kritiker Gogols späte, konservative Ansichten verurteilte. So hat er damals wohl auch die Worte Belinskijs über die orthodoxe Kirche mit Begeisterung vorgelesen, die in diesem Brief als „ein Bollwerk der Knute und eine Handlangerin des Despotismus“ beschrieben wird, und wohl ebenso die Worte Belinskijs an Gogol über Christus: „Was haben Sie Gemeinsames zwischen ihm [Christus] und irgendeiner, vor allem aber der orthodoxen Kirche entdeckt?“ Was Belinskij von dem Verhältnis der Kirche zu Christus hielt, geht ebenfalls aus seinem Brief hervor. So meinte er, Voltaire wäre „mehr ein Sohn Christi, mehr Fleisch von seinem Fleisch, und Blut von seinem Blut, als alle Ihre Popen, Bischöfe, Metropoliten und Patriarchen …“ 11 Wir erinnern uns an Passagen in Dostojewskijs Romanen, wo Popen, Mönche und andere Vertreter der Kirche erwähnt werden. Sie sind eher negativ gezeichnet! Auch im Tagebuch eines Schriftstellers finden sich negative Worte zur russischen Kirche und ihren Dienern! Schon in der frühen Erzählung Die Wirtin ist diese Tendenz zu erkennen, wie ich in meiner Interpreta-

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contraindre une matière désordonnée et rebelle à s’arranger dans un ordre si parfait? On pourroit dire que l’homme est la pensée manifestée de Dieu, et l’Univers est son imagination rendue sensible. Le Génie du Christianisme ou Beautés de la Religion Chrétienne, Paris 1805. Brief an Frau Fonwisin 1854. F. Hitzer: F. M. Dostojewski. Gesammelte Brriefe 1833–1881, S. 87. V. G. Belinskij: Estetika i literaturnaja kritika. Bd 2, Chudožestvennaja literatura, Moskau 1959, S. 633–641.

tion nachgewiesen habe. 12 In den 1850er-Jahren, möglicherweise schon davor zur Zeit seines unfreiwilligen Aufenthalts in Sibirien, entstanden dann die slawo- und russophilen Gedanken, die zur Russian Idea wurden, eben zu seiner religiösen Utopie. Dennoch blieben die Zweifel! Von besonderem Interesse für das Verständnis des jungen Schriftstellers sind drei Feuilletons aus dem Jahre 1847, in denen wir Anklänge an die Philosophie der Tat erkennen können, die Moses Heß 1843 als Verknüpfung Hegel’schen Gedankenguts mit utopisch-sozialistischen Vorstellungen formuliert hatte. 13 Er forderte eine Verbindung von Idee und Tat, als deren Resultat es zu einer sozialen Revolution kommen sollte. In diesen Feuilletons spricht Dostojewskij von der zeitgenössischen Gesellschaft und unterscheidet die vordergründig „wohlmeinenden guten Herzen“, in der Äsop’schen Sprache des Autors sind damit die herrschenden Bürokraten gemeint, von den schwachen, manipulierten Menschen, wie dem wohlmeinenden Bürochef Julian Mastakowitsch und den von ihm manipulierten Wasja in der Novelle Ein schwaches Herz, bzw. die „Speichellecker“, d. h. angepasste Menschen und Karrieristen, und unter Einschluss seiner eigenen Person die „Flaneure“, oder „Träumer“. Mit Letzteren sind die Intellektuellen gemeint, die in Diskussionszirkeln, so wie auch der Autor, von der Zukunft träumen, aber letztlich zu Skeptikern und Fatalisten werden, d. h. sich in einem ausufernden Denkprozess verlieren und zum Handeln unfähig werden, wie der Träumer in den Weißen Nächten. Im dritten Feuilleton hat Dostojewskij auch seine Geschichtsphilosophie angedeutet. Er stellt das alte, russischen Traditionen verbundene und dahinsiechende Moskau der von Zar Peter gegründeten, neuen Hauptstadt gegenüber, die von dessen „Idee“ lebe – eben der Idee der Europäisierung Russlands. Dostojewskij lässt den Leser nicht im Zweifel, wo er, damals noch „Kosmopolit“ und Westler, steht: „Alles beginnt zu leben. Alles: Die Wirtschaft, der Handel, die Wissenschaften, die Literatur, die Bildung, das Wesen und die Struktur des gesellschaftlichen Lebens, alles lebt und wird von St. Petersburg allein gestützt.“

Im Anschluss daran ruft er zu einem „neuen Leben“, zu „eigener künftiger Tätigkeit“ auf. Es sind dies Worte, die im Kontext des Jahres 1847 einen durchaus revolutionären Klang hatten. In der Erzählung Die Wirtin, die wir auf unterschiedlichen Interpretationsebenen lesen können, sei es als romantische Arabeske, als eine verfremdete Episode aus dem Leben des Autors, als 12 13

R. N.: The Landlady: A New Interpretation. In: Canadian Slavonic Papers, vol. X, no. 1, 1968, S. 41–67. Vgl. zu diesem und dem folgenden Abschnitt mein Buch: F. M Dostojewskij. Das Frühwerk. Heidelberg, Winter Verlag 1976.

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psychologische Studie etc., stellt er in einer Allegorie, wie ich meine, die russischen nationalen Traditionen verkörpert im alten Murin dar, sowie das darunter leidende, von ihnen verführte Volk, symbolhaft dargestellt durch die schöne Katarina, und auch die russische Intelligenz in der Gestalt des jugendlichen Ordynow, die das Volk mit Hilfe westlicher „Wissenschaft“ (der im Text verwendete Begriff „nauka“ [= Wissenschaft] muss als utopischer Sozialismus dekodiert werden) befreien möchte. Die Aussage des Textes, entschlüsselt und kurz resümiert, lautet: Russland steht immer noch im Banne nationaler, religiöser Traditionen, die eine Vereinigung mit der fortschrittlichen, sozialistisch orientierten Intelligenz nicht zulassen. Wie wir bereits wissen, war Dostojewskij 1847 ein Skeptiker. Ordynow hat ein schwaches Herz, auch er ist ein romantischer Träumer, der nicht zu handeln versteht. Er beugt sich Murin. Ich möchte einen Beweis für die Richtigkeit dieser Lesart anführen: Als etwa zu derselben Zeit der Kritiker Belinskij den Volksdichter Kolzow als Verkörperung nationaler Traditionen pries, da polemisierte Dostojewskijs Freund Valerian Majkow mit dem Kritiker, weil er – so wie auch Dostojewskij – der Meinung war, ein Schriftsteller könne nur dann ein großer Dichter werden, wenn er das nationale Erbe in sich überwinde! Ein Vierteljahrhundert später erinnerte sich Dostojewskij an diese Polemik und kommentierte sie. Seine Worte sprechen zugleich das Thema der Wirtin an. Sie sind zugleich auch ein Versuch sich selbst zu rechtfertigen: „All diese Ideen über die Vernichtung nationaler Eigenschaften im Namen einer allgemeinen Brüderlichkeit unter den Menschen [= Sozialismus, R. N.], über die Verachtung des Vaterlandes als eines Hemmschuhs in der allgemeinen Entwicklung, usw., usw. – das alles waren Einflüsse, die wir nicht überwinden konnten [!] und die im Gegenteil unsere Herzen und Gemüter im Namen einer gewissen Großmütigkeit ergriffen.“ (Tagebuch eines Schriftstellers, 1873)

Zwei Jahre später scheint Dostojewskij seine Skepsis allerdings abgelegt zu haben. Er schloss sich einem kleinen Verschwörerkreis an, dem sogenannten Durowkreis, in dem er ein von dem frühen russischen Kommunisten (!) Speschnew entworfenes „verpflichtendes Gelöbnis“ unterzeichnete, in dem stand: „Sobald das Exekutivkomitee die Möglichkeiten der Gesellschaft, die Umstände und die sich bietenden Gelegenheiten geprüft und festgestellt hat, dass der Zeitpunkt für den Aufstand gekommen ist, verpflichte ich mich, ohne Rücksicht auf meine Person, voll und offen an der Rebellion und dem Kampf teilzunehmen.“

Es kam allerdings nicht so weit. Der potenzielle Revolutionär Dostojewskij wurde ebenso wie seine Mitverschwörer verhaftet (1849), verbrachte vier Jahre in Ketten in Omsk und weitere vier Jahre als Soldat in Semipalatinsk. Erst zehn Jahre, nachdem er St. Petersburg als Häftling verlassen hatte, konn18

te er in die Hauptstadt zurückkehren. Da war er ein anderer Mensch geworden. Vom christlich-utopischen Sozialrevolutionär hatte sich Dostojewskij zum bibelgläubigen, orthodoxen Christen und Monarchisten gewandelt, der allerdings Grundzüge seiner liberalen und utopischen Weltanschauung der 40er-Jahre beibehielt. Dazu gehörte die Ablehnung der Privilegien eines vielfach korrupten Adels, wie es die Erzählung Onkelchens Traum zeigt (1859). Den Sozialismus in allen Ausprägungen, aber auch die ritualisierte und in Formalismen erstarrte Religion lehnte er ab. Im Hintergrund stand weiterhin die freie, nur auf die Bibel gründende Religiosität, fest verbunden mit der Gestalt Christi, wie er sie in seiner Jugend kennen gelernt hatte. Die Lektüre der Bibel in den Jahren der Festungshaft, des einzigen Buches, das der Gefangene lesen durfte, hatte in ihm diese Einstellung verfestigt. Dostojewskij änderte nun selbstkritisch seine früher uneingeschränkte Hochachtung für Peter den Großen, der westliche Kultur nach Russland gebracht hatte: „Die Art und Weise also, wie er [= Peter] Russland umwandelte, war zweifellos falsch. Die Tatsache der Umwandlung war echt, aber die Formen waren unrussisch, nicht national und widersprachen nicht selten in grundsätzlicher Weise dem Volksgeist.“

Seit Peter dem Großen, meinte er, wäre Russland gespalten, Volksgeist und Bildung gingen unterschiedliche Wege. Die russische Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts war nun für ihn nichts anderes, als die Geschichte der Wandlung und der Rückkehr des entfremdeten „Nationalgeistes“ zum Volksgeist, der im Bauerntum stets lebendig erhalten geblieben sei. Dostojewskij war aber auch mit der historischen Literatur seiner Zeit vertraut. Rankes Wort, „Einer jeden Nation wird es bewusst werden, wenn sie sich nicht an der ihr gebührenden Stelle erblickt“ (Fragment historischer Ansichten), Rankes Betrachtungen zu den romanischen und germanischen Völkern, die nacheinander weltbeherrschende Funktionen einnahmen, später Danilewskijs Gedanken über die Rolle der slawischen Völker in Europa in Russland und der Westen (1869) wurden Teil von Dostojewskijs eigener Theorie über die russische Scholle („počvenničestvo“). Die slawophile Zuwendung zum russischen Volk wurzelt aber ebenso in der hautnahen Berührung mit den niedrigsten Volksschichten in Sibirien. Kehren wir jedoch zurück zum bereits erwähnten Nationalgeist, in dem Dostojewskij die russische Wahrheit erblickte, was uns direkt zur Russischen Idee führt. Dostojewskij hat diesen Begriff, der bis heute in nationalpatriotisch gesinnten Kreisen eine Rolle spielt, bereits 1856 (!) in einem Antwortbrief an seinen Freund, den spätromantischen Dichter A. Majkow erwähnt:

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„Ich spreche über den Patriotismus, über die russische Idee, über das Pflichtgefühl, über nationale Ehre, … ich teile vollkommen mit Ihnen das patriotische Gefühl einer sittlichen Befreiung der Slawen … ich teile mit Ihnen die Idee, dass Russland Europa und seine Bestimmung vollenden wird. Für mich war dies schon lange klar.“ 14

Im Jahre 1860 gab er eine Definition der Russischen Idee: „Wir wissen jetzt auch, dass wir keine Europäer sein können, dass wir nicht im Stande sind, uns in eine der westlichen Lebensformen zu zwängen, die Europa auf seinen eigenen nationalen Grundlagen entwickelt und ausgelebt hat, die uns fremd und entgegengesetzt sind … Wir haben uns schließlich überzeugt, dass auch wir eine eigene Nationalität besitzen, eine im höchsten Maße eigenständige und dass es unsere Aufgabe ist – für uns neue Formen zu schaffen, unsere eigenen, heimischen, die unserer Scholle, unserem völkischen Geist und unseren völkischen Grundlagen entnommen sind. …Wir ahnen voraus und ahnen es mit Ehrfurcht, dass der Charakter unserer künftigen Tätigkeit in höchstem Grade ein allmenschlicher sein muss, dass die Russische Idee vielleicht zur Synthese all jener Ideen wird, die Europa mit solcher Hartnäckigkeit, mit solcher Mannhaftigkeit in seinen einzelnen Nationalitäten entwickelt; dass vielleicht alle Animositäten in diesen Ideen zu einer Versöhnung finden werden und im russischen Volkstum [narodnost’] zu einer weiteren Entwicklung kommen sollen.“ 15

Dostojewskij formulierte dies, als er gerade ein Jahr nach seiner sibirischen Verbannung wieder in St. Petersburg lebte, neun Jahre vor dem Erscheinen von Danilewskis Russland und Europa! Es fällt auf, dass die Russische Idee in dieser Definition kaum etwas Russisches enthält, setzt sie sich doch in Dostojewskijs Definition aus den in Europa entwickelten Ideen zusammen, die, wie er meint, in Russland zu einer Synthese zusammengefügt werden sollen. Er hat sich in der Folge mehrfach mit dem russischen Charakter beschäftigt und – unzufrieden mit der Entwicklung in Russland – die kulturtragende Schicht der Intelligenz und der Aristokratie immer wieder der Lüge im Sinne einer Lebenslüge beschuldigt. So verurteilte er 1873 wie schon vor ihm Rousseau und Nowikow den Prozess eines Identitätsverlustes seit den Reformen Peters des Großen. Er kommt sogar zu einem erstaunlichen und unerwarteten Schluss: „Man gerät in Verzweiflung und verliert jegliche Hoffnung auf irgendetwas Selbständiges und Rettendes für die Nation, selbst in der Zukunft, bei solchen Menschen und einer solchen Gesellschaft … Zweihundert Jahre lang haben wir uns auch die geringste Selbständigkeit des Charakters abgewöhnt und zweihundert Jahre lang das eigene

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F. M. Dostojewskij, PSS, Bd. 18, S. 36f. Siehe den Aufsatz Nečto o vran’e. In: PSS, Bd. 21, S. 117–125. Vgl. meinen Aufsatz Zum Verhältnis von Lüge und Wahrheit bei Dostojewskij. In: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. In: FS für Horst-Jürgen Gerigk. Hg. K. Manger. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1999, S. 247–263.

russische Gesicht bespuckt, sodass wir das russische Gewissen zu solch schicksalhafter Grenzenlosigkeit gedehnt haben, von woher … nun, was glauben Sie, dass man etwas erwarten kann?“

Doch Dostojewskij entwickelte eine Kompensationsstrategie. Er hatte schon in seinem Bericht über die Zeit der sibirischen Verbannung lobende Worte über das einfache Volk geäußert. Dies floss ein in seine Variante slawophilen Denkens („počvenničestvo“). Das „Volk“ („narod“) und das „Völkische“ („narodnost’“) wurden für ihn, wie er in seiner Puschkin Rede von 1880 ausführte, in Verbindung mit dem Genie Puschkin, zum Wesen der schon 1860 postulierten Russischen Idee, denn die kulturtragende Schichte der Intelligenz und Aristokratie waren dafür, wie obiges Zitat deutlich zeigt, nicht – oder noch nicht? – geeignet. Aber auch diese kompensative Strategie entbehrt nicht einer absurden Logik, war doch gerade das russische Volk von den „europäischen Ideen“, die es zu einer „Synthese“ zusammenführen sollte, am weitesten entfernt und hatte davon die geringste Kenntnis. Deshalb wählte Dostojewskij, sozusagen als „missing link“, das Genie Puschkin als Verkörperung nationalrussischer Charaktereigenschaften. Ihm schrieb er zu: Eine „weltumspannende Einfühlungsgabe“, „weltumspannende Ideen“, die Fähigkeit „sich ganz in das Wesen des fremden Volkes hineinzuversetzen“, woraus er „die Stärke des russischen Volksgeistes …, das Streben …auf weltumspannende, menschheitsumfassende Universalität … die Neigung zu einem allgemeinen, allmenschlichen Zusammenschluss mit allen Stämmen der großen arischen [!] Völkerfamilie“ ableitete, und schon war die Verbindung von Volk (narod) und Intelligenz (Puschkin) geknüpft, zumindest im literarischen Universum der russischen Spätromantik! Daraus geht nach Dostojewskij hervor: „Die Bestimmung des russischen Menschen ist unbestreitbar eine gesamteuropäische und universelle.“ 16 Mit der russischen Realität hatte und hat dies allerdings wenig zu tun! Dostojewskij bewunderte und hasste das zeitgenössische Europa. Als verarmter russischer Aristokrat, immer wieder im Exil im Westen, litt er an einem Minderwertigkeitskomplex, den er überkompensierte, um sein Selbstbewusstsein zu stützen. Die Russische Idee diente ihm als Beweis russischer Größe. Seine Entwicklung nach Sibirien war so von einer zunehmend kritischen Einstellung gegenüber dem Westen begleitet. Dies ging Hand in Hand mit seiner sich nun anbahnenden persönlichen Bekanntschaft mit den Ländern Mittel- und Westeuropas. Dostojewskij reiste erstmals 1862 über Deutschland nach Frankreich, lebte längere Zeit in Paris, besuchte dann London und Genf und machte einen Abstecher nach Italien. Zwei weitere Reisen fallen in die Jahre 1863 und 1865.

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Puschkin. In: F. M. Dostojewskij: Über Literatur. Leipzig 1971 (Reclam Bd. 44).

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Beide Male fröhnte er ausgiebig dem Roulettespiel. Nach dem Tod seiner ersten Frau (1864) und der Eheschließung mit Anna Grigorjewna Snitkina – parallel dazu lief eine leidenschaftliche Liebesgeschichte mit der jungen Schriftstellerin Apollinaria Suslowa – war er aus finanziellen Gründen gezwungen, Russland zu verlassen und lebte bis 1871 in Deutschland, der Schweiz und Italien. Erst die letzten zehn Jahre konnte er in zunehmendem Wohlstand in Russland verbringen. Seine Kenntnis des Westens, er beherrschte Französisch, weniger gut Deutsch, verhinderte nicht, dass er dem westlichen Leben äußerst kritisch gegenüberstand. Dazu kam, dass seine Reisen mit vielen persönlichen Unannehmlichkeiten verbunden waren. Dostojewskij war von Armut geplagt, erlitt wiederholt Demütigungen im Glücksspiel und in der Liebe, aber auch im alltäglichen Leben, wenn er als verarmter Auslandsrusse seine Miete nicht bezahlen konnte. Dazu kamen noch Schicksalsschläge, wie der Verlust seiner Tochter Sonja, die im Alter von zweieinhalb Monaten in der Schweiz starb. So neigte er dazu, die ungastliche Fremde zu verdammen und die ferne Heimat zu idealisieren. Seine negative Bewertung Europas westlich der russischen Grenzen, die sich durchaus mit der offiziellen sowjetischen Sicht des Westens vor der Gorbatschow’schen Wende vergleichen lässt, beruht, abgesehen von persönlichen Motiven, auch auf seinem Geschichtsverständnis. Seine von Hegel beeinflusste Typologie des russischen Intellektuellen vom naiven, erwachenden Romantiker [These] über den vom Leben enttäuschten, zur Selbstverachtung tendierenden Spötter und Zyniker [Antithese] und weiter zum zumindest ansatzweise die paranoide Spaltung seines Bewusstseins, seine Unfähigkeit zum Handeln überwindenden synthetischen Typ des slawophilen Adeligen [Synthese], der zurück zur russischen Realität, zum „russischen Gott“ findet, verband sich mit der Zuwendung zum Menschen aus dem Volk, zur russischen Frömmigkeit, zum Gottsuchertum, und musste notwendigerweise in die heftige Kritik an westlicher, emanzipierter Lebensart und Denkweise münden. Vergleicht man die Hauptfiguren der großen Romane und Erzählungen Dostojewskijs der 60er- und 70er-Jahre, dann wird deutlich, dass sie im Bereich des Übergangs von These zur Antithese bzw. zur Synthese stehen. Zwei Grundtypen, wir könnten sie als nahezu invariante Modelle der Helden seiner Romane von den Aufzeichnungen aus dem Untergrund bis zu den Brüdern Karamasow verstehen, zeichnen sich dabei ab: Der eine Grundtyp ist der so genannte Mensch aus dem Untergrund, der in der Typologie des Autors der Antithese des erwachten Bewusstseins nahe steht und der Gottsucher, der sich auf dem Weg zu Dostojewskijs utopischer Vorstellung einer idealen Verkörperung des neuen russischen Menschen befindet und damit die Synthese im Prozess der dialektischen Entwicklung des russischen Bewusst22

seins andeuten soll. Zu den immer neuen Varianten des Untergrundmenschen gehören neben dem namenlosen Helden der Aufzeichnungen der Mörder Raskolnikow, der Glückspieler Alexej Iwanowitsch, der Pfandleiher, der den Selbstmord seiner jungen Frau heraufbeschwor in der Erzählung Die Sanfte, der ewige Gatte Weltschaninow, der „Lächerliche Mensch“ und der Jüngling Arkadij im gleichnamigen Roman, um hier nur die wesentlichsten Verkörperungen dieses Typs zu nennen. Die Reihe der Gottsucher beginnt mit Fürst Myschkin im Roman Der Idiot, setzt sich fort im Dreigespann Kirillow, Schatow und Stawrogin in den Dämonen, und Wersilow im Jüngling, um in den Gestalten Aljoschas und seines geistigen Vaters Sossima in den Brüder Karamasow ihre Krönung zu finden. Hier möchte ich innehalten und auf ein oft übersehenes Moment eingehen. Dostojewskij stand lange Zeit unter finanziellem Druck. Er musste danach trachten, leserwirksame Bücher zu schreiben. Aktualität und ein gewisser Hang zum Interessanten, wenn nicht Sensationellen und Abartigen gehört dazu. Horst-Jürgen Gerigk spricht zu Recht von Dostojewskijs machiavellischer Machiavelli’scher Poetik, die den Leser zur Lektüre verführen will. 17 Neben Verbrechen, Krankheit, Sexualität treten auch Religion und Politik als Wirkungsfaktoren dieser Poetik auf. Dostojewskij will bewusst, so scheint es, die religiösen und nationalen Gefühle seiner Leser ansprechen. Er geht allerdings mit großer Behutsamkeit vor und appelliert an die religiösen Gefühle, ohne sich dabei auf die orthodoxe Lehre, die Rituale der Kirche und ihre Hierarchie zu beziehen. Priester kommen in Dostojewskijs Texten selten vor und dann sind sie eher negativ gezeichnet, wie in Schuld und Sühne oder in der Person des Vaters Ferapont in den Brüdern Karamasow. Positiv gezeichnete Figuren, wie der Bischof Tichon in den Dämonen oder Sossima in den Brüdern Karamasow, stehen außerhalb oder am Rande der Hierarchie. Manche Aussagen in Dostojewskijs Romanen widersprechen sogar den Lehren der orthodoxen Kirche, so die Ansicht, dass Selbstmord nicht zu verdammen sei, dass es keine Hölle gebe, dass ein Mönchsleben in der Abgeschiedenheit der Klause nicht im Sinne Christi sei etc. Dies fiel schon dem orthodox gesinnten Schriftsteller und Zeitgenossen Dostojewskijs Leontjew auf, der sein „rosafarbiges“ Christentum heftig kritisierte. 18 Im Grunde sah Dostojewskij nur das strahlende Vorbild Christi, seine allverzeihende Liebe zu jedem Menschen, auch dem Verbrecher. Wie eingangs schon festgehalten,

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H.-J.Gerigk: Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs. In: Dostoevsky Studies v. 2, 1981. Siehe Leontjews Rede O vsemirnoj ljubvi und seine Briefe, wiedergegeben in Russkij Vestnik, 1903, Nr. 4, S. 643, 650f.

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waren Glaube und Liebe für ihn die einzig wahren Stützen der Religiosität. Auch das ist eine Reduktion, die es dem Leser leicht macht, sich mit den Ansprüchen einer so verstandenen Religiosität zu identifizieren. Nicht zu übersehen ist der nationalrussische Akzent, den Dostojewskij seinen religiösen Vorstellungen verleiht. Es war schon die Rede vom „russischen Christus“ und dem „russischen Glauben“ wie in den Romanen Der Idiot und Die Dämonen. Dieser manifestiert sich allerdings mitunter auf seltsame Weise und unter Einschluss anderer Wirkungsfaktoren. Lassen Sie mich die Figur des russischen Bauern im Idiot anführen, von dem erzählt wird, dass er mit einem Stoßgebet – „Herr, vergib mir um Christi Willen!“ – dem Freund die Kehle durchschneidet, um seiner silbernen Uhr habhaft zu werden. Erinnert sei auch an den Unterleutnant in den Dämonen, der eine Ikone mit der Axt zerhackt, dann Bücher deutscher Materialisten in seinem Zimmer aufstellt und davor Altarkerzen entzündet. Auch die fromme Hure Sonja in Schuld und Sühne sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Dostojewskijs Religiosität, so könnte man sagen, ist stets in Gefahr abzugleiten in sündhaftes, wenn nicht gar kriminelles Verhalten, ohne deshalb den Glauben preiszugeben. Die Religiosität kann sich aber auch, wie am Ende des Romans Die Dämonen, anlässlich des Todes des alten Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, und in den Sossima gewidmeten Kapiteln der Brüder Karamasow zu echtem Pathos erheben. In dem einen wie dem anderen Fall hat sie wenig mit der Wirklichkeit der orthodoxen Kirche zu tun, ist aber geeignet, unmittelbar das Gemüt des Lesers anzusprechen. Dasselbe gilt für die Politik als Wirkungsfaktor. Dostojewskijs Kritik an der westlichen Gesellschaftsordnung stützte sich auf seine utopischen Vorstellungen vom erneuerten russischen Menschen und der Orthodoxie, wie er sie verstand, als Trägerin des wahren Christentums, sowie seine Auffassung von Russland als größter slawischer Nation, die stellvertretend für alle slawischen Völker sprechen und in ihrem Namen den Führungsanspruch in Europa anmelden sollte. Dies war gewiss dazu angetan, dem Nationalstolz des Durchschnittslesers zu schmeicheln und seine latente Xenophobie anzusprechen. Insofern er die historischen Verdienste der europäischen Völker keineswegs verneinte, sie im Gegenteil als gemeinsames Erbe aller Völker Europas bejahte, bot er auch den Westlern unter seinen Lesern eine gewisse gemeinsame weltanschauliche Basis. Dostojewskij verband seine politischen Ambitionen auch mit dem Bestreben, auf die junge Generation einzuwirken. Die Hauptfiguren seiner Werke der 60er- und 70er-Jahre sind durchwegs Vertreter der jungen Generation, so der Student Raskolnikow, Fürst Myschkin, der Jüngling Arkadij und Aljoscha Karamasow. An ihrem Schicksal kann der Autor die Probleme des Übergangs vom romantischen bzw. spätromantischen Menschen (These/Antithese) zum postromantischen, neuen, russischen Menschen 24

(Synthese) zur Diskussion stellen. Auch hier sind in Dostojewskijs Poetik die zu Reduktion und zum Klischee tendierenden Verfahren mit der weltanschaulichen Problematik dahinter fest verknüpft. Das „Freund : Feind“-Bild in der Politik konkretisiert sich in der Opposition „Russland : Westeuropa“, die gleichbedeutend mit der ethischen Opposition „gut : böse“ ist. Diese Reduktion auf allgemeine polare Gegensätze spricht in den künstlerischen Texten nur in Bildern und Metaphern zum Leser, ist aber in den publizistischen Texten überaus deutlich formuliert. Russland und alles Russische werden zum „Ort der Sittlichkeit“ (Gerigk). Der Westen hingegen wird zum Ort der moralischen Verdorbenheit, zum Ort des Bösen erklärt. Die Tendenz zu einem plakativen, an Demagogie rührenden Appell an die nationalen Instinkte des Lesers ist nicht zu übersehen. Damit Hand in Hand geht Dostojewskijs ironische, zur Karikatur tendierende Darstellung des Deutschen, des Franzosen, des katholischen Polen, aber ebenso die oft diffamierende, den in Russland verbreiteten latenten Antisemitismus ansprechende Zeichnung jüdischer Figuren. 19 Dazu der Autor selbst in seinem Tagebuch eines Schriftstellers: „Nein, ich versichere Ihnen, die russische Natur kennt keinen voreingenommenen Hass gegen die Juden; vielleicht bloß eine Antipathie, besonders in gewissen Gebieten, möglicherweise sogar eine starke Antipathie. Das versteht sich von selbst. Aber diese Antipathie beruht nicht auf der Tatsache, dass der Jude ein Jude ist, nicht auf einem nationalen oder religiösen Hass, sondern hat ganz andere Gründe, an denen nicht die ansässige Bevölkerung schuld ist, sondern der Jude selbst.“

Im Lichte der Ereignisse des 20. Jahrhunderts berührt es uns auch merkwürdig, wenn Dostojewskij in seinen journalistischen Aufsätzen wiederholt betont, dass Russland dem arischen Stamm zugehöre. 20 Dementsprechend ist der positive Held Myschkin im Idiot blond und blauäugig, sein Gegenspieler Rogoschin aber dunkelhaarig, als „asiatischer“ Typ gezeichnet! Dostojewskijs slawophiles Weltbild, das zuletzt in der bereits erwähnten Puschkinrede 1880 klare Konturen erhielt, beruht auf Prämissen, die eben automatisch zu einer antiwestlichen Einstellung führen mussten. Ich möchte diese Prämissen hier abschließend resümieren: Die russische Nation sei eine außergewöhnliche Erscheinung in der Geschichte der Menschheit. Die „russische Wahrheit“ und der russische Geist beruhen auf dem Prinzip der Allversöhnung und der Allmenschlichkeit. Im

19

20

Zu Dostojewskijs Einstellung den Juden gegenüber s. bei F. Ph. Ingold: D. und das Judentum. Frankfurt a. M. 1981. Vgl. Dostojewskijs Aufsatz zur Judenfrage im Tagebuch eines Schriftstellers von 1877! Zur Verwendung des Begriffes „arisch“ s. im Tagebuch eines Schriftstellers für 1881 (PSS, Bd. 27, S. 35 u. 194).

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Gegensatz zum übrigen Europa sei Russland noch jung und beginne eben erst bewusst zu leben! Unsere Skizze der weltanschaulichen Grundzüge von Dostojewskijs Schaffen wäre nicht vollständig, gingen wir nicht auf die utopische Zukunftsvision ein, die der Dichter in seinen letzten Lebensjahren entwarf. Wir finden sie ansatzweise bereits im Idiot in Myschkins Verständnis der russischen Seele, im Jüngling in Wersilows Vision eines irdischen Paradieses und den „Lebensregeln“ des Pilgers Makar, im Traum eines lächerlichen Menschen und in den „Sossimakapiteln“ der Brüder Karamasow. Dostojewskijs russophile, messianistische Einstellung tritt hier in den Hintergrund. Die Polarisierung Ost versus West scheint beinahe aufgehoben. Zur Illustration seien die wesentlichen Aspekte aus den Lehren des Mönches Sossima und seiner Lebensbeschreibung in folgenden sieben Punkten zusammen gefasst: 1. Sossimas personalistische Ethik: „Du musst wissen, dass in Wahrheit jeder allen gegenüber die Schuld aller und an allem trägt.“ 2. Seine Forderung einer Solidarität der Menschen untereinander, verbunden mit einer Absage an einen extremen Individualismus: „Alle sollen einander dienen, die wahre Sicherheit des Einzelnen wird nicht durch seine isolierten Bemühungen herbeigeführt, sondern kann nur durch die Solidarität der gesamten Menschheit gewährleistet werden.“ 3. Sossimas Lehre vom Paradies im Menschen: Wenn jeder jedem verzeiht und jeder jeden liebt, kann der Mensch das Paradies in sich verwirklichen: „Möge ich doch allen gegenüber voll Sünde sein, so werden dafür auch alle mir vergeben, das ist eben das Paradies.“ Der „geheimnisvolle Gast“ Sossimas erläutert dies näher: „Das Paradies liegt in jedem von uns verborgen, auch in mir verbirgt es sich jetzt, und wenn ich wollte, sollte es schon morgen für mich Wirklichkeit werden, Wirklichkeit für mein ganzes Leben.“ 4. Die ganze Welt als Paradies: Sossima lehrt, dass nicht nur das menschliche Herz, sondern die gesamte Natur den paradiesischen Charakter einer göttlichen Schöpfung in sich trägt. Wenn wir wollen, so können wir die Welt in der Tat als Paradies erleben, meint Sossima: „Das Leben ist ein Paradies und wir alle sind im Paradiese, nur wollen wir es nicht begreifen; doch wenn wir es begreifen wollten, so wäre schon morgen die ganze Welt ein Paradies.“

Daraus ergibt sich eine intensive Freude am Leben: „Meine Freunde, bittet Gott um Fröhlichkeit. Seid fröhlich wie die Kinder und die Vöglein unter dem Himmel.“

Voraussetzung dafür ist allerdings die umfassende Liebe zur Schöpfung:

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„Liebt die ganze Schöpfung Gottes, das gesamte All wie auch jedes Sandkörnchen. Jedes Blättchen liebt, jeden Sonnenstrahl Gottes! Liebt die Tiere, liebt die Pflanzen, liebt jegliches Ding.“

5. Die Welt als „vernetztes System“, als Ökosystem einander balancierender Kräfte: „Alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich, bringt man es an einer Stelle in Bewegung, so hallt es vom anderen Ende der Welt wider... Alles ist wie ein Ozean sage ich euch.“

Zu Dostojewskijs Zeit konnte das nur figurativ, als Metapher, verstanden werden. Heute wissen wir aus bitterer Erfahrung, dass diese Worte buchstäbliche Gültigkeit haben! 6. Die Welt als mehrdimensionales Gebilde: Wenn in Dostojewskijs Vision der Welt, wie sie von Sossima referiert wird, Gottes Geist in der Welt anwesend ist und die Welt potenziell ein Paradies ist, dann ist es verständlich, dass ihre materielle Erscheinungsform, so Sossima, nur eine von vielen Ebenen darstellt: „Die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle ruhen nicht hier, sondern in anderen Welten ... alles lebt und ist lebendig, allein dank dem Gefühl seiner Berührung mit geheimnisvollen anderen Welten.“

Aus den Worten des Mönches spricht die Vorstellung eines „mehrstöckigen“ Universums. Um die Welt so erkennen zu können, muss allerdings eine Bedingung erfüllt werden. Dies führt zum letzten Punkt: 7. Das mystische Naturerlebnis. Der Mensch muss, sagt Sossima, in dem Erlebnis der mystischen Vereinigung mit der Natur als göttlicher Schöpfung neu geboren werden, um für diese Sicht überhaupt empfänglich zu sein. Das archetypische Beispiel dafür ist die Wandlung im Denken und Verhalten des jungen Sossima und seines Bruders Markel. Nach ihrem Vorbild erlebt auch Aljoscha Karamasow diese innere Wandlung, die übrigens auch bei den beiden anderen Brüdern und Gruschenka zumindest ansatzweise im Roman zu finden ist. Am ausführlichsten wird das mystische Erlebnis der Natur bei Aljoscha dargestellt. Die Stelle, eine der lyrischsten im Roman, schließt mit den Zeilen: „Ihm war, als bemächtigte sich seines Geistes eine Idee – für sein ganzes Leben und für alle Ewigkeit.“ Dostojewskij rekurriert in den Brüdern Karamasow damit nicht zuletzt auf seine jugendliche, dem utopischen Sozialismus verbundene Forderung nach brüderlicher Liebe als Grundmuster menschlichen Verhaltens. 21 In sei-

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Als nach dem Tode Dostojewskijs eine preiswerte Volksausgabe der Lehren Sossimas in Russland erscheinen sollte, verbot sie der Zensor mit folgender Begründung: „Die

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ner Vision einer erneuerten Welt muss der Mensch nicht mehr nur die russische Scholle lieben, sondern die Schöpfung an sich in allen Aspekten. Im Augenblick ekstatischer Verzückung kann, so meint er, die „Bekehrung“ zu dieser neuen Lebenseinstellung erfolgen. Es ist dieser Teil im Vermächtnis des Autors, der auch den heutigen Menschen in Ost und West tief zu berühren vermag, jenseits jeglicher ideologischen Grenzziehung. Sossimas bzw. Dostojewskijs Bild von der Welt als potenziellem Paradies, als vernetztem System, in dem wir alle eingebunden sind und damit auch einen Teil der Verantwortung tragen, mag heute tatsächlich der utopische, d. h. nie im vollen Ausmaß erreichbare, aber dennoch anzustrebende Weg sein, der uns vor politischen und ökologischen Katastrophen zu bewahren vermag. So gesehen hat Dostojewskijs Vision einer künftigen Welt, wie er sie in seinem letzten Roman niederlegte, auch für uns eine über literarische Fragen hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung. 22 Versucht man, aus dem Gesagten ein Fazit zu ziehen, so wird man sagen müssen, dass der Ideologe und Philosoph Dostojewskij, abgesehen von den hier referierten Sossima-Kapiteln, dem Schriftsteller keineswegs ebenbürtig ist. Der Ideologie Dostojewskijs wird man sich wohl nur kritisch zuwenden können. Vieles erwuchs aus zeit- und persönlichkeitsbedingten Vorurteilen. Für den Schriftsteller spricht, dass diese Aspekte in den künstlerischen Texten eine untergeordnete Rolle spielen und ihrer literarischen Bedeutung keinen Abbruch tun, wenngleich der aufmerksame Leser und Kenner ihre Spuren auch hier zu erkennen vermag! Mit Gewissheit ist Dostojewskij kein „nationaler Prophet“, auch kein großer Philosoph. Von wenigen Stellen abgesehen, dazu zählen die hier knapp referierten „Sossima-Kapitel“, sind seine Werke auch kaum als Mittel der Selbstfindung in der postkommunistischen russischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geeignet, ja sie bergen durch ihre nationalistischen Tendenzen Gefahren in sich. Sie sind allerdings vorzüglich konstruierte, auch heute noch mit Genuss lesbare Texte, deren Bedeutung für die Entwicklung der modernen Literatur nicht hoch genug geschätzt werden kann. Doch hat das mit Ideologie wenig zu tun.

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mystisch-soziale Lehre steht weder im Einklang mit dem Geist der Lehre des rechtgläubigen [= orthodoxen] Glaubens und der Kirche, noch mit der bestehenden Ordnung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.“ Das Tagebuch eines Schriftstellers für 1881 zeigt allerdings deutlich, dass Dostojewskij seinen slawophilen, messianistischen Ansichten buchstäblich bis zu seinem Tode treu blieb!

2.

Von der „Lüge“ zum „Patriotischen Konsens“ „Euch die Lüge – uns die Wahrheit“ V. G. Belinskij „In Russland ist alles Illusion und Lüge. Von oben bis unten lügt und betrügt Russland: Es ist eine Phantasmagorie, eine Täuschung – ein illusionäres Reich.“ J. Michelet

Die beiden Motti sind von größerer Bedeutung für Dostojewskijs Weltverständnis, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. 23 Davon abgesehen entsprechen sie in ihrer überspitzten Formulierung auch seinem Argumentationsstil. Bei dem Kritiker Belinskij geht es bekanntlich um Ziel, Zweck und Methode literarischer Darstellung. Der Kritiker stellt zwei literarische Richtungen einander gegenüber. Die eine entspricht der Mischung von Pseudoklassizismus und moralisierendem Sentimentalismus, die sich in den 20erund 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts noch einer gewissen Popularität erfreute, aber auf weitgehend automatisierten Verfahren beruhte und zur Klischierung der Wirklichkeit führte. Dem stellte er die Literatur der Natürlichen Schule gegenüber, deren Ziel es sei, ein unverfälschtes Bild der Wirklichkeit zu geben. Erstere Richtung bedeutete für ihn einen Eskapismus, der mit offizieller Billigung von den sozialen Problemen der Zeit ablenken sollte, für letztere waren diese gerade Ziel und Zweck literarischen Bemühens. Daraus erwuchs die für Belinskij charakteristische, mit aggressiver Polemik verbundene, pointierte Gegenüberstellung von Lüge und Wahrheit. Der bewusst die Wirklichkeit verfälschenden und damit Lüge produzierenden Literatur stellte er seine Schule gegenüber, die nur Wahrheit wiedergeben sollte, ein Argumentationsmuster, das dem antithetischen Denkstil Dostojewskijs entgegenkommt. Michelets Russlandbild ist hingegen das des Historikers und hat nicht die literarische Darstellung im Auge. Seine Sicht ist umfassender und direkter, insofern das Ganze von Staat und Gesellschaft unmittelbar den Begriffen Lüge und Illusion untergeordnet wird. Das russische Reich, d. h. die gesamte russische Wirklichkeit, enthüllt sich im Hinblick des Historikers Michelet als

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Der Text stützt sich auf zwei Aufsätze Dostojewskijs: Nečto o vran'e in Graždanin (Der Bürger), Nr. 35, 1873 und Lož’ lož’ju spasaetsja im Dnevnik pisatelja (Tagebuch eines Schriftstellers), Sept. 1877, Kap. 2,1 Die beiden Motti finden sich in: V. G. Belinskij: Vzgljad na russkuju literaturu 1847 goda. Stat'ja pervaja, und J. Michelet, La Pologne martyr. Paris 1863. Zitate aus Dostojewskijs Schriften sind der 30bändigen Akademieausgabe PSS entnommen und werden im Text unter Angabe des Bandes und der Seite zitiert. Für die Übersetzung haftet der Autor (R. N.).

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Fantasmagorie, eben als illusionäres Reich, in dem alles nicht das ist, was es zu sein vorgibt. Am Beginn von Dostojewskijs literarischer Karriere finden wir prägende Erlebnisse, die mit dem eben Gesagten in einer engen Verbindung stehen. Die Opposition von Lüge und Wahrheit erfuhr bei Dostojewskij eine Vertiefung und Umwertung im Zuge seiner Beschäftigung mit dem utopischen Sozialismus und der Fourier’schen Lehre von den menschlichen Leidenschaften, nach Fourier von starken Gefühlen getragene Ideen, die grundlegende Motive menschlichen Handelns darstellen und von Gott dem Menschen verliehen wurden. Nach Fourier sind diese an sich positiven Triebkräfte des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft pervertiert. Anstelle der von Gott intendierten Welt harmonischer Ordnung entstehe so eine verkehrte Welt. Die bürgerliche Gesellschaft verkörpere so die Lüge, der die Wahrheit der im Fourier’schen System der Leidenschaften dargestellten göttlichen Ordnung gegenüberstehe. 24 Nach der Rückkehr von seinem unfreiwilligen Aufenthalt in Sibirien hatte sich Dostojewskijs Weltanschauung gewandelt. Von einem sozialutopisch orientierten Revolutionär wurde er zum Vertreter der Lehre von der russischen Scholle (počva), der von nun ab konservative Positionen vertrat. Auf der Seite der Lüge stand nun der Komplex der europäischen Moderne in Politik, Gesellschaft und bürgerlicher Kultur. 25 Die Wahrheit aber lag nun in der russischen Idee, dem russischen Christus, dem russischen Menschen, der sich einerseits seiner Wurzeln im Volk bewusst geworden, d. h. zur russischen Scholle zurückgekehrt war, und andererseits zugleich daraus die Kraft für seine europäische Mission gewonnen hatte. In die Zeit noch vor Dostojewskijs Beschäftigung mit dem utopischen Sozialismus fällt ein noch ganz anderes, aber nicht minder prägendes Erlebnis: Die Überwindung der Welt der Fantasie, wie sie in der romantischen Lektüre des jungen Dostojewskij entstanden war und von der er sich erst Mitte der 40er-Jahre löste. Diese entscheidende Wandlung hat er selbst gleich zweimal beschrieben: Einmal in einem künstlerischen Text, Ein schwaches Herz, und in einem publizistischen Text, St. Petersburger Träumereien in Vers und Prosa. Das Besondere daran ist, dass er sich zwar der Fantastik der Ritterromantik bewusst wurde und sie von sich wies, sie aber zugleich in das zeitge-

24 25

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Vgl. R. N.: Das Frühwerk Dostoevskijs. Carl Winter, Heidelberg 1979, S. 29–39. Siehe dazu bei A. Guski: ‚Einfach‘ und ‚kompliziert‘bei Dostojewskij und Ch. Veldhues: Modernekritik im Kriminalroman (am Beispiel von Schuld und Sühne), beide in R. N. (Hg.): Polyfunktion und Metaparodie. DUP, Dresden 1998.

nössische St. Petersburg verlegte. An die Stelle des Ritters trat der beamtete Titularrat – die Fantastik blieb: „Es schien schließlich, als ob sich diese ganze Welt mit all ihren Bewohnern, den starken und schwachen, mit all ihren Behausungen, den Unterschlupfen für die Armen und den Palästen der Reichen und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in ein phantastisches Trugbild, in einen Traum verwandelte, der aus dem irdischen Dunst zum dunkelblauen Himmel aufstieg, um sich in ihm aufzulösen und zu vergehen.“ ( PSS, Bd. 19, S. 69)

Dies erinnert an Gogols Vision vom Newskij Prospekt: „Alles ist Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint! ... Er lügt zu jeder Zeit, dieser Newskij Prospekt, doch am meisten dann, wenn sich die Nacht als dichtes Gewölk auf ihn herabsenkt ... und wenn der Dämon selber die Lampen anzündet – einzig deshalb, um alles nicht in seiner wahren Gestalt zu zeigen.“

Der Gogol’sche Dämon taucht übrigens auch in Dostojewskijs Vision auf. Da lesen wir: „Jemand schnitt vor mir eine Grimasse, versteckte sich hinter dieser phantastischen Menge und zog an irgendwelchen Schnürchen und Federn, und diese Puppen bewegten sich, aber er kicherte und kicherte die ganze Zeit.“ (PSS, Bd. 19, S. 69–71) Der Weg von hier bis zu Dostojewskijs Realismus in einem höheren Sinne, in dem das, was sich vordergründig als Schein und Illusion darstellt, aber Ausdruck einer Vision der Wahrheit (istina) wird, ist nicht weit. Charakteristisch für Dostojewskij ist die Tatsache, dass er dieses Erlebnis in einem künstlerischen Text einer erfundenen Figur zuweist, es aber dann in eigenem Namen in einem zweiten, publizistischen Text wiederholt und ihm damit eine für den Autor grundsätzliche Bedeutung verleiht! In welcher Form geschieht dies und wie sieht dies im literarischen Text aus? Die zentralen Figuren in Arme Leute, Der Doppelgänger und Weiße Nächte bedienen sich fremder Texte, beziehungsweise verleugnen sich. Makar Dewuschkin gesteht: „Ich habe da ein Büchlein, Warwara, in dem dasselbe, genau dasselbe sehr ausführlich beschrieben ist. ... Die Gedanken so fröhlich, klar, erfinderisch; die Phantasien erscheinen zärtlich, alles ist in rosiges Licht gehüllt. Deshalb habe ich dies auch geschrieben, übrigens habe ich alles aus dem Büchlein genommen.“ (Arme Leute. Makar Dewuschkins erster Brief an Warwara; PSS, Bd. 1, 14, S. 32–37)

Die Gesprächspartnerin des jungen Mannes in den Weißen Nächte moniert: „Hören Sie: Sie erzählen ganz ausgezeichnet, aber können Sie nicht lieber weniger ausgezeichnet erzählen? Denn Sie reden genauso, als läsen Sie aus einem Buch vor.“ (PSS, Bd. 2, S. 113 u. 43–46) Goljadkin im Doppelgänger treibt dies auf die Spitze, indem er verlangt, dass der Adressat seines Briefes diesen „sinnverkehrt“ lesen möge:

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„Geben Sie mir diesen Brief, damit ich ihn vor ihren Augen zerreissen kann, Jakob Petrowitsch, oder, wenn das hier nicht möglich ist, so bitte ich Sie, ihn verkehrt zu lesen, das heißt mit freundschaftlicher Absicht, jedem Wort meines Briefes den umgekehrten Sinn verleihend.“ (PSS, Bd. 1, S. 204 u. 19–23)

Lüge maskiert sich als Wahrheit und umgekehrt! So wie die Begriffe Wahrheit und Lüge vertauschbar sind, können es auch die Personen sein. Es spricht Goljadkin senior: „Ich bin es nun mal nicht, bin’s nicht – und basta ... das bin ich gar nicht, ich, ich bin nicht ich – und abgemacht.“ (PSS, Bd. 1, S. 113) Soweit einige Ausschnitte aus frühen literarischen Texten. Man könnte meinen, dass Dostojewskij das Lügen, den Gebrauch fremder Texte, die dann als eigene ausgegeben werden, das Sich-Verleugnen nur den angeführten Figuren gewisser künstlerischer Texte aus eigener Feder zugeordnet wissen möchte. Die publizistischen Schriften zeigen allerdings, dass es sich umgekehrt verhält. Diese Textstellen belegen, dass der geschilderte Sachverhalt für den Autor tatsächlich von grundsätzlicher Bedeutung ist und ihn immer wieder beschäftigt hat. Es ist eine Grunderkenntnis Dostojewskijs, dass Menschen in Russland, vor allem aus gebildetem Stande, lügen. Dies beginnt damit, dass jemand fremde Texte als eigene ausgibt, und endet damit, dass das Lügen zum normalen Kommunikationsmittel und letztlich nicht mehr als Lüge empfunden wird. In den publizistischen Texten hat Dostojewskij, nunmehr in eigenem Namen, allerdings mit zeitlicher Verzögerung, den Sachverhalt sogar noch deutlicher formuliert. So fragt er sich 1873: „Warum lügen bei uns alle, alle ohne Ausnahme?“, und bekennt: „Unlängst ist mir plötzlich der Gedanke gedämmert, dass es bei uns in Russland, in den intelligenten Klassen, sogar überhaupt keinen Menschen geben kann, der nicht lügt. Das ist nämlich deshalb so, weil bei uns sogar ganz ehrliche Menschen lügen können.“ (PSS, Bd. 21, S. 117)

Frauen nimmt er davon allerdings aus, was seine Werke im Übrigen auch belegen: „Die Frau lügt weniger, viele lügen sogar überhaupt nicht, aber einen nichtlügenden Mann gibt es kaum.“ (PSS, Bd. 21, S. 125) Die These, dass der gebildete und intellektuelle Russe nicht anders kann, als zu lügen, wird vom namenlosen Menschen aus dem Untergrund ebenso belegt wie vom gebildeten Professor Stepan Trofimowitsch in den Dämonen, der dies am deutlichsten formuliert: „Mein Freund, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen. Selbst dann, wenn ich die Wahrheit sprach. Ich habe nie der Wahrheit zuliebe, sondern nur mir selber zuliebe geredet, das habe ich auch früher gewusst, aber jetzt sehe ich es ... Oh, wo sind sie, jene Freunde, die ich mit meiner Freundschaft ein ganzes Leben lang getäuscht habe? Und sie alle, alle! Savezvous, vielleicht lüge ich sogar jetzt noch, sicher lüge ich auch jetzt noch. Das Schlimmste aber ist, dass ich mir selbst glaube, wenn ich lüge. Denn

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das ist das Schwerste von allem, ein Leben zu leben und nicht zu lügen ... und ... und an die eigenen Lügen nicht zu glauben, ja, ja, das eben ist es!“ (PSS, Bd. 10, S. 497)

Diese Worte werden einem Sterbenden in den Mund gelegt. Dostojewskij hat in den Winterlichen Aufzeichnungen zu sommerlichen Eindrücken schon ein Jahrzehnt davor dasselbe in eigenem Namen (!) pointiert in folgender paradoxer Formulierung ausgedrückt: „Aber mein Freund! Ich habe Sie doch schon im ersten Kapitel dieser Aufzeichnungen darauf aufmerksam gemacht, dass ich möglicherweise schrecklich viele unwahre Behauptungen aufstellen werde. Deshalb fallen Sie mir nicht ins Wort! Zudem wissen Sie ja ganz genau, dass ich, sollte ich Ihnen etwas vorlügen, dies doch in der Überzeugung tue, die Wahrheit zu sagen.“ (PSS, Bd. 5, S. 68)

Dies drückt exakt den Sachverhalt aus, den Dostojewskij später dem alten Werchowenskij in den Mund legte. Er läuft darauf hinaus, dass der Lügner so sehr in seinem Lügengespinst aufgeht, dass er es letztlich selbst als Wahrheit wahrnimmt! Derselbe Mechanismus steht, so können wir annehmen, hinter einem Ausruf Raskolnikows in Schuld und Sühne: „Aber ich habe es doch aufrichtig erzählt … Ich habe die Wahrheit gesagt!“ („A ja ved’ iskrenno rasskazal, pravdu!“) Raskolnikow meint damit seine Begründung des Mordes, wovon er eben Sonja berichtet hatte. Natürlich beruht sie auf Illusion, also einer Lüge. Deshalb die erschrockene Reaktion Sonjas: „Was ist denn das für eine Wahrheit? O Herr und Gott!“ („Da kakaja eto pravda! O gospodi!“; PSS, Bd. 6, S. 320). Am Rande sei bemerkt, dass Raskolnikow in dem Moment, als er sein Geständnis vorbringt, dies sozusagen wie einen „fremden/angelernten“ Text spricht! („govoril kak budto zaučennoe“; PSS, Bd. 6, S. 319). Im Tagebuch eines Schriftstellers konstatiert Dostojewskij und verallgemeinert dabei: „Ich weiß, dass der russische Lügner durchwegs ganz unbemerkbar für sich selbst lügt, so dass es einfach möglich sein kann, dass man es überhaupt nicht merkt. ... wir Russen ... haben aus der Wahrheit zuletzt eines der ungewöhnlichsten und seltensten Dinge gemacht in unserer russischen Welt ... Die Menschen haben es schließlich so gemacht, dass ihnen alles, was sich der menschliche Verstand zusammenlügt und zurecht lügt, bei weitem sehr viel verständlicher ist, als die Wahrheit, und das ist durchwegs so auf der Welt.“ (PSS, Bd. 21, S. 118ff.)

Dass sich künstlerischer und publizistischer Text zum Komplex „Lüge/Lügen“ weitgehend decken, soll ein weiteres Beispiel belegen, das besonders eindrucksvoll ist, da sich der publizistische Text wie ein Kommentar zum künstlerischen Text verhält. In den bereits angeführten Winterlichen Aufzeichnungen (1863) sagt der Erzähler von sich:

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„Zudem halte ich mich für einen redlichen Menschen, und ich bin keineswegs darauf aus zu lügen, nicht einmal als Reisender. Wollte ich aber versuchen, Ihnen wenigstens das Panorama zu schildern und zu beschreiben, so würde ich unweigerlich einiges zusammenlügen, und zwar durchaus nicht, weil ich ein Reisender bin, sondern weil einem in meiner Lage einfach nichts anderes übrig bleibt als zu lügen.“ (PSS, Bd. 5, S. 47)

Zehn Jahre später gab Dostojewskij in der Zeitung Graschdanin dazu folgende Erklärung: „Die Aufgabe, angenehm und fröhlich mit der Eisenbahn zu verreisen, besteht in der Fähigkeit, es anderen zu erlauben zu lügen und dem so weit wie möglich zu glauben; dann werden diese auch Ihnen gestatten, effektvoll zu lügen ..., und das ist von gegenseitigem Vorteil.“ (PSS, Bd. 21, S. 122)

Die Fortsetzung dieses Textes deutet daraufhin, dass sich Dostojewskij nicht unbedingt selbst mit dem Text identifiziert. Der Lügner verlässt den Zug „mit einer ungewöhnlichen Hochachtung vor der eigenen Person“ (ibid., S. 123). Dostojewskijs Kommentar: „Diese Gewissenlosigkeit besonderer Art des intelligenten russischen Menschen – dies ist für mich tatsächlich ein Phänomen“ (ibid., S. 124).

Aber könnte man daraus nicht schließen, dass auch der Erzähler der Winterlichen Aufzeichnungen, der doch mit dem Dostojewskij von 1862/3 identisch ist, ein solcher „intelligenter russischer Mensch“ ist, der sich mittels Lügen eine unverdiente Selbstzufriedenheit verschafft? Möglicherweise, ohne dass er sich dessen bewusst ist? Den der Autor selbst zehn Jahre später deshalb als „gewissenlos“ verurteilt? Kritisiert hier der Dostojewskij von 1873, freilich ohne sich dessen bewusst zu sein, den Reisenden Dostojewskij von 1863? Dostojewskij geht aber noch weiter und begründet geradezu die Notwendigkeit der Lüge, allerdings auf etwas ungewöhnliche Weise. Auch dafür lassen sich je ein künstlerischer und ein publizistischer Text anführen. In Schuld und Sühne erklärt ausgerechnet Rasumichin, Raskolnikows Freund, dessen Name von Vernunft (rasum) abgeleitet ist: „Das Lügen kann man immer verzeihen; das Lügen ist eine nette Sache, weil es zur Wahrheit führt“. (PSS, Bd. 6, S. 105) Im Tagebuch eines Schriftstellers erläutert Dostojewskij: „Die Lüge ist notwendig für die Wahrheit. Eine Lüge zu einer anderen ergibt Wahrheit.“ („Lož’ neobchodimo dlja pravdy. Lož’ na lož’ daet pravdu.“; PSS, Bd. 26, S. 51f.) Dies klingt so, als würde Dostojewskij im Sinne einer mathematischen Operation erläutern, dass ein Minus mit einem zweiten Minus multipliziert ein Plus ergibt. Doch ist der Sachverhalt auch hier, wie so oft bei Dostojewskij, komplizierter, denn der Ausgangspunkt der Operation „lož’ na lož’ “ (Lüge plus Lüge) ist eine Wahrheit, die nur für den Betroffenen wahr ist. Tatsächlich ist auch sie bereits eine Lüge, wird aber nicht als 34

solche wahrgenommen. Sollte nun der Fall eintreten, dass eine Wahrheit aus was für einem Grund auch immer zu wanken beginnt und in Gefahr läuft, sich als Illusion herauszustellen, so wird der Mensch im Bemühen, nicht dieser Wahrheit verlustig zu gehen, eine zweite Lüge erfinden, um sich der vermeintlichen Wahrheit von neuem als Wahrheit zu vergewissern! Das klingt dann so im Tagebuch eines Schriftstellers: „Da haben sie sich in irgendeinen Wunschtraum verliebt, eine Idee, eine Schlussfolgerung, eine Überzeugung oder irgendein äußerliches Faktum, das sie beeindruckt hat, eine Frau schließlich, die sie bezaubert hat. ... Wenn aber in diesem Gegenstand ihrer Liebe eine Lüge steckt, eine Bezauberung, irgend etwas, das sie selbst mit ihrer Leidenschaftlichkeit, ihrer anfänglichen Begeisterung übertrieben und verzerrt haben ... dann werden sie dies natürlich insgeheim bei sich spüren, der Zweifel wird über sie kommen, wird den Verstand reizen, wird sich in ihrer Seele einnisten und verhindern, dass sie in Ruhe mit ihrem geliebten Traumbild leben. ... Würden sie sich dann nicht einen neuen Wunschtraum ausdenken, eine neue Lüge, vielleicht sogar eine schrecklich grobe Lüge, an die sie sich aber beeilten mit Hingabe zu glauben, bloß deshalb, weil sie ihren ursprünglichen Zweifel zerstreut hat?“ (PSS, Bd. 26, S. 26f.)

Diese Textstelle gibt dem Leser Einblick in Dostojewskijs Verständnis des russischen Menschen seiner Zeit, der mit Leidenschaft alles Fremdländische übernimmt, es mit Fanatismus vertritt und sich, bevor er von seiner illusionären (!) Idee ablässt, eine neue Lüge erfindet, um seine „Wahrheit“ zu retten! Genau diesen Sachverhalt erläutert Fürst Myschkin (Der Idiot, Teil IV, Kap.7) in seiner berühmten Rede bei den Jepantschins unmittelbar vor einem epileptischen Anfall, als er sich bereits im visionären Zustand der Aura befindet, die dem Anfall vorausgeht. Doch zurück zu den Varianten der Lüge. Es versteht sich, dass der Verschwörer Werchowenskij junior in den Dämonen ausgezeichnet Bescheid weiß über die Natur der Wahrheit aus der Sicht des Russen, einer Wahrheit, die eben nie wirklich nur Wahrheit ist, und dieses Wissen auch gezielt einzusetzen versteht, übrigens ganz im Sinne moderner Desinformationsmethoden. Im Roman ist die Rede von zwei manipulativen Verfahren zur Beeinflussung der Menschen. Das konventionelle Verfahren beruht auf dem gezielten Einsatz der Lüge im Dienste der Wahrheit! Stepan Werchowenskij, der Vater (!), erklärt dem Erzähler: „Mein Freund, die unverfälschte Wahrheit ist immer unwahrscheinlich, wissen Sie das? Um die Wahrheit wahrscheinlicher zu machen, muss man ihr unbedingt etwas Lüge beimischen. Die Menschen haben das auch immer so getan.“ (PSS, Bd. 10, S. 172)

Auf paradoxe Weise wird die Lüge dazu verwendet, die Wahrheit wahrheitsgetreuer erscheinen zu lassen. Seinem Sohn, dem Verschwörer, kommt es dagegen auf Provokation an, welche die Menschen dazu bringt, selbst etwas mit Fantasie weiter zu spinnen. Weil die Menschen dann erst die so erhaltene 35

Teilwahrheit, die in Wirklichkeit keine ist, als ganze Wahrheit anerkennen. Sie werden so, ohne es zu merken, die eigene Lüge als bestätigenden Teil der Wahrheit akzeptieren! Ein virtuoses Verfahren, das der Sohn so erläutert: „Damit sie es glauben, muss man es so dunkel wie möglich halten, eben gerade nur so viel, um sie zu reizen. Immer lügen sie sich selber noch mehr zusammen, als wir und glauben dann natürlich sich selber mehr als uns, und das ist doch viel besser, viel besser.“ (Peter Werchowenskij zu Kirillow; PSS, Bd. 10, S. 473)

Werchowenskij jun. verführt also die Menschen dazu, eine unvollständig vorgegebene vermeintliche Wahrheit durch eigene Lügen zu ergänzen, die dann als Produkt der eigenen Erfindungsgabe nicht mehr infrage gestellt werden. Zugleich zeigt sich hier ein Unterschied zwischen der liberalen Generation der Väter (Stepan Werchowenskij), welche die Lüge nur dazu verwenden, um ihre Wahrheit dem Zuhörer plausibler zu machen und der revolutionär gestimmten Generation der Söhne (Peter Werchowenskij), welche die Lüge bewusst zum Zweck der Desinformation und Manipulation einsetzen. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Dostojewskij die Lügenhaftigkeit des Menschen zu einem fundamentalen Thema seines Schaffens gemacht hat. Man könnte meinen, dass er auch in dieser Hinsicht seiner Zeit weit voraus war, gibt es doch gerade in neuerer Zeit seitens der Biologie den interessanten Versuch, die Lüge zu rehabilitieren, ja sie geradezu zur Bedingung der Evolution allen Lebens zu machen. Volker Sommer hat sein Buch zum Thema Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch wohl bewusst Lob der Lüge betitelt. Denn, so der Autor, es sei die „evolutionäre Logik der Lüge“ bei Tier wie Mensch, die eine Bedingung für das Überleben und die Weiter- und Höherentwicklung ist. 26 So wie das Tier Täuschungsmanöver einsetzt, um als etwas zu scheinen, was es nicht ist (Stichwort Mimikry bzw. Mimesis), und sich damit vor dem Gefressen-Werden schützt, nützt auch der Mensch dieselben Mechanismen, um sein Leben zu erhalten und es darüber hinaus noch zu steigern, sei es um eines Gewinns und oder eines Vorteils willen. Sieht man von den national-russischen Aspekten in Dostojewskijs Darstellung der Problematik des Lügens ab und hebt sie auf eine allgemeinmenschliche Ebene, dann könnte man ihn im Sinne von Sommer als Vorläufer und frühen Vertreter der Rehabilitation der Lüge aus moderner biologischer Sicht ansprechen (wenngleich er sie als konservativer Denker negativ wertet!). Sommer behauptet, „die Natur ist der Auf- und Fortgang der Lüge.

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V. Sommer: Lob der Lüge. München, 1993. Zit. nach Arno Baruzzi: Philosophie der Lüge. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, S. 13., s. Sommer, S. 440.

Evolution ist die Entwicklung von Mechanismen der Lüge“. 27 Dostojewskijs Texte scheinen dies zu belegen. Dies ist eine zwar reizvolle, aber doch unhaltbare These, lässt sich doch das Lügen bei Dostojewskij nicht von der Natur des zeitgenössischen gebildeten russischen Menschen lösen. Davon abgesehen, wird in Baruzzis Philosophie der Lüge überzeugend gezeigt, dass Sommers Thesen letztlich nicht haltbar sind, weil sie die „empathische Beziehung des Lügenden zum Belogenen“ innerhalb der menschlichen Gemeinschaft aussparen. 28 Doch zurück zu Dostojewskijs Darstellung der Lüge. Bei ihm ist sie weniger eine inhärente Eigenschaft des Menschen, als vielmehr ein Symptom für eine tiefer liegende Problematik. Darüber gibt sein Aufsatz von 1873 Etwas über das Lügen (Nečto o vran’e) Auskunft, in dem Dostojewskij ausführlich auf das Thema Lügen eingeht. Auf den einfachsten Nenner gebracht, meint er, dass dem gebildeten Russen seit 200 Jahren die nationale Identität abhanden gekommen sei: „Zweihundert Jahre lang ist dieser Haupttypus unserer Gesellschaft in Ausarbeitung gewesen unter dem unbedingten, schon vor zweihundert Jahren vorgestellten Prinzip: niemals und unter keinen Umständen sich selbst zu sein, [sondern] sich ein anderes Gesicht zuzulegen, das seine aber für immer zu bespucken, sich immer seiner selbst zu schämen und niemals sich selbst ähnlich zu werden ...“. (PSS, Bd. 21, S. 120)

Grob gerechnet heißt dies, dass für Dostojewskij der Prozess des Identitätsverlustes mit dem Regierungsantritt Peters des Großen begann. Eine Folge seien Minderwertigkeitsgefühle. So schämen sich die Russen ihrer selbst („my vse stydimsja samich sebja“; PSS, Bd. 21, S. 119), setzen sich eine Maske vor das Gesicht und verleugnen ihre Identität: „Alle russischen Menschen bemühen sich sogleich und um jeden Preis sich unbedingt als jemand anderen auszugeben, nur nicht als der, der man tatsächlich ist, jeder beeilt sich, dass er sich ein ganz anderes Gesicht zulegt.“ (PSS, Bd. 21, S. 119)

Dazu eine Parallelstelle aus einem künstlerischen Text: „Ich [Goljadkin senior] entwickle nur ein Thema, das heißt, ich erläutere eine Idee, Anton Antonowitsch, dass die Leute, welche eine Maske tragen, sehr zahlreich geworden sind, und dass es jetzt schwer fällt, den Menschen unter der Maske zu erkennen.“ (PSS, Bd. 1, S. 163)

Dies wird verdeutlicht am Beispiel des Goljadkin senior, der genau dies unternimmt! Die Strategien, die der Russe in diesem Zusammenhang entwirft, 27 28

Sommer, S. 440. Aus einem Diskussionsbeitrag von Glatzel zu Sommers Thesen, zit. bei Baruzzi, S. 13.

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finden nach Dostojewskij ihren Höhepunkt in zwei Verfahren: Er stützt sein Selbstwertgefühl damit, dass er darauf besteht, selbst wenn dafür absolut kein Grund vorhanden ist, dass er mindestens ebenso klug ist wie seine ausländischen Zeitgenossen. Dostojewskij nennt in diesem Zusammenhang als Vergleichsobjekte Goethe, Liebig und Bismarck! Die vornehmste Würde des Menschen wäre es doch, zuzugeben, dass ein anderer klüger ist als er selbst. Dazu sei aber der Russe nicht imstande, meint Dostojewskij. Das andere Verfahren besteht darin, sich eine fremde Identität zuzulegen. Der Russe strebe danach, „sich als ein anderer zu zeigen, so weit wie irgend möglich als Fremder und nicht-russische Person.“ (PSS, Bd. 21, S. 120) Die literarische Version dieses Phänomens fanden wir schon im Doppelgänger: Goljadkin junior „bewies zu guter Letzt ganz klar, dass Herr Goljadkin senior, der echte, durchaus nicht der echte, sondern der falsche sei ..., endlich dass Herr Goljadkin senior durchaus nicht das sei, als was er erscheine, sondern bloß so und so einer.“ (PSS, Bd. 1, S. 185)

Mit diesen beiden Verfahren erreiche der Russe, dass er sich nicht mehr seines „nichtigen und bis zur Scham komischen“ Gesichts (PSS, Bd. 21, S. 120) schämen müsse. Beide Verfahren führen dazu, dass sich der Russe mittels der Lüge ein außerordentliches Selbstwertgefühl verschaffe („neobyknovennoe čuvstvo uvaženija k sebe;“ ibid., S. 123). Dostojewskijs eigene Bilanz ist mehr als ernüchternd. Sie ist geradezu vernichtend. Die Gewissenlosigkeit, die sich anhand dieser Phänomene enthüllt, lässt ihn an der Zukunft der russischen Nation zweifeln (ibid., S. 124, siehe I.1 oben). Dostojewskijs Darstellung hat allerdings eine Geschichte, die weit in das 18. Jahrhundert zurück reicht. Wenige Jahrzehnte nach dem Ende der Regierungszeit Peters des Großen schrieb J. J. Rousseau in seinem Contrât social (1762; 2. Buch, 8. Kapitel): „Peter besaß das Genie der Nachahmung; er besaß nicht das wahre Genie ... Er hat erkannt, dass sein Volk sich im Zustand der Barbarei befand ... Er wollte es zivilisieren, als es nur der kriegerischen Zucht bedurfte. Er wollte gleich von Anbeginn Deutsche und Engländer schaffen, als es Not tat, zuerst einmal Russen zu bilden; er hat seine Untertanen daran gehindert, jemals zu werden, was sie werden könnten, indem er ihnen einredete, sie seien das, was sie nicht waren.“

Diese Worte fanden kurz darauf ein Echo in Russland! In der Sekundärliteratur zu Dostojewskij fehlt meines Wissens ein Hinweis auf den großen Satiriker und Philanthropen des 18. Jahrhunderts in Russland, Iwan Nowikow, der in seiner kurzlebigen Zeitschrift Koschelek (1774) genau diese Beschreibung des Russen aufgriff und sie noch schärfer formulierte. In seinem Vorwort, betitelt Anstelle eines Vorworts, schrieb er von den Russen, die sich ihrer Heimat schämen „und glauben, dass der Russe von den Ausländern alles, 38

sogar bis hin zum Charakter übernehmen müsse“. Er schreibt des weiteren, dass es so scheine, als hätte die Natur den Russen keinen eigenen Charakter zugestanden, sodass sie sich einen solchen erst aus Bruchstücken der Nationalcharaktere fremder Völker zusammen stellen müssten. Nowikow spricht von Zeitgenossen, die sich aus vernunftbegabten Menschen in „vernunftlose Affen“ verwandeln und so zum Gespött ganz Europas werden! Wir sehen, dass Dostojewskijs Verständnis des zeitgenössischen Russen bei Nowikow schon sehr deutlich vorgebildet ist. In der Tat lesen sich manche Formulierungen Dostojewskijs wie Paraphrasen von Textstellen aus Nowikows Koschelek! 29 Dass derlei Ansichten weithin bekannt waren, dafür zeugt auch Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769, in dem er von der „Nachahmungsbegierde“ der Russen und ihrer „kindischen Neuerungssucht“ schrieb, diese Eigenschaften aber durchaus positiv, „als gute Anlage einer Nation, die sich bildet“, verstand. 30 Dostojewskij war achtzehn Jahre alt, als Peter J. Tschaadajews 1. Philosophischer Brief in der Zeitschrift Teleskop erschien (1839). Der Autor wurde für seine negative Darstellung der russischen Geschichte und wohl auch wegen seiner positiven Wertung der katholischen Kirche offiziell auf die Dauer eines Jahres für verrückt erklärt! Im Brief finden wir eine vernichtende negative Darstellung der russischen Geschichte, die der oben zitierten Charakterisierung des Russen eine Tiefendimension verleiht und sie als Resultat der russischen Geschichte auffasst. Tschaadajew schrieb von der Geschichtslosigkeit Russlands („Unser Gedächtnis reicht nicht über das Gestern zurück“), der Identitätskrise des Russen („wir sind sozusagen uns selbst fremd“), seiner Stellung zwischen Ost und West („Wir gehören weder dem Westen noch dem Osten an und besitzen weder die Überlieferungen des einen noch des anderen.“). Daraus ergab sich eine „völlig auf Entlehnung und Nachahmung beruhende Kultur.“ 31 In seiner erstmalig 1862 in Leipzig veröffentlichten Apologie eines Wahnsinnigen nahm er diese Thematik wieder auf und äußerte sich ausführlich zur Rolle Peters des Großen und seiner Reformen. Die Folgen beschreibt er auf anschauliche Weise: „Seit dieser Zeit haben wir mit einem auf den Westen starrenden Blick nichts weiter getan, als die von dort herüberkommenden Strömungen aufzunehmen und uns

29

30 31

Vgl. N. I. Novikov: Košelek 1774 g. In: Satiričeskie žurnaly N. I. Novikova. (Hg. A. N. Berkov), ANSSSR, Moskau/Leningrad 1951, S. 477f. Es ist anzunehmen, dass sich Novikov auf Jean-Jacques Rousseau gestützt hat! D. Tschižewskij u. D. Groh (Hgg.): Europa und Russland. Darmstadt 1959, S. 17. Peter Tschaadajew: Apologie eines Wahnsinnigen. Reclam, Leipzig 1992 (ReclamBibliothek, Band 1422), S. 812.

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dadurch ernährt ... Wir waren schließlich glücklich, dem Westen zu ähneln, und stolz, als er sich herabließ, uns zu den Seinen zu rechnen.“ 32

Es ist durchaus möglich, dass Dostojewskij diese Aussagen Tschaadajews kannte. Mit Sicherheit kannte er das Buch des Marquis A. de Custine La Russie en 1839, das Positionen Tschaadajews übernahm. Auch Custine schrieb von der „Wiederholung der ganzen Erziehung des Menschengeschlechts“, die das geschichtslose Russland durchmachen müsse. Sowohl Nowikow wie auch Tschaadajew und Custine zeichneten ein im hohen Maße negatives Bild, dem Dostojewskijs Verständnis des Russen allerdings durchaus entsprach. Es stellt sich die Frage, wie Dostojewskij selbst mit dieser vernichtenden Diagnose der gebildeten russischen Gesellschaft seiner Zeit zurechtgekommen ist? Es wurde bereits auf einen zweiten publizistischen Text verwiesen, der 1877 im Tagebuch eines Schriftstellers erschien: Eine Lüge rettet die andere (Lož’ lož’ju spasaetsja in XXVI, S. 24–27). Darin schreibt er voll Rührung, wie Don Quichote, der naive Ritter ohne Furcht und Tadel, sein illusionäres Bild der Wirklichkeit (eine Lüge), als er daran zu zweifeln beginnt, durch eine weitere illusionäre Vorstellung (eine weitere Lüge) vor der eigenen Kritik rettet und sich so vor dem Einbruch der Realität schützt. Alles, was Dostojewskij im Kontext der Lüge an negativen Merkmalen dem russischen Menschen zuwies, galt für seinen gebildeten Zeitgenossen, der die geistige Leere, welche die Reformen Peters des Großen nach Ansicht Dostojewskijs hinterlassen hatten, mit westlichem Ideengut auffüllte. Um diese historisch so nicht zutreffende Sicht, eine Lüge, zu retten und so sein Selbstwertgefühl zu behaupten, schuf er sich mit der Russischen Idee (s. I.1 oben, S. 21) eine zweite, ebenso unhistorische Perspektive, also eine zweite Lüge: Dies war die utopische Vorstellung von einer besonderen Begabung des russischen Volkes, einer synthetischen Begabung, der Fähigkeit zur Allaussöhnung, in der alle unterschiedlichen nationalen Ideen der anderen europäischen Völker zu einer Synthese zusammenfließen würden. Dies legte er in seinen Aufsätzen der 1860er-Jahre nieder und führte es am Beispiel Puschkins in einer Rede vom Juni 1880 nochmals aus. Aus Charaktermangel wird da plötzlich eine weltumspannende Einfühlungsgabe, die Fähigkeit, sich ganz in das Wesen des fremden Volkes hineinzuversetzen. 33 Der Höhepunkt der Kompensationsstrategie Dostojewskijs ist die illusionäre Vorstellung von der

32 33

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Ibid., S. 158. Wir finden diese Ansichten Dostojewskijs sowohl in den publizistischen Aufsätzen des Jahres 1864 wie auch in seiner Puschkin-Rede von 1880 und dem Tagebuch eines Schriftstellers der 70er-Jahre bis hin zu seinem Tod 1881.

Bestimmung des russischen Menschen als einer „unbestreitbar gesamteuropäischen und universellen Bestimmung“ mit dem letztendlichen Ziel des „brüderlichen Zusammenschlusses der ganzen Menschheit“ unter der Führung der russischen Nation. Im Lichte dessen, was Dostojewskij in seinen Werken, sowohl literarischer wie publizistischer Natur, vom Russen als Menschen ohne Charakter, als zwanghaften Lügner, der damit seinen Mangel an Selbstwertgefühl überspielt, ausgeführt hatte, womit er seine doch sehr einseitige Sicht der Rolle Peters des Großen in der Geschichte verband, kann auch diese Vorstellung wohl nur im Sinne seines Aufsatzes, in freier Übersetzung Eine Illusion rettet sich durch eine andere, interpretiert werden! Die Psychologie hat für die extreme Form der Lüge, die sich als Krankheit manifestieren kann, einen Namen gefunden: Die Pseudologia phantastica, eine Form der Geisteskrankheit, bei der der Übergang von der Normalität zur Pathologie durchaus fließend sein kann: Der Arzt Eugen Bleuler charakterisiert sie in seinem Lehrbuch der Psychiatrie (1983, 15. Auflage!) wie folgt: Sie betrifft Menschen, die als krankhafte Lügner und Schwindler auftreten und sich darin verwirklichen. Nach Bleuler leiden sie „an einer übertriebenen Phantasietätigkeit mit Unstetigkeit und Planlosigkeit des Willens. Sie denken sich immer im Sinne ihrer hervorragenden Tendenzen ... so sehr in phantasierte Stellungen und Rollen hinein, dass sie, die Unwirklichkeit dieser Gebilde vergessend, ihr Handeln von ihnen bestimmen lassen. ... Krankhafte Lügner und Schwindler können auch bei klugen und erfahrenen Menschen Erfolge haben, die ganz unbegreiflich erscheinen.“ 34

Der Arzt Bleuler verweist anschließend auf eine seiner Patientinnen, die größere Summen erhielt, „indem sie auf glänzende Einkünfte aus ihren Petroleum-Anpflanzungen in der Sahara hinwies.“ Die Krankheit Pseudologia phantastica interessiert hier aber nur am Rande. Als Phänomen eines pathologischen Verhaltens steht sie fernab der Wirklichkeit, ist aber mit vielen Fäden mit ihr verbunden. Da, wo das pathologische Verhalten noch nicht als Krankheit auftritt, also im Grenzbereich zwischen wirklichkeitsorientierter Wahrnehmung und einem Wirklichkeitsverlust, der dazu führt, dass fantasmagorische Vorstellungen nicht mehr als solche wahrgenommen werden, liegt ein immerhin weiter Bereich der Manipulation der Realität. Für diesen Bereich haben sich Intellektuelle und Schriftsteller schon immer interessiert. Ein bekannter Romanschriftsteller der 19. Jahrhunderts hat sich für Bleulers Pseudologia interessiert. Es ist einer der bedeutendsten österreichischen Autoren des vergangenen Jahrhunderts, Heimito von Doderer (1896–1966). 34

Bleuler: Lehrbuch, S. 576.

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In seinen Tagebüchern unmittelbar nach Kriegsende (1948–1949) hat er sich immer wieder damit befasst. Er hat für die Tendenz der Wirklichkeitsverweigerung, des Ausweichens in eine imaginierte Gegenwirklichkeit den augenscheinlich auf die Psychiatrie zurück gehenden Begriff des Pseudologischen Raumes geschaffen, den er als geschlossenen Raum „mit neuem und eigenem Koordinaten System“ versteht. Die Fähigkeit des Menschen, „in der Psychik sich Raum und Sphäre“ zu schaffen, nennt er Pseudologie und verbindet sie mit der Kunst des Lügens. Diese Pseudologie muss sich „gegen das Ganze des Lebens abkapseln, mit ihren Fantasmagorien isolieren, die Brücke der Wirklichkeit, welche Innen und Außen verbindet, abbrechen, ApperzeptionsVerweigerung treiben, blinde Kuh spielen.“ „Durch die Apperzeptionsverweigerung einer Lebensnotwendigkeit gegenüber“ entsteht ein „dickwandiger“ pseudologischer Raum. 35 Doderer verweist darauf, dass die Pseudologie nicht unmittelbar entsteht, sondern vermutlich ihren Ursprung und Beginn in der Kindheit hat. (T., S. 645) Letztlich wird der pseudologische Raum, in den sich der Mensch zurückzieht, zu einem vollgültigen Ersatz der Lebensrealität. Dies wird dadurch erreicht, dass dieser Raum mit lebensechten Details ausgestattet und von der Fantasie zurück in die Realität projiziert wird, d. h. sich wie ein Raster über die Realität legt, sie zuletzt voll und ganz ersetzt. In Doderers Worten: „Jeder pseudologische Raum enthält eine übermäßige Fülle von Details, die alle voneinander abhängen, nicht etwa Trümmer einer atomisierten Welt, sondern wie letzte Wesentlichkeiten, belichtet und gequollen, ein total gefälschtes, aber gänzlich umfangendes Bild des Lebens erstellend.“ (T., S. 644)

Im pseudologischen Raum erkennen wir die Elemente der Lebenswirklichkeit, aber sie sind umgestellt, auf den Kopf gestellt, da hypertrophiert, dort sinnentleert oder sinnverkehrt. In jedem Fall besticht der Absolutheitsanspruch solch pseudologischer Räume, die vorgeben, letzte Realitäten wiederzugeben. Doderer spricht von „Totalismus“, aber auch von „tendenziöser Beschränkung“. (T., S. 641, S. 649) Menschen, die vorzüglich in pseudologischen Räumen leben, werden als Sonderlinge gelten. Gleiten sie, von einem gesteigerten Selbstbewusstsein getragen, ins Krankhafte ab, dann liegt das Krankheitsbild der Pseudologia phantastica vor. Wird der pseudologische Raum aber vorwiegend mit Ideologemen ausgefüllt, so entsteht eine Mentalität, die in der Geschichte schon manche unheilvolle Entwicklung eingeleitet hat, sobald sie den Bereich des individuellen Lebens verließ und aktiv in das soziopolitische Leben eingriff. 35

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Doderer: Tangenten, S. 630f., S. 633, 639. Zitate aus den Tangenten sind des Weiteren im Text mit T. und der Seite angegeben.

Charakteristische Elemente eines solcherart gestalteten pseudologischen Raumes können wir in nuce bei einem Kärntner deutschnational gesinnten Landtagsabgeordneten, dem Dichter und Schriftsteller Adolf Ritter von Tschabuschnigg in seinem Buch der Reisen (1842) finden, wo er u. a. von der Landnahme der Germanen an der Grenze des slawischen Südens schreibt: „ ... zur rechten Stunde brachen die Recken mit blauen Augen und blonden Haaren hervor und bauten die neue Welt über den Trümmern der alten. Ihre Muskeln waren Stahl, ihre Nerven der Verführung nicht zugänglich; sie wußten wenig, aber nichts Falsches.“ 36

Aus Doderers Darstellung des pseudologischen Raums erkennen wir, dass dies der Raum ist, in dem sich Ideologien jeglicher Art, besonders auch nationale Mythen, entwickeln. Tschabuschniggs Text hilft uns, wesentliche Elemente dieses pseudologischen Raums zu erkennen: Das idealisierte Menschenbild (das der Autor auch für sich in Anspruch nimmt, in diesem Falle die „blonden und blauäugigen Recken“); eine idealisierte Ethik („gegen Verführung gefeite Nerven“); ein utopisches Sendungsbewusstsein („die Recken bauten eine neue Welt“); das zu vernichtende Feindbild („die Trümmer der zerstörten alten Welt“); die Verengung des Wirklichkeitszuganges durch tendenziöse Beschränkung (die Recken „wussten wenig“); ein absoluter Wahrheitsanspruch (die Recken wussten „nichts Falsches“). Im pseudologischen Raum ist Zweifel nicht angebracht! Verlassen wir nun Dostojewskij und wenden uns der Mentalität zu, die eine Mehrheit der Politiker und wohl auch der Bürger Russlands seit den 1990er-Jahren charakterisiert, so liegt der Schluss nahe, dass sich diese nicht immer exakt erfassbare Mentalität, die sich in unterschiedlich akzentuierter Gestalt manifestiert, als Ausdruck eines pseudologischen Raumes, einer pseudologischen Realität, verstehen lässt, die der Lebenswirklichkeit übergestülpt wird, d. h. die letztlich ideologisch motiviert ist. Dies steht zwar im Gegensatz zu einer Verfassungsbestimmung von 1993 in Russland, die besagt: „Keine Ideologie darf in der Eigenschaft als staatliche oder verbindliche Ideologie festgelegt werden“ 37 entspricht aber einer tief verankerten Sehnsucht. So hat Boris Jelzin selbst im Juli 1996 dazu aufgerufen: „Russland braucht eine gesamtnationale Idee, die die Nation zusammenschweißt, die Menschen eint und mobilisiert zur Wiedergeburt Russlands.“ 38 Diese „gesamtnationale Idee“ bleibt bis heute vage. Allerdings hatte sich in den 90er36 37 38

Tschabuschnig, S. 156. Kursiv von R. N. Simon 1997, S. 1171. Art. 13, Abs. 2 der Verfassung vom Dezember 1993. Simon 1997, S. 1180.

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Jahren quer durch die Parteien so etwas wie ein patriotischer Konsens (ein Terminus von Gerhard Simon) gebildet, der vielleicht als Fundament einer neuen Staatsideologie gelten kann. Darin können wir unschwer Elemente eines pseudologischen Raumes erkennen, in dem sich nationale Mythen zu einer neuen Ideologie verbinden. Angesichts zahlreicher Aufsätze von Gerhard Simon, Christiane Uhlig, Karla Hielscher, Marina Fuchs, u. a. in der Zeitschrift Osteuropa möchte ich hier nur wenige Belege anführen Die angeführten Autorinnen/Autoren haben darin reichlich Material gesammelt, worauf sich dieser Aufsatz stützt. Der Totalitätsanspruch realisiert sich auf vielfältige Weise. Russland betrachtet sich auch nach dem Zerfall der Sowjetunion als eine Groß- und Weltmacht. Alexander Barkaschew, der die Bewegung Russische Nationale Einheit anführte, die sich 1990 von Pamjat abspaltete, hat als sein Ziel „ein neues Russisches Imperium“ gefordert. 39 Denn das Ende der Sowjetunion ist im patriotischen Konsens etwas „Unhistorisches und Widernatürliches“. So schreibt Simon, „Russland ist nicht bereit, sich als Teil eines größeren Ganzen wahrzunehmen.“ 40 In einem Grundsatzpapier vom Mai 1996 wurde von den neu entstandenen Staaten der alten Sowjetunion gesagt, dass ihre Annäherung und Integration zunächst zu einer Konföderation und nach zehn bis fünfzehn Jahren zu einer Föderation der meisten Staaten mit Russland im Zentrum führen würde. 41 Das utopische Sendungsbewusstsein äußerte sich mit unterschiedlicher Akzentuierung, sei es politisch oder religiös. So soll Russland „zur führenden Zivilisation der anbrechenden postindustriellen Periode werden.“ 42 Simon formuliert weit verbreitete Einstellungen: „Die neue, nichtmaterielle, geistige Kultur wird aus Russland kommen.“ „Tief sitzt die Überzeugung, dass Russland nicht ein Staat wie alle anderen ist, sondern von der Geschichte zu einer besonderen Rolle ausersehen wurde.“ 43 Uhlig spricht gar davon, dass in zeit39

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Fuchs 1993, Teil II, S. 463. Zur Bewegung Pamjat’ und der „zionistisch-freimaurerischen Verschwörung“ siehe u. a. bei K. Hielscher: Die Pamjat’-Bewegung in der Sowjetunion. In: Osteuropa-Archiv (1990), und Auf der Suche nach Sündenböcken. Rechtsextremis-mus und der Antisemitismus in der russischen Publizistik. In: Die Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, 11 (1989); A. Pfahl-Traughber: Die neue/alte Legende vom Komplott der Juden und Freimaurer. Zur Renaissance des antisemitisch-antifreimaurerischen Verschwörungsmythos in der Sowjetunion. In: Osteuropa (1991); G. Koenen: Pamjat’ und die russische Neue Rechte. In: Osteuropa (1990). Simon 1997, S. 1180. Simon 1997, S. 1173. Uhlig 1995, S. 815. Simon 1997, S. 1180.

genössischen Diskussionen das russische Volk die „Zuschreibung einer messianischen Funktion“ erfährt. 44 Das idealisierte Menschenbild wird vielfach mit Rückgriff auf die Geschichte Russlands, vor allem auf slawophile Ansichten des 19. Jahrhunderts und den vagen Begriff einer Russischen Idee definiert. Letztere ist nach Simon „in erster Linie ein rückwärts gewandter Traum und nicht eine realistische Vision für die Zukunft.“ 45 Nach Uhlig ist sie heute „ein breites und teilweises divergierendes Spektrum so genannter russischer historischer Grundwerte“, bzw. der „Versuch einer rückwärtsgewandten Identitätsgewinnung.“ 46 Aus dem Blick zurück wird immer wieder die „Wiedergewinnung des Bewusstseins einer russischen Identität“ gefordert. 47 So erfreuen sich die Schriften der Slawophilen des 19. Jahrhundert erneut großer Beliebtheit. Auch Elemente der eurasischen Ideologie fließen hier ein. 48 Das ethische Ideal definiert sich im Einklang mit den vorgenannten Vorstellungen als eine von der Geschichte her begründete Überlegenheit des russischen Volkes: „Russland ist eine eigenständige Zivilisation.“ Nach Sergej Baburin, 1997 der Vizesprecher der Duma, sei die Mentalität der Russen durchdrungen vom Prinzip der „sobornost’“ (= Gemeinsamkeit). 49 Vor allem die rechtsradikalen Parteien Russlands „sind nach dem Führerprinzip organisiert, missachten demokratische Prinzipien und betrachten die Russen einerseits als nordisch-überlegene Rasse, andererseits als besonders zu schützende Rasse“, schreibt Stefan Scholl. 50 Die Überlegenheit des russischen Volkes wird immer wieder mit der Überlegenheit der orthodoxen Kirche begründet. So behauptete Archimandrit Wenedikt, Abt des Klosters Optyna Pustyn, „Nur die russisch-orthodoxe Kirche kann den Verfall Russlands stoppen.“ 51 Der absolute Wahrheitsanspruch ist dann nur mehr eine logische Konsequenz dieser überzogenen Vorstellungen und trägt zur Konsolidierung eines aufgefächerten Feindbildes bei. Simon fasst die vorherrschende Mentalität in der innerrussischen Politik zusammen: „Unterschiedliche Standpunkte gelten als etwas vorläufiges, das überwunden werden muss, und dann entweder zum Konsens oder zur Spaltung führt. Dahinter steht die

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Uhlig 1995, S. 815. Simon 1997, S. 1188. Uhlig 1997, S. 1197. Uhlig 1997, S. 1202. Ignatow, S. 320ff. Simon 1997, S. 1174. Scholl, S. 27. Rybak, S. 23.

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Vorstellung, dass es nur eine Wahrheit gibt und dass die Politik ihr ebenso wie die Philosophie und die Religion verpflichtet sind.“ 52

Das Feindbild. In vager Form ist dies immer noch der Westen mit seinen kommerziell bestimmten Werten, oft verengt auf die USA als Inbegriff des Gegenbildes zu Russland. So schreibt der zeitgenössische Philosoph Kantor: „Russland verliert sich, sie zwingen Russland ein fremdes Wertesystem auf, Russland befindet sich auf der Schwelle zu Unruhen, böse Kräfte wollen Russland westlich umgestalten, doch unterdessen will das russische Volk auf seine eigene Weise leben.“ 53

Es wurde sogar eine neue vorsätzliche Isolierung des Landes wie unter Zar Peter I. gefordert, damit Russland seine eigene Identität in Ruhe entwickeln könne. Als in Russland 1993 die Debatte um die Thesen Huntingdons vom Kampf der Kulturen ausbrach, da sah man darin für Russland „mit seiner Ausrichtung auf geistige und gerade nicht materielle Werte“ eine neue Chance. 54 Dies entspricht auch der „eurasischen“ Strategie, die unter russischen Militärs beliebt sein soll – sie läuft auf eine Annäherung an westeuropäische Länder hinaus, verbunden mit einer klaren Frontstellung gegenüber den USA. Dazu gehörten die Unterstützung des Irak, der großserbischen Pläne, die Achse „Wladiwostok–Berlin“ (als Teil einer russischen, neoimperialistischen Strategie) u. a. Eine weitere Verengung des Feindbildes besteht im Rahmen einer neuen Wissenschaft, der Konspiratologie, die ihr Feindbild in einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung sieht! Über diese nicht nur von der Vereinigung Pamjat propagierte Sicht besteht ausreichend Literatur. 55 Ignatow fasst das „postkommunistische ideologische Panorama“ wie folgt zusammen: „Es dominieren reaktionär-restaurative Ideen, wobei die Restauration des Kommunismus sich mit der Restauration alter vorkommunistischer autoritärer Staatsformen verknüpft. Die meisten Denkrichtungen sind von Idealisierungen der russischen Geschichte durchdrungen und durch einen starken antizivilisatorischen und antiliberalen Affekt geprägt. Sie nehmen die verfehlte Idee der russischen Ausschließlichkeit in Schutz und erheben in der einen oder anderen Form die Prätention auf eine besondere ,Sendung‘ des russischen Volkes.“ 56

Es ist verständlich, dass eine Ideologie, die ihr Wirklichkeitsverständnis aus den in diesem Zitat und den weiter oben angeführten Elementen schöpft, zu 52 53 54 55 56

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Simon 1995, S. 467. Uhlig 1995, S. 813. Uhlig 1997, S. 1199. Siehe dazu bei Fuchs und Hielscher: Die Pamjat’ Bewegung… Anm. 39. Ignatov, S. 327.

einer „tendenziösen Beschränkung“ des Zugangs zur Realität führt, die sich letztlich auch in einer Apperzeptions-Verweigerung äußern kann. Man verweigert sich einer rationalen Sicht der Wirklichkeit. Simon spricht von einem „Auseinandertreten von Ideologie und Wirklichkeit“, bzw. einer „Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.“ 57 Die patriotische Rhetorik übt dabei eine Ersatzfunktion aus, indem sie vor einer unwirtlichen Realität schützt. 58 „Rhetorik und Realpolitik scheinen sich oft auf verschiedenen Ebenen unverbunden nebeneinander zu bewegen und der je eigenen Dynamik zu folgen“, schreibt Simon. 59 Besser könnte man nicht die „Verengung der Brücke zur Wirklichkeit“ und die Apperzeptions-Verweigerung beschreiben, die den pseudologischen Raum charakterisieren. In diese Richtung verweisen auch die immer wieder anzutreffenden Behauptungen, dass „Russlands Heil ausschließlich in der Besinnung auf eigene Traditionen und Denker liegen könne“, 60 denn damit wird die Bedeutung der Wirklichkeit zugunsten eines Rückzugs in Vergangenes minimalisiert. Die „Mythologisierung russischen Denkens“ 61 entspricht der Ausgestaltung des pseudologischen Raumes mit Ideologemen. Wenn ausgerechnet der Chef der Kommunistischen Partei Gennadij Sjuganow die „Rückkehr zu den uralten nationalen Werten“ fordert, „die notwendige Wiederherstellung der historischen Kontinuität in der Entwicklung des Landes“, 62 dann lässt sich dies als ein Aufruf zur Rückkehr in den pseudologischen Raum verstehen, den das 19. Jahrhundert in Russland geschaffen hat. Er trifft sich hier mit dem Priester Dmitrij Dudko, der Kommunisten und Orthodoxe in der Gegenwart einem gemeinsamen Ziel zustreben sieht: „Heute haben sich Kommunisten und Gläubige vor dem Kreuz in Golgatha getroffen ...“ Seine Absage an die Rationalität ist geradezu beklemmend: „An Gott und Russland muss man einfach glauben. Dies kann man nicht rational erklären. Russland ist ein irrationales Land.“ 63 Die Wirklichkeitsverweigerung kann kaum weiter getrieben werden. Blickt man etwa 150 Jahre zurück, dann bietet nicht nur das Schrifttum der Slawophilen, sondern in einem besonderen Maße die intellektuelle Entwicklung Dostojewskij, eines der bedeutendsten Autoren des 19. Jahrhunderts, ein Musterbeispiel für die Schaffung eines mit Ideologemen ausgestatteten pseudologischen Raumes. Dies ist aus zwei Gründen von besonderem Inte57 58 59 60 61 62 63

Simon 1997, S. 1183. Simon 1997, S. 1184. Simon 1997, S. 1187. Uhlig 1995, S. 814. Uhlig 1995, S. 814. Simon 1995, S. 459. Fuchs, Teil I, S. 336.

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resse. Zum einen, weil Dostojewskij einerseits gerade die negative Wirkung dieses auch von ihm erkannten Phänomens aufgedeckt hat, andererseits aber seinerseits einen bis heute nachwirkenden pseudologischen Raum geschaffen und die Apperzeptions-Verweigerung auf die Spitze getrieben hat. Zum anderen, weil gerade Dostojewskij bis heute einen unübersehbaren Einfluss auf das geistige Leben Russlands ausübt. Wir kehren damit zu Dostojewskij zurück. Doderer hat in seinen Tagebüchern versucht, dem Ursprung dieses Phänomens, der Genese des pseudologischen Raumes, nachzugehen. Er meint: „Kein Zweifel: es muss in einem von pseudologischen Räumen zerlegten Leben irgendwann – und, wie ich vermute, in der Kindheit –den Augenblick gegeben haben, da die pseudologische Möglichkeit erstmalig entdeckt und ergriffen wurde: und schon konnten Übung und Bahnung folgen.“ (T., S. 645)

In der Tat haben Schriftsteller aus der Zeit der Romantik nicht selten auf die Gefahr übermäßiger Lektüre schon im Kindesalter und einer dadurch verbildeten Fantasie hingewiesen. Puschkin tat dies im Hinblick auf Tatjana im Eugen Onegin, Belinskij hat in einer Rezension von 1839 in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski auf die Wirkung der Ritterromantik in seiner Jugend verwiesen. 64 Der junge Saltykow- Schtschedrin hat in einer Rezension 1849 auf ein Kinderbuch dies am deutlichsten formuliert: „Von daher kommt die Neigung zur Verträumtheit, die man in vernünftigen Grenzen halten sollte, die aber ganz im Gegenteil überaus gigantische Ausmaße annimmt. Nachdem das Kind mit der Zeit zum Manne geworden ist, entwickelt es sich zu einem Menschen, der unfähig ist, sich mit nahe liegenden konkreten Interessen zu befassen und so ein Leben lang in Gedanken in Traumwelten schweift, die von seiner krankhaften Phantasie geschaffen werden.“ 65

Dostojewskij hat vielfach Ähnliches geschrieben. Am eindruckvollsten und ausführlichsten wird die Genese der durch übermäßige Lektüre verbildeten Fantasie des Kindes mit Worten geschildert, die dem Mädchen Netotschka Neswanowa in den Mund gelegt werden. Bereits da ist die Rede von einer „Entfremdung von der Wirklichkeit“. Netotschka stellt fest, dass sie „gleichsam die ganze Welt, die sie bisher umgab, vergaß.“ 66 Dostojewskij hatte nach eigenem Bekenntnis denselben Prozess durchgemacht, sich aber davon bereits 1844 distanziert. Dieses Erlebnis hatte er gleich zweimal, in den St. Petersburger Träumereien in Vers und Prosa und der Erzählung Ein schwaches

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Neuhäuser 1979, S. 59ff. Saltykov-Ščedrin, S. 36. Neuhäuser 1979, S. 68f.

Herz niedergelegt. 67 Fast zur selben Zeit nahm er aber bereits im Zuge seiner Involvierung in die Petraschewskij-Affäre gewisse ideologisch motivierte Ansichten an, die zur Ausstattung eines neuen pseudologischen Raumes wurden. Dazu gehört Fouriers Theorie von den gottgegebenen Leidenschaften und ihrer Pervertierung in der zeitgenössischen Welt, dazu gehört die Kritik dessen, was wir heute als Establishment bezeichnen, symbolisiert durch das „kranke, seltsame und mürrische St. Petersburg“, und das Lob Peters I., der Russland europäisierte. Wir fanden diese ideologischen Festlegungen in den Feuilletons, die Dostojewskij 1847 schrieb, 68 in denen er die Figur des „Träumers“ beschrieb, die Verkörperung der jungen zeitgenössischen St. Petersburger Intellektuellen, von denen er meinte, sie wollten „die Befriedigung in der Phantasie finden, nur um dann natürlich für die echte Tat untauglich zu werden“.40 Auch dies lässt sich als die Auswirkung einer Existenz verstehen, die vorzüglich in einem pseudologischen Raume lebt. Dostojewskij beschrieb damit einen geistigen Habitus, der auch auf ihn zutraf. Zugleich kritisierte er ihn als negativ. Es ist dies ein Verhaltensmuster, das bereits auf seine oben erwähnte Absage an die Illusionen der Romantik zutraf. Wir wissen aus Dostojewskijs Biografie, dass er 1848 dann doch zur Tat schritt und dafür bitter büßen musste. An diesem Punkt mag es angebracht sein, nach der Natur der Lüge aus philosophischer Sicht zu fragen. Augustinus gab in seiner Abhandlung De mendacio (Kap. 4) eine Definition, die stets in diesem Zusammenhang zitiert wird: „Mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi.“ Es gehört dazu der Wille und das Wissen um das Wahre und das Falsche. Wille heißt, bewusst etwas Falsches als das Wahre auszugeben. Ich kann nur lügen, wenn ich um die Wahrheit weiß! Nun liegt aber, wie Baruzzi ausführt, im traditionellen Verständnis der Wahrheit im Sinne von aletheia (Unverborgenheit), dass „sich etwas zeigt und auch nicht zeigt ... [Damit] werden wir auf ein Geschehen verwiesen, das aus dem Verborgenen heraus etwas uns zugänglich macht.“ 69 Wahrheit ist so gesehen ein prozesshafter Vorgang des schrittweisen Ent- und Aufdeckens, dessen letztes Ziel dem Menschen nicht unbedingt zugänglich ist. „Denken, das auf Wahrheit geht, muss irren können.“ 70 Dies beansprucht übrigens auch Heidegger für sich, der sich in Sein und Zeit ausführlich mit dem griechischen Wahrheitsverständnis und der Bedeutung von aletheia auseinandergesetzt hat. Die Neuzeit hat im Zuge des

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Neuhäuser 1979, S. 123–135. Neuhäuser 1979, S. 131. Baruzzi, S. 20. Baruzzi, S. 168.

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Rationalismus und des naturwissenschaftlichen Denkens demgegenüber ein anderes Verständnis von Wahrheit gesetzt: Die Wahrheit als Gewissheit, oder, wie Baruzzi pointiert formuliert, „die Verkehrung der Wahrheit in die Gewissheit“. 71 Für den modernen Menschen gilt der Satz „Wer Wahrheit sucht, will letztlich Gewissheit“. 72 Ob eine Gewissheit, einmal gefunden, allerdings identisch mit der Wahrheit ist, muss in vielen Fällen offen bleiben. Die Gewissheiten der Wissenschaft unterliegen allemal dem Prinzip der Falsifizierbarkeit und sind bestenfalls Annäherungen an die Wahrheit. Der moderne Mensch möchte sich jedoch mittels der Wissenschaften, auch der Geschichtswissenschaft, der Wirklichkeit, in der er sich bewegt, in allen Aspekten vergewissern. So auch Dostojewskij. Man könnte nun den eben zitierten Satz auch umgekehrt formulieren: „Wer Gewissheit will, muss die Wahrheit suchen“, und finden! Da er aber als moderner Mensch die Wahrheit stets nur in der Gewissheit erleben kann, wird aus dem Prozess der stetigen Suche nach Wahrheit ein tautologischer Vorgang: Er findet die Gewissheit, nach der er vorgeblich sucht, in geeigneten Bruchstücken der Wirklichkeit, aus denen er dann seine wahre Wirklichkeit zusammensetzt. Es entsteht so eine pseudologische Realität, ein Begriff, den Baruzzi von Doderer übernommen hat. Diese ist ihm dann gewiss, d. h. wahr, denn sie entspricht seiner Wahrnehmung. Dies aber birgt in sich eine überaus große Gefahr, worauf Hannah Arendt hingewiesen hat: „ ... wenn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufrieden geben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem voll gültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in den sich die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität her gewohnt sind?“ 73

Dostojewskij wirft genau dies seinen gebildeten Mitbürgern vor: Sie lügen sich die Wirklichkeit zurecht. Dieses Umlügen der Wirklichkeit sieht er in einem falschen Geschichtsbewusstsein begründet. Dies will er zurechtrücken. Er sieht allerdings nicht, dass er sich dabei selbst eine neue pseudologische Realität schafft. Um sich Russland als Großmacht mit Führungsanspruch in den Bereichen Politik, Kultur, Religion etc. zu beweisen, muss er Zuflucht zu 71 72 73

50

Baruzzi, S. 39. Baruzzi, S. 21. Baruzzi: Philosophie der Lüge, S. 36. Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. München ²1987, S. 78. Baruzzi zitiert neben Hannah Arendt auch Karl Jaspers, der in Von der Wahrheit (München 1983) von der „bodenlosen Beliebigkeit des Lügens“ spricht – ein Zustand, der letztlich in die Krankheit mündet (= die „Pseudologia phantastica“ der Psychopathologie).

einer neuen Lüge nehmen, eben seinem Verständnis russischer Wesensart mit der pointierten Gegenüberstellung von Volk und Bildungsbürger, beruhend auf seiner Lesart der Geschichte von Peter dem Großen an bis in die 1880erJahre und darüber hinaus (!) und sie als Wahrheit, bzw. Gewissheit darstellen! Dies geschieht mitunter sehr deutlich im Tagebuch eines Schriftstellers, aber nur sehr indirekt in seinen Romanen und Erzählungen. Die Gefahr pseudologischer Wirklichkeitskonstruktionen liegt in ihrer Funktion als wesentlicher Bestandteil dessen, was wir als Ideologie bezeichnen. Denn jede Ideologie muss sich notwendigerweise solcher Konstruktionen bedienen, die ihr Überzeugungskraft und den verführerischen Anschein einfacher Wahrheiten (= Gewissheiten) verleihen. Demgegenüber hilft auch nicht die Einsicht eines Einzelnen, wie die des zeitgenössischen russischen Schriftstellers Wladimir Scharow: „Wir sind wirklich keine Propheten. Wir wissen weder wen, noch wohin wir führen sollen ... Allzu viele unserer Vorgänger haben sich als falsche Propheten erwiesen, obwohl sie an ihre Offenbarung heilig geglaubt haben.“ 74

Diese Erkenntnis Scharows wird aber bei Weitem nicht von allen Kollegen geteilt. Ein auch im Westen nicht unbekannter Schriftsteller ist Wladimir Krupin, einst Mitglied der kommunistischen Partei, in den 1980er- und 90erJahren Mitglied des Vorstandes des russischen Schriftsteller Verbandes und Chefredakteur der Zeitschrift Moskwa. Sein Weltbild kann durch folgende Zitate aus einem seiner Aufsätze (1995) charakterisiert werden: „An Russland glauben bedeutet an Gott zu glauben … Die Herren Ausländer werden nie Russland begreifen … überhaupt sind wir für Ausländer nicht zu begreifen … Demokratie – das ist ein genial erdachtes inhumanes System … Die Welt konnte sich nicht bis auf die Höhe der russischen Kultur, der russischen Seele erheben, und hat sie daher zu sich herab, auf ihr Niveau gezogen, hat begonnen, sie im Geld zu ertränken und in der Laszivität.“ 75

Auch darin zeigen sich die Koordinaten eines pseudologischen Weltbildes! Wenn wir gegen den Hintergrund des bisher Gesagten einen Blick zurück auf Dostojewskij werfen, dann wird noch etwas deutlich. Auch er gewann seine Einsichten weniger aus einer Analyse der Gegenwart seiner Zeit, selbst wenn das Tagebuch eines Schriftstellers diesen Eindruck zu erwecken versteht, sondern vielmehr aus seinem Verständnis der Vergangenheit, aus der er die 74 75

Wladimir Scharow zit. in Karla Hielscher: Nach dem Ende des Literaturzentrismus. Zum Funktionswandel der russischen Literatur. (Vortragsmanuskript, 1997) V. Krupin: Slava Bogu za vse. Putevye zametki. In: Naš sovremennik, Nr. 1, 1995, S. 100–110; zitiert nach A. Lazari: Dostoevskij kak ideologičeskij avtoritet v političeskoj bor’be našich dnej. Gaming 1995, S. 12.

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maßgeblichen Komponenten für die Gestaltung des pseudologischen Raumes gewann, in dem er lebte. Dies wiederum projizierte er auf die Ereignisse des gegenwärtigen Lebens, was nach Doderer zu „einer pseudologisch gesetzten und daher wuchernden Umwelt“, mit anderen Worten zu einer „Dämonisierung“ der Wirklichkeit führte. Nach demselben Schema scheinen manche Diskussionen über Dostojewskij und, in Verbindung damit, die Zukunft Russlands zu verlaufen! Die Macht von Ideologien hat sich gerade im 20. Jahrhundert von der schrecklichsten Seite gezeigt. Die pseudologischen Wirklichkeitskonstruktionen, aus denen sie ihre Kraft bezogen, sind immer noch lebendig. Dostojewskij hat in seinen Werken die Bedeutung solcher Konstruktionen aufgezeigt, jedoch zugleich seinen Teil zu diesem Prozess der Manipulation der Wirklichkeit beigetragen. Die Gegenüberstellung dieses einflussreichen Autors des 19. Jahrhunderts mit der Realität des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts in Russland ist so doppelt erhellend. Dostojewskijs ideologisch beeinflusstes Denkmuster enthüllt seine über diesen Autor weit hinausreichende Bedeutung und erweist sich als ein immer noch wirksames Muster der Verdrängung unliebsamer Erkenntnisse. Doderer schrieb vor mehr als einem halben Jahrhundert: „Jede Phantasmagorie hinterlässt auch nach ihrer kritischen Desavouierung, welche den pseudologischen Raum wieder sprengt, eine Spur und einen Rest (wie alle je gefassten Vorstellungen und vollzogenen Gedankenbewegungen überhaupt). Diese Rückstände akkumulieren sich …“ 76

Und er sagt dazu, dass sie „die wieder erbaute Brücke der Wirklichkeit neuerlich verengen und den Verkehr auf ihr behindern...“. (T., S. 636) Dies lässt sich, wie ich meine, als durchaus treffende Beschreibung der intellektuellen Situation eines beträchtlichen Teils der Menschen in Russland bis heute verstehen, nämlich derer, die sich immer noch auf der oft fragwürdigen Suche nach einer nationalen Identität befinden.

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Doderer: Tangenten, S. 636.

Literaturverzeichnis: Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. München,²1987. Baruzzi, Arno: Philosophie der Lüge. Darmstadt 1996. Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. Unveränderter Nachdruck der 15. von Manfred Bleuler bearbeiteten Auflage. Berlin–Heidelberg–New York, Springer 1983. Doderer, Heimito von: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940– 1950. München, Biederstein 1964. Dostojewskij, Fedor M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. (= PSS.) Nauka, Leningrad, Bd. 21, 1980; Bd. 27, 1984. Fuchs, Marina: Die russische Nationalidee als Faktor im politischen Kampf für Reformen. Teil I und II. In: Osteuropa 43 (1993): S. 328–340 und 461– 472. Hielscher, Karla: Nach dem Ende des Literaturzentrismus. Zum Funktionswandel der russischen Literatur. (Vortragsmanuskript, 1997). Ignatow, Assen: Das postkommunistische Vakuum und die neuen Ideologien. In: Osteuropa 43 (1993), S. 311–327. Neuhäuser, Rudolf: Das Frühwerk Dostoevskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch. Carl Winter, Heidelberg 1979. Neuhäuser, Rudolf: Zum Verhältnis von Lüge und Wahrheit bei Dostojevskij. In: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk. (Hg. C. Dutt) Carl Winter, Heidelberg 1998. Rybak, Andrzej: Imperium der Popen. In: Die Woche (Hamburg), 18. Juli 1997, S. 23. Saltykow-Schtschedrin, Michail E. : Sobranie sočinenij. Bd.1. Moskau 1965. Scholl, Stefan: „SS-Uniformen sind so erotisch“. 500.000 Rechtsradikale im Land. In: Die Woche (Hamburg), 12. Juni 1998, S. 26–27. Simon, Gerhard: Zukunft aus der Vergangenheit. In: Osteuropa 45 (1995), S. 455–482. Simon, Gerhard: Auf der Suche nach der „Idee für Russland“. In: Osteuropa 47 (1997), S. 1169–1190. Tschabuschnigg, Adolf Ritter von: Buch der Reisen. Bilder und Studien aus Italien, der Schweiz und Deutschland. Pfautsch und Compagnie, Wien 1842. 53

Uhlig, Christiane: Die unendliche Suche Russlands nach seiner historischen Bestimmung. In: Osteuropa 45 (1995), S. 812–816. Uhlig, Christiane: Nationale Identitätskonstruktionen für sowjetisches Russland. In: Osteuropa 47 (1997), S. 1192–1206.

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ein

post-

3.

Zur Funktion von literarischen Quellen und Modellen bei Dostojewskij

In der Dostojewskij-Kritik existieren zwei Betrachtungsweisen, die einander gegenseitig auszuschließen scheinen: Der traditionellen Ansicht von Dostojewskij als Autor, der dem Leser eine philosophische und religiöse Botschaft vermitteln will, steht Bachtins Theorie der Polyphonie Dostojewskij’scher Texte gegenüber. Bachtin meint damit „Die Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewusstseine, die echte Polyphonie vollwertiger Stimmen“. 77 Bachtins These besagt, dass in Dostojewskijs Texten die Stimme des Autors nicht hierarchisierend und organisierend in die Dialoge der Romanfiguren eingreift, dass sie als „Autorenrede“ im traditionellen Sinn nicht vorhanden ist, deshalb auch das Stichwort „bezgolosie“ („Stimmlosigkeit“) für Bachtins Betrachtungsweise. Das Verhältnis von literarischer Figur und Autor wird in folgenden drei Aussagen Bachtins so umrissen: „… das Wort des Helden ... dient nicht dem Ausdruck der eigenen ideologischen Position des Autors ... Dem Bewusstsein des Helden, das alles in sich aufnimmt, kann der Autor nur eine einzige, objektive Welt gegenüberstellen – die Welt anderer ihm gleichberechtigter Bewusstseine ... Bei Dostojewskij steht das Wort des Autors dem vollwertigen und reinen Wort des Helden gegenüber.“ 78

Diese apodiktischen Formulierungen Bachtins bedürfen wohl einer Korrektur, da der Autor Dostojewskij nicht nur eine bestimmte ideologische Position einnahm, sondern sich auch stets darum bemühte, sie dem Leser weiterzugeben. So schrieb er 1860: „Die künstlerische Fähigkeit [chudožestvennost’] eines Romanschriftstellers besteht darin, die Idee seines Romans so deutlich auszudrücken, dass der Leser bei der Lektüre des Romans diese Idee ganz so versteht, wie der Autor sie verstanden hat, als er sein Werk schuf.“ 79

Diese Feststellung Dostojewskijs scheint eine andere Betrachtungsweise zu stützen, die sich mit der Bachtins schwer vereinbaren lässt. Danach überlagert die ideologische Position des Autors die des Helden, wodurch es zu einer Interferenz beider kommt. Dostojewskijs Texte sind demnach nicht nur eine Darstellung von gegebenen Bewusstseinpositionen, sondern zugleich

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M. Bachtin: Problemy poetiki Dostoevskogo. Leningrad 1929, S. 8., 2. Aufl., 1963. Dt. Probleme der Poetik Dostojewskijs. München, Hanser Verlag 1971, S. 10. M. Bachtin 1929, S. 9, 57, 68; Neuauflagen 1963, S. 7, 66, 75; 1971, S. 10, 55, 64. Vgl. Aufsatz: G-n -bov i vopros ob iskusstve.

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auch eine wertende Stellungnahme dazu seitens des Autors, die allerdings selten deutlich zu erkennen ist! Im Gegensatz zu Bachtin haben manche Interpreten, so besonders Philosophen und Theologen, schon immer Dostojewskijs Texte als Romane gelesen, in denen der Autor mehr oder weniger deutlich zum Leser spricht, d. h. in denen die Autorenstimme dominiert und die Handlung organisiert, wie auch Komarowitsch anlässlich der ersten, und Friedländer anlässlich der zweiten Ausgabe von Bachtins Buch festgestellt haben. 80 Es wäre demnach zu zeigen, auf welche Weise sich die „Stimme des Autors“ im Roman manifestiert, bzw. wie sie auch in der Rede der Personen der Handlung zum Leser spricht, was eine Differenzierung in der Analyse der Personenrede erfordert. Allerdings ist diese Aufgabe bislang nicht wirklich zufriedenstellend gelöst worden. Ein Autor, der seine Leser von der Richtigkeit seines ideologischen Standpunktes überzeugen will, benötigt dazu literarische Kunstgriffe, mittels derer er die Rezeption des Textes durch den Leser steuert. Solche Kunstgriffe, ich möchte sie rezeptionssteuernde Verfahren nennen, sind vor allem dann angebracht, wenn es gilt, den skeptischen oder möglicherweise anders denkenden Leser zu überzeugen. Der Autor ist gezwungen, mit Vorsicht und Subtilität vorzugehen. Die von ihm angewendeten rezeptionssteuernden Verfahren sind dann darauf angelegt, vor allem unterschwellig auf den Leser zu wirken. Im Gegensatz dazu liegt die Rezeptionssteuerung in der Prosa des 18. und frühen 19. Jahrhunderts meist klar zutage und wird bis zu einem bewusst gehandhabten Spiel mit dem Leser vorangetrieben. Beschränken wir uns hier darauf, grundlegende Möglichkeiten der Rezeptionssteuerung zu skizzieren. Will der Autor dem Leser etwas mitteilen, das Immanenz und Kontingenz der Erzählwelt übersteigt, dann ist das einfachste rezeptionssteuernde Verfahren die Einbeziehung einer Autoren- und Leserfigur in die Romanwelt. Ein fiktiver Autor spricht so im Text zu einem fiktiven Leser und teilt ihm seine wertende Stellungnahme mit. Wird der Leser aus dem Text verbannt, so geht der textinterne Dialog mit ihm verloren, bzw. verlagert sich auf eine Ebene, die im Text, beispielsweise in einer Personenrede, nicht mehr konkret vorliegt, sondern nur implizit erschlossen werden kann. Der fiktive Leser wird so zu einem impliziten Leser, zu einer im Text nicht mehr konkret dargestellten Komponente im Komplex der nun nicht mehr offen deklarierten rezeptionssteuernden Verfahren, in denen sich wei-

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Zu dieser Problematik s. auch bei Arpad Kovacs: Problema povestvovatelja i avtora romanov Dostoevskogo v sovremennoj sovetskoj poetike. In: Canadian-American Slavic Studies, XV, 4 (1981). Zu Kritik an Bachtin siehe: R. Wellek: Bakhtin’s View of Dostoevsky: „Polyphony“ and „Carnevalesque“. In: Dostoevsky Studies, 1 (1980).

terhin die Stimme des Autors äußert. Dasselbe geschieht in noch subtilerer Form, sobald sich auch der Autor aus dem Werk zurückzieht, obgleich er ebenso implizit präsent bleibt wie der Leser, selbst wenn auch er im Text nicht mehr konkret vertreten ist. 81 In diesen Texten, in denen Leser und Autor weder als solche noch in fiktionalisierter Form als Person vorhanden sind, muss das Repertoire rezeptionssteuernder Verfahren notwendigerweise erweitert und komplizierter werden. Wir können sagen, dass in dem Maß, wie durch das Verschwinden von Leser- und Autorenfigur im Text vordergründig die Polyphonie zunimmt, auch das Inventar rezeptionssteuernder Verfahren wächst, durch die sich die Stimme des Autors Gehör im Text verschafft. Dies wird allerdings davon abhängen, inwieweit der Autor einen bestimmten ideologischen Standpunkt in der von ihm geschaffenen Romanwelt zur Geltung bringen möchte. Welches sind nun die wichtigsten rezeptionssteuernden Verfahren der Dostojewskij’schen Texte? Aus der Vielfalt, der von Dostojewskij angewandten Verfahren soll hier eines herausgegriffen werden, wobei am Rande ein zweites, Dostojewskijs Gebrauch der Ironie, Erwähnung finden soll. Vorerst zur Verwendung von literarischen Allusionen, hier verstanden im weitesten Sinn als literarische Anspielung oder Übernahme im Bereich von Genre, Sujet, Motiv, Person und Namensgebung. Diese literarischen Allusionen erscheinen: 1. im Sinne eines an den Leser gerichteten Verweises als Teil eines quasiobjektiven Erzählberichtes, oder sie manifestieren sich im Bereich der Textgestaltung; manchmal finden wir sie auch an einer marginalen, scheinbar wenig bedeutungsvollen Stelle der Personenrede; 2. Sie sind Teil der Rede einer Person, deren Charakterisierung sie zu dienen scheinen. In jedem Fall lassen sie sich von der textimmanenten Ebene der Rezeption auf eine metatextliche Ebene transponieren und als impliziter Kommentar des Autors verstehen, in dem er seine Intention kundtut und auf seinen ideologischen Standpunkt verweist. Wenden wir uns einigen Beispielen aus der ersten Gruppe solcher rezeptions-steuernder literarischen Allusionen zu, die zum Bereich der Textgestaltung gehören. In seinem Schaffen vor 1849 hat sich Dostojewskij bei der Gestaltung seiner Texte immer wieder an Genremodellen orientiert, die der literarischen Tradition des 18. bzw. des frühen 19. Jahrhunderts angehören. So wurde der Roman Arme Leute als sentimentaler Briefroman geschrieben. Den Doppelgänger konzipierte Dostojewskij in der Erstfassung als pikaresken Roman,

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Eine Untersuchung verschiedener Lesertypen in bezug auf Dostojewskij liegt vor in Robin Feuer Miller: Dostoevsky and The Idiot. Author, Narrator, and Reader. Harvard University Press 1981.

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wie er in der sentimental-romantischen Trivialliteratur des 18. Jahrhunderts zu finden war, und die Weißen Nächte (eigentlich schlaflose Nächte, abgeleitet vom frz. „les nuits blancs“) zeigen einen, wenn auch nur vagen Anklang an die Erzählungen aus 1001 Nacht, auf die im Text angespielt wird. Wenn wir diese Genreformen hier als Modelle ansprechen, dann nicht im Sinne eines damit verbundenen Gestaltungsprinzips – Dostojewskij möchte keineswegs den sentimentalen Briefroman oder den pikaresken Roman neubeleben –, sondern vielmehr als Ausfluss des Selbstverständnisses der jeweiligen Hauptfigur, die von Dostojewskij sozusagen als „Autor“ der Texte gesehen wird und diese aus ihrem Selbstverständnis heraus nach bestimmten von ihr rezipierten literarischen Modellen gestaltet. Die Wahl des Genremodells lässt sich so als auktorialer Kommentar zur Art der Selbstverwirklichung des Helden verstehen: Makar Devuschkin sieht sich selbst, ohne sich dessen bewusst zu sein, in Analogie zum Helden eines sentimentalen Briefromans. Goljadkins Selbstverständnis wird, wiederum ohne dass es dem Helden bewusst wäre, vom Modell des pikaresken Romans bestimmt und der Träumer der Weißen Nächte schließlich flüchtet in eine Traumwelt, die einen märchenhaften Charakter trägt. In allen Fällen lässt sich die Wahl des Genres direkt als auktorialer Verweis auf die hinter den Figuren stehende, ihnen selbst jedoch in der Regel unbewusste Problematik verstehen. Im Werk Dostojewskijs vor 1849 sind Allusionen an Bibelstellen zwar spärlich, aber dennoch feststellbar. Da die Frage der Bedeutung religiöser Vorstellungen beim jungen Dostojewskij oft aufgeworfen und unterschiedlich beantwortet wird, haben solche Allusionen eine besondere Signifikanz. Die beiden folgenden Episoden können vordergründig als Persiflage biblischer Szenen betrachtet werden: Der Judas-Kuss im Doppelgänger, den Goljadkin im Schlusskapitel von seinem Doppelgänger erhält, lässt sich als auktorialer Verweis auf die dem Text zugrunde liegende Thematik vom Verrat Goljadkins an der Welt echter Werte verstehen. 82 Indem sich Goljadkin aus karrieristischen Motiven jenen falschen Wertvorstellungen zuwendet, die – wie die Kritik der zeitgenössischen Zivilisation bei Fourier beispielsweise zeigt – die Gesellschaft prägen und sich in der Person des Doppelgängers schließlich konkret manifestieren, begeht er Verrat an jenen wahren Werten, die als Idealvorstellungen vom Wahren, Schönen und Guten in der Romantik und im Idealismus angelegt sind und von Gojadkins wachem Ich vertreten werden. Im „Liebesmahl“, im zweiten Kapitel des zweiten Teils der Erzählung Die Wirtin wird ein etwas verfremdetes Bild des christlichen Sakra-

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Albert Kovacs: O smysle i chudožestvennoj strukture povesti Dostoevskogo „Dvojnik“. In: Dostojewskij. Materialy i issledovanija. Bd. 2, Leningrad 1976.

ments der Kommunion zum Träger der sozialutopischen Botschaft von der brüderlichen Liebe als Fundament einer neuen Gesellschaftsordnung, einer Botschaft, aus der die Stimme des Autors zu uns spricht. Katerina deckt den Tisch mit einem goldgewirkten Tuch und schenkt in silbernen Bechern Wein aus, um auf „Liebe und Eintracht“ zu trinken. In Katerinas märchenhaft verfremdeter Sprache: „Doch jeder von Euch ist mir gleichermaßen lieb, jeder ist ein lieber Freund und so sollen alle auf Liebe und Harmonie trinken!“ Im selben Werk wird vom Helden gesagt, dass seine Leidenschaft die Wissenschaft (nauka) sei. Es wird weiter erwähnt, dass der jugendliche Held Ordynow an einem Werk arbeite, das mit einer Geschichte der Kirche zu tun habe. Der Begriff Wissenschaft lässt sich hier, betrachtet man ihn als rezeptionssteuernden Verweis, leicht aus dem Kontext der Zeit erklären, war es doch unter den russischen Vertretern des utopischen Sozialismus im Kreise Petraschewskijs üblich, vom utopischen Sozialismus als der Wissenschaft zu sprechen. So formulierte es Dostojewskijs Freund Pleschtschejew in einem bekannten Gedicht aus den 40er-Jahren: „Möge unser Bund im Zeichen der Wissenschaft gedeihen ...“ Kaschkin, ein Petraschewze, zitierte noch auf dem Schafott eine Zeile aus demselben Gedicht: „Wir schritten im Zeichen der Wissenschaft …“ 83 Diese Deutung des Begriffes lässt sich unschwierig mit dem „Werk“ des Helden, auf das im Text der Wirtin angespielt wird, verbinden. Es ist anzunehmen, dass Ordynow als utopischer Sozialist so wie seine französischen und deutschen Vorbilder, dazu gehörte neben Fourier und anderen Frühsozialisten auch die liberale Tübinger Schule der Theologie im zeitgenössischen Deutschland, an einer Kritik des etablierten Christentums arbeitete. Eine weitere Allusion, die allerdings so vage ist, dass offen bleiben muss, ob man hier tatsächlich von einer literarischen Allusion sprechen kann, findet sich im Traum Ordynows im 2. Kapitel des 1. Teils der Erzählung. Dieser Traum des Helden enthält eine Vision, die Anklänge an die Traumdichtung Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (1796) zeigt. Jean Paul beschreibt darin das Universum als: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!“ Ordynows Vision liest sich wie eine Paraphrase der zitierten Worte Jean Pauls: Ordynow träumt, „wie endlich sein Geist nicht wesenlose Gedanken erzeugt, sondern ganze Welten, ganze Schöpfungen, – wie er, einem Stäubchen gleich, in all dieser endlosen, seltsa-

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Rudolf Neuhäuser: The Landlady: A New Interpretation In: Canadian Slavonic Papers, X, 1 (1968); Vgl. R. N.: Das Frühwerk Dostojewskijs. Heidelberg, Carl Winter 1979, S. 51–56 und S. 176–189.

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men Welt ohne die Möglichkeit eines Entrinnens umher getragen wurde und wie dieses ganze Leben mit seinem rebellischen Despotismus ihn bedrängte und bedrückte und mit steter, endloser Ironie verfolgte; er fühlte, wie er starb und in Staub und Asche zerfiel, auf ewig, ohne Auferstehung; er wollte entfliehen, aber es gab im ganzen Weltall keinen Winkel, wo er sich hätte verbergen können.“

Diese Vision ist Teil des Traums, in dem die Gestalt des „Alten“, ein verfremdetes, ins Mythologische gehobenes Bild des dämonischen Murin, als unheilvoller Einfluss auf den heranwachsenden Helden dargestellt wird. Falls die Deutung Murins als Symbol negativer nationaler Traditionen, insbesondere einer in ritualistischer Frömmigkeit erstarrten Religiosität, von der ganz Russland beherrscht wird, zutrifft, dann bedeutet der Verweis auf Jean Pauls Traumdichtung wohl, dass der „tote Christus“ eben dort in dieser Welt zu finden ist, die von Murin beherrscht wird. Neben Allusionen, die Teil des Erzähltextes sind, stehen andere, die wie im Falle der Wahl des Genres, dem Bereich der Textgestaltung zuzurechnen sind. Dazu gehört auch die raumzeitliche Anordnung der Handlung, die dem Autor die Möglichkeit bietet, gewissen Ereignissen signifikante zeitliche oder räumliche Koordinaten zu geben. Als Beispiel dafür sei auf die Symbolik der Auferstehung Christi von den Toten im Roman Die Erniedrigten und Beleidigten verwiesen. Dostojewskij hat die Handlung zeitlich so organisiert, dass die Erfahrung eines im höchsten Grad intensivierten Leids, dazu gehören Ichmenjews aus Stolz verdrängte Sehnsucht nach seiner Tochter Natascha und deren Erkenntnis, dass Aljoscha ihr endgültig verloren gegangen ist; auch Nellys Erkenntnis, dass ihre adoleszente Liebe zu Iwan Petrowitsch keine Erfüllung finden kann, was mit der Karwoche zusammenfällt. In der Nacht zum Ostersonntag vollzieht sich die große Wende: Nelly wendet sich von ihrer egoistischen Leidenschaft ab, Ichmenjew überwindet seinen Stolz und verzeiht seiner Tochter, Natascha kehrt ins Elternhaus zurück. Dostojewskijs Verweis auf das Osterfest hebt diese Ereignisse aus der Zufälligkeit der Kontingenz und verleiht ihnen eine prinzipielle Bedeutung. Wiederum vernehmen wir in dieser rezeptionssteuernden Anordnung entlang der Zeitachse die Stimme des Autors. Das letzte Beispiel in dieser Gruppe rezeptionssteuernder Allusionen bedarf einer kurzen Einleitung, in der wir auf ein weiteres rezeptionssteuerndes Verfahren, Dostojewskijs Gebrauch der Ironie, zu sprechen kommen. In einigen seiner Texte verwendet Dostojewskij einen ironisch verfremdeten Stil, dem wir erstmals in den vier Feuilletons aus dem Jahr 1847 und dann in den Burlesken Die fremde Frau und Der eifersüchtige Gatte begegnen. Nach Sibirien finden wir diesen Stil wiederum in der Einleitung zu den Aufzeichnungen aus einem toten Haus, in den Winterlichen Aufzeichnungen zu sommerlichen Eindrücken und in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Als 60

Illustration verweise ich auf die Einleitung des Eifersüchtigen Gatten. Dort lesen wir: „Ich verstehe nicht, ganz entschieden verstehe ich nicht, weshalb ich es so liebe, über eheliches Glück zu sprechen und zu schreiben, habe ich doch anscheinend nichts damit zu tun ...“

Dechiffriert ist dieser Text so zu lesen: „Ich verstehe sehr wohl, was es mit dem so genannten ehelichen Glück auf sich hat und empfinde es als meine Pflicht, darüber zu sprechen und zu schreiben ...“, d. h. Dostojewskij sagt vordergründig etwas, was eigentlich ganz anders zu verstehen ist. Wenn wir uns die hier nur auszugsweise zitierte Textstelle in ihrem ganzen Umfang ansehen, dann erkennen wir deutlich, dass Dostojewskijs Ironie auf Wiederholung und Emphase beruht, in denen der sprachliche Ausdruck sich steigert und bis an die Grenze der Absurdität reichen kann. Ganz ähnlich verhält es sich in der Einleitung zu den Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Aus der Perspektive der im weiteren Text der Aufzeichnungen gemachten Äußerungen über die leichte Verfügbarkeit von Damen zweifelhafter Moral bekommt die folgende Stelle aus der Einleitung wiederum einen ironischen Unterton: „Die jungen Damen blühen wie die Rosen und sind äußerst tugendhaft. Das Federwild fliegt durch die Straßen und geradewegs auf den Jäger zu.“ Die Vergleiche mit „Rosen“ und „Federwild“ sind emphatische Steigerungen, die darauf schließen lassen, dass im ironischen Stil des Autors die Bewertung „äußerst [!] tugendhaft“ eher gegenteilig zu verstehen ist. Die absurde Feststellung über das „Federwild“ deutet auch auf den später im Text geschilderten Sachverhalt hin. In den beiden zitierten Beispielen wird mit verhältnismäßig großem Aufwand ein vom Autor vordergründig vorerst verschwiegener Sachverhalt mittels eines ironisch verfremdeten Stils, der nicht unbedingt als solcher von jedem Leser zu erkennen ist – der naive Leser wird das Gesagte für bare Münze nehmen – dem aufmerksamen und gewitzten Leser mitgeteilt. In den Kapiteln 1 bis 5 der Winterlichen Aufzeichnungen verwendet Dostojewskij durchgehend dieses Verfahren und spricht damit zugleich beide Lesertypen an, wobei er seine auktoriale Intention vorerst dem naiven Leser verschweigt, sie aber mittels seines ironischen Stils dem gewitzten Leser mitteilt. Der naive Leser wird erst langsam und vorsichtig an die Thematik herangeführt. Erst im fünften Kapitel der Winterlichen Aufzeichnungen enthüllt Dostojewskij auch dem naiven Leser seine Intention und spricht von da ab offen zu seinem Thema: dem Verfall westlicher Kultur am Beispiel der Großstädte Paris und London und dem moralischen Verfall am Beispiel des französischen Bourgeois. Im Rahmen dieser Untersuchung wird deshalb auf die rezeptionssteuernde Funktion der Ironie in den Aufzeichnungen verwiesen, da erst gegen den Hintergrund dieses Verfahrens deutlich wird, wie der 61

Autor mittels einer literarischen Allusion denselben Effekt einer Steuerung der Rezeption auf sehr viel knapperem Raum als mittels ironischer Verfremdung erzielen kann. Das zeigt das folgende Beispiel einer literarischen Allusion. Im ersten Kapitel der Aufzeichnungen wird Europa als das „Land der heiligen Wunder“ apostrophiert, eine Wendung, die ein naiver Leser wohl im wörtlichen Sinne auffasst, er wird sich in seiner Voreingenommenheit bestätigt finden. Dostojewskij hat hier den typischen Westler, den oberflächlichen Verehrer westlicher Zivilisation im Auge, den er vorerst noch nicht mit seinen Ansichten konfrontieren will. Der gewitzte Leser, dem der Autor seine Intention bereits kundtun möchte, wird bei der Lektüre dieser Phrase an ein Gedicht Chomjakows denken, dem dieser Ausdruck entnommen ist („Ein Traum“/„Mečta“, 1834). Der gewitzte Leser wird auch wissen, dass Chomjakov mit seiner Wendung das Europa einer fernen Vergangenheit meint. Vom zeitgenössischen Europa spricht der Dichter im selben Gedicht ganz anders: „Dieses Zeitalter ist vergangen und ein todbringender Schleier verhüllt den Westen ganz. Dort wird tiefe Dunkelheit sein ...“ Dies deckt sich mit Dostojewskijs negativer Einschätzung des Westens, die dem naiven Leser aber noch bis zum fünften Kapitel verborgen bleibt. Aus den Schlussworten von Chomjakovs Gedicht erhellt sich übrigens auch Dostojewskijs utopisches, slawophiles Anliegen: „Erhebe dich in neuem Glanz, erwache, schlummernder Osten!“ Damit hat Dostojewskij den gewitzten Leser bereits im ersten Kapitel der Aufzeichnungen sowohl auf seine Absicht einer Kritik westlicher Zivilisation wie auch auf seine utopische Zukunftsvision mit nur drei Worten („strana svjatych čudes“/„Land heiliger Wunder“) hingewiesen! Dieses Beispiel zeigt wiederum eindrucksvoll die Meisterschaft des Autors in der Handhabung der rezeptionssteuernden Funktion literarischer Allusionen und sollte den Leser Dostojewskij’scher Texte für dieses nicht immer leicht zu erkennende Verfahren sensibilisieren. Die bisher angeführten Beispiele gehören entweder in den Bereich der Textgestaltung, oder aber sie stammen aus dem Erzähltext selbst. Daneben gibt es zahlreiche literarische Allusionen, die ausdrücklich personenbezogen sind und nur indirekt im Sinne der rezeptionssteuernden Funktion die Stimme des Autors wiedergeben. Hier ist auch auf die bahnbrechende Arbeit von Viktor Vinogradov zum jungen Dostojewskij hinzuweisen, die in einer Neuauflage zugänglich ist. 84 Vinogradov hat gerade die literarische Allusion in Dostojewskijs erstem Roman Arme Leute ausführlich in Bezug auf die Hauptpersonen der Handlung,

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V. V. Vinogradov: Izbrannye trudy. Poetika russkoj literatury (Škola sentimental’nogo naturalizma. Roman Dostoevskogo ‘Bednye ljudi’ na fone literaturnoj evoljucii 40-ch godov). Moskau 1976.

Makar Dewuschkin und Warwara (Warenka) Dobroselowa analysiert. Er hat als einer der ersten ausdrücklich Dostojewskijs Ausspruch „Mein Gesicht habe ich nicht gezeigt“ („moej rožy ne pokazyval“) 85 ernst genommen und dargelegt, dass literarische Wertungen und literarische Allusionen in diesem Roman primär der Charakteristik der Person dienen, deren Wesen auf diese Weise dem Leser einsichtig gemacht wird. Zum Verständnis der Vinogradov’schen Interpretation und der Kritik daran ist es nötig, auf die Bedingungen der Rezeption der Romanfiguren durch den Leser näher einzugehen. Dem soll der folgende kurze literaturtheoretische Exkurs dienen. Die Rezeption eines Erzähltextes kann von verschiedenen Instanzen im Text ausgehen. In seinem Bemühen, dem Text einen Sinn abzugewinnen, wird der Leser vor allem versuchen, die Bedeutungsposition der Personen der Handlung zu erfassen. Nun entwirft eine literarische Person – von Randfiguren sei hier abgesehen – in ihrer Rede ein subjektives Bild von sich, das ihrem eigenen Selbstverständnis entspricht. Dies bestimmt den Eindruck bzw. das Bild, das der Leser als erstes bei seiner Lektüre des Textes aufnimmt. Wir können dieses Bild das subjektive Personenbild nennen. Außerhalb des Selbstverständnisses der Figur stehen alle jene Charakterzüge, die sich, der Figur selbst unbewusst, in ihrer Rede und ihrem Gehaben kundtun. Die Person steht außerdem in Relation zu anderen Personen, deren Rede und Reaktionen das subjektive Personenbild modifizieren. Aus all dem entsteht ein quasiobjektives, aber textimmanentes Personenbild, welches das subjektive Personenbild bestätigt, korrigiert oder ergänzt. Der Leser kann sich vom subjektiven Personenbild lenken lassen, er kann sich aber darüber hinaus auch am textimmanenten Personenbild orientieren, indem er, wie schon angedeutet, verschiedene Wertungen von Personen und Personengruppen, einschließlich des Erzählers und das Agieren der Person selbst im Text zur Selbstbewertung dieser Person in einen Bezug setzt. Das bedarf allerdings einer gewissen analytischen Energie seitens des Lesers. Der aufmerksame Leser wird dies tun. Durch rezeptionssteuernde Verfahren wie dem der literarischen Allusion kann der Autor sowohl das subjektive Personenbild wie auch das textimmanente Personenbild relativieren und dahinter ein umrisshaftes, mit vielen Leerstellen (Unbestimmtheitsstellen) behaftetes Personenbild durchscheinen lassen, das als Ausdruck der Stimme des Autors zu werten sein wird, das man auch als metatextliches Personenbild bezeichnen könnte. Der aufmerksame Leser/Interpret wird sich an allen drei Instanzen orientieren, sodass das subjektive Personenbild durch das textimmanente und dieses wieder durch

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Ausspruch Dostojewskijs über seinen ersten Roman in einem Brief an seinen Bruder Michail vom 1. Feb. 1846.

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das metatextliche Personenbild ergänzt und korrigiert wird. Erst aus der Erkenntnis der Relation dieser drei Stufen des rezeptorischen Erkenntnisprozesses kann die Stimme des Autors und damit die Intention des Autors erschlossen werden! Zwei Fehlverhalten des Lesers und Interpreten sind dabei möglich: Der naive Leser/Interpret wird dazu neigen, das subjektive Personenbild direkt als Ausdruck auktorialer Wertung zu verstehen. Das hieße beispielsweise, dass Makars Bewertung von Gogols Erzählung Der Mantel in den Armen Leuten mit der des Autors Dostojewskij identisch wäre. Dagegen richtete sich u. a. Vinogradovs Essay. Der Leser/Interpret kann aber auch das quasiobjektive, aber textimmanente Personenbild als Ausdruck der Stimme des Autors verstehen. In manchen Fällen mag dies legitim sein, für die Texte Dostojewskijs allerdings kann es zu Fehlinterpretationen führen. Auch Vinogradov bleibt beim textimmanenten Personenbild stehen, und stellt sich nicht der Frage, ob der Autor in der Rede der Personen nicht vielleicht Hinweise für den Leser eingefügt hat, die auf sein (= des Autors!) Verständnis der Person verweisen. Die sentimentalen Bezüge in der Rede Makars und Warenkas, die auffälligsten Kennzeichen des textimmanenten Bildes beider Personen, werden von Vinogradov nicht hinterfragt und als direkter Ausdruck des humanistischen Anliegens des Autors gewertet. Die Ausstattung der Helden mit charakteristischen Motiven der sentimentalen Literatur wird für Vinogradov so zum wichtigsten Verfahren dessen, was er „vyrabotka sloga ,očelovečennogo‘ činovnika“ („die Ausarbeitung des Stils des ‚vermenschlichten‘ Beamten“) nennt. Daraus leitet Vinogradov seine Einschätzung von Dostojewskijs Romane als „soziale und ideologische Novellen“ („social’noideologičeskie novelly“) ab, in denen das humanitäre Anliegen des Autors, eben „die Vermenschlichung des armen Beamten“ („očelovečenie bednogo činovnika“), im Vordergrund stehe. Aus der Sicht meiner Darstellung geht es Dostojewskij allerdings um eine viel weiter gehende Thematik, auf die er mittels literarischer Allusionen verweist, wodurch auch das textimmanente Personenbild relativiert wird und seinerseits einer Korrektur oder Ergänzung bedarf. Die literarischen Allusionen in der Rede Makars und Warenkas führen so zu einem in Bezug auf den Autor und seinen Entwurf der Person zu dem objektiven, metatextlichen Personenbild, das dem vom Autor intendierten Verständnis der Person entspricht. So lesen wir in Makars erstem Brief, dass er Stil und Stoff seines Briefes aus einem Büchlein übernommen hätte. Wenig später zitiert er eine Gedichtzeile aus seiner Vorlage. Der literarisch gebildete Leser der Zeit wird darin einen Verweis auf Lermontows Gedicht Sehnsucht (Želanie) erkennen, in dem Lermontow seiner

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Sehnsucht nach dem Land seiner Ahnen im fernen Schottland Ausdruck gibt. 86 Lermontows Schlussfolgerung, die wert ist, wörtlich zitiert zu werden, lautet: „Ich wurde hier geboren, bin aber kein Hiesiger in meiner Seele.“ Sie soll auch für Makar gelten, der wohl wie der Autor des Gedichts in Russland geboren wurde, dessen geistige Heimat aber im Westen liegt, lebt er doch ganz und gar von den Idealen der westeuropäischen sentimentalen Romantik, auf die immer wieder im Roman verwiesen wird. Damit eröffnet sich uns ein Einblick in die Thematik, die das metatextliche Personenbild bestimmt: Es geht Dostojewskij bei seinem Helden um den durch die Lektüre romantischer und idealistischer Werke verbildeten Menschen, dessen Verhalten von literarischen Klischees bestimmt wird. Dies ist eine Thematik, die nicht nur im Russland der 40er-Jahre aktuell war, sondern auch autobiografisch verwurzelt ist, hat doch Dostojewskij selbst anhand seiner Lektüre die Evolution der Literatur vom Sentimentalismus zur Romantik nachvollzogen und ähnlich den Autoren des Jungen Deutschlands bzw. des Vormärz versucht er Bilanz zu ziehen und die Bedeutung der sentimental-romantischen Lektüre, vor allem in der Form, wie sie den einfachen Leser erreichte und dessen Leben beeinflusste, zu schildern. Der Zusammenhang zwischen sentimental-romantischer Lektüre vornehmlich westlicher Herkunft, wobei in den Armen Leuten BestuschewMarlinskijs ultraromantische Prosa und im Doppelgänger ein originalrussischer pikaresker Roman von Komarowitsch als russisches Äquivalent dieser Literatur hinzukommen, wird am deutlichsten im Doppelgänger offengelegt. 87 Dort finden wir Anspielungen auf die „entsetzlichen deutschen Dichter und Romanciers“, und französische Bücher: „In denen steckt Gift, verderbliches Gift, mein Fräulein“. Ihre Lektüre bestimmt Goljadkins Ausdrucksweise. Louvet de Couvrays Roman Les amours du chevalier du Faublas wird als ein Beispiel dafür im Text des Doppelgängers angeführt. Der sentimental-romantische Stil prägt den fiktiven Brief, den Goljadkin von seiner Geliebten Klara erhalten hat, wie er meint, der aber in Wirklichkeit ein Produkt seiner eigenen kranken Fantasie ist, wie der aufmerksame Leser errät. Dieser Brief verwandelt sich im Bericht Goljadkins in ein Fläschchen „Medizin“, als dunkelrote, widerliche Flüssigkeit geschildert, die ihm Dr. Rutenspitz, der Arzt mit den Attributen Satans, anderntags verschrieben hatte. Schon diese Zusammenhänge, erkennt man sie erst als solche, üben im Text eine rezeptionssteuernde Funktion aus. Die sentimental-romantische westliche Literatur und ihre russischen Nachahmungen, auf die im Text wie-

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R. Neuhäuser: Das Frühwerk…, S. 52 u. 55ff. Ibid., S. 59ff.

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derholt angespielt wird, erscheinen so als höllisches Blendwerk, das die Fantasie des kleinen Mannes, ihres Konsumenten, mit erotisch gefärbten Bildern fesselt und seine Verhaltensweise bestimmt. Auf den drei Rezeptionsebenen erhalten wir ein jeweils anderes Bild des Helden: Goljadkin selbst sieht sich als edler, vornehmer, von Idealen bestimmter Mensch, der einerseits Karrierismus und Manipulation, andererseits aber auch sentimental-romantisches Gehaben von sich weist. Das textimmanente Personenbild ergänzt die Selbstdarstellung Goljadkins mit einer weiteren Dimension, eben dem „wahren“ Charakter Goljadkins als eines „gespaltenen“ Menschen, der in Wahrheit von eben diesen gerade genannten Aspekten, die er selbst von sich weist, bestimmt wird. Durch die rezeptionssteuernde Funktion literarischer Allusionen weist Dostojewskij den Leser darüber hinaus auf ein metatextliches Bild des Helden hin, in dem sich die Stimme des Autors vernehmen lässt: Goljadkin als der von westlicher und russischer sentimental-romantischer Literatur verbildete Mensch. Ähnlich ist es bei Makar, der allerdings im Gegensatz zu Goljadkin die sentimental-romantische Literatur als solche nicht wahrnimmt. In seinem Selbstverständnis gibt es nur die Poesie und die Prosa, die beide „gut“ oder „schlecht“, „wahr“ oder „unwahr“, bzw. „verleumderisch“ sein können. Erst auf der Ebene des textimmanenten Personenbildes erkennt der Leser, dass Makars Selbstverständnis, dem der Helden der sentimentalromantischen Literatur gleicht. Dostojewskijs rezeptions-steuernde Verweise erschließen dem Leser ein darüber hinausreichendes Verständnis, eben das metatextliche Personenbild, das die verborgene Intention des Autors enthüllt, der dem Leser in Makar das von literarischen Schablonen bestimmte Bewusstsein vorführt. Daraus ergibt sich auch der Sinn von Makars Wertungen literarischer Texte, vor allem von Puschkins Stationsvorsteher und Gogols Mantel. Beide Texte sind für Makar modellhafte Vorlagen für die eigene Lebensgestaltung und Lebensbewältigung. Aus dieser Sicht heraus setzt sich Makar mit ihnen auseinander und kann gar nicht anders, als sie gründlich misszuverstehen. Er liest den Stationsvorsteher als sentimentalen Text, obgleich ihn Puschkin als Parodie auf ein viel verwendetes sentimentalromantisches Sujet geschrieben hat und ist bei der Lektüre des Mantels empört, da er die sentimental-romantischen Klischees vermisst. In seinem Brief fügt er selbst in einer Umformung der Gogol’schen Geschichte das passende Ende hinzu! Dahinter steht das metatextliche Bild, das von der Intention des Autors bestimmt ist und sie uns enthüllt. Der Verweis auf Puschkins Postmeister deutet so auch an, dass das sentimental-romantische Verständnis des Vater-Tocher Verhältnisses seitens des Postmeisters dem Selbstverständnis Makars entspricht, der sich als „väterlicher Freund“ von Warenka versteht. Makar sieht aber nicht die realistische Lösung des Konflikts bei Puschkin, der zeigt, dass das Leben nicht unbedingt den sentimental-romantischen Kli66

schees entsprechen muss. Die Tochter des Postmeisters hat tatsächlich ihr Glück an der Seite ihres Entführers, bzw. Verführers, gefunden und die „böse Tat“ der Entführung hat sich nicht an ihr gerächt. Am Beispiel der Korrektur der Sicht des Postmeisters durch Puschkin wird der Leser somit aufgerufen, die Sicht Makars, die von eben den angelesenen sentimentalromantischen Klischees bestimmt wird, gegen die sich Puschkin wendet, in analoger Weise zu berichtigen! Ähnliches gilt für Makars Interpretation des Mantels. Seine sentimental-romantische Selbsteinschätzung bedingt die Unfähigkeit, Charakter und Schicksal des kleinen Beamten in Gogols realistischer Manier zu sehen, da dahinter eine von Makar zurückgewiesene Realität steht. Auch hier ergibt sich so als auktoriale Intention die Kritik an der sentimental-romantischen Lektüre und dem dahinter stehenden Weltbild. Dieses Verständnis der auktorialen Intention deckt sich mit dem ähnlichen Anliegen der jungdeutschen Literaten, die schon etwa zehn Jahre vor Dostojewskij die sentimental-romantische und idealistische Epoche, Heines Kunstperiode, kritisiert und verdammt hatten. 88 Zugleich wird damit Vinogradovs Darstellung berichtigt, der in seiner Studie wohl die parodistischen Verzerrungen sentimental-romantischer Elemente in den Armen Leuten auf ihre literarische Quellen rückbezogen und in ihrer primären Rolle als Ausfluss der Persönlichkeit der Helden erkannt hat, aber die innertextliche Bedeutung der sentimental-romantischen Textkomponente allzu direkt mit der Stimme des Autors identifiziert hatte, indem er sie eben geradlinig als Ausdruck des humanistischen Weltverständnisses des Autors missverstand. Hier greift das ideologische Vorverständnis des Interpreten Vinogradov störend ein, der von Belinskijs Verständnis der Dostojewskij’schen Texte als soziale Romane und den darauf gründenden Anschauungen ausgeht. Dass diese Interpretation der Stimme des Autors in den Armen Leuten und im Doppelgänger nicht unberechtigt ist, wird durch zwei Texte Dostojewskijs bestätigt, die zwei bis drei Jahre später im Druck erschienen: Weiße Nächte (Dezember 1848) und Netotschka Neswanowa, 3. Teil (Frühjahr 1849). In beiden enthüllt Dostojewskij dann nicht mehr allein mittels literarischer Allusionen sein Anliegen, sondern lässt seine Figuren im Text dazu offen Stellung nehmen. So bezeichnet der Träumer der Weißen Nächte die „märchenhafte, fantastische Welt“, die er sich als Folge seiner Lektüre sentimental-romantischer Literatur geschaffen hat, mit den Worten 88

Vgl. R. Neuhäuser: Romanticism in the Post-Romantic Age: A Typological Study of Antecedents of Dostoevsky’s Man from Underground. In: Canadian-American Slavic Studies VIII, 3 (1974); Ders.: Zur Kritik der romantisch-idealistischen Epoche im Frühwerk F.M. Dostojewskijs. In: Opuscula slavica et linguistica. Festschrift für A. Issatschenko. Klagenfurt, Heyn 1976.

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Dostojewskijs aus dem Doppelgänger, als „eine Dosis eines raffinierten, süßen Gifts“. Und Netotschka Neswanowa legt im dritten Teil des gleichnamigen unvollendeten Romans sogar die Genese der literarischen Fantasie dar. 89 Stellt man diese Teile des Personentextes mit den literarischen Allusionen zusammen, dann wird man auch hier die Stimme des Autors vernehmen, der einen Teil seines eigenen Lebenshorizontes dem Text mitgegeben hat. In den Werken nach Sibirien lässt sich weiterhin der Komplex Sentimentalismus–Romantik–Idealismus, d. h. die so genannte Kunstperiode verfolgen, allerdings in einer für Dostojewskijs gewandelte Gesinnung charakteristischen Variante. Die von ihm vor 1849 positiv gewerteten ideologischen Komplexe des christlich-utopischen Sozialismus und politischen Liberalismus werden nun als Auswüchse des sentimental-romantischen und idealistischen Weltbildes gesehen. Dies geht soweit, dass Dostojewskij in den 60erund 70er-Jahren auch den Nihilismus und Anarchismus als direkte Konsequenz des Idealismus bezeichnet, der für ihn selbst ein Produkt der sentimental-romantischen Epoche ist. 90 Literarische Allusionen spielen weiterhin eine bedeutsame Rolle als Mittel zur Steuerung der Rezeption. Wir finden sie in großer Zahl in Onkelchens Traum, einem Roman, der üblicherweise in der Kritik als nicht gelungen bezeichnet wird, aber gerade in Hinsicht auf die ideologische Entwicklung des Autors besonders interessant ist. 91 Der Charakter des jugendlichen Bösewichts Mosgljakow wird mit einer Fülle von solchen Verweisen umrissen. Dazu gehören Gogols Chlestjakow, wie auch Tschitschikow, dessen Vornamen der Held trägt, Heine und der spätromantische Dichter Fet. Die Begegnung Mosgljakows mit Sinaida im Epilog des Romans verweist auf den Epilog in Puschkins Eugen Onegin. Der senile Fürst, der sich als „Freund Byrons und Beethovens“ bezeichnet, charakterisiert sich selbst mittels eines Verweises auf die Memoiren Casanovas, Sinaidas Mutter wird in Beziehung gesetzt zu den Memoires du Diable von Soulié und Dumas’ Graf von Monte Christo. Der von Sinaida insgeheim geliebte, ideal gesinnte arme Lehrer Wassilij wiederum wird mit Florians idyllischen Hirtenromanen assoziiert. Darüber hinaus verwendet Dostojewskij ein weiteres bedeutsames Kürzel für die sentimental-romantische und idealistische Epoche und ihren charakterprägenden Einfluss: „Shakespeare, dieser verdammte Shakespeare, der seine Nase überall da hineinstecken muss, wo

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In Weiße Nächte: „Die zweite Nacht“. Zu Netotschka Neswanowa siehe auch R. Neuhäuser: Das Frühwerk ..., S. 68f. Dostojewskij: PSS, Bd. 16, S. 284. R. Neuhäuser: Das Frühwerk ... , S. 191–204.

man ihn nicht braucht.“ Shakespeare wird mehrere Male im Text erwähnt. Anhand ihrer Einstellung zu Shakespeare lassen sich die Hauptfiguren des Textes geradezu klassifizieren. Wassilij sieht in ihm sein Vorbild, Mosglajkow gibt vor, ihn zu verehren, und Maria Alexandrowna schließlich verflucht ihn, wie der eben zitierte Ausspruch zeigt, als Urheber aller jener Ideale und Idealvorstellungen, die ihren skrupellosen Manipulationen im Wege stehen. So spielt in diesem Text Shakespeare eine ähnliche Rolle, wie später die Kürzel „Schiller“ in den Erniedrigten und Beleidigten und Schuld und Sühne! Mit all diesen Verweisen lenkt der Autor die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Komplex „Sentimentalismus – Romantik – Idealismus“, zu dem als politisches Äquivalent nun auch der „Liberalismus“ kommt. Es sind diese ideengeschichtlichen Komplexe, die das metatextliche Personenbild bestimmen und uns die Intention des Autors enthüllen! Anhand von zwei weiteren Beispielen kann die Spannweite in der Verwendung der literarischen Allusion in der Personenrede weiter verdeutlicht werden. Die erste Allusion findet sich im Roman Die Erniedrigten und Beleidigten und zeigt die Subtilität, mit der Dostojewskij auch in Bezug auf Randfiguren vorgeht. In seinen Nachforschungen nach der Adresse Nellys stößt der Erzähler Iwan Petrowitsch auf eine gewisse Madam Bubnowa, die sich aus zweideutigen, im Roman vorerst nicht klar dargelegten Motiven, der kleinen Nelly angenommen hat. Dem literarisch gebildeten Leser der Zeit wird ihr Name an ein unbetiteltes Gedicht Puschkins „Die Kupplerin traurig an dem Tische …,“(„Svodnja grustno za stolom ...“) 1827) erinnern, in dem die Madame und Besitzerin eines Bordells mit ihren Mädchen Karten spielt, da es an Kunden mangelt. Puschkin spricht in diesem Zusammenhang von einem „Karo König“ („korol’ bubnovyj“). Der gewitzte Leser, der diese Allusion erfasst, wird auch Dostojewskijs Madame Bubnowa richtig einschätzen. Indirekt wird mit diesem Verweis auch der Schulfreund des Erzählers namens Maslobojew charakterisiert, der erstmals im Roman unmittelbar nach dem Zusammenstoß des Erzählers mit Madame Bubnowa auftritt. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht uninteressant, dass Puschkins Karo König auch auf die traditionelle Tracht des Harlekins verweist. Als Abschluss sei auf eine weitere literarische Allusion eingegangen, die für Dostojewskijs Weltsicht und Ideologie besonders bedeutungsvoll ist, finden wir sie doch in mehr als einem Werk Dostojewskijs nach Sibirien. Der Ausgangspunkt sind die Winterlichen Aufzeichnungen, in denen Dostojewskij unter anderem das Thema der inneren Größe des russischen Menschen behandelt. Siehe dazu das „Dritte und völlig überflüssige Kapitel“! Die Charakterisierung „überflüssig“ ist hier dechiffriert als „äußerst wichtig“ zu lesen! Ausgangs- und Zielpunkt seiner Überlegungen ist dabei Tschazkij, der jugendliche Held in Gribojedows Drama Verstand schafft Lei69

den (1824): „Ein ganz eigener Typ unseres russischen Europas – liebenswert, leidend, ein Mensch, der Russland und die Heimaterde anrief und doch wieder nach Europa zurückkehrte.“ Im selben Kapitel greift Dostojewskij auf Fonwisins Komödie Der Brigadier (1766) zurück, in der die Gallomanie des russischen Adels im späten 18 Jahrhundert getadelt wird und sieht darin eine Gegenbewegung zum Westlertum, eine Gegenbewegung, die nach Dostojewskij im 19. Jahrhundert in den „lebenskräftigen, starken Gedanken“ des Slawophilentums mündet. Tschazkij wird in diesem Zusammenhang als Modell des jungen Russen dargestellt, der anfänglich von Europa begeistert ist, sich dann aber auf seine nationale Identität besinnt und in die Heimat zurückkehrt, wo er allerdings vorerst nicht aufgenommen wird, so dass er wiederum zurück ins westliche Ausland flieht. Dostojewskij sieht in ihm exemplarisch die junge Generation seiner Zeit verkörpert und meint vom Tschazkij der 1860er-Jahre, dass er „eine Wandlung erfahren habe, dass er bald wieder auftauche ... als Sieger, stolz, stark, demütig und liebevoll.“ Dieser im Geiste russischer Nationalität wiedergeborene ehemalige Westler Tschazkij sei, wie er meint, schon zur Welt gekommen und würde bald das Antlitz Russlands prägen. Hier stoßen wir auf Dostojewskijs nachsibirische Utopie eines im Geiste nationaler Identität wiedergeborenen Russlands, eine Utopie, auf die schon im erwähnten Verweis auf Chomjakows Gedicht im selben Text angespielt wurde. In seinen großen Romanen rekurriert Dostojewskij wiederholt auf diesen Typ. So können wir die Umrisse des Dostojewskij’schen Tschazkij im Bild des Fürsten Myschkin (Der Idiot) wieder erkennen und noch im letzten Roman Die Brüder Karamasow, finden wir in Aljoscha, zumindest in der Konzeption der Figur, wie sie Dostojewskij für seinen im Entwurf mehrteiligen Roman vorgeschwebt hat, wiederum den Versuch der Darstellung des „neuen“ russischen Menschen, für den Tschazkij als Modell und als Symbol dient. Am deutlichsten aber wird die Bedeutung der Figur des Tschazkij und ihre Modellfunktion im Jüngling, in dem Wersilow ausdrücklich als Tschazkij apostrophiert wird. In Tschazkij sah Dostojewskij in seinen publizistischen Schriften der 60er- und 70er-Jahre eben einen neuen Typ des Russen, in dem das nationalrussische, völkische Element mit dem verwestlichten russischen Adel verschmelzen sollte. Als Symbol und Ideal dieser Verschmelzung russischen Volkstums und russischer Religiosität mit einem neuen Typ des russischen Aristokraten, diente Dostojewskij aber auch die Vorstellung von einem „russischen Christus“ Man vergleiche dazu die Figur des Schatow und – in Abwandlung – die Rolle, die Werchowenskij, beide in den Dämonen, dem Stawrogin zugedacht hat!. Bereits Myschkin lässt sich als ein Tschazkij redivivus verstehen, als neuer Mensch, der als Vertreter des westeuropäisch orientierten Adels sein west70

europäisches und rousseauistisches Erbe in liebevoller Hinwendung zum russischen Volkstum mit diesem vereinigen will, um so zu einem neuen Typ des russischen Menschen zu werden. Als Myschkin sechs Monate in Moskau und der Provinz verbringt, wird er von der Kraft des russischen Glaubens erfasst. Wir lesen: „An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben.“ So spricht Myschkin auch von „unserem Christus“ und „unserer russischen Zivilisation“. Das westeuropäische Erbe in Myschkin wird wiederum mittels literarischer Allusionen verdeutlicht, – vor allem sind die impliziten Hinweise auf Rousseau in diesem Roman so zu verstehen. 92 Allerdings führt Dostojewskijs Versuch, in Myschkin den „neuen“ russischen Menschen zu gestalten, vielleicht entgegen seiner eigenen, ursprünglichen Intention, zur Erkenntnis, dass die westeuropäische rousseauistische Bildung mit russischer Gläubigkeit doch nicht zu vereinen ist. Beide erscheinen als Ideale, die in sich widersprüchlich und „krank“ sind, wie Myschkins Epilepsie und Rogoschins Verbindung zu russischen Sekten zeigen. Im Jüngling versucht der Titelheld Arkadij den Charakter seines natürlichen Vaters Wersilow zu enträtseln, muss aber letztlich in diesem Versuch die Unwesentlichkeit seines eigenen Bewusstseins erkennen. Wersilow, von dem gesagt wird, dass er einst ein streng mönchisches Leben geführt, von Gott gepredigt und das Kommen Christi am Ende der Zeit verkündet habe, ist der Typ des verwestlichten Adeligen, der den Weg zum Volk, das er selbst im ersten Gespräch mit Arkadij als „große lebensvolle Kraft“ bezeichnet, nicht findet. In literarischen Allusionen, eben der Gleichsetzung mit Tschazkij, wird sein Wesen dem aufmerksamen Leser gegenüber enthüllt. Arkadij berichtet, dass seine Faszination für Wersilow begann, als er ihn den letzten Monolog Tschazkijs für eine Liebhaber Aufführung von Gribojedows Drama deklamieren hörte. Arkadijs Idealisierung Wersilows wird von dessen schauspielerischen Fähigkeiten in der Rolle eines Tschazkij bestimmt, womit Dostojewskij auf das Unechte im Charakter Wersilows hindeutet, er ist eben kein Tschazkij, versucht aber diese Rolle, allerdings mit wenig Erfolg, zu spielen. Und jeder Leser, der Dostojewskijs publizistische Schriften der 60erJahre kannte, wusste, was Tschazkij dort im Weltbild Dostojewskijs bedeutete! 93 So verweist die literarische Allusion wieder auf ein metatextliches Bild

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Zu Rousseau s. K. Onasch: Dostojewski als Verführer. Zürich, EVZ-Verlag 1961, S.87f. und ders.: Der verschwiegene Christus. Berlin, Union Verlag 1976, S. 46–49, 129. Vgl. R. Neuhäuser: Semantisierung formaler Elemente im Idiot. In: Dostoevsky Studies, 1 (1980); ders.: Nachwort. In: Der Idiot. München, Winkler Verlag 1980. Zum Roman Der Jüngling s. auch R. Neuhäuser: Nachwort in der dtv-Ausgabe des Romans (1979).

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Wersilows, das dem Leser Aufschluss über die Konzeption dieser Figur durch den Autor gibt. Versucht man aufgrund dieser Ausführungen ein Fazit zu ziehen, so kann man zusammenfassend feststellen, dass die polyphone Struktur der Texte Dostojewskijs, von der Bachtin spricht, zwar die Oberflächenschicht des Textes bestimmt, die Stimme des Autors aber nichts desto weniger vermittelst rezeptionssteuernder Verfahren immer wieder in den Text eingreift. Man könnte unter Verwendung der hier entwickelten methodischen Ansätze auch sagen, dass die Polyphonie nur auf der Ebene des textimmanenten Personenbildes wirksam ist. Dieses jedoch wird vom metatextlichen Personenbild, dessen Ort sich außerhalb des Textes befindet, auf das aber im Text mittels rezeptionssteuernder Verfahren hingewiesen wird, modifiziert, wodurch die Stimme des Autors doch wiederum, wenn auch nur indirekt, organisierend und hierarchisierend in Text und Personengefüge eingreift und so die Rezeption des Textes durch den Leser im Sinne der Intention des Autors steuert.

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4.

Die Genres Roman und Erzählung / Novelle

Für literarische Gattungen wie Erzählung und Roman gilt, dass sie sich nach gewissen formalen und inhaltlichen Parametern unterscheiden. Solchen Grundfragen soll hier allerdings nicht nachgegangen werden. Es sei vielmehr davon ausgegangen, dass diese Gattungen auch im Russland des 19. Jahrhunderts ähnlich wie in anderen europäischen Literaturen funktionierten. Es geht in diesem Essay vor allem um das Verhältnis von Genre und inhaltsbezogenen Elementen, vor allem Motive und Situationen, mit denen die Personen des Textes konfrontiert werden und die Frage, wie sie aufgrund ihrer seelischen und geistigen Verfasstheit darauf reagieren, worin nicht zuletzt der Autor sich und seine Absichten in mehr oder minder verschlüsselter Form zu erkennen gibt. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob sich bei Dostojewskij ein deutlicher Unterschied zwischen den Genres der Novelle und Erzählung („povest’/rasskaz“) einerseits und Roman andererseits feststellen lässt. Im Frühwerk des Schriftstellers, das bis etwa 1860/61 reicht, ist dies noch kaum ausgeprägt. Abgesehen von den Armen Leuten (1845), einem Briefroman nach englischem Vorbild des 18. Jahrhunderts, zugleich bekanntlich sein berühmtes Erstlingswerk, dem unvollendeten Roman Netotschka Neswanowa (1846) und den Erniedrigten und Beleidigten (1861) hat Dostojewskij in dieser Zeit keine Romane geschrieben. Sein Frühwerk zeigt außerdem deutlich die Abhängigkeit des Autors von literarischen Modellen, womit aber nicht seine Originalität in der Verarbeitung dieser Modelle in Zweifel gezogen werden soll. Der Romantypus der reifen Schaffensperiode hat sich erst im Laufe der 1860er-Jahre entwickelt und umfasst letztlich die jedem Dostojewskij-Liebhaber bekannten fünf großen Romane. Der 1866 gleichzeitig mit Schuld und Sühne entstandene Kurzroman Der Spieler, den Dostojewskij aus der Not heraus schrieb, um eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen, hebt sich von den großen Romanen ab und zeigt eher die Charakteristiken des kleineren Genres, dem wir ihn hier auch zuordnen wollen. Im Zuge des Übergangs von der Romantik zum Realismus hat sich in Russland seit etwa den 1830er-Jahren die Vorstellung entwickelt, dass der Roman sein zentrales Thema in der Darstellung von Aspekten der russischen Gesellschaft fand. Mit Lotman kann man sagen, dass der realistische Roman die Wende zu einer Literatur vollzog, die das je individuelle Schicksal, das zum zentralen Problem romantischer Literatur geworden war, überstieg und die ganze Gesellschaft in ihrer realen Existenz problematisierte. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Thematik und Sujet so zu gestalten, dass ähnlich wie im Mythos wieder eine universelle Sinngebung möglich wurde, in der das gesellschaftliche Ganze von Staat und Nation in die vom Sujet gene73

rierten Äquivalenzbeziehungen, wie es Lotman formuliert, einbezogen war. 94 Der Roman des Realismus tendiert somit, meint Lotman, zu einer Remythologisierung, bzw. zu einer Generierung von „novellistischen Pseudomythen“. Lotman sieht so die Originalität des russischen Romans in der Entwicklung eines russischen Sujets im Sinne eines „Archisujets“, das mehr oder weniger allen, aber besonders Dostojewskijs Romanen zugrunde liegt. Seine Darstellung des Archisujets enthält drei wesentliche Komponenten: 1. Russland (Rus’), verkörpert durch eine weibliche Figur; 2. die Opposition von Verderber/Verführer (= pogubitel’/soblaznitel’) und 3. Retter/ vermeintlicher Retter (= spasitel’/mnimyj spasitel’), beide verkörpert durch männlichen Figuren. Das Wirkungsfeld des Sujets erstreckt sich in bezug auf „Rus’“ zwischen den Polen „Verloren sein“ (= „byt’ pogublennoj“) und „Gerettet sein“ (= „byt’ spasennoj“). Mitunter tritt ein Vermittler zwischen den beiden konträren Figuren auf, der als „Lehrer des Lebens“ (= „učitel’ žizni“) fungiert. Was Lotman in allgemeiner Form über das Archisujet des russischen Romans des Realismus sagt, trifft in hohem Maße auf Dostojewskij zu, der dieses Schema auf seine Weise in Szene gesetzt hat. Seine Hoffnung lag auf dem Aristokraten, der geläutert durch seine Erfahrung mit dem Westen einerseits und der russischen Bodenständigkeit (= „počva“) andererseits zum Retter seines Volkes wird, indem er eine Versöhnung zwischen den beiden großen gesellschaftlichen Schichten Adel und Volk herbeiführt. Als Modellfigur diente ihm dabei, wie oben bereits festgestellt, die Gestalt des Tschazkij aus Gribojedows Drama Verstand schafft Leiden. 95 Doch Dostojewskijs „Retter Russlands“ entpuppt sich in der Regel als ein Tschazkij manqué, d. h. als „Vermeintlicher Retter“. Horst-Jürgen Gerigk hat dieses Schema unlängst in grundsätzlicher Weise erweitert. 96 Der lotmansche Begriff des Chronotops wird dabei durch den umfassenderen Begriff der „Zeitwelt“ ergänzt. Der Begriff Zeitwelt stammt

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Ju. M. Lotman: Die Entstehung des Sujets – typologisch gesehen. In: Ju. M. Lotman: Kunst als Sprache. (Reclam UB 905, Leipzig 1981), S. 175–204. Vgl. R. Neuhäuser: Gončarovs Roman Obryv und der russische Roman des Realismus. In: I. A. Gončarov: Beiträge zu Werk und Wirkung, hg. von. Peter Thiergen. Köln–Wien, Böhlau 1989, S. 85–106. Es sei hier auch erwähnt, dass es in der russischen Literatur schwierig, wenn nicht unmöglich ist, Novelle und Erzählung voneinander zu unterscheiden! PSS, Bd. V, S. 4f. H.-J. Gerigk: Das Russland-Bild in den fünf großen Romanen Dostojewskijs. In: Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft, hg. Uta Gerhardt. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, S.49–79.

von Reiner Wiehl, der unter Zeitwelten subjektive Eigenwelten versteht. Wiehl: „Eine Zeitwelt ist in dieser Verbindung ein Individuum: eine einmalige, einzigartige, einzige Verbindung von Welt, Zeit und Subjekt. Die Komponenten dieser Verbindung gehören untrennbar zusammen. Keine hat außerhalb ihrer Verbindung ein eigenständiges Sein.“ 97

Alle fünf großen Romane, so meint Gerigk, lassen eine Zeitwelt erkennen, die durch gewisse, allen Romanen gemeinsame Züge charakterisiert wird. Dazu gehört, dass die geschilderten Ereignisse dieser Romane ein Jahrzehnt, d. h. die Jahre von 1865 bis 1875 abdecken. Dieser Zeitraum beginnt mit dem Roman Schuld und Sühne, dessen Handlung 1865 spielt, und endet mit dem Jüngling, in dem Gegebenheiten der Jahre 1873/74 verarbeitet sind. Dazwischen liegen die Ereignisse der anderen drei Romane. Gerigk stellt fest: „Dostojewskij protokolliert mit diesen vier Romanen [Die Brüder Karamasow sind in dieser Aufzählung nicht eingeschlossen, R. N.] die russische Gesellschaftsentwicklung jeweils fortlaufend von 1865 bis an die Schwelle des Jahres 1875.“

Zu den Brüdern Karamasow, die im Jahre 1866 spielen, meint Gerigk, „Dostojewskij wollte nämlich die Diagnose seines Jahrzehnts noch einmal schreiben – und das mit den Einsichten, die er inzwischen gesammelt hatte.“ 98 Die Fortsetzung des Romans sollte dann bekanntlich bis in das Jahr 1879 reichen. Doch dazu kam es nicht. Die Zeitwelt der fünf Romane zeigt in der Tat eine erstaunliche Geschlossenheit. Dies erstreckt sich auch auf den Ort der Handlung – Russland und das Personengefüge der Romane, das jeweils einen Querschnitt der russischen Gesellschaft darstellt, wobei die zentralen Figuren als jugendlich bis im bestem Mannesalter beschrieben werden können. Raskolnikow, Myschkin, Rogoschin, Stawrogin und Werchowenskij jun., der Jüngling Arkadij und die Karamasows unterscheiden sich wenig in ihrem Alter; sie sind in unterschiedlicher Weise Varianten des Archetyps Verderber/Retter, wobei auffällt, dass am Beginn dieser Romanserie, wie man die fünf genannten Romane bezeichnen könnte, das Modell Tschazkij noch eher undeutlich gezeichnet bleibt – so erscheint Raskolnikow im Grunde erst im Epilog als möglicher Retter. In den späteren Romanen wie Die Dämonen, Der Jüngling, Die Brüder Karamasow wird diese Figur in zwei oder mehrere Komponenten aufgespalten. In den Romanen Schuld und Sühne und Idiot sind die Hauptfiguren allerdings eher dem Typus der vermeintli-

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Reiner Wiehl, Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte. Frankfurt a. Main, Suhrkamp 1998, S. 7, zit. bei H.-J. Gerigk. H.-J. Gerigk: op. cit., S. 59.

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chen Retter, als den „wahren“ Rettern Russlands zuzuordnen. In den nächsten zwei Romanen tritt zur Hauptfigur, die wiederum deutlich dem Typus vermeintlicher Retter zuzurechnen ist, eine zweite Figur, welche die Charakterzüge eines Lehrers des Lebens verkörpert. Dies ist in den Dämonen der Bischof Tichon, im Jüngling Makar Dolgorukij. Letztere Figur erscheint dann verwandelt in geradezu idealtypischer Form als der Starze Sossima in den Brüdern Karamasow. Alle drei genannten Figuren entsprechen deutlich dem Lotman’schen Lehrer des Lebens. Der vermeintliche Retter ist am Beginn nur umrisshaft gezeichnet. Auf Raskolnikow als Vorahnung und Hoffnung folgt Myschkin, der am Beginn des Romans als Retter konzipiert scheint, aber letztlich versagt, als seine von Romantik und Idealismus bestimmten Charakterschwächen fatale Folgen zeitigen. Ihm hat der Autor erstmals eine als Antipoden gezeichnete Person beigesellt, den Kaufmann Rogoschin. Der Gegensatz ist noch schärfer ausgearbeitet in den Dämonen, wo Stawrogin und Werchowenskij junior die Handlung dominieren und der vermeintliche Retter vom Verderber Werchowenskij manipuliert wird. Im Jüngling ist die Konstellation wiederum verändert. Dostojewskij konfrontiert den nicht mehr jungen Aristokraten Wersilow, der in der Vergangenheit in die Rolle des Tschazkij geschlüpft war, mit seinem Sohn, eben dem Jüngling, der verzweifelt das Rollenspiel des Vaters enträtseln möchte. Wersilow als vermeintlicher Retter kann ihm aber nicht den rettenden Weg weisen. Den Weg zum „wahren“ Retter weist, wie schon in den Dämonen angedeutet, Makar als Träger des orthodoxen Glaubens und leiblicher Vater des Jünglings, was durch die Familienbande unterstrichen wird. Was in diesem Roman noch nicht Erfüllung fand, wollte Dostojewskij augenscheinlich in seinem letzten Roman zur Vollendung bringen: Der geistige Sohn des Starzen Sossima als Lehrer des Lebens, Aljoscha Karamasow, sollte nun in der Fortsetzung des Romans zum idealtypischen Modell des Retters werden. Darauf deuten auch die wenigen Aufzeichnungen des Autors über die Fortsetzung des Romans hin. Auf der Ebene der Gestaltung der Handlung und der Orientierung auf die Lesererwartung, zeigt sich, wie ebenfalls Horst-Jürgen Gerigk dargelegt hat, eine weitere durchgängige Besonderheit: Dostojewskij gestaltet gemäß seiner insgeheimen, macchiavellischen Poetik (Gerigk) seine fünf großen Romane so, dass sie den „sensationslüsternen“ Leser, und das war die Masse der Leser seiner Zeit, fesseln und den finanziellen Erfolg der Romane sichern. „Das Resultat sind die fünf großen Romane als kalkulierte Mixtur aus Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion und Politik, dargeboten mit einer unablässigen ,Lustigkeit des Geistes‘ und einer Erzähltechnik, die alles in den Dienst einer einzigen

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zentralen Situation stellt und uns ständig zwingt, den Hals zu recken, weil uns gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten wird.“ 99

Doch das ist nur die vordergründige Intention des Autors. Dahinter steht wesentlich anderes. Dieses übergeordnete, in einem transfiktionalem, d. h. einem Bereich jenseits des literarischen Textes angesiedelte Ziel ist klar: Dostojewskij will dem Leser eine modellhaft gestaltete sittliche Welt nahebringen, der allerdings die zeitgenössische Welt wenig entspricht. Er erreicht dies durch die extreme Gestaltung negativer Aspekte der Letzteren, vor allem mittels des Verbrechens, dem als Vorstufe oder Ausdrucksform die Krankheit zur Seite gestellt wird, beides als Folge einer fragwürdig gewordenen Sittlichkeit, eines falschen Bewusstseins, eines erkrankten oder fehlenden Gewissens. Dies macht den potenziellen oder tatsächlichen Verbrecher für seine Umwelt kenntlich. Dem Verbrechen und der Krankheit stellt der Autor die ausufernde Sexualität, den libidinösen Exzess zur Seite, und lässt so reliefartig die Notwendigkeit und Gestalt dieser sittlichen Welt deutlich werden, die aus Sicht des Autors im Gewissen des Menschen verankert ist und ihren Ursprung in Gott hat. Für den Verbrecher, der die Sühne für seine Tat ablehnt, gibt es nur die Möglichkeit einer Flucht ins Ausland, das damit als der Ort des Unsittlichen oder zumindest der Indifferenz gegenüber dem Sittengesetz gekennzeichnet wird, oder der Selbstmord, d. h die absolute Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die ewige Verdammnis. Der Glaube an Gott und Christus ist der wohl unmittelbarste Ausdruck der auktorialen Intention, sozusagen die Essenz der im transfiktionalen Bereich beheimateten Aspekte des Romangenres bei Dostojewskij. Aber auch hier provoziert er den Leser durch die oft sehr direkte Verknüpfung von Religiosität mit Verbrechen und dem Unsittlichen und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf die prekäre Natur religiöser Vorstellungen in einer in ihrer sittlichen Natur erschütterten und unsicher gewordenen Welt. Der Wirkungsfaktor Politik steht mit Ausnahme des Romans Die Dämonen im Hintergrund, verbindet sich aber in der Zeitwelt Dostojewskijs mit den übrigen Faktoren im Dienste der Aufgabe, die sich der Autor gesetzt hat: Eine Diagnose seiner Zeit und Umwelt zu geben und die Stellung Russlands in Europa und der Welt zu umreißen, die nach Dostojewskij von der geschichtlichen, bzw. von der von der Vorsehung bestimmten Sendung Russlands abhängt, zu deren Verwirklichung der Autor selbst beitragen wollte. Wir fragen nun, wie steht es im Vergleich dazu mit Dostojewskijs novellistischem Erzählwerk von 1860 bis Ende der 70er-Jahre? Von 1862 bis 1877

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H.-J. Gerigk: Die Gründe für die Wirkung Dostojewskijs. In: Dostoevsky Studies, 2 (1981), S. 7.

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entstanden 11 Erzählungen, zu denen noch Der Spieler hinzugefügt werden kann, der in Form und Umfang eher einer Novelle („povest’“) als einem Roman entspricht. Auf dem ersten Blick springt die unterschiedliche Klassifizierung ins Auge, die der Autor selbst vorgenommen hat. So spricht er von 1. Aufzeichnungen und Notizen [zapiski, zametki]; 2. Anekdoten und Geschicht(ch)en [anekdoty, istorii]; 3. Erzählungen [rasskazy, povesti]; 4. Fantastischen Erzählungen [fantastičeskie rasskazy]. Formale und inhaltliche Kriterien mischen sich dabei und lassen wenig Einheitlichkeit erwarten. Das Erzählwerk, das vor Dostojewskijs erstem großen Roman Schuld und Sühne (1866) entstand, unterscheidet sich wesentlich von den später entstandenen Texten. Diese frühen Texte können als Vorbereitung oder Vorstufe der fünf großen Romanen betrachtet werden, insofern der Autor in ihnen seine ideologischen Positionen ausarbeitete und vorstellte. Die Aufzeichnungen aus einem toten Haus erweisen sich als die Grundlage für sein Verständnis des Volkes, des einfachen russischen Menschen, wie er sich dem Autor in Sibirien zeigte. Die winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke machen seine Einstellung dem Westen gegenüber klar. Sie sind eine überaus deutlich formulierte Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, und dem im Westen Europas herrschenden gesellschaftlichen und politischen System. Zudem wird erstmals die Figur des Gribojedow’schen Tschazkij als Modellfigur eines Retters Russlands vor dem westlichen Verderbnis klar gezeichnet. Eine hässliche Anekdote und Krokodil, als Anekdote und Ereignis (sobytie) bzw. wahrheitsgetreue Erzählung (spravedlivaja povest’) bezeichnet, sind polemische Texte aus der Zeit der Auseinandersetzung Dostojewskijs mit der „progressiven“ Intelligenz. Die Polemik ist dabei in steter Gefahr, den künstlerischen Anspruch zu verdecken. Beide Erzählungen sind noch in manchen Aspekten Dostojewskijs Erzählwerk der 1840er-Jahre verbunden. In beiden setzt sich die Beamtenthematik fort, wobei wiederum hierarchische Unterschiede thematisiert werden. Erstere Erzählung erschien 1862 am Vorabend der großen Reformen und karikiert bzw. hinterfragt die damals modische liberale Einstellung höherer Beamter, die sich letztlich als Rollenspiel erweist. Im Krokodil schildert ein Ich-Erzähler als Unbeteiligter aus der Perspektive eines Zusehers die Ereignisse. Es sind deutliche Hinweise auf Dostojewskijs Polemik mit den Nihilisten vorhanden. Tschernyschewskij, SaltykowSchtschedrin, Pisarew, Sajzew und andere, an denen sich Dostojewskij rieb, bilden den ideologischen Hintergrund zum Krokodil. 100 Dostojewskij hat später mit einer Ausnahme keine vergleichbar polemischen Texte in diesem Genre mehr geschrieben. Auch der Beamtenstand blieb, wenn man von

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PSS, Bd. 5, S. 388f.

Bobok absieht, künftig eher marginalisiert. Soweit die fünf kleineren Erzählungen, die vor der Zeitwelt der großen Romane liegen. Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund bilden, wie vielfach ausgeführt, das Tor zu den großen Romanen. Dostojewskij definiert sozusagen den Ausgangspunkt seiner Romane, die Situation am Beginn der Zeitwelt der großen Romane. Was Dostojewskij damals vom „skeptischen und unglücklichen“ Bewusstsein (Hegel) des russischen Intellektuellen schrieb, das er in der Gestalt des Petschorin aus Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit (1840) verwirklicht sah, zeichnet den Hintergrund für den jugendlichen Held des 2. Teils der Aufzeichnungen aus dem Untergrund: „In Petschorin erreichte er eine unstillbare gallige Verbitterung und erlebte den merkwürdigen, spezifisch russischen Gegensatz verschiedenartiger Charakterelemente; einen bis zur Selbstvergötterung getriebenen Egoismus, der einhergeht mit wütender Selbstverachtung, das gleiche sehnende Verlangen nach Wahrheit und Tätigkeit und das stets gleich verhängnisvolle Nichtstun ...“ 101

Dieser der Romantik verpflichtete Typus hat bei Dostojewskij sechzehn Jahre später im 1. Teil der Aufzeichnungen Rationalismus, Utilitarismus und Sozialismus durchschritten und ist nun zum irrational urteilenden und handelnden Voluntaristen, zum Skeptiker und Zyniker geworden. 102 Noch etwas ist anzumerken: Die Ich-Erzähler der Aufzeichnungen und Notizen (zapiski/zametki) der 1860er-Jahre sind entweder deutlich erkennbare oder nur mehr oder weniger maskierte Doubles des Autors. Mit den Bezeichnungen Aufzeichnungen und Notizen hatte Dostojewskij in den frühen 60er-Jahren an Genres der 30er- und 40er-Jahre angeknüpft. Es ist charakteristisch, dass nur in einem späteren Text der 70er-Jahre die Bezeichnung Aufzeichnungen, und auch da nur im Untertitel der Erzählung aufscheint. Es handelt sich dabei um die bereits als Ausnahme angeführte Erzählung Bobok. Aufzeichnungen einer Person (1873). 103 Bobok ist insofern eine Ausnahme, als Dostojewskij hier in den 70er-Jahren Züge des Frühwerks, so den Ich-Erzähler als maskiertes Double des Autors („Das bin ich gar nicht; das ist eine ganz andere Person.“, vgl. Der Doppelgänger) und das Beamtenthema der 40er-Jahre aufgreift. Er veröffentlichte sie in seinem Tagebuch eines Schriftstellers und in diesem Kontext lag es nahe, dass der Leser dazu

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PSS, Bd. 9, S. 94. Rudolf Neuhäuser: Nachwort. In: Fjodor M. Dostojewskij. Aufzeichnungen aus dem Untergrund. (dtv 2154), München 1985, S. 157. In allen als Aufzeichnungen gekennzeichneten Texten tritt ein Ich-Erzähler auf. In Winterliche Aufzeichnungen…(1863), welche die alternative Bezeichnung Notizen tragen, wird dieser Ich-Erzähler für den Leser deutlich mit dem Autor gleichgesetzt.

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tendierte, den Ich-Erzähler mit dem Autor zu identifizieren. Dieser IchErzähler vereinigt Charakterzüge des Goljadkin mit solchen des Iwan Petrowitsch, dem Schriftsteller-Helden des frühen Romans Erniedrigte und Beleidigte, der seinerseits autobiografisch geprägt ist. Dazu fügt sich die Polemik des Ich-Erzählers in Bobok, der sich selbst als „literator“ bezeichnet, mit Verlegern, Redakteuren und Buchhändlern der Zeit in Verbindung steht, was einem Rückblick auf den Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit des Autors gleichkommt. Die in den Gräbern verwesenden, aber noch zu Gesprächen fähigen Leichname, die der Ich-Erzähler belauscht, gehörten vor ihrem Tod der besseren Gesellschaft an, vor allem der Beamtenschaft und Aristokratie. Der moralische Gestank, der von ihnen ausgeht – „hier spürt man einen Gestank, sozusagen einen sittlichen Gestank – ha, ha!“ 104 – wirft ein bezeichnendes Licht auf Dostojewskijs Verständnis der von diesen gesellschaftlichen Schichten negativ geprägten russischen Gesellschaft, eine Kritik, die nur von der Ironie des Autors und den augenscheinlich absurden Umständen der makabren Szene am Friedhof gemildert wird. Wie es einer der Verstorbenen prägnant formuliert: „Auf der Erde zu leben und nicht zu lügen ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind Synonyme.“ 105 Ebenfalls im Tagebuch sind 1876 noch zwei kurze Skizzen erschienen, die an das Frühwerk erinnern: Der Knabe bei Christus am Weihnachtsabend (= Mal’cik u Christa na elke) und Der Bauer Marej. Dostojewskij hat erstere als Geschichte (istorija), letztere als Anekdote und ferne Erinnerung (= „dalekoe vospominanie“) bezeichnet. In beiden fungiert der Autor als Ich-Erzähler. Im Knaben ... schildert er seine Begegnung mit einem Bettlerkind in St. Petersburg, was ihm als Vorwurf zu einer Erzählung dient, die er sich ausgedacht hat: „… ich weiß es sicher, dass ich es erdichtet habe.“ 106 Er thematisiert darin Kinderarmut und verweist zugleich auf Christus als Tröster. Im Bauer Marej erzählt Dostojewskij wiederum im eigenen Namen von seiner wohl frühesten und ihn tief ergreifenden Begegnung mit einem russischen Bauern und zieht selbst die Parallele zu seinen sibirischen Erlebnissen. Alle bisher angeführten Erzählungen lassen sich entweder als Weiterführung von Themen des vorsibirischen Jugendwerks oder als Beitrag zur Herausbildung seiner weltanschaulichen Prämissen verstehen. Anders steht es mit den nun folgenden Erzählungen. Der Kurzroman Der Spieler, den man, wie schon gesagt, als Erzählung oder Novelle bezeichnen könnte, entstand parallel mit dem ersten der großen Romane Schuld und Sühne und verdankt bekanntlich seine Entstehung einer

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PSS, Bd. 21, S. 51. PSS, Bd. 21, S. 52. PSS, Bd. 20, S. 14.

unglücklichen Verpflichtung des Autors gegenüber einem skrupellosen Verleger. Er ist dem Thema der im Ausland reisenden Russen, vornehmlich aristokratischer Herkunft, gewidmet, ein Thema, das in der Weltanschauung des Autors von Bedeutung ist und sich auch wieder in den großen Romanen findet. Die Kritik an den aristokratischen, ins Ausland reisenden Russen ist deutlich. Darüber hinaus stellt dieser Text die psychologische Analyse eines vorherrschenden Menschentyps dar, der die frühe Moderne charakterisiert und erst im Laufe der 1880er-Jahre manifest wurde, dann aber in der Literatur der Dekadenz für jedermann sichtbar erschien! Ein Sigmund Freud oder Arthur Schnitzler wären dafür die adäquaten Leser gewesen! Aus der Sicht des Autors ist der Held des Spielers eine Variante und Weiterentwicklung des namenlosen Menschen aus dem Untergrund. Zugleich bedeutet dieser Text einen Bruch mit den vorangegangenen Erzählungen, insofern hier erstmalig in einem längeren Text eine vertiefte psychologische Analyse erfolgt, wie sie Dostojewskij schon ansatzweise im zweiten Teil der Aufzeichnungen aus dem Untergrund versucht hatte und wiederum seinem ersten großen Roman zugrunde legte. So betrachtet lässt sich der Roman Der Spieler zusammen mit den Aufzeichnungen aus dem Untergrund als die Schwelle verstehen, die in die Zeitwelt des Spätwerks führt. Was bleibt dann noch vom erzählerischen Werk Dostojewskijs, das parallel zu den fünf großen Romanen entstand, wenn man von den weniger bedeutsamen Skizzen absieht? Die Antwort lautet: Drei der interessantesten und in vieler Hinsicht komplexesten Erzähltexte, von denen charakteristischerweise zwei wiederum im Tagebuch eines Schriftstellers veröffentlicht wurden. Sie zählen zu dem Besten, was Dostojewskij im Genre Novelle/Erzählung geschaffen hat. Bereits drei Jahre nach dem Roman Der Spieler erschien Dostojewskijs längste Erzählung Der ewige Gatte (1869). Wiederum handelt es sich um Varianten des komplexen Charakters des Menschen aus dem Untergrund, von denen der eine, Weltschaninow, der ewige Liebhaber, zum anderen, Trusozkij, dem ewigen Gatten, sagt: „Wir sind beide lasterhafte, abstoßende Menschen aus dem Untergrund …“ 107 Es geht nicht nur um Verführung und Charakterschwäche, es geht um aggressive Vorurteile und die emotionale Abwehr verdrängter Schuldgefühle, d. h. der Autor greift ein Thema seines Frühwerks auf, als er gegen den Hintergrund der fourieristischen Psychologie und mit dem antibürgerlichen Reflex seiner jungen Jahre in einem Zyklus von vier nur lose verknüpften Erzählungen die zeitgenössische Ehe ironisch

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PSS, Bd. 9, S. 87.

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und satirisch verfremdet verurteilt hatte. 108 Er verbindet dies mit Aspekten des Charakters des Menschen aus dem Untergrund. In der nächsten Erzählung Die Sanfte wird dies, allerdings ohne die komödiantenhaften Züge des Ewigen Gatten, weiter geführt und nimmt eine zutiefst tragische Form an. Die Erzählung Die Sanfte füllte das gesamte Novemberheft (1876) der Zeitschrift, wofür sich der Autor bei den Lesern entschuldigte. In seinem Vorwort (Ot avtora) erläuterte er den Untertitel Eine fantastische Erzählung, d. h. eine frühe Vorwegnahme des Stils des Bewusstseinstroms (stream of consciousness) und machte klar, dass es sich bei dem Text nicht um Aufzeichnungen handelt! Damit war auch sofort klargestellt, dass der IchErzähler nichts mit dem Autor zu tun hatte! Die im Spieler begonnene und drei Jahre später im Ewigen Gatten fortgesetzte Analyse menschlichen Verhaltens in Extremsituationen wird hier auf äußerst eindrucksvolle Weise fortgeführt. Es geht um zwei Menschen, die sich nach Liebe sehnen, aber beide nicht die Mauer durchbrechen können, die ihre Seelen trennt. „Alles ist tot und überall sind nur Tote. Einsam sind die Menschen und rundum herrscht Schweigen – das ist die Erde! “ 109

So fasst es der Pfandleiher präzise zusammen und hebt damit seine persönliche Situation ins Allgemeine. Nach dem Selbstmord der Frau meditiert der Ehemann. Dabei fallen Worte, die bereits Anklänge an das Thema des Traums eines lächerlichen Menschen zeigen: „Das Paradies hatte ich in der Seele, ich hätte es rings um Dich errichtet! ... Ihr Menschen liebt einander, wessen Vermächtnis ist das?“ 110 Er weiß keine Antwort. Der lächerliche Mensch sollte sie wenig später auf seine Weise finden! Auch die zweite im Tagebuch eines Schriftstellers (1877) erschienene kurze Erzählung Der Traum eines lächerlichen Menschen trägt denselben Untertitel wie Die Sanfte. Dostojewskij sah aber augenscheinlich keine Notwendigkeit mehr, das Fantastische an dieser Erzählung zu erläutern, da sie sich dem Leser schon am Beginn als Traumerlebnis darstellt. Er entwarf darin ein grandioses Bild eines potenziellen irdischen Paradieses, vom Sündenfall, dem Verlust der Unschuld, dem Sieg des Bösen in der Gesellschaft, allerdings maskiert dadurch, dass sich diese wie in einem Zeitraffer dargestellten Ereignisse im Traum und auf einem anderen Planeten abspielen. Auch hier sind Bezüge zu anderen Texten erkennbar. Der Autor entwickelt den Typus des Menschen aus dem Untergrund weiter, schildert in etwa das, was 108 109 110

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Rudolf Neuhäuser: Das Frühwerk Dostoevskijs. Heidelberg, Carl Winter 1979, S. 104–110. PSS, Bd. 24, S. 35. Loc. cit.

vermutlich im 10. Kapitel des 1. Teils der Aufzeichnungen aus dem Untergrund einst der Zensur zum Opfer gefallen war. 111 Er greift Wersilows Darstellung eines paradiesischen Zustandes im frühen Griechenland auf (Der Jüngling) und nimmt Gedanken Sossimas (Die Brüder Karamasow) über die Möglichkeit eines irdischen Paradieses vorweg. Zugleich spiegelt sich in dieser Erzählung Dostojewskijs damaliges Interesse für Spiritismus und die in Philosophie und Theologie wie auch im Spiritismus und bei Dostojewskijs Freunden viel diskutierte Frage wider, ob nicht die Seelen der Verstorbenen auf anderen Planeten weiterleben. 112 Es ist die letzte Erzählung des Autors und lässt sich als Ende des Weges verstehen, den der Mensch aus dem Untergrund, d. h. der zeitgenössische russische Intellektuelle von den 1860erJahren bis zum Ende der 70er-Jahre gegangen ist. Vom Kristallpalast des Menschen aus dem Untergrund bis zum irdischen Paradies des Lächerlichen Menschen spannt sich so ein weiter Bogen. Ob der Letztere allerdings die Isoliertheit der Menschen („rundum herrscht Schweigen“) mit seiner Botschaft durchbrechen kann, bleibt ebenso im Zweifel, wie die Frage, ob die Botschaft, die der Autor seinen Landsleuten vermitteln wollte, den russischen Menschen, die russische Gesellschaft, den Leser tatsächlich erreichte, so wie es der Autor wünschte! Wir können sagen, dass die Zeitwelt, die auf der Ebene der kleinen Erzählgenres mit den Aufzeichnungen aus dem Untergrund und dem Spieler begonnen hatte, im Traum eines lächerlichen Menschen ihren Abschluss findet. Wenn wir abschließend versuchen, das Erzählwerk in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, dann lässt sich folgendes feststellen: 1. Zeit der Vorbereitung: 1860–1863. Die Erzählungen dieser Jahre dienen der Ausarbeitung der Ideologie des Autors. Schwerpunkte sind die Qualitäten des russischen Volkes, dargestellt anhand eines Querschnitts von Menschen aus dem Volk (Aufzeichnungen aus einem toten Haus), und die Kritik an der westlichen Gesellschaft (Winterliche Aufzeichnungen ...), beides tragende Säulen im Gebäude seiner Weltanschauung. 2. Die Zeit der Polemik mit der progressiven Intelligenz: 1862. Dostojewskijs Polemik entfaltete sich in seiner Zeitschrift Vremja im Laufe dieses Jahres und spiegelt sich in den beiden kleinen Erzählungen Krokodil und Eine hässliche Anekdote.

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Rudolf Neuhäuser: Nachwort. In: Fjodor M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Untergrund. (dtv 2154), München 1985, S. 153–173. Cf. Rudolf Neuhäuser: The Dream of a Ridiculous Man: Topicality as a Literary Device. In: Dostoevsky Studies I, 2 (1993), S. 175–190.

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3. An der Schwelle der Zeitwelt der großen Romane: 1864–1866: Mit seiner ersten großen Erzählung, den Aufzeichnungen aus dem Untergrund, schuf Dostojewskij den Prototyp eines Helden, der von nun an sein Schaffen begleiten sollte. Zugleich stellte diese Erzählung den Höhepunkt der Polemik mit den Radikalen seiner Zeit dar. Entsprechend diesen beiden Schwerpunkten gliedert sich dieser Text in zwei sehr unterschiedliche Teile. Der Spieler, den wir hier, wie ich meine zu Recht, dem Erzählgenre zuordnen, setzt die vom Menschen aus dem Untergrund angesprochene Problematik fort. Er ist die zweite große Erzählung Dostojewskijs. 4. Die Kurzprosa der späten Jahre, thematisch dem Frühwerk verbunden, teils auf Erinnerungen fußend, teils eine Fortsetzung der polemischen Auseinandersetzungen der frühen Jahre: 1876–1878. Diese drei Texte sind alle im Tagebuch eines Schriftstellers erschienen und haben den Charakter von literarischen Skizzen, die zum Teil auch auf aktuellen Anlässen beruhen. Frühen Erinnerungen gewidmet ist vor allem Der Bauer Marej, aber auch Bobok und Der Knabe bei Christus am Weihnachtsabend enthalten Reminiszenzen an das Frühwerk. Bobok ist eine gegen die „feine“ aristokratische Gesellschaft gerichtete Polemik mit offensichtlichen Anklängen an das Frühwerk. 5. Die großen Erzählungen: 1869–1877. Diese drei sehr unterschiedlichen Texte zeichnen sich durch die Schärfe der psychologischen Analyse aus. Der Typ des Menschen aus dem Untergrund, von dem Dostojewskij bekanntlich sagte, er wäre der erste gewesen, der ihn in seiner Bedeutung erkannt und dargestellt hätte, ist die Vorlage für die ansonsten durchaus sehr unterschiedlichen Figuren dieser Texte. Die Spannweite reicht von den eher amüsant und komödiantisch geschilderten Konflikten im Ewigen Gatten bis zur Tragik des Selbstmordes der Sanften und der Traumvision des Lächerlichen Menschen. Im Gegensatz zu den Romanen sind die Hauptfiguren dieser Erzählungen nicht streng an die Altersgrenzen der Romanhelden gebunden. Diese sind alle zwischen 20 und 30 Jahre alt, jene mitunter auch über 40 oder schon 50, ohne dass deshalb der Bezug zum Typus des Menschen aus dem Untergrund entfällt. Selbst der Mensch aus dem Untergrund hatte ja im 1. Teil des Textes bereits die Vierzig überschritten! Beschränken wir uns auf die Zeitwelt der fünf großen Romane, so sehen wir, dass ihnen im kleineren Genre unter Einschluss des Spielers und der Aufzeichnungen aus dem Untergrund ebenfalls fünf Texte gegenüberstehen, von denen zwei den Beginn, sozusagen die Schwelle bilden und weitere drei den Höhepunkt im Schaffen des Autors in diesem Genre markieren. Die Zeitwelt als Rahmen ist annähernd dieselbe für beide Genres, die Gestaltung der Handlung, des Personen-gefüges, der Thematik unterscheidet sich allerdings stark vom Romanwerk, da Dostojewskij andere Akzente setzte. Die eingangs erwähnten Wirkungsfaktoren treten in den Hintergrund. So gesche84

hen keine Morde, wenngleich Mordversuche durchaus stattfinden können. Krankheit spielt keine wesentliche Rolle, wenngleich sie natürlich auch vorhanden ist. Der Autor nimmt sich zurück. Die Wirkungsfaktoren verlieren ihre ideologische und symbolbeladene Last. Die Ideologie tritt als solche in den Hintergrund, obgleich ideologische Momente nie zur Gänze verschwinden. Als Beispiel sei auf die Darstellung der progressiven Jugend am Landsitz der Sachlebinins im Ewigen Gatten hingewiesen. Mit den Konflikten, die sich zwischen den Hauptfiguren der Erzählung abspielen, hat sie jedoch kaum zu tun. Ähnliches lässt sich von den anderen Erzählungen sagen. Anders gesagt, Dostojewskij verfolgt mit seinen Erzählungen andere Ziele als mit den Romanen. Es geht nicht mehr um den für ihn essenziellen Grundkonflikt, verkörpert durch die Positionen Verderber – Retter/vermeintlicher Retter – Lehrer des Lebens, sondern eine vertiefte psychologische Analyse des russischen Menschen seiner Zeit, wobei hinter den Hauptfiguren immer wieder, sozusagen als grundlegendes Modell, der Mensch aus dem Untergrund steht. Dies gilt ganz besonders für die ab 1864 entstandenen großen Erzählungen. In diesen fünf Texten entfaltet sich der Konflikt vorwiegend rund um das Motiv des problematischen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, wobei Dostojewskij sein Interesse auf die männlichen Figuren konzentriert. Die letzte Erzählung vom Lächerlichen Menschen kommt sogar überhaupt ohne weiblichen Widerpart aus, sieht man von dem kleinen, verhärmten Mädchen ab, das ihn auf der Straße anspricht. Wie schon festgestellt, verbindet sie manches mit Dostojewskijs letztem Roman Die Brüder Karamasow. So wie dieser eine gewisse Sonderstellung im Ganzen der fünf Romane einnimmt, kommt auch dem Traum eines lächerlichen Menschen eine Sonderstellung im kleineren Genre zu! Was zu den fünf großen Erzählungen gesagt wurde, gilt aber nicht für die drei 1873 und 1876 entstandenen Skizzen (Anekdoten, Geschichten, Erinnerungen). Diese sind eher Gelegenheitsarbeiten, Träumereien (= mečty i grezy), verbunden mit Reminiszenzen an das Frühwerk des Autors. 113 In der Architektur des Gesamtschaffens Dostojewskijs bilden die Erzählungen keineswegs nur Texte, die zufällig in Arbeitspausen zwischen den Romanen entstanden, sondern sie lassen einen inneren Zusammenhang erkennen. Neben dem Aufgreifen von Themen und Erinnerungen der Frühzeit, steht im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors die Analyse des Unter-

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Eine Sentenz im handschriftlichen Text des Aufsatzes Mečty i grezy, der drei Monate nach Bobok im Tagebuch erschien, verbindet ihn mit Bobok, wo sie wiederum aufscheint. Im Übrigen reagierte Dostojewskij mit dem Beginn seiner Erzählung auf eine journalistische Bemerkung in der Zeitschrift Golos; siehe: PSS, Bd. 21, S. 402.

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grundcharakters des russischen Menschen der 1860er- und 70er-Jahre. Eine die tieferen Schichten des Bewusstseins bloßlegende psychologische Analyse verdrängt und marginalisiert die in den Romanen stets unterschwellig präsente ideologische Ausrichtung. Im Vordergrund steht das Individuum, und nicht die Gesellschaft als Ganzes. Es geht nicht um die russische Gesellschaftsentwicklung (Gerigk), sondern um die lasterhaften, abstoßenden Untergrundmenschen, wie Dostojewskij sie im Ewigen Gatten bezeichnet, die Russland bevölkern, und um Möglichkeiten, aus der Vereinzelung, der Isolation auszubrechen. Den Weg dahin sollte der Lächerliche Mensch weisen!

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II. Werkstudien 1.

Die Erniedrigten und Beleidigten. Ein Dichter bei der Arbeit an seinem Text

Dostojewskij gilt vielfach als Autor, der ständig vor der Notwendigkeit stand, Geld zu verdienen und deshalb seine Texte in Hast und Eile schrieb, ohne genügend Aufmerksamkeit auf die formale Gestaltung, auf Stil und Sprache, zu verwenden. „Those baggy monsters“ nannte sie einst Henry James! Dass dem so nicht ist, wurde inzwischen von der Forschung festgestellt, obgleich es dazu keine einhellige Meinung gibt. Selbst ein Roman wie Der Idiot, von dem wir wissen, dass der Autor noch während der Arbeit am Roman, als bereits Teile davon in Fortsetzungen erschienen waren, nicht wusste, wie es mit der Handlung weitergehen sollte, zeigt eine Struktur und sprachliche wie stilistische Einheit, die bewundernswert sind, obgleich auch hier unterschiedliche Ansichten darüber bestehen. Ein Blick in „die Werkstatt“ des Autors hilft uns zu größerer Klarheit und Einsicht. Von Dostojewskij sind nur wenige Manuskripte erhalten geblieben. Manches ist in den Wirren der Zeitläufte verloren gegangen. So war es bekannt, dass Stefan Zweig ein Manuskript Dostojewskijs besessen hatte, das aber nicht mehr auffindbar war. Es gelang mir über die Erben Zweigs in London dieses Manuskript ausfindig zu machen und eine Fotokopie zu erhalten. Hier kann man einen Einblick in die „Werkstatt“ des Schriftstellers erhalten, der in der Tat faszinierend ist und überzeugend zeigt, wie Dostojewskij an Stil und Sprache seines Textes in vielen Details auch noch nach der Fertigstellung seines Romans gefeilt hat. Im Wiener Slavistische Jahrbuch (Band 21, 1975, S.158–172) erschien dazu mein Aufsatz. Prof. G. M. Friedländer, Redakteur der 30-bändigen Dostojewskij-Ausgabe, die damals im Entstehen war, bat mich um eine Kopie und veröffentlichte den Text des Manuskripts in Band 17 der Polnoe sobranie sočinenij (Leningrad 1976). Seit seinem 15. Lebensjahr sammelte Stefan Zweig Handschriften von Dichtern. Im Laufe von zwei Jahrzehnten baute er eine der umfangreichsten, wenn nicht die umfassendste aller Privatsammlungen auf diesem Gebiet auf. Sein Interesse galt vor allem dem Geheimnis des künstlerischen Schaffens: „Ich sammle niemals bloß die Schrift, nicht Zufallsbriefe und Albumblätter von Künstlern, sondern nur Schriften, die den schöpferischen Geist im schöpferischen Zustand zeigen, also ausschließlich Handschriften von oder aus künstlerischen Werken... Was ich suchte, waren die ursprünglichen Entwürfe von Dichtungen oder Kompositionen, weil mich das Problem der Entstehung eines Kunstwerkes sowohl in den biographischen wie in den psychologischen Formen mehr als alles andere beschäftigt. Je-

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ne geheimnisvollste Sekunde des Überganges, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Vision und Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt ...“ 114

Dem Geheimnis des dichterischen Schaffens widmete sich Zweig auch in seinen biografischen Studien großer Dichter. F. M. Dostojewskij und „die slawische Dämonie“, wie Zweig dessen Genie charakterisierte, interessierten ihn früh. Schon 1908 wollte Zweig mit der Arbeit an einer Biografie Dostojewskijs beginnen. Zur Ausführung kam es allerdings erst fünf Jahre später. Die Dostojewskij-Biografie wurde 1913–1914 geschrieben und erschien 1920 in dem Band Drei Meister (Balzac – Dickens – Dostojewskij). Ein Jahr, bevor Zweig mit der Niederschrift seiner Dostojewskij-Biografie begann, erwarb er eine Handschrift Dostojewskijs, die in seiner Kartei so beschrieben wird: Fedor Michailowitsch Dostojewskij 1829–1881 115 Beschreibung Originalmanuskript a. 8 1/2 pag quarto Inhalt Zweites Kapitel des dritten Teiles seines Romans „Die Erniedrigten und Beleidig ten“. Es ist im vorliegenden MS als sechstes Kapitel bezeichnet (und enthält auch sonst Abweichungen gegen den Druck), was vermutlich auf das Erscheinen im Feuilleton seiner Zeitschrift Bezug hat. Meines Wissens das erste in die Öffentlichkeit gelangte MS Dostojewskijs, alle spä teren Bücher hat er seiner zweiten Gattin diktiert und die MSS sind im Dostojews kij-Museum in Moskau. Anmerkung Sicherlich das einzige MS Dostojewskijs außerhalb Russlands. Erworben durch Martin Breslauer am 13. Sept. 1912

Hier nun verwirren sich die Fäden. In einem Artikel im Deutschen Bibliophilenkalender 1914 erwähnte Zweig, dass er im Besitz der Handschrift dreier Kapitel des Romans sei. In einem späteren Artikel Meine Autographensammlung in Philobiblon (Heft 7, 1930. S. 279–289) findet sich dieselbe Feststellung. Dagegen erwähnte Zweig in einem Brief an Gorkij vom 29. August

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Zitiert nach Hanns Ahrens (Hg.): Der große Europäer Stefan Zweig. Kindler, München 1956, S. 182 u. 185. Dostojewskijs Geburtsjahr ist 1821!

1923, dass er zwei Kapitel des Romans besäße. 116 In der Kartei Zweigs scheint nur das erwähnte 2. Kapitel des III. Teils der Erniedrigten und Beleidigten auf. Die Karteikarte ist undatiert, dürfte aber aus den 20er- oder frühen 30er-Jahren stammen. Laut Dr. Richard Friedenthal, dem langjährigen Freund des Dichters, der Zweigs Autographensammlung gut kannte und auch seinen literarischen Nachlass betreute, besaß Zweig nur dieses eine Kapitel. Die Erben Zweigs, in deren Besitz sich Zweigs Autographensammlung noch heute befindet, wissen gleichfalls nur von einem Kapitel. Demnach darf angenommen werden, dass Zweig tatsächlich nur das 2. Kapitel des III. Teils besaß. Eventuell liegt darin auch die Quelle der Fehlangaben: Drei Kapitel in den beiden Artikeln, statt 3. Teil; und zwei Kapitel statt 2. Kapitel im Brief an Gorkij. 117 Dostojewskij begann mit der Niederschrift der Erniedrigten und Beleidigten im Frühjahr 1860. Er beendete den Roman im Juli des folgenden Jahres. Noch während der Niederschrift erschien der Roman in Fortsetzungen in der Zeitschrift Vremja (Die Zeit. Nr. 1–7, 1861), die von den Brüdern Dostojewskij herausgegeben wurde. Im Gegensatz zu späteren Veröffentlichungen in Buchform im Herbst 1861 (1865, 1879, usw.) sind in der VremjaAusgabe die vier Teile des Romans von etwas ungleicher Länge. Der I. Teil der Vremja-Ausgabe beinhaltet 15 Kapitel, der II. Teil jedoch nur sieben Kapitel. In allen späteren Ausgaben sind es elf Kapitel. Der III. Teil bestand ursprünglich aus elf Kapiteln, später sind es zehn Kapitel. Der IV. Teil bestand aus zwölf Kapiteln, später sind es neun Kapitel. Daraus ergibt sich, dass das 2. Kapitel des III. Teils der Buchausgabe dem 6. Kapitel des III. Teils in der Vremja-Fassung entspricht, so wie es Zweig in seiner Kartei auch vermerkte. Dies wird vom Manuskript bestätigt, dessen erste Seite mit „Kapitel 6“ („Glava 6“) betitelt ist. 118 116 117 118

Perepiska A. M. Gor'kogo s zarubežnymi literatorami. In: Archiv Gor’kogo, Bd.VIII, 1960, S. 11. Hier handelt es sich möglicherweise um eine Fehlübersetzung. Zweigs Brief an Gor'kij wurde nur in russischer Übersetzung veröffentlicht. Es handelt sich bei dem Manuskript um fünf unlinierte, doppelseitig beschriebene Blätter, die in der linken, oberen Ecke von 1) bis 5) numeriert sind. Die regelmäßige, ästhetisch ansprechende Handschrift entspricht der Dostojewskijs aus den 1860erJahren, wie ein Vergleich mit Schriftproben aus dieser Zeit zeigt. Die Blätter 1), 2) und 4) beinhalten je 29–32 Zeilen pro Seite. Das dritte Blatt ist enger beschrieben und enthält 49, bzw. 40 Zeilen. Das fünfte Blatt ist nur einseitig beschrieben und enthält 16 Zeilen. Ein Vergleich mit der Erstveröffentlichung in Vremja zeigt, dass das Manuskript bis auf einige geringfügige Abweichungen mit dem Text in Vremja übereinstimmt. Die zahlreichen Korrekturen, die Dostojewskij unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans für die Veröffentlichung in Buchform am Text an-

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Das „Kapitel 6“ scheint nicht zufällig von Zweig erworben zu sein. Es handelt von einer der zentralen Stellen des Romans, in welchem die ideellen und personellen Konflikte voll zur Sprache kommen. Natascha und Aljoscha, dessen Vater, der innerlich korrupte, nach Geld, Macht und Triebbefriedigung strebende Fürst Walkowskij und der Erzähler Iwan Petrowitsch, ein Porträt des Autors als junger Literat, kommen in einer jener Konklavszenen zusammen, die bei Dostojewskij stets Schlüsselstellen sind. Jedes Wort, jeder Ton und jede Geste sind hier von Bedeutung. Nach einem einleitenden Bericht Aljoschas, mit dem er sein fünftägiges Fernbleiben von Natascha erklären und entschuldigen will, folgen zwei Rededuelle, in denen die Positionen der Hauptpersonen scharf umrissen werden. Auf das Duell zwischen Vater und Sohn Walkowskij folgt das wesentlichere Duell zwischen Natascha und dem Fürsten. 119 Aljoschas weltfremder, romantisch gefärbter Idealismus wird vom Fürsten als zutiefst unmoralisch entlarvt, worin sich eine Kritik Dostojewskijs an der sozialpsychologischen Funktion des romantischen Idealismus verbirgt, wie sie kurz darauf in den Notizen aus dem Kellerloch noch schärfer formuliert wurde. Des Fürsten geheime Manipulation seines Sohnes durch scheinbares Nachgeben – er ist sogar bereit, Natascha als Schwiegertochter zu akzeptieren und versucht dadurch Aljoschas Interesse an Natascha zu mindern, um ihn dem Einfluss der idealistisch gesinnten und reichen Katja zugänglich zu machen – wird von Natascha entlarvt. Die beiden Duelle erzeugen eine dramatische Spannung, wie sie sonst kaum im Roman zu finden ist. Darüber verliert der Leser leicht einen anderen, interessanten Aspekt aus dem Auge. Dazu gehören auch die autobiografischen Züge in der Beschreibung des Zirkels der ,,Utopisten“, in den Aljoscha durch die Brüder Borenka und Lewenka eingeführt wird. Es scheint, dass dieser Schilderung ursprünglich im Manuskript mehr Raum zugewiesen war. Das Manuskript enthält eine Vignette von insgesamt zehn Sätzen, die dem Anführer des Zirkels Besmygin

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brachte, fehlen im Manuskript. Demnach scheint gesichert, dass das „Glava 6“ tatsächlich einen Teil der aller Wahrscheinlichkeit nach letzten Redaktion des Romans in der Handschrift des Dichters darstellt. Stefan Zweig fügte ein Blatt des Manuskripts im Faksimile seiner Einleitung zur Insel-Ausgabe der Werke Dostojewskijs bei. Siehe F. M. Dostojewski, Sämtliche Romane und Novellen, Bd. 1, Arme Leute, Leipzig, Insel-Verlag 1921, S. LXXXVIII–LXXXIX. Eine Kopie des Manuskripts wurde vom Verfasser der Redaktion der neuen Dostojewskij-Ausgabe zur Verfügung gestellt. Das Manuskript wurde im Band 17 der Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach (Leningrad, Nauka 1976) veröffentlicht. Das Duell zwischen Natascha und dem Fürsten setzt sich im dritten Kapitel des III. Teils fort und findet da seinen Höhepunkt.

gewidmet sind und eine sozialkritische Motivierung der Bestrebungen des Zirkels geben, stets größte Aufrichtigkeit zueinander zu üben. Dostojewskij strich die Szene, und so blieb sie bislang unbekannt. Das Manuskript reflektiert auch Dostojewskijs Bestreben, die Dramatik der Handlung nicht ins Melodramatische abgleiten zu lassen. Eine Anzahl von Korrekturen, vor allem in der Rede Aljoschas, bestätigt dies. Weiters versuchte Dostojewskij, wie dies von zahlreichen Korrekturen bezeugt wird, die Redeweise dem Charakter des jeweiligen Sprechers anzupassen. Eine Reihe von Korrekturen im Erzähltext, der Iwan Petrowitsch zugeordnet ist, spiegelt Dostojewskijs Versuch, diesen Text der Perspektive und den Reaktionen des Erzählers, der an den beiden Duellen als stummer Zeuge teilnimmt, anzugleichen. Die Abweichungen vom Vremja-Text betreffen Textvarianten, Korrekturen und Orthografie. Hier sollen nur Textvarianten und diejenigen Korrekturen besprochen werden, die uns Rückschlüsse auf die Intentionen des Autors bei der Abfassung des Romans erlauben. 1. Textvarianten: Die Varianten vom gedruckten Text sind gering an Zahl und betreffen fast ausschließlich Wörter, die Dostojewski] möglicherweise noch in den Korrekturen verbessert hat. 120 Sie betreffen fast ausschließlich Aljoscha, der in diesem Kapitel eine zentrale Position einnimmt. Dostojewskij verändert die Vorsilbe eines Verbs, ersetzt den Diminuitiv durch die volle Form (MS: Händchen; Druckfassung: Hand), streicht aus dem dreifachen „Du“ in der Rede Aljosches ein „Du“; reduziert die emotionale Wucht des Verbs (MS: „schrie auf“; Druckfassung: „sagte“). Es handelt sich bei den angeführten Beispielen um stilistische Varianten, die im Manuskript meist ausdrucksstärker sind als die letztlich in Vremja gedruckten Formen. Emotional und subjektiv gefärbte Ausdrücke wurden im gedruckten Text entweder weggelassen oder durch neutrale Formen ersetzt. Eine weitere Variante ist von Bedeutung. Es handelt sich um die Namen der beiden Cousins Katjas, die im Manuskript Lewin’ka und Borin’ka geschrie-

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Alle Hervorhebungen im Kursivdruck stammen vom Verfasser. Zusätze in Klammern sind Ergänzungen oder Erläuterungen des Verfassers. Mit Rücksicht auf Leser, die des Russischen nicht mächtig sind, wurden hier die russischen Texte des MS sehr gekürzt, bzw. in Übersetzung gebracht. Textstellen aus dem Roman werden nach Band 3 der 30-bändigen Dostojewskij Ausgabe PSS, Leningrad, Nauka 1972 zitiert. Sie sind gekennzeichnet durch Angabe des Bandes, der Seite und Zeile. Zitate aus dem Manuskript sind mit Angabe der entsprechenden Zahl des Blattes (wobei „a“ die Vorderseite und „b“ die Rückseite des Blattes bedeutet) und der Zeile gekennzeichnet.

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ben werden. In Vremja, wie auch in der Buchausgabe des Romans, steht an Stelle des „i“ ein „e“ in der zweiten Silbe der Namen, so wie es laut Wörterbuch (Slovar’ russkich ličnych imen, Moskau, 1966) auch zu erwarten ist. Es mag von Interesse sein, dass in A. S. Gribojedows Komödie Verstand schafft Leiden dieselben Namen aufscheinen, wobei wie ursprünglich bei Dostojewskij Borin’ka geschrieben wird. In der 4. Szene des 4. Aktes der Komödie erzählt Repetilow von Lewon und Borinka. Dostojewskij dürfte beide Namen von Gribojedow übernommen haben, worauf auch die Schreibung zumindest eines der beiden Namen hindeutet. 2. Korrekturen im Manuskript, die in den gedruckten Text eingegangen sind: 1. In den folgenden Beispielen scheint Dostojewskij noch bei der Niederschrift der Letztfassung des Romans versucht zu haben, die Melodramatik des ursprünglichen Textes zu mildern. Diese Bemühungen reichen von der Weglassung eines Rufzeichens bis zur Streichung ganzer Sätze. Es ist bezeichnend, dass fast alle hier angeführten Texte aus der Rede Aljoschas stammen. Es scheint demnach, dass Dostojewskij besonders darauf bedacht war, die übermäßige Emotionalität in der Rede seines Helden zu reduzieren. So entfernt er ein Ausrufzeichen in der Rede Aljoschas, entfernt einen emotional gefärbten Einschub in seiner Rede („das ist es, was ich sage!“). Es kommt aber auch vor, dass Dostojewskij einen Beistrich durch ein Ausrufzeichen ersetzt. Von besonderem Interesse ist ein Text im MS, der zehn Sätze umfasst, die in der Druckfassung fehlen und der Wissenschaft bisher unbekannt geblieben waren. Aljoscha erzählt Natascha von den „Utopisten“, deren Zirkel er in den vergangenen Tagen besucht hatte. Ein gewisser, nicht näher beschriebener Bezmygin fungiert als Leiter des Zirkels. Aljoscha berichtet: „Ich erzählte Katja davon, und sie sympathisiert voll und ganz mit Bezmygin.“ In der Druckfassung setzt sich der Text so fort: „Und so haben wir uns alle dem entsprechend unter der Leitung von Bezmygin das Wort gegeben, das ganze Leben ehrlich und geradlinig zu handeln.“ Im Manuskript finden sich zwischen den zwei eben zitierten Sätzen weitere zehn Sätze, die uns über den Charakter Bezmygins einigen Aufschluss geben. Sie sind durchgestrichen und fehlen im gedruckten Text. Der ursprüngliche Text lautete: „Ich erzählte Katja davon, und sie sypathisiert voll und ganz mit Bezmygin. Er hat unlängst gesagt: ‚Unter den Menschen gibt es keine Wahrheit.‘ Wie oft habe ich nicht gehört, wie Menschen zu sich selbst sagten: – Ach, wir sind alle Dummköpfe, alle sind wir Gauner, – und bekennen sogar, dass sie fast schon Diebe sind. Das alles aber nur wegen der Angabe. Versucht diese Menschen wirklich zu verstehen: Sagt irgend jemandem: – hier, Bruder, sieht es bei Dir aber nicht sauber aus und dieser Bruder, – ist Dir dann ein Feind bis zum Grab! Na, sagt er nicht die Wahrheit? Wir wollen das

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nicht. Und so haben wir uns alle dem entsprechend unter der Leitung von Bezmygin das Wort gegeben, das ganze Leben ehrlich und geradlinig zu handeln.“ (MS: За, 16– 20)

Die ausgelassenen Sätze werfen ein bezeichnendes Licht auf die sozialkritische Haltung Dostojewskijs, der hier mit dem Zirkel der Utopisten wohl die Kreise kennzeichnete, denen er selbst einst in den 1840er-Jahren angehörte. Sie geben auch darüber Aufschluss, warum die Teilnehmer des Zirkels sich entschlossen haben, stets aufrichtig zueinander zu sein. Im gedruckten Text bleibt die Phrase „und dem entsprechend“, mit welcher der zweite der beiden weiter oben zitierten Sätze beginnt, ohne Erläuterung, was das Verständnis des gekürzten Textes der Druckfassung beeinträchtigt. Im Gespräch mit seinem Vater sagt Aljoscha: „Ich begeistere mich für hohe Ideen“ (Bd. 3, S. 311, 19). Im Manuskript stand ursprünglich „heilige“ an Stelle von „hohen“. (MS: 3a, 48). Das letztere Adjektiv deutet auf die romantisch-idealistische Einstellung Aljoschas hin. Hier wie auch in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch ist „hoch“ („vysokij“) ein Schlüsselwort für das Verständnis der Ideologie, die Dostojewskij in beiden Werken seiner Kritik unterzieht. Als Aljoscha seine Betrübnis über die ironisch-spöttische Art seines Vaters ausdrückt, der Aljoschas Idealismus ins Lächerliche zieht, reagiert Natascha im Manuskript darauf mit „geheimem Mitgefühl“. In der Druckfassung ist der Satz vereinfacht, „geheim“ entfällt. Dostojewskij vereinfachte den Text. Insgesamt deuten Dostojewskijs Korrekturen auf ein Schwanken zwischen zwei gegensätzlichen Bestrebungen hin. Einerseits sollte Aljoscha sich seinem Charakter gemäß in einer emotional angereicherten Sprache audrücken, andrerseits versuchte Dostojewskij übermäßige Melodramatik zu vermeiden. Letztlich überwog, wie auch in den meisten zitierten Beispielen, die Tendenz, den Stil zu straffen. Eine Reihe von Korrekturen im Manuskript zeigt Dostojewskijs Bemühen, durch stilistische Verbesserungen eine möglichst große Klarheit im Ausdruck zu erzielen. Das kann mit einem eingeschobenen Adverb geschehen, das die Handlung in Zeit oder Raum fixiert, mittels Umformung eines Satzes, oder durch einen eingeschobenen Satz, der aus der auktorialen Perspektive heraus die Handlung, bzw. deren Träger, näher charakterisiert. Dies geschieht durch eingeschobene Wörter, Wendungen und Sätze. Dostojewskij fügt ein „hier“, oder „dann/damals“ ein oder gleich eine ganze Phrase, die einen vagen Sachverhalt konkretisiert, wie in folgendem Beispiel. Aljoscha erzählt von seinen neuen Freunden, den „Utopisten“: „Wir unterhielten uns alle über unsere Gegenwart, Zukunft und redeten so gut, so geradlinig und einfach ...“ (Bd. 3, S. 309, 10–11). Im MS fügte er nach „Zukunft“ die Worte ein: „über die Wissenschaften, über die Literatur“. Interessant ist auch, wie

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Dostojewskij versucht, den psychologischen Hintergrund in der Rede seiner Personen einzubringen. Aljoscha erzählt von den Ereignissen der letzten Tage. Er wendet sich an seinen Vater. Im Manuskript stand ursprünglich: „Und am Mittwoch als ich abreiste hast Du auch einige Anspielungen auf unsere jetzige Situation gemacht, von ihr gesprochen, aber irgendwie, nicht so wie ich es hören wollte von Dir, irgendwie zu simpel, irgendwie lieblos, ohne solche Achtung ...“

Im MS fügte Dostojewskij über der Zeile einige Ausdrücke ein, welche die Haltung des Vaters Aljoschas, die hier beschrieben wird, eindeutiger im Sinne versteckter Anspielungen charakterisieren. Der gedruckte Text lautet nun wie folgt. Die Einschübe sind kursiv gesetzt: „Und am Mittwoch als ich abreiste hast Du auch einige gewisse Anspielungen auf unsere jetzige Situation gemacht und von ihr gesprochen – nicht beleidigend, im Gegenteil, aber irgendwie nicht so wie ich es hören wollte von Dir, irgendwie zu simpel, irgendwie lieblos, ohne solche Achtung vor ihr ...“

Weitere stilistische Korrekturen betreffen die Erzählperspektive. Es scheint, dass Dostojewskij betonen wollte, dass Fürst Walkowskij dem Sohn nachspioniert und deshalb den Text entsprechend korrigierte. Aljoscha fühlt sich schuldbewusst, als könnte er das vermeintliche Vertrauen des Vaters, von dem er sich abhängig fühlt, missbraucht haben. Dostojewskij lag augenscheinlich daran, das psychologisch komplizierte Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn möglichst zu konkretisieren. Dazu ein kleines Beispiel. Fürst Walkowskij drückt sein Erstaunen über die Haltung Katjas aus, die Aljoschas Verhältnis zu Natascha, sehr gegen den Willen des Fürsten, unterstützt: „Ich habe übrigens viel von ihr erwartet, aber nicht das ...“ (Bd. 3, S. 309, 30–31). Im Manuskript stand ursprünglich an Stelle der Vergangenheit die Gegenwart „erwarte“ („ožidaju"). Der Gebrauch der Gegenwart hätte hier aber allzu deutlich auf den geheimen Plan des Fürsten angespielt, der erwartet (Gegenwart!), dass Katja letztlich Aljoscha an sich ziehen werde, was schließlich auch geschieht. Dostojewskij korrigierte das Verb. Die Vergangenheit wirkt hier neutraler und harmloser, so wie es den Intentionen des Fürsten entspricht. Wie intensiv Dostojewskij seine Formulierungen im Hinblick auf ihre Interpretationsmöglichkeiten überdachte, zeigt folgendes kleine Beispiel. Als Aljoscha seine lange Rede, mittels derer er Natascha sein fünftägiges Fernbleiben erklären will, beendet hat, bricht Fürst Walkowskij in lautes Lachen aus. Im Manuskript stand ursprünglich: „Aber nach den letzten Worten brach der Fürst in Lachen aus“ (MS: 3a, 39). Die kursiv gesetzte Wendung ist im Manuskript durchgestrichen und über der Zeile mit der Formulierung, „sobald Aljoscha geendet hatte“ ersetzt (vgl. Bd. 3, S. 311, 4.). Damit beseitigte 94

Dostojewskij eine Zweideutigkeit im ursprünglichen Text. Man hätte ja sonst annehmen können, dass das Lachen Walkowskijs sich nur auf die letzten Worte Aljoschas beziehe. Viele Korrekturen in den Personentexten zeigen Dostojewskijs Bestreben, die Dialogtexte dem Charakter des jeweiligen Sprechers anzupassen. Im Zentrum dieser Bemühungen steht Aljoscha, auf den die bei weitem größte Anzahl solcher Korrekturen fällt. So motiviert Aljoscha am Beginn des Kapitels sein Kommen mit dem Wunsch, „sein Herz“ vor allen zu öffnen („izlit’ serce“, MS: la, 29). Dostojewskij wählte letztlich den konventionelleren und idiomatischeren Ausdruck für Aljoscha: „die Seele“ („izlit’ dušu“, III: S. 306, 40–41). Er fügt auch das Wörtchen „sogar“ („daže“) ein, das für die emotionale, oft melodramatische Redeweise Aljoschas charakteristisch ist. Aljoscha erzählt Iwan Petrowitsch, dem Erzähler und Schriftsteller, dass seine Freunde seit langem mit den Werken Iwans bekannt seien: „sie alle kennen Sie, Iwan Petrowitsch, das heißt, sie haben Ihre Werke gelesen und erwarten viel von Ihnen in der Zukunft. So haben sie es selbst gesagt.“ (Bd. 3, S. 308, 48–309, 2) Die hier kursiv gesetzten Wörter fehlen im ursprünglichen Text. Sie sind über der Zeile eingefügt (MS: 2b, 2). Der eingeschobene Satz charakterisiert Aljoschas Bestreben, sich bei Iwan Petrowitsch anzubiedern, ihn als seinen Vertrauten zu behandeln. Zwei Korrekturen stammen aus der Rede der beiden Gesprächspartner Aljoschas. Natascha bemerkt, dass Aljoschas Rede bereits den Einfluss Katjas spiegelt. Sie wendet sich an Aljoscha: „Was soll das, Aljoscha! Das ist doch schon so eine Philosophie, – sagte sie, – Dir hat das sicherlich irgendwer beigebracht ... Du solltest das besser erzählen.“ (Bd. 3, S. 308, 36–38) Der hier kursiv gesetzte Satz fehlt im ursprünglichen Text und wurde erst über der Zeile eingefügt. (MS: 2a: 30) Er verdeutlicht, dass sich Natascha bereits über den unheilvollen Einfluss Katjas auf Aljoscha im Klaren ist. Fürst Walkowskij tadelt Aljoschas egozentrischen Idealismus: „Von der allgemeinen Liebe sprechen, sich für allgemein menschliche Frage begeistern und zur selben Zeit Verbrechen gegen die Liebe begehen und sie nicht bemerken – das ist unbegreiflich!“ (Bd. 3, S. 313, 11–14)

Im Manuskript stand ursprünglich an Stelle von „begeistern“ das Verbum „interessieren“; „begeistern“ wurde wohl gewählt, weil es besser dem sarkastisch-ironischen Stil des Fürsten entspricht. Korrekturen im Erzählertext: Einige stilistische Verbesserungen, Streichungen und Interpolationen modifizieren die objektive auktoriale Erzählposition zugunsten einer mehr subjektiv 95

gefärbten, die dem Charakter des Erzählers Iwan Petrowitsch angepasst ist. So berichtet Iwan Petrowitsch über seine Beobachtungen anlässlich einer gesellschaftlichen Veranstaltung. Im Manuskript lautet die Stelle so: „Diesen ganzen Abend beobachtete ich aufmerksam den Fürsten und überzeugte mich voll und ganz, dass er seinen Sohn überhaupt nicht liebt, obwohl sie in der Gesellschaft auch das Gegenteil sprachen ... Aber er verstand es alle zu täuschen.“ (MS: 2a, 4–5)

Dostojewskij scheint den Text zweimal geändert zu haben. Zuerst wollte er die mit „Gegenteil“ angedeuteten Zweifel verdeutlichen. Also strich er „Gegenteil“ und fügte über der Zeile eine nicht ganz ausgeschriebene Phrase ein: „auch über seine väterliche Liebe“. Diese objektive Feststellung wurde dann weiter im Sinne einer subjektiven Bewertung mit der auch im gedruckten Text aufscheinenden Phrase „über seine allzu heftige väterliche Liebe“ ersetzt (vgl. Bd. 3, S. 308, 3–4). Den darauf folgenden letzten Satz, der eher für eine auktoriale Erzählposition als für einen fiktiven, am Geschehnis des Romans teilnehmenden Erzähler charakteristisch ist, strich Dostojewskij zur Gänze. Aljoscha kritisiert seinen Vater und drückt die Hoffnung aus, dass er in Zukunft auch an den Versammlungen des Zirkels der „Utopisten“ teilnehmen werde. Im Manuskript ist die Reaktion des Vaters ursprünglich mit der Wendung „sah schweigend und mit überaus giftigen Spott auf Aljoscha“ charakterisiert. (MS: За, 37) Die hier kursiv gesetzten Wörter sind durchgestrichen und über der Zeile mit „blickte“ ersetzt, das gleichfalls durchgestrichen ist. Daneben ist die endgültige Fassung eingefügt: „ ... hörte er Aljoschas Ausfall zu Ende.“ (Bd. 3, S. 311, 1–2) Vom neutralen „sah er Aljoscha an“ wechselte Dostojewskij zum etwas ausdrucksvolleren „blickte ...“, um dann auch diese Formulierung zu streichen und mit dem bezeichnenderen Ausdruck „hörte er Aljoschas Ausfall zu Ende“ zu ersetzen, der zugleich eine Bewertung der voraus gegangenen Rede Aljoschas seitens des Erzählers beinhaltet. Aus ähnlichen Überlegungen ersetzte Dostojewskij eine eher objektiv wirkende, auktoriale Bewertung mittels des Adverbs „sichtlich“ („vidno“) mit einer subjektiven, vom Erzähler gefärbten Wendung „allzu deutlichen“ („sliškom zametno“), wobei er damit zugleich eine Stellungnahme des Erzählers wiedergibt (vgl. Bd. 3, S. 311, 6). Ähnlich steht es mit folgender Korrektur. Aljoscha bedauert die Haltung des Vaters und verteidigt seine Ideale. Der Erzähler berichtet die Reaktion des Fürsten. Im Manuskript stand ursprünglich: „Der Fürst hörte mit Erstaunen dem Sohn zu und wandte sich ihm sogleich zu.“ (MS: 3b, 5–6) Die hier kursiv wiedergegebenen Wörter sind im Manuskript durchgestrichen und über der Zeile mit der Wendung „änderte seinen Ton“ („peremenil svoj ton“)

96

ersetzt. Die objektive Erzählposition weicht wiederum der subjektiv gefärbten des Erzählers (vgl. Bd. 3, S. 311, 27–28). An anderer Stelle beschreibt der Erzähler Nataschas Verhalten, als der Fürst mit spöttischem Lachen auf Aljoschas Rede reagiert. Im Manuskript stand ursprünglich: „Schon begann Natascha ihn [= den Fürsten] mit unverhüllter Abneigung zu betrachten.“ (MS: 3a: 38) Die hier kursiv gesetzten Wörter sind im Manuskript durchgestrichen und über der Zeile mit „beobachtete ihn“ („sledila za nim") ersetzt. Der Satz ist damit prägnanter und ausdrucksvoller formuliert und beinhaltet nun eine Bewertung durch den Erzähler, die im Verbum „beobachtete“ (,,sledila“) enthalten ist, das auf ein persönliches Interesse Nataschas hinweist. Wenn wir nun auf Grund dieser Darstellung der Varianten und Korrekturen im Manuskript des Kapitels zu allgemeinen Schlussfolgerungen kommen wollen, so fällt dreierlei auf. Dostojewskij bemühte sich vor allem, die Rede Aljoschas seinem Charakter anzupassen. Mehr als die Hälfte der Korrekturen entfallen auf ihn. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass auch etwas mehr als die Hälfte des Kapitels aus der Rede und den Repliken Aljoschas besteht. Auffallender ist der große Anteil der Korrekturen, die auf Iwan Petrowitsch entfallen. Fast ein Drittel der Korrekturen finden sich im Text, der ihm zugeordnet ist. Dies, obwohl der Text Iwans nur den siebenten Teil des Kapitels ausmacht! Man vergleiche den Anteil der Personentexte und des Erzähltextes am gesamten Text des Kapitels und die Verteilung der Korrekturen auf die verschiedenen Texte in der folgenden Tabelle: Anzahl der Texte

Aljoscha Fürst Iwan Petrowitsch Natascha Summe:

Anzahl der Zeilen im 2. Kapitel Zeilen 250 90 60 40 440

in % 57 20 14 9 100

Anzahl der Korrekturen Korrekturen 21 3 10 4 38

in % 55 8 26 11 100

Daraus lässt sich schließen – obwohl offen bleiben muss, inwieweit sich dieser Schluss auf den Roman als Ganzes anwenden lässt –, dass Dostojewskijs Hauptaugenmerk darauf gerichtet war, die Erzählperspektive glaubwürdig darzustellen. 97

Auffallend ist auch die geringe Zahl der Korrekturen, die im Text des Fürsten aufscheinen. Obwohl dieser Text immerhin ein Fünftel des gesamten Kapitels ausmacht, entfällt auf ihn nur etwa ein Zwölftel der Korrekturen. Dies könnte bedeuten, dass der Charakter, die Redeweise und die Rolle des Fürsten, „des melodramatischen Bösewichts mit durchwegs schlechten Eigenschaften“ (Trubetzkoy), Dostojewskij die geringsten Schwierigkeiten verursachte. Abgesehen von diesen spekulativen Feststellungen, denen in Anbetracht der Begrenztheit des Materials, das Kapitel beinhaltet nur neun von den insgesamt 437 Seiten des Romans in der hier benutzten Ausgabe, nur tentative Bedeutung zukommt, ist doch ersichtlich, wie intensiv Dostojewskij noch bei der Niederschrift der Letztfassung am Stil des Romans arbeitete. Dieses früheste aller uns erhaltenen Manuskripte der künstlerischen Werke des Dichters bestätigt, was wir von seinen späteren Werken wissen, nämlich dass Dostojewskij den formalen Aspekten seiner Romane besondere Aufmerksamkeit beimaß. 121 Was Trubetzkoy in seiner Dostojewskij-Studie über die Entwicklung der Darstellungstechnik des Dichters sagte, zeigt sich auch hier bestätigt. Dostojewskij arbeitete an „der Verwandlung des Objekts der Darstellung in ein Subjekt der Darstellung“, an „der Technik der katastrophalen Massenszenen und der Charakteristik durch Dialoge und Gegenüberstellungen“. 122

121 122

98

Nur noch von Dostojewskijs unvollendetem Roman Netočka Nezvanova ist ein Teil des Manuskriptes erhalten geblieben. N. S. Trubetzkoy: Dostojewskij als Künstler. The Hague 1964, S. 178.

2.

Der Erzähler in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus

Mehr als in anderen Werken des Autors ist der Erzähler in diesem Text eine Gestalt, deren Rolle und Funktion im Text sehr unterschiedlich gesehen wird. Liest man ihn als Bericht des Autors über seine Erlebnisse in der sibirischen Haft, also im Sinne von Memoiren bzw. als stark autobiografisch gefärbte Dokumentation der Zustände in einem sibirischen Gefängnis („ostrog“) – und das war zweifelsohne die Lesart des zeitgenössischen Lesers –, so bleibt vom vorgeschobenen Erzähler Alexander Petrowitsch Gorjantschikow ebenso wie vom namenlosen Herausgeber, der ein „alteingesessener Bewohner Sibiriens“ ist, nicht mehr viel übrig. Ihre Funktion reduziert sich auf die Einleitung, in der sich Dostojewskij, so heißt es, gegenüber der Zensur deutlich vom Text distanzieren möchte: Die geschilderten Zustände beruhten sozusagen zwar auf persönlichen Erlebnissen, aber nicht solchen des Autors, und wären überdies fiktionalisiert. Nachdem die Zensur, abgesehen vom 1. Kapitel, wider Erwarten kaum Schwierigkeiten machte, konnte Dostojewskij in der Folge deutlicher werden und die Fiktion fallen lassen, was er, so unterstellt man es ihm, stillschweigend auch getan hätte. Der zeitgenössische Leser verstand den Text aus dem unmittelbaren Kontext der Zeit heraus tatsächlich von vornherein autobiografisch, eben als Erinnerungen des Autors an seine Haft. Die Forschung hat ein Übriges getan und festgestellt, dass ein Großteil der geschilderten Sachverhalte und Personen tatsächlich auf Dostojewskijs Erlebnissen im Lager beruht. N. S. Deržavin hat 1924 in einer Studie der Aufzeichnungen den dominanten Standpunkt der Literaturwissenschaft, der sich darauf stützt, deutlich formuliert: „Von den ersten Zeilen an der Aufzeichnungen aus einem toten Haus ersteht vor uns in seiner ganzen Größe nämlich Dostojewskij, ihr echter Autor, den fiktiven Autor Alexander Petrowitsch Gorjantschikow sehen wir in keiner einzigen Zeile der Erzählung.“ 123

Im Gegensatz zu dieser Sicht des Erzählers, die in meist abgeschwächter Form bis heute dominiert, steht etwa R. L. Jacksons Sicht, der an der kontinuierlichen Präsenz des Erzählers Gorjantschikow im Werk festhält, aber der Meinung ist, dass der Autor im Erzähler zu einer idealisierten Selbstdarstellung gefunden hätte. I. D. Jakubowitsch zieht in den Anmerkungen der Akademieausgabe PSS dennoch den Schluss:

123

Deržavin 1924, S. 6; zit. in Tunimanov 1980, S. 81. Siehe Literaturverzeichnis auf S. 129.

99

„Alles das gibt uns nicht das Recht, Gorjantschikow als selbständigen Charakter zu betrachten, obwohl dergleichen Versuche gemacht wurden. (siehe z. B.: I. T. Mišin. Obraznaja struktura romana F. M. Dostoevskogo „Zapiski iz Mertvogo doma.“ In: Učenye zapiski Armavirskogo pedagogičeskogo instituta, 1958, t.3, vyp.l, str.136– 139)“ 124

Er stützt sich dabei auf Kirpotin, der 1966 in seiner Dostojewskij Studie festgestellt hatte, dass der Erzähler wegen Ermordung seiner Gattin nach Sibirien gekommen wäre, Dostojewskij aber bereits im 2. Kapitel der Aufzeichnungen vom politischen Hintergrund der Straftaten der adeligen Häftlinge erzählt. Beginnend mit diesem Kapitel spreche Dostojewskij in eigenem Namen und habe den Erzähler vergessen. (Dostojewskij 1972, S. 289) Hält man dagegen an dem fiktionalen Rahmen fest, dann verlagert sich die Fragestellung. Gorjantschikow wird dann ohne Zweifel zu einer zentralen Figur des Werkes. Er ist ein Ich-Erzähler, ähnlich dem Iwan Petrowitsch in den Erniedrigten und Beleidigten oder Arkadij im Jüngling, die alle im Zentrum der Romanhandlung stehen. Übrigens haben A. L. Bem und wiederum M. S. Al’tman die Vermutung ausgesprochen, Gorjantschikow sei gar mit dem Erzähler G-w in den Dämonen identisch! (Al’tman, 1975, S. 169) Es stellt sich dann die Frage, inwieweit es dem Autor gelungen ist, die Poetik seiner fiktionalen Konstruktion, die er in der Einleitung entwirft, im Text auch glaubhaft umzusetzen. Dies ist eng verbunden mit der Frage des Genres der Aufzeichnungen, worauf hier nur am Rande eingegangen wird. Eines steht jedoch fest und ist jedem Leser Dostojewskij’scher Texte bekannt. Sie sind alle mehr oder weniger stark mit autobiografischem Gehalt angereichert. Dies gilt in besonders hohem Ausmaß für Texte, die im Titel als Aufzeichnungen (= „Zapiski“) gekennzeichnet sind. Dies schließt die Aufzeichnungen aus dem Untergrund und Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke ein. Dennoch sind sie alle fiktionale Texte, wenngleich auch die Nähe zur Publizistik – Dostojewskij war gerade zur Zeit seiner Arbeit an den genannten Texten journalistisch überaus aktiv – spürbar ist. Was das Genre betrifft, so möchte ich auf M.G. Gigolow verweisen, der mit Bezug auf alle Werke Dostojewskijs bis 1865 zwei Grundmuster benennt, die Handlung und Aufbau bestimmen: Bekenntnis (Ispoved’) und Chronik (chronika). Er hat auch eine Typologie der Erzähler des jungen Dostojewskij (1845–1865) aufgestellt und betont zu Recht die starke autobiografische Prägung der aktiven Erzähler, d. h. der Erzähler, welche Beobachter, Augenzeugen und in der Regel auch Teilnehmer der Erzählhandlung sind. Sie sind nicht nur gleichen Alters wie der Autor, sondern teilen auch seine soziale

124

Dostojewskij PSS, Bd. 4, S. 289.

100

Stellung und persönlichen und charakterlichen Eigenschaften. Dazu gehören der urbane Hintergrund, eine anonyme Lebensweise, gekennzeichnet von Armut, Einsamkeit, Mangel an gesellschaftlichen Kontakten, niedrige Abkunft, ein Hang zu Verträumtheit bis zu Versponnenheit, und sie sind körperlich und psychisch angekränkelt (vgl. bei Gigolow). Gorjantschikow fügt sich in diese Reihe aktiver Erzähler gut ein. Auch er ist Adeliger, aber deklassiert, kommt zwar von einem ländlichen Gut, lebt aber nach Verbüßung der Strafe ein urbanes Leben in einem „Winkel“ einer sibirischen Kleinstadt. Seine soziale Stellung, seine Lebensumstände entsprechen voll und ganz dem geschilderten Schema. Auch hier zeigt sich eine Parallele zu Dostojewskijs Lebensumständen. Dostojewskij gehörte zwar dem Adelsstand an, konnte sich aber keineswegs eine standesgemäße Lebensweise leisten. Aus dem Rückblick verfasst nun dieser Gorjantschikow eine Chronik seiner Haft, sozusagen die Bekenntnisse eines Ex-Sträflings. In diesen Rahmen hat Dostojewskij eigene Erlebnisse als Häftling eingebettet. Noch etwas ist zu beachten, wird aber in der Regel übersehen. Dostojewskij war überaus lange Zeit mit den Aufzeichnungen befasst. Er begann bereits bald nach der Entlassung aus dem Straflager im Jahre 1855 daran zu arbeiten. Mit Jahresbeginn 1857 soll der Text zum Teil fertig gestellt gewesen sein. Die Einleitung und die darauf folgenden vier Kapitel erschienen im Herbst 1860, bzw. zu Jahresbeginn 1861. Die vollständige Buchausgabe lag 1862 vor. In der Werkausgabe von 1865 wurden die Aufzeichnungen ebenfalls eingeschlossen. In der Zeit von 1855 bis 1863, als Dostojewskij intensiv mit den Aufzeichnungen beschäftigt war, erschienen Das Dorf Stepantschikowo (1859), Onkelchens Traum (1859), Die Erniedrigten und Beleidigten (1861), Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (1863). Unmittelbar darauf folgten die Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864) und der Roman Schuld und Sühne (1866), um nur die wesentlichsten Texte zu erwähnen. Dostojewskij schrieb zur gleichen Zeit publizistische Texte, wie die St. Petersburger Träumereien in Versen und Prosa (1861) und Vier Aufsätze zur russischen Literatur, deren Plan auf das Jahr 1860 zurückgeht! Die augenscheinlichen Parallelen zwischen dem Erzähler aus dem Toten Haus und den Hauptfiguren und inhaltlichen Motiven der erwähnten Texte verdienten mehr Beachtung, als sie bisher in der Literatur erfahren haben! Dies betrifft besonders, wie ich meine, den Träumer bzw. Flaneur der St. Petersburger Träumereien und den Menschen aus dem Untergrund. Die Themen der Winterlichen Aufzeichnungen und ihr Erzähler stehen ebenfalls in einer Nahbeziehung zum toten Haus. Versteht man die angeführten Texte als Produkt einer Entwicklungsphase des Autors, dann lassen sich auch das tote Haus und sein Erzähler leichter im Schaffen Dostojewskijs einordnen! Eine genauere Untersuchung dieser Zusammenhänge steht allerdings aus! Sie 101

könnte zu einer wechselseitigen Erhellung und damit Klärung der Position des Erzählers und damit der Problematik des Genres der Aufzeichnungen führen. Dass Dostojewskij nicht nur die Aufzeichnungen gegenüber dem Zensor absichern, sondern tatsächlich einen fiktionalen Text schreiben wollte, wird noch durch einen anderen Sachverhalt verdeutlicht. Gligolašvili hat schon darauf hingewiesen, dass Dostojewskijs Verfahren der doppelten Distanzierung vom Text durch einen fiktiven Erzähler und eine ebenso fiktive Gestalt eines Herausgebers (des „alteingesessenen Bewohner Sibiriens“) manche Parallelen mit dem Verfahren Puschkins in den Erzählungen Belkins aufweist. Dieses literarische Verfahren stützt m. E. die Annahme der Fiktionalität des Textes, erstens weil dahinter ein dem russischen Leser der Zeit bekanntes literarisches Modell steht, also auf einen fiktiven Text verwiesen wird, und zweitens die doppelte Distanzierung des Autors zum Zweck der Irreführung des Zensors ganz augenscheinlich über das Ziel hinaus schießt und sich aus der Furcht vor dem Zensor allein nicht begründen lässt! Darüber hinaus ist der Text daraufhin zu untersuchen, inwieweit die in der Einleitung überaus eingehend beschriebene Figur des Erzählers mit dem Häftling der beiden Teile des Werkes bzw. dem eben aus der Haft Entlassenen identisch ist. Die Fiktionalität der beiden Teile des Textes wird durch die mehr oder minder regelmäßige Einfügung des Vor- und Vaternamens Gorjantschikows, Alexander Petrowitsch, hervorgehoben. Zu Beginn des 2. Teils wird der Erzähler zweimal hintereinander mit Vor- und Vatersnamen genannt, so als wollte ihn Dostojewskij seinen Lesern mit Absicht wieder in Erinnerung rufen! Auch am Ende des Werkes wird der Erzähler mehrfach genannt (s. Dostojewskij 1979, S. 876 u. 878). Dostojewskij macht wohl mit Absicht dem Leser klar, dass sein Held eben Gorjantschikow ist und nicht er selbst zur Zeit seiner Lagerhaft in Omsk! Auch der anonyme Herausgeber tritt zu Beginn des 2. Teils, Kap. 7, erneut mit einem Kommentar zu einer der Figuren der Handlung betreffend die Rehabilitation des vermeintlichen Vatermörders vor den Leser: „Als Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Petrоwitsch Gorjantschikow halte ich es für meine Pflicht, dem Leser vor Beginn dieses Kapitels folgendes mitzuteilen“. (Dostojewskij 1979, S. 814) Auch damit wird die Fiktionalität der Handlung unterstrichen. Die Ähnlichkeiten mit Herausgeber- und Erzählerfiguren in Puschkins Novellenband werden schon in der Einleitung deutlich. Da wird berichtet, wie der fiktive Herausgeber den Erzähler als Hauslehrer seines Gewährsmannes Iwan Iwanytsch Gwosdikow kennen lernt, dessen fünf Töchter Gorjantschikow unterrichtet. Alle drei Erzählinstanzen werden in der Art Puschkins geschildert, der Dostojewskij mit großer Wahrscheinlichkeit in dieser Hinsicht als Modell gedient hat. (s. Gigolaschwili, S. 97–99) 102

Gorjantschikow ist klein, hager, blass, sehr wortkarg, menschenscheu. Er ist europäisch gekleidet, ungemein gebildet, neue Bücher und Zeitschriften interessieren ihn, Kontakte mit anderen Personen lehnt er ab. Er kann gut formulieren, soll viel lesen, lebt aber völlig zurückgezogen. In seinen Gesichtszügen drücken sich „Leiden und Erschöpfung“ aus. Frühere Verbindungen zu Verwandten und Freunden hat er rigoros abgebrochen. Von seiner Vergangenheit wird nur berichtet, er hätte im ersten Ehejahr aus Eifersucht seine Gattin ermordet und sich dann der Polizei gestellt. Seine Strafe lautete 10 Jahre Lagerhaft in Sibirien. Nach Verbüßung der Strafe hat er sich ebendort niedergelassen. Als ihn der Herausgeber kennenlernt, hat er die 10 Jahre bereits abgebüßt, ist ca. 35 Jahre alt und lebt am Rande einer sibirischen Kleinstadt bei einer Witwe, deren Enkelin Katja er „verwöhnt“. Einmal im Jahr, am Katharinentag, lässt er eine Messe lesen. Im Laufe vieler Nächte hat er seine Erinnerungen zu Papier gebracht, die der Herausgeber nach dem frühen Tod Gorjantschikows, soweit sie noch erhalten sind, von der Witwe erwirbt und in Auszügen drucken lässt. Die Straftat hatte Gorjantschikow in sehr jungen Jahren begangen, er konnte nicht viel über 20 gewesen sein. Dostojewskij selbst war vergleichsweise ähnlich jung, d. h. erst 28 Jahre alt, als er nach Sibirien kam. Gorjantschikow verbrachte allerdings im Vergleich zu Dostojewskij mehr als die doppelte Haftzeit im Lager. Dostojewskij grenzt ihn damit deutlich von der eigenen Person ab. Wie erscheint dieser Gorjantschikow im Text der Aufzeichnungen selbst? Der 1. Teil der Aufzeichnungen schildert den Zeitraum von der Einlieferung Gorjantschikows in das Lager, als es in Sibirien bereits Winter ist, bis zum Weihnachtsfest desselben Jahres. Der 2. Teil folgt nicht mehr einem chronologischen Verlauf, sondern greift verschiedene Ereignisse aus den folgenden Jahren heraus, um schließlich mit der Entlassung aus dem Lager zu enden. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass der Häftling im Lager eine gravierende Veränderung seiner Persönlichkeit erleidet. Dies gilt in besonderem Maße für den Adeligen, der fast ausschließlich von Häftlingen aus den niedersten Schichten des Volkes umgeben ist. Einerseits wird er nolens volens zu „einem Glied des einfachen Volkes, ein Zuchthäusler wie alle anderen“ 125, andererseits wird er von diesen nicht als ihresgleichen akzeptiert. Er entwickelt Minderwertigkeitsgefühle, da er immer wieder erleben muss, dass er in den Augen der anderen als Adeliger zu nichts taugt:

125

Aufzeichnungen aus einem toten Haus, S. 583. In der Folge im Text als A. mit Angabe der Seite gekennzeichnet.

103

„... überall war ich fehl am Platze, überall störte ich, überall wurde ich barsch, mit Schimpfworten fortgejagt“. Jeder hielt sich für berechtigt, ihn „anzuschreien und fortzujagen, wenn ich zu ihm trat.“ (A., S. 601)

Seine Reaktion darauf ist, dass er sich vornimmt, „keine besonderen Annäherungsversuche zu machen“ (ibid., S. 602). Mehrfach wird geschildert, wie er tiefe Kränkungen erfährt. (Dostoewskij 1979, S. 601, 829, 836) Es ist die Rede von „feindseligen, hasserfüllten Blicken vieler Mitgefangener“ (op. cit., S. 785), die bei Gorjantschikow zu Schwermut, Verbitterung und einer schier unerträglichen Qual führen (loc.cit.). Schließlich resigniert er und findet sich mit seiner Lage im Zuchthaus ab. Die geschilderten Ereignisse werden noch potenziert durch den vollständigen Verzicht auf jegliche Privatsphäre. Gorjantschikow bekennt, dass er nie geahnt hatte, „wie furchtbar und qualvoll es sein würde, ... die ganzen zehn Jahre ...“ seines Zuchthausaufenthaltes „keine Minute“ allein zu sein. (Dostojewskij 1979, S. 489; auch S. 505) Dies, zusammen mit den eben beschriebenen Erfahrungen, führt bei ihm zu einem Rückzug ins Ich. „Alle Verständnislosigkeit, die noch in mir zurückgeblieben war, verbarg ich so tief wie möglich in meinem Innern“ (op. cit., S. 605). Seine seelische Vereinsamung wird dem Leser durch ein weiteres einprägsames Bild verdeutlicht: Gorjantschikow gewinnt in einem herrenlosen, streunenden Hund einen Freund. Als dieser ihm „vor Freude winselnd“ entgegen kommt, stürzt er auf ihn zu, „küsste ihn und umschlang seinen Kopf“ (ibid., S. 604). Die Folgen einer langjährigen Lagerhaft, wiederholter Erniedrigung, Vereinsamung und Isolation trotz ständiger, jedoch erzwungener Gemeinsamkeit werden vom Erzähler präzise zusammengefasst: „Dieses System saugt allen Lebenssaft aus dem Menschen, zermürbt und schwächt seine Seele, schüchtert sie ein und präsentiert hernach eine moralisch verdorrte Mumie, einen Halbwahnsinnigen als Musterbeispiel von Besserung und Reue.“ (Dostojewskij 1979, S. 496)

Diese Beschreibung passt augenscheinlich sehr gut zu Gorjantschikow (s. Einleitung), sie lässt sich aber keinesfalls auf Dostojewskij selbst beziehen! Nicht nur dies spricht für die kontinuierliche Präsenz des Erzählers im Werk und seine Rolle als zentrale Bezugsperson der Handlung. Gorjantschikow kam wegen Mordes in das Lager. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich gerade für Mordtaten und Mörder interessiert und versucht, eine differenzierte Einstellung zu finden: „Der eine wie der andere hat einen Menschen getötet, die Umstände beider Straftaten sind genau abgewogen, über den einen wie den andern wird fast die gleiche Sühne verhängt. Dabei sollte man sich nur einmal klarmachen, wie groß der Unterschied zwischen den beiden Taten ist. Da hat etwa der eine einen Menschen umgebracht um

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ein Nichts, um eine Zwiebel vielleicht ... Der andere aber hat getötet, um die Ehre seiner Braut, seiner Schwester oder Tochter vor einem wollüstigen Tyrannen zu schützen“. (Dostojewskij 1979, S. 543f.)

Man vergleiche damit die Geschichte vom später rehabilitierten Vatermörder, oder die eingeschobene Erzählung Akulinas Mann u. a. Wenn man berücksichtigt, dass Gorjantschikow seine Straftat in einem sehr jugendlichen Alter begangen hatte, so lässt dies auf eine Tat aus Leidenschaft schließen, die möglicherweise der Motivation des Mordes in Akulinas Mann entspricht. Das ungewöhnliche Interesse für Mordfälle ist jedenfalls eher Gorjantschikow als Dostojewskij zuzuordnen. Im vorletzten Kapitel zieht Gorjantschikow Bilanz, nun bereits die Entlassung aus dem Lager vor Augen. Wieder erwähnt er die „Schwermut“, die ihn „noch heute zuweilen“ übermannt, die „Gram“ der vielen „träge und öde“ im Zuchthaus verflossenen Jahre, die schreckliche Einsamkeit, und er entwirft ein „Programm für die Zukunft“ (op. cit., S. 858f.). Es ist die Rede von „Vorsätzen“, dann folgen drei Punkte. Allerdings bleibt der Inhalt im Dunkeln. Möglicherweise eine Andeutung, dass Gorjantschikow letztlich die Kraft fehlte, sein „Programm“ auszuführen. Im letzten Kapitel berichtet der Erzähler, dass er in der Zeit vor der Entlassung die Möglichkeit bekam, alte Bekanntschaften zu erneuern, Geld zu empfangen, nach Hause zu schreiben und sogar Bücher zu bekommen. (Dostojewskij 1979, S. 875) D. h. er konnte die Kontakte mit der Außenwelt noch vom Lager aus erneuern. Was daraus wurde, können wir nur aus Andeutungen in der Einleitung erschließen. Dort lesen wir, dass er „seit seiner Verschickung jede Verbindung zu ihnen [= Verwandtschaft] rigoros abgebrochen hatte“. Er war nach der Entlassung „einem Landbezirk außerhalb der Stadt“ (op. cit., S. 480) zugewiesen worden und zog von dort in die Stadt, in eine Wohnung „am äußersten Rande der Stadt“ (ibid., S. 482). Als die Fußketten gefallen waren und ihm der Weg in die Freiheit hinaus offen stand, da überkam ihn Optimismus: „Ja, mit Gott! Die Freiheit, ein neues Leben, Auferstehung von den Toten ... Was für ein herrlicher Augenblick!“ (ibid., S. 879). Dies sind die letzten Worte des Romans. Es bleibt offen, was zwischen diesem Zeitpunkt und der in der Einleitung geschilderten Begegnung des „Herausgebers“ mit Gorjantschikow geschah. Dem Leser ist nicht zu verdenken, dass er in der Regel die hier referierten Sachverhalte aus den letzten beiden Kapiteln auf Dostojewskij selbst bezieht. Wir wissen, dass sie auf ihn ebenfalls zutrafen. Umgekehrt ist aber festzuhalten, dass sie in keiner Weise dem Charakter und den Umständen Gorjantschikows widersprechen. Sie lassen sich mit gleicher Berechtigung auf beide Personen beziehen. Berücksichtigt man jedoch den Kontext des gesamten Textes, dann muss man sie, so meine ich, in erster Linie auf den Erzähler beziehen. Denn 105

nur so bleibt der Text in sich geschlossen und lässt sich als monumentales Zeitgemälde verstehen, das mit dem in der Einleitung bereits vorweg genommenen Tod des Helden seinen natürlichen Abschluss findet. Eine Frage bleibt allerdings offen: Was geschah mit Gorjantschikow in dem kurzen Zeitabschnitt zwischen der Entlassung und der in der Einleitung geschilderten Begegnung mit dem Herausgeber? Dostojewskij hat dies wohl bewusst ausgespart, denn da trennten sich die Wege, die bis dahin, sieht man von der Vorgeschichte ab, parallel verlaufen waren. Gorjantschikow war im gesamten Verlauf der Handlung als zentrale Bezugsperson präsent. Dahinter verbarg sich jedoch – für jeden Leser erkennbar – das Schicksal Dostojewskijs. Nach der Freilassung schaffte Dostojewskij den Weg zurück in ein erfülltes, aktives Leben. Er überwand die psychische Deformation, die seine vierjährige Lagerhaft verursacht hatte. Für Gorjantschikow aber, der zehn Jahre im Lager verbracht hatte, dürfte gelten, was er selbst im Text bekennt: „Dieses System saugt allen Lebenssaft aus dem Menschen, zermürbt und schwächt seine Seele, schüchtert sie ein und präsentiert hernach eine moralisch verdorrte Mumie, einen Halbwahnsinnigen,...“. (Dostojewskij 1979, S. 496. Hervorhebung R. N.)

Nach zehnjähriger Haft und einem kurz andauernden euphorischen Zustand, als er entlassen wird, blieb er die „moralisch verdorrte Mumie“, der „Halbwahnsinnige“, als der ihn der „Herausgeber“ kennenlernt. Manche Leute in der sibirischen Kleinstadt behaupten, so lesen wir in der Einleitung, „er sei erwiesenermaßen verrückt“ (op. cit, S 481). Der Herausgeber kommentiert, die „Aufzeichnungen“ Gorjančikovs wären „im Wahnsinn niedergeschrieben“ worden (ibid., S. 484). Hier besteht keine Parallele mehr zu Dostojewskij. So blieb dieser Zeitabschnitt zu Recht ausgeklammert. Ein zweifacher Appell wäre demnach angebracht: Die Aufzeichnungen aus einem toten Haus sollten als künstlerischer Text (d.h. als „chudožestvennoe proizvedenie“), eben als Erzählung oder Novelle, gelesen werden, wobei die zentrale Bezugsperson von der ersten bis zur letzten Seite Alexander Petrowitsch Gorjantschikow ist. Das Werk gewinnt dadurch an Geschlossenheit, an dramatischer Wucht und zugleich auch an Tragik, insofern der Held an seinem schweren Schicksal zerbricht und den Tod findet. Natürlich verbirgt sich dahinter das Schicksal Dostojewskijs, es verläuft parallel zu dem Gorjantschikows, steht aber eben deutlich im Hintergrund, und ist nur indirekt durch die dem Leser aus der Biografie des Autors bekannten außertextlichen Gegebenheiten mit dem Text verbunden. Zum zweiten wäre es eine lohnende Aufgabe für künftige Studien, die vielfältigen Zusammenhänge zwischen den Aufzeichnungen aus einem toten Haus und anderen Werken Dostojewskijs aus der Zeit von 1856 bis 1865 umfassender und eingehender 106

in ihren innertextlichen Wechselbeziehungen zu untersuchen, als dies bisher geschehen ist! Literaturverzeichnis M. S. Al’tman: Dostojewskij po vecham imen. Saratov 1975. N. S. Deržavin: Mertvyj dom v russkoj literature XIX veka. Petrograd 1924. F. M. Dostojewskij: PSS, Bd. 4, Zapiski iz mertvogo doma. Leningrad 1972. F. M. Dostojewskij: Erniedrigte und Beleidigte. Aufzeichnungen aus einem toten Haus. München 1979 (dtv Weltliteratur, Bd. 2058. Mit einem Nachwort von R. Neuhäuser). M. G. Gigolašvili: Rasskazčiki Dostoevskogo. Tbilisi 1991. M. G. Gigolov: Tipologija rasskazčikov rannego Dostoevskogo (1845–1865 gg). In: Dostojewskij Materialy i issledovanija, t.8. Leningrad 1988. R. L. Jackson: The Narrator in Dostoevsky’s „Notes from the House of the Dead“. In: Studies in Russian and Polish Literature. In Honor of Waclaw Lednicki. The Hague 1962. V. Kirpotin: Dostoevskij v šestidesjatye gody. Moskau 1966 (S. 326–332). Letopis’ zizni i tvorčestva F. M. Dostojewskij 1821–81, t.l (Hgg. I. D. Jakubovič u. T. I. Ornatskaja), St. Petersburg 1993. F. L’vov: Vyderzki iz vospominanij ssyl’nokatoržnogo. In: Sovremennik, № 9, 1861. (Zitiert bei Tunimanov) V. A. Tunimanov: Tvorčestvo Dostoevskogo 1854–1862. Leningrad 1980. (S. 67–155: Kap. II, Mertvyj dom)

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3.

Der Spieler. Dostojewskij: Ein Vorläufer der Moderne „Es wird gespielt. Überall. Fortwährend. Am Computer, am Spielautomaten, an der Börse. Die Realität wird virtuell“ Andrej Nekrassov

Der Spieler ist ein vorzüglich konstruierter Roman, den man allerdings, wie schon oben festgestellt, eher dem Genre Kurzroman oder Novelle zuordnen sollte; ein kleineres Werk, das aber die Aufmerksamkeit des Lesers vom Anfang bis zum Ende in seinem Banne zu halten versteht – ein eindrucksvolles Beispiel für Dostojewskijs schriftstellerische Technik. Man weiß, dass die Spielleidenschaft des Ich-Erzählers, die mit seiner Leidenschaft zur schönen Polina in Konkurrenz gerät, auf prägenden Erlebnissen des Autors beruht: Seine Liebe zu Polina Suslova und seiner Besessenheit vom Roulett, was dem Leser so einen tiefen Einblick in den autobiografisch relevanten Kontext erlaubt. Schon diese beiden Motive faszinieren viele Leser. Dass Dostojewskij Polen, Franzosen, Deutsche und Juden, aber auch Auslandsrussen nicht gerade mochte, ist allgemein bekannt und es überrascht nicht, hierzu passende negative Charakteristiken im Text zu finden. Wer Schuld und Sühne, den Idiot, oder Die Brüder Karamasow gelesen hat, wird allerdings in seiner Erwartungshaltung enttäuscht: Es fehlt ein Eingehen des Autors auf die großen und wesentlichen Probleme, „the overwhelming questions“ dieser Welt, wie Robert Jackson sie genannt hat, wie die Frage nach individueller Schuldhaftigkeit, nach der Rolle des Schönen und Guten in einer verdorbenen Welt, die Frage, ob es einen Gott gibt und ähnliches. Im Spieler scheint es keine wirklich bedeutsame, philosophisch und metaphysisch vertiefte Problematik zu geben. Da der Leser, vor allem der durch die gängige Literatur zu Dostojewskij ge-(oder ver-)bildete Leser, dies aber erwartet, wird der Schluss verständlich, dieses Werk gehöre eben nicht zu den großen Romanen, ja es zeige ganz augenscheinlich Züge eines spannenden Boulevardromans, mit dem man, wie sein Autor wohl sagen würde, sich auf angenehmste Weise die Zeit während einer Zugsreise vertreiben und, ein nützlicher Nebeneffekt, dabei einen Einblick in die Psyche des Autors gewinnen könne. Dies bezieht sich auf den Kurzroman als Ganzes, und auf besondere Weise, ja in geradezu übersteigerter Form auf die letzte Episode, als der Spieler seinen großen Gewinn an der Seite der Kurtisane Mme Blanche in Paris vergeudet! Offene und verdeckte Anspielungen des Autors auf populäre Texte des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert von Prevost und Paul de Kock verweisen auf diesbezügliche literarische Modelle.

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In dieser Studie soll eine andere Lesart vorgestellt werden, die bewusst die autobiografischen Bezüge relativiert und andere, weniger beachtete Aspekte in den Vordergrund rücken will. Dies macht aus dem Text noch keinen „großen“ Roman, bzw. „große Erzählung“ im traditionellen Sinne, lässt ihn aber als eindrucksvollen Vorläufer der Moderne erscheinen. Lässt man die autobiografischen Bezüge im Hintergrund, so fällt auf, wie sehr Dostojewskij die zeitgenössischen Debatten um die Stellung Russlands in Europa, die bis heute ihre Relevanz behalten haben, rezipiert und im Spieler, wenngleich polemisch verzerrt und verfremdet, wiedergegeben hat! Auf letzteren Aspekt soll in dieser Studie allerdings nicht eingegangen werden. Beides verleiht diesem Werk dann doch eine Bedeutung, die aus literarhistorischer Sicht kaum geringer erscheint, als die der so genannten großen Romane und großen Erzählungen! Der Einwand gegen eine solche Vorgangsweise, der sicher sofort folgt, wird sich auf zwei Fakten stützen: Einmal reflektiert der Kurzroman Dostojewskijs Leidenschaft zum Roulett und zur gekränkten Schönheit Polina Suslova in einem Maße, das nicht reduzierbar erscheint. Zum anderen sind masochistische und sadomasochistische Züge, wie sie wesentlich zum Menschenbild der Moderne gehören, sowohl vor Erscheinen des Spielers im Roman Erniedrigte und Beleidigte, den Aufzeichnungen aus dem Untergrund, wie auch später in Der ewige Gatte, Die Sanfte u. a. leicht zu belegen. D. h. wiederum, dass es sich wohl um zutiefst idiosynkratische Aspekte handelt, die allein aus dem Charakter des Autors heraus zu verstehen seien. Dem möchte ich aus folgendem Grunde widersprechen: Die biografische Werkinterpretation, die letztlich auf der präsumptiven Einheit von Werk und Leben beruht und allzu leicht einer Pathografie den Boden bereitet, hat den Nachteil, dass sie den literarischen Text aus der Abfolge von Texten herausnimmt, welche die Geschichte der Literatur konstituiert, in der ein Text stets auf andere verweist. Sie gliedert sich in Epochen oder Perioden. Mit Rene Wellek können wir eine Periode als Zeitabschnitt verstehen, der „durch ein System von literarischen Normen, Maßstäben und Konventionen beherrscht wird, und dessen Beginn, Ausbreitung, Veränderung, Integration und Verschwinden verfolgt werden kann“. (Wellek, S. 241) Das zentrale Erkenntnisinteresse des Literarhistorikers, der Welleks Prämisse akzeptiert – und ich zähle mich dazu –, muss demnach in erster Linie auf den literarischen Text gerichtet sein und seine Beziehung zu den sich verändernden Normensystemen. So betrachtet sind autobiografische Bezüge etwas Akzidentelles, das unser Textverständnis zwar bereichert, aber dafür nicht konstitutiv sein darf. Betrachtet man den Spieler aus literarhistorischer Perspektive, so ergeben sich hochinteressante Bezüge zwischen Dostojewskijs Werk und dem vor-

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herrschenden Menschenbild der frühen Moderne von der Neuromantik bis zur Dekadenz. Es sei kurz erwähnt, dass die dominante autobiografische Lesart des Werkes bereits von D. S. Savage (s. Jackson 1984, S. 111ff.) zurückgewiesen wurde, der in der Figur des Spielers eine Wiederaufnahme der Gestalt des Menschen aus dem Untergrund bzw. eine Vorwegnahme des Stawrogin in den Dämonen sieht. (Jackson 1993, S. 144ff.) Jackson ist auch ausführlich auf „Sadismus“, d. h. Dostojewskijs wiederholte Beschäftigung mit dem Marquis de Sade eingegangen. Beide Studien analysieren jedoch im Wesentlichen den philosophischen und metaphysischen Hintergrund, der in diesem Text nur schwach ausgeprägt ist, und verbleiben im Bereich der Einflussforschung. Der Konnex zur Moderne bleibt außerhalb ihres Horizonts, wenngleich Savage nicht nur von „limitless egotism“, sondern auch von „the writhings of the disintegrating self in the throes of the knowledge of its own nothingness“ spricht, 126 immerhin eine markante Lebenserfahrung des Intellektuellen der Moderne! Greift man Savages eben zitierte Worte auf, die ein Resultat seiner Analyse der Psyche des Spielers sind, so verweisen sie in der Tat auf ein zentrales Thema der Moderne, den Zerfall des Ichs, der zwei Jahrzehnte nach Dostojewskijs Kurzroman in den Schriften des Physikers, Psychologen und Philosophen Ernst Mach theoretisch fundiert und klar dargelegt wurde und zu dem auch Sigmund Freud durch die Betonung der Rolle des Unbewussten und des Triebhaften im Menschen einen Beitrag leistete. Bereits 1886 erschienen Machs Beiträge zur Analyse der Empfindungen, in denen er das Ich als „eine reale Einheit“ für nicht existent erklärte: „Das Ich ist unrettbar“. (Wunberg, S. 142) Was bleibt sind wechselnde Empfindungen. Hermann Bahr bezog sich in seinem Aufsatz Das unrettbare Ich auf Mach und formulierte noch deutlicher: „Es [= das Ich] ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion ... Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung ... Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, dass das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche ...“. (Wunberg, S. 147f.)

Zwei Jahre vor Mach hatte Nietzsche bereits die Sicht Machs vorweggenommen und mit der Dekadenz verbunden. In Der Fall Wagner. Ein Musi-

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Jackson 1984, S. 122; zit. in Jackson 1993, S. 146. Siehe Literaturverzeichnis auf S. 139.

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kantenproblem (Kap. 2, Abschn. 7) bezeichnete er die Dekadenz als ein Leben, das „nicht mehr im Ganzen wohnt“ und charakterisierte es als „Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘ ... Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos ... Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: Es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“

In der Literatur der 1880er- und 90er-Jahre lassen sich mühelos Belegstellen für dieses Grunderlebnis des Fin de siècle finden. Nadson schreibt von „einem sinnlosen Leben ohne ein Ziel und eine Berufung“. Fofanov sieht die Welt als „eine böse Welt des Wahns und der Erregung“. (Neuhäuser, S. 54) Bei Dostojewskij liest sich dies so: „... habe ich nicht die ganze Zeit über irgendwo in einem Irrenhaus gesessen, vielleicht sitze ich auch jetzt dort – so dass mir das alles nur geschienen hat und auch bis jetzt nur scheint? ... und ich verliere von neuem jedes Gefühl für Ordnung und Maß und bewege mich immer im Kreise, im Kreise, im Kreise ...“. (Dostojewskij, S. 105; Worte des Spielers)

Wie die Roulettkugel im Kreise rollt und ohne „Ordnung und Maß“ mal da, mal dort anhält, ist es auch mit dem Spieler. Der Spielsaal als „Irrenhaus“ sui generis und die kreisende Kugel werden zum Symbol des Menschen, der die Sicherheit seines Ichs verloren hat und für den das Leben mit Otto Weininger gesprochen „ein bloßer Wartesaal für Empfindungen“ geworden ist, denen er nachjagt. (Wunberg, S. 146) In der Figur des Iwanow im gleichnamigen Drama gestaltete Tschechow ganz ähnliche Empfindungen. So sagt Iwanow von sich, dass er „ziellos, wie ein Schatten“ lebe, „ich streune unter den Menschen umher und weiß nicht: wer bin ich, wozu lebe ich, was will ich“. (Čechov PSS-P, XII: S. 74) Hand in Hand mit dem Verlust des Ichs gehen Motive des Wahns, der Illusion, des Traums. Der Mensch wird zunehmend unfähig rational zu handeln. Er verliert sich in alogischen und absurden Taten, wird psychisch krank. So sagt der Spieler von sich, er sei „gereizt, überspannt, und es kommt mir vor, dass ich die Herrschaft über mich vollständig verliere“. (S. 45) Er meint sogar, er wäre „phantastisch erregt“. (S. 50) Er begreift sein Leben als Traum und Illusion, als Leben im Irrenhaus. Auch Polina kennt dieselben Motive. Ihr Lachen ängstigt den Spieler (S. 127), ihr Reden ist „eine Art von Irrereden ... Fieberwahn“ (ibid.). Der Spieler verfällt absurden, „anscheinend unmöglichsten Gedanken“ und verbindet dies mit „einer Art Vergiftung durch die eigene Phantasie“. (S. 119) Die genannten Motive lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Der Zerfall des Ichs bedingt einen Realitätsverlust, der zu irrationalem Handeln und einem irrationalen, nur von wechselnden Empfindungen bestimmten Denken fuhrt. Die Welt erscheint als etwas Absurdes und Alogisches, ähnlich einem Traumgeschehen. Hermann Bahr meint, dass die Deka112

denz geradezu verlange, dass die Kunst „unwirklich, Traum und nichts als Traum zu sein“ habe. (Wunberg, S. 237) Da dieser Realitätsverlust auf Dauer nicht durchzuhalten ist, wird der Mensch psychisch krank. Er wird zum Neurotiker (ein Modewort der frühen Moderne!), zum Nervösen, Überspannten, ständig gereizten Menschen. Hermann Bahr spricht von einer „Romantik der Nerven“, von der „Hingabe an das Nervöse“ und zitiert Barres („... certains frissons, que le monde ne connait ni peut voir, et qu’il nous taut multiplier en nous“). Ottokar Stauf von der March betitelt einen Aufsatz über die Moderne (1903) Die Neurotischen und zitiert Felix Dörmann, der 1891 seinen Gedichtband betitelt Neurotica herausgab, dem er ein Jahr darauf den Band Sensationen folgen ließ. Dörmanns Zeilen „Ich liebe die Qualengedanken, // Die Herzen zerstochen und wund, ... // Ich liebe alles, was krank ist“ muten an, als wären sie auf Dostojewskijs Spieler gemünzt! Wir finden in Texten der Zeit häufig auch die Bezeichnungen „Psychopath“ und „Neurastheniker“ für den Menschen der Moderne. Auch Stauf von der March spricht in dem erwähnten Aufsatz von „zum Zerreissen angestrafften Nerven, und ... neurasthenischer Atmosphäre.“ (LMJ, S. 301) Tschechow sagt von seiner Generation: „Unsere Generation besteht durchwegs aus Neurasthenikern und Jammerfritzen. ... Wir sind Neurastheniker, Sauertöpfe, Abtrünnige ...“. (PSS-P, VIII, S. 212) Sein Iwanow bezeichnet sich selbst als Psychopath. Dostojewskij verwendet zwar diese Begriffe nicht, sie lassen sich aber ohne weiteres auf den Spieler und Polina anwenden! In dieser Welt „ohne Maß und Ordnung“ gehen moralische Maßstabe verloren. Die Moderne ist dafür bekannt, dass sie Tabus brach, so vor allem im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Gut und Böse werden zu austauschbaren Werten. Dostojewskijs Spieler verkörpert bereits deutlich diese Einstellung. So sagt er bereits am Beginn des Kurzromans, dass es „mir in der letzten Zeit ungemein zuwider war, meine Gedanken irgendeinem sittlichen Maßstab anzupassen“. (S. 18) Am Ende des Werks ist er so weit, dass er Moral an sich ablehnt: „Kann es etwas Dümmeres geben als Moral in so einer Zeit?“. (S. 145) Der Mangel an Bewusstsein sittlicher Werte führt dazu, dass auch Gefühle austauschbar werden. Hass wechselt ab mit Liebe. Die Liebe des modernen Menschen verwirklicht sich immer öfter als Hass-Liebe. Der abrupte und unmotivierte Wechsel von Hingabe und Zuneigung zu Ablehnung und Verachtung ist typisch für den Spieler, aber auch für Polina. So sagt sich der Spieler: „... Ich antwortete mir zum hundertsten Mal, dass ich sie hasste. Ja, sie war mir verhasst“. (S. 35) Dennoch gesteht er Mr. Astley am Ende des Kurzromans: „ich liebe sie heute noch“ (S. 132). Zwischen den beiden Zitaten entfaltet sich auf etwa 100 Seiten die gesamte Handlung! Ähnlich ist es bei Polina, die den Spieler zwar immer wieder demütigt, ihn aber, wie Mr. Astley am Ende des Kurzromans betont, stets geliebt hat. Davor liegt die 113

stürmische Nacht, als Polina im Zimmer des Spielers einen Nervenzusammenbruch erleidet, ihm voll Zärtlichkeit ihre Liebe gesteht, ihn aber am Ende zurückstößt und „mit dem Ausdruck grenzenloser Verachtung“ (S. 128f.) ansieht. Liebe schlägt plötzlich in Hass um. Es ist verständlich, dass eine solche Hass-Liebe sadomasochistische Züge aufweist. Dem liegt eine fundamentale Missachtung der Menschenwürde zugrunde, die sich in Verachtung für den Mitmenschen äußert, der manipulativ nur als Quelle des Lustgewinns betrachtet wird. In Dostojewskijs Kurzroman wird Verachtung zum kennzeichnenden Zug des Umgangs der Personen des Werkes miteinander. Der Spieler verachtet seine Gesprächspartner. Polina zeigt immer wieder ihre Verachtung für ihn. Sie verachtet aber auch de Grieux, den sie geliebt hat: „Ich hasse ihn schon lange, schon lange“. Und an die Adresse des Spielers: „Ich hasse Sie! Ja ... ja ... Ich liebe Sie nicht mehr als de Grieux ...“. (S. 126) Auch die Kurtisane Blanche, die ihm zwar anbietet, „je te ferais voir étoiles en plein jour“ (S. 133), verachtet ihn „aus ganzer Seele“. Die Liebe des Spielers zu Polina trägt eindeutig sadomaso-chistische Züge. Ein Schlüsselwort dafür ist das Wort „Sklave“, das mehrfach im Text aufscheint. Der Spieler gesteht: „Nun ja, ja, ihr Sklave zu sein ist mir Genuss! Es liegt eine gewisse Wonne im letzten Stadium der Erniedrigung und Nichtigkeit.“ Und er träumt von der Wonne, die ihm ein Hieb der Peitsche über den Rücken verursachen würde. (S. 34) Blanche sieht in ihm einen „vile esclave“. (S. 133) Er ist bereit, das willenlose Werkzeug Polinas zu sein, sei es sich für ihr Amüsement in den Abgrund zu stürzen, sich vor der Baronin zu erniedrigen, oder gar jemand auf Polinas Befehl hin zu töten. Aber auch die stolze Polina kennt den Genuss der Erniedrigung. Zumindest sieht der Spieler in ihr die Sklavin des de Grieux, in dessen Gewalt sie sich augenscheinlich befindet. Und er verallgemeinert: „Alle Frauen sind so! Und die allerstolzesten werden die niedrigsten Sklavinnen“. (S. 61) Der sadistische Drang, den anderen zu quälen, und die komplementäre Erzielung von Lust am Masochismus werden in Dostojewskijs Kurzroman geradezu zum ubiquitären Handlungsmotiv zwischenmenschlicher Beziehungen: „Ein Vergnügen ist immer nützlich, und die rohe unbegrenzte Macht, sei es auch nur über eine Fliege, ist doch auch eine Art von Genuss. Der Mensch ist von Natur aus despotisch und peinigt alles andere gern“.

Und er wirft genau dies im nächsten Satz Polina vor: „Sie lieben es ganz ungemein.“ (S. 37) Dies steht am Beginn des Kurzromans. An seinem Ende fasst der Spieler nochmals zusammen und fügt seiner Aussage einen masochistischen Akzent hinzu: „Der Mensch liebt es in der Tat, seinen besten Freund erniedrigt vor sich zu sehen; auf der Erniedrigung beruht zum größten Teil alle Freundschaft ...“. (S. 149) Polina möchte, dass der Spieler den 114

Baron Würmerhelm beleidigt, denn: „Ich will sehen, wie der Baron Sie mit dem Stock schlagen wird“. (S. 39) Aus der Erniedrigung des Spielers, verbunden mit Stockschlägen, will sie für sich einen Lustgewinn erzielen. Mit diesen Ausführungen ist die verblüffende Nähe der beiden Hauptfiguren zum Menschenbild der Moderne, vor allem auch gegen den Hintergrund der anderen Figuren in Dostojewskijs Werk, überdeutlich geworden. In keinem anderen Text Dostojewskijs ist die Nähe zum Menschenbild und dem Lebensgefühl der Moderne so ausdrucksvoll dargestellt wie im Spieler. Zwei Jahrzehnte vor dem Fin de siècle werden wir hier mit den wesentlichsten Zügen der frühen Moderne konfrontiert! Darin liegt meiner Ansicht nach der literarhistorische Stellenwert des Spielers und seine überragende Bedeutung im Œuvre Dostojewskijs. Ich möchte zum Abschluss dieses Aufsatzes kurz auf einen anderen Roman verweisen, der fast zeitgleich mit Dostojewskijs Werk erschien, sich zwar keinesfalls mit Dostojewskijs Text messen kann, aber gleichfalls Züge des modernen Menschenbildes vorwegnimmt. Drei Jahre nach dem Erscheinen des Spielers kam Leopold von SacherMasochs Roman Venus im Pelz (1869) heraus, in dem eine „masochistische“ Liebesbeziehung mit deutlich sadomasochistischen Akzenten geschildert wird, in der die Triebhaftigkeit und Zerrissenheit des modernen Menschen auf sehr ähnliche Weise, wie bei Dostojewskij thematisiert wird! Bei SacherMasoch ist der autobiografische Bezug noch wesentlich deutlicher als bei Dostojewskij. Natürlich liegt auch in diesem Roman nicht darin die Bedeutung dieses neu aufgelegten Werks, sondern in der gleichfalls frühen Vorwegnahme wesentlicher Züge des Menschenbildes der beginnenden Moderne! Es ist auch keineswegs ein Zufall, dass der Begriff Masochismus eben zur Zeit der Moderne geprägt wurde und es ist charakteristisch, dass sadomasochistische Beziehungen gerade zu dieser Zeit zum Gegenstand der Wissenschaft wurden. Im Jahre 1886 erschien die Psychopathia sexualis des Psychiaters Richard Freiherr von Krafft-Ebing, der übrigens drei Jahre später als Professor nach Wien berufen wurde, wo er vermutlich ein reichliches Betätigungsfeld fand. Die Bedeutung und Aktualität des Themas für die Moderne wird durch die Tatsache bestätigt, dass Krafft-Ebings Werk in den nächsten sieben Jahren neun Auflagen erlebte! In beiden Werken, bei Dostojewskij wie auch bei Sacher-Masoch, ist es eben dieser Aspekt der Modernität, der als konstitutiv für ihre Bedeutung im Wandel der Normensysteme der Literatur anzusehen ist. Beide haben dazu einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet, wenngleich vom literarischen Niveau her betrachtet Dostojewskijs Spieler im Gegensatz zu Sacher-Masochs Roman zur Weltliteratur gehört!

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Literaturverzeichnis: Čechov, AP.: Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Moskau, Nauka 1974–83. Zitiert unter Angabe des Bandes, der Seite und davor S für sočinenija (Werke) und P für pis’ma (Briefe). Dostojewskij, Fjodor M: Der Spieler. München 1981. (dtv Bd. 2081) Aus dem Russischen von Arthur Luther. Mit einem Nachwort von Rudolf Neuhäuser. (Erstmals zitiert als Dostojewskij. In der Folge nur mit Seitenangabe.) Jackson, R.-L. (ed.): Dostoevsky. New Perspectives. Englewood Cliffs, Prentice-Hall 1984. Jackson, R.-L.: Dialogues with Dostoevsky. The Overwhelming Questions. Stanford, Stanford University Press 1993. Ruprecht, E. u. Bänsch, D. (Hrsg.): Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910. Stuttgart, Metzler 1970. (= LMJ) Neuhäuser, Rudolf: Čechov und das Kierkegaardsche Paradigma. In: R. D. Kluge et al. (Hrsgg.): Anton P. Čechov: Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und Werk. München, Sagner 1997. Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Frankfurt a. M., Insel Taschenbuch 1959 u. 1997. Mit Anhang: Die Begegnung mit Ludwig II. Aufgezeichnet von Wanda. Wellek, Rene: Theorie der Literatur. Berlin, Ullstein Buch 1963 (Bd. 420/421). Wunberg, Gotthard (Hrsg.): Die Wiener Moderne. Stuttgart, Reclam 1981 (Bd. 7742/9).

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Olympia und Olympiada: Dostojewskij und Édouard Manet Quand, lasse de rêver, Olympia s’éveille, Le printemps entre au bras du doux messager noir; C’est l’esclave, à la nuit amoureuse pareille. Qui vient fleurir le jour délicieux à voir: L’auguste jeune fille en qui la flamme veille. (Zacharie Astruc) 127

„Das Pariser Leben ist reich an poetischen und wunderbaren Sujets. Das Wunderbare erfüllt und umhüllt uns wie die Luft, die wir atmen; aber wir sehen es nicht.“ So schrieb Charles Baudelaire über das moderne Leben seiner Zeit. 128 Ein Kunstkenner von heute beschreibt im Rückblick das Paris der 1860er- und 70er-Jahre: „Das Paris unter Napoleon III. entwickelte sich in nur 12 Jahren zu einer in ganz Europa vorbildlichen kosmopolitischen Kapitale; es wird aber auch zu einem ,neuen Babylon‘, denn dies ist die Zeit der Cafés, Cabarets, Brasserien, Bars und Café-Concerts, der aus dem Boden schießenden Vergnügungsstätten, die Paris zum Zentrum der kultivierten Zerstreuung, aber auch des geheimen Lasters machten. Damals sagte man, Paris sei die Börse Europas, der Boulevard Europas und das Bordell Europas. Die Kokotte regierte, der Bankier bezahlte und die Protagonisten der groß angelegten Sittengeschichte Zolas, dem Rougon-Macquart-Zyklus, flanierten über die Boulevards und berauschten sich an den Melodien von Offenbachs Operetten wie an Champagner. ... Die Kokotte war der Prototyp der modernen Pariserin, Sich eine Kokotte als Mätresse zu halten, war für einen ,‘Homme du Monde‘ ein Muss.“ 129

Ein russischer Autor flanierte mit seiner koketten Geliebten zu dieser Zeit ebenfalls über Pariser Boulevards – Fjodor M. Dostojewskij, Ex-Häftling, Glücksspieler und einer der ganz großen Autoren des 19. Jahrhunderts. Für ihn hatte Paris eine besondere Bedeutung. Doch blicken wir weiter zurück. Dostojewskij musste, als er 1859 nach seinem Exil in die Hauptstadt zurückkehren konnte, wieder in seinem persönlichen wie auch literarischen Leben Fuß fassen. Diese Zeit vom Beginn der 1860er-Jahre bis zur neuerlichen Eheschließung und dem Erscheinen seines ersten großen Romans Schuld und Sühne war eine kritische Zeit, in der sich in Aufsätzen, literarischen Polemiken, in publizistischen Texten wie den Winterlichen Aufzeichnungen über 127 128 129

Zit. nach Otto Friedrich: Edouard Manet und das Paris seiner Zeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992, S. 20. Charles Baudelaire: Von dem Heroismus des modernen Lebens. Zit. nach Hajo Düchting: Manet. Pariser Leben. Prestel, München 1995, S. 7. Düchting, S. 7; Hans Körner: Edouard Manet. Dandy, Flaneur, Maler. Wilhelm Fink, München 1996, S. 39.

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sommerliche Eindrücke, und in der Novelle Aufzeichnungen aus dem Untergrund seine weltanschaulichen Positionen herausbildeten und verfestigten. Dazu kamen Schicksalsschläge wie der Tod seiner Frau und kurz danach der Tod seines Bruders Michael, die Liebesbeziehung zu Apollinaria Suslowa und Versuche, mit anderen Frauen eine Verbindung einzugehen. Erst nach seiner Eheschließung mit Anna Grigorjewna Snitkina im Jahre 1867 begann eine neue, wenngleich weiterhin schwierige Situation. Dennoch kann man sagen, dass sich in diesem Jahrzehnt der Autor der fünf großen Romane als der herausbildete, der er dann bis zu seinem Tode blieb. Folgende Fakten und Vorstellungen Dostojewskijs aus dieser Zeit sollen den Rahmen für die weitere Untersuchung bilden. In ihrer Mitte steht Paris, eine Stadt, die für Dostojewskij zugleich ein Symbol des bourgeoisen Lebensstils wurde. Dostojewskijs Interesse an Gemälden ist bekannt. In Dresden, Basel, man kann vermuten auch anderswo, besuchte er Gemäldegalerien. Im Jahre 1861 veröffentlichte er im Oktoberheft seiner Zeitschrift Vremja (Die Zeit) den ihm zugeschriebenen Aufsatz Eine Ausstellung in der Kunstakademie 1860– 61. Überall, wo er im Ausland weilte, besuchte er Lesehallen und Bibliotheken, las Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in französischer Sprache, die er besser als Deutsch beherrschte. Seine Auslandsaufenthalte in Frankreich und Deutschland ließen in ihm ein Bild des europäischen Bürgers als eines satten, selbstzufriedenen Bourgeois entstehen, ein Bild, das ihm als verarmten Russen, der sein letztes Geld immer wieder am Roulette-Tisch verlor, verhasst war. Dafür prägte er bereits in den Winterlichen Aufzeichnungen einprägsame Bilder. Da ist die Rede davon, dass die „Kameliendame“ immer mehr in Mode käme: „ ‚Hier hast du Geld, also mache mir ordentlich etwas vor, das heißt, imitiere Liebe‘, das ist es, was man von der Kameliendame verlangt. Und nicht viel mehr verlangt man auch von der Epouse, ...“ Voll Ironie vermerkt der Autor, „dass Mabiche und Bribri [= Dostojewskijs Bezeichnung für das bürgerliche Ehepaar] in unserer unruhigen Zeit als Modell der Tugendhaftigkeit, der Eintracht und des paradiesischen Zustands der Gesellschaft zu gelten haben ...“ Zwei Bedürfnisse hätte der Bourgeois, Dostojewskij formuliert sie französisch: „voir la mer“ und „se rouler dans l’herbe“, 130 wobei er dies „mit dem Gefühl zelebriert, dass er dabei eins wird ,avec la nature‘.“ Dies und die unmittelbar darauf folgende Wendung vom „l’homme de la nature et de la vérité“ 131 verweisen auf Rousseau und das romantische Lebensgefühl. Schon

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„Das Meer zu sehen“ und „sich im Gras zu aalen“. „Ein Mensch der Natur und der Wahrheit“.

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hier deutet sich die Ansicht an, die wir von den Aufzeichnungen aus dem Untergrund bis hin zu den Dämonen finden: Dass die historische Entwicklung vom Romantiker und Idealisten zum besitzbewussten, materialistisch gesinnten Bourgeois führt, auf den als Gegenbewegung der utopische Sozialist und als Höhepunkt der Entwicklung der Anarchist und Nihilist folgen. Der Bourgeois vereint nach Dostojewskij Züge der Romantik und des Idealismus, mit denen er seinen krassen Materialismus beschönigt. So malt Dostojewskij geradezu ein Genrebild des Bourgeois, der sich in seinem Garten einen kleinen Rasenplatz anlegt, und als das Gras nicht wächst, einen runden Grasteppich bestellt und diesen jeden Nachmittag ausbreitet, „um wenigstens um den Preis des Selbstbetrugs sein legitimes Bedürfnis zu befriedigen und sich etwas im Gras zu aalen.“ 132 Schon im Frühwerk fällt wiederholt die erotische Beziehung des nicht mehr jugendlichen Mannes zu einem naiven, jungen und hübschen Mädchen auf. Diese Konstellation findet sich schon in den Armen Leuten und wiederholt sich in den 60er-Jahren in den Erniedrigten und Beleidigten (Fürst Walkowskijs Amouren) und den Aufzeichnungen aus dem Untergrund. In letzterem Werk wird das junge Mädchen ebenso wie in Schuld und Sühne zur (edlen!) Prostituierten. Der Verehrer ist jeweils die männliche Zentralfigur des Textes. Ihm gegenüber steht sein Rivale, eine gut situierte, lüsterne, nach dem Bild des Bourgeois gezeichnete Gestalt (Swerkow; Swidrigajlow). Doch auch die Frau wird keineswegs immer positiv geschildert. Fürst Walkovskij in den Erniedrigten und Beleidigten erinnert sich an seine Jugendliebe: „Nein, eine verdorbenere Frau als sie gab es auf der ganzen Welt nicht ... Sie war derart wollüstig, dass selbst ein Marquis de Sade noch von ihr hätte lernen können ... Ja, sie war ein Teufel in Menschengestalt, aber zugleich von bestrickender Schönheit.“ 133 Das Mädchen entwickelt sich so von einer unschuldigen, jungen Schönheit zum Opfer männlicher Begierde und weiter bis hin zur Prostituierten, bzw. einem weiblichen Marquis de Sade! Ihr Verehrer spaltet sich in den edel gesinnten, hochmoralischen Mann, hinter dem der aufmerksame Leser leicht den Autor selbst erkennen kann, und den von westlicher bourgeoiser Zivilisation geprägten, sich nur vordergründig edel gebenden Verführer und Genießer weiblicher Schönheit. In die 1860er-Jahre fällt die Begegnung Dostojewskijs mit Apollinaria (= Polina oder Pauline) Suslowa, einem jungen emanzipierten, schriftstellernden

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F. M. Dostojewskij: PSS, Bd. 5, S. 94f. Geir Kjetsaa: Dostojewskij. Sträfling-Spieler-Dichterfürst. Casimir Katz, Gemsbach 1986, S. 197.

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Mädchen, von dem ein Biograf schreibt, „sie strotzte vor Gesundheit und war zudem umwerfend schön, eine heißblütige Schönheit mit großen Katzenaugen und stolz in den Nacken geworfenen Kopf ...“ 134 Die Tochter Dostojewskijs Aimée schrieb von ihr: „Damals war die freie Liebe Mode geworden. Jung und hübsch, folgte Pauline eifrig dem Zug der Zeit, trieb sich im Dienste der Venus von einem Studenten zum anderen und glaubte so der europäischen Zivilisation zu dienen.“ 135

Die Ironie der Autorin ist spürbar, aber trotz überspitzter Formulierung hat diese Aussage wohl einen wahren Kern! Dostojewskijs Beziehung zu Frauen war nicht einfach. Später schrieb er: „Im Verhältnis zwischen Mann und Frau ist einer von beiden unweigerlich unterlegen und wird sich erniedrigt fühlen.“ 136 Der Biograf stellt mit Bezug auf Pauline fest: „Für ihn war sie nichts weiter als die Geliebte, über die er nach Belieben verfügen konnte.“ 137 Tatsache war allerdings, dass Pauline dies keineswegs hinnahm und die Beziehung nach qualvollen Perioden gemeinsamer Begegnungen und gemeinsamer Reisen zu Ende kam. Im Jahre 1863 weilten beide kurzfristig in Paris. Die in obigen Punkten kurz umrissenen Aspekte aus Leben und Werk Dostojewskijs bilden den Rahmen für eine der gelungensten Novellen des Autors, die am Ende dieser Periode entstand. Hier vereinigen sich sozusagen alle Aspekte zu einem Knoten! Im Jahre 1870 erschien Dostojewskijs Novelle Der ewige Gatte, die Geschichte eines gehörnten Ehemannes. Dahinter steht als literarisches Modell unter anderen Paul de Kocks Roman La femme, le mari et l’amant (1830), der auch in russischer Übersetzung zu lesen war. Dostojewskij hatte bereits in einem der Kapitel seiner Winterlichen Aufzeichnungen darauf Bezug genommen. Und wiederum zielte er dort auf den zeitgenössischen französischen Bourgeois, wie eine Bemerkung in den Winterlichen Aufzeichnungen erkennen lässt: „ ... die Titel von Romanen wie Die Frau, der Mann und der Liebhaber sind bei den gegenwärtigen Umständen schon nicht mehr möglich, weil es keine Liebhaber gibt und auch nicht geben kann. Und wären sie in Paris auch so zahlreich wie der Sand im Meer (und dort gibt es möglicherweise noch mehr von ihnen), so gibt es sie dennoch dort nicht und kann es sie nicht geben, weil es so beschlossen und unterschrieben ist, weil eben alles von Tugend nur so glänzt.“ 138

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Kjetsaa, S. 197. Ketsaa, S. 198. Kjetsaa, S. 199. Ibid. PSS, Bd. 5, S. 75.

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Dostojewskijs Ironie richtet sich abermals auf das edle Gehaben des Bourgeois, der sein lasterhaftes Leben damit verdeckt! Das „IV. Kapitel“ des Ewigen Gatten ist nun wiederum nach Paul de Kock „Die Frau, der Gatte und der Liebhaber“ betitelt. So wie es in vielen populären Romanen in Frankreich zu dieser Zeit üblich war, wurde der Ehebruch hier vordergründig der „verdorbenen Ehefrau“ angelastet. So ist es bei Dostojewskij und auch bei Flaubert, dessen Roman Mme Bovary ihm ebenfalls als Modellfall diente. Der Typ des Bourgeois erscheint allerdings in Verdoppelung seiner Gestalt einerseits als der „ewige Verführer und Liebhaber“, der von einer Affäre zur nächsten eilt, andererseits als der „ewig lüsterne“, insgeheim von Besitzgier nach der Frau besessene Bürger, der aber, sobald er sein Ziel erreicht hat, fest unter dem Pantoffel seiner Frau steht, die nun ihrerseits jede Gelegenheit nützt und im ewigen Liebhaber einen attraktiven Liebespartner findet. Von ihr sagt der ewige Liebhaber in der Novelle: „Sie gehörte zum Typ der leidenschaftlichen, grausamen und sinnlichen Frauen! Sie hasste die Ausschweifung, verurteilte sie mit unglaublicher Strenge und – war selbst ausschweifend.“ 139 Der aufmerksame Leser wird sich an Fürst Walkowskijs Jugendliebe erinnern! Dostojewskij betont die Schicksalshaftigkeit des Geschehens wie auch die archetypische Natur der beiden männlichen Figuren – auf ihre innere Verwandtschaft weist der Liebhaber selbst hin: „Wir sind beide lasterhafte, untergründige, garstige Menschen.“ 140 In dem als Epilog gestalteten Schlusskapitel, das zwei Jahre nach den in der Novelle geschilderten Ereignissen stattfindet, wiederholt sich die Grundkonstellation der Handlung: Der ewige Liebhaber fährt mit der Bahn in den Süden, um „die Bekanntschaft einer äußerst interessanten Dame zu machen.“ 141 Unterwegs trifft er auf den ewigen Gatten, der mit seiner jungen Frau und derem augenscheinlichen Liebhaber (!) unterwegs ist. Sofort nützt er die Gelegenheit zu einem neuen Flirt, den die Abfahrt des Zuges aber kurz darauf wieder beendet. Dostojewskij wählte als Namen der Frau: Olympiada (= Olympia). Diese, bisher unbeachtet gebliebene Namensgebung gibt Anlass zu weiterführenden Erwägungen. Als Quelle für Dostojewskijs Wahl kommt E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) infrage, in der die mechanische Puppe der Olympia vorkommt, konstruiert vom Physikprofessor Spalanzani und mit glühenden Augen versehen vom Optiker Coppelius. Als der Held dieser romantischen Erzählung erkennt, dass das schöne Mädchen nur ein herz- und geistloser

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PSS, Bd. 9, S. 27. Ibid., S. 87. Ibid., S. 106

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Automat ist, wird er wahnsinnig. Von größerer Bedeutung ist freilich der in den 1840er-Jahren erschienene Roman von Alexander Dumas Die Kameliendame (1848), der ebenso erfolgreich war wie eine 1852 aufgeführte Bühnenfassung. Auf ihn bezog sich Dostojewskij bereits in den Winterlichen Aufzeichnungen. Auch bei Dumas erscheint gegen Ende des Romans eine Olympia, die vom Autor als „die Verkörperung einer Kurtisane ohne Scham, ohne Herz und ohne Geist, die zu nichts anderem befähigt ist als zur Vermarktung ihrer Schönheit“, beschrieben wird. 142 Dies entspricht dem Charakter der Dostojewskij’schen Olympiada. Aus dem Namen „Olympia“ ergeben sich aber weitere interessante Bezüge, die allerdings nichts mit Dostojewskij zu tun zu haben scheinen. In keinem seiner Texte, auch nicht in seiner Korrespondenz, allerdings mit einer nicht unwichtigen Ausnahme, taucht der Name des Malers Edouard Manet (1832–1883) auf. Und doch möchte ich behaupten, dass es zu ihm, bzw. drei seiner Gemälde einen interessanten Bezug gibt. Ein Biograf berichtet: „Als Manet 1863 seine Olympia malte, war der Name zu einem Synonym für die Kurtisane geworden.“ 143 Nach dem Skandal von 1865 wurde Manet mit Hilfe seiner Olympia endgültig zu einer Berühmtheit. Derselbe Biograf: „Nach dem Eklat der Ausstellung genoss sein Name Weltruf.“ 144 Die Olympia wurde übrigens 1867 ein zweites Mal ausgestellt. Ursprünglich war das schon zwei Jahre früher fertig gestellte Gemälde Edouard Manets im Jahre 1865 im Pariser Salon ausgestellt worden und führte zu einem ungeheuren gesellschaftlichen Skandal, der die Gesundheit des Malers beeinträchtigte und ihn sogar zur Flucht aus Paris bewog! Manet hat den Namen seiner schönen, nur mit Schuhen bekleideten Dame, die auf einer Liege posierend augenscheinlich ihren Verehrer erwartet, nicht erfunden. Vermutlich hat er ihn dem Gedicht eines Freundes, des Dichters und Kunstkritikers Zacharie Astruc, von 1864 entnommen, aus dem eine Strophe, die den Namen enthielt, im Katalog zitiert wurde (s. das Motto weiter oben). Es könnte allerdings auch zutreffen, dass Manet den Namen Olympia dem Gedicht eines anderen, berühmteren Freundes, Charles Baudelaire, entnahm: „Als Olympia, des Traumes müde, leiser schläft ...“. 145 Die Geschichte des Namens ist aber noch länger. Ein, oder vielleicht der Prototyp geht zurück auf Olimpia Maidalchini, die Mätresse des Papstes Innozenz X. zur Mitte des 17. Jahrhunderts, eine skrupellose und machtlüsterne 142 143 144 145

Zit. nach Körner, S. 73. Loc. cit. Ibid., S. 76. Zit. nach G. Bataille: Manet. Edition d’Art Albert Skira, Genève-Paris-New York 1955, S. 21.

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Frau. Wir begegnen ihr in einer Novelle von Etienne Delécluze von 1842, der von ihrer Gier nach Gold und ihrem Geiz erzählt. Im Jahre 1855 hat dann Augier ein Theaterstück Die Hochzeit der Olympia verfasst, in dem die Heldin ebenfalls eine herzlose und berechnende Kokotte ist. Das Jahr 1859 sah schließlich die höchst erfolgreiche Uraufführung der Oper Herculanum von Félicien David, in der sich die babylonische Königin Olympia der Ausbreitung des Christentums widersetzt. Mätresse, Kokotte, babylonische Königin verbinden sich hier zu dem Bild einer mit den Mitteln weiblicher List nach Macht strebenden, sinnlichen Frau – eben Olympia. Bei Manet wird sie zu „einer luxuriös ausgehaltenen Prostituierten.“ 146 In seinem Gemälde sehen wir außerdem eine schwarze Dienerin, die eben einen Blumenstrauß des unsichtbaren Verehrers überreicht und eine schwarze Katze am Fußende des Bettes, ein Symbol sexueller Lust (s. Baudelaire: „Viens, mon beau chat, sur mon coeur amoureux ...“ Fleurs du Mal, „Le Chat“). Nach dem Dictionnaire erotique moderne von Delvau (1864) hatte das Wort Katze im vulgären Sprachgebrauch eine eindeutig obszöne Bedeutung. So wird auch folgende Bemerkung verständlich: „Der ruhige, offene Blick der nackten Frau, die so wundervoll in ihrem Bettzeug gemalt ist, jagte so manchem kunst- und lebensverwöhnten Bourgeois eher frostige als wohlige Schauer über den Rücken.“ 147 Manets Olympia wurde so zum Inbild der modernen Kurtisane. 148 Das, was bis dahin tabuisiert war, wurde von Manet „auf die anspruchsvolle Ebene des Gemäldes gehoben ..., dem verblüfften Publikum auf eine Weise angeboten, die kein Ausweichen, kein Beschönigen oder Vertuschen mehr zuließ.“ 149 Dass das Vorbild für Olympia Tizians Venus von Urbino aus den Uffizien in Florenz ist, interessierte nur den Kunsthistoriker. Das Geschehen rund um Olympia war bereits der zweite Skandal. Schon im Jahre 1863 wurde auf Beschluss Napoleons III. ein „Salon des Refusés“ eingerichtet und am 15. Mai eröffnet. Unter den drei Bildern Manets war Le Bain, später bekannt als Le Déjeuner sur l’herbe. Das Bild zeigt eine unbekleidete Frau, augenscheinlich eine Prostituierte, bei einem Picknick mit zwei jungen Herren im Grünen. Beide sind exquisit nach dem Dernier cri gekleidete Dandies. Im Hintergrund watet eine zweite, nur mit einem Hemd bekleidete Frau in einem Bach. Im Vordergrund dieses üppigen Stillebens liegt ein gekippter Picknickkorb, Früchte und Gebäck und das abgelegte 146 147 148

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Musée d’Orsay, Führer, S. 74. Düchting, S. 41. Ibid., S. 45. Cf. Cézannes noch eindeutigere Darstellung Eine moderne Olympia von 1872–73! Hier starrt ein Herr im Zylinder lüstern auf das entblößte Fleisch der Halbweltdame. Düchting, S. 58.

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Kleid der Kurtisane. Der Kritiker Etienne schrieb ganz im Sinne des empörten Publikums: „Irgendeine dahergelaufene Hure, die so nackt als irgend möglich ist, hat sich auf unverschämte Weise breitgemacht zwischen zwei Aufpassern, die so bekleidet wie irgend möglich sind und Krawatten tragen.“ 150 Auch hier gab es übrigens mit Giorgiones, früher Tizian zugeschriebenem Ländlichen Konzert ein Vorbild. Ein moderner Kunsthistoriker weist auf die Ursache des Unbehagens der Betrachter hin: „Unbehaglich muss sich der Bourgeois fühlen, nicht der Dandy, dessen distanzierter, gleichgültiger und kalter Blick auf die Wirklichkeit dem Blick Victorine Meurents (Manets Modell für die nackte Dame) standhält ... Es ist die programmatische Darstellung eines neuen elitären Menschenbildes: Des Dandy und dessen weiblichem Pendant, der Kurtisane.“ 151 Was den Bürger störte war wohl auch, dass es sich weniger um eine „nackte“, als vielmehr eine entkleidete Frau handelte! Und die im Gras sitzende entkleidete Frau, die ihren frechen Blick direkt auf die Betrachter richtet und deren beide Kavaliere nicht anders als die Besucher der Ausstellung gekleidet waren, dies alles verwies auf geheime und verdrängte Gelüste des Bürgers! Noch ein drittes, wiederum etwas früheres Gemälde ist zu erwähnen. Im Jahre 1861 wurde das Gemälde Manets Die überraschte Nymphe in St. Petersburg ausgestellt! Das Bild zeigt Manets zukünftige Frau als Nymphe, die von einem Satyr, den Manet anscheinend erst für die Ausstellung hinzufügte, beim Bad überrascht wird. Die nackte Nymphe blickt den Beschauer direkt an und versetzt ihn damit in die Rolle des Satyrs, d. h. des Voyeurs. Kehren wir aber zu Dostojewskij zurück. Der Schriftsteller hatte 1861, als er selbst in St. Petersburg wohnte und sich für Gemäldeausstellungen interessierte, was sein bereits erwähnter Aufsatz dokumentiert, die Gelegenheit, das letztgenannte Bild Manets zu sehen. Das Thema, ein Voyeur als Satyr beobachtet ein junges, unbekleidetes Mädchen, entspricht einer nicht seltenen Konstellation bei Dostojewskij. Man denkt an Walkowskij in den Erniedrigten und Beleidigten. Der Roman war eben im Sommer 1861 beendet worden! Und tatsächlich findet sich ein Hinweis darauf, dass Dostojewskij das Bild wahrgenommen hat. In dem bereits erwähnten, Dostojewskij zugeschriebenen Aufsatz berichtet er davon und meint empört, Manet hätte das Bild wohl mit der Absicht gemalt, um zu zeigen, bis zu welcher Hässlichkeit

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Körner, S. 65. Ibid., S. 54.

(„bezobrazie“) die Fantasie des Künstlers gehen kann! 152 Seine Reaktion entsprach ganz der des Durchschnittsbürgers der Zeit! Eine weitere Gelegenheit, sich mit dem jungen, avantgardistischen Maler, der diesmal als impliziter Kritiker des zeitgenössischen Bourgeois auftrat, bekannt zu machen, kam bald darauf. So war er erstmals im Sommer 1862 (27.-28. Juni und 20.–26. Juli) in Paris und verfasste nach seiner Rückkehr die schon mehrfach genannten Winterlichen Aufzeichnungen, in denen er ein von beißender Ironie und Spott charakterisiertes Bild des Pariser Bourgeois entwarf. Im August 1863 verbrachte er wiederum eineinhalb Wochen (26. Aug. bis 3./4. Sept.) mit seiner Geliebten Pauline Suslowa in Paris. Hier hatte er Gelegenheit, im Salon des Refusés Manets umstrittenes Gemälde Déjeuner sur l’herbe zu sehen oder zumindest in französischen Zeitungen darüber, und den Skandal, den es hervorgerufen hatte, zu lesen. Er, der eben in den Winterlichen Aufzeichnungen die verlogene Art des Spießbürgers mit dem anschaulichen Bild des sich im Grase wälzenden Bourgeois, noch dazu mit einer französischen Wendung „se rouler dans l’herbe,“ bzw. des einmal am Tag ausgebreiteten Rasenteppichs beschrieben hatte, konnte, so möchte man annehmen, doch nicht die Parallele zwischen Manets ironischer Darstellung und seiner eigenen Kritik am Bürger übersehen! Dennoch findet sich kein Hinweis auf irgendein wie immer geartetes Interesse Dostojewskijs an Manet. Er hatte ihn allem Anschein nach entweder nach seiner ersten Erfahrung bewusst abgelehnt oder überhaupt nicht wahrgenommen. Er teilte also merkwürdigerweise die Ablehnung, die Manets Gemälde damals beim bürgerlichen Betrachter fand. Dass ihm der Name Manet, der damals in aller Munde war, in Paris nicht unterkam, kann wohl ausgeschlossen werden. Im August und September 1865 schließlich verbrachte Dostojewskij etwa fünf bis sechs Wochen in Wiesbaden. Dort widmete er sich dem Roulette, frequentierte aber nicht nur das Casino, sondern auch Lesehallen. Dies war das Jahr, in dem als Folge der Ausstellung von Manets Gemälde Olympia im Salon ein noch viel größerer Skandal die Pariser Gesellschaft erregte und europaweit Aufsehen machte. Otto Friedrich fasst zusammen: „Der Tumult um Olympia war die Zeit des Cancan und der kaiserlichen Demimonde, der Madame Bovary und Nana so stark, dass einige Beobachter dies mit äußerlichen Einflüssen zu erklären suchten. ,Rabauken, die eigens angeheuert worden waren, um

152 „I v samom dele, čto za ženščin my vidim na vystavke? G-n Alekseev postavil ,Vakchanku‘, kotoraja vystavila nepomernuju levuju grud’, i ,Nimfu s satirom‘ g-na Mane iz Pariza. Užas, užas, užas! Poslednjaja kartina vystavlena, konečno, s namereniem, čtoby pokazat’, do kakogo bezobrazija možet dojti fantazija chudožnika, kotoryj napisal samuju ploskuju vešč’ i dal telu nimfy kolorit pjatidnevnogo trupa.“ PSS, Bd. 19, S. 157.

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Olympia zu verspotten, lachten, schrien und drohten; vor der erwachenden Schönen wurde mit Gehstöcken und Schirmen gefuchtelt‘, schrieb Manets erster Biograph, Edmond Bazire ...“ 153

Zwei uniformierte Wächter mussten das Bild schützen! Schließlich musste das Bild an einem anderen Platz in größerer Höhe gehängt werden, um es vor Angriffen des Publikums zu bewahren! Ein Sturm der Entrüstung fegte durch die französische Presse. Auch davon musste Dostojewskij in Wiesbaden gelesen haben. Die Ereignisse haben allerdings nicht den geringsten Niederschlag, weder in seiner Korrespondenz, noch in literarischen oder publizistischen Texten gefunden. Dabei musste gerade der Kontrast der sentimentalromantischen Verse Astrucs, die im Katalog der Ausstellung standen und als Motto dieses Aufsatzes dienen, zur verborgenen Botschaft des Bildes Dostojewskij ansprechen. Hatte er doch selbst in den ein Jahr davor erschienenen Aufzeichnungen aus dem Untergrund eben denselben Kontrast dargestellt, als er das Motto des zweiten Teils der Begegnung des Helden mit der Prostituierten im Bordell gegenüberstellte. Nekrassows banale, sentimentale Verse über die Rettung eines „gefallenen Mädchens“, „Als aus dem Dunkel der Verirrung // Mit heißen Worten der Überzeugung // Ich die gefallene Seele emporhob ...“ („Kogda iz mraka zablužden’ja // Gorjačim slovom ubežden’ja // Ja dušu padšuju izvlek ...“) entsprechen in Tonalität und Aussage den Versen Astrucs. Mitte April 1867 reiste Dostojewskij mit seiner jungen Frau nach Deutschland (Berlin, Dresden, Baden-Baden, Basel, Genf ...). In der französischsprachigen Schweiz verbrachte er insgesamt an die elf Monate von Ende August 1867 bis Anfang September 1868. Erst im Sommer 1871 kehrte er nach Russland zurück. Natürlich las er in der Schweiz französische Zeitungen und konnte sich über politische und kulturelle Ereignisse informieren. In diesem Jahr hatte Manet auf eigene Kosten in der Nähe des Place d’Alma eine Ausstellungsbaracke errichtet und zeigte dort eine Auswahl seiner Bilder, darunter Die überraschte Nymphe, Le Dejeuner dans l’herbe, und Olympia. Auch diese Ausstellung erregte die Öffentlichkeit, was sich in der Presse spiegelte. So schrieb Antonin Proust, ein Zeitgenosse: „Die Ehemänner führten ihre Frauen in diese Ausstellung. Niemand wollte sich diese Gelegenheit zu lachen entgehen lassen. Sie war auch der Treffpunkt aller ‚arrivierten‘ Maler von Paris, der Anlass zu unerhörtem Gelächter ..., das die Presse einstimmig billigt.“ 154

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Friedrich, S. 52f. Bataille, S. 10.

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Das Lachen als Waffe des Angriffs wie der Verteidigung ist auch dem Schriftsteller Dostojewskij nicht unbekannt. Im Jüngling sollte er es mit besonderem Effekt einsetzen. Aber schon in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund charakterisiert es die Einstellung Swerkows und der übrigen Schulfreunde des Helden diesem gegenüber! Doch auch diesmal schwieg Dostojewskij und ignorierte Manet und sein umstrittenes Werk. Es ergibt sich die Frage, wie konnte der Schriftsteller, den augenscheinlich so viel mit dem Maler verband, diesen so beständig ignorieren? Dass ihn die Darstellung eines antiken, mythologischen Sujets durch Manet einst schockiert hatte, reicht als Erklärung nicht aus. Die Wurzeln seiner Ablehnung Manets liegen tiefer. Dostojewskijs Kritik am Bürger geht zurück auf seine Beschäftigung mit dem utopischen Sozialismus im Kreise Petraschewskijs in den 1840erJahren. Dort befasste er sich mit Fouriers komplexem System menschlicher, von der zeitgenössischen Zivilisation pervertierten, „Leidenschaften“. Fouriers Kritik galt besonders der Familie und Ehe: „Die Familie kennt keine Fröhlichkeit, keine glücklichen Augenblicke, es sei denn es gelingt den Mitgliedern, ihr zu entkommen, indem sie verschiedene Freunde empfangen und die Familiengruppen, sei es bei Tisch, sei es in einem Zirkel oder am Lande in eine Gruppe unerlaubter Liebschaften im Einklang mit der herrschenden Moral verwandeln.“ 155

Beispiele solcher „Liebschaften“ sind zahlreich in Dostojewskijs Texten von 1846–49! Man möge nur Dostojewskijs Beschreibung des Julian Mastakowitsch in seinem Feuilleton (1847), bzw. Die Fremde Frau und der Mann unter dem Bett lesen. 156 Darin verurteilte Dostojewskij den russischen Bourgeois. Ziel der Petraschewzen war es ja, Russland eine neue Ordnung und eine neue Moral zu geben. Erst als sich der Revolutionär Dostojewskij im Laufe seiner sibirischen Jahre zum Konservativen mit orthodoxen, slawophilen Ansichten wandelte, da änderte sich auch die Zielrichtung seiner Kritik am Bourgeois. Nun war das Objekt seiner Kritik der französische und besonders der Pariser Bürger, bzw. jene Russen, die von westlicher, besonders französischer Lebensart verdorben waren. Das waren alle gebildeten Russen, die sich nicht zur Orthodoxie bekannten und ihre Verbundenheit mit der „russischen Scholle“ aufgegeben hatten. Dostojewskij sah sein Ideal im tiefgläubigen, mittelalterlichen, jedenfalls vormodernen Europa, dem „Land hei-

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Zit. nach Rudolf Neuhäuser: Das Frühwerk Dostojewskjjs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch, Heidelberg, Carl Winter Universitätsverlag 1979, S. 35. Siehe auch Dostojewskijs Erzählung Ein Weihnachtsfest und eine Hochzeit.

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liger Wunder“, wie er es mit einer vom Dichter Chomjakow geborgten Wendung in den Winterlichen Aufzeichnungen ausdrückte. Dies wird deutlich, wenn man das Tagebuch seiner Frau studiert, in dem sie Besuche in der Dresdner Gemäldegalerie beschreibt. Dostojewskij schwärmte von Tizian, Raffael, Murillo, Holbein, Claude Lorraine, also gerade den Malern, von denen sich ein Manet bewusst absetzte. In Lorraines Landschaftsdarstellung sah Dostojewskij sein Ideal des Goldenen Zeitalters der Menschheit dargestellt. 157 Seine Frau schreibt: „Wir gingen lange durch die untere Galerie [dort waren die alten Meister], dann gingen wir nach oben, wo wir noch niemals zur Besichtigung waren. Oben sind die Bilder zeitgenössischer Maler und einige alte Bilder.“ 158

Hier bricht der Bericht abrupt ab! Im Tagebuch eines Schriftstellers (1876) klagte Dostojewskij, dass heutzutage Shakespeare und Raffael unverstanden wären und abgelehnt würden. Er fügte hinzu: „Diese Worte [= Namen] können heutzutage sogar schon nicht bloß als Ausdruck eines tiefen Verständnisses aufgenommen werden, sondern sogar als etwas Heldenmutiges, fast schon als sittliche Großtat. Sind denn jetzt einzig Shakespeare und einzig Rafael einem solchen Urteil und Zweifel unterworfen?“ 159

Dostojewskij wird zwar vielfach als Prophet kommender politischer Katastrophen bezeichnet, andererseits als Vorreiter und Wegbereiter der literarischen Moderne, was seine literarischen Verfahren („priemy“) betrifft, so fällt nichts desto weniger in weltanschaulicher Hinsicht vor allem sein rückwärtsgewandter Blick auf. Er suchte und fand seine Ideale nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Die Zukunft fürchtete er, bzw. konnte sie sich nur als utopische Vision eines von Russland „geretteten“, zur wahren, sprich orthodoxen Frömmigkeit bekehrten, unter russischer Führung stehenden Europas vorstellen. Ganz anders war Manet. Er brach in seinen Gemälden radikal mit der Vergangenheit. Mit ihm wurde nach Pierre Schneider die Avantgarde geboren! 160 Gaugin meinte gar, „die Malerei fängt an mit Manet.“ 161 Darauf wies schon Zola hin, als er seine Verteidigungsschrift von 1867, dem Jahr als Dostojewskij die Dresdner Galerie besuchte, so betitelte: „Eine neue Malerei: Edouard Manet.“ 162 Da sah man keine antiken Ideale, sondern eine realisti157 158 159 160 161 162

V. A. Bogdanov: F. M. Dostoevskij ob iskusstve. Moskau 1973, S. 504ff. Loc. cit. Ibid., S. 292. Pierre Schneider, zit. nach Friedrich, S. 42. Loc. zit. Düchting, S. 46.

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sche Darstellung „schon verblühter Nacktheit“ (Zola), wie sie nur durch eine moderne Wahrnehmung gesehen und vermittelt werden konnte. Geschichtsfiktionen und Idealisierungen lehnte Manet ab. Er zerstörte Ideale mit malerischen Mitteln und impliziter Ironie. Dostojewskijs rückwärtsgewandter Blick, seine utopischen Visionen, seine Vorurteile gegenüber einem seiner Ansicht nach von Grund auf verdorbenen Westen, verstellten ihm den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens. Für ihn waren Manets Bilder zweifelsohne ein Teil der dekadenten bürgerlichen Gesellschaft, die sich ja an ihnen auch belustigte. Es fehlte ihm der offene, vorurteilsfreie Blick, sodass er für Manets implizite Kritik und Bloßstellung des Bourgeois, die so viel mit seiner eigenen Kritik gemeinsam hatte, immunisiert war! Das alles ist nicht unbekannt, sodass sich die Frage stellt, ob diese Gegenüberstellung dem Leser Neues bringt. Ich denke schon, da gerade erst dadurch, dass beide doch ein Thema, der Bourgeois, und ein Stilmittel, die Ironie verbinden, der rückwärts gewandte Blick Dostojewskijs und, ein Urproblem der russischen Mentalität, seine Suche nach der Zukunft in der Vergangenheit, worüber die Gegenwart aus dem Blick gerät, erst deutlich vor Augen tritt. Am Ende seines Lebens wird dieser Zug, den wir hier bereits in der 1860er-Jahren wahrnehmen, von Dostojewskij überdeutlich und in extremer Weise formuliert. Im letzten Heft des Tagebuchs eines Schriftstellers (Januar 1881) forderte er bekanntlich seine Leser auf, jedes Jahr ein Zwanzigstel der aktuellen Nachrichten zu vergessen und dies allmählich bis auf drei Viertel zu steigern – zugunsten einer Rückbesinnung auf die Wurzeln. 163 Mit anderen Worten, seine Leser sollten auf drei Viertel der Gegenwart zugunsten eines Lebens in und aus der Vergangenheit verzichten. Manet gehörte bereits in den 60er-Jahren zu dem „Zwanzigstel“, auf das Dostojewskij zugunsten einer Rückbesinnung auf klassische Kunst verzichten zu können glaubte. Der Kritiker des bürgerlichen Lebensstils hatte in Kunstfragen eben einen durch und durch bürgerlichen Geschmack!

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PSS, Bd. 27, S. 14.

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5.

Der Autor und sein Erzähler in den Dämonen

Dostojewskijs Erzähler in den Dämonen hat widersprüchliche Deutungen provoziert. Sie kreisen um die Frage, inwieweit er überhaupt eine physische Identität als Person besitzt, bzw. inwiefern sich hinter seiner für den Leser schwer fassbaren Identität nicht vielleicht ein Mangel äußert, der in der Struktur des Romans selbst bereits angelegt ist. Die Interpretation des Erzählers schwankt dabei zwischen zwei Polen: Nach Wolf Schmid erscheint Anton Lawrentjewitsch G-w, der sich als Verfasser einer „Chronik“ bezeichnet, als „nicht zu einer psychophysisch fassbaren Persönlichkeit konkretisiert“, als ein „an der Peripherie des Geschehens bleibender Chronist“, ein „vermittelndes Medium“. 164 Er stellt sozusagen eine „Zwischenform“ zwischen dem allwissenden Er-Erzähler und dem begrenzten Ich-Erzähler dar. So ist es verständlich, dass Wladimir Tunimanow, der zwar die strukturelle Einheit des Romans betont, dennoch zu unterschiedlichen Erzähltypen kommt. 165 Dies ist auch der Befund von Klaus Städtke, der feststellt: „… die Grenzen zwischen auktorialem und fiktivem Erzählen bleiben fließend.“ 166 Bestenfalls sieht Städtke im Erzähler eine „zum Teil sozialpsychologisch stark konturierte Physiognomie“, womit er allerdings noch nicht, mit Schmid gesprochen, als Ich-Erzähler im üblichen Sinne angesprochen werden kann. Horst-Jürgen Gerigk geht weiter und markiert den anderen Pol im Spektrum der Meinungen. Für ihn ist der vorgeschobene Erzähler der Dämonen „eine konkret vorhandene Persönlichkeit, die zu den berichteten Ereignissen in einer mehr oder weniger persönlichen Beziehung steht und alles nicht unmittelbar Erfahrene durch ein ‚Wie ich später erfuhr‘ oder eine ähnliche Wendung erklären muss.“ 167 Allerdings betont auch er die „Randposition“ dieses Erzählers. Die narrative Struktur des Romans scheint in der Tat keine eindeutig nachvollziehbare Deutung des Erzählers zu ermöglichen. Der Erzähler ist zwar mit den Attributen einer real vorhandenen und am Geschehen beteiligten Person ausgestattet, auch tritt er immer wieder mehr oder weniger deutlich als eine an der Handlung beteiligte Person vor den Leser; in manchen Szenen des Romans, die Tunimanow u. a. klassifiziert hat und die er zusammenfassend als „Szenen ohne Chronisten“ bezeichnet, bleiben seine Identität

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Siehe Literaturverzeichnis auf S. 143: Schmid 1973, S. 81. Tunimanov 1972, S. 136. Städtke 1971, S. 849. Gerigk 1965, S. 37.

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und seine Präsenz, allerdings fragwürdig. Wir müssen nüchtern feststellen, dass er sowohl als Person wie auch als Erzählinstanz im Sinne eines vom Autor entworfenen „Bündels von Erzählverfahren“ verstanden werden kann. Es scheint, Dostojewskij setzt ihn einmal als Person in Szene, dann wieder realisiert er Erzählverfahren, ohne sich dieser Person zu bedienen. Dostojewskij geht es in diesem Roman, so wie in anderen Werken, jedoch aufgrund seines Themas in verstärktem Maße um Wahrheitsfindung. Dies wird geradezu zu einem zentralen Problem des Romans. In diesem Roman, in dem mehr Menschen ihren Tod finden als in allen anderen Romanen Dostojewskijs, geht es geradezu um apokalyptische Ereignisse, die, löst man sie aus dem provinziellen Kontext und projiziert man sie auf den russischen Staat als Ganzes, als Dostojewskijs Kommentar zu Gegenwart und möglicher Zukunft dieses Staates gelesen werden können. Es stellt sich die Frage: Wie können solche Ereignisse aufgezeichnet, gelesen und verstanden werden? Da manifestiert sich eine Gegenwart, in der sich eine noch nicht deutlich zu erkennende Zukunft verbirgt und zugleich bruchstückhaft enthüllt. Können diese Ereignisse aufgezeichnet werden, ohne vorher zur Gänze verstanden zu sein? Werden sie aufgezeichnet, ohne ganz verstanden zu sein, wie sollen sie gelesen werden? Wie kann der Leser dem nahe kommen, was sich in ihnen verbirgt, oder nur in Bruchstücken enthüllt? Kurz, wie und auf welchen Wegen ist Wahrheit, wenn schon nicht direkt, dann vielleicht in Form einer asymptotischen Annäherung zu erfahren? Die Antwort liegt im Erzähler bzw. in den von ihm angewandten Erzählverfahren. Dostojewskij führt dem Leser eine Person auf der Suche nach dem Sinn eben erlebter Ereignisse von epochaler Bedeutung im Horizont dieser Person vor, und zugleich damit die möglichen Methoden einer asymptotischen Annäherung an Wahrheit, die der Leser nachvollziehen soll. Eine Bedingung dafür ist die Distanzierung von diesen Ereignissen und Personen, angedeutet durch die zeitliche Distanz von drei Monaten, die den Erzähler vom Geschehen des Romans trennen. Dostojewskij macht klar, dass die Niederschrift der Roman-Chronik zwar im Rückblick erfolgt, aber noch bevor die staatliche Untersuchungskommission ihre Arbeit aufgenommen hat. 168 Der Prozess der Wahrheitsfindung findet statt, nachdem die Ereignisse des Romans einen Abschluss gefunden haben und der in ihnen involvierte Erzähler Zeit hatte, sie zu reflektieren; aber noch bevor die staatliche Kommission ein stichhaltiges, nachvollziehbares und belegtes Erklärungsmodell vorlegen konnte. Das heißt, dass sich der Erzähler als Individuum, zwischen Subjektivität und Ob-

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Die Dämonen, S. 699, bzw. 361 der russischen Ausgabe (s. Literaturverzeichnis). Verweise auf den Text des Romans des Weiteren im Text!

jektivität eingespannt, auf eine Wahrheitssuche begeben muss, wobei er voll auf seine Intuition, seine Erfahrungen, seine rationalen Fähigkeiten angewiesen ist. Vier Verfahren bestimmen sein Vorgehen und bilden so die wesentlichen Erzählverfahren im Roman: 1. Die Zeugenschaft: Die Echtheit der Ereignisse wird durch persönliches Erleben bezeugt, sei es des Erzählers, oder seines Gewährsmannes als Vertrauter einer Person, welche die geschilderten Ereignisse erlebt hat. So erwähnt der Erzähler bereits am Beginn des Romans, welch enge Beziehungen Stepan Trofimowitsch zu seinen Vertrauten unterhielt, die er auch zu nächtlicher Stunde noch zu vertraulichen Gesprächen aufsuchte. Übrigens wiederholt sich der Hinweis auf vertrauliche Gespräche zu nächtlicher Zeit fast dreihundert Seiten später (S. 323). Dies lässt Rückschlüsse auf die Sorgfalt zu, welche Dostojewskij in der Arbeit am Roman walten ließ. 2. Der Verweis auf die Präsenz „harter Fakten“ (S. 15), die im Rückblick eine Rekonstruktion der Ereignisse erlauben: Dostojewskij verweist mehrfach auf die zeitliche Distanzierung, die es erlaubt, Zusammenhänge da zu sehen, wo das unmittelbare Erleben dies verhindern würde: „ich erfuhr nachher; jetzt ist ans Licht gekommen; wie es sich jetzt erwiesen hat; jetzt ist bekannt; in der Folge“ und ähnliche Formulierungen lassen dies für den Leser deutlich werden. 169 Dazu gehört allerdings auch die Erkenntnis der begrenzten Möglichkeiten solcher Erkenntnisse, da den Erzähler ja nur eine geringe Zeitspanne von den Ereignissen seines Berichtes trennt. Phrasen wie „auf all das kann man schwer eine Antwort geben, sogar jetzt“ machen dies dem Leser ebenso klar wie der Hinweis auf die manchmal ungewisse Informationslage, die nicht selten auf Gerüchten beruht. 170 Das angefügte „ich nehme bloß meinerseits an“ (S. 634) weist hier wieder auf die Grenzen der Wahrheitsfindung hin, da auch „harte Fakten“ nicht immer verfügbar sind, oder in einem unbestimmten Kontext stehen. 171 3. Eine Kette scheinbar logischer Schlussfolgerungen, die der Beobachtung, dem Zusehen und Zuhören entspringen, auf Annahmen des Erzählers beruhen und erlauben, den Sinn des Geschehens in Grenzen erschließen zu lassen: Typisch dafür sind einleitende oder eine kausale Kette abschließende Redewendungen wie „aber ich habe komplett erraten; so rate ich zumindest; mir schien es vom ersten Blick an; ich nehme an; ich stelle mir vor; ich neh-

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„tverdye dannye,“ „ja uznal potom; teper’ obnaružilos’; kаk okazalos’ teper’; teper’ izvestno; vposledstvii.“ „na vse eto očen’ trudno otvetit’ daže teper’“ „ja že liš’ polagaju v sobstvennom moem mnenii ...“

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me bloß an; meiner eigenen Meinung nach; ich habe auch eine Idee; etc.“ 172 Es handelt sich um Grenzziehungen, die die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung einschränken. 4. Das Geschwätz sekundärer Erzähler, aus dem sich aus zeitlicher Distanz mitunter Wahrheit zu erkennen gibt, wie „die Hälfte erwies sich als wahr.“ (S. 46) 173 Das Geschwätz bezieht sich auf einzelne Personen, sowie auch auf die Stadtbevölkerung als Ganzes. Charakteristisch sind Wendungen wie diese: „plötzlich hatte sich die Nachricht verbreitet; in der Stadt kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte; schon klatscht die ganze Stadt; der ganze Platz schreit es; mir hat man gerade erzählt; so wurde die Angelegenheit berichtet“ etc. 174 Aus solch höchst unzuverlässigen Quellen kann nichtsdestoweniger eine begrenzte Wahrheit entspringen. Wir haben in diesen vier Verfahren eine absteigende Skala von Annäherungen an die Wahrheit vor uns, die allerdings zuletzt umschlägt in ihre offene Manipulation, wie in der Wendung, „wir setzen Märchen in Umlauf; Nun, da wollen wir mal…“ 175 Es wurde eingangs gesagt, dass in der Forschung die Person des Erzählers als Chronist keineswegs einheitlich gesehen wird. Wie schon erwähnt, sprechen ihm manche Kritiker eine eindeutig erkennbare Persönlichkeit ab, andere vermissen seine kontinuierliche Präsenz in der Handlung des Romans. Manche gehen auf die Person und Funktion des Erzählers überhaupt nicht ein, so wie Erik Krag in seinen ansonsten exzellenten Vorlesungen über Dostojewskij. 176 Andere sind irritiert vom zeitweisen Zurücktreten des Erzählers und schreiben diesen „Mangel“ dem Autor zu, wie etwa Sundelowitsch: „Ein solcher unerwarteter Bruch in der Stimme des Autors [wenn der Erzähler sich plötzlich in den ‚auktorialen‘ Fluss der Erzählung einmischt; R. N.] ist ein Zeugnis dafür, dass Dostojewskij keine Harmonie in den von ihm gesetzten Erzählverfahren fand.“ 177 H.-J. Gerigk wiederum nennt den Chronisten in seinem Nachwort zum Roman einen „fast ... imaginären Erzäh-

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„no ja soveršenno ugadal; tak po krajnej mere ja dogadyvajus’; mne s pervogo vzgljada pokazalos’ ja polagaju; ja voobražaju; ja že liš’ polagaju; v moem sobstvennom mnenii; u menja tože est' odna mysl’.“ „polovina okazalos’ vernoju“. „razneslos’ vdrug izvestie; po gorodu pošli samye raznoobraznye sluchi; už ves' gorod stučit; vsja ploščad’ kričit; mne totčas rasskazali; tak peredavalos’ delo.“ „my pustim legendy ...; nu-s, tut-to my i pustim ...”! Krag 1962; englische Ausgabe 1976. „Takoj neožidannyj sryv avtorskogo golosa snova i snova svidetel’stvuet о tom, čto Dostoevskij ne nachodil uravnovešennoj sootnesennosti meždu zadannymi im manerami povestvovanija ...” Zundelovič 1963, S. 115.

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ler“. 178 Gerigk widerspricht allerdings Sundelowitsch (ohne ihn zu nennen), indem er zu Recht ausdrücklich betont, dass es verfehlt wäre, „die Wirrnis der Informationen“ auf „erzählerische Nachlässigkeit“ zurückzuführen. Ganz im Gegenteil, erfordere doch „die Art, wie Dostojewskij seinen Erzähler ... einsetzt, ... hohes Kunstverständnis.“ 179 Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, der Erzähler sei „ganz und gar Instrument für die Herstellung des Interessanten“ ist dennoch einseitig, insofern sie eine Funktion hervorhebt, aber andere übergeht. Auch könnte man die inhaltlich korrekte Feststellung Gerigks „Die Dämonen beginnen mit Stepan Werchowenskij und enden mit Stawrogin“, variieren: „Die Dämonen beginnen mit dem Chronisten und enden mit dem Chronisten.“ 180 Auch dieser Satz, der auf erzähltechnische Aspekte verweist, hat seine im Übrigen leicht überprüfbare Richtigkeit. Romane des 19. Jahrhunderts erschienen, so wie insbesondere der Feuilletonroman, oft in Fortsetzungen. Es bestand die Notwendigkeit, den Leser am Beginn der Fortsetzung, die üblicherweise mit dem Beginn eines Kapitels zusammenfiel, in die Handlung neu einzuführen, und auch den Erzählmodus neu zu definieren. Die Dämonen sind ein stark gegliederter Text. Er besteht aus drei Teilen, die selbst wieder aus meist eher umfangreichen Kapiteln bestehen. Deshalb ist jedes Kapitel, abgesehen vom Schlusskapitel, nochmals in Abschnitte gegliedert, die dann meist nur wenige Seiten umfassen. Dostojewskij, der am Genre des Feuilletonromans geschult war, hat die Kapitelstruktur in seinen Romanen als wesentliches Strukturelement betrachtet. Es ist deshalb von einigem Interesse, Beginn und Ende der Kapitel in den Dämonen in Hinsicht auf die Rolle und Funktion des Erzählers zu betrachten. Daraus lassen sich Erkenntnisse darüber gewinnen, wie ernsthaft der Autor mit dem fiktiven Erzähler umgegangen ist. I. Teil: 1. Kapitel: Der Erzähler definiert seine Rolle in großer Ausführlichkeit. 2. Kapitel: Am Beginn steht ein kurzer Verweis auf die Präsenz bzw. Absenz des Erzählers, „damals war ich noch nicht dabei“. 181 3. Kapitel: Der Erzähler erscheint als „konfident“. 4. Kapitel: Die Pronomina „ich“ und „mein“ verweisen auf seine Präsenz.

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Gerigk 1965, S. 37. Gerigk 1978, S. 822ff. Op. cit., S. 832. „menja togda ešče ne bylo.“

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5. Kapitel: Am Beginn steht ein kurzer Verweis auf seine Präsenz „wir alle“. Am Ende des I. Teils steht im letzten Absatz ein deutlicher Verweis auf Rolle und Funktion des Erzählers: „ich sah“; „es ist so als ob ich es noch höre.“ 182 Was hier über die Präsenz des Erzählers am Beginn bzw. am Ende der Kapitel gesagt wurde, ist natürlich trivial, denn im I. Teil des Romans bleibt der Erzähler durchgehend im Blickfeld des Lesers. Gegen Ende (I, 5, 6) tritt er zwar zurück, ist aber ab dem 7. und 8. Abschnitt wieder voll da. II. Teil: 1. Kapitel: Im ersten Absatz finden sich mehrere deutliche Verweise auf den Erzähler, beginnend mit „ich schreibe eine Chronik“, der so wieder fest in der Handlung verankert wird. 2. Kapitel: Hier erscheint am Beginn nur ein kleiner, indirekter Verweis auf die Präsenz des Erzählers in der Wendung „unsere Brücke.“ 3. Kapitel: Auf der zweiten Seite findet sich ein Verweis auf die Tätigkeit des Erzählers: „es ist schade, dass die Erzählung schneller geführt werden muss und keine Zeit ist zu beschreiben…“ 183 4. Kapitel: Auf der ersten Seite betont das sechsmal (!) in verschiedenen grammatikalischen Formen wiederholte Pronomen „uns“ seine Präsenz. Am Ende des Kapitels verweist ein Verb in der 1. Person Sg. auf seine Funktion, „ich bemerke, dass ich die Ereignisse vorweg nehme…“ 184 5. Kapitel: Es fehlt der Verweis auf den Erzähler. 6. Kapitel: Am Beginn steht ein ganzer Absatz, in dem sich der Erzähler an den Leser wendet und über seine Tätigkeit spricht: „Es ziemt sich nicht, und kann auch nicht… aber ich setze fort.“ 185 7. Kapitel: Bereits der Titel dieses Kapitels „Bei den Unsrigen“, der zweimal im Text wiederholt wird, verweist auf die Rolle des Erzählers. Der letzte Satz dieses Kapitels, „Sie gingen hinaus“, beginnt in Wiederholung das folgende 8. Kapitel und deutet damit die unmittelbare Fortsetzung der Handlung an. Deshalb fehlt im 8. Kapitel der Verweis auf den Erzähler. Beide Kapitel sind überdies in hohem Maße dialogisiert und bilden ein Ganzes. Umso intensiver sind die Verweise auf den Erzähler am Beginn des nächsten Kapitels. 9. Kapitel: In dem ersten, nur siebeneinhalb Zeilen langen Absatz finden sich sechs Formulierungen, die auf den Erzähler verweisen „bei uns; mich; zu

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„ja videl“; „ja kak budto ešče slyšu“. „žal’, čto nado vesti rasskaz bystree i nekogda opisyvat’…“ „zameču, predupreždaja sobytija ...” „Mne ne stat’, da i ne sumeju ... no prodolžaju ...”

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mir; ich; ich erreichte; ich.“ 186 Das Kapitel endet auf analoge Weise. Der Erzähler ist hier ebenso präsent, wie er in den beiden vorangegangenen Kapiteln abwesend war. 10. Kapitel: Die Präsenz des Erzählers wird durch Wendungen wie folgende deutlich gemacht: „mit uns; wir; meine persönliche Meinung; ich bin vollständig überzeugt“. 187 Ich fasse zusammen: Der I. Teil endete mit der betonten Präsenz des Erzählers, „sagte er mir“, und einer persönlichen Bemerkung des Chronisten: „ich werde nie vergessen“, die den Wahrheitsgehalt seiner Erinnerungen stützt. 188 Im II. Teil verschwindet der Erzähler bereits ab dem 3. Abschnitt des 1. Kapitels aus den Augen des Lesers. In den Dialogen zwischen Stawrogin und Werchowenskij, später Kirillow und Schatow, kann er nicht dabei gewesen sein. Der Leser hat keine Vorstellung davon, wie er zu so genauer Kenntnis der Gespräche, die verbatim wiedergegeben werden, gekommen ist. Dies bedarf einer anderen Erklärung, die noch folgt. Die Dialoge ähneln Tonbandprotokollen. Zwischendurch taucht er allerdings regelmäßig wieder auf. Dies gilt auch für den letzten Teil. III. Teil: 1. Kapitel: Es beginnt mit zweieinhalb Seiten Text, auf denen der Erzähler resümiert und räsonniert: „ich denke; ich habe schon angedeutet; ich sage bloß.“ 189 Das Kapitel endet auch mit deutlichen Verweisen auf die Präsenz des Erzählers; „ich lief, ich versteckte, [ich] entkam.“ 190 2. Kapitel: Dies setzt sich am Beginn des Kapitels fort. Auch dieses Kapitel endet mit mehrfachen Verweisen auf die Präsenz des Chronisten „Ich bemerkte; [ich] erinnere mich; [ich] dachte mir; ich erkannte sofort; wie ich später erkannte.“ 191 3. Kapitel: Am Beginn fehlt ein Hinweis auf den Erzähler. Im letzten Absatz des Kapitels tritt seine Präsenz allerdings wieder deutlich hervor „plötzlich sah ich; ich lief ihr nach; auch ich, als Augenzeuge: [ich] musste geben; ich erklärte; ich bin dieser Meinung.“ 192 4. Kapitel: Am Beginn steht nur ein kurzer, indirekter Verweis „bei uns“. Allerdings erkennt der aufmerksame Leser Formulierungen, die auf Sprache

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„u nas; menja; kо mne; ja; dobilsja; ja”. „s nami; my; moe že ličnoe mnenie; ja soveršenno ubežden“. „govoril on mne“;„nikogda ne zabudu“. „ja dumaju; ja uže namekal; ja govorju liš’.“ „ja bežal; ja sprjatal; vybralsja.“ „ja ne zametil; pomnju, mne podumalos’; ja totčas uznal; kаk uznal ja posle.“ „vdrug ja uvidel; ja bežal za nee; ja tože, kаk očevidec; dolžen byl dat’...; ja zajavil; takogo mnenija deržus’…“

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und Stil des Erzählers verweisen. Das Kapitel endet, wie es begann, mit einem indirekten Verweis auf den Erzähler „unsere Polizei“. 5. Kapitel: Bereits der zweite Satz etabliert den Erzähler fest in der Struktur der Handlung „ich erwähnte bereits; ich… traf; er erschien vor mir.“ 193 6. Kapitel: Ein „uns alle“ erinnert bereits im ersten Satz an ihn. Zwei Absätze später verankert ihn die Wendung „ich ging dann absichtlich dorthin“ wieder fest in der Handlung. 194 7. Kap.: Die ersten beiden Sätze beginnen mit derselben Wendung: „ich bin überzeugt“ und etablieren den Erzähler wieder fest in seiner Funktion. Es folgen in den nächsten Absätzen weitere Verweise auf seine Rolle des Sammelns, Siebens und Erschließens von Information. 8. Kap.: Als einziges Kapitel des Ш. Teils ist es weiter nicht unterteilt und fungiert als eine Art von Epilog, worauf mit dem Titel Schlussbericht hingewiesen wird. Bereits der erste Satz ist im Stil des Chronikberichtes formuliert. Der Erzähler tritt allerdings erst auf der dritten Seite als Person in Erscheinung, „so habe ich zumindest mir gedacht“, wobei sich seine Bemerkung auf die vorangegangenen drei Seiten bezieht. 195 Seine Tätigkeit des Sammelns von Meinungen und Gerüchten, auf deren Basis er eine Annäherung an die Wahrheit versucht, äußert sich in Wendungen wie diese, „übrigens bemerke ich; es scheint; man sagt; aber, ich denke; ein Gerücht geht um; ich wiederhole,“ und endet mit der Feststellung, „ich beschränke mich bloß auf die Fakten.“! 196 Letztere Bemerkung bezieht sich vor allem auf die nun folgenden letzten viereinhalb Seiten Text, die das Ende Stawrogins zum Inhalt haben. Wir sehen, der Erzähler/Chronist ist am Ende des Romans genauso deutlich präsent wie am Beginn des I. Teils! Dass Dostojewskij den Erzähler von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen fest am Beginn oder Ende der Kapitel verankert hat – auch am Beginn und Ende einzelner Abschnitte ist er überdurchschnittlich oft präsent – kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass er bewusst und konsequent an der Fiktion des Erzählers festhielt; anders ausgedrückt, dass dies für ihn von Bedeutung war. Die Präsenz des Erzählers bildet sozusagen den „erkenntnistheoretischen“ Rahmen für jedes Kapitel, für jeden Teil und für den Roman als Ganzes! Dass der Erzähler in den 30 bis 50 Seiten langen Kapiteln, im II. Teil sind sie etwas kürzer, auf weite Strecken hin unsichtbar bleibt, ist dem 193 194 195 196

„ja uže upominal; ja ... vstretil; on pokazalsja mne“. „ja potom naročno chodil tuda“. „tak po krajnej mere ja dogadyvajus’.“ „zameču kstati; kažetsja; govorjat; no, dumaju; sdelaju nota-bene; govorjat daže; slyšno pro nego; u nas utverždajut; govorjat; nositsja sluch; povtorjaju;“ „ograničus’ liš’ faktami.“

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gegenüber von untergeordneter Bedeutung bzw. hat andere Gründe. Der Autor hat jedenfalls den Rahmen vorgegeben. Was sich in diesem Rahmen abspielt, ist von den erkenntnistheoretischen Positionen der angewandten Erzählverfahren aus zu verstehen, die in der Figur des Erzählers personalisiert sind. Noch etwas ist zu beachten: In den Teilen des Romans, die als Erzählbericht (EB) bezeichnet werden können, ist er durchaus präsent, sei es als Person der Handlung oder als Erzähler. In den meist stark dialogisierten szenischen Darstellungen (SzD), die von ihm selbst als „Schilderung“ (II. 1, 2 Ende) bezeichnet werden, auch spricht er von „schildern“ (II. 3,1 Ende), tritt er zurück und lässt analog zum Drama die Handlung sich frei entfalten. Diese SzD bestehen mitunter ausschließlich aus Dialogen. Da, wo die SzD beendet ist, taucht auch wieder der Erzähler (E) auf, wie in III. 3, 3 (S. 560): „erinnere bloß“ 197. Neben diesen beiden Verfahren der Textgestaltung finden wir im Roman einige szenische Darstellungen, in denen der Chronist als Person an der Handlung teilnimmt (SzD/E). Sie können ebenfalls mehr oder weniger stark dialogisiert sein. Beispiele für SzD, die fast ausschließlich aus Dialogen bestehen, sind die Treffen zwischen Stawrogin und Werchowenskij, bzw. Stawrogin und Kirillow, bzw. Stawrogin und Schatow (II, 1, 3–7). Das 2. Kap. des II. Teils besteht ausschließlich aus SzD. Das darauf folgende 3. Kap. beginnt mit EB, dann folgen SzD. In II, 5,2 finden wir eine SzD/E. Die genaue Lektüre des Textes zeigt, dass der Autor nach dem Versuch im I. Teil, den Roman als Chronikbericht seines Erzählers zu gestalten mit eingeschobenen SzD/E, sich entschloss, ab dem П. Teil auch SzD ohne den Erzähler einzuschließen – eine Stärke des Schriftstellers Dostojewskij! Noch etwas fällt auf: Die Sprache des Chronisten bedient sich analoger Wendungen, wie wir sie in Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers finden. Ich zitiere aus einem Aufsatz des Jahres 1873: „Es verbreitete sich ein Gerücht (das sich als falsch herausstellte), dieses Gerücht rief sofort … hervor; ein natürlich nicht vorhergesehenes und von allen schon lange bekanntes Faktum, das aber alle wie irgend etwas Unerwartetes verwirrte; aber darüber später; etwas brennend Heißes, Unduldsames, maßlos Nervöses, Fieberhaftes geschah, das manchmal mit den Menschen passiert; jetzt ist es allzu augenscheinlich; fast kann man tatsächlich sagen; es begann damals, wie immer; man kann sich bis heute kaum vorstellen; etc.“ 198

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„upomjanu liš’.“ „rasprostranilsja sluch (potom okazavšijsja ložnym); sluch etot totčas že vyzval ...; odin fakt, konečno predvidennyj i znaemyj vsemi uže davnym-davno, no nepremenno smutivšij vsech kаk nečto neožidannoe; no ob etom posle; proizošlo čto-to gorjačee, neterpelivoe, nervnoe bez mery, lichoradočnoe, čto byvaet inogda s ljud’mi; teper’

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Worum geht es? Es handelt sich um eine Analyse der innenpolitischen Situation Frankreichs im Herbst des Jahres. Dostojewskij bemüht sich, seinen Lesern nicht nur Gegebenheiten darzustellen, sondern sie auch in Hinblick auf die Zukunft des Landes, ja ganz Europas, zu interpretieren, d. h. er „prophezeit“, dass in diesem Falle dieses oder jenes passieren würde: „Diese drei überaus wichtigen Ereignisse können außerordentliche Folgen für ganz Europa haben und, was am Wichtigsten ist, sogar in der allernächsten Zukunft.“ 199 Die entsprechenden Vermutungen werden von Phrasen wie der folgenden eingeleitet: „Wir sind fest überzeugt; man sagt, dass …; uns beginnt es immer mehr so zu scheinen; im Gegenteil, uns kommt der Gedanke; Aber wir beenden die Chronik und eilen weiter; jetzt aber bemerken wir, eilen dabei weiter voraus“; etc. 200 Die Ähnlichkeit des Stils ist unverkennbar. Die Intention, die dem Stil und der Sprache beider Texte zugrunde liegt, kann als identisch bezeichnet werden. Bei beiden geht es darum, aus einer Reihe von nicht ganz einsichtigen, zum Teil überraschenden und unerwarteten, beunruhigenden Fakten auf die „Wahrheit“ zu schließen, die in ihnen verborgen liegt. Man könnte von daher zu dem Schluss kommen, dass sich hinter dem Erzähler vielleicht der Autor selbst verbirgt, oder möglicherweise ein geringfügig variiertes Double des Autors wie bei dem Erzähler Gorjantschikow in den Aufzeichnungen aus einem toten Haus, worauf schon Al’tman hingewiesen hat. 201 Jedenfalls ist die sprachliche Ähnlichkeit zwischen dem Chronisten Anton Lawrentjewitsch G-w und dem Publizisten Dostojewskij in der Tat verblüffend. Ohne auf diese Frage weiter einzugehen, möchte ich doch festhalten, dass zwischen dem Chronisten der Dämonen und dem Autor zweifellos eine erkennbare Nahbeziehung besteht. Dostojewskij führt dem Leser die prekäre Situation eines Menschen vor, der aus unvollständig bekannten Fakten, aufgrund seiner Kenntnis des Kontextes und seiner Lebenserfahrung, mittels Recherchen und Intuition der Wahrheit auf die Spur kommen möchte. Dies macht den Roman spannend, kann aber auch als Warnung an seine Interpreten verstanden werden, die allzu voreilig mit Schlussfolgerungen betreffend die „Prophezeiungen“ des Autors sind.

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sliškom očevidno; počti naverno možno skazat’; načalos’ togda, kаk i vsegda; trudno predstavit’ sebe daže do sich рог; etc., etc.“ (Bd. 21, S. 180ff.). „Eti tri ves'ma važnye sobytija mogut imet’ črezvyčajnye posledstvija dlja vsej Evropy i, čto važnee vsego, daže v samom bližajšem buduščem.“ (Bd. 21, S. 180) „my tverdo uvereny; skažut, čto ...; nam vse bolee i bolee načinaet kazat’sja; naprotiv nam dumaetsja; po-našemu; no končaja chroniku, zabežim vpered; teper’ že zametim, opjat’-taki zabegaja vpered; etc.“ Al’tman 1975, S. 169.

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Es bleibt noch die oft gestellte Frage, wie der Chronist detailliert über Sachverhalte und Gespräche berichten kann, von denen er aufgrund der Umstände keine Kenntnis haben kann. Dies bezieht sich vor allem auf SzD. Bei manchen „wichtigen“ Ereignissen, wie dem am Ende des Romans geschilderten Mord an Schatow wird dem Leser eine Begründung nachgereicht. In diesem Falle erfährt er, dass durch Ljamschins Geständnis die Tat heute bis in die „kleinsten Einzelheiten“ bekannt sei (III, 8). In den meisten Fällen fehlt aber jegliche Begründung. Wir können nur auf Dostojewskijs Kunstverständnis zurückgreifen unter der Annahme, dass es vom Chronisten geteilt wird. In dem Aufsatz Herr Gbow und die Frage nach der Kunst stellt sich Dostojewskij die Frage: „Woran erkennen wir Exzellenz in einem Kunstwerk?“ 202 Seine Antwort: „Daran, dass wir die Übereinstimmung, und nach Möglichkeit eine vollständige, der künstlerischen Idee mit jener Form sehen, in der sie gestaltet wurde.“ 203 D. h., dass die realistische Motivierung in den Hintergrund treten kann, ja, im Grunde manchmal zurück treten muss. In einem Gespräch mit E. N. Opotschinin, das mir nur in Übersetzung vorliegt, soll Dostojewskij gesagt haben: „Man sagt, dass ein Kunstwerk das Leben widerspiegeln muss, usw. Das ist alles Unsinn: Der Dichter (Poet) schafft selbst Leben: ja sogar in solch einer Fülle, wie es vor ihm nicht existierte.“ 204

Man könnte dem weitere Zitate anfügen, in denen Dostojewskij meint, dass Kunst immer „aktuell und wirklich“ sei, dass er als „Künstler“ wahrhaft geschrieben habe, „denn ich schrieb aus Erfahrung; niemand hat von diesen Erfahrungen mehr beobachtet als ich …“. 205 Es versteht sich, dass der Erzähler der Dämonen soweit mit dem Autor als identisch zu sehen ist, dass man annehmen kann, dass er diese Ansichten mit ihm teilt. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, alle Teile der Chronik realistisch zu motivieren. In den aus Dostojewskijs Sicht (!) „künstlerisch“ gestalteten Texten, und dazu gehören vor allem die dramatisch in Dialogform geschriebenen szenischen Darstellungen, ersetzt die „Lebensechtheit“, die nach Dostojewskij jeder Kunst, vor allem wenn sie sich auf Erfahrung und Beobachtung stützt, zu eigen ist, die realistische Motivierung. Somit meine ich, dass die von man-

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„Čem poznaetsja chudožestvennost’ v proizvedenii iskusstva?“ G.-bov i vopros ob iskusstve. „Tem, esli mу vidim soglasie, po vozmožnosti polnoe, chudožestvennoj idei s toj formoj, v kotoruju ona voploščena.“ Linner 1967, S. 207. „sovremenno i dejstvitel’no; (Bd. 18, S. 98); „napisal verno (ibo pisal s opyta; nikto bolee menja etich opytov ne imel i ne nabljudal) ...“ (Bd. 28/2, S. 305).

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chen Lesern und Interpreten des Romans angeführte Kritik nicht zutrifft. Die Art und Weise, wie Dostojewskij den Erzähler gestaltet, zugleich als Berichterstatter, d. h. als „Chronist“ und als Schriftsteller, sprich als „Künstler“, entspricht dem Verständnis der Literatur seitens des Schriftstellers Dostojewskij, und dies wird durch den ganzen Roman konsequent durchgehalten. Die künstlerische Einheit bleibt erhalten, ein Bruch ist nicht festzustellen.

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Literaturverzeichnis: Zitate aus dem Roman Besy/Die Dämonen (= Böse Geister) sind Band 7 der 10-bändigen Ausgabe Sobranie sočinenij, Moskau 1957, entnommen und werden unter Angabe der Seitenzahl, bzw. des Teils (römische Ziffern), des Kapitels und Abschnitts (arabische Ziffern) im Text angeführt. Zitate aus anderen Texten Dostojewskijs stammen aus der 30-bändigen Akademieausgabe PSS und werden unter Angabe des Bandes und der Seite zitiert. Die deutschen Übersetzungen stammen von R. N. Al’tman, Moisej S.: Dostojewskij po vecham imen. Saratov 1975. Gerigk, Horst-Jürgen: Versuch über Dostojevskijs „Jüngling“: Ein Beitrag zur Theorie des Romans. München 1965. (Forum Slavicum, 4) Gerigk, Horst-Jürgen: Nachwort zu F. M. Dostojewskij: Die Dämonen. München 1978. (dtv) Krag, Erik: Dostoevsky. The Literary Artist. Oslo–New York 1976. Linner, Sven: Dostojewskij on Realism. Uppsala 1967. (Acta Universitatis Stockholmiensis, Stockholm Slavic Studies, 1) Neuhäuser, Rudolf: Semantisierung formaler Elemente im „Idiot“. In: Dostoevsky Studies, 1, 1980. Schmid, Wolf: Der Textaufbau in den Erzählungen Dostojewskijs. München 1973. (Beiheft zu Poetica, 10) Städke, Klaus-Dietrich: Teuflische Zeit und goldenes Zeitalter: Abbild und Gleichnis in Dostojewskijs „Dämonen“. In: ZfSl, 16, 1971. Tunimanov, V. A.: Rasskazčik v Besach Dostoevskogo. In: Issledovanija po poetike i stilistike. Leningrad 1972. Tunimanov, V. А.: The Narrator in The Devils. In: Dostoevsky (New Perspectives), Englewood Cliffs, N.J. 1984. Zundelovič, Ja. O.: Romany Dostoevskogo. Taškent 1963.

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6.

Der Lohn des Glaubens und der Bürger des Kantons Uri: Dostojewskijs Böse Geister „Es war aber dort auf dem Berge eine große Herde Säue auf der Weide. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaube, in die Säue zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die bösen Geister von dem Menschen aus und fuhren in die Säue; und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See und ersoff. Als aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten es in der Stadt und den Dörfern. Da gingen die Leute hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und sie erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündeten ihnen, wie der Besessene gesund geworden war.“ (Motto des Romans nach Lukas 8, 32–36. Wiederholt am Ende des Romans, S. 902!) „Sehen Sie, diese bösen Geister, die aus dem Kranken in die Schweine fahren – das sind all die Seuchen, all die Miasmen und all der Unrat, sämtliche bösen Geister und die subalternen bösen Geister, die sich in unserem großen und geliebten Kranken, in unserem Russland, angesammelt haben, seit Jahrhunderten, ja, seit Jahrhunderten! Oui, cette Russie, que j’aimais toujours. Aber eine große Idee und ein großer Wille werden das Land segnen, wie jenen wahnsinnigen Besessenen, und all diese bösen Geister, alles Gelichter, alles Ekelhafte, was an der Oberfläche schwärt, wird selbst darum bitten, in die Schweine fahren zu dürfen. Und vielleicht sind sie bereits in die Schweine gefahren! Das sind wir, wir und die anderen, und Petruscha [Sohn des Stepan Trofimowitsch, R. N.]… et les autres avec lui, und ich bin vielleicht der erste, an ihrer Spitze, wir werden uns, wahnsinnig und besessen, von den Felsen ins Meer stürzen und alle ertrinken, und das geschieht uns recht, weil wir nur dazu taugen. Aber der Kranke wird geheilt, ›und wird zu Jesu Füßen sitzen‹… und alle werden es sehen und staunen…“. (Stepan Trofimowitsch Werchowenskij. S. 903. PSS, 10, S. 499) 206

Vorbemerkung:

206

Überarbeiteter Vortrag auf der Tagung Verbrechen und andere Kleinigkeiten in Dostojewskijs großen Romanen in der Evangelischen Akademie Hofgeismar zu Ehren des 85. Geburtstags der Übersetzerin Swetlana Geier im Dezember 2008. Zitate im Text stammen aus dem Band: Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Fischer Taschenbuch 14658, 4. Aufl. 2006. Seitenverweise stehen in Klammern im Text. Hervorhebungen in Zitaten stammen, falls nicht anders vermerkt, von R.N. Eckige Klammern beinhalten Anmerkungen des Autors R. N.

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Stepan Trofimowitschs Interpretation des Mottos verdeutlicht Dostojewskijs utopisches Verständnis Russlands, in der eine fragwürdige, um nicht zu sagen „unheilige“ Vergangenheit sich in das Gegenteil, nämlich in eine von der Vorsehung geheiligte Zukunft, verwandeln soll. Die Gestalt Jesu spielt dabei eine zentrale Rolle. Sehen wir von den Jahrhunderten, in denen sich nach Dostojewskij „all die Seuchen, all die Miasmen und all der Unrat“ in Russland ansammelten ab und betrachten die unmittelbare Vergangenheit, d. h. die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Dostojewskij geboren wurde, aufwuchs und schließlich vom enthusiastischen Anhänger des Idealismus und der Romantik zum potenziellen Revolutionär wurde, dann wird die Wandlung überdeutlich, die er in den zehn Jahren sibirischer Lagerhaft, des darauf folgenden Soldatendienstes und der Verbannung durchmachte. Der „Liberalismus“ und die emanzipatorischen Tendenzen der Romantik, mit denen er aufgewachsen war, waren nunmehr für ihn zu einem Teil der „bösen Geister“ geworden, die Russland in Besitz nehmen wollten! Die Vorgeschichte des Romans ist bekannt und soll nur kurz resümiert werden. Im Januar 1870 las Dostojewskij in Dresden in der russischen Zeitung Golos von der Ermordung des Studenten Iwanow durch einen gewissen Sergej Netschajew, den Anführer einer revolutionären Gruppe, von der sich der Student getrennt hatte. Zur selben Zeit verbreitete sich in Russland die Nachricht von einer Aufstandsbewegung des bekannten Anarchisten Bakunin, die in ganz Russland Verschwörerzentralen unterhalten sollte. Auch deutsche Zeitungen berichteten diese Nachrichten. Anfang Oktober dieses Jahres entwarf Dostojewskij bereits das Ideengerüst zum künftigen Roman. Bereits zu diesem Zeitpunkt wählte er die oben angeführte Stelle aus dem Evangelium des Lukas zum Motto des Werks. Dostojewskijs Hass auf die „Progressisten“ und Nihilisten, die er in Genf, dem Sitz der Internationale und Treffpunkt radikaler linker Kräfte, aus nächster Nähe kennen gelernt hatte, als er 1867 und 1868 dort lebte, ist eindeutig. Er nennt sie „jugendliche Schurken“ und „verwesende Jünglinge“. Einige, meint er, werden sich früher oder später bekehren, „die übrigen sollen jedoch verfaulen.“ 207. Im Dezember 1872 war der Roman, der diesen Kriminalfall, aber auch Dostojewskijs Erlebnisse in Genf zum Anlass hat, beendet. Nach dem Erscheinen des Romans war die Meinung geteilt. Die konservativen Kreise in Russland sahen darin die Entlarvung der atheistischen, nihilistischen und sozialistischen, bzw. mit einem Wort: der, wie es hieß, gesamten „liberal-progressiven“ Richtung in Russland. Diese wiederum verurteilte das Werk. Suworin, der liberale Her-

207

Brief vom 25. März/06.April 1870 an A. N. Majkow. Das zweite Datum entspricht dem russischen Kalender im 19. Jh.

146

ausgeber der Zeitschrift Novoe vremja (Neue Zeit), schrieb: „Nach den Bösen Geistern können wir nur noch das Kreuz über diesen Schriftsteller machen.“ Die Literaturgeschichte hat im Roman nicht nur eine literarische Darstellung der revolutionären Tendenzen in Russland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gesehen, sondern eine prophetische Vorwegnahme des bolschewistischen Putsches. Je nach dem weltanschaulichen Ausgangspunkt der jeweiligen Analyse sah man darin auch Anderes, so etwa die Übernahme der Macht durch den Rechtsradikalismus und Hitler. Es bietet sich auch die Fragestellung an, wieweit Dostojewskijs Böse Geister in Russland nach der Gorbatschow’schen Wende und der Perestrojka noch, oder wiederum, aktiv sind! Im ersten Teil dieser Analyse sollen anhand der Themen und Personen des Romans in einer konventionellen Lesart gewisse bedeutsame Aspekte herausgearbeitet werden. In einem zweiten Teil soll der Versuch gemacht werden, jenseits der Personen der Handlung, ihren Vorstellungen und Taten, d. h. jenseits der erzählten Geschichte und den dahinter stehenden gedanklichen Konstrukten zu der Problematik vorzustoßen, die im Autor selbst, sei es bewusst oder auch unbewusst, wirksam war, als er sich mit dem Roman beschäftigte. Eine Problematik, die nicht direkt mit dem Roman zu tun hat, aber ihn dennoch auf allen Ebenen durchdringt. Es geht jedoch dabei nicht um biografische Details, sondern vielmehr um Aspekte der Persönlichkeitsstruktur Dostojewskijs. Vorerst seien die wesentlichen Handlungselemente und ihre Träger ins Bewusstsein gerufen. Der I. Teil des Romans, er spielt zu Anfang der 1870er-Jahre, ist eine weitläufige Exposition, die 271 Seiten umfasst, in der die Personen der Handlung, allerdings unter Aussparung einiger wesentlicher Figuren, vorgeführt werden und wie stets bei Dostojewskij auf „Geheimnisse“ und „Intrigen“ angespielt wird. Auch „Skandale“ fehlen nicht. Die Exposition bleibt auf dem Niveau des „polemischen Romans“, den Dostojewskij ursprünglich schreiben wollte. Im Mittelpunkt stehen die reiche Gutsherrin Warwara Petrowna Stawrogina und ihr steter, von ihr finanziell und emotional abhängiger Begleiter und Günstling Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, einstiger Dozent und Autor, dessen liberale, von ästhetischen Gesichtspunkten und „erhabenen“ moralischen Prinzipien bestimmte Einstellung auf überzogene, von Ironie und impliziten Spott geprägte Weise karikiert wird. Erzählt wird aus der Perspektive des vorgeschobenen Erzählers Anton Lawrentjewitsch G-w, der als Mitglied des progressiven Zirkels der „Unsrigen“ die fortschrittliche, linke Einstellung der jungen Generation teilt. Eine tiefer gehende, sich mit weltanschaulichen, philosophischen oder theologischen Belangen auseinander setzende Ebene fehlt im I. Teil, es dominiert die, vom Leser vielleicht als einseitig, wenn nicht als Travestie empfundene Polemik. Der „Klub“, der die „neuen Ideen“ vertritt, hat als Sponsor und 147

zentrale Figur Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, einst so wie Dostojewskij Teil der liberalen, schöngeistigen Jugend der 1830er-Jahre. Die Entwicklung dieses Klubs zu den „Unsrigen“, die im Verlauf des Romans zu einer revolutionären Geheimgesellschaft mutieren, begann mit der Romantik und dem Idealismus, führte in den 1840er-Jahren zum Liberalismus, zu „Freigeisterei, den Verlust von Moral und ästhetischem Gefühl, zu Atheismus und Sozialismus“ und mündete schließlich in den Versuch, die bestehende Ordnung zu stürzen, was aber erst im III. Teil des Romans deutlich wird. Selbst Warwara Petrowna und Julija Michajlowna, die Frau des Gouvernörs von Lembke, werden da letztlich zu Anhängern „progressiver“ Anschauungen. Dostojewskij hat augenscheinlich seine eigene intellektuelle Entwicklung vom Romantiker zum potenziellen Revolutionär in der Person des Stepan Trofimowitsch mit einbezogen, wenngleich sich dieser im III. Teil deutlich von den „Nihilisten“ distanziert! Im II. Teil des Romans beendet Warwara Petrowna ihre Beziehung zu Stepan Trofimowitsch abrupt. Damit findet auch die von ihr schon vorher eingefädelte Verbindung ihres Günstlings mit Dascha (auch Darja), der Schwester des Ex-Studenten Schatow, die zu ihrer Hochzeit führen sollte, ein ebenso abruptes Ende. Rätselhaft bleiben die Taten von Warwaras Sohn Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin, ebenso wie dessen Vorgeschichte, auf die mehrfach angespielt wird. Sein unerklärliches und irrationales Verhalten führt zu den erwähnten Skandalen im I. Teil. Eine anfänglich rätselhafte Geschichte, die Stoff für Intrigen bietet, aber im 2. Teil aufgeklärt wird, ist die merkwürdige Beziehung Stawrogins zu der hinkenden, geistig behinderten Marja Timofejewna Lebjadkina und ihrem Bruder, dem Hauptmann Lebjadkin. Aus einer Weinlaune heraus, verbunden mit einer Wette, war er einst eine Ehe mit Marja Timofejewna eingegangen. Im III. Teil haben sich die „Unsrigen“ von einem liberalen Debattierklub unter Stepan Trofimowitschs Leitung zu gewaltbereiten Revolutionären gewandelt, was allerdings bis auf wenige Anspielungen im 2. Teil noch im Dunkeln geblieben war. Sie stehen nun ganz unter dem Einfluss des Revolutionärs Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij, dem Sohn des Stepan Trofimowitsch. Stawrogin zeigt ein geändertes Verhalten, schießt in einem Duell dreimal absichtlich in die Luft und reagiert nicht auf eine ihm von Schatow verabreichte Ohrfeige. Zu den „Unsrigen“ hat er nunmehr ein eher distanziertes Verhältnis. So distanziert er sich auch von seinen jungen, ungestümen „Schülern“ Kirillow und Schatow, ebenso vom intriganten Revolutionär Pjotr Stepanowitsch, zu dem er einst beste Beziehungen hatte. Man könnte sagen, dass er sich des geistigen und moralischen Vakuums bewusst geworden ist, in dem er sich befindet, ohne aber als Skeptiker, der jegliche Ideologie ablehnt, einen Ausweg zu sehen. Er ist ein Mensch in der Krise! Lisa Tuschina, 148

mit der ihn schon in der Vorgeschichte in der Schweiz ein Liebesverhältnis verband, verbringt eine Nacht bei Stawrogin, läuft dann plötzlich weg und wird von einer aufgebrachten Volksmenge erschlagen. Im III. Teil des Romans häufen sich die Todesfälle: Zehn Personen verlieren ihr Leben, davon werden fünf ermordet: die beiden Lebjadkins, Fed’ka der Zuchthäusler, der die beiden zuvor ermordet hatte, Schatow und Lisa. Zwei Personen begehen Selbstmord: Kirillow und Stawrogin. Drei Personen finden einen normalen Tod: Stepan Trofimowitsch, die Frau Schatows und ihr Kind, das ein Söhnchen Stawrogins ist! Die Handlung wird nunmehr dominiert von den Verschwörern und ihrem Anführer Pjotr Stepanowitsch, daneben von dem Umfeld der Gouvernörsfamilie von Lembke. Nach den turbulenten Ereignissen eines von Julija Michajlowna Lembke veranstalteten Festes, Unruhen unter den Arbeitern einer nahegelegenen Fabrik und dem Mord an Schatow, der sich von den „Unsrigen“ lösen möchte, endet der Roman mit dem Tod des Stepan Trofimowitsch und dem Selbstmord Stawrogins. Soweit die wichtigsten Handlungselemente des Romans, der zur Zeit seiner Publikation vor allem als polemische Auseinandersetzung mit den revolutionären Tendenzen der 1870er-Jahre gelesen wurde. Zwei miteinander verflochtene Themen, welche alle Romane Dostojewskijs durchziehen und die auch die Bösen Geister charakterisieren, sind die Auseinandersetzung mit der Problematik des Glaubensverlustes und der wachsende Einfluss der Geldes und des Profits auf die Moral der Menschen. Dem Atheismus und der Geldgier werden Frömmigkeit und christlicher Glaube gegenübergestellt. Dem dient u. a. die Begegnung Stawrogins mit Bischof Tichon, ein für die Bösen Geister als Ideenroman wichtiges Kapitel, das Dostojewskij ursprünglich auf Wunsch der Redaktion aus dem Romantext entfernt hatte. Spätere, posthume Ausgaben enthalten es und haben die Begegnung der rätselhaften Gestalt des Nikolaj Stawrogin mit seinem Gegenspieler, dem Mönch und ehemaligen Bischof Tichon, dem er seine Lebensbeichte vorlegt, als Kernstück des Ideenromans angesehen, in dem es um Fragen des Glaubens und, wie auch in anderen der fünf großen Romane, um einen vermeintlichen „Retter“ Russlands geht. Doch weder Stawrogin, noch Tichon, noch Stepan Trofimowitsch, oder gar der junge Werchowenskij erweisen sich als dafür geeignet. Zu den zentralen Personen ist aber noch etwas zu sagen. Wir wissen, dass Dostojewskij in seinen großen Romanen immer auch Aspekte seiner eigenen Biografie hat einfließen lassen. Die Bösen Geister unterscheiden sich in dieser Hinsicht von den übrigen fünf Romanen jedoch in einer wesentlichen Hinsicht: Dostojewskij hat in keinem anderen seiner Romane Aspekte seiner Biografie und seiner intellektuellen Entwicklung auf so viele Personen der Handlung übertragen, wie in diesem. Es bietet sich daher an, den Roman mit besonderem Bedacht auf diesen Aspekt zu lesen. Dies soll hier getan werden. 149

I Stawrogin: Der Meister und seine Schüler Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin ist das spirituelle Zentrum des Romans. Zu ihm gehören allerdings, verbunden durch eine teilweise gemeinsame Vergangenheit, der Ingenieur Kirillow, der Ex-Student Schatow und Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, einst Erzieher des jungen Stawrogin. Nicht zu vergessen ist auch Lisa Tuschina, Tochter der begüterten Frau Drosdow aus erster Ehe, mit der Frau Stawrogina gerne ihren Sohn verheiraten möchte, die aber eher eine Randfigur bleibt. Diesen Personen und ihren vielfältigen Bezügen zum Autor soll hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Beginnen wir mit Kirillow. Er scheint Epileptiker zu sein, wie Schatow aus Kirillows Bericht über eine von diesem in wenigen Sekunden erlebte Vision „ewiger Harmonie“ diagnostiziert. Kirillow spricht über sein Erlebnis: „In diesen fünf Sekunden durchlebe ich das ganze Leben und bin bereit, mein ganzes Leben für sie hinzugeben.“ (S. 821) Es handelt sich augenscheinlich um eine Vision, wie sie der unmittelbar vor einem epileptischen Anfall auftretenden Aura entspricht. Dies lässt an den Epileptiker Fürst Myschkin im Idiot denken, wie auch an Dostojewskij selbst, der an Epilepsie litt und diese „Vision“ in Bezug auf die eigene Person beschrieben hat. Es stellt sich die Frage, lässt sich dieses Merkmal auch bei Kirillow als Verweis darauf verstehen, dass der Autor in diese Person, so wie auch bei Myschkin, einige seiner eigenen Vorstellungen hineingelegt hat? Dazu später mehr. Kirillow, der mit dem revolutionären Kreis der Unsrigen in Verbindung steht, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „Ursachen der Selbstmorde“ zu studieren. (S. 124) Seine Theorie lautet: Leben ist Schmerz, ist Angst. Nur deshalb kann „Gott“ über die Menschen herrschen. Die Menschen müssten sich von dieser Vorstellung befreien, d. h. Schmerz und Angst durch einen kühnen Akt besiegen, dann befreiten sie sich von allem, auch von Gott. Gott wäre dann tot und der Mensch selbst würde göttlich, denn, „wenn es Gott nicht gibt, dann bin ich Gott.“ (S. 151–154) Seine Ideen scheinen nicht nur seinen Gesprächspartnern bizarr. Sie halten ihn für verrückt. Der Leser des Romans wird versucht sein, ähnlich zu urteilen. Aber wie kam Kirillow zu dieser Auseinandersetzung mit einem Gott, den er nicht akzeptieren kann, was ihn in der Folge zu einer Gegenüberstellung von Gott und Menschengott führt? Er selbst weist auf einen Umstand hin, der ihn zu seiner „Theorie“ geführt hätte: „Mich hat Gott das ganze Leben lang gequält.“ (S. 152) Sein zentrales Problem liegt jedoch noch tiefer. Er weiß es und sagt es deutlich: „Gott ist notwendig, also muss es ihn geben.“ Allerdings sagt ihm der Verstand: „Ich aber weiß, dass es ihn nicht gibt und nicht geben kann.“ (S. 853) Kirillow löst dieses Dilemma, dass 150

es einerseits Gott geben müsste, ihn aber andererseits nicht geben dürfte, auf seine Weise und begründet es auch überzeugend: „Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein, und ich vermag nichts über seinen Willen. Wenn es Ihn nicht gibt, so ist aller Wille mein, und es ist an mir, den Selbstwillen zu beweisen.“ (S. 855) „Sich Gott auszudenken“, – das zu tun, weigert er sich! (S. 856) Die höchste Form, seinen Selbstwillen zu beweisen, ist nun aber der Selbstmord. Der Selbstwille wird so zum Attribut seiner Gottheit. Mit dem Selbstmord als stärkstem Akt des Selbstwillens beweist er diesen und setzt sich damit an die leer gewordene Stelle Gottes. Dieselbe Ausgangssituation findet sich übrigens in anderer sprachlicher Formulierung auch bei seinem früheren Mentor Stawrogin. Kirillow erläutert: „Wenn Stawrogin glaubt, so glaubt er nicht, dass er glaubt. Und wenn er nicht glaubt, so glaubt er nicht, dass er nicht glaubt.“ (S. 854) Dies läuft auf dasselbe Dilemma hinaus. Er kann sich weder seines Glaubens, noch seines Unglaubens gewiss sein. An diesem Punkt sind wir schon sehr nahe bei Dostojewskij. Kirillow geht aber noch weiter und rührt an etwas, was vermutlich nicht nur im Innersten Stawrogins, sondern, wie ich meine, auch Dostojewskijs an ganz zentraler Stelle steht: Die Gestalt Christi. Für ihn wie auch für Dostojewskij ist Christus ein Mensch, der nicht seinesgleichen hatte, wie es ihn „auch künftig niemals geben wird,… um dessentwillen die Erde lebt.“ (Kirillow, S. 857) Kirillow fügt hinzu, doch auch Christus starb und „fand kein Paradies und keine Auferstehung.“ Daraus schließt er, dass auch Christus gezwungen war, „inmitten der Lüge zu leben [der Lüge, dass es einen Gott gibt] und für die Lüge zu sterben“, und daraus folgert er, dass „der ganze Planet Lüge ist und auf Lüge und albernem Hohn gründet.“ (S. 857) Für Kirillow bedeutet der von Gott verlassene und geopferte Christus die Widerlegung des Glaubens an Gott. Gott hat sein eigenes Kind, seinen eigenen Sohn mitleidlos geopfert. Ganz ähnlich hatte es Dostojewskij bereits im Idiot dargestellt, als der totkranke Ippolit Terentjew das für ihn sinnlose Sterben Christi, des einzigen „vollkommenen Menschen“, mit seinem eigenen Sterben gleichsetzt und dies als Gegenbeweis für

den Glauben an Gott anführt.

Doch nun zu Schatow, der sich einst den Unsrigen angeschlossen hatte, nun aber aussteigen möchte, weshalb er von Pjotr Stepanowitsch im III. Teil ermordet wird. Seine Lebensphilosophie hat sich unter dem Einfluss seines Mentors Stawrogin entscheidend verändert. Man kann hier die Frage stellen, was wohl Dostojewskij bewogen hat, manche seiner innersten Gedanken und Gefühle betreffend Russland, wie er sie im Tagebuch eines Schriftstellers niedergelegt hat, gerade diesem Ex-Studenten, Sohn eines Leibeigenen und ursprünglich Anhänger des Sozialismus (S. 40) in den Mund zu legen, die dieser noch dazu in einem krankhaften, von Fieber beeinflusstem Zustand von sich gibt, wobei er behauptet, er hätte sie wortwörtlich vor Jahren vom 151

jungen Stawrogin übernommen! Dies legt wiederum nahe, dass sich hier der Autor nicht nur mit Schatow, sondern auch mit seinem Held Stawrogin identifiziert! Betont doch Dostojewskij, dass Schatow wie auch auch Kirillow die Grundzüge ihrer Ideen einst von Stawrogin bekamen und diese Ideen sind nahezu identisch mit denen des Autors! Wir müssen davon ausgehen, dass sich Dostojewskij in einem beträchtlichen Ausmaß mit dem jugendlichen Stawrogin, einem jenseits von Gut und Böse stehenden, Religion und Moral verachtenden, nur von irrationalen und momentanen Emotionen und Lüsten bestimmten Menschen, und mit dessen Sprachrohr Schatow identifiziert! Immerhin lässt er Schatow Worte sprechen, die Dostojewskij in seinem Brief von 1854 an Frau Fonwisina geäußert hatte und ordnet sie zugleich Stawrogin zu! Schatow zu Stawrogin: „Waren Sie es denn nicht, der mir gesagt hat, dass Sie, wenn man Ihnen mathematisch bewiese, dass die Wahrheit außerhalb Christi sei, lieber mit Christus als mit der Wahrheit bleiben würden?“ 208 Man kann dies nur im Sinne einer Identifikation mit den beiden Romanfiguren

verstehen. Es gibt Parallelen dafür, dass Dostojewskij gerade Personen, die am Rande der Normalität stehen, eigene Gedanken und Vorstellungen mitgegeben hat. Im Roman Der Idiot ist es Fürst Myschkin, der bereits im Zeichen der Aura, die dem epileptischen Anfall vorausgeht, Gedanken des Autors von sich gibt. Ähnlich ist es in den Brüdern Karamasow. Wesentliche Gedankengänge Dostojewskijs werden dort von Iwan Karamasow geäußert, der Smerdjakow den Freibrief zum Mord an seinem Vater ausstellt und im Fieberwahn einen Dialog mit dem Teufel führt! Der Starez Sossima, der im Geruch der Heiligkeit steht und Dostojewskijs Gottesverständnis illustriert, beginnt zum Entsetzen seiner Verehrer kurz nach seinem Tode den üblen Geruch eines verwesenden Leichnams zu verströmen, was nach orthodoxem Glauben nicht mit „Heiligkeit“ zu vereinbaren ist. Schatow legt „seine“ Ansichten in einem fiebrigen Zustand dar. All dies gibt dem Leser Rätsel zu lösen auf! Woran glaubt nun Schatow/Dostojewskij? Er spricht von „einem Christus, welcher der dritten Versuchung in der Wüste erlegen sei und davon, dass der Katholizismus, welcher der ganzen Welt predigt, Christus könne auf Erden ohne ein irdisches Paradies nicht bestehen, dadurch den Antichrist verkünde und damit die gesamte westliche Welt ins Unheil stürze.“ (S. 328) Er glaubt, „Der Sozialismus muss seinem Wesen nach Atheismus sein…,“ denn „er gehe von atheistischen Grundsätzen aus und sei willens, sich ausschließ-

208

Vgl. F. Hitzer (Hg.): F. M. Dostojewski. Gesammelte Briefe 1833–1881. R. Piper, München 1966, S. 87.

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lich von den Prinzipien von Wissenschaft und Vernunft leiten zu lassen.“ (S. 329) Schatow/Dostojewskij stellt dazu aber fest, dass „kein einziges Volk sich je nach diesen Prinzipien gerichtet hat.“ Was ein Volk im Tiefsten bewegt, sei „die Kraft der ununterbrochenen und unablässigen Bejahung des eigenen Seins und der Verneinung des Todes.“ Man kann bei diesen Formulierungen übrigens auch an Kirillow denken, der diese Sicht aber individualisiert, sie zu einem extremen Ende führt und damit zugleich seinen Selbstmord begründet! Kirillows Argumente klingen fast wie ein Echo auf Schatows Sicht: „Leben ist Schmerz, Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich… Das Leben wird mit Schmerz und Angst erkauft, und das ist der ganze Schwindel. Wem es ganz egal sein wird, leben oder nicht leben, der ist der neue Mensch. Wer Schmerz und Angst überwindet, der wird selbst Gott sein. Und der andere Gott wird nicht sein.“ (S. 151f.)

Genau dies will Kirillow mit dem Selbstmord beweisen. Er sucht nach dem „richtigen“ Gott, den er sich als „Menschgott“ (S. 314), d. h. als einen zu Gott gewordenen Menschen, vorstellt. Schatow/Dostojewskij hingegen überträgt die individualisierte Sicht Kirillows auf die Nation, das Volk: „Gott ist die synthetische Person eines ganzen Volkes, von seinen Anfängen bis zu seinem Ende ..., je stärker ein Volk, desto besonderer ist sein Gott … Das Volk ist der Körper Gottes … das einzige ‚Gottesträgervolk‘ ist das russische Volk … Wenn ein großes Volk nicht mehr glaubt, dass es allein die Wahrheit in sich trägt …, wenn es nicht mehr glaubt, dass es allein berufen und fähig ist, alle anderen mit seiner Wahrheit zu erwecken und zu erlösen, dann verwandelt es sich augenblicklich in ethnographisches Material und ist nicht länger ein großes Volk.“ (S. 330–333)

Das heißt, es gibt seine Existenz auf. So glaubt denn auch Schatow/Dostojewskij an Russland, an das russische Volk, an den russischen Christus. Nur so kann es am Leben bleiben! In einem Brief an seinen Freund Majkow schreibt Dostojewskij ganz wie sein alter ego Schatow: „Lieber Freund: Wer sein Volk und sein Volkstum verliert, der verliert auch den Glauben seiner Väter und seinen Gott … Eine Kraftquelle aber wäre unser eigener Glaube an uns, an die Heiligkeit unserer Sendung. Die Sendung Russlands ist die Orthodoxie, das Licht aus dem Osten, das zu der im Westen erblindeten, dem Heiland entfremdeten Menschheit strömen muss.“ 209

Auf die Frage Stawrogins, ob er denn auch an Gott glaube, zögert Schatow, beginnt zu stottern, und antwortet schließlich, „Ich … Ich werde an Gott glauben.“ Seine Frau spricht es deutlicher aus: Als er ihr bekennt „Gott pre-

209

Hitzer, S. 373f.

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dige ich, Marie“, ergänzt sie, „An den Sie selbst nicht glauben.“ (S. 806) Auch dies entspricht der Einstellung Kirillows. Die gemeinsame Quelle Stawrogin ist so deutlich wahrnehmbar. Den Gott der christlichen Religion erkennen beide nicht an! Können wir dies vielleicht auch vom Autor Dostojewskij sagen, der seine Zweifel hier in überzogener Weise darstellt? Immerhin hat er in seinem Roman Spuren gelegt, die in diese Richtung weisen. Doch darüber später mehr. Schatows slawophile Ansichten decken sich auch auf andere Weise mit denen Dostojewskijs. Worte, die Dostojewskij in den Brüdern Karamasow dem Starez Sossima in den Mund legen wird, äußert bereits Schatow: „Alle sind schuldig, alle sind schuldig und … wenn nur alle sich davon überzeugen ließen …!“ (S. 812) Es entspricht allerdings dem karnevalesken Charakter des Romans, wenn der Schriftsteller Karmasinow, eine Karikatur Turgenjews, an anderer Stelle kommentiert, „Das einfache Volk hält sich noch mehr schlecht als recht dank des russischen Gottes; aber der russische Gott soll, den letzten Erkenntissen zufolge, ziemlich unzuverlässig geworden sein und hat sich sogar kaum gegen die Bauernreform behauptet, jedenfalls hat er ziemlich heftig gewackelt.“ (S. 487)

Dostojewskij ironisiert damit den „russischen Gott“. Nach Schatows Tod wird am Ende des Romans Stepan Trofimowitsch zum Träger der religiösen Ideen. Ironie und karnevalesker Spott verstummen! Wir kommen zur dritten und wichtigsten Figur des Romans, Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin, der in etwa derselben Generation zuzurechen ist, wie die Unsrigen, obgleich er eher als ihr „älterer Bruder“ gelten kann. Im I. Teil hatte Stawrogin hohes Fieber und lag nach seinen Skandalen zwei Monate lang krank danieder. (S. 68–69) Dann begab er sich drei Jahre auf Reisen. Er gleicht einer „leblosen Wachsfigur“ (S. 302) und wird als skrupelund prinzipienloser Adelssohn dargestellt, der einem unsteten Lebenswandel huldigt, verrückt spielt, wenn er gerade Lust dazu verspürt, und generell keine moralischen Rücksichten kennt. Er selbst spricht in seiner „Beichte“ von seiner „animalischen Sinnlichkeit.“ (S. 574) Dostojewskij sagt von ihm zwar, er wäre eine „finstere Gestalt, ebenfalls ein Bösewicht“, meint aber, er hätte diese Gestalt „mit meinem Herzblut geschaffen“, und nennt ihn „einen echt russischen Charakter“! 210 Stawrogin bekennt offen, dass er Atheist ist. (S. 327) Schatow fragt ihn, ob es stimmt, er hätte in St. Petersburg „einer viehischen, wollüstigen geheimen Gesellschaft angehört … der Marquis de Sade hätte bei ihm in die Lehre gehen können, er hätte Kinder zu sich gelockt und sie missbraucht.“ (S. 334) Stawrogin wird darüber hinaus auch als Mörder bezeichnet, der kaltblütig aus nichtigem Anlass Menschen tötet oder sie zu 210

Brief an Majkow vom 8./20. Oktober 1870.

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Krüppeln schießt. (S. 56–57!) Er hat mit Schatows Frau ein Kind gezeugt und auch Lisa verführt, möchte sie aber heiraten! In seiner Beichte berichtet er weitere Details aus seinem Leben: So hat er gleichzeitig mit einer vornehmen Dame und deren Dienstmädchen ein Verhältnis unterhalten, zur selben Zeit das vierzehnjährige Mädchen Matrjoscha verführt und ihren Selbstmord ohne einzugreifen, bewusst geschehen lassen, dann in Weinlaune die hinkende Marja Lebjadkina geheiratet, eine weitere Frau hat er in den Tod getrieben, im Duell zwei Unschuldige getötet, nach eigenem Bekenntnis Geld gestohlen und einen Giftmord begangen. Man könnte ihn vielleicht am besten mit folgendem Zitat charakterisieren: „Am schlimmsten ist aber, dass ich einen schlechten und übertrieben leidenschaftlichen Charakter habe. In allen Dingen gehe ich bis an die äußersten Grenzen; mein Leben lang habe ich nie Maß halten können.“

Aber sagt dies Stawrogin wirklich von sich? Nein! Es sind Worte Dostojewskijs in einem Brief vom August 1867 an Majkow, mit denen er sich selbst charakterisierte, Worte, die nur zweieinhalb Jahre vor dem Beginn der Arbeit an den Bösen Geistern entstanden. Sie weisen darauf hin, dass Dostojewskij etwas, was er als einen Grundzug seines Charakters betrachtete, auf Stawrogin übertragen hat! Stawrogins „Skandale“ im I. Romanteil dienten dazu, sein irrationales Verhalten zu illustrieren. Im II. Teil deutet sich eine Veränderung an: In einem Duell mit Gaganow jun., der eine Beleidigung an seinem verstorbenen Vater rächen will, zeigt Stawrogin, dass er nicht mehr töten will, er schießt bewusst dreimal in die Luft. Kirillow meint, Stawrogin suche eine „Bürde“. Dem entspricht, dass er die bis dahin verborgen gehaltene Ehe mit Marja Timofejewna nun öffentlich bekennen will und sich vorgenommen hat, seine Frau, um die er sich bisher wenig gekümmert hatte, in Zukunft entsprechend zu versorgen. Allerdings entspricht dies in keiner Weise dem Charakter einer Ehe und Marja Timofejewna reagiert darauf, dass sie ihn nicht als ihren geliebten Mann sieht, sondern als Usurpator („Grischka Otrepjew, Anathema“, S. 367), der sie verstoßen hat, wenngleich er ihr dies mit Geld versüßen will. (S. 381f.) Sie weist ihn als Verräter zurück! Beim ehemaligen Bischof Tichon sucht er Beratung. Dies alles lässt vermuten, dass er nunmehr vielleicht doch gewisse moralische Skrupel entwickelt hat und über seine jugendlichen Eskapaden, Ausdruck einer haltlosen, glaubenslosen, in einem moralischen Vakuum befindlichen Person, nachzudenken begonnen hat. Dennoch stellt sich die Frage, was hat Dostojewskij wohl bewogen, die „Untaten“ Stawrogins in solchem fast unerträglichen Ausmaß dem Leser vorzuführen? In der Beichte spricht Stawrogin davon, dass er an der „Krankheit der Gleichgültig-keit“ litt (S. 574) und sich davon immer wieder löste in einer 155

Sucht nach rauschhaften Empfindungen, die ihm ein „unmäßiges Lustgefühl“ vermittelten: „Es ging mir um den Rausch des quälenden Bewusstseins meiner Gemeinheit.“ (S. 573) Eine Bemerkung Lessings aus einem Brief an Moses Mendelssohn verweist auf das dahinter stehende psychologische Faktum: Lessing sagt, „alle Leidenschaften (d. h. Gefühle), auch die unangenehmsten, seien als Leidenschaften angenehm, denn bei jeder Leidenschaft seien wir uns eines großen Grades unserer Realität bewusst und dieses Bewusstsein könne nicht anders als angenehm sein.“ 211 Er betont, dass vor allem unverdientes Leid und unangenehme Gefühle ein überaus wirksames Stimulans seien, das dem Individuum ein erhöhtes Bewusstsein seiner Realität als Individuum vermittelt. Und dies ist, was Stawrogin braucht und sucht. So sagt Stawrogin über seine Gefühle, als er georfeigt wird: „Bezähmt man aber den Zorn, so übersteigt die Lust alles, was man sich vorstellen kann.“ (S. 573) Stawrogin, dem nicht nur der Glaube an Gott, sondern an jegliche moralische „Regeln“ abhanden gekommen ist und der an seiner Existenz selbst zu zweifeln begann, ein Zweifel, der sich in eine alles überdeckende Gleichgültigkeit auflöste, findet darin eine existenzielle Selbstbestätigung. Der Leser mag sich da auch an Worte erinnern, die Dostojewskij in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund schrieb: „Der Mensch braucht einzig und allein selbständiges Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag.“ 212 Dostojewskij hatte dies damals damit erklärt, dass es dem Menschen die größte Lust bereite und damit für ihn den größten „Vorteil“ bedeute, den eigenen freien Willen zu verwirklichen. Dies gilt gleichermaßen für Kirillow und Stawrogin. Noch im Gespräch mit Tichon betont Stawrogin, „Ich bin immer noch ein unumschränkter Herr meines Willens.“ (S. 588) Er erweist sich damit als eine weitere, „modernisierte“ Variante des „Menschen aus dem Untergrund“! Beides, Lessings Deutung und Dostojewskijs Sicht in den Aufzeichnungen, tragen bei, uns Stawrogins Verhalten in der Vorgeschichte des Romans verständlich werden zu lassen. GUT und BÖSE sind bei ihm gleichwertig geworden, ob vor seinen Taten ein Minus oder ein Plus steht, ist irrelevant. Er glaubt nicht mehr an irgendwelche Werte. Noch wenige Tage vor seinem Selbstmord schreibt er an Darja: „Ich kann immer noch, wie früher, wünschen, Gutes zu tun, und empfinde dabei Vergnügen; unmittelbar darauf wünsche ich auch Böses und empfinde ebenso Vergnügen

211 212

G. Lessing: Sämtliche Schriften. Stuttgart 1886, XVII, S. 90. Vgl. S.248. Fjodor M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. dtv Klassik (Bd 2154), München 1985, S. 32. PSS, 5, S. 113.

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… Aber immer noch ist das eine wie das andere Gefühl viel zu klein und ist niemals mehr. Meine Wünsche sind viel zu kraftlos.“ (S. 928)

Dostojewskij hat sich lange mit einem Charakter wie dem des Stawrogin beschäftigt. Dies zeigt schon eine Briefstelle zum Spieler, dem gleichnamigen Kurzroman von 1866, die auch auf Stawrogin gemünzt sein könnte: „Ich schildere einen Menschen mit einem durchaus offenen Charakter, einen zwar vielseitig entwickelten, doch in allen Dingen unfertigen Menschen, der jeden Glauben verloren hat, zugleich aber nicht wagt, ungläubig zu sein, der sich gegen alle Autoritäten auflehnt und sie zugleich fürchtet.“ 213 Stawrogin sieht letztlich keinen Ausweg mehr zum Selbstmord: „Ich weiß, dass ich mich töten muss, mich wie ein gemeines Insekt von der Erde fegen.“ (S. 929) Neben Darja, die Stawrogins Vertraute ist, steht Lisa Tuschina, mit der ihn in der Schweiz eine im Roman undeutlich und rätselhaft bleibende Beziehung verbindet. In Stawrogins Beichte wird angedeutet, dass er sie schon damals heiraten wollte. (S. 589) Der Leser erhält nur wenige Hinweise darauf, was sich wirklich zwischen den beiden in der Vorgeschichte abgespielt hat. Auf den Rat Darjas zog er sich zurück und verließ die Schweiz. Was wirklich geschah, bleibt im Dunkeln. Die Beziehung zwischen Stawrogin und Lisa sollte die eigentliche Liebesgeschichte in diesem Roman darstellen. Die Bösen Geister sind allerdings insofern eine Ausnahme unter Dostojewskijs Romanen, als die Liebesbeziehung hier nicht wirklich handlungsbestimmend ist. Lisa dürfte sich einst in den jungen und attraktiven Stawrogin verliebt haben. Als sich die beiden nach mehreren Jahren, nunmehr in der Erzählgegenwart, wieder in Russland treffen, bleiben sie sichtlich zueinander auf Distanz. Für die Erzählhandlung sind andere Personen von größerer Bedeutung. Lisa bleibt eine Randfigur. Ihre erratischen Reaktionen bleiben für den Leser unverständlich. Stawrogin selbst hat mit Lisa wenig Kontakt. Man könnte meinen, der Roman würde wenig verlieren, falls die Figur der Lisa ganz wegfallen würde. Im III. Teil des Buches kommt der Autor auf diese Beziehung zurück und nützt sie, um Stawrogin einen weiteren Schicksalsschlag zu versetzen, der zu seinen Selbstmordplänen beiträgt. Erst in diesem Kapitel erkennt der Leser, dass zwischen beiden doch eine tiefere Beziehung besteht, als sich Lisa nach dem Fest von Werchowenskij jun. überreden lässt, am Abend in die Kutsche Stawrogins zu steigen und mit ihm zu fahren. Die Nacht verbringt sie bei ihm. Was in dieser Nacht geschieht, bleibt dem Leser aber verborgen. Lisas Worte „Ich habe mein Leben nur auf eine einzige Stunde veranschlagt“, „seit langem wusste [ich], dass ich nur für einen Moment ausreiche“, sind im Grunde ebenso rätselhaft, wie Stawrogins

213

Brief vom 18./30. September 1863 an Strachow. PSS, 18/2, S. 51.

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Replik, „Du hast mein letztes Wort, nicht eine Stunde mehr als für dich!“ (S. 732f.) Pjotr Werchowenskijs späterer Vorwurf an Lisa, „Wenn es ihnen darum geht … um Jungfräulichkeit … das ist doch nichts als ein Vorurteil, nur rückständig …“, lässt vermuten, dass sie sich ihm in dieser Nacht hingegeben hat. Aber nichts sonst deutet darauf hin und Werchowenskij ist alles andere als glaubwürdig. Lisa antwortet nicht, der Leser bleibt im Ungewissen. Lisas Worte „und wenn es mir nicht gelingt, heute noch rechtzeitig zu sterben …“ lassen vermuten, dass sie möglicherweise an Selbstmord denkt, aber auch dies bleibt offen. (S. 734) Die Worte, die sie ihrem Begleiter Mawrikij Nikolajewitsch etwas später sagt, „ich werde sterben, ich werde sehr bald sterben, aber ich fürchte mich, ich fürchte mich vor dem Tod“ (S. 749), deuten ebenfalls in diese Richtung, können aber auch anders verstanden werden, als Vorahnung ihres tatsächlichen Todes, der wenig später erfolgt, als sie ein zorniger Kleinbürger in der Volksmenge vor dem Haus der ermordeten Lebjadkins niederschlägt. Jedenfalls hat Lisa das Geständnis Stawrogins vom Vortag, dass er mit Marja Timofejewna verheiratet sei, zutiefst erschüttert. Als sie vom Mord an Marja und ihrem Bruder erfährt und Stawrogin ihr gesteht, dass er darin verwickelt sei („ich wusste, dass man sie ermordet, und hielt die Mörder nicht zurück.“ S. 744), trifft sie das nochmals zutiefst. Unverständlich bleiben auch Stawrogins Worte, „ich wusste, dass ich Dich nicht liebe“. (S. 734) Lisas späterer Kommentar „[der] um meinetwillen Ermordeten, ihretwegen liebt er mich seit dieser Nacht nicht mehr …“ (S. 750) bringt kein Licht in die Situation. Lisas Tod wird im Übrigen nicht sofort deutlich. Erst 17 Seiten nach dem Bericht des Ereignisses vor dem Haus der Lebjadkins wird dies dem Leser vom Erzähler bestätigt. (S. 770) Soviel zu den drei Personen Kirillow, Schatow und Stawrogin, die, sieht man vom Roman als Darstellung einer revolutionären Verschwörung ab und wendet sich der weltanschaulichen und religiösen Problematik zu, die Hauptfiguren sind. Es fehlt aber noch der Autor selbst, der, wie schon mehrfach angedeutet, sehr wohl im Roman präsent ist. Wenden wir uns nun ihm zu. Ein Rückblick auf die Genese seiner Religiosität scheint angebracht, denn sie führte nach seiner Haft zu der religiösen Utopie, in deren Zentrum die Russische Idee steht, die auch Schatow vertritt. In der Familie der Dostojewskijs war das erste und einzige Lesebuch der Kinder die Lesefibel Hundert und vier heilige Geschichten aus dem alten und neuen Testament zum Nutzen der Jugend des protestantischen Theologen und Pädagogen Johannes Hübner (deutsch 1714), die in Russland in Übersetzung weit verbreitet war. In den Brüdern Karamasow wird der Titel von Sossima

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erwähnt. 214 Hier wurde der Grundstein für seine Religiosität gelegt. Dostojewskij bestätigte dies noch 1873. 215 In René de Chateaubriands Genius des Christentums, einem Werk, das Dostojewskij in den späten 1830erJahren las, wurde er mit der Poetisierung und Ästhetisierung des Christentum konfrontiert, was ihn begeisterte. Der Leser möge das Kapitel „Die Existenz Gottes, bewiesen an den Wundern der Natur“ (I. Teil, 5. Buch) aus Chateaubriands Buch mit Sossimas Ausführungen vergleichen! 216 Nach 1845 kamen die Vorstellungen der christlich-utopischen Sozialisten dazu, mit denen Dostojewskij im Kreise der revolutionären Geheimgesellschaft der Petraschewzen bekannt wurde, die eine auf den Grundgedanken der Lehre Jesu Christi beruhende utopische Neuordnung der Gesellschaft entwickelten. Von da war es nicht weit bis zur Utopie eines irdischen Paradieses mit einem Christentum ohne Hierarchie und Dogmen, das allein dem Vorbild eines idealmenschlichen Christus verpflichtet war. Es war vor allem nach Konrad Onasch die „Humanisierung und Poetisierung der Person Christi“, die bei Dostojewskij zu einer zentralen Komponente seiner Weltanschauung wurde. 217 Allerdings hatte Dostojewskij mit Begeisterung im Kreise der Petraschewzen auch mehrfach Belinskijs berühmten Brief an Gogol verlesen, in dem der Kritiker die orthodoxe Kirche und ihre Vertreter mit scharfen Worten verurteilte. Darin können wir eine der Ursachen seiner Glaubenszweifel erkennen! 218 Auch in seiner frühen Erzählung Die Wirtin ist diese kirchenkritische Tendenz zu erkennen! 219 Erst im Laufe der 1850er-Jahre entstanden vermutlich dann die slawo- und russophilen Gedanken, die zur Russischen Idee führten und damit verbunden zu seiner religiösen Utopie. Die Zweifel blieben! Wir haben bereits gesehen, dass Dostojewskij Gedanken aus seiner Jugend im Roman gleich vier Figuren zugewiesen hat, die kaum etwas mit der orthodoxen Kirche gemein haben: Schatow, Kirillow, Stawrogin und am Ende des Romans auch Stepan Trofimowitsch, der ein weiteres, bedeutsames Double des Autors ist. Manche Leser werden dem vielleicht noch eine fünfte Figur hinzufügen, Bischof Tichon. Dies ist eine ungewöhnliche Häufung. Ab dem zweiten der großen Romane finden wir zwar in jedem weiteren Roman

214 215 216 217 218 219

Vgl. Die Brüder Karamasow, II. Teil, 6. Buch, Kap. 2b. Siehe oben 1.1! F. M. Dostojewskij: Tagebuch eines Schriftstellers, 1873, Kap. XVI. PSS, 21, S. 134. Kap. 2 des 5. Buches: Spectacle général de l’univers. S. 86. Siehe oben 1.1! Siehe den Brief an Frau Fonvizin von 1854! (Anm. 208, oben). V. G. Belinskij: Estetika i literaturnaja kritika. Bd 2, Chudožestvennaja literatura, Moskva 1959, S. 633-641. Siehe 1.1 oben! Vgl. R. N.: The Landlady: A New Interpretation in: Canadian Slavonic Papers, vol. X, no. 1, 1968, S. 41 u. 67.

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eine Figur, die Elemente der Russischen Idee Dostojewskijs vermittelt, manchmal „assistiert“ von einer weiteren Figur: Fürst Myschkin im Idiot, der Pilger Makar im Jüngling, Sossima in den Brüdern Karamasow. In den Bösen Geistern sind es gleich vier Figuren. Noch etwas kommt hinzu. Myschkin, Makar und Sossima erlebt der Leser als positive Gestalten. Sie erwecken beim Leser Sympathie. Dass der Autor ihnen mitunter den einen oder anderen negativen Zug mitgegeben hat, etwa Myschkins Epilepsie, macht sie umso menschlicher. Dies gilt auch für Stepan Trofimowitsch, in dessen Lebenslauf der Beginn von Dostojewskijs Karriere als Idealist und Romantiker, später potenzieller Rebell und schließlich beseelter Bekenner des christlichen Glaubens in humorvoller, manchmal ironischer und kritischer Weise eingearbeitet ist. Das gilt aber keineswegs für die anderen drei Figuren. Stawrogin ist, wie wir schon gesehen haben, für Schatow und Kirillow die zentrale Bezugsperson. Von ihm bezogen sie ihre Ideen, die sie dann selbstständig weiter entwickelten. Hier überwiegen jedoch bei weitem die negativen Aspekte in Charakter und Ideenwelt. Selbst Bischof Tichon entkommt dem nicht. Er hat ein kränkliches Aussehen, leidet an Krämpfen und übermäßiger Zerstreutheit. Man wirft ihm einen nachlässigen Lebenswandel vor, ja selbst von Häresie ist die Rede, er gilt als „fast ein Verrückter“ und erweckt bei seinem Gespräch mit Stawrogin den Eindruck „entschieden betrunken“ zu sein, etc. (S. 559 –561) Schatow wiederum ist ein Fanatiker seiner Idee, fast immer fiebrig und ausfällig, unausgeglichen, leicht von Zorn und Wut übermannt. Kirillow benimmt sich wie ein Wahnsinniger, der den Bezug zur Realität überhaupt verloren zu haben scheint. Hinter beiden steht Stawrogin, von dem sie die Grundzüge ihrer Ideen übernommen haben, ein durch und durch amoralischer Charakter, der einen wüsten, von Wollust und irrationalem Wollen bestimmten Lebenswandel geführt hat, und hinter allen Dreien steht der Autor Dostojewskij, der gerade diesen Gestalten seine eigenen Gedanken und, wie man hinzufügen muss, auch Zweifel mitgegeben hat. Sieht man Stawrogin als Quelle sowohl von Schatows, wie auch von Kirillows Ideen an und identifiziert man ihn zugleich mit dem Autor Dostojewskij, dann kann man folgende Briefstelle, die am Beginn seiner Arbeit an den Bösen Geistern verfasst wurde, als zentrale Aussage verstehen, die den Autor und im selben Maße seine Helden charakterisiert. Dostojewskij schreibt an seinen Freund Majkow: „Mit der Grundidee, die durch alle Teile [des Romans] gehen wird, habe ich mich mein ganzes Leben lang bewusst und unbewusst gequält; es ist die Frage nach dem

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Dasein Gottes. Der Held ist bald Atheist, bald Glaubender, bald Fanatiker und Sektierer und dann wieder Atheist.“ 220

Dies entspricht nicht nur dem, was Kirillow sagt (S. 152), sondern zugleich dem Bekenntnis, das Dostojewskij schon 1854 in dem bereits zitierten Brief an Frau Fonwisina formuliert hatte: „Ich bin ein Kind dieser Zeit, ein Kind des Unglaubens und der Zweifelsucht und werde es wahrscheinlich (ich weiß es bestimmt) bis an mein Lebensende bleiben. Wie entsetzlich quälte mich (und quält mich auch jetzt) diese Sehnsucht nach dem Glauben, die umso stärker ist, je mehr Gegenbeweise ich habe.“

Dem gegenüber steht allerdings sein Glaube an Christus. So wenig er, wie es scheint, manchmal an Gott glauben konnte, so sehr glaubte er stets an Christus, der für ihn an erster und oberster Stelle steht, als „das lichte Bild des Gottmenschen, seine sittliche Unerreichbarkeit, seine wunderbare Schönheit.“ 221 Dostojewskij bezieht sich dabei auf Renans Buch La vie de Jésus, der dort, und ich zitiere wieder Dostojewskij, ganz im Sinne Renans sagt, „dass Christus das Ideal der menschlichen Schönheit sei, eine unerreichbare Gestalt, deren Wiederholung auch in der Zukunft schon nicht mehr möglich wäre. Unter den Menschensöhnen gibt es keinen größeren als Jesus.“ 222

Dies wiederholt fast wortwörtlich das, was auch Kirillow von Christus sagt! Kirillow: „Dieser Mensch war der höchste auf der ganzen Erde, es war der, um dessentwillen sie lebt. Der ganze Planet samt allem, was auf ihm ist, wäre ohne diesen Menschen – nichts als Wahnsinn. Weder vor Ihm noch nach Ihm gab es einen Seinesgleichen, das ist sogar ein Wunder. Das Wunder besteht darin, dass es Seinesgleichen nie gab und auch künftig niemals geben wird.“ (S. 857)

In den Meditationen an der Bahre seiner verstorbenen Frau Maria Dmitriewna schrieb Dostojewskij 1864 ganz ähnlich: „Allein Christus … war das ewige, von Ewigkeit gesetzte Ideal, auf das hin der Mensch tendierte, und nach dem Naturgesetz auch tendieren musste … es ist klar, dass die höchste Entwicklung der Persönlichkeit dahin führen muss, dass der Mensch sein ‚Ich‘ vernichtet … eine Menschengestalt, die so erhaben ist, dass man sie nicht

220 221 222

Brief vom 25. 03./6. 04. 1870. Dnevnik pisatelja: Starye ljudi. In: PSS, 21, S. 10. Ibid., S. 11. Renan schrieb von Christus: „Diese erhabene Persönlichkeit, die jeden Tag noch das Geschick der Welt leitet, darf man göttlich nennen in dem Sinne … dass Jesus der Mensch war, welcher sein Geschlecht den größten Schritt zum Göttlichen tun ließ … In ihm hat sich alles Gute und Erhabene unserer Natur verdichtet.“ Vgl. Das Leben Jesu, 1863 (Neu aufgelegt Zürich 2003).

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ohne Ehrfurcht erfassen kann und nicht daran zweifeln kann, dass sie das ewige Ideal der Menschlichkeit bedeutet.“ 223

Es ist klar, dass diese und ähnliche Aussagen Dostojewskijs seine Verehrung für Christus zeigen, aber zugleich auch, dass sein Christus kaum dem der Kirche entspricht. Vielmehr kann man sie mit Arius, einem 325 verdammten Ketzer, in Verbindung bringen, der Christus nicht eines Wesens mit Gott, sondern nur als „idealen“ Menschen sehen wollte, wie Konrad Onasch in seiner Biografie Dostojewskijs betont. (S. 64) Auch bei Rousseau, den Dostojewskij in den 1840er-Jahren las, war dieser Jesus nicht so sehr Gottessohn und Erlöser, wie das kirchliche Dogma es will, sondern „der reine, unschuldige und vollkommene Mensch, der unter uns Menschen wie eine unbegreifliche, beinahe göttlich zu nennende Ausnahmeerscheinung und doch in schlichter, aufrichtiger, jedem sich erschließender Menschlichkeit lebte.“ 224

Am 24. Dezember 1877 notierte sich Dostojewskij sogar im Memento für das ganze Leben: „Ich möchte ein Buch über Jesus Christus schreiben.“ Er hat es zwar nicht getan, aber die Legende vom Großinquisitor kann wohl als ein Teil dieses nicht verwirklichten Vorhabens gesehen werden. An Dostojewskijs Glauben an Christus in dieser von der Kirche abweichenden Form ist jedenfalls nicht zu zweifeln, aber wie stand es mit seinem Glauben an Gottvater? Darüber schweigt sich Dostojewskij mehr oder weniger aus. Was Renan betrifft, so zitierte er begeistert dessen Loblied auf Jesus, nannte aber im selben Atemzug sein Buch „ein Buch voll des Unglaubens“ („polnoj bezverija“). Das heißt, dass er sich des Nebeneinanders von hymnischer Lobpreisung, ja Verehrung für die Gestalt Christi und des fehlenden Glaubens an Gottvater voll bewusst war. Sowohl Kirillow wie auch Schatow illustrieren diese merkwürdige Parallele. Die Frage ist, inwiefern dies auch für Dostojewskij und seine von ihm wiederholt geäußerten Glaubenszweifel gilt, die sich aber nie auf Christus beziehen. Damit kommen wir zum zweiten Teil dieser Analyse, welcher der Persönlichkeit des Autors gewidmet ist und der Art und Weise, wie sich grundlegende Aspekte seiner Persönlichkeitsstruktur im Roman äußern.

223 224

Brief an A. N. Majkow vom 16./28. August 1867. Zit. nach Konrad Onasch: Der verschwiegene Christus. Union Verlag, Berlin, o. D.

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II „Lassen wir das Wiegen und Messen“ Beginnen wir mit einem Exkurs über die Rolle des Geldes in diesem „Jahrhundert der Humanität, der Industrie und der Eisenbahn“, wie Dostojewskij in den Bösen Geistern seine Zeit nennt. (S. 45) Dies scheint vielleicht irrelevant zu sein, ist aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung für seine Philosophie! Wie auch in allen anderen Romanen, spielen Geld und finanzielle Transaktionen in den Bösen Geistern eine große Rolle. So ist Warwara Petrowna die Tochter eines Branntweinpächters, der ihr ein riesiges Vermögen hinterließ; ebenso ihre Freundin, die reiche Frau Drosdow, Mutter der Lisa Tuschina. (S. 73) Im Roman scheint es, dass sich alles in Geld umrechnen und mit Geld bereinigen lässt. Nur die wichtigsten Beispiele für solche finanzielle Transaktionen seien hier aufgezählt: - Warwara Petrowna möchte ihre Pflegetochter Darja, bzw. Dascha Pawlowna, mit Stepan Trofimowitsch verheiraten. Sie rechnet die angestrebte Verbindung in Geld um und bietet dieses „Geschäft“ Dascha (S. 91f.) und dem von ihr erwählten „Bräutigam“ an. (S. 96–98) - Lebjadkin, der angeblich mit Falschgeld „aufgeflogen“ war, bekommt von Stawrogin jährlich ein Schweigegeld, damit er dessen Heirat mit Marja Lebjadkina geheim hält. (S. 128) Aus demselben Grund verkauft ihm Stawrogin seinen 200-Seelen Besitz. (S. 156) Dies wird wieder im Gespräch zwischen Marja Timofejewna, Warwara und Dascha thematisiert, als Lebjadkin behauptet, Dascha hätte 700 Rubel veruntreut. (S. 218; s. auch S. 233, 246, 252f.) - Stepan Trofimowitsch regelt sein Verhältnis zu seinem Sohn ebenfalls mit Geld. Die Transaktion läuft über Warwara, „wobei das Gütchen [Stepans Besitz] selbstverständlich in ihren Besitz überging.“ (S. 281) - Fed’ka der Zuchthäusler, ein einstiger Hofknecht von Stepan Trofimowitsch, wurde von ihm unter die Soldaten gesteckt: „Vor 15 Jahren hat der Herr Papa … dafür Geld kassiert“, so der Sohn Werchowenskij jun. über diese Transaktion im Gespräch mit seinem Vater: „Du hattest immer Appetit auf das liebe Geld.“ (S. 300 u. 402–406) - Stawrogin wirft Fed’ka dem Zuchthäusler einen Packen Geldscheine zu, wohl wissend, dass dieser dies als Anzahlung für einen Mord verstehen könnte, da Stawrogin mittels Mord an Marja Lebjadkina, d. h. mittels dieser finanziellen Transaktion sein Eheproblem lösen und Lisa heiraten könnte! (S. 371, 386) - Warwara löst sich von Stepan Trofimowitsch mittels Geld, das sie ihm aussetzen will. (S. 443–445) 163

- Stawrogin mietet ein Haus und eine Wohnung für die Lebjadkins und zahlt die Miete für ein halbes Jahr im Voraus. Damit ist seine Frau für lange Zeit versorgt, er hat durch dieses „Geschäft“ Ruhe und eine freie Hand! Es geht in diesen Fällen um finanzielle Transaktionen und Tauschgeschäfte verschiedener Art. Georg Simmel, ein 1858 geborener Soziologe und später Zeitgenosse Dostojewskijs, schrieb über Geld und finanzielle Transaktionen und die Auswirkung auf den Menschen Zeilen, die heute noch Gültigkeit besitzen: „Die bestimmende Wirkung des Geldäquivalents tritt unzweideutig hervor, sobald man mit einem schönen und eigenartigen, aber käuflichen Objekt ein an sich ungefähr gleich bedeutsames vergleicht, das aber für Geld nicht zu haben ist; dieses hat von vornherein für unser Gefühl eine Reserve, ein Auf-sich-ruhen, ein Recht, nur an dem sachlichen Ideal seiner selbst gemessen zu werden, kurz: eine Vornehmheit, die dem anderen versagt bleibt. … Denn so sehr das Geld, weil es für sich nichts ist, durch diese Möglichkeit [ein Äquivalent für alle Objekte zu sein] ein ungeheures Wertplus gewinnt, so erleiden umgekehrt unter sich gleichwertige, aber verschiedenartige Objekte durch ihre - wenn auch mittelbare oder ideelle - Austauschbarkeit eine Herabsetzung der Bedeutung ihrer Individualität. … Die Nivellierung erscheint als Ursache wie als Wirkung der Austauschbarkeit der Dinge – wie gewisse Worte ohne weiteres ausgetauscht werden können, weil sie trivial sind, und trivial werden, weil man sie ohne weiteres auszutauschen pflegt. … Die Lieblosigkeit und Frivolität, durch die sich die Behandlung der Gegenstände in der Gegenwart so sehr von früheren Zeiten unterscheidet, geht sicher zum Teil auf die gegenseitige Entindividualisierung und Abflachung, auf Grund des gemeinsamen Geldwertniveaus, zurück. … Die im Gelde ausgedrückte Tauschbarkeit aber muss unvermeidlich eine Rückwirkung auf die Beschaffenheit der Waren selbst haben, bzw. mit ihr in Wechselwirkung stehen. … Die Herabsetzung des Interesses für die Individualität der Waren führt zu einer Herabsetzung dieser Individualität selbst.“ 225

Dies entspricht der Sicht Dostojewskijs, der sich zeitlebens mit finanziellen Problemen auseinandersetzen musste. Kaum ein anderer Autor in Russland seiner Zeit räumt dem Geld einen vergleichbaren Stellenwert ein. Jacques Catteau hat in seiner Dostojewskij Studie dies deutlich angesprochen: „L’épreuve par l’argent est une des formes les plus constantes de la connaissance humaine dans l’universe romanesque.“ Oder, wie Catteau an anderer Stelle sagt, Geld ist bei Dostojewskij eine Kategorie der Erkenntnis unseres sozialen und sogar unseres spirituellen Wesens: „Toute son oeuvre nous dit que l’argent est une catégorie, comme l’espace, de la connaissance de notre être social et même spirituel.“ 226 Geld hat einen Tauschwert, aber, wie Sim225 226

Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Berlin 1900. 5. Kap. Das Geldäquivalent personaler Werte. Teil I, S. 435ff. Hervorhebung R.N. Siehe www.socio.ch/sim/-. Jacques Catteau: La Création littéraire chez Dostoïevski. Paris 1978, S. 220 u. 204f.

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mel ausführt, zugleich auch einen Nivellierungseffekt. Wirklichen Wert hat nur, was nicht käuflich ist! Was käuflich ist, unterscheidet sich voneinander nur quantitativ durch die Zahl der Geldscheine, Qualität und „Individualität“ werden nivelliert und zweitrangig. Nun fällt auf, dass Dostojewskij mit Geld verbundene Begriffe immer wieder auch für spirituelle und religiöse Vorstellungen verwendet, die mit dem Vokabular finanzieller Transaktionen und Tauschgeschäfte beschrieben werden. Dies liegt zum Teil in der Sprache selbst begründet. Ein Schlüsselbeispiel ist das Verb „kaufen“, russisch kupit’, auch vykupat’ und iskupat’, als Substantiv iskuplenie (Loskaufung, aber auch Erlösung!) davon abgeleitet auch iskupitel’ (Erlöser); ähnlich ist es im Englischen, wo „redeem“ „einlösen“ (z. B. einen Scheck) heißt, aber auch die Bedeutung „erlösen“ hat. „Redeemer“ ist derjenige, der einen Scheck einlöst, aber auch der Erlöser. Dostojewskij überträgt nun, wie es scheint bewusst, die Sprache finanzieller, buchhalterischer Transaktionen und Tauschgeschäfte auf spirituelle und religiöse Vorstellungen. 227 Diese Sicht liegt auch im zentralen Romankapitel über das Treffen Stawrogins mit Bischof Tichon vor. Darauf möchte ich nun eingehen. Stawrogin sucht Bischof Tichon auf, der zurückgezogen in einem Kloster lebt, da er ihm seine „Beichte“ vorlegen möchte, die er zu veröffentlichen gedenkt. Unmittelbar nach der Begrüßung attestiert ihm Tichon „eine große innere, geistige Ähnlichkeit“ mit seiner Mutter Warwara. Wohl ein Hinweis darauf, dass ihn, wie auch seine Mutter, ausgeprägter Stolz und Eigensinn charakterisieren. Beide sind gewohnt, in allem ihren Willen durchzusetzen. In dem Gespräch erzählt Stawrogin, dass er in Halluzinationen und Träumen von einem „bösen Geist“ verfolgt wird, womit er wohl sein verkörpertes Schuldbewusstsein meint. Stawrogin lenkt dann das Gespräch auf Tichons Glauben an Gott. „Können Sie einen Berg versetzen? ... Sie selbst, als Lohn für Ihren Glauben?“ Diese Formulierung und Tichons Worte, die damit in Zusammenhang stehen, „Deines Kreuzes, Herr, lass’ mich nicht unwürdig sein“, weisen in die Richtung eines Tauschhandels, ein Wunder soll als Lohn für Glauben geboten werden. Als Stawrogin bekennt, dass er im Gegensatz zu Tichon ein Atheist sei, meint dieser, dass der „vollkommene Atheist auf der vorletzten, der obersten Stufe zum vollendeten Glauben stehe. … Nur der Gleichgültige jedoch hat gar keinen Glauben, außer der schlechten Angst.“ Stawrogin scheint damit einverstanden zu sein und verweist auf eine Bibelstelle aus der Apokalypse, die genau dies aussagt, „Und dem Engel der Ge-

227

Es ist ein Verdienst von Susan McReynolds, in ihrem Buch Redemption and the Merchant God. Evanston, Northwestern University Press 2008, auf das ich mich hier stütze, darauf hingewiesen zu haben!

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meinde von Laodicea schreibe …: ‚Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde‘.“ Stawrogin zählt sich augenscheinlich nicht zu den Lauen, für die dies gilt. Tichon erkennt, dass Stawrogin in der Tat dies nicht ist. Vielmehr „ringt er mit einer außerordentlichen, vielleicht sogar entsetzlichen Absicht.“ Zu diesem Zeitpunkt kennt Tichon noch nicht Stawrogins Absicht, der Öffentlichkeit seine Untaten mitzuteilen. Für Stawrogin ist dies aber die passende Einleitung für die Lektüre der Beichte, die er nun dem Bischof vorlegt. Stawrogin schreibt darin fast ausschließlich von der Untat, die ihn am meisten quält, davon, was er der kleinen Matrjoscha angetan hat, hat er sie doch verführt und missbraucht und dann ungerührt ihrer seelischen Qual und ihrem Selbstmord zugesehen. Auch anderes wird erwähnt, von dem bereits die Rede war, vor allem seine Ehe mit Marja Lebjadkina. Einen besonderen Stellenwert hat die Vision des Goldenen Zeitalters nach dem gleichnamigen Gemälde von Claude Lorrain, ein Traum von ewigem Glück und Harmonie, „für den die Propheten sich ans Kreuz schlagen ließen.“ Auch dies lässt sich als Anspielung auf die Logik des Tauschhandels verstehen. Die Beichte schließt mit der Ankündigung, diesen Text zu veröffentlichen und in ganz Russland bekannt zu machen. Dies betrachtet er als seine „Bürde“, was bereits Kirillow im nächtlichen Gespräch erkannt hatte: „Ich dachte, Sie suchen selbst eine Bürde.“ (S. 381) Tichon reagiert auf Stawrogins Tat an Matrjoscha mit den Worten, die, wie man weiß, Dostojewskijs Beurteilung von Vergehen an Kindern entsprechen: „Aber ein größeres und schrecklicheres Verbrechen als Ihre Tat an dem Mädchen gibt es nicht und kann es nicht geben.“ Daraufhin stellt Tichon die Frage, ob denn Stawrogins Reue echt, bzw. groß genug sei, und bezweifelt dies. Stawrogins Reaktion auf Tichons Worte ist eindeutig: „Lassen wir das Wiegen und Messen.“ Wiederum sind dies Begriffe, die aus der Welt finanzieller Transaktionen stammen. Sein Verbrechen an Matrjoscha kann mit noch so viel Reue nicht für Vergebung „eingetauscht“ werden. Er sieht die Folgen der Bekanntmachung seiner Untaten im Sinn einer Strafe darin, dass ihn die Menschen noch mehr hassen werden und will das auch: „Das wird mir Erleichterung bringen.“ Er möchte damit als sein „Hauptziel“ erreichen, dass er sich selbst vergeben kann. Darum eben, sagt er, möchte er „unermessliches Leid“ (S. 596), d. h. die „Bürde“ auf sich nehmen. Stawrogin ist sich des ganzen Ausmaßes seiner Untat an Matrjoscha voll bewusst und möchte geradezu, dass seine Veröffentlichung Hass und nicht Mitleid hervorruft. Letzteres könnte er nicht ertragen, da es wieder auf ein „Tauschgeschäft“ (Mitleid/Vergebung für Reue) hinaus läuft. Tichon durchschaut ihn, er meint, seine Haltung wäre noch immer von Stolz bestimmt, und fordert von ihm „aufrichtige Demut“. Nur dann könne er sich vergeben und würde auch Vergebung bei Gott und Christus finden. Aus 166

Tichons Sicht liebäugelt Stawrogin im Grunde nur mit einer Großtat, die darin bestehen würde, den Hass und Hohn, den Spott und die Verdammung durch seine Leser zu ertragen! Die „Veröffentlichung“ sei im Grunde so nur Ausdruck seines stolzen Selbstbewusstseins. Stawrogins Problem ist allerdings, dass er sich bewusst ist, dass er doch nie im Stande wäre, sich selbst vergeben zu können, denn seine „Sünde“, die Tat an Matrjoscha, ist eine, die nie und nimmer vergeben werden kann, für die es keine adäquate Strafe gibt, und er lässt Tichon dazu aus Matthäus 18,6 zitieren: „Wer aber von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“ Wenn Dostojewskij das „Ärgernis“ mit einer Sünde gleichsetzt, die nicht der Vergebung der Sünden durch den Kreuzestod unterliegt, die also per se nicht vergeben werden kann, dann vermengt er allerdings den zitierten Text mit einem zweiten Bibeltext. Ich zitiere ein Wort Jesu aus Matth. 12,32: „Wer aber ein Wort sagt wider den Heiligen Geist, findet keine Vergebung, weder in dieser, noch in der zukünftigen Welt.“ 228 Dostojewskij hat immer gesagt, Kinder seien unschuldig wie Christus und so wird diese Gleichsetzung, die nicht der kirchlichen Lehre entspricht, und ein schweres Vergehen an Kindern mit dem Vergehen „wider den Heiligen Geist“ gleichsetzt, verständlich. Tichon widerspricht dem mit einem weiteren Bibelzitat, niemand kenne die Wege Gottes: „Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, // Wie unergründlich seine Wege! // Denn wer erfasst die Gedanken des Herrn?“ (Römer 11,33) und wiederholt seine Sicht, dass Vergebung unter den Voraussetzungen, die er genannt hat, möglich ist: „Ihre Tat wäre, wenn sie in Demut geschähe, eine große christliche Tat, aber nur, wenn Sie sie aushielten. Sogar wenn Sie sie nicht aushielten, würde Ihnen der Herr das anfängliche Opfer wohl anrechnen. Alles wird angerechnet werden: nicht ein einziges Wort, nicht eine einzige Regung der Seele, nicht ein einziger flüchtiger Gedanke werden verlorengehen.“ Gott erscheint hier als eine Art himmlischer Buchhalter, der auf- und abrechnet und dann Bilanz zieht. Dies kann Stawrogin nicht akzeptieren, denn seine Untat an Matrjoscha kann nicht „aufgerechnet“, oder „abgerechnet“ werden und in einer „Bilanz“ Vergebung finden, sie verlangt nach Strafe. Tichon scheint beim Abschied genau dies zu ahnen: Er sieht ein neues „allerschrecklichstes Verbrechen“ voraus. Stawrogin bestätigt es ihm, „Sie haben recht, ich werde es vielleicht nicht aushalten und aus Bosheit ein neues Verbrechen begehen …“ Es bleibt allerdings of-

228

Darauf haben bereits die Dostojewskij-Forscher Dolinin und Tichomirow hingewiesen.

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fen, ob damit vielleicht sein Selbstmord, aus religiöser Sicht ein „schreckliches Verbrechen“, als einzig adäquate Strafe gemeint ist. Stawrogin scheint sogar den Kreuzestod Christi in Analogie zu einer finanziellen Transaktion zu begreifen. Denken wir an die Worte Nikons: „Deines Kreuzes, Herr, lass’ mich nicht unwürdig sein“, und Stawrogins vorangegangene Worte vom „Lohn“ für Nikons Glauben und an seine Vision von ewiger Harmonie, wofür Propheten sich ans Kreuz schlagen ließen! Damit lässt sich jegliche noch so schwere Sünde gegen die ewige Harmonie aufrechnen. An die Stelle des Geldes als nivellierendes Tauschmittel tritt die für Jedermann und alle Zeiten die auf dem Kreuzestod Christi beruhende Vergebung aller Sünden, die für jeden im Tausch gegen ein entsprechendes Maß an Reue zu haben ist. Damit kann sich der „Sünder“ die ewige Harmonie sozusagen erkaufen. In den Brüdern Karamasow wird dies von Iwan Karamasow wiederum deutlich gemacht! Stawrogin kann das nicht akzeptieren. Der Roman endet mit seinem Selbstmord. Die Frage, die sich hier stellt, ist natürlich die nach Dostojewskijs Glaubenszweifel, die sich, wie wir annehmen müssen, nicht auf Christus, sondern auf Gottvater beziehen. So wie Kirillow und Schatow hat auch Dostojewskij stets an Christus geglaubt, hat er aber – so wie die beiden und auch Stawrogin – nicht doch immer wieder Zweifel an seinem Glauben an Gott gehabt?! Der nivellierenden Macht des Geldes, die alles käuflich erscheinen lässt, entspricht aus christlicher Sicht der Kreuzestod Christi als universelles Tauschmittel für alle Untaten: Freispruch im Tausch gegen Beichte, Reue und Sühne. Dies scheint nicht nur Stawrogins, sondern auch Dostojewskijs Verständnis in den Momenten seiner Glaubenszweifel gewesen zu sein. Susan McReynolds hat in ihrem bahnbrechenden Werk (s. Anm. 227) dafür argumentiert und in den großen Romanen Dostojewskijs reichlich Material dafür gefunden. Stawrogin sucht zuletzt für seine Untat, von der er sich nicht loskaufen kann und will, seine Strafe im Selbstmord. Davor steht jedoch noch eine andere Passage, die man als Kontrapunkt zu dem sehen kann, was der Beichte und dem Gespräch zwischen Tichon und Stawrogin zugrunde liegt, diesem Leben, in dem der Unglaube den Unterschied zwischen Gut und Böse ausgelöscht hat, das keine Demut, und keine Vergebung kennt. Wo Kernsätze des christlichen Glaubens analog zu kommerziellen Transaktionen verstanden werden und ein Gott, der seinen Sohn mitleidslos geopfert hat, nun im Gegenzug als Buchhalter die Taten der Menschen abrechnet. Diese andere Passage hat Dostojewskij dem Vater des Revolutionärs Pjotr Stepanowitsch, Stepan Trofimowitsch, zugeordnet, von dem er in einem Brief gesagt hat, er sei „eine Gestalt von nebensächlicher Bedeutung; der Roman wird gar nicht von ihm handeln; doch seine Geschichte ist mit den 168

Hauptereignissen des Romans so eng verknüpft, dass ich ihn zum Grundstein des Ganzen nehmen musste.“ 229 Dieser Stepan Trofimowitsch spricht die wohl schönsten und einprägsamsten Worte in dem Roman, die jeden religiös gestimmten Menschen, gleich welcher Konfession oder Religion ansprechen. Sie kommen von dem „anderen“ Dostojewskij, dem zutiefst gläubigen Menschen. Nachdem sich Stawrogins Mutter Warwara Petrowna von ihm getrennt hat, verfällt Stepan Trofimowitsch zusehends. Er entschließt sich, mit einem Bündel in der Hand und einem Regenschirm als Schutz seine Stadt zu Fuß, wie ein Pilger auf der Landstraße, zu verlassen. In einem Dorfhaus, an einem See gelegen, findet er Unterschlupf. Die 40 Rubel, die er noch hat, verschenkt er seiner zufälligen Begleiterin, einer frommen Bibelverkäuferin, die ihn, der plötzlich krank geworden ist, in seinen letzten Tagen betreut. Hier sind seine Worte: „ ,Meine Freunde‘, sagte er, ‚Gott ist mir schon allein deshalb unentbehrlich, weil Er das einzige Wesen ist, das man ewig lieben kann … Und was gibt es Kostbareres denn die Liebe! Die Liebe ist höher als das Sein, die Liebe ist die Krone des Seins, und wie wäre es möglich, dass das Sein ihr nicht untertan wäre? Wenn ich einmal in Liebe zu Ihm entbrannt bin und über diese meine Liebe frohlocke – wie wäre es möglich, dass Er mich und meine Freude auslöschte und uns zu einer Null macht? Wenn es einen Gott gibt, so bin auch ich unsterblich! Voilà ma profession de foi‘.“ (913; PSS, 10, S. 505)

Bevor man aber der Begeisterung über diese wunderbaren Worte freien Lauf lässt, sollte man sich erinnern, dass Stepan Trofimowitsch wenige Seiten davor mit Nachdruck gestanden hat: „Oh, meine Freundin, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen. Sogar dann, wenn ich die Wahrheit sagte. Ich habe nie um der Wahrheit willen gesprochen, sondern nur um meiner selbst willen, … es könnte sein, dass ich auch jetzt lüge; wahrscheinlich lüge ich auch jetzt. Die Hauptsache ist, dass ich mir selber glaube, wenn ich lüge. Das Allerschwerste im Leben ist, zu leben und nicht zu lügen … und … der eigenen Lüge nicht zu glauben …“. (S. 899f.)

Aber nicht nur das: Unmittelbar nach seinem „Glaubensbekenntnis“ wiederholt er: „…J’ai menti toute ma vie, … mein ganzes, ganzes Leben lang!“ (S. 913) Das lässt sein schönes „Glaubensbekenntnis“ in einem eigentümlichen Licht erscheinen, es sei denn, man trennt sein vergangenes Leben von seiner jetzigen Lebensbilanz kurz vor dem Tod und weist die „Lüge“ dem ersteren zu! Darauf deuten seine letzten Worte vor dem Tod hin, woraus ich noch zwei Sätze zitieren möchte:

229

Brief an A. N. Majkow vom 2./14. 03. 1871. PSS, 29, S. 184.

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„Viel mehr als das eigene Glück braucht der Mensch das Wissen und den immerwährenden Glauben, dass es irgendwo ein bereits vollkommenes und ruhevolles Glück gibt, für alle und für alles … Das ganze Gesetz des menschlichen Seins besteht allein darin, dass der Mensch vor dem unermesslich Großen das Knie beugen kann.“ (S. 914)

Stepan Trofimowitsch ist todkrank. Nach diesen, seinen letzten Worten, vergehen noch drei Tage, berichtet der Erzähler, bevor er in tiefer Bewusstlosigkeit stirbt. Wir sollten diese schönen und frommen Worte aber im Romankontext sehen, um nicht ein einseitiges Bild von Dostojewskij zu geben. Dazu sei zitiert, was der Revolutionär Pjotr Stepanowitsch, der Sohn des Stepan Trofimowitsch, zu diesem Thema sagt: „Je schlechter es dem Menschen im Leben geht, je unterdrückter oder ärmer ein ganzes Volk ist, desto hartnäckiger träumt es vom Lohn im Paradies, und wenn auch noch hunderttausend Geistliche das Ihre tun, um diesen Traum, auf den sie spekulieren, anzufachen, dann …“. (S. 250)

In dieser Gegenüberstellung erkennen wir wiederum die beiden konträren Aspekte, die nicht nur diesen Roman prägen! Ich resumiere: Der Leser wird aus den Bösen Geistern den Schluss ziehen, dass Mord und Selbstmord in Dostojewskijs Weltbild ein Verstoß gegen die sittliche Weltordnung sind, die nur solange gewährleistet ist, wie Mensch und Gesellschaft an ihre Begründung in Gott glauben und an diesem Glauben an Gott und Christus festhalten. Sonst gerät die sittliche Ordnung in Gefahr relativiert oder aufgehoben und durch eine weltliche Ordnung, die im Extremfall auch Mord, Totschlag und Selbstmord zulässt, ersetzt zu werden. Stawrogin, der den Glauben an Gott verloren hat und nicht mehr den Weg zurück findet, kehrte einst aus der Schweiz nach Russland zurück. Am Ende des Romans hängt er als „Bürger des Kantons Uri“, wie Dostojewskij es formuliert, an einer Seidenschnur von der Decke. Für Dostojewskij ist Ausland als Symbol für eine Welt, die weitgehend den Glauben verloren hat, gleichbedeutend mit Tod, siehe u. a. Swidrigajlows Selbstmord in Verbrechen und Strafe, der von ihm selbst als Reise nach Amerika bezeichnet wird. Stawrogin wollte sich in der Schweiz niederlassen und wurde Bürger des Kantons Uri. Damit ist er für Russland verloren, denn er hat [den russischen] Gott endgültig aufgegeben und ist im Universum Dostojewskijs dem Tod geweiht, den er selbst inszeniert. Die obige Analyse hat aber noch mehr gezeigt. Dostojewskij hat in keinem Roman, weder vorher noch nachher, so viel von sich selbst in seine Gestalten hineingelegt. Vom Glaubenszweifel bis hin zum Glaubensverlust, der Stawrogin und Kirillow quält, und dem Ersatzglauben an einen „russischen Gott“ bei Schatow, vom Weg des idealistischen Romantikers Stepan Trofimowitsch, der zum Inspirator der „Progressisten“ und Nihilisten wurde, zum Gottsucher, der zuletzt im Angesicht des Todes zu 170

Gott zurückfindet, dies alles sind Aspekte, die der Autor selbst erlebt hat, wenn auch nicht ganz auf diese Weise, und im Roman etwas überspitzt dargestellt hat. Gott hat auch Dostojewskij sein Leben lang gequält, bekannte er doch selbst, er sei „ein Kind seiner Zeit, ein Kind des Unglaubens und der Zweifelsucht“, und fügte hinzu, dass er wüsste, dass er dies „auch bis an sein Lebensende bleiben“ würde. Er bekannte, dass er sich nach dem Glauben sehnte, je mehr er Gegenbeweise hatte. Die Glaubenszweifel, die sein ganzes Leben begleiteten, haben ihren Ursprung wohl in der „Tauschlogik“ der modernen Geldwirtschaft, die Simmel als erster so gut beschrieben hat und deren Wirkung Dostojewskij so intensiv im eigenen Leben erfahren musste. Er konnte nicht umhin, ihren Wirkungsmechanismus auch im christlichen Erlösungsmythos wahrzunehmen. Nichtsdestoweniger können wir, meine ich, annehmen, dass die schönen Worte des Stepan Trofimowitsch Dostojewskijs innerste Überzeugung ausdrücken, eine Sicht, in der er Trost fand, trotz aller Zweifel, die ihn wiederholt bedrängten. Alle eben erwähnten Personen im Roman finden auf unterschiedliche Weise den Tod. Wollte der Autor damit seiner „dunklen“ Seite eine Absage erteilen. Dazu gehören Glaubenszweifel, die Unfähigkeit Maß zu halten, der Drang, in allem an die äußerste Grenze zu gehen (Alles Selbstbekenntnisse des Autors!), wobei alle vier Personen, von denen hier die Rede war, diese Eigenschaften verkörpern und den Tod finden? Jedenfalls müssen wir feststellen, dass sich in diesen vier Personen die „Innerlichkeit“ des Autors selbst in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit manifestiert! 230 Als Einziger entkommt der schlimmste der „bösen Geister“ dem Tod, ihr Verführer und Anführer Werchowenskij jun. Er reist ab in Richtung der Hauptstadt St. Petersburg. Das ultimativ Böse bleibt so in Dostojewskijs Welt vorläufig erhalten. Es wird da weiter sein Unwesen treiben. Kann man dies vielleicht so verstehen, dass sich Dostojewskij bewusst war, es würde auch in ihm selbst weiter wirksam sein?

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Horst-Jürgen Gerigk hat in seinem Aufsatz Stawrogins kreativer Nihilismus. Dostojewskijs Paradoxon in den „Dämonen“ (1997) dargelegt, dass in den Gestalten Kirillow, Schatow und Werchowenskij junior „die Innerlichkeit Stawrogins“ in die Wirklichkeit umgesetzt werde. Dies ist meiner Ansicht nach, wie obige Analyse zu zeigen suchte, zu kurz gegriffen. Der Schlüssel zu diesem Roman liegt in Dostojewskijs eigener Problemlage, die er in verschiedene Gestalten auseinandergelegt hat. Gerigks Aufsatz erschien in: Life and Text. Essays in Honour of Geir Kjetsaa on the Occasion of his 60th Birthday. Edited by Erik Egeberg et al. Oslo 1997, S. 133–145.

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III. Wirkungsgeschichte „Für eine Nation, die unter Schmerzen des Niedergangs leidet, ist die Geschichte ein Gegenmittel, um eine Identität und eine Zukunft wieder zu erlangen.“ Moshe Lewin: Le siècle soviétique. Paris 2003, S. 490.

1.

Dostojewskij-Rezeption in Russland (1881–2010)

In den Jahrzehnten nach Dostojewskijs Tod bis zur kommunistischen Machtübernahme gab es zahlreiche und unterschiedliche Reaktionen. Hier soll nur auf zwei bedeutende Gestalten hingewiesen werden, die eine Sicht vertreten, die wiederum nach der Wende und Perestroika in Russland an Einfluss und Bedeutung gewonnen hat! An erster Stelle sei der Dichter und Philosoph Wladimir S. Solowjow (1853–1900) genannt, der in seiner Jugend mit Dostojewskij befreundet war. Als Sohn des bekannten Historikers Sergei M. Solowjow trat er in die Fußstapfen seines Vaters. Er begann zwar ein naturwissenschaftliches Studium, wechselte dann aber auf die Historische und Philologische Fakultät und besuchte nebenbei Vorlesungen an der Geistlichen Akademie. Im Alter von 20 Jahren beendete er sein Studium und bereitete sich auf eine akademische Karriere vor. Seine Dissertation trug den bezeichnenden Titel Die Krise der westlichen Philosophie: Gegen die Positivisten! Nach kurzer Tätigkeit als Dozent an der Moskauer Universität verließ er Russland, um indische, gnostische und mittelalterliche Philosophie zu studieren. Zu diesem Zweck weilte er in Paris, Nizza, London und Ägypten, wo er mystische Visionen erlebte. 231 1879 unternahm er eine Pilgerfahrt zusammen mit Dostojewskij in das Optina Pustyn Kloster. Es wird vermutet, dass ihn Dostojewskij sowohl in der Figur des Aljoscha Karamasow, wie auch dessen Bruder Iwan dargestellt hat! Solowjow veröffentlichte in den 1880er-Jahren Bücher zu philosophischen und theologischen Themen, so Geschichte und Zukunft der Theokratie und La Russie et l’Eglise Universelle (Paris, 1889), Gedichtbände und literaturkritische Aufsätze. In der Nachfolge Dostojewskijs betrachtete er Russland und die slawische Welt als Ausgangspunkt einer bevorstehenden universellen Theokratie, inspiriert vom Geist Christi. Aus einer gewissen Enttäuschung über den realen Zustand der orthodoxen Kirche wandte er sich allerdings später dem Katholizismus zu und anerkannte die Autorität des Papstes, ohne jedoch mit der Orthodoxie vollends zu brechen. Obwohl er ursprünglich Dostojewskijs Vorstellung von Russland

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Siehe sein Gedicht „Drei Begegnungen“ („Tri svidanija“) von 1898!

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als „Drittem Rom“ teilte, verlor er am Ende seines Lebens den Glauben daran und sagte sogar den Untergang des russischen Reichs und den Rückfall des Landes in „asiatische Barbarei“ voraus. 232 In dem Zusammenhang dieses Aufsatzes sind seine Drei Reden über Dostojewskij von Bedeutung, die er nach dem Tode des Schriftstellers vortrug. Er versuchte darin, die Bedeutung Dostojewskijs aus seiner Sicht darzustellen. Den Sinn des Schaffens Dostojewskijs sieht er in dessen Suche nach dem „höchsten gesellschaftlichen Ideal“ und dem Weg, der dorthin führt. Dieses Ideal hätte Dostojewskij in der orthodoxen Kirche gefunden und wäre damit zu einem Seher und Verkünder des „wahren Christentums“ geworden. Russland hätte er als „Gottes auserwähltes Volk“ verstanden, jedoch nicht in dem Sinne einer Rivalität mit anderen Völkern, auch nicht im Sinne einer Vorherrschaft über sie, sondern wie Solowjow betont, im „freien Dienst an allen Völkern, im brüderlichen Verbund mit ihnen zur Verwirklichung der wahren Allmenschlichkeit, oder der universellen Kirche.“ Solowjow meinte darüber hinaus, dass Dostojewskij damit nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen „Slawophilen“ und „Westlern“ beendet hätte, sondern auch den Jahrhunderte langen, „unchristlichen“ Streit zwischen dem Osten und dem Westen, hätte doch Dostojewskij zufolge Russland die Aufgabe und Verpflichtung, beiden zu dienen und beide miteinander zu versöhnen! Solowjows Einfluss auf die Auseinandersetzungen rund um Dostojewskijs ideologisches Erbe vom 20. Jahrhundert bis heute darf nicht unterschätzt werden! Es wirkt bis heute nach. Nach der Jahrhundertwende sind slawophile Ansichten im philosophischen und politischen Diskurs auf einem beachtlichen Niveau weitergeführt worden. Es sei besonders auf Nikolai Berdjajew (1874–1948) verwiesen, der in Dostojewskij seine Idealvorstellung von Russland verwirklicht sah. Berdjajew, der in seiner Jugend dem Marxismus nahe stand, studierte Philosophie, brach aber nach der Revolution mit dem Regime und lebte ab 1922 im Westen. Er schrieb über philosophische Themen, wie auch über russische Literatur. Vor allem aber verehrte er Dostojewskij, dem sein wichtigstes Werk Die Weltanschauung Dostojewskijs (1923) gewidmet ist. Darin wird, vielleicht zum ersten Mal, jene mystische und mythologische Dimensionen annehmende Verehrung für Dostojewskij deutlich, die wir vielfach heute wieder in Russland vorfinden. So schreibt Berdjajew: „Wir müssen geistig an dem Erbe Dostojewskijs arbeiten und die durch ihn offenbarte Erkenntnis innerlich reinigen und in uns aufnehmen ... Dostojewskij – das ist jener

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Vgl. Victor Terras: A History of Russian Literature. New Haven and London, Yale University Press 1991, S. 394–397.

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tiefste der Werte, durch den das russische Volk sein Dasein in der Welt rechtfertigen, auf den es hinweisen kann auf dem jüngsten Gericht der Völker.“

Dostojewskij wird von Berdjajew sogar „zum größten russischen Metaphysiker“ ernannt: „Alle unsere metaphysischen Ideen entspringen Dostojewskij.“ 233 Damit hatte der Mythos vom Gottesvolk in Dostojewskij seinen im 21. Jahrhundert zu nahezu mythischer Größe gekommenen Verkünder gefunden! Fasst man zusammen, was Berdjajew bereits auf der ersten Seite seines Buches schreibt, so ist nach ihm Dostojewskij ein „großer Dichter“, ein „großer Denker“, ein „großer Seher“, ein „genialer Dialektiker“ und eben der „größte russische Metaphysiker“. Als Schriftsteller sei er ein „Pneumatologe und metaphysischer Symbolist“. Aber auch anderes kann man bei ihm lesen, was heute bedauerlicherweise kaum rezipiert und zur Kenntnis genommen wird. „Und in ihm“, so schreibt Berdjajew, „spiegeln sich alle Antinomien und alle Krankheiten unseres Nationalbewusstseins.“ Er nennt als Beispiele dafür „die russische Demut und den russischen Eigendünkel, das russische Allmenschentum und die russische nationale Ausschließlichkeit.“ 234 Wenn Dostojewskij beispielsweise von der „paneuropäischen und weltumspannenden Bestimmung des Russen“ spricht, dann erkennt man genau diese „Krankheit unseres Nationalbewusstseins“! 235 Berdjajew hat allerdings diese „Krankheiten des russischen Nationalbewusstseins“ wohl bei Dostojewskij, aber nicht bei sich selbst diagnostiziert! Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Dostojewskij von Vertretern der konservativen Rechten in Deutschland bewundernd als prophetischer Vorläufer und Vordenker rezipiert. Karla Hielscher schreibt darüber: „Sein Denken passte so verblüffend nahtlos und inspirierend in den geistigen Horizont Deutschlands, der geprägt war von immer radikalerer Zivilisationskritik, vom Ende der positivistischen Weltsicht des 19. Jh., von wachsendem Irrationalismus und Antiintellektualismus, von der Ablösung des rationalistisch-materialistischen Denkens durch eine neue Geistigkeit, einen Zug zum Mystischen und Metaphysischen, durch

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N. Berdjajew, Die Weltanschauung Dostojewskijs. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1925, S.14, 208f., 200. Berdjajew ist auch Autor des Buches Russkaja ideja. 1946; Neuauflage Paris 1971! Berdjajew, S. 140. Kursiv R. N. Berichtet von N. Walentinow in seinem Buch: Begegnungen mit Lenin. New York 1953, S. 85.

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eine Hinwendung zum Organisch-Biologischen, zum Bodenständigen, zu den ‚dunklen Urkräften der Tiefe‘, usw.“ 236

Für Spengler ist Dostojewskij das kommende Russland, die treibende Kraft für eine antiwestlich motivierte Erneuerung. Dostojewskijs pseudologische Konstruktionen fanden so bei der deutschen konservativen Revolution (Hielscher) einen fruchtbaren Boden. Am Ende stand freilich die totalitäre Sackgasse des Nationalsozialismus. Wenn Karla Hielscher Dostojewskijs politische Ansichten als einen aufklärerischen, die gesamte Moderne negierenden Fundamentalismus definiert, so ist dem wohl zuzustimmen. Wie ging es weiter in Russland? Im Jahre 1917 gingen in Russland die Lichter aus. Es galten nun Lenins Worte, die von W. W. Worowskij, einem seiner engeren Mitarbeiter, berichtet werden: „Er [= Lenin] teilt Literatur in solche, die nützlich ist, im Gegensatz zu solcher, die es nicht ist, aber welche Kriterien er benützt, um zwischen den beiden zu unterscheiden, ist mir nicht klar, Dostojewskij hat er absichtlich ignoriert. ‚Ich habe keine Zeit, solchen Mist zu lesen‘, sagte er zu mir.“ 237

Es ist klar, dass er Dostojewskij als „unnütz“ betrachtete, hatte er ihn doch bereits 1914 in einem Brief vom 5. Juni dieses Jahres an seine Geliebte Inessa Armand den „ultra-widerlichen Dostojewskij“ genannt. Nach der Zeit des Stalin’schen Terrors und der großen Schauprozesse kamen schließlich die Leidensjahre des Zweiten Weltkriegs. Unmittelbar danach brachte die „Schdanow Ära“ (1946–1953), benannt nach dem Leningrader Parteisekretär und Chefideologen des Politbüros Andrej Schdanow, eine neue Verhärtung im kulturellen Leben. Dieser „stalinistische Totengräber der sowjetischen Kultur“, so der Kölner Historiker G. Stökl, verurteilte scharf „Kosmopolitismus“ und das, was er „Objektivismus“ nannte. Es sollte nach ihm eine „kämpferische bolschewistische Parteilichkeit“ in Literatur und Kultur herrschen. Tatsächlich erschien zwischen 1947 und 1955 in Russland kein einziges Buch über Dostojewskij! Im Schul- und Hochschulunterricht wurde er ignoriert. Schulklassen, welche die Grabstätten russischer Schriftsteller in Leningrad besuchten, machten einen Bogen um Dostojewskijs Grab. Erst nach Stalins Tod (1953) wurde diese harte Zeit vom politischen Tauwetter

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Karla Hielscher, Dostojevskijs antiwestliche Zivilisationskritik und die deutsche Konservative Revolution. In: Rudolf Neuhäuser Hg. Polyfunktion und Metaparodie. Dresden University Press 1997, S. 280. Wladimir Bontsch-Brujewitsch, Lenin über Bücher und Schriftsteller. In: Literaturnaja gazeta, Nr. 49, 21.04.1955, S. 2.

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unter Chruschtschow abgelöst. Allmählich änderte sich die Einstellung und die folgenden Jahrzehnte könnten unter dem Motto stehen: „Den wahren Dostojewskij überlassen wir niemand anderem“, wie es die Literaturnaja gazeta schließlich am 9. Februar 1956 formulierte! Was war der Grund für diese Kehrtwendung? Es nahte der 75. Todestag Dostojewskijs, und man begann umzudenken. Dostojewskij galt im Westen immerhin als ein Klassiker der Weltliteratur. Lenins langjähriger Mitarbeiter Wladimir Bontsch-Brujewitsch leitete die ideologische Wende schon 1955 ein, wohl mit Billigung der Spitzen der Partei. In einem Aufsatz dieses Jahres zeichnete er ein anderes Verständnis Lenins von Dostojewskij. Danach hätte Lenin durchaus ungewöhnliche Ansichten über den Schriftsteller gehegt, ihn als realistischen Autor betrachtet und sogar im Roman Die Dämonen positive Aspekte gefunden. Bontsch-Brujewitsch stritt die oben erwähnten negativen Wertungen Lenins dabei nicht ab, fügte aber hinzu: „Bei mehr als einer Gelegenheit sagte Wladimir Iljitsch, dass Dostojewskij ein wahrhaft genialer Schriftsteller wäre, der die kranken Stellen der Gesellschaft seiner Zeit untersuchte … seine Schriften beinhalten auch lebendige Bilder aus dem wirklichen Leben.“ 238

Dies war das Signal für ein erneutes Interesse an Dostojewskij. Man durfte wieder über den großen Autor schreiben. L. Grossman veröffentlichte am Jahresbeginn 1956 einen Aufsatz, betitelt Ein großer russischer Schriftsteller, in dem er Dostojewskijs Genie und seine künstlerische Bedeutung betonte. A. Dolinin schrieb in seinem Aufsatz vom selben Jahr Ein großer Schriftsteller von Dostojewskijs humanistischem Bestreben. 239 Damit begann eine neue Epoche der Dostojewskij Rezeption in Russland. 1963 wurde Bachtins Studie aus den 1920er-Jahren Probleme der Poetik Dostojewskijs neu aufgelegt, in deren Folge man sich wieder mit poetologischen Problemen befasste. Im selben Jahr 1963 erschien allerdings auch ein Aufsatz von Jurij Karjakin, der nach K. Hielscher als „der erste Text in einer Linie aktualisierender [!] Befragungen des Werks von Dostojewskij“ bezeichnet werden kann, was zurück in die Zeit vor der Revolution führen sollte! 240 Im Verlauf der 1960er-Jahre kam es so zu einer neuerlichen Richtungswende, insofern sich das Interesse nicht mehr primär am künstlerischen

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Loc.cit. Sowohl Grossman wie Dolinin sind noch heute hoch geschätzte Dostojewskij Kenner. Grossmans Aufsatz erschien in Večernaja Moskva, 9. 02. 1956; Dolinins Aufsatz in Minsk in Litaratura i Mastatstwa, 11. 02. 1956. Der Antikommunismus, Dostojevskij und das Dostojevskijtum. In der Zs.: Probleme des Friedens und des Sozialismus. S. Hielscher, S. 9.

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Schaffen Dostojewskijs orientierte, sondern zunehmend eine ideologische Akzentuierung gewann. In diesem Zusammenhang sei auf eine Polemik verwiesen, die 1969 begann, als in der Zeitschrift Voprosy literatury (Probleme der Literatur) ein Aufsatz von Alexander Janow über die frühen Slawophilen und ihre nationalpatriotischen Ansichten erschien, die zur Bildung einer nationalen Ideologie geführt hätten. Es folgten Gegenargumente und darauf wieder eine Antwort Janows. Zugleich mit dem Entstehen einer neoslawophilen Strömung, die in dieser Polemik deutlich wurde und im übrigen Hand in Hand ging mit der wachsenden Popularität der Dorfprosa, zeigte sich ein erneutes und vertieftes Interesse für Dostojewskij den Schriftsteller, aber auch für die nationalrussischen Denker, die ihm gefolgt waren. Hier liegt der Beginn einer Entwicklung, die wieder zurück zu Dostojewskij, dem nationalen Propheten und Ideologen führen sollte! Man tendierte wiederum dazu, sein gesamtes Schaffen unter Einschluss der journalistischen Texte auf seine Aussagen über „Die Schicksale Russlands“ und „Die Zukunft der Menschheit“ hin zu befragen, wie es U. Guralnik 1971 formulierte. 241 So schrieb der namhafte Schriftsteller Jurij Trifonow in einem Aufsatz Rätsel und Prophetie Dostojewskijs zehn Jahre später: „Dostojewskij ist ein Zukunftsdeuter“, und nannte Die Dämonen „ein prophetisches Buch.“ 242 In den folgenden Jahren wurde dieser Roman Dostojewskijs zu dem am meisten diskutierten Werk seines Autors in Russland. Der ursprünglich als literarisches Pamphlet gegen die revolutionären Strömungen seiner Zeit geplante Roman bot sich in der Endzeit der kommunistischen Herrschaft dafür nicht zuletzt wegen seines ideologischen Inhalts an. Es wurde, wie Hielscher feststellt, „Thema und Ausgangspunkt aktueller, politisch-ideologischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen.“ Die bedeutendsten Vertreter des nun entstehenden „neorussophilen Nationalismus“ (Hielscher) waren Wadim Koschinow und der früh verstorbene Jurij Selesnow, die bereits ab Mitte der 60er-Jahre publizistisch tätig waren. Koschinow war schon damals ein markanter Vertreter der eben entstehenden neoslawophilen Richtung. 243 Der alte Ost-West Gegensatz in der Literatur lautet bei ihm so, dass die russische Literatur und

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Alexander Janov (engl. Yanov) veröffentlichte wenig später im amerikanischen Exil The Russian New Rightwing Ideologies in the Contemporary USSR. Berkeley 1978. Siehe Karla Hielscher: Von Marx zu Dostoevskij. MRM Verlag, Hagen 1987, S. 30, Anm. 49. In der Zeitschrift Molodaja gvardija der frühen 70er-Jahre lässt sich das Entstehen einer neoslawophilen Strömung erkennen (s. Hielscher, S. 20)! In Novyj mir, 11, 1981, deutsch in Sinn und Form, 3, 1982. S. seine Aufsätze O glavnom v nasledii slavjanofilov in Voprosy literatury 10, 1969, S. 113–131 und Nacional’naja literatura: prošloe ili buduščee. In: Literaturnaja gazeta, 30, 1969, S. 4.

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besonders Dostojewskij von einem „Gefühl der höchsten Verantwortlichkeit für alles“ gekennzeichnet seien, was Letzteren „über seine Zeitgenossen im Westen heraushebt.“ 244 Dies fände man nicht bei Balzac und Maupassant im Westen. Im Dostojewskij Jubiläumsjahr 1981 war es aus Anlass des 100. Todestages des Schriftstellers vor allem die Zeitschrift Naš sovremennik (Unser Zeitgenosse), in der die Vertreter der russophilen Ideologie zu Wort kamen. Wir stoßen wieder auf die alten Begriffe wie „Allmenschlichkeit“, nach Koschinow eine Grundqualität der russischen Literatur (!), und auf die Gegensätze von „Individuum“ (= Westen) und „Persönlichkeit“ („ličnost’“, = Russland), „Nation“ (= Westen) und „Volk“ („narod“, = Russland). Koschinows „Schüler“ Selesnow war Redaktionsmitglied der Zeitschrift Naš sovremennik und hat sich vor allem mit zwei Büchern über Dostojewskij profiliert. In der Welt Dostojewskijs (V mire Dostoevskogo, 1980) finden wir eine weitgehende Identifikation mit der Weltanschauung Dostojewskijs, der für ihn zum „Verbündeten und Mitkämpfer im heutigen Kampf der Ideen“ wird. 245 Seine Biografie Dostojewskij (1981) ist nach dem Muster einer Heiligenvita gestaltet, wie die Kapitelüberschriften und die religiöse, fast biblisch anmutende Sprache erweisen. Wir sehen, dass sich in der Zeit vom Beginn der kommunistischen Herrschaft bis hin zur „Wende“ das Dostojewskijbild grundlegend gewandelt hat: „Vom ‚Verräter‘ (Gorki: „ein böser Genius“, „eine krankhafte Erscheinung unserer Literatur“) über den „großen Opponenten Dostojewskij“ der späten 1950er- und 60er-Jahre kehren wir zurück zum „Kampfgefährten“ und zur „geistigen Leitfigur.“ 246 Wir sind also wieder beim Stand vor der kommunistischen Machtergreifung angelangt! Der Kreis schließt sich. Der alte Mythos vom Gottesvolk und seinem Propheten Dostojewskij fand Eingang in die Ideologie, die manche zeitgenössische Interpreten und Leser in Russland auszeichnet! Wie sieht es heute aus? Die Literatur zur Entwicklung einer neorussophilen bzw. neoslawophilen, nationalpatriotischen Ideologie ist groß und kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Man kann aber versuchen, die Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts an einigen Beispielen in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen. Hier seien beispielhaft einige Ereignisse aus jüngster Zeit genannt. Im Jahr 2003 lief in Russland eine zehnteilige Fernsehadaption des Romans Der Idiot, ein Drama, das von einem neutralen Beobachter aus der Schweiz als

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Kožinov in Tri šedevra russkoj klassiki. Moskau 1971 (Kap. „Prestuplenie i nakazanie“). V mire Dostoevskogo, S. 10. Hielscher, S. 102.

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„ein zwischen Sex, Crime und Hysterie schillerndes Filmwerk“ beschrieben wurde. 247 Es war ein großer Erfolg beim Fernsehpublikum und erhielt bald danach den als „rechtslastig“ bekannten Solschenizyn-Preis zuerkannt. Er galt als die wichtigste Premiere im Lande. In der Stadt Wjatka war kurz darauf der Roman Dostojewskijs ausverkauft! 248 In Moskau erschienen 2005 Die gesammelten Gedanken Dostojewskijs in einer luxuriösen Ausstattung mit Goldprägung, die an ein Gebetbuch erinnert. Der Verlag verkündete, dass der 600 Seiten starke Band einen Beitrag zur Wiederherstellung der prophetischen Gedankenwelt Dostojewskijs leisten möchte. Wie F. Ph. Ingold zusammenfassend festgestellt hat, will dieser Band Dostojewskijs Weltanschauung am Leitfaden der „russischen Idee, des orthodoxen Christusglaubens“, der „höheren Idee des Menschseins“, sowie der russischen Literatur als „eines Ausdrucks des Volkslebens“ dokumentieren. Im selben Verlag erschien 2006 der Band F. M. Dostojewskij. Das politische Vermächtnis. Eine Sammlung von Aufsätzen 1861–1881, herausgegeben von S. M. Sergejew, der das Vorwort „Unser nationale Prophet“ beisteuerte. 249 In diesen „heiligen Schriften der vaterländischen Literatur“ werden als Grundfragen russischen nationalen Denkens die Russische Idee, die Antinomien der russischen Seele, die globale Bedeutung der russischen Kultur, und besonders der historische Sonderweg Russlands u. ä. behandelt. In dem von ihm verfassten Nachwort behauptet Alexander Schumski, ein orthodoxer Geistlicher, „dass die gesamte Weltgeschichte und vor allem die russische Geschichte im Zeichen Dostojewskijs verlaufen“ seien. Weiters stellt er fest, dass sich die „Geschichte des 20. Jahrhunderts als präzise Projektion seines Schaffens“ erwiesen hätte. 250 Über dem Titel steht übrigens ein Motto, das sich im Inneren des Bandes auf jeder zweiten Seite wiederholt: „Ein philosophischer Bestseller.“ Ebenfalls im selben Jahr 2006 ist das über 300 Seiten starke Buch des auch in Deutschland bekannten Philosophen Arseni Gulyga Die Schöpfer der Russischen Idee in neuer Auflage erschienen. 251 Im Zentrum des Buches stehen neben Dostojewskij als Schöpfer dieses Begriffes seine Vorgänger und Nachfolger, die diesen Begriff mit Inhalt gefüllt haben. Zusammenfassend muss man feststellen, dass es so nicht überraschen kann, dass Dostojewskij

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So der Slawist Felix Philipp Ingold in seinen Beiträgen in der Neuen Zürcher Zeitung, die im Internet unter www.freitag.de/2006/44/06441701.php und www.nzz.ch/2005/05/07/fe/articleCQ41.8.html abzurufen sind. 248 Siehe Online: Vjatskij kraj, www.vk-smi.ru/june03. 249 Verlag Algoritm 2006. Hg. S. M. Sergejev. Siehe Anm. 247. 250 Anm. 247. 251 Arsenij Gulyga: Tvorcy russkoj idei. Molodaja gvardija, Moskau 2006. Auch unter dem Titel Russkaja ideja i ego tvorcy. Algoritm, Moskau 2003 erschienen.

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heute der meistpublizierte und diskutierte russische Klassiker ist. Dabei steht das Interesse an weltanschaulichen Fragen, zu denen sich Dostojewskij vor allem in seinen journalistischen Texten geäußert hat, im Vordergrund. Dazu einige weitere Beispiele: Alexander Dugin, der Sohn eines KGB Ofiziers, studierte Geschichte, engagierte sich in der radikalen Pamjat’-Bewegung der 1980er-Jahre und gründete 1993 zusammen mit dem Schriftsteller Limonow die Nationalbolschewistische Partei Russlands, aus der er fünf Jahre später wieder austrat. Im Jahr 2001 kam es schließlich zur Gründung der „Eurasischen Partei Russlands“, in der Dugin eine führende Rolle spielt. Er war der „shooting star der russischen Neuen Rechten“, wie ihn Markus Mathyl, Leiter des St. Petersburger DAAD-Informationszentrums, damals genannt hat. Als selbsternannter Philosoph ist Dugin ein dem Kreml nahe stehender Repräsentant des eurasischen Gedankens, seit 1998 auch Berater des Parlamentspräsidenten und vieler Abgeordneter. Er sieht in den Schriften Dostojewskijs das gesamte Programm des russischen Neokonservatismus, nach Ingold „eine hybride Kreuzung von Neofaschismus und Nationalbolschewismus“. 252 Dugin meint, dass die „zivilisatorischen Kodes“ Russlands und Europas einander vom Ursprung her feindlich gegenüberstünden, dass sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Diese Sicht teilt auch der Chef der russischen Kommunisten Gennadij Sjuganow, der mit Zitaten aus Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers vor einer Annäherung Russlands an Europa warnte und wie Dugin für eine Ausrichtung auf den asiatischen Osten plädierte! 253 So hat er bereits 1994 „die Rückkehr zu den uralten nationalen Werten, die notwendige Wiederherstellung der historischen Kontinuität in der Entwicklung des Landes, die Absage an den kämpferischen Atheismus … und an den Moloch ‚Weltrevolution‘“ verlangt! 254 Die konservative Zeitschrift Naš Sovremennik rief ganz in diesem Sinne dazu auf: „Wir sollten auf dem hochgemuten Weg zur Wiedergeburt Russlands Fjodor Dostojewskijs Vermächtnis und Voraussicht nicht vergessen.“ Dem stimmte auch Solschenizyn zu, der „Dostojewskijs gelobtes, unverlierbares Land“ als „geistige Zuflucht“ sah. Wie stellt sich Dostojewskij heute für die nationalpatriotisch gesinnte russische Literaturwissenschaft dar?

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S. Anm. 247. Zu Dugin siehe sein Buch Geopoliticheskoe buduščee Rossii (Die geopolitische Zukunft Russlands), das von Prof. John Dunlop (Hoover Institution) als „neo-fascist“ bezeichnet wurde! So F. Ph. Ingold in seinem Aufsatz Vor einer konservativen Revolution? Russische Debatten um Dostojewskij. In: NZZ, 7–8. 05. 2007. G. Sjuganov, Deržava. Moskau 1994, S. 127.

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Ich möchte mich hier stellvertretend für ähnliche Aussagen vor allem auf die bekannte Dostojewskij Forscherin Ljudmila Saraskina beziehen, die als junge Studentin in den 1970er-Jahren erstmals Dostojewskijs Roman Die Dämonen las und 1990 über diesen Roman ein Buch veröffentlichte. Sie steht der Wiederaufnahme utopischer, russophiler Ansichten, aber auch der gegenteiligen Position kritisch gegenüber. 255 Saraskina macht sich Dostojewskijs historiosophische Einstellung zu eigen, der hegelianische Gedanken über die Entwicklung des Bewusstseins und romantische Vorstellungen von der Entwicklung eines nationalen Bewusstseins zu Grunde liegen. Wie auch Dostojewskij geht sie davon aus, dass sich das „russische nationale Selbstbewusstsein“ erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hätte. Von da wäre es nur ein Schritt zum radikalen Nationalismus der gefürchteten „Schwarzen Hundertschaften“ („černaja sotnja“) am Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen. Der kommunistische Umsturz hätte dem ein Ende gemacht und im Namen eines proletarischen Internationalismus jegliche nationalistischen Bestrebungen unterdrückt. Darunter hätten die Russen als staatstragendes Volk im sowjetischen Vielvölkerstaat besonders gelitten. Die kommunistischen Führer hätten Saraskina zufolge „das einzige Imperium errichtet, in dem das staatsbildende Volk keinerlei Vorrechte vor den anderen Völkern gehabt, aber die wesentliche Bürde des Aufbaus des Staates getragen hätte.“ Hier klingt der beleidigte Stolz durch, den wir auch aus Dostojewskijs journalistischen Schriften kennen! Wohl im Hinblick auf die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Stalin’schen Terrors spricht sie von einem „russischen Holocaust“ und einer „russischen Katastrophe“. Als Resultat wäre das russische Volk am Ende der Sowjetherrschaft „die am stärksten denationalisierte [!] Ethnie aller Ethnien der Sowjetunion“ gewesen. Mit dem Zerfall der UdSSR hätte sich eine zweite Katastrophe zugetragen, durch die das russische Volk „das im höchsten Ausmaß aufgeteilte Volk der Welt geworden wäre“. 25 Millionen Russen lebten danach, wie Saraskina betont, außerhalb der Grenzen des neuen Russlands! Damit begründet sie, dass für dieses Russland eine neue Identität gefunden werden musste und rechtfertigt damit die von der politischen Führung von Jelzin bis Putin geförderte Suche nach einer neuen Idee für Russland, d. h. die Suche nach einer nationalen Identität, die, wie schon einst bei 255

L. Saraskina, „Besy.“ Roman-predupreždenie. Sovetskij pisatel’. Moskva 1990. Der Roman wird als Warnung vor der Revolution verstanden. Saraskina ist gut bekannt mit J. Karjakin. Ihr Aufsatz Instinkt vsečelovečnosti (K sporam o Dostoevskim) erschien in: Toefusa Kinosita (Hg.), XXI vek glazami Dostoevskogo: perspektivy čelovečestva. ID „Graal’,“ Moskau 2002, S. 46–58. Dieses Zitat wie auch alle folgenden stammen aus diesem Aufsatz, S. 48f.

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Dostojewskij, wiederum zu einer Frontstellung gegenüber „Europa“ und dem „Westen“ geführt hat. Darin liegt, meint Saraskina, „die neue Aktualität“ des Themas des nationalen Selbstbewusstseins, eines „Jahrhundertthemas“, für das sich schon Dostojewskij so eingesetzt hätte! Damit kommt sie auf die Russische Idee Dostojewskijs zu sprechen, in der sie eine Mittlerrolle Russlands zwischen Ost und West sieht. Die russische Intelligenz hätte auf diese „Idee“ in zweierlei Formen reagiert, die sie einerseits mit den so genannten Radikal-Nationalisten und andererseits den Radikal-Liberalen in Russland identifiziert, was angesichts der Vielfalt der intellektuellen Szene eine Reduktion auf ein Schwarz-WeissSchema bedeutet, das die Realität eher verzerrt. So zitiert sie missbilligend S. Obolenskaja, eine liberale Mitarbeiterin eines Instituts für Allgemeine Geschichte, die in ihrem Buch Russen und Europäer (1998) folgende nüchterne Betrachtung angestellt hat: „Das Verhalten Dostojewskijs gegenüber dem Westen, Europa, dem ‚Fremdartigen‘ gegenüber ändert sich im Prozess der Suche nach einer nationalen Identität. Man wird russisch durch die Verneinung des ‚Fremden‘, und der Messianismus der russischen nationalen Idee bei Dostojewskij lässt diese Ablehnung unversöhnlich und aggressiv werden, was sich überhaupt nicht vereinbaren lässt mit seiner These von der ‚Allversöhnung‘ und ‚Allmenschlichkeit‘ der Russen.“

Dostojewskijs Liebe zur Heimat (= Patriotismus) und seine Liebe zum Volk (= Nationalismus), schreibt Obolenskaja, „entwickelt sich bei dem Schriftsteller zur Gegenüberstellung Russlands anderen Staaten und Völkern, und das natürliche religiöse Gefühl, – zur Gegenüberstellung der russischen Orthodoxie allen anderen Glaubensbekenntnissen.“

Saraskina lehnt diese aus westlicher Sicht durchaus objektive Darstellung der Ideologie Dostojewskijs ab. Die radikal-liberale Kritik an Dostojewskij, der sie Obolenskaja zuordnet, fasst sie in fünf Punkten zusammen. Die RadikalLiberalen behaupten ihr zufolge: 1. Die Suche nach einer nationalen Identität hätte bei Dostojewskij und wiederum heute dazu geführt, dass der Westen „bespuckt“ und „verleumdet“, als Reich dargestellt wird, in dem Profit und Laster herrschen, das keine Ideale und keine Zukunft hätte. 2. Die Auffassung vom russischen Volk als „Gottesträgervolk“ hätte zur Verunglimpfung anderer, fremder Völker geführt, zu Judophobie, Polonophobie, Germanophobie, Europhobie. 3. Die Russische Idee gehe von der Unvereinbarkeit und Unmöglichkeit einer Versöhnung mit Europa aus. 4. Die Anhänger der Russischen Idee hassen, so wie auch Dostojewskij, normative europäische Vorstellungen. 5. Dostojewskijs Behauptung, die er in einem Brief an seinen Freund Maikow 1868 formulierte, „Alle sittlichen Begriffe und Ziele der Russen stehen höher als die europäische Welt“, und ähnliche Aussprüche 183

seien der Ausdruck eines extremen Chauvinismus und Nationalismus. Saraskina lehnt dies alles ab. Von den Radikal-Nationalisten sagt Saraskina, dass sie Dostojewskij den „utopischen Traum von einer universellen, alle Menschen umfassenden Vereinigung auf der Grundlage allgemeiner Liebe in Christus“ vorwerfen. Saraskina lehnt auch diese Einschätzung ab und kann augenscheinlich kein Anzeichen dafür erkennen, dass in den fünf Punkten der Radikal-Liberalen, bzw. dem Vorwurf der Radikal-Nationalisten möglicherweise auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Religiöse Zweifel und radikale Ideologien versteht Saraskina primär als Reaktion auf drei Ideen bzw. Ideologien des 20. Jahrhunderts, die nach ihr zu drei Katastrophen geführt hätten: Die Ideologie des Nationalstaates deutscher Prägung, die zum Holocaust geführt hätte, die Ideologie einer staatlich verordneten sozialen „Gerechtigkeit“ in Russland, die zum Stalinismus führte, und die Ideologie der liberalen Demokratie [!] in den USA, die in die Katastrophe von Nagasaki und Hiroshima mündete! Dahinter steht ihrer Ansicht nach der moralische Verfall einer von Gott abgefallenen Zivilisation, in der sich der Mensch der ihm von Gott auferlegten Verantwortung nicht mehr bewusst sei. Damit schließt sich der Kreis und Saraskina kehrt zu Dostojewskijs zentraler These zurück: Diese sieht sie in seinem Appell an die persönliche Verantwortung des Menschen für sein Tun und Handeln. Darin läge „die stärkste und unwiderlegbare, unveränderliche Seite seines literarischen und publizistischen Gedankengebäudes.“ 256 Diese „Korrektur“ Dostojewskijs an der Russischen Idee in seiner Publizistik „entziehe den Vorwürfen eines aggressiven Eiferertums durch die Betonung des Russischen den Boden.“ 257 Was nun kommt, klingt bekannt. Dostojewskij, meint sie, hätte das Volk keineswegs idealisiert, sondern nur seine Fähigkeit dargestellt, sich „das geistige Wesen“ aller Nationen zueigen zu machen, ohne dabei das „Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit“ aufzugeben. Was folgt, ist noch erstaunlicher: „Das sittliche Programm Dostojewskijs, in dessen Rahmen Russland der Welt sein neues, gesundes und noch nicht vernommenes Wort sagen wird, ist unwiderruflich [neotmenima] …“

Teil dieses Programms sei es, „das nationale Interesse als Teil allgemein menschlicher Aufgaben (obščečelovečeskich zadač) zu verstehen.“ Dies ist ein Echo von Worten Dostojewskijs aus dem Tagebuch eines Schriftstellers, in dem er seinen Glauben formulierte,

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Saraskina, S. 54. Ibid., „Obessmyslivaet upreki v agressivnom uvlečenii russkost’ju“.

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„dass unser erhabenes Russland an der Spitze der vereinigten Slawen der ganzen Welt, der ganzen europäischen Menschheit und ihrer Kultur sein eigenes, neues, gesundes und in der Welt bislang nie gehörtes Wort sagen wird.“

Die imperiale Tendenz wird von Saraskina ganz im Sinne von Dostojewskij auf die gegenwärtige Situation des neuen, postsowjetischen Russland angewendet. Sie spricht davon, dass das „globale Projekt der nationalen Renaissance“ alle Völker Russlands betreffe, denn die Lebensinteressen der Russen als staatstragendes Volk „fallen zusammen mit den Lebensinteressen aller Völker Russlands.“ [!] 258 Saraskina, die sich und ihre Landsleute als „unwürdige Schüler des Genies Dostojewskij“ sieht, beschließt ihren bemerkenswerten Aufsatz mit Worten Dostojewskijs aus seiner Puschkin Rede von 1880: „Ein echter Russe zu werden, ein in allem russischer Mensch, heißt doch vielleicht bloß ein Bruder aller Menschen, ein Allmensch [vsečelovek] zu werden … das russische Herz ist vielleicht von allen Völkern am ehesten für die universale, allmenschliche brüderliche Vereinigung vorherbestimmt.“ 259

Hier treffen wir wieder auf die alte romantische, russophile Utopie, der es hier auch nicht an einem imperialen Unterton und einer gewissen Überheblichkeit mangelt. Dass Saraskina die imperiale Dimension betont ist kein Zufall. Professor Natalja Narotschnizkaja, eine Spezialistin für internationale Beziehungen und Vorsitzende einer Parlamentskommission zum Studium der Menschen- und Minderheitsrechte im Ausland, hat sich in einem Zeitungsinterview im November 2007 wie folgt geäußert: „Nehmen wir Europa – das ist ein Völkerfriedhof, denn dort, wo jetzt Franzosen und Deutsche leben, haben einst Dutzende Völker gelebt. Bei uns sind sie alle erhalten.“ Zu dem Verhältnis von Russen und Minderheiten im postsowjetischen Russland stellt sie fest: „Aber aus irgendeinem Grund hat man gerade bei uns nur die Russen gezwungen russische Bürger [Rossijane] zu sein, und allen anderen ist es erlaubt zugleich russische Bürger [Rossijane] zu sein und ihr ethnokulturelles Wesen fortzuführen. Wissen Sie, Demokratie, das ist sicherlich der Schutz der Minderheiten. Aber auch die Minderheiten müssen wissen, dass die Demokratie ihnen nicht das Recht gibt, die Mehrheit zu beleidigen!“ 260

Wie sehr die Sicht auf Dostojewskij heute ideologisch verengt sein kann, illustriert die etwas simplistische, sich geschichtsphilosophisch gebende Dar-

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Saraskina, S. 57. Saraskina, S. 58. Argumenty i fakty, Nr. 47, November 2007, S. 4.

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stellung des Verhältnisses von russischem Volk (narod) und Dostojewskij’scher Utopie in einer Publikation von Karen Stepanjan, dem Herausgeber des Almanachs der Russischen Dostojewskij Gesellschaft Dostojewskij und die Weltliteratur. Seit 2005 ist er übrigens auch „Regional Coordinator“ der International Dostoevsky Society (IDS). 1992 erschien von ihm ein schmaler Band von 96 Seiten mit dem Titel Dostojewskij und das Heidentum (Welche Prophezeiungen Dostojewskijs haben wir nicht gehört und warum?). Stepanjan vertritt eine ausgesprochen orthodoxe Sicht, wie sie jedoch in Russland von heute eine Rolle spielt. Seine These ist einfach. In der gesamten Weltgeschichte sieht er nur zwei gegensätzliche Strömungen: Heidentum und Christentum. Schon Dostojewskij meinte, dass das moderne Europa „nun vollkommen heidnisch sei“ und „diese ‚unlösbaren‘ politischen Fragen unbedingt zu einem endgültigen politischen Kriege führen, in den alle verwickelt sein werden und der noch in diesem Jahrhundert, vielleicht schon im beginnenden Jahrzehnt ausbrechen wird.“ 261 In diesem Zusammenhang klingen Dostojewskijs Worte besonders bedrohlich: „Nach 15 Jahren wird man vielleicht nicht mehr mit Gewehren, sondern mit irgendeinem Blitz, irgendeinem allverbrennenden elektrischen Strome aus einer Maschine schießen. Was können wir aber auf diesem Gebiete erfinden, um es als Überraschung für unsere Nachbarn aufzusparen?“ 262

Stepanjan stellt fest, dass das Heidentum ursprünglich nach der Etablierung der Kirche in den Untergrund der Gesellschaft abgesunken, aber nie wirklich verschwunden wäre. Auch nicht in Russland! Die originäre Lehre Christi hätte sich zwar in der orthodoxen Kirche, und nur da, erhalten – die westlichen Kirchen hätten sich davon entfernt. Dies hätte zu Sozialismus und Kommunismus geführt, was er als „Rückkehr zu einem Neuheidentum“ bezeichnet. Dieses evolutionäre Schema wird mit ausführlichen Zitaten aus Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers belegt. Vom russischen Volk meint er, dass es ein überaus ausgeprägtes Wahrheitsempfinden hätte und letzten Endes stets Lüge und Täuschung als solche erkennen würde. Dass es sich dennoch für Kommunismus und Diktatur begeistern konnte, erklärt er mit einer Art Verschwörungstheorie, der das „Volk“ zum Opfer fiel. Er verweist dabei auf Dostojewskijs mitunter sehr negative Aussagen über das Volk: „Die Moral im Volk ist erschreckend …“ (1864); „was für eine idolatrische Verbeugung vor dem Materialismus … man tötet, um jemandem einen Rubel aus der Tasche zu ziehen …“ (1876) und seine kritischen Äußerungen 261 262

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Zit. Harry Harvest (Hg.): Dostojevski und Europa. Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers. Rotapfel Verlag, Zürich 1951, S. 137. Harvest, S. 116f.

über die Kirche: „Sie ist paralysiert …“ „die Geistlichkeit antwortet schon lange nicht mehr auf die Fragen des Volkes …“. Nach Stepanjan verlor das Volk seine orthodoxen Wurzeln und versank auf Grund dieser Einflüsse in ein Neuheidentum. Der Hingabe an die Lüge und das Böse in den siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft stellt Stepanjan die übergroße Leidensfähigkeit des Volkes gegenüber und kann sich auch da auf Aussprüche Dostojewskijs berufen. Stepanjan verschließt nicht die Augen vor Dostojewskijs imperialistischen Anwandlungen und seinen kritischen Aussagen über Polen, Juden, Deutsche, etc. All dies schreibt er aber dem Einfluss der Epoche zu und verweist im Gegenzug auf Dostojewskijs Puschkin Rede von 1880 mit ihrer Betonung der „Allmenschlichkeit, Versöhnung und Brüderlichkeit“. Dostojewskij ist „der christlichste Schriftsteller Russlands (und ich glaube, auch der Welt).“ 263 Am Ende des etwas wirr klingenden Büchleins verweist Stepanjan auf Dostojewskijs Definition des Weges, den die Menschheit insgesamt und jeder Einzelne zu gehen hätte, „den Weg der Befreiung von Feindschaft und dem Bösen, das Feindschaft gebiert. Und dorthin gibt es nur einen Weg – die Teilhabe am Göttlichen Prinzip im Menschen selbst. ‚Nur auf dem Fundament Christi werden wir uns versöhnen‘.“

Der derzeit wohl führende Vertreter einer christlich orthodoxen Lesart Dostojewskijs ist Wladimir Sacharow, Vizepräsident der russischen Dostojewskij Gesellschaft und zugleich langjähriger Vizepräsident der International Dostoevsky Society. Er hat unter anderem Aufsätze und Bücher zum Thema „das Evangelium in der russischen Literatur“ herausgegeben. Das folgende Zitat bildet den Schluss seines Aufsatzes Dostojewskij über die Zukunft Russlands. Sacharow stellt die Frage: „Gibt es eine Zukunft Russlands außerhalb der Orthodoxie“, und antwortet: „Dies ist eine rhetorische Frage. Ohne Gott und Christus gibt es für Russland nur ein Ende – das Verschwinden im Nichts. Wollen wir ein solches Finale für unsere tausendjährige Geschichte? Dostojewskij ist kategorisch: Die Zukunft Russlands außerhalb der Orthodoxie ist undenkbar.“ 264

Dies variiert eine Aussage Dostojewskijs aus seinem Brief an N. Ljubimow vom 11. Juni 1879, in dem er schreibt, dass „das Christentum die einzige Zuflucht des Russischen Landes [wörtlich: der Russischen Erde] von allen Übeln ist.“

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Karen Stepanjan: „Soznat’i skazat’,“ „Realizm v vysšem smysle“ kak tvorčeskij metod F. M. Dostoevskogo. Moskau, Raritet 2005, S. 101. XXI vek glazami Dostoevskogo: perspektivy čelovečestva, S. 322.

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Hinter Sacharow und seiner apodiktischen Feststellung steht aber nicht nur Dostojewskij, sondern auch Präsident Putin, der 2001 bei einem Besuch des Klosters Solowki mit dem russischen Patriarchen vom „Heiligen Russland“ sprach, das sich „freiwillig als Hüterin der wahren christlichen Werte“ verstehe und hinzufügte: „Ohne den orthodoxen Glauben, ohne die auf diesen Glauben gegründete Kultur könne Russland nicht existieren.“ Am Rande sei dazu bemerkt, dass das russische Religionsgesetz von 1997, betitelt „Über Gewissensfreiheit und religiöse Assoziationen“ neben der Orthodoxie auch den Islam, den Buddhismus und das Judentum als „traditionelle Religionen Russlands“ festgelegt hat! Alle drei hier genannten Interpreten sind führende Vertreter der russischen Dostojewskij-Forschung. Sie treffen sich in einem Punkt, der seinen Ursprung in Dostojewskijs messianischem Verständnis der Bestimmung Russlands hat als eines „von Gott auserwählten Volkes“ (izbrannyj božij narod). Dies wiederum ist ein zentraler Teil der Russischen Idee, wie sie Dostojewskij verstand! 265 Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass schon Dostojewskij eine Wiederkehr des „Heidentums“ zu sehen meinte. Man muss dazu allerdings feststellen, dass es auch abweichende Meinungen gibt, die sich gegen eine Verengung der Interpretation auf den christlich orthodoxen Ideologen Dostojewskij wenden. So hat sich der Moskauer Professor Iwan Esaulow in einem Vortrag 2007 deutlich von einer „besonderen ‚religiösen Philologie‘“ distanziert. 266 Igor Wolgin, Präsident der Russischen Dostojewskij-Gesellschaft und ebenfalls Vizepräsident der IDS hat sich in einem Interview schon 2001 seinerseits ebenfalls von Interpreten, die er als „unsere neuesten Christen“ bezeichnet, distanziert: „Wenn früher der christliche Geist [duch] Dostojewskijs entstellt und in Klammern gesetzt wurde, so hat sich jetzt ein anderes Extrem herausgebildet. Man beeilt sich, ihn in … einen begabten Kommentator von Evangeliumstexten zu verwandeln. Es versteht sich, dass Dostojewskij ein christlicher Schriftsteller ist. Aber vor allem ist er Schriftsteller. Er existiert als Autor (chudožnik) außerhalb kirchlicher Mauern. Er ist

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Laut der Studie von Bettina Sieber: „Russische Idee“ und Selbstthematisierung der Russen in der öffentlichen Diskussion 1985-1995. Bochum 1998, sind allein in dem einen Jahrzehnt zwischen 1985 und 1995 über 200 Artikel und Aufsätze über die Russische Idee erschienen. 1992 erschien im Moskauer Verlag Respublika der Band Russkaja ideja (Anthologie), hg. von M.A. Maslin, der auch das Vorwort verfasste. Im Jahre 2006 erschien in St. Petersburg in Neuauflage auch das Buch des Philosophen Arseni Gulyga Die Schöpfer der russischen Idee (Tvorcy russkoj idei), 316 S., das bereits 2003 unter dem Titel Die russische Idee und ihre Schöpfer erschienen war. 13th Symposium of the International Dostoevsky Society. Budapest 2007 (Abstracts), S. 78.

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mit der Orthodoxie keinesfalls kanonisch, sondern auf künstlerische Weise verbunden.“ 267

Wie Jutta Scherrer (Paris) feststellt, hat Dostojewskijs Russische Idee eine Renaissance im Russland von heute gefunden – sei es als Metapher für die Bestimmung des russischen Volkes und die psychischen und geistigen Eigenschaften der „russischen Seele“, sei es als Deutung des Wesens und der Bedeutung der Existenz Russlands in der Welt. Diese Idee sei, wie Scherrer betont, zu einem veritablen Denkstil geworden und zur Grundlage historiosophischer und „kulturologischer“ Untersuchungen. 268 Historiosophie als Bezeichnung für geschichtsphilosophische Studien stammt übrigens aus der Epoche der Romantik, im Jahr 1837 erschien in Berlin das Buch Prolegomena der Historiosophie von August v. Cieszkowski. Oswald Spengler hat in seiner bekannten Studie über den Untergang des Abendlandes (1918–22) die Russische Idee auf seine Weise in ein historiosophisches Geschichtsverständnis eingebaut. So schrieb er: „Dostojewskij ist ein Heiliger … Dem Christentum Dostojewskijs gehört das nächste Jahrtausend … Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskijs … Er ist selbst ein Stück Dostojewskij.“ 269 Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass unlängst fast gleichzeitig eine deutsche Neuauflage dieses zweibändigen Werks in Düsseldorf und eine einbändige kommentierte russische Übersetzung als „Anthologie des Denkens“ in Moskau erschienen sind! Gilt Spengler im Westen als Prophet eines kommenden Untergangs Europas, so wird er in Russland sehr viel positiver gesehen, hätte er doch aus geschichtsphilosophischer Sicht für das dritte Jahrtausend einen eigenständigen russisch-sibirischen, sprich eurasischen Kulturtypus vorhergesagt! Dies wird heute von den Repräsentanten des „Eurasismus“ in Russland gefordert, die ihre eigene Definition der Russischen Idee entwickelt haben. K. Gadschiew schreibt:

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Gazeta Kul’tura, Nr. 46–47, S. 6–19. (12. 2001); www.kultura-portal.ru (Igor Volgin - o Meždunarodnom simpoziume “Dostoevskij…“). Die These, dass die Russische Idee Russlands Eintritt in die Moderne verhindert hätte, vertritt Tim McDaniel in seinem lesenswerten Buch The Agony of the Russian Idea, Princeton, N. J. 1996! Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Düsseldorf 2007 (Erstpublikation 1923), S. 793f.

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„Die russische Idee ist zum großen Teil die russländische Idee und ihr existentieller Inhalt ist die Multiethnizität, die organische Koexistenz der verschiedenen Völker, Kulturen, Traditionen, Konfessionen.“ 270

In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass sich laut Meinungsforschungsinstitut Lewada 71 Prozent der Russen auch gar nicht als Europäer betrachten! Russland sei ein „eurasischer Staat“, sozusagen ein eigener Kontinent. 271 Was den „Eurasismus“ betrifft, so ist ein Aufsatz Dostojewskijs von Interesse, der im Januar 1881, dem Todesjahr Dostojewskijs, im Tagebuch eines Schriftstellers erschien. Dort hat er sich ausführlich über die Bedeutung Asiens für Russland geäußert. Der Anlass war die Eroberung der turkmenischen Festung Geok-Tepe durch General Skobelew. Dostojewskij zeigt sich als Nationalist und verlangt, dass Russland auf diesem Weg nicht stehen bleiben dürfe. Er spricht von der „zukünftigen Eroberung Asiens“ und erläutert seinen Lesern den Grund dafür. „Wir brauchen sie, weil Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liegt; weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist … in Asien liegen vielleicht noch mehr unsere Hoffnungen als in Europa. Und ich sage noch mehr: vielleicht ist Asien in unseren zukünftigen Schicksalen der wichtigste Ausweg!“

Er spricht von der „zivilisatorischen Sendung“ Russlands, von einem neuen Russland, das dort entstehen würde, denn „überall, wo sich in Asien der Russe niederlässt, wird das Land sofort russisch.“ Er nennt Asien geradewegs die „Hoffnung unserer Zukunft“ und ist der Überzeugung, dass „dort unser Reichtum und unser Ozean liegt.“ 272 In diesem Sinne kann man den Ideologen Dostojewskij auch als einen Vorläufer der eurasischen Bewegung bezeichnen, die in den 1920er-Jahren entstand und nach der Wende wieder auflebte! Kehren wir jedoch zur Historiografie zurück. Schon Wladimir Solowjow hatte in seiner Rede über L’idée russe in Paris 1888 eine russische, historiosophische Definition des Begriffs Nation gegeben, die die Russische Idee in der Transzendenz verankert: „Die Idee einer Nation besteht nicht darin, was die Nation von sich denkt in der Zeit, sondern was Gott von ihr in der Ewigkeit denkt.“ Der vom Marxismus zum Religionsphilosophen gewandelte Nikolai Berdjajew hat in seinem Pariser Exil

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Rossija i Vostok. Moskau 1995, zit. nach Scherrer: Kulturologie. Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, S. 145. Zeitungsmeldung vom 24. 02. 2007. Zit. nach D. Tschižewskij u. D. Groh (hg), Europa und Russland. Darmstadt 1959, S. 506 u. 511.

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1946 diesen Gedanken weitergeführt. So sagt Berdjajew, er wäre nicht an den empirischen Fakten der Geschichte interessiert, sondern vielmehr daran, was Gott mit Russland beabsichtige. Wasilij Zenkowskij, namhafter Philosoph und Autor einer Geschichte der Philosophie in Russland, schrieb 1953 in der Emigration auf ähnliche Weise von den „spirituellen Gegebenheiten des [nationalen] Erbes“ und den „nationalen Besonderheiten“ Russlands. Die Anfang der 1990er-Jahre in Russland eingeführte neue Disziplin der Kulturologie, die übrigens 1992 als Pflichtfach für erstsemestrige Studenten an allen Hochschulen eingeführt wurde, hat vielfach laut Scherrer „das russische religiöse Denken zu ihrem neuen Credo gemacht und in ihrer historiosophischen Variante an die Stelle des historischen Materialismus gesetzt.“ 273 Die heutigen Kulturologen greifen mit Vorliebe auf Sinnkonzepte der erwähnten religiösen Denker zurück! Der Moskauer Historiker Jurij Afanasjew, einst Rektor der staatlichen russischen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau und Leiter des Staatsinstitut für Geschichte und Archive, hat für das besondere Verständnis der Geschichte in historiosophischen und kulturologischen Studien eine paradoxe Formel gefunden: „Russland ist ein Land mit einer unvorhersehbaren Vergangenheit!“ Dies führe zu einer „erfundenen Geschichte“, da die Geschichte jeweils nach der herrschenden, historiosophisch orientierten Sicht umgeschrieben wird. Diese „erfundene Geschichte“ sei hochgradig emotional besetzt, eine Frage des Glaubens und der Einbildung, in der rationale Argumente keinen Platz hätten. Sie verhindere letztlich, wie er meint, das Entstehen einer Zivilgesellschaft. „Wir leben mehr mit der Erinnerung als mit der Geschichte, mehr mit Gefühlen als mit Gedanken.“ Afanasjew verlangt demgegenüber eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die allerdings einen rationalen Umgang mit Geschichte erfordere, der sei aber heute nur auf Forschungsstätten beschränkt. 274 Der angesehene Historiker Wladimir Buldakow hat unlängst (2007) dasselbe deutlicher formuliert: „Die Geschichte wird immer wieder umgeschrieben. In Russland sind es die Machthaber, die jeweils neue Geschichtsfassungen erstellen, nicht die Experten.“ 275

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J. Scherrer: Kulturologie. Siehe auch ihren Aufsatz Ideologie, Identität, Erinnerung, in: Osteuropa, 2004, S. 33. Eine neuere Publikation zu diesem Thema ist: Kul’turologija. Enciklopedija. v 2-ch tt. Red. S. J. Levit. Moskau, Rosspen 2007. Es ist bezeichnend, dass 1.146 neue kulturologische Schriften allein im Jahre 1999 erschienen sind! S. Scherrer: Kulturologie, S. 17. Zit. im Standard (Wien) vom 10./11. März 2001: Der russische Mythos: Fortsetzung folgt. Das Erbe wird aufpoliert. Ein SPIEGEL Streitgespräch. In: Experiment Kommunismus. Die Russische Revolution und ihre Erben. SPIEGEL Special, Nr. 4, 18. 12.

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Der Journalist Andrei Lipskij schrieb in der Novaja gazeta, einer der wenigen noch existierenden kritischen Zeitungen in Russland: „Zwanzig Jahre nach der Perestrojka werden wir zu Bürgern eines Landes mit unvorhersehbarer Vergangenheit … Der Kreml, das Außenministerium, der gesamte Apparat betreiben eine organisierte Kampagne zur Falsifizierung der Fakten.“ 276

Das von Präsident Putin lancierte Staatsprogramm zur Verbreitung der „patriotischen Geschichte“, verbunden mit der Russischen Idee, kann als Beispiel für den Umgang mit der Geschichte gelten. Es entspricht dem ersten Regierungsprogramm Putins, in dem man bereits lesen konnte, dass nur eine für alle verbindliche nationale Idee, die Russische Idee, die Spaltung der Gesellschaft überwinden könne! Heute führt die für Russland neue Disziplin der Kulturologie die traditionelle Historiosophie weiter, in der einer der Schwerpunkte eben die Russische Idee und die darin begründete Sicht der Geschichte ist. Galina Swerewa, die einst Wissenschaftlichen Kommunismus lehrte, leitet nun ein Institut dieses Namens an der Staatlichen Russischen Universität für Geisteswissenschaften (früher: Russische Offene Universität) in Moskau. Sie spricht, wie auch andere, von „außerhistorischen Universalien“, d. h. alten, aber immer noch lebendigen Begriffen der russischen Geschichte. Sie unterlägen heute einer semantischen Transformation („peresemantizacija“), die sie der gegenwärtigen Epoche anpasse. Ein bekannter St. Petersburger Priester, Vater Wenjamin Nowik (Otec Venjamin), sprach 1999 ganz in der historiosophischen Tradition vom „göttlich bestimmten Sinn der russischen Geschichte.“ 277 Es ist nicht uninteressant und sei deshalb abschließend erwähnt, dass der russische Historiker und Ökonom A. S. Achiezer ein „zivilisatorisches Konzept“ (Scherrer) ausgearbeitet hat, das in dem Zusammenhang dieser Überlegungen zu Dostojewskijs „Nachfolger“ von Bedeutung ist. Er sieht eine Besonderheit der russischen Geschichte in periodischen „Inversionszyklen“, die er als globale, die gesamte Gesellschaft erfassende Umkehrungen der bisher geltenden Wertsysteme beschreibt. Sie passierten immer wieder in der Geschichte Russlands und stellten seiner Meinung nach eine immanente Gesetzmäßigkeit dar. 278

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2007, S. 143. Vgl. damit auch den neuen, im Sommer 2007 veröffentlichten Leitfaden für Geschichtslehrer in Russland! Profil (Wien), H. 20, 13. 05. 2005. S. Venjamin Novik, Pravoslavie. Christianstvo. Demokratija. St. Petersburg 1999, S. 168. Scherrer: Kulturologie, S. 118–121.

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Unzweifelhaft ist allerdings ein Aspekt, der vom Historiker Afanasjew bereits angesprochen und vom Kölner Professor Gerhard Simon in seiner umfassenden Analyse der Wendezeit in Russland im Aufsatz Zukunft aus der Vergangenheit. Elemente der politischen Kultur in Russland detailliert dargestellt wurde. Simon spricht von einem nach rückwärts gewandten Blick, der die Zukunft in der Vergangenheit suche und Politik wie Philosophie und gesellschaftliches Leben charakterisiere! Christiane Uhlig nennt dies den „Versuch einer rückwärtsgewandten Identitätsgewinnung“, was seit der Romantik in den slawo- und russophilen Utopien deutlich wurde und vielleicht auch die These einer spezifisch russischen Mentalität stützen mag? 279 Wie weit dies gehen kann, mag der folgende Bericht über eine in den 1970erund 80er-Jahren diskutierte Sekte zeigen! Es handelt sich um die literarisch und religiös inspirierte Sekte der „Puschkinianzy“, abgeleitet von Puschkin. Ihre Anhänger sehen doch tatsächlich in dem nicht nur von Dostojewskij hochverehrten Dichter die Inkarnation eines „hellen Sonnengottes, der im nördlichen Lande geboren und inmitten des Schnees getötet wurde.“ Die „Allmenschlichkeit“, von der Dostojewskij so eindrucksvoll sprach, ist auch bei ihnen die wesentliche Eigenschaft des Russen und ihre Verkörperung und ewiges Abbild ist eben Puschkin. 280 „Der russische Allmensch umfasst und versöhnt alles Menschliche in sich. … Ein solcher Allmensch ist Gott in der Fülle seiner Potenzen, der sich noch nicht von der von ihm geschaffenen Realität getrennt hat, von einer gefallenen Welt und einem in die Irre gegangenen Menschen.“ 281 So heißt es denn auch: „Die poetische Gabe Puschkins – das ist das Mysterium des Mensch gewordenen Logos.“ Der russische „Allmensch“ wird von der Sekte als eine Gottheit verehrt, die sowohl das Gute wie das Böse in ungeteilter Form in sich trägt und sich in der Person Puschkins inkarnierte. Können wir dergleichen Phänomene vielleicht als Ausdruck einer besonderen Mentalität begreifen, die in Russland existiert und über die Literatur hinaus bis in weltanschauliche, religiöse und politische Bereiche gedrungen ist? Bleibt damit die Frage zu Dostojewskij, die sich nicht nur auf ihn, sondern mehr noch auf manche seiner Nachfolger beziehen lässt und am Beginn des

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Christiane Uhlig, Nationale Identitätskonstruktionen für ein postsowjetisches Russland. In: Osteuropa 12, 1997, S. 1197. Lazari, S. 199; M. N. Epstein, Novoe sektanstvo. Tipy religiozno-filosofskich umonastroenij v Rossii (1970-80-gody). Holyoke (Mass.), New England Publishing Co. 1993 und Moskau, Labyrinth 1994! Zit. nach Ivarr’s journal: www.ivarr.livejournal.com/18608.html und Epstein: www.philosophy.ru/library/epstein/02/ und www.old.russ.ru/antolog/intelnet/ns.lit1.html

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Bandes gestellt wurde, „Eine pathologische Erscheinung oder ein Heiliger?“, auch weiterhin aktuell?

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2.

Mord in Moskau: Ein postsowjetischer Raskolnikow. Makanins Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit

Makanins Roman (1998) 282 ist nicht nur eine kritische Auseinandersetzung des Helden und damit auch des Autors mit seiner Zeit, d. h. der Ära Gorbatschow und Jelzin, sowie den Folgen der vorangegangenen Ära Breschnew, sondern auch eine pointierte Auseinandersetzung mit einigen Werken der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. An erster Stelle ist Dostojewskij mit seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund zu nennen. Das Wort „Untergrund“ ist Teil des Romantitels Makanins und taucht auch immer wieder auf den Seiten des Romans auf, ebenso der Roman Schuld und Sühne. Gleichfalls wird im Romantitel Makanins auf Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit verwiesen. Zum besseren Verständnis des Romans Makanins seien einige Vorbemerkungen vorangestellt. Das Plot Der Roman des 19. Jahrhunderts in Russland beruht auf einem strukturierten plot – ich verwende den englischen Begriff, da er von Makanins Held selbst gebraucht wird, wie noch zu sehen sein wird –, einem plot, das absichtsvoll, so wie es sich im Text entfaltet, vom Autor konstruiert wurde, um es ihm zu ermöglichen, seine Vorstellungen, Ideen und „Botschaften“ dem Leser möglichst plausibel und eindringlich zu vermitteln. Mit Lebenswirklichkeit hat das plot streng genommen wenig gemein, selbst wenn sich der Autor einiger Elemente, Ereignisse, Personen, etc. daraus bedient. Der postmoderne Roman Makanins besitzt allerdings kein plot im Sinne des Romans des 19. Jahrhunderts, sondern ersetzt dies durch eine ungeordnete Abfolge von eher zufälligen Ereignissen und Bekanntschaften zwischen Personen, die erst im Kopf des Ich-Erzählers zu so etwas, wie einem plot, das allerdings ständiger Veränderung ausgesetzt ist, verarbeitet werden. Mord bei Dostojewskij Dostojewskij war der erste Schriftsteller in Russland, der Mord zu einem wichtigen Thema seiner Romane machte und damit oft als einer der Begründer des Kriminalromans genannt wird. In drei seiner „fünf großen Romane“ ist Mord nicht nur ein zentrales, handlungsbestimmendes Motiv, sondern zu-

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Deutsche Übersetzung: Wladimir Makanin: Underground oder Ein Held unserer Zeit. Luchterhand 2003 (der russische Titel lautet: „Andergraund, ili Geroi našego vremeni“). Seitenangaben zu Zitaten, wie auch bei anderen hier zitierten Autoren, finden sich im Text.

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gleich die thematisch bedeutsamste Komponente im Ideengebäude dieser Romane. In Schuld und Sühne (Verbrechen und Strafe in der neuen Übersetzung des Titels von Svetlana Geyer) mordet Raskolnikow. Geplagt von seinem Gewissen gesteht er die Tat der frommen Prostituierten Sonja, die ihn zu einem Schuldeingeständnis motiviert, allerdings erst nach lang andauernder Verfolgung durch den Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch, der belastende Indizien sammelt und in seinen zermürbenden Verhören, die einem Duell gleichen, auf Psychologie setzt. Letztlich ist es jedoch das Gewissen als höchste moralische Instanz, das Raskolnikow zum Schuldbekenntnis führt. Im Idiot ist die Situation komplexer, doch auch hier ist das plot so gestaltet, dass es unausweichlich zum Mord an Nastasja Filipowna, der Exmätresse des reichen Totskij, führt, die von ihrem Liebhaber, dem Kaufmann Rogoschin, getötet wird. Fürst Myschkin, sein Rivale um die Liebe der sinnlich betörenden Frau, fällt zurück in geistige Umnachtung, als er realisiert, wozu seine Liebe geführt hat. War der Mord in Schuld und Sühne ein Versuch des Helden, sich als „Übermensch“ zu bestätigen, dem Töten erlaubt ist, so ist der Mord im Idiot die Folge sinnlicher Leidenschaft, die sich der Fürst allerdings nicht einzugestehen wagt und als „Mitleid“ begreifen möchte, womit er zum Mitschuldigen am Verbrechens wird. Seine geplante Verehelichung mit Nastasja Filipowna ist also nicht durch Liebe, sondern eine als Mitleid maskierte Leidenschaft motiviert. Dostojewskij „bestraft“ alle drei involvierten Personen: Rogoschin wird zum Verbrecher, Myschkin kommt in die Nervenheilanstalt, Nastasja wird getötet. In den Brüdern Karamasow, seinem letzen Roman, betrifft der Mord die gesamte Familie Karamasow. Dostojewskij gibt hier nicht nur eine allegorische Darstellung der Genealogie eines jeden Mordes, 283 sondern verurteilt zugleich sexuell motivierte sinnliche Begierde (s. Vater Fjodor Pawlowitsch und Sohn Dmitrij), rationell kalkulierende Berechnung (Sohn Iwan) und von Gier motiviertes Lakaientum (illegitimer Sohn Smerdjakow). Im ersten und im letzten dieser drei Romane spielt die Justiz eine eher klägliche Rolle: Im ersten Roman kann Porfirij Petrowitsch den Mord nicht beweisen, im dritten Roman fällt das Gericht ein eklatantes Fehlurteil. Im Idiot geht Dostojewskij erst gar nicht auf weltliche Gerichtsbarkeit ein. In allen drei Romanen interessiert den Autor vorzüglich das, was im Inneren seiner Helden vor sich geht. Mord als Verstoß gegen das

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Vgl. bei H.-J. Gerigk: Die Russen in Amerika. Pressler Verlag 1995, S. 207ff.

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Sittengesetz und damit gegen den Willen Gottes, der sich im Gewissen manifestiert, hat schwerwiegende Folgen für den Menschen. 284 Das Duell bei Lermontow Lermontow zeichnet in seinem Roman ein Porträt eines Vertreters seiner Generation, das die Stärken und vor allem die Schwächen, die sie kennzeichnen, widerspiegelt. Petschorin, der „Held unserer Zeit“, tötet in einem Duell einen Rivalen um die Liebe einer schönen Frau. Nach diesem Duell erklärt er der Geliebten, die ihn tief liebt und aus Angst um ihn einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte: „Sie wissen, dass ich nur meinen Spaß mit Ihnen getrieben habe … Sie müssten mich verachten.“ 285 Der „Held seiner Zeit“ hadert mit seinem zerrissenen und unglücklichen Ich, und beklagt seinen ihm vom Schicksal verliehenen Charakter. Von Reue über den Tod des Duellgegners ist allerdings nirgendwo die Rede. Zwei seiner Aussprüche lassen sich auch auf Makanins Romanheld beziehen: „Nachdem ich die Welt und die Triebfedern der Gesellschaft genugsam kennen gelernt hatte, ward ich ein Meister in der Kunst zu leben.“ Als er jedoch auch so kein Glück im Leben findet, verzweifelt er: „Ich wurde nach und nach zu einem moralischen Krüppel.“ (Lermontow, S.139) Was ihm bleibt, ist eine narzistische, egomanische Sucht nach Befriedigung der Wünsche und Begierden, die sein Ich produziert! In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts spielt das Duell im Leben wie in der Literatur eine wichtige Rolle. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die realen Duelle, in denen sowohl Alexander Puschkin, der größte russische Dichter, wie auch Lermontow selbst tödliche Verletzungen erlitten. Die Bedeutung von Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit für Makanin wird dadurch unterstrichen, dass sich der Titel im Titel von Makanins Roman wieder findet! Zu erwähnen ist, dass das Duell im Gegensatz zum Mord ein vorgegebenes plot hat, das so strukturiert ist, dass die Vorgänge nach festen Regeln ablaufen und damit, könnte man sagen, das Gewissen der Beteiligten entlasten.Vom Standpunkt konventioneller Moral ist das Töten im Duell allerdings die Umkehrung der Situation bei einem Mord: Bei Mord bekommt es der Mörder mit seinem Gewissen zu tun, was kaum jemand so einprägsam geschildert hat wie Dostojewskij; der siegreiche Duellant, der seinen Gegner getötet hat, braucht hingegen nicht nur keine Gewissensbisse zu haben, er kann sich sogar sagen, dass der Ausgang des Duells auf gewisse Weise die

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Auch die beiden hier nicht erwähnten Romane Die Dämonen und Der Jüngling beinhalten Morde und Selbstmorde, wenngleich sie dort nicht dieselbe Rolle spielen, wie in den drei eben angesprochenen Werken. Michael Lermontow: Ein Held unserer Zeit. Stuttgart 1969 (Reclam UB 968), S. 193.

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Schuld des getöteten Gegners bestätigt, der mit seinem Tod für diese, seine Schuld bezahlt hat! So auch bei Lermontow: Der siegreiche Duellant mag Mitleid empfinden, zu Reue besteht aus konventioneller Sicht kein Anlass. Doch nun zu Makanins Roman, der in den Jahren 1991–92 spielt. Vom Held erfährt der Leser nur den Vatersnamen Petrowitsch. Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben, de facto eine Art Tagebuch des Petrowitsch, der 55 Jahre alt ist, 3 Jahre an der Universität studiert hatte, dann zur Zeit Breschnews Erzählungen und einen Roman schrieb, die allesamt nicht gedruckt werden konnten, und so wie auch die Gemälde seines hochbegabten Bruders Wenja nur im Untergrund bekannt wurden. Nach fünfzehn Jahren „totaler Ablehnung“ brach er radikal mit der Schriftstellerei und verbrachte die nächsten 20 Jahre im gesellschaftlichen Untergrund, war Heizer, dann Nachtwächter in einem wissenschaftlichen Institut, von wo er durch die Disziplinarkommission entlassen wurde, war dann in einem Lager und fand schließlich Unterkunft als Wächter in einem riesigen, mehrstöckigen Wohnheim, in dem er die Wohnungen derer hütet, die für längere Zeit abwesend sein müssen, um so Einbrüche zu verhindern und Pflanzen und Heimtiere zu versorgen. Obwohl er nicht mehr schreibt, wird er stets von einer uralten Schreibmaschine und einem Bündel Bücher begleitet. Er säuft, ist oft betrunken, hat aber trotz seiner ordinären Sprache seinen intellektuellen Habitus nicht ganz abgelegt. Bereits im zweiten Satz des Romans wird Heidegger erwähnt, man erfährt, dass er Tjutschews Gedichte und Dostojewskijs Roman Die Dämonen liest und ihn mit sich trägt, auch weiterhin Kontakt zu alten, teilweise inzwischen renommierten Autoren hat. Im Wohnheim hat er den Spitznamen „Der Schriftsteller“. Petrowitsch war nie Dissident, Politik interessiert ihn nicht. Er ist stolz darauf, dass man in offiziellen Literaturzirkeln schon zur Breschnewzeit sagte, er wäre „anders“. Dieses „Anderssein“ ist ihm geblieben, auch als die Zeiten sich geändert hatten und er die Möglichkeit hätte zu publizieren: „Da blieb ich einfach ich.“ (Makanin, S. 537) Die einzige wesentliche Instanz, an die er sich hält, ist sein Ich, „ein Ich, das wie eine riesige Blase aufschwoll, wie eine Eiterbeule“, vor allem dann, wenn er spürte, dass andere ihn erniedrigen wollten! Sein Stolz ist, dass er ein Teil der „Untergrundes“ unter Breschnew war und dies auch bis in die Gegenwart der Perestroikazeit unter Gorbatschow und Jelzin geblieben ist. Er ist, wie er selbst sagt, eben ein „Untergrundler“, ein „alter Graphomane“. Seine Texte sind in Redaktionen und den Archiven des Geheimdienstes verschwunden, er trägt sie jedoch, wie er stolz meint, in sich. Sie hätten „ihren Dienst geleistet“. (Makanin, S. 79) Was dies bedeutet, ergibt sich nach und nach. Denn er ist für immer von Texten geprägt und strukturiert die Realität in Gestalt von literarischen Plots: „Ich liege lang ausgestreckt und spinne von Zeit zu Zeit einen Gedanken, ich nenne ihn mein Plot.“ (Makanin, S. 384) Damit schafft 198

er sich das, was er selbst seine „Hyperrealität“ nennt. Der Ausgangspunkt dafür können u. a. die Gerüche sein, die aus einer Wohnung des Wohnheims dringen. Er fühlt die Gerüche mit seinen Sinnen und aus der „Geruchswirklichkeit“ entsteht „ein Traum, ein Film, eine hartnäckige Illusion, eine Schachbrettwelt – … eine interessante, anheimelnde Hyperrealität.“ (Makanin, S. 30) Dies wird für ihn zum allgegenwärtigen Reaktionsmuster. Vom Gefühl stimuliert, schafft er sich ein Plot, in dem er sich dann bewegt: „Das Gefühl zerrinnt, dafür erscheint der Text.“ (Makanin, S. 67) Dahinter stehen Worte von Dostojewskijs namenlosen „Mensch aus dem Untergrund“: „Wir sind Totgeborene – werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, … Bald werden wir uns ausdenken, irgendwie aus der Idee gezeugt zu werden.“ 286

Dass dieses Muster auch noch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt, hat übrigens Sartre in La nausée dargestellt: „Damit aus dem allergewöhnlichsten Vorfall ein Abenteuer wird, bedarf es und genügt es, dass man sich anschickt, es zu erzählen … Der Mensch ist immer ein Geschichtenerzähler, er lebt umgeben von seinen Geschichten und den Geschichten anderer, er sieht alles, was ihm widerfährt, von ihnen aus, und sucht sein Leben zu leben, als würde er es erzählen.“ 287

Dies sind Worte, die Makanins Held geradezu auf den Leib geschrieben sind! Er konnte seine Plots unter Breschnew allerdings ebenso wenig wie in der Perestroikazeit mit den jeweils gesellschaftlich verbindlichen „Plots“ in Übereinstimmung bringen. Makanin thematisiert den Unterschied der Epochen in einem einprägsamen Bild einer „krummen Moskauer Strasse“, das sich seinem Held für immer eingeprägt hat. In den „denkwürdigen sechziger und zum Teil siebziger Jahren…, in der Kurve zwei oder drei junge Männer in Pullovern … mit Erzählungen und Novellen im Aktendeckel unterm Arm … Und heute, in den neunziger Jahren, geht durch diese russischen Straßen und Gassen die Generation der Geschäftsleute … Sie gehen in Anzug und Krawatte, in der Tasche piepst das Handy, und sie reden ebenfalls über ihr innerstes Anliegen – über das Geschäft, Schwarzgeld, den Börsenkurs und die strangulierenden Steuern. Die drei wirken ebenfalls wie Propheten und haben einen beschwingten Schritt.“ (Makanin, S. 586f.)

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Fjodor M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. München 1985, S. 150. (dtv Klassik 2154) Zit. nach: R. Neuhäuser: Nachwort. In: Fjodor M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Untergrund. München 1985, S. 158.

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Petrowitsch steht wie immer abseits im Untergrund, ein Beobachter seiner Zeit, und spinnt seine Plots. Zu dem Begriff des Untergrunds ist noch etwas zu sagen. Makanin weist ausdrücklich auf Dostojewskij hin, wenn Petrowitsch seine Existenz als „mein stinkendes Mauseloch“ bezeichnet (Makanin, S. 56) und von sich, ähnlich wie Dostojewskijs Mensch aus dem Untergrund, sagt, „meine Leber tut weh“. (Makanin, S. 15) Die Genealogie des Untergrunds, „der in Moskau und Petersburg entstandene Stamm der Kellerlochmenschen“ (Makanin, S. 256), beginnt hier und führt über die Emigrantin Tswetajewa der 1920er- und 30er-Jahre („Die Vorläuferin des heutigen Untergrunds“, Makanin, S. 256), weiter: „Die Emigranten werden von den Dissidenten abgelöst. Und als die Dissidenten sich verpissten, kam der Untergrund.“ (Makanin, S. 242) Dies bedeutete die endgültige Loslösung, den Bruch mit der Realität in Russland, die als nicht reformfähig in toto abgelehnt wird. Dennoch bleibt ein Merkmal, das den Intellektuellen, denn es geht nur um ihn, schon immer charakterisierte: „Wir sind das Unterbewusstsein Russlands“ (Makanin, S. 242), allerdings eines, das im Gegensatz zur klassischen Literatur nicht mehr an moralische und ethische Werte gebunden ist, wie der Roman anschaulich darstellt! Nur auf sein hypertrophiertes Ich zurückgeworfen, wehrt sich der „Untergrundler“ gegen jede Herabsetzung und Erniedrigung, leistet deshalb auch Widerstand gegen die immer noch allgegenwärtigen Geheimdienstagenten und versteht sich im Gegensatz zur Staatsgewalt immer wieder als „anders“, bis hin zu „genial“. (Makanin, S. 157) Petrowitsch hat aber auch ein starkes Verlangen nach intimen Beziehungen zu Frauen. Seine Ehe ist in Brüche gegangen, das Wohnheim und die Straße bieten ihm jedoch genug Abwechslung. Auffällig ist, dass es sich dabei stets um Frauen handelt, die gleich ihm zu den Ärmsten der Gesellschaft gehören, d. h. die auf etwas andere Weise, aber doch auch mit dem Phänomen des Untergrunds in Kontakt gekommen sind. Von den über ein halbes Dutzend zählenden sexuellen Beziehungen ist besonders die zu Lesja Dmitrijewna erwähnenswert, „diese massige, alte Frau mit dem Hängebusen und dem unvorstellbaren Hintern, die nachts immer schluchzt“ (Makanin, S. 309), da sie eine Folie für das eigene Verhalten darstellt. Lesja hatte zur Zeit Breschnews im Wissenschaftlichen Institut, in dem einst Petrowitsch als Heizer arbeitete, eine leitende Funktion inne, verlor sie allerdings mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Erst da wurde ihr bewusst, was sie damals als Leiterin der Disziplinarkommission angerichtet hatte, als sie zahlreiche Mitarbeiter entließ. Sie möchte mittels Selbsterniedrigung dafür Buße tun und stellt sich deshalb dem Petrowitsch für sexuelle Dienste zur Verfügung, nach denen sie sich regelmäßig übergeben muss. Petrowitsch wurde damals ebenfalls von ihr entlassen, was die alternde Lesja aber vergessen hat. Jetzt 200

nützt er die Gelegenheit, verurteilt aber zugleich diesen Versuch einer Buße und sieht sich dadurch selbst erniedrigt. Andererseits spricht er von seinem „gesteigerten Hang zur erniedrigten Frau, die mein Mitgefühl erregt … Man möchte so eine Frau bemitleiden … man könnte auch versuchen, ihr selbst sein Leid zu klagen. Ihr ein wenig vorzujammern…“. (Makanin, S. 222) Letztlich löst er sich von ihr und bricht mit ihr. Doch nun zum ersten Mord des Petrowitsch. Er geht in der beginnenden Nacht vor das Wohnheim in den angrenzenden kleinen Park, ein Klappmesser in der Gesäßtasche, und setzt sich im Halbdunkel auf eine Parkbank, als sich ein kräftig gebauter Kaukasier neben ihn setzt und ihn unmissverständlich auffordert, die Taschen zu leeren und ihm Geld und Zigaretten zu geben. Er tut dies, denn auch „Kaukasier haben immer ein Messer bei sich!“ Der Kaukasier bleibt sitzen, holt eine Wodkaflasche heraus, trinkt, lässt auch Petrowitsch einen Schluck nehmen und gibt mit den Geschäften an, in die er verwickelt ist. Petrowitsch kämpft mit dem Gedanken, wie er diese Selbsterniedrigung wohl „beim morgigen Selbstverhör“ verkraften wird. Wohl um sein Selbstgefühl zu heben, sagt er seinem Bankgenossen, auch er hätte ein Messer bei sich. Der lacht nur, zückt sein Messer und versetzt dem Petrowitsch leichte Stiche in den linken Oberarm. Der hält inzwischen unbemerkt von dem schon betrunkenen Kaukasier sein eigenes Messer bereits in der rechten Hand, die auf der Lehne der Bank hinter dem Rücken des anderen liegt. Er rammt ihm das Messer am Schulterblatt vorbei ins Herz, lässt dann den Toten auf der Bank, wandert durch die nächtliche Stadt, wirft beide Messer in den Fluss und übernachtet bei einem Freund. Das Motiv des Mordes ist sein gekränktes Ehrgefühl, die Erniedrigung, die er erfuhr, als er dem Kaukasier Geld und Zigaretten aushändigen musste. Das ertrug sein Ich nicht: „Ich kämpfte um mein Ich.“ (Makanin, S. 607) Was folgt, entspricht in etwa der Situation bei Dostojewskij, als Raskolnikov vom Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch verhört wird. Petrowitsch wird zur Miliz vorgeladen und denkt sofort an „Porfirij aus Dostojewskijs berühmten Roman (Raskolnikow ist ja auch Literat, aufgepasst! schoss es mir durch den Kopf). Aber jetzt kommt er nicht mehr durch. Wir haben eine andere Zeit. Der Teufel soll euch holen.“ (Makanin, S. 189) 288

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In Schuld und Sühne liest sich das so: „Und plötzlich sah ihn Porfirij Petrowitsch wie mit augenscheinlichem Spott an und die Augen zusammenkneifend. Als ob er ihm zuzwinkerte. … Raskolnikow hätte schwören können, dass er ihm – der Teufel weiß warum – zugezwinkert hatte. ‚Er weiß Bescheid!‘ durchfuhr es ihn wie ein Blitz.“ (Teil III, Kapitel 5)

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Petrowitsch verrät sich nicht. Er betrachtet den Mord als Plot. „Wenn ein Mensch getötet hat, ist er nicht vom Mord selbst abhängig, sondern von allem, was er über Morde gelesen und im Fernsehen gesehen hat … [er] rechnet mit einer von Klischees bestimmten Wirklichkeit.“ (Makanin, S. 198) Mit den Indizienbeweisen, die er von daher kennt, kommen aber Ängste. Ein alter Mann, der in der Nacht leere Flaschen einsammelt, war in der Mordnacht in der Nähe, wartete auf die Wodkaflasche und könnte die Mordszene gesehen haben. Die hinkende, 40-jährige Tasja, die nachts nicht schlafen kann und aus dem Fenster guckt, müsste gesehen haben, wie er aus dem Haus zur Parkbank ging. Doch der Flaschensammler entpuppt sich als kurzsichtig, er sah nichts. Tasja hingegen sah ihn wohl, doch bevor sie zur Miliz vorgeladen wird, spricht sie Petrowitsch an. Wenn wir Freunde wären, dann müsste sie ja nichts sagen, meint sie. Petrowitsch versteht und bietet ihr „Freundschaft“ an, d. h. geht mit ihr zu Bett, denn die vereinsamte, weder junge, noch hübsche Frau sehnt sich nach einem Mann. Es liegen also keine Indizien gegen ihn vor, dennoch verbindet sich das Mordgeschehen mit den Gefühlen, die er aus den „Verfolgungsplots“ aller Krimis kennt, die er im Fernsehen gesehen oder gelesen hat und nun auf sich selbst bezieht und intensiv erlebt. Seine Lösung: „Der Mensch bezieht sich selbst (und seine Gefühle) auf einen entsprechenden Verfolgungsplot (mit entsprechender Ergreifung oder Nichtergreifung). Und wenn man sich nun mit dem Gefühl aus dem Stoff ausklinkt … wenn man die Gefühle ausschaltet … nicht teilnimmt, vergisst, nichts weiß, sich an nichts erinnert, was dann? … (Und wenn es kein Gefühl gibt, gibt es auch den Mord nicht, dann ist er nicht geschehen, dann ist nichts geschehen,…).“ (Makanin, S. 198f.)

Dabei hilft ihm die Überlegung, dass diese Tat eigentlich kein Mord, sondern ein Duell war (beide zückten „fast gleichzeitig“ das Messer; Makanin, S. 354). Und das Duell hat seinen festen Plot, der Reuegefühle nicht vorsieht! Dennoch besteht für ihn als Literat eine weitere Instanz, die eine Rechtfertigung verlangt: „Die russische Literatur …, justament ihr hoher Nachhall.“ (Makanin, S. 211) Petrowitsch muss sich eingestehen, dass das grundlegende Gebot „Du sollst nicht töten“ wie in Dostojewskijs Roman („von dort weht ein Luftzug echter Moral …, sein Gedanke der Selbstzerstörung durch Mord blieb fast unangefochten …“; Makanin, S. 219) immer noch lebendig ist. Doch er meint, dass dies heute nicht mehr als Gebot, sondern vielmehr als Tabu der damaligen Zeit begriffen wird. Und Tabus können sich ändern, können gebrochen werden! Damit verwendet er des Weiteren kaum mehr einen Gedanken an die Tat! Der zweite Mord führt zu einer komplizierteren Situation, da er nichts mehr mit einem Duell zu tun hat. Petrowitschs Bruder Wenja, einst unter Breschnew ein begnadeter junger Avantgardist unter den Malern, dessen un202

konventionelle Bilder und spöttische Zunge ihn immer wieder in Konflikt mit dem Geheimdienst brachten, wurde damals als Dissident in die Psychiatrie eingewiesen. Seine Persönlichkeit wurde mit Medikamenten so weit verändert, dass er seither ein Pflegefall ist. Petrowitsch besucht ihn regelmäßig in der Klinik. Er selbst unterhält einen losen Kontakt mit Künstlern, die seinen Bruder kannten und schätzten, gerät aber so selbst in das Visier der Geheimpolizei. Unter den Künstler bewegt sich auch ein gewisser Tschubik, der sich als Kenner der Moderne ausgibt, aber, „wie jeder weiß“, ein Spitzel der Geheimpolizei ist. 289 Petrowitsch trifft ihn bei einer Künstlerfête und Tschubik, ausgestattet mit einer vollen Wodkaflasche, macht sich an ihn heran, läd ihn zum Trinken ein. Beide besuchen gemeinsam eine Reihe von Wohnungen, bis Tschubik mit seinem Anliegen herausrückt: Er möchte mit ihm plaudern, d. h. ihn aushorchen, ihn „melken“. 290 Petrowitsch merkt bald, dass er ein Aufnahmegerät in seiner Hosentasche hat. Als er hört, wie Tschubik leise, aber vernehmlich sagt, „Gut, dass Sie angerufen haben“, wird ihm plötzlich klar, was dies bedeutet: Am Tonband festgehalten, würde dieser Satz „beweisen“, dass er selbst um das Gespräch gebeten hatte, also ein Informant, selbst ein Spitzel war! Dann würde er selbst noch nach Jahrzehnten – im Archiv des Geheimdienstes geht nichts verloren! – für immer als Spitzel gebrandmarkt sein. Das muss unterbunden werden. „Ein Untergrundler hat nichts außer seiner Ehre.“ (Makanin, S. 326) Unter einem Vorwand läuft er ins Wohnheim und besorgt sich ein Messer. Als es Abend wird, schlägt der Spitzel vor, ein stilles Plätzchen zu suchen, um in Ruhe trinken und plaudern zu können. In einem Wohnblock, in einem verlassenen Winkel unter dem Dachstuhl, lassen sie sich nieder. Petrowitsch greift mit einer Hand nach der Wodkaflasche, die Tschubik in der Hand hält, um ihn abzulenken, mit der anderen sticht er Tschubik das Messer in den Rücken. Nachdem er das Messer entsorgt hat, geht er beruhigt nach Hause. Diesmal kann es keine Indizien gegen ihn geben, den Leichnam würde man erst nach Tagen, wenn nicht Wochen entdecken. Aber sein Gewissen meldet sich deutlich zu Wort. Er denkt an die beiden jungen Söhne des Ermordeten, acht und fünf Jahre alt.

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„Auch der Kraftprotz Tschubik war da, dieses Schwänzchen, das hinter den Künstlern herwedelte, ein Spitzel, wie alle wussten, aber im Lauf der Jahre hatte man sich an ihn gewöhnt …“. (Makanin, S. 314) Tschubik wollte „mehr über die Schriftsteller erfahren, die einen Namen und ein Schicksal hatten; und über die namenlosen ebenfalls.“ (S. 328) Dass dies auch heute noch praktiziert wird, geht übrigens aus einem Interview mit der Soziologin Olga Kryschtanowskaja hervor, die berichtet: „FSB-Leute (FSB = neue Bezeichnung des KGB) nehmen zum Beispiel Gespräche auf, die später gegen gewisse Personen benutzt werden können.“ (Profil H. 26, 27. 06. 2005, S. 63)

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Da macht er sie in Gedanken erwachsen und stellt sich vor, wie sie von der Spitzeltätigkeit des Vaters erfahren. Dies beruhigt vorerst das Gewissen. Doch dann wiederholt er den kaltblütigen Mord in Gedanken und muss sich sagen: „Ich hatte ihn einfach abgestochen. Und den Leichnam liegenlassen. Dabei war er doch ein Mensch.“ (Makanin, S. 354) Es kommt ihm der „uralte Gedanke, dass man, wenn man einen Menschen tötet, nicht nur mit ihm etwas zerstört, sondern auch etwas in sich selbst.“ (Makanin, S. 359) Dies äußert sich für ihn in der veränderten Haltung der Heimbewohner ihm gegenüber, die immer mehr von Kälte und Zurückweisung gekennzeichnet ist. Er wird aus dem Wohnheim schließlich vertrieben und landet in einem Obdachlosenasyl. Auch hier lässt ihn der Tote nicht los, er meint, ihn sogar in einer dunklen Figur im nächtlichen Korridor des Heims zu sehen. Der Gedanke, aus seinem Plot auszusteigen, verfängt nicht mehr. Reue fühlt er zwar nicht, denn Reue hat nach ihm nur eine prophylaktische Funktion: „Man bereut, um nach zwei Kurzschlusshandlungen nicht beim dritten oder fünften Mal schon wieder zu explodieren!“ (Makanin, S. 389) Die Erkenntnis, dass er seine Gefühle ausschalten müsse, um sozusagen aus seinem Plot auszusteigen, funktioniert auch nicht mehr. Schließlich gelangt er zu einer neuen Erkenntnis, dass es nicht das Gewissen sei, was ihn beschwert, sondern vielmehr „die Unausgesprochenheit, das Verschweigen.“ Doch mit wem reden? Sein neuer Gedanke lehnt sich an Dostojewskij an. „Das gefallene Mädchen“ und “der Mann aus dem Untergrund“, meint er mit Bezug auf Schuld und Sühne, „bilden also jeweils das gesuchte psychologische Pendant und sind folglich ein Paar – Mann und Frau, mit einer besonderen, ja sogar einzigartigen Möglichkeit des Verständnisses füreinander (und der Auflösung ineinander).“ (Makanin, S. 226) Doch schon der erste Versuch, den er bereits nach dem ersten Mord mit einer jungen Moskauer Prostituierten, die er bei sich aufnahm, unternommen hatte, scheiterte. Er musste feststellen: „Selbst als gewöhnliche Variante taugte das Muster von Raskolnikow und Sonja nicht. Ihr zuzuhören und erst recht sich ihr zu öffnen war unmöglich, undenkbar, da hätten wir gleich im Bett gemeinsam den Marsch der Kosmonauten oder sonst etwas Sowjetisches anstimmen können. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was sie war.“ (Makanin, S. 226)

Jetzt unternimmt er einen zweiten Versuch mit dem etwas schwachsinnigen Mädchen Nata, der er seine Tat als „Geschichte“ etwas verfremdet erzählen möchte, scheitert aber wiederum kläglich, sie schläft ein. Er muss erkennen: Die Mädchen aus dem Moskauer Untergrund sind eben keine erniedrigte Frauen im Sinne Dostojewskijs! Schließlich nimmt das Geschehen eine unerwartete Wendung. Nachdem er wie einst sein literarischer Vorgänger Raskolnikow in einen Fieberwahn verfallen ist, aus den ihn erst eine halbe Flasche Wodka und die Tabletten 204

Radedorm (= „schlaffroh“) erlösen, verfällt er nächtens in einen Schreikrampf, von intensiven Schmerzen gebeutelt. 291 In seinem Anfall verliert er die Kontrolle über sich selbst, attackiert im Obdachlosenasyl untergebrachte Vietnamesen und wird schließlich von der Rettung auf eigenen Wunsch in jene Nervenheilanstalt gebracht, wo auch sein Bruder Wenja untergebracht ist. Da er in seinem Anfall von einem Messer und einem „sprachlosen [!] nächtlichen Gewissen“ sprach, vermuten die Ärzte, dass er entweder einen Mord begangen hat, oder eben im Begriff war, einen zu begehen. So kommt er in das „Zimmer Eins“, in dem die Psychiater Menschen, die einer Straftat verdächtigt werden, so lange mit Psychopharmaka behandeln, bis sie so weit zermürbt sind, dass sie ihre Tat gestehen. Er findet heraus, dass der leitende Arzt und sein Oberarzt dieselben sind, die zur Breschnewzeit Dissidenten mit eben denselben Mitteln behandelt hatten, so auch seinen Bruder Wenja, dessen Persönlichkeit als Folge der Behandlung zerbrochen war. Petrowitsch ist erschüttert. 292 Es beginnt nun zwischen diesen Ärzten und Petrowitsch eine Art Zweikampf, der Ähnlichkeiten mit dem Duell zwischen Raskolnikow und dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aufweist, sozusagen die postsowjetische Variante dieses Duells darstellt. Die Ärzte finden rasch heraus, dass Petrowitsch in dem Mordfall mit dem Kaukasier im Park, der ja mit einem Messer getötet wurde, zum Kreis der Verdächtigen gehört hatte, was ihren Verdacht bestärkt. Die täglichen Injektionen führen zu einer zunehmenden „programmierten und physiologisch genau berechneten Entkräftung“ (Makanin, S.481), die im physischen Bereich in eine extreme Form des Durchfalls mündet, im Bereich der Psyche das Ich und den eigenen Willen lähmt, jedoch das Gefühl und das Selbstmitleid bis zur Weinerlichkeit aufputscht, und letztlich den Hang zur Redseligkeit fördert: Der Patient möchte sich öffnen, reden, sein Innerstes offen legen. Fast immer führt dies auch bei hartgesottenen Verbrechern zu Geständnissen. Eines Nachts kann Petrowitsch in der Toilette nicht an sich halten und gesteht dem Mehrfachmörder Tschirow, dass auch er „zwei getötet“ hätte. Tschirow legt ihm nur die Hand

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„… der Mensch ist wie ein abgebrochener Zweig, wie ein Tier, bereit, zu verdummen, zu beichten, sich primitiv zu demütigen – was auch immer –, nur um den Schmerz zu beseitigen.“ (Makanin, S. 404) „Sie haben meinen Bruder behandelt. Das wird Ihnen nicht verziehen werden.“ (S. 468) Das Kapitel, in dem die Geschichte der Behandlung des Petrowitsch geschildert wird, ist mit „Krankensaal Nr. 1“ betitelt, was an Tschechows Erzählung Krankensaal Nr. 6 erinnert!

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auf die Schulter und flüstert „schon gut“. (Makanin, S. 485) 293 Danach schilt sich Petrowitsch für seine „Dummheit“, fühlt sich aber besser, worauf die Ärzte die Dosis erhöhen. Da die Medikamente ihm das Denken geraubt haben, reagiert Petrowitsch damit, dass er seine Gefühle absichtlich stimuliert, um so „die verlöschende Flamme meines Ichs am Brennen“ zu halten. (Makanin, S. 489) Er versucht in sich „das Gefühl des fremden Schmerzes“ wachzurufen und kann es auch immer wieder intensiv selbst nacherleben, was sein Ich, seine Persönlichkeit am Funktionieren erhält. Dies stellt sich letztlich auch als seine Rettung heraus. Eines Tages, nach 3 Monaten in der Anstalt, als sich die Patienten des Krankensaals Nr. 1 anstellen, um ihre Spritze zu bekommen, erlebt er, wie einer seiner Mitpatienten brutal an Haaren und Schultern über den Boden gezogen wird. „Plötzlich besann ich mich auf mein tägliches Training im Mitleiden… Warum schaue ich, ein Mensch der russischen Literatur, so gefühllos zu, wenn Gewalt verübt wird?“ (Makanin, S. 502) Als einer der Pfleger dem Mitpatienten noch mit der Faust ins Sonnengeflecht stößt, da gelingt es Petrowitsch den Schmerz mitzufühlen. „Mein Ich war lebendig.“ (Makanin, S. 503) Als er nun auf ähnliche Art über den Boden gezogen wird und auf die Spritze warten soll, gelingt es ihm, einen in der Ecke lehnenden Stock zu fassen und den brutalen Pfleger in die Nieren und den Rücken zu schlagen und zu stoßen. Er ist glücklich, wird jedoch selbst von drei „Pflegern“ bewusstlos geschlagen, wobei er drei Zähne verliert. Später entdeckt man bei ihm noch zwei gebrochene Rippen und einen Riss in der Hand. Er wird in eine andere Klinik verlegt, da die Nervenheilanstalt keine Chirurgie hat. Dort bekommt er keine Psychopharmaka mehr, sein Zustand normalisiert sich, der behandelnder Arzt erklärt ihn für psychisch gesund und er wird zwei Monate später, nach der Heilung seiner Verletzungen, nicht mehr in die Nervenheilanstalt zurückgebracht, sondern freigelassen. 294 Petrowitsch nimmt sein altes Leben wieder auf, besucht seine alten Bekannten im Wohnheim, bekommt sogar dort eine kleine Wohnung, die ihm aber bald wieder verloren geht, da er von einem Geschäftsmann des neuen Russlands über den Tisch gezogen wird. In Dostojewskijs Roman Die Dämonen, den er stets mit sich schleppt, findet er alte Telefonnummern, die er sich einst notiert hatte und die er jetzt der Reihe nach anruft. Auch Lesja be293

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„Ob er Mitgefühl hatte, ob er mich bedauerte, ich weiß es nicht. Aber er wollte bedauern. Das Ungeheuer war ebenfalls ein Mensch. Und nichts war ihm fremd.“ (Makanin, S. 485) „Ich war für sie ein normaler Papierpatient geworden, und diese Patienten verschwinden früher oder später – ich wanderte in der Akte von Seite zu Seite, von Blatt zu Blatt, wanderte, wanderte und … war nicht mehr da.“ (Makanin, S. 507)

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sucht er wieder und sagt ihr seine Meinung. In diesen zwei Monaten nach der Entlassung aus der Klinik denkt er nicht mehr an die Morde, das ist abgehakt, Teil einer Vergangenheit, die eben zum Untergrund gehört. Der Roman endet mit den beiden Brüdern. In einem Bildband von alten Untergrundkünstlern werden zwei Bilder Wenjas reproduziert. Das soll im Kreis der Künstler gefeiert werden und Wenja bekommt dazu Ausgang. Nach dem üblichen Besäufnis organisiert Petrowitsch für den Bruder noch eine intime Stunde mit einer willigen Frau und bringt ihn dann zurück in die Klinik. Wenja ist am Zusammenbrechen, leidet an schwerer Inkontinenz und schafft kaum den Weg zurück. Der Roman endet damit, dass die Pfleger Wenja unter die Arme greifen wollen, um ihn zu stützen: „Er stieß die Pfleger von sich weg. Und sagte zu beiden leise wie zum Abschluss: ‚Stoßt mich nicht, ich gehe selbst!‘ Er richtete sich sogar auf, stolz, für diesen einen Augenblick – das russische Genie, durch Prügel abgestumpft, erniedrigt, blau gestoßen, in der Scheisse, und trotzdem – stoßt mich nicht, ich gehe selbst!“ (Makanin, S. 689)

Es stellen sich am Ende dieser Geschichte Fragen, die teils mit der Tradition und dem gegenwärtigen Zustand Russlands, teils mit der Psychologie des Mörders zusammenhängen. Letzteres sei den berufenen Fachleuten überlassen. Zu ersterem ist ein kurzer, klärender Blick zurück auf Dostojewskijs Mensch aus dem Untergrund von Bedeutung, denn hier ergibt sich eine augenscheinliche Parallele. Dostojewskijs Held kämpfte in seiner Jugend mit der verlogenen Romantik seiner Zeitgenossen. Von ihnen sagt er: „So lieben sie doch ihr anfängliches Ideal bis zu Tränen und sind in der Seele ganz ungewöhnlich anständig. Ja, nur unter uns kann der ausgesprochenste Schuft in der Seele vollkommen und sogar erhaben anständig bleiben, ohne dabei aufzuhören, Schuft zu sein.“ 295 (Dostojewskij, S. 54f.)

Sechzehn Jahre später hat er im Zuge einer neuen Zeit die Wende in der Gesellschaft hin zu Utilitarismus, Rationalismus und den Aufstieg sozialistischer Gesellschaftsentwürfe erlebt und verurteilt dies mit gleicher Schärfe als Irrwege. Er lebt weiter im gesellschaftlichen Untergrund, unfähig sich in diese Gesellschaft zu integrieren, da er sein Ich, seine Persönlichkeit, seine Integrität bewahren möchte. Als letzte und einzig wirkliche Quelle seines Ichs, als letzte Motivation und Ursache seines Handelns sieht er das Bestreben, „den eigenen freien Willen“ zu verwirklichen. „Der Mensch braucht einzig

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„Ich würde Faulpelz und Vielfraß werden, – doch kein gewöhnlicher etwa, sondern einer, der, sagen wir, mit allem Schönen und Erhabenen sympathisiert …“. (Dostojewskij, S. 24) S. Anm. 286.

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und allein selbständiges Wollen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag.“ (Dostojewskij, S. 31) In der Biografie des Petrowitsch wiederholt sich diese Konstellation, wenngleich die gesellschaftlichen „Ideale“ nun andere sind. In seiner Jugend herrschten die verlogenen Ideale der kommunistischen Nomenklatur. Zwanzig Jahre später wurden sie durch die „raubtierkapitalistischen“ Praktiken der Zeit nach der Gorbatschow’schen Wende ersetzt. Beides lehnt Petrowitsch ab, der ebenfalls die Integrität seines Ichs bewahren will und sich darauf, eben auf seinen eigenen freien Willen, sein „selbständiges Wollen“, zurückzieht und in den gesellschaftlichen Untergrund absinkt, wo er dies praktizieren kann und dies bis zum Exzess auch tut. Ein weiterer Bezug ergibt sich zu Dostojewskijs Raskolnikow, der gleichfalls den „eigenen freien Willen verwirklicht“, allerdings mit etwas anderer Akzentuierung als Probe seiner Fähigkeit, auch eine extreme Tat wie einen Mord durchzustehen, indem er die Pfandleiherin tötet. In weiterer Folge trennen sich die Wege: Dostojewskij bekannte sich zur Orthodoxie, er vertrat eine christlichen Perspektive. Raskolnikow, von der frommen Prostituierten Sonja betreut, bekennt seine Schuld und nimmt die Buße auf sich. 296 Makanin geht diesen Weg nicht. Sein „Untergrundler“ Petrowitsch steht zu seinen Taten und „bewältigt“ die Folgen auf seine Weise. So berichtigt Makanin Dostojewskijs Argumentation, die bekanntlich schon Nabokov als religiösen Kitsch verurteilt hatte, indem er den ideologischen und religiösen „Überbau“ radikal negierte. 297 Nabokov hatte die Szene, als Raskolnikov und Sonja in der Bibel die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus lesen, als „the flaw, the crack …, which in my opinion causes the whole edifice to crumble ethically and esthetically“ bezeichnet. 298 Nach 70 Jahren atheistischer Indoktrination ist auch 296

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Schon in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund zeichnete sich diese Lösung in Kap. 10 ab, das allerdings von der Zensur zum Großteil gestrichen wurde. Dostojewskij wollte sich dort auf die Nachfolge Christi als einzigen Weg aus dem Untergrund berufen! Bei Dostojewskij lesen wir: „In dem schiefen Kerzenhalter wollte das Lichtstümpfchen schon lange erlöschen, das in diesem ärmlichen Zimmer den Mörder und die Hure trübe beleuchtete, die sich über der Lektüre des Ewigen Buches so sonderbar zusammengefunden hatten.“ (Schuld und Sühne, Teil IV, Kap. 6) Nabokov bezeichnete diesen Satz als „this singular sentence that for sheer stupidity has hardly the equal in world-famous literature … The murderer and the harlot reading the eternal book – what nonsense … It is a shoddy literary trick, not a masterpiece of pathos and piety.“ (Lectures on Russian Literature. London 1981, S. 110) Nach H.-J. Gerigk eine „gezielte Kontamination von Schauerromantik und Empfindsamkeit“, über die sich Nabokov zu Recht mokierte. (H.-J. G., Die Russen in Amerika, Pressler 1995, S. 176) V. Nabokov, Lectures on Russian Literature. London 1981, S. 110.

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für Makanin Dostojewskijs Weg nicht mehr glaubwürdig. Im Gegensatz zu Raskolnikow bleibt sein Held im Käfig seines Ichs eingeschlossen und findet keinen Weg hinaus. Aus literarhistorischer Sicht ist der Roman eine aktuelle und intensive Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, die von Dostojewskij ihren Ausgang genommen und die russische Gesellschaft dauernd geprägt hat, aber in der postkommunistischen Epoche ihre Gültigkeit verloren zu haben scheint und erlaubt so tiefe Einblicke in die „russische Seele.“ Zugleich bietet der Roman erschütternde Einblicke in die Seelenlage der postsowjetischen Gesellschaft, die in den 90er-Jahren den Übergang in die „Normalität“ (noch) nicht geschafft hatte! Nachbemerkung eines psychologischen Laien: Petrowitsch und Giacomo Rizzolattis Spiegelneuronen: Im Jahr 1996, zwei Jahre vor der Publikation von Makanins Roman, studierte Giacomo Rizzolatti mit seinem Team an der Universität Parma, „wie das Gehirn bei der Planung und Ausführung zielgerichteter Handlungen reagiert.“ 299 Dabei entdeckte er Nervenzellen im Gehirn, die dann aktiv werden, „wenn Menschen sich eine bestimmte Handlung vorstellen oder lediglich hören, wie jemand anderer über eine Handlung spricht.“ (S. 96) Es sind diese Neuronen, von Rizzolatti als „Spiegelneuronen“ bezeichnet, die den Menschen zu Empathie und Intuition befähigen. Sie sind auch bei Mitleid aktiv: „Die Beobachtung eines sich vor Schmerzen krümmenden Mitmenschen aktiviert die Zellen für die eigene Schmerzempfindung.“ (Profil, S. 97) Genau diesen Mechanismus hat Petrowitsch genutzt, um nicht die Macht über sein eigenes Ich zu verlieren, als er mit Psychopharmaka unter Druck gesetzt wurde! Die Intuitionsforscherin Cornelie Betsch von der Universität Heidelberg sagt dazu, „… das funktioniert nur, wenn wir uns nicht mehr an jede einzelne Information erinnern können, sondern eine kondensierte Größe, wie etwa ein Gefühl haben, wie diese Informationen aussehen.“ (S. 97) Dieses Gefühl, auf Empathie beruhend, aktiviert Petrowitsch, um damit die „Erinnerung“ an sein Ich wachzurufen. So erweist sich Makanins Held als ein Modellfall der intelligenten Nutzung der Spiegelneuronen! Im Übrigen hatte dies bereits vor 250 Jahren Lessing auf den Punkt gebracht, als er 1757 in einem Brief an Mendelsson schrieb: „Alle Leidenschaften (= Gefühle in der Terminologie des 18. Jahrhunderts), auch die unangenehmsten, seien als Leidenschaften angenehm, denn bei jeder ‚Leidenschaft‘ seien wir uns eines großen Grades unserer Realität bewusst und dieses Bewusstsein könne nicht anders als angenehm sein.“ 300

299 Siehe Profil (Wien), H. 32, 08. 08. 2005, S. 92–100, weiters 300 G. Lessing, Sämtliche Schriften. XVII, Stuttgart, 1886, S. 90.

nur Seitenangabe.

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3.

Dostojewskij und Meša Selimović: Prolegomena zu einer vergleichenden Studie „Später kehrte ich immer wieder zu Dostojewskij zurück und noch heute lese ich ihn mit Interesse und finde immer etwas bislang Unentdecktes und bin immer wieder begeistert von diesem Magier, der alle Geheimnisse des literarischen Handwerks entdeckt hat ... Ich bin sein treuer Anhänger geblieben: er hat von mir Besitz ergriffen, hat mich bezaubert und mich für das ganze Leben gefangen genommen.“ (Sjećanja)

Eine vergleichende Studie über den bosnischen Autor Meša Selimović (1910–1982), der aus einer moslemischen Familie in Bosnien stammt und sich selbst zur serbischen Literatur bekannte, und Dostojewskij lässt sich auf verschiedenen Ebenen durchführen. Wer sich mit beiden Autoren näher befasst hat, wird erkennen, dass sie in Bezug auf Persönlichkeitsentwicklung, Lebenslauf, den literarischen und intellektuellen Werdegang viele Entsprechungen, ja mitunter sogar frappante Übereinstimmungen aufweisen. Im Werk beider kann der Leser auf den Ebenen der Struktur, des Sujets, der Thematik und Motivik, wie auch der Personen der Handlung bis hin zum Stil Ähnlichkeiten und Parallelen erkennen. Beide sind Autoren von weltliterarischem Rang und darüber hinaus wesensverwandte Charaktere, deren Schaffen ein reichhaltiges Feld für typologische Untersuchungen darstellt. Die Problematik wirkungsgeschichtlicher Bezüge, die Frage nach Übernahme, die Problematik kausaler, genetischer Beziehungen soll hier weitgehend ausgespart bleiben. Selimović selbst hat sich allerdings von einer bewussten Nachfolge Dostojewskijs distanziert. So schreibt er in seinen Erinnerungen (Sjećanja, zitiert als Sj.): „Ich kann nicht sagen, dass Dostojewskij mich wesentlich und entscheidend beeinflusst hätte. Die Literatur, die er schrieb, entsprach möglicherweise meiner fernen, vielleicht unbewussten Neigung, aber ich habe niemals versucht, sie zu verwirklichen.“ (Sj., S. 153) Damit bleibt allerdings die Möglichkeit einer unbewussten Beeinflussung durch Dostojewskijs Schaffen offen, weist doch Selimović selbst auf eine gewisse Wesensverwandtschaft mit dem großen Russen hin. Greifen wir vorerst einige biografische Parallelen auf. Sowohl Dostojewskij wie auch Selimović standen in ihrer Kindheit unter dem starken Einfluss einer dominanten und autoritären Vaterfigur, was bei beiden zu lebenslangen Komplexen führte und in ihren Werken eine literarische Verarbeitung fand. Beide begannen schon in ihrer frühen Jugend zu lesen, waren von Büchern umgeben, lebten mit und in der Literatur. Ihre Hinwendung zur konkreten Lebenswirklichkeit stand im Zeichen literarischer Modelle. Bei 211

Dostojewskij war es die Natürliche Schule, unter deren Einfluss er sich den Erniedrigten und Beleidigten seiner Zeit, den kleinen Beamten wie Dewuschkin und Goljadkin zuwandte. Bei Selimović war es Zolas Roman Germinal, der ihm das schwere Leben französischer Bergarbeiter nahe brachte. Selimović dazu: „Dies sind die Bergleute von Tuzla und alles ist gleich, die Armut, die verweigerten Tageslöhne, die Katastrophen im Bergwerk, die Trunkenheit, die schrecklichen Todesfälle in den verschütteten Schächten.“ (Sj., S. 155)

Die literarische Karriere beider vollzog sich in zwei Anläufen: Dostojewskij schrieb seinen ersten Roman Arme Leute im Alter von 24 Jahren, Selimović begann zu Beginn der 30er-Jahre zu publizieren, als er eben das 20. Lebensjahr überschritten hatte. Allerdings blieb ihm im Gegensatz zu Dostojewskij der Erfolg versagt. Auf diesen frühen Beginn folgte bei Dostojewskij das sibirische Interludium, bei Selimović Krieg, Gefängnis, Partisanenkampf. Erst im Alter von 34 bzw. 38 Jahren versuchten beide Autoren erneut eine literarische Karriere zu beginnen. Selimovićs erster größerer Roman Nebel und Mondschein (Magla i mjesečina) erschien 1957, als der Autor bereits 47 Jahre zählte; Dostojewskijs erster großer Roman Schuld und Sühne kam 1866 heraus, als sein Autor im 45. Lebensjahr stand. Selimovićs Hauptwerk Der Derwisch und der Tod (Derviš i smrt) wurde 1966 gedruckt, als Selimović bereits 56 Jahre zählte. Dostojewskij publizierte Die Brüder Karamasow im Alter von 58–59 Jahren. Diese erstaunliche Übereinstimmung im literarischen Werdegang ist wohl nicht allein durch zufällige äußerliche Ereignisse bedingt, sondern der Ausdruck einer inneren Entwicklung, deren Ursachen in Charakter und Begabung zu suchen sind. So entwickelte sich die literarische Karriere beider erst spät. Selimović merkt selbst an, dass er bereits 52 Jahre zählte, als seine Bücher endlich regelmäßig zu erscheinen begannen. Dostojewskijs Karriere stabilisierte sich erst nach 1871, als er von einem vierjährigen Auslandsaufenthalt zurückkehrte. Auch er hatte das 50. Lebensjahr zu diesem Zeitpunkt bereits überschritten. Dostojewskij war ein Mensch der Großstadt, hat aber nichtsdestoweniger in seinen Romanen immer wieder Natursymbolik einfließen lassen. Auf dem Landgut seines Vaters stand er in enger Berührung mit der Natur. Bekannt sind die Symbole „Wasser“ und „Sonne“ (s. Schuld und Sühne), die „klebrigen kleinen Blätter“, von denen Iwan Karamasow spricht, wie auch Sossimas Naturverehrung im gleichen Roman. Selimović erlebte als Kind die Natur im üppigen Garten seines Großvaters, für ihn „der schönste Garten der Welt“ und im Rückblick „mein ferner Traum“. Dort floss ein Bach, der ihn besonders fesselte: „Ich liebte das strömende Wasser, für mich war es geradezu

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eine Obsession.“ (Sj., S. 28) Wasser- und Sonnensymbolik spielen in seinen Texten eine ähnliche Rolle wie bei Dostojewskij! Wie Dostojewskij so hatte auch Selimović einen älteren Bruder, dem er sich innig verbunden fühlte, der seine intellektuellen Interessen teilte und ihm, wie übrigens auch seine Schwester, etwas von der Liebe gab, die er vergeblich beim Vater suchte. Als Selimovićs Bruder zu Kriegsende aus nichtigen Gründen von den eigenen Kameraden hingerichtet wurde, da war dies für Meša ein Trauma, an dem er zeitlebens leiden sollte, das ähnlich wie Dostojewskijs Verhältnis zum Vater auf Schuldgefühlen beruhte. So schreibt Selimović: „Ich konnte ihm nicht einmal einen Teil der Liebe zurückgeben, die er mir erwiesen hatte, noch konnte ich ihm in jenem schrecklichsten Moment seines Lebens helfen.“ (Sj., S. 37)

Und er zog daraus die Schlussfolgerung: „Dieser mein ermordeter Bruder ist mein größter Kummer und … mein größter Schmerz.“ (Sj., S. 37) So wurde beiden Autoren der gewaltsame Tod eines ihrer nächsten Anverwandten zum Lebensproblem! Selimović verarbeitete dieses Thema in seinem bedeutendsten Roman Der Derwisch und der Tod, Dostojewskij in den Brüdern Karamasow, der Krönung seines Lebenswerkes. Eine weitere Parallele betrifft die Ehen, die beide eingingen. So wie Dostojewskij fand auch Selimović erst bei seiner zweiten Frau zu einer erfüllten Ehe. Die Schilderung, wie er eines Nachts von Schuldgefühlen gequält, „schuldig, aber ungerührt“ seine erste Frau verließ, in Finsternis und Regen quer über die städtischen Müllhalden stapfte, seine Frau verbittert und tief verletzt im Hauskleid und Pantoffeln hinterher, liest sich wie eine Szene aus Dostojewskijs Novelle Die Sanfte! Was Selimović später von Darka, seiner zweiten Frau, sagte, könnte ebenso gut Dostojewskij über seine zweite Frau Anna Grigorjewna geschrieben haben: „Sie verteidigte mich gegen die Lebensnöte, sie schützte mich vor den Grobheiten, ermutigte mich, wenn mir die Schwierigkeiten des Schreibens das Leben schwer machten, glaubte an mich, wenn alle zweifelten, gab mir Richtung mit ihrer fantastischen Intuition, korrigierte meine Härte mit ihrer Milde, nährte mich mit ihrer Liebe.“ (Sj., S. 198f.)

Eine wesentliche Problematik im Werk beider Autoren ist ebenfalls in ihrer Biografie fest verankert: Das Thema von Macht und Autorität, hinter dem in beider Leben der autoritäre Vater stand. Selimovićs Vater hielt Jagdhunde und Pferde, denen seine ganze Liebe galt, aber „den Kindern gegenüber war der Vater streng oder aber sehr oft gleichgültig“. (Sj., S. 34) Wenn er die Kinder am hohen Festtag des Bajram zu sich rief, dann „gingen wir wie zum jüngsten Gericht ..., denn der Vater war wie Zeus, verglichen mit seiner 213

Größe und Bedeutung waren wir gleichsam Sandkörner.“ (Sj., S. 34ff.) Und Selimović zieht selbst Bilanz über die daraus für ihn entstandenen Probleme: „Von daher kommt meine Furcht vor der Autorität und später die Auflehnung dagegen: Alles was ich in meinen Werken über Macht und Gewalt gesagt habe, hat seine Wurzeln in meinem Verhältnis zum Vater.“ (Sj., S. 36)

Auch diese Worte könnten von Dostojewskij stammen! Jegliche Macht von Menschen über Menschen wurde Selimović verdächtig, ebenso die ritualisierte Frömmigkeit, die sich an hohen Festtagen kundtat und mit der autoritären Vaterfigur fest verbunden war. Dostojewskijs „Herzensfrömmigkeit“ (vgl. Sonja, Sossima, u. a.) war auf ähnliche Weise mit einer tiefen Abneigung Ritualen gegenüber verbunden. Dies zeigt die Figur des Murin in Die Wirtin oder die Beschreibung des Popen am Totenbett Marmeladovs in Schuld und Sühne! Auch in den Brüdern Karamasow taucht diese Opposition in den Figuren des Sossima und seines Gegenspielers Ferapont wieder auf. Die Macht, die sich mit Ritualen und einem formalisierten Verhalten verbindet, spielt im Schaffen beider Autoren eine nicht zu übersehende Rolle und wird im Hauptwerk beider thematisiert! Raskolnikow, Stawrogin und Werchowenskij, Arkadij, der „Jüngling“, Iwan Karamasow sind dafür Beispiele bei Dostojewskij. Selimovićs Nurudin im Roman Der Derwisch und der Tod gelangt auf dem Weg über die Auflehnung („pobuna“) zur Macht, in der aber bereits sein Untergang vorgezeichnet ist. Stawrogins und Iwans Auflehnung führen in dieselbe Richtung. Bei beiden Autoren ist die Hinwendung zur Macht mit dem Verlust der Liebe bzw. der Unfähigkeit zur Liebe verbunden. Wer wie der Derwisch „in der Liebe versagt hat, wird auch im Leben versagen.“ (Sj., S. 178) Steht dahinter bei Nurudin das religiöse Dogma als ideologischer Halt, so bei Iwan die atheistisch inspirierte Machtideologie, die zur Maxime „alles ist erlaubt“ führt, d. h. zum absoluten Machtanspruch des Menschen über den Menschen. Nurudin findet Halt „im festen System des Dogmas“ (Sj., S. 179), Iwan in dem ideologischen System, das er im Poem vom Großinquisitor vor Aljoscha ausbreitet. Dostojewskijs Großinquisitor entspricht in etwa Selimovićs Mufti, der die absolute Macht, „die metaphysische Gewalt der Macht“ verkörpert. (Sj., S. 184) Dostojewskijs „Poem“ entspricht andererseits in Fragestellung und philosophischer Vertiefung dem Kapitel „Soll der alte Mandarin sterben?“ („Da li umre stari mandarin?“) im Roman Ostrvo (= Die Insel. Siehe 3.4!). Wie Dostojewskij ist auch Selimović ein ethischen, existenziellen und philosophischen Fragen zutiefst verbundener Autor. Wie früh bereits die Problematik der Macht und des Bösen in der Welt und damit verbunden die Frage nach der Existenz eines liebenden und allver-

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zeihenden Gottes, d. h. Iwans Problematik, Selimović bewegte, zeigt sein Bericht über einen Schulaufsatz: „Wenn Gott allmächtig ist – schrieb ich – warum hat er mir dann die Möglichkeit gegeben zu sündigen? Wenn er das bewusst macht, dann ist er böse. Wenn er nicht anders kann, wenn er dem Satan gegenüber nachgegeben hat, dann ist er nicht allmächtig. Wenn er uns einen freien Willen gegeben hat, auf dass wir uns nach eigenem Gutdünken entscheiden, dann ist Gott die Quelle des Bösen [vgl. Iwans Argumentation in den Brüdern Karamazov, R. N.], denn er hatte die Möglichkeit, das Böse auszurotten. Tatsächlich gibt es keinen Gott, es gibt bloß die Natur und die Gesellschaft mit ihren Gesetzen und ihrer Moral, die unser Verhältnis zu Gut und Böse bestimmen.“ (Sj., S. 80)

In diesen Zeilen des Schülers Selimović liegt die Problematik Raskolnikows, der meint, töten zu können, um der Gesellschaft zu „nützen“, wie auch die Iwans, der aus der Existenz des Bösen in der Welt die „Schwäche“ und das „Unvermögen“ Gottes ableitet, d. h. letztlich seine Nichtexistenz beweisen will. Dostojewskij kam durch den Kritiker Belinskij mit dem utopischen Sozialismus in Berührung. Belinskij brachte bekanntlich schon bei seinem ersten Gespräch mit Dostojewskij die Rede auf den Atheismus. Im Tagebuch eines Schriftstellers (1873) schrieb Dostojewskij, dass er schon 1846 durch Belinskij in die „ganze Wahrheit“ dieser künftigen Wiedergeburt der Welt und die „ganze Heiligkeit“ der künftigen kommunistischen Gesellschaft eingeweiht wurde. Im Petraschewskij-Kreis war er mit Speschnjew, einem der ersten Kommunisten Russlands, befreundet. Von dem Ausgangspunkt einer naiven, unreflektierten Religiosität gelangte Dostojewskij bald in bedenkliche Nähe von Glaubensverlust und Atheismus, fand allerdings zur Zeit seiner sibirischen Haft zu einem erneuerten Glauben zurück. Auch Selimović ging nach eigener Aussage noch als Schüler durch eine allerdings nur wenige Monate andauernde aber intensive Welle religiöser Exaltation (s. Sj., S. 155), die wenig später von der Hinwendung zum Marxismus und Atheismus abgelöst wurde. Erst nach dem tragischen Verlust des Bruders und dem Ausschluss aus der Partei im Gefolge seiner in Brüche gegangenen Ehe rückte Selimović von den Positionen des orthodoxen Marxismus ab. Die jugendliche Begeisterung Dostojewskijs für die Ideale des Frühsozialismus findet so seine Parallele in der Begeisterung des jungen Selimović für die gesellschaftliche Utopie des Marxismus. Selimović spricht davon, dass „ein wunderbarer Optimismus, ohne jegliche reale Grundlage, sich so stark in mir eingenistet hatte, dass es weiter keine wichtigen Umstände, noch augenscheinliche Tatsachen mehr gab ...“. (Sj., S. 102) Selimović fühlte ähnlich wie Dostojewskij im Petraschewskij-Kreis „den grenzenlosen Glauben der Jugend an ein schönes Leben nach der Revolution ... Es wird nach dem Sieg wunderbar sein, 215

sprach der achtzehnjährige Schüler, ... Ich weiß nicht wie, aber es wird wunderbar sein ...“ (ibid.). Beide Autoren charakterisiert so an der Schwelle ihres erwachsenen Lebens ein naiver Idealismus und Glaube an eine gesellschaftliche Utopie – eine Art erneuertes „Goldenes Zeitalter“ einer durch Revolution wiedergeborenen Gesellschaft. An der Schwelle der Welt seiner großen Romane steht bei Dostojewskij die Figur des namenlosen Untergrundmenschen, in welche autobiografische Züge eingeflossen sind. Dem Typ des Menschen aus dem Untergrund entspricht bei Selimović die männliche Hauptfigur seines frühen Romans Stille Zeiten (Tišine. Plural! Zitiert als T.). Dostojewskijs Held leidet unter der Unmöglichkeit, normale zwischenmenschliche Beziehungen zu leben. In Anlehnung an Hegels „unglückliches [d. h. entzweites, R. N.] Bewusstsein“ lebt er im „Untergrund“ seines Selbstbewusstseins, aus dem er nicht ausbrechen kann. Gerade auf dieser Figur beruht Dostojewskijs Ruf als Vorläufer eines existenzialistischen Weltverständnisses im 20. Jahrhundert. Selimović steht bereits in der Nachfolge des Existenzialismus’ und trifft sich auch hier mit Dostojewskij. Für das existenzialistische Lebensgefühl hat Selimović das eindrucksvolle Bild der „Festung“ („tvrđava“) geprägt: „Jeder Mensch ist eine Festung, jede Gemeinschaft, jeder Staat, jede Ideologie.“ (Sj., S. 191) Was Selimović seinen Ahmet Šabo im Roman Die Festung (Tvrđava) sagen lässt, gilt aber ebenso für Dostojewskijs Menschen aus dem Untergrund: „… er möchte, dass er eine Brücke zu anderen Menschen findet, dass er den Weg aus der Festung hinaus findet.“ (Sj., S. 191) Im Roman Die Insel (Ostrvo) ist es die Insel, die ein Symbol des nur auf sich selbst angewiesenen Menschen ist. Selimović selbst spricht von ihr als „ein Symbol der Isolation, des Eingeschlossenseins, der Einsamkeit“. (Sj., S. 194) Auch in Selimovićs Selbstdarstellung finden sich Züge, die an den Menschen aus dem Untergrund erinnern. So sieht sich Selimović durch die gestörte Vaterbeziehung geschädigt und als Mensch, der fast immer „im Zustand der Verteidigung“ sei, der unter „einem ständigen Gefühl der Verletzbarkeit litt, die durch nichts und niemals zu kompensieren sei“. (Sj., S. 38) Dies sei, meint er, die Kehrseite einer Art von „Auflehnung gegen die Gewalt der Autorität“. (Sj., S. 38) Als Folge „war ich immer ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit“. (Sj., ibid.) Genau dies sind auch die Motive für das Handeln des Untergrundmenschen. Die Unfähigkeit des Untergrundmenschen in der Gesellschaft „normaler“ Menschen zu bestehen, hat gleichfalls autobiografische Wurzeln. In der Biografie Dostojewskijs wird ein Ohnmachtsanfall erwähnt, als der früh zu Ruhm gelangte junge Autor in der Öffentlichkeit einer attraktiven Dame mit literarischen Ambitionen vorgestellt wurde. Bei Selimović bestand eine ähnliche Veranlagung, die dazu führte, dass sein erstes öffentliches Auftreten 216

vor einer Studentengruppe, zu der er sprechen sollte, in einem Fiasko endete. In Selimovićs Schilderung dieses Vorfalls vermeint der mit Dostojewskij vertraute Leser einen Kommentar Dostojewskijs zu dem oben erwähnten Ohnmachtsanfall zu hören: „So viele Augen waren mir zugewandt, so viele Ohren wollten hören, was ich sagen würde, dass ich nichts sagte. Ich quälte mich mit wenigen, unzusammenhängenden Worten ab, und niedergeschlagen setzte ich mich. ... meine schrecklichen Komplexe hatten mich gänzlich blockiert.“ (Sj., S. 94)

Zugleich entsprechen die zitierten Worte ganz der Mentalität und dem Charakter des Menschen aus dem Untergrund, wie auch dem des Helden in Stille Zeiten (Tišine), und unterstreichen damit den autobiografischen Hintergrund beider Werke. Es mag sein, dass das Bewusstsein eigener Mängel und Schwächen bei Dostojewskij und Selimović dazu beitrug, den Blick für Leid, Armut und Not anderer zu schärfen. Diese Sympathie für die „Erniedrigten und Beleidigten“ ihrer Zeit steht, wie eingangs bereits angemerkt wurde, am Beginn der literarischen Karriere beider Autoren. Daraus resultierte in der Folge bei beiden das Prinzip Liebe als unabdingbare Voraussetzung zwischenmenschlicher Beziehungen. In ihren Hauptwerken wird es thematisiert. Dostojewskijs Sossima gibt es als Vermächtnis an Aljoscha und die Klostergemeinschaft weiter. Dostojewskij sah darin bekanntlich einen Grundzug des russischen Charakters. Selimović formulierte dasselbe Prinzip in seinen Erinnerungen so: „Ohne Liebe ist jeder im Minus“ (Sj., S., 190), bzw. im Hinblick auf die Problematik des in seiner Existenz verunsicherten Menschen: „Der Hass trennt und vernichtet uns, allein die Liebe wird uns Halt geben.“ (Sj., S. 191) Dies gilt ganz besonders für den Derwisch, dessen plötzlicher Sturz nicht zuletzt die Konsequenz seiner Unfähigkeit zu lieben ist. Nicht nur Selimovićs Großvater, Bruder und Schwester, auch andere Menschen, mit denen der junge Selimović in Berührung kam, gaben ihm Liebe. Dazu gehörte der einfache islamische Religionslehrer Hodža Salih, den Selimović den „Fürst Myschkin meiner Kindheit“ nennt. (Sj., S. 58) Analog zu Dostojewskijs „Bauer Marej“ gab ihm Hodža Salih den Glauben an das Gute im Menschen. Später war es der katholische Geistliche und Gymnasialprofessor Dr. Drago D., der ihm erzählte, „von der Liebe, die rettet, von Gott, der alles verzeiht, wenn wir aufrichtig bereuen, vom Gewissen und der moralischen Verantwortung, die immer in einem guten Herzen leben.“ (Sj., S. 75)

Damit ist zugleich auch der christliche Hintergrund angesprochen, der vor allem in Dostojewskijs Biografie so bedeutsam ist, aber auch bei Selimović keineswegs fehlt. Dostojewskij betonte, dass er trotz seiner Neigung zum 217

utopischen Sozialismus doch nie den Glauben an Christus verloren hätte. Christus als Verkörperung göttlicher Liebe blieb für ihn ein bleibendes Symbol. Es ist interessant, dass auch der Atheist Selimović, Abkömmling einer islamischen Familie, eine ähnliche Beziehung zur Christusfigur gewann, die wohl in seiner Jugend, in den Gesprächen mit Dr. Drago D., ihren Anfang nahm. Selimović resümiert in den Erinnerungen: „Bis zum heutigen Tag – und ich bin schon lange Atheist – habe ich nichts Schöneres und Bedeutenderes entdeckt: Ein Mensch, der durch sein Leiden die Sünden anderer Menschen sühnt – das ist ein grandioses moralisches und poetisches Bild der größten Humanität, das ungeachtet aller Abwege des Christentums unversehrt erhalten geblieben ist.“ (Sj., S. 76)

Später gingen Dostojewskij und Selimović bekanntlich gegensätzliche Wege. Dostojewskij wurde in seinen publizistischen Werken zum Apologeten der Orthodoxie und legte seinen Gottesglauben auch in seinen literarischen Texten nieder. Selimović blieb Atheist, verband dies aber mit einem hohen humanistischen Ethos und einer klaren Absage an jegliche Machtanmaßung und „Dogmatisierung“ im intellektuellen Leben. Aus dieser Sicht ergab sich auch der Grundgedanke zum Roman Der Derwisch und der Tod. Selimović: „Ich wollte einen Roman über die Liebe schreiben, einen Roman über die Tragödie eines Menschen, der so indoktriniert ist, dass das Dogma, dem er dient, zum Wesen seines Lebens wird ... Der Derwisch und der Tod ist ein Buch über die Liebe und den Hass, über das Dogma und das Leben ...“. (Sj., S. 178f.)

Diese Worte gelten gleichermaßen für Dostojewskijs Brüder Karamasow. Dostojewskij legte das Prinzip Liebe in die Figuren Sossimas und Aljoschas, Selimović vor allem in die des Hasan (vgl. das Verhältnis Hasans zu seinem Vater oder zur „Dubrovkinja“; s. auch Sj., S. 187). Im sibirischen Lager konnte Dostojewskij eine intime Kenntnis des einfachen und ungebildeten russischen Menschen gewinnen. In einem toten Haus schilderte er in manchmal etwas verklärender Weise die Stärken und Begabungen des russischen Menschen. Dies floss ein in seine „Ideologie von der Scholle“, in der die Vorstellung dominierte, dass das russische Volk nach Jahrhunderte langem Leid und Versklavung durch die herrschenden Schichten in einer Allversöhnung der Gegensätze zu einem harmonischen Ausgleich finden sollte. Die schicksalhafte Beziehung zum Leid, die Dostojewskij dem russischen Menschen zuordnet, findet eine Entsprechung bei Selimović. Er saß im Weltkrieg zeitweise im Kerker, wo er im Lastträger („hamal“) Mujo einem Mann aus dem Volk begegnete, dessen wundersame Rednergabe und natürliche Weisheit ihn begeisterten. In seinem Elternhaus versteckte sich im Krieg ein Jahr lang ein 25-jähriger Untergrundkämpfer, der zum Idealbild des Revolutionshelden für den jungen Selimović wurde. 218

Man kann vielleicht sagen, dass die Ereignisse des Krieges Selimović jene Kenntnis des Volks vermittelten, die Dostojewskij in Sibirien gewann. Graf Boris Kačalov, ein russischer Emigrant und Gymnasialprofessor, machte Selimović auch mit der slawophilen Sicht des russischen Volkes vertraut. Selimović zitiert ihn wie folgt: „Dem russischen Volk ist es bestimmt zu leiden, das ist sein Schicksal und seine Sendung. Wie auch dem serbischen Volk.“ (Sj., S. 84) Eine Sicht, die Selimović im Roman Die Festung (Tvrđava) auf das bosnische Volk seiner engeren Heimat übertrug und mit der Hinwendung zum Menschen aus dem Volk verband. Mit vielen Schriftstellern, so auch mit Dostojewskij, teilt Selimović die frühe Liebe zum Lesen. Er spricht geradezu von „einem unstillbaren Hunger“ (Sj., S. 192), auch davon, dass er oft bis zum Morgengrauen las. Meša und sein älterer Bruder hatten das Privileg, alle Bücher, die sie interessierten, in der lokalen Buchhandlung auf Kredit zu kaufen. Unter den etwa 5.000 Büchern im Hause Selimović waren viele Werkausgaben einheimischer und ausländischer Autoren. In seinen Erinnerungen nennt Selimović als wesentliche literarische Einflüsse neben Zola und Dostojewskij vor allem Faulkner, Caldwell, Hemingway, Dos Passos, und Th. Wolfe, den er von allen amerikanischen Autoren am höchsten einschätzt. Der Grund, den er dafür angibt, deutet auf die überaus hohe Einschätzung Dostojewskijs durch Selimović hin: „Er kommt vielleicht Dostojewskij am nächsten.“ (Sj., S. 158) Selimović führt auch die Gründe an, warum Wolfe so nahe an Dostojewskij herankommt. Er „zeigt die Ganzheit menschlichen Erlebens“, seine Texte zeichneten sich aus durch „ein analysierendes Erzählen, das Beobachten aller Besonderheiten seiner Figuren, der guten wie der bösen, der positiven wie der negativen, wodurch er die Fülle und Überzeugungskraft seiner Bilder schafft“. (Sj., S. 157f.) Schon mit 14 Jahren las Selimović Dostojewskijs Roman Arme Leute und in der Folge alle weiteren Romane in der Vorkriegsausabe der Werke Dostojewskijs im Verlag „Narodna prosveta“ (= „Volksbildung“, Beograd). In den Erinnerungen zählt Selimović die Aspekte auf, die ihn in Dostojewskijs Romanen ansprachen. Sie seien hier kurz in des Autors eigenen Worten angeführt: „Die unbekannte und ungeahnte geheime Welt der menschlichen Seele“; „Die tiefe Erkenntnis und dreiste Aufdeckung der geheimen und verworrenen menschlichen Gedanken;“ „Die Entdeckung einer Metapsychologie“; „Geheimnisse, die jenseits der Psychologie liegen, die selbst auch ein Geheimnis ist“; „Die Entdeckung der faszinierenden Triebwelt.“ (Sj., S. 153)

Weiters spricht Selimović noch von Dostojewskijs „Komplexität“ und „Dämonie“, sowie von „der Fähigkeit, in die schwindelnden Tiefen der mensch219

lichen Seele hinab zu tauchen.“ In der eingangs als Motto zitierten Stelle aus den Erinnerungen zog Selimović die Bilanz seiner lebenslangen Beschäftigung mit Dostojewskij: „[Dostojewskij] hat von mir Besitz ergriffen, hat mich bezaubert und mich für das ganze Leben lang gefangen genommen.“ (Sj S. 153) Zur Zeit seiner frühen Begeisterung für Dostojewskij, als er Schüler der 4. Klasse des Gymnasiums war, schrieb Selimović für eine Schülerzeitung eine sentimentale Erzählung über eine alte Russin und „über eine gewisse, furchtbare Liebe zweier junger Leute“, vermutlich unter dem Einfluss Dostojewskijs! Sein Interesse für Russland und russische Literatur äußerte sich auch noch später, etwa als er 1943 in einem Flugblatt, das gegen die deutsche Besatzung gerichtet war, Verse von Demjan Bednyj einschloss, oder in einem Aufsatz desselben Jahres, der von der orthodoxen Kirche in Russland handelte. Schon aus Anlass des ersten Romans von Selimović Nebel und Mondschein (Magla i mjesečina) meinte die Kritik, Selimović sei „streng, rational, kalt, anekdotisch.“ Selimović fügt hinzu, er hätte „seine wahre Persönlichkeit verborgen: Das Zerstörerische, das Irrationale, die Emotionalität, die gedankliche Abstraktheit ...“. (Sj., 169f.) Beides entspricht auch dem Charakter des Menschen aus dem Untergrund, von dem sein Autor selbst sagte, er wäre in seiner Ausdrucksweise „wild, scharf“ („dik“, „rezok“) und seine Geschichte sei „überaus seltsam“ („sliškom strannaja“). Was Selimović in den Erinnerungen in Bezug auf Nebel und Mondschein anführt, gilt in erhöhtem Maße für seinen zweiten Roman Stille Zeiten (Tišine). Doch nicht nur im Charakter der jeweiligen Hauptfigur und ihren Beziehungen zum Du, zur Liebe lassen sich Parallelen und Entsprechungen zu den Aufzeichnungen aus dem Untergrund aufzeigen. Auch einzelne Motive entsprechen solchen bei Dostojewskij. Auf diesen frühen Roman, Stille Zeiten (Tišine; = T.), der 1961 erschien, soll hier näher eingegangen werden. Sein Held trägt unverkennbar die Züge des Dostojewskij’schen Menschen aus dem Untergrund. Wie dieser sagt auch Selimovićs Held von sich: „Überspannt bin ich, unglücklich, oft unangenehm und werde es im Leben sicher nicht weit bringen ...“ (T., S. 141), „ich quäle mich und andere.“ (T., S. 221) Voll Ironie ruft er aus: „Was wäre das denn mit uns, wenn wir unsere Schuld nicht anderen zuschreiben könnten?“ (T., S. 175) Dostojewskijs Held spielt am Beginn seiner Tiraden bekanntlich mit dem Mitleidseffekt bei seinen Lesern, als er von seiner „kranken Leber“ spricht. Selimovićs Held setzt seinen eben operierten Fuß zu demselben Zweck ein: „Ich verstecke meinen kranken Fuß, bemühe mich, dass ich so wenig wie möglich hinke, aber vor denen, die mir nahe stehen, sage ich, dass es für mich mühsamer ist als

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in Wirklichkeit. Ich möchte gerne, dass sie mich bemitleiden, sich Sorgen machen und es ist mir nicht recht, wenn ich dabei erfolglos bleibe.“ (T., S. 189)

Er neigt ebenso zu Widerspruch, anscheinend allein aus Widerspruchsgeist heraus, in Wirklichkeit steht dahinter jedoch seine unerfüllte Sehnsucht nach Liebe. Als Olga, eine Bekannte, in die er verliebt ist, meint: „Der Mensch öffnet sich allen in Wort, Blick, Taten“, erwidert er, „Der Mensch verbirgt sich in Wort, Blick, Taten, in allem“. (T., S. 197) Er ist ein gespaltener Mensch, wie viele der Helden Dostojewskijs. So gesteht er Mira, dem Mädchen, das er heiraten möchte, „meine nicht-zynische Hälfte liebt Dich sehr“. (T., S. 222) Und als ihn Mira und sein Freund Duško im Spital besuchen, meint er: „Ich weiß, dass ich manchmal unangenehm bin, euch quäle. Aber wen soll ich quälen, wenn nicht euch? Ihr seid mir die nächsten, ich liebe euch beide und habe das Recht unangenehm zu sein.“ (T., S. 172)

Und er fügt sofort bei sich einen zynischen Kommentar hinzu: „Mein Gott, wie leicht ist es, gute Menschen mit einigen, auf den ersten Blick aufrichtigen Worten zu ködern.“ (T., S. 173) In seinen Reden überwiegt allerdings die „zynische Hälfte“ seines Ichs! Er ist ein zutiefst innerlich vereinsamter Mensch, der seine Sehnsucht nach Liebe, nach einer erfüllten Beziehung zu einem Du unter der Maske des Zynismus, des Selbstmitleids, der Aggressivität verbirgt, sich letztlich aber der Vergeblichkeit seiner Bestrebungen bewusst ist: „Die Persönlichkeit ist notwendigerweise in sich geschlossen und unsere Auflehnung gegen diese Gegebenheit ist nur vergebliches Streben nach dem, was es nicht gibt“ (T., S. 200) „Ich kenne niemand, ich habe keine Verpflichtungen außer, dass ich unbemerkt bleibe. Ich fühle mich isoliert, fremd, nichts gehört mir“. (T., S. 111)

Dies gilt aus seiner Sicht für alle Menschen: „Die Menschen sind letztlich isoliert, eine Einheit ist nicht möglich ...“ (ibid.). Und: „Wir sind in der Welt allein.“ (T., S. 143) Dostojewskijs Untergrundmensch verwendet das Symbol der „Mauer“ für die Unmöglichkeit, aus seiner naturgesetzlich vorgegebenen Beschränkung seines Ichs auszubrechen. Selimović spricht von „Festung“ und „Bunker“ (T., S. 155 u. 59), in der sich das Ich des Individuums zurückzieht, er spricht von „unüberbrückbaren Entfernungen von Mensch zu Mensch“. (T., S. 61) Die „Mauer“ taucht als Symbol aber auch bei Selimović auf: „Die Gewohnheiten errichten um uns eine Mauer. Und von daher entstehen wiederum Gewohnheiten. Und immer so weiter“. (T., S. 53) „Wir leben ein jeder für sich. Die Mauer unseres Elends steht zwischen uns.“ (T., S. 156) Ähnlich wie der feuchte Schnee (mokrij sneg) in Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund dienen auch bei Selimović Regen, Kälte und 221

Schnee als Symbole einer inneren Kälte und Vereinsamung: „Ich verbarg mich vor dem Regen, der Kälte, der Vereinsamung.“ (T., S. 121) „Langsam gehe ich auf der schneebedeckten Straße, Schritt für Schritt, den einen länger, den anderen kürzer, ich habe keinen Ort, zu dem ich eilen könnte, niemand erwartet mich ...“. (T., S. 177) Als sein Heiratsantrag bei Mira auf Ablehnung stößt, geht er, verletzt und in die Einsamkeit zurückgestoßen, mit ihr durch die Stadt: „Es schneit. Hinter uns bleibt eine dunkle Spur auf einer ungewissen, weißen Fläche zurück.“ (T., S. 145) Der Satz wird wenige Seiten später wortwörtlich wiederholt. (T., S. 149) Auch Selimovićs „Untergrundmensch“ suchte mittels der Liebe aus der „Festung“ seines Ichs auszubrechen. Das Mädchen Mira, das er zuerst im Zug, dann auf dem Schiff getroffen hatte, das ihn von der Front nach Belgrad brachte, hat selbst Sehnsucht nach Liebe. (T., S. 57) Die Beziehung entwickelt sich aber nach einer intimen Begegnung in der Art eines Duells, ähnlich wie bei Liza und dem Menschen aus dem Untergrund. Die Liebessehnsucht des Helden bleibt unerfüllt. Eine innere Leere, aus der letztlich Hass entspringt, hält der Liebe das Gleichgewicht. (T., S. 100) Als ihn Mira nach seiner Fußoperation im Spital besucht, inszeniert er analog zum Untergrundmenschen Dostojewskijs den Dialog mit ihr nach szenischen Anweisungen, die er sich selbst ausdenkt: „Nun gut, wollen wir spielen ... ich will deine Art akzeptieren, ich werde mich so anstellen, als bemerkte ich überhaupt keine Veränderung. Wir werden einander Liebe vorspielen, eine leichte Eifersucht, eine nervöse Unzufriedenheit, eine neckische Zärtlichkeit, so wie immer, nur wird es für dich vielleicht schwerer sein, falls du nicht bemerkst, dass ich dir das vorspiele, du wirst denken, dass du mir Unrecht tust.“ (T., S. 170)

Dasselbe wiederholt sich in seiner Beziehung mit Olga. Als Selimovićs IchErzähler Olga seine Zuneigung erklärt, fügt er bei sich hinzu – und das ist nun ein wörtliches Zitat aus Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Untergrund: „Ich weiß nicht, warum ich das alles nötig hatte“, aber hat auch schon eine Erklärung für ihre Zuwendung zur Hand: „... ich war all das, was sie wollte, unglücklich in der Liebe, vereinsamt, verbittert, edel, ein Träumer, aber all das war aus Lügen geboren, die aber nicht ganz Lüge waren, aus Halbwahrheiten, sogar aus Wahrheiten, die einen anderen Sinn und eine besondere Bedeutung gewannen ...“. (T., S. 199)

Die neue Beziehung entwickelt sich bald wie vorher das Verhältnis mit Mira, denn wie auch bei Dostojewskijs Menschen aus dem Untergrund läuft bei ihm ein vorgegebenes Reaktionsschema ab, das von seiner Ichbezogenheit bestimmt wird:

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„Wie wir einander bloß in die Augen blickten und einer den anderen belogen, eine Zärtlichkeit vorspielten, die es nicht gab, über die Zukunft sprachen und dabei darauf warteten, dass wir auseinander gehen würden, loyal waren, aber die Schuld beim anderen suchten.“ (T., S. 200)

Der Gegenspieler des Menschen aus dem Untergrund ist bei Dostojewskij der „homme de la nature et vérité“, wie ihn Dostojewskij spöttisch nennt, der die „Mauer“ akzeptiert und es sich in seiner beschränkten Welt gemütlich einrichtet. Auch in Stille Zeiten taucht dieser Gegenspieler des Helden auf. Der Erzähler selbst nennt ihn „mein Gegenteil“ (T., S. 75) und sagt von ihm: „Nichts Lebendiges, nichts Unvorhergesehenes darf sich ereignen, alles hat seine Form und Formel, deren es nicht viele gibt, so wie bei den Geboten Gottes, aber sie sind streng und eintönig. Er will ihnen entkommen, das ist unmöglich, denn sie sind unantastbar. Was sollen wir tun? Es bleibt uns nur zu fluchen oder zu weinen.“(T., S. 22)

Er wirft ihm vor: „Dich quälen keine Komplexe, Du hast keine Vorurteile und Dein Fuß tritt sicher auf, auf dieser Erde. Du blickst nicht zurück, schwankst nicht, lebst nicht von Erinnerungen, blickst zufrieden hinter Dich, und kühn vor Dich, die Welt gehört Dir, Dein Name lautet Stabilität.“ (T., S. 133)

Damit ist das Grundschema in der Personen- und Motivkonstellation der Aufzeichnungen aus dem Untergrund bei Selimović im Roman Stille Zeiten in einer zeitgenössischen und originellen Variante erneuert worden. Ein weiteres verbindendes Element ist ein Hang zu einer Symbolik, die einen philosophischen und existenzialistischen Einschlag zeigt. Ich möchte hier abschließend zwei Beispiele, den Fluss, bzw. das Wasser, und die Sonne herausgreifen. Am Beginn des Romans Stille Zeiten steht eine Flussüberquerung. Etwas später folgt eine Fahrt zu Schiff auf diesem Fluss in einer sonnenüberstrahlten Landschaft. Im ersten Kapitel des Romans Die Fähre („Skela“), trennt der Fluss zwei Welten, die Welt des Krieges und die des Friedens. Für den Ich-Erzähler hat der Fluss aber nicht nur eine räumliche, sondern zugleich eine zeitliche Funktion. Er bildet auch die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft: „Hier ist die Grenze zwischen den Jahren, die vergangen sind, und dem Leben, das mich erwartet.“ (T., S. 7) Der Fluss ist eine Grenze, die selbst außerhalb jeder zeitlichen Fixierung liegt, in der Zeitlosigkeit zwischen Gegenwart und Zukunft: „Ein Teil meines Lebens ist vollendet, der andere hat noch nicht begonnen, und ich befinde mich nirgendwo, und wie wird sich im momentanen Übergang von dem, was ich war, und dem, was ich noch nicht bin, etwas ereignen können?“ (T., S. 7)

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So ist der Fluss als Symbol identisch mit den „tišine“ [= den stillen Zeiten] des Titels, denn auch die „tišine“ sind ein Kürzel für die Zeitlosigkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ausdruck des „Augenblicks im Übergang“, der „schrecklichen Stille, die zwischen dem sich erhebt, was schon vollendet ist und dem, was noch nicht begonnen hat ...“. (T., S. 186) Ganz ähnlich ist die Situation des Helden bei Dostojewskij: In Schuld und Sühne überquert Raskolnikow die Kanäle von St. Petersburg. Seine wechselnden Reaktionen auf das Wasser sind Ausdruck seines Schwankens zwischen Gut und Böse. Bereits im ersten Satz von Dostojewskijs Roman wird die Brücke erwähnt, die Raskolnikow überqueren muss, um den Ort seines geplanten Verbrechens zu erreichen. Auch hier trennt das Wasser Vergangenheit und Zukunft, Gut und Böse. Eine andere Funktion hat das Wasser im dritten Kapitel der Stillen Zeiten, Der Fluss (Rijeka). Es trägt den Ich-Erzähler in die Welt des Friedens, heimwärts, ist aber immer noch ein Zwischenbereich, ein Niemandsland zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er spricht von der Trunkenheit „von der Sonne, dem Wasser und der Ferne, nach der wir uns sehnen, ohne dass wir uns aber wünschen, dass sie sich uns nähert“. (T., S. 28) Das rätselhafte Mädchen aus dem Zug (Mira) steht neben ihm am Bug des Schiffes im hellen Sonnenschein: „Alles wartete auf diesen rot glühenden Augenblick, der weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, der nur sich selbst anerkennt, und in dem alles möglich wird.“ (T., S. 29) Dieser Augenblick im Niemandsland der Zeitlosigkeit wird zu einem „kurzen Augenblick der Extase“ (T., S. 29), in dem die Normalität des Lebens „verrückt“ [im doppelten Wortsinn!] wird. Hier erinnert sich der Leser, dass sich Raskolnikow in einem Tagtraum, auch da ist die Zeit aufgehoben, in einer Wüste wieder findet und in einer Oase von klarem Wasser trinkt. Ein letzter Versuch seines Unterbewusstseins, die böse Tat zu vermeiden, vom „Wasser des Lebens“ zu trinken. In beiden Romanen hat auch die Sonne eine symbolhafte Bedeutung. Ihr klares Licht steht für die Ausstrahlung des Guten, letztlich Gottes. Sonja in Schuld und Sühne wohnt in einem sonnendurchfluteten Zimmer, die Kuppel einer Kathedrale in St. Petersburg ist vom Sonnenschein erfüllt, die Sonne geht unter, als Raskolnikow den Mord plant. Sie blendet ihn auf dem Weg zur Polizeistation. In Stille Zeiten verleiht die Sonne dem rätselhaften Mädchen eine unerwartete Schönheit: „Jetzt ist die Schönheit erblüht. Was haben der Morgen und die Sonne aus ihr gemacht?“ (T., S. 27) Wasser und Sonne umfangen den Erzähler und das Mädchen, lassen für einen Augenblick ein unerwartetes Glücksgefühl entstehen: „Die Sonne hatte den bleifarbenen Fluss in Brand gesteckt, und nur wir zwei brennen in diesem Feuer. Nimm uns, Fluss, trinke uns, Sonne.“ (T., S. 29) Seine „nicht realisierbare Sehnsucht nach der Stille“ (T., S. 37) äußert sich etwas später im Roman in dem 224

Wunsch, in ein Holzhaus am Flussufer zu ziehen, „umgeben von den rauhen Naturgewalten“ (T., S. 37), – eine Flucht in die Idylle eines neuen Tagtraums. Als er nach einer Fußoperation im Krankenhaus liegt, möchte er in seinen Wunschträumen wiederum mit Mira weg von der Stadt, ans Flussufer. Sie: „Warum erwähnst Du ständig den Fluss?“ Er: „Ich liebe das Wasser.“ (T., S. 165) Der Fluss symbolisiert hier eine idyllische Zukunft mit Mira und ihrer Liebe. Wir haben in diesen Ausführungen ausgehend von der Biografie beider Autoren Gemeinsamkeiten festgestellt und abschließend einen Roman Selimovićs gegen den Hintergrund von Dostojewskijs Schaffen betrachtet. Die Übereinstimmungen zwischen dem bosnischen Schriftsteller – der gleichermaßen in Sarajevo und Belgrad zu Hause war, seine Werke der serbischen Literatur zurechnete, den moslemisch-bosnischen Charakter seiner Herkunft aber nie verleugnete, in einer multikulturellen Gesellschaft aufwuchs und in der Toleranz einen Grundwert der Gesellschaft sah – und Dostojewskij sind aus literarhistorischer und biografischer Sicht frappant. Eine eingehende Würdigung steht allerdings noch aus!

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4.

Die Geschichte vom alten Mandarin: Varianten eines Motivs

Meša Selimović (1910–1982), dessen Roman Der Derwisch und der Tod (1966) Berühmtheit erlangte, hat mehrere Romane geschrieben, die zu den bedeutendsten Werken der Nachkriegszeit in der serbischen Literatur gehören. Ein wenig bekannter Roman Selimovićs ist Die Insel (Ostrvo), der 1972 erschien. Darin erzählt Selimović von einem älteren Ehepaar, Ivan und Katarina Marić, bereits in der Rente, die auf einer Adriainsel ein Leben in Armut und Einsamkeit führen. Der Roman wird in der dritten Person erzählt, die Perspektive ist meist die der beiden Alten. Im Vordergrund steht Ivan Marić, dessen Gedanken, Gefühle und Erlebnisse einen Großteil des Romans ausmachen. Der Erzähltext ist immer wieder von seitenfüllenden Dialogen der beiden Alten unterbrochen, in denen die Unerfülltheit ihres Lebens, die Leere und Sinnlosigkeit ihrer Existenz zur Sprache kommen. Aus diesem Rahmen fällt ein Kapitel, das nicht nur für dieses Werk von besonderer Bedeutung ist: Soll der alte Mandarin sterben? 301 Worum geht es? Dragan Mikić, ein Neffe der Katarina Marić, ist Student der Soziologie. Eines Tages erscheint er unvermittelt auf der Insel und berichtet, dass er die Sommerferien mit Reisen verbringe in der Absicht, „das Leben kennen zu lernen“. Er bezeichnet sich als „ganz durchschnittlichen Menschen“, der deshalb auch die Gewissheit habe, dass er „nie etwas besitzen werde. Wie auch ihr nichts besitzt. Das liegt anscheinend in der Familie“. Die beiden Alten sind von ihrem Besuch, der in das einförmige Leben Abwechslung gebracht hat, begeistert. An einem Abend beginnt der Student ein Gespräch über die gegenwärtige Zeit: „Heute dienen wir den Dingen und wissen nicht ihren wahren Wert. Die Worte, mit denen die Menschen sich wie mit einem Schild geschützt haben, die uns die Hoffnung erhielten, sind entwertet. Wir haben die Worte getötet, die wir als heilig betrachtet hatten, wir haben sie prostituiert, wir haben daraus Banner gemacht, unter denen wir marschieren und haben die Menschen dabei zertreten. Können wir denn noch die Worte Brüderlichkeit, Frieden, Solidarität, Glück, Einfachheit, Liebe, Freiheit gebrauchen?“

Die gegenwärtige Welt wäre eine der „aggressiven Sinnlosigkeit“, der „Wasserstoffbomben und des ideologischen Schnellfeuers“. Dragan spricht dann erneut von der Armut. Tante und Onkel geben zu, dass sie sich bereits an das bescheidene Leben gewöhnt hätten. Dies ist der geeignete Moment für

301

Siehe M. Selimović: Ostrvo. Bd. 7 der 10-bdg. Werkausgabe. Beograd 1983, S. 139– 151. Deutsche Übersetzung in folgenden Zitaten von R. N.

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Dragan, um die Geschichte vom alten Mandarin zu erzählen. Er verweist auf Balzac, der „an Rousseau erinnerte“ und „seinen Leser fragte, was er täte, wenn er sich auf diese Weise bereichern könnte, dass er einen alten Mandarin in China tötet“. Die Antwort der beiden ist wie erwartet: „Gott behüte!“ Ihre Moralvorstellung, ihr Gewissen würden es nicht zulassen, sich mittels eines Mordes zu bereichern. Selimovićs Roman ist in seiner Gestimmtheit, in der Darstellung der Grundbefindlichkeiten seiner Figuren dem Existenzialismus verpflichtet. Dies wird in der Charakterisierung des alten Onkels deutlich, der sein Leben als „Leben zum Tode“ empfindet und über die existenziellen Grundlagen seines Seins nachgrübelt. In diesem Zusammenhang ist eine Frage von Interesse, die sich die beiden alten Leute stellen, als sie ihr Leben mit dem Dragans vergleichen: „Ist es besser lange auszuharren, obgleich sich nichts bei dir ereignet, oder ist es besser aufzuleuchten und zu verbrennen wie ein Komet, der den Himmel bloß für einen Augenblick erhellt. Oder ist alles egal?“

Auch Dragan ist aus der Sicht seiner Wissenschaft, die er pragmatisch versteht, mit einer Grundfrage menschlicher Existenz beschäftigt: Der Natur des Bösen im Menschen. Die Geschichte vom alten Mandarin dient ihm dabei als Mittel zum Zweck, dazu nämlich, die latente Unmoral der Zeit ans Licht zu bringen und an immer neuen Beispielen zu überprüfen. Bevor wir Selimovićs Variante dieser Geschichte weiter verfolgen, soll die Vorgeschichte des Motivs geklärt werden. Vorerst eine Berichtigung des Irrtums, den Selimović von Balzac übernahm. Die erste Version des Motivs findet sich nicht bei Rousseau, sondern in Le Genie du Christianisme. Chateaubriand schrieb diese Apologie des Christentums zu einer Zeit, als die antikatholische Stimmung im nachrevolutionären Frankreich noch spürbar war (1798f). Erst wenige Jahre davor war die Vernunft als höchstes Wesen inthronisiert worden. Chateaubriands Werk sollte dadurch, dass es die „Schönheiten der christlichen Religion“ darstellte, Atheismus und weiteren drohenden Glaubensverlust bekämpfen. Das Werk erschien 1802, in zweiter Auflage 1803 und erneut 1847. 302 Im III. Teil, 2. Kapitel Du remords et de la conscience, sieht der Autor in Gewissensqualen, die den Menschen schon beim Gedanken an eine böse Tat plagen, den Beweis für die Existenz eines in uns aktiven Gewissens, das in der göttlichen Moralordnung seinen Ursprung hat und Chateaubriand letztlich als Beweis für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele dient: „C’est donc 302

Le Génie du Christianisme par M. le Vicomte (François René) Châteaubriand. Paris 1847. Übersetzung R. N.

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une triste nécessité que d’être obligé de nier le remords pour nier l’immortalité de l’âme et l’existence d’un Dieu vengeur.“ An die Stelle des Gewissens tritt dann die Vernunft, die auch das Verbrechen rechtfertigen kann. So weit geht Chateaubriand allerdings nicht. Ihm geht es nur darum, die Existenz von Gewissensbissen als Folge des bösen Gedankens darzustellen. Zu diesem Zweck schlägt er dem Leser ein Gedankenexperiment vor, eben die Geschichte vom alten Mandarin: „Wenn du allein durch einen Wunsch einen Menschen in China töten und sein Vermögen in Europa erben könntest mit der absoluten Gewissheit, dass man niemals etwas davon erfährt, würdest du zustimmen, diesen Wunsch zu hegen? Vergeblich schwäche ich diesen Mord ab, indem ich annehme, dass der Chinese auf meinen Wunsch hin sofort und ohne Schmerzen stirbt, dass er keine Erben hat, und dass sogar bei seinem Tod seine Güter für den Staat verloren wären; vergeblich stelle ich mir diesen fremden Mann als von Krankheit und Sorgen gequält vor; vergeblich sage ich mir, dass sein Tod ein Glück für ihn ist, dass er ihn selbst herbeiruft, dass er nur noch einen Augenblick zu leben hat: Trotz meiner vergeblichen Ausflüchte höre ich im Grunde meines Herzens eine Stimme, die so laut schon gegen den Gedanken an eine solche Annahme aufschreit, dass ich keinen Augenblick an der Realität meines Gewissens zweifeln kann.“

Die wesentlichen Annahmen in dieser fiktiven Situation sind: 1. Das Opfer ist alt, krank und bringt der Gesellschaft keinen Nutzen. Es sehnt sich selbst nach dem Tod. 2. Der Mord braucht nur in Gedanken vollzogen werden. Der Mörder muss nicht selbst Blut vergießen. 3. Kein Mensch erfährt von dem Mord. 4. Keinem anderen Menschen erwächst daraus ein Schaden. Hört der Mensch nur auf Logik und Eigeninteresse, so müsste er sich sagen, dass sich eine solche Tat lohne, bzw. sie gar kein Verbrechen sei. Trotzdem wird im Menschen die Stimme des Gewissens auch schon den Gedanken an diese Tat verdammen, meint Chateaubriand. Eine Generation nach dem Erscheinen von Chateaubriands Werk, dazwischen lag der Triumph und Fall Napoleons, erschien 1834–35 in La Revue de Paris Balzacs Erzählung Le Père Goriot, die 1843 in der Comédie humaine den Szenen aus dem Pariser Leben zugeordnet wurde. Sie spielt im Jahre 1819. Eugène de Rastignac, ein mittelloser Student der Rechtswissenschaft, wird vom skrupellosen Zyniker Vautrin in die Methoden des gesellschaftlichen Aufstiegs im korrupten Paris der Restaurationszeit eingeführt. Rastignacs Freund ist ein junger Medizinstudent namens Bianchon. In der von Geldgier und Karrierismus beherrschten Welt, wo „Reichtum für Tugend“ gilt, spielt sich folgender Dialog zwischen den beiden Studenten ab: ,Warum siehst du so ernst aus?‘ fragte der Mediziner und schob seinen [d. h. Rastignacs] Arm unter den seinen, um mit ihm vor dem Palais auf und ab zu gehen. ,Mich quälen böse Gedanken.‘

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,Welcher Art? Gedanken sind heilbar.' ,Auf welche Weise?‘ ,Man erliegt ihnen.‘ ,Du lachst ohne zu wissen, um was es geht. Hast du Rousseau gelesen?‘ ,Gewiss.‘ ,Erinnerst du dich jener Stelle, wo er den Leser fragt, was er täte, wenn er ohne Paris zu verlassen, reich werden könnte, indem er durch einen bloßen Akt des Willens einen alten Mandarin in China töten würde?‘ ,Ja.‘ ,Na und?‘ ,Ich bin schon bei meinem dreimal dreißigsten Mandarin.‘ ,Ernsthaft. Wenn du wüsstest, dass die Sache möglich ist und ein bloßes Kopfnicken genügt, würdest du diese Bewegung wohl machen?‘ ,Ist dein Mandarin sehr alt? Aber, alt oder jung, paralytisch oder gesund, meiner Treu ... Zum Kuckuck, nein!‘ ,Du bist ein anständiger Kerl, Bianchon. Aber wenn du eine Frau bis zum Wahnsinn lieben würdest, wenn sie Geld brauchen würde, viel Geld für ihre Toiletten, ihren Wagen, ihre Launen, was dann?‘ ,Du raubst mir die Vernunft und willst, dass ich vernünftig überlege.‘ 303

Rastignac weist dann auf seine eigene Situation hin: Er braucht in den nächsten fünf Jahren zweimal hunderttausend Franken. Es folgt seine Antwort auf die selbst gestellte Frage: „Siehst du, es gibt Verhältnisse im Leben, wo man einen großen Einsatz wagen muss und sich nicht begnügen kann, Pfennige aufzulesen.“

Bianchon antwortet ihm: „Aber du stellst die Frage, die auf jeden Einzelnen beim Eintritt ins Leben lauert und willst den gordischen Knoten mit dem Schwert zerschneiden. Um so zu handeln, mein Lieber, muss man Alexander sein, sonst endet man auf der Galeere.“

Balzac konkretisiert die Geschichte vom alten Mandarin in Zeit und Raum, indem er sie in eine fiktive Handlung einbaut. Aus Chateaubriands Gedankenexperiment wird ein dialogisierter Teil eines Erzähltextes. An die Stelle des fiktiven Lesers tritt eine Erzählfigur. Der Text wird zum gesellschaftlichen Experiment. Zwei Reaktionsweisen werden vorgeführt: Die des „natürlichen“ Moralempfindens, verkörpert in Bianchon, und die eines „krankhaften“, weil von den herrschenden Umständen verdorbenen Empfindens, verkörpert in Rastignac. Es mag nicht zufällig sein, dass Bianchon das Studium der biologischen, physiologischen, d. h. „natürlichen“ Seite des Menschen 303

Honoré de Balzac. La Comédie humaine. 2. Paris 1965, S. 260. Dt.: Vater Goriot, Hamburg 1953, S. 178f.

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zugeordnet wird, Rastignac andererseits das Studium der nach Logik und Ratio entworfenen Rechtsordnung. Bianchon lehnt eindeutig ab: „Ich bin mit der bescheidenen Existenz zufrieden ... Unser Glück, mein Lieber, ist ganz an uns gebunden ... auf das innere Erlebnis allein kommt es an.“

Rastignac hingegen zieht die Möglichkeit, mit einem Schlag reich zu werden, in Betracht, ohne dabei Gewissensbisse zu empfinden. Das heißt aber nicht, dass Balzac die Existenz des Gewissens in Abrede stellt, im Gegenteil, er zeigt seine Wirkung anhand von Bianchons Verhalten, das bei Rastignac Mitgefühl weckt. Im Gegensatz zu Chateaubriand lässt Balzac aber die Möglichkeit eines Mordes aus „guten Gründen“, die eine verdorbene Gesellschaft mit ihren maßlosen Ansprüchen liefert, zu. Ein zweiter Aspekt ist neu: Bianchon verweist auf Alexander den Großen, der den gordischen Knoten kurzerhand, da er ihn anders nicht lösen konnte, mit dem Schwert zerschnitt, und sieht darin eine Parallele zu Rastignacs Bejahung des Mordes. Damit sagt er implizit, wer die Macht eines Alexanders hat, darf zu Gewaltlösungen greifen, die Mord einschließen. Wer aber so handelt wie Alexander, ohne Alexander zu sein, der endet, wie Bianchon hinzufügt, „auf der Galeere“. Damit wird im Grund, ohne dass es explizit gesagt wird, eine doppelte Moral vorausgesetzt: Die des Herrenmenschen Alexander und die des Massenmenschen (der potenziellen Galeerensträflinge). Im ersten Fall ahndet die Gesellschaft die böse Tat nicht, im zweiten Fall hält sie eine schwere Strafe bereit. Bianchons Bemerkung zu Alexander ist allerdings nur eine Randbemerkung. Dostojewskij hat eine Generation nach Balzac das Motiv erneut aufgegriffen und weitergeführt, allerdings ohne den Mandarin zu erwähnen. Dabei griff er auf Bianchons Anmerkung zu Alexander zurück und machte sie zur Grundlage seiner Argumentation. Im Roman Schuld und Sühne (1866) tritt die alte Pfandleiherin Aljona an die Stelle des Mandarins. Dostojewskij hat die Ausgangssituation verschärft. Während der Mandarin der Gesellschaft weder schadet noch nützt, ist die Wucherin ein „Parasit“, ein „Geschwür“ am Gesellschaftskörper. Ihre Tätigkeit ist unmoralisch, ihre Existenz fügt den Menschen Schaden zu, sie ist Ausdruck einer kranken Gesellschaft. Der Student Raskolnikow, dem Rastignac Balzacs nachempfunden, möchte Geld, um seiner Schwester, seiner Mutter, sich selbst und letztlich der Gesellschaft zu helfen. Er möchte es sofort. Doch hinter der humanitären Motivation steht noch eine andere, der Wunsch über Geld zur Macht zu kommen. Dostojewskij greift die bei Balzac nur angedeutete Zweiteilung in Herrenmenschen und Massenmenschen auf. Dafür hatte er allerdings noch eine zweite, bedeutendere Quelle in einem Buch von Napoleon III., das 1865 in Paris erschien und noch im selben Jahr in russischer Übersetzung zu lesen war. Im Vorwort zur Histoire de César sprach der gekrönte Autor von der 231

„Überlegenheit dieser außergewöhnlichen Wesen, die von Zeit zu Zeit in der Geschichte erscheinen und wie helle Leuchttürme die Finsternis der Epoche verdrängen und die Zukunft erleuchten“. Als Beispiel nannte er neben Cäsar auch Karl den Großen und seinen eigenen, gleichnamigen Vorgänger. Er meinte, dass diese Großen der Geschichte ihr „Recht“ in sich trügen: „Wehe jenen, die sie nicht anerkennen und sich ihnen entgegenstellen!“ In der St. Petersburger Zeitschrift Sovremennik (Nr. 2, 1865) schrieb ein anonymer Rezensent dazu: „So gibt es also eine Art Logik und eine Art Gesetz, nach denen man die Taten gewöhnlicher Menschen zu beurteilen hat, und eine andere Logik und andere Gesetze, nach denen man universelle Genies, Helden, Halbgötter beurteilen soll ...“

Und er stellte die Frage, die dann auch Raskolnikov quälen sollte: „Wenn aber die großen Genies der Geschichte nicht den gewöhnlichen Gesetzen unterliegen, wenn die Gesetze der gewöhnlichen Logik auf sie nicht anzuwenden sind, dann stellt sich die Frage, wie soll man solche Persönlichkeiten erkennen?“ 304

Der Leser von Schuld und Sühne erkennt unschwer, dass Raskolnikows gesellschaftliche Theorie, die im Roman vom Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch resümiert wird, im ersten der beiden Zitate seinen Ursprung hat. Raskolnikow macht sich die Sicht Napoleons III. zu eigen. Er beruhigt sein Gewissen mit der Annahme, die (Un-)Taten der Großen der Geschichte fanden ihre Rechtfertigung in dem Guten, das letztendlich als Resultat daraus hervorging. Es ist dies ein utilitaristisch-philantropisches Mäntelchen im Geiste des aufgeklärten, rationalen Egoismus, welches hier dem Gewissen umgehängt wird. Aber Raskolnikow ist jung, das Leben liegt vor ihm, und so stellt sich die im zweiten Zitat formulierte Frage, die implizit auch schon hinter Bianchons Anmerkung zu Alexander dem Großen stand. Die Antwort entspringt der Theorie Raskolnikows von den zwei Menschentypen, den wenigen auserwählten starken Individuen und den vielen schwachen Durchschnittsmenschen. Das starke Individuum wird seine Taten ohne moralische Skrupel vollbringen, d. h. ohne an Gewissensbissen zu leiden; der schwache Durchschnittsmensch, die „Laus“ in Raskolnikows Sprache, wird sie nicht verkraften können. Das Gewissen wird dabei allerdings von einer absoluten, weil göttlichen Instanz abgewertet zu einer Reaktion des schwachen, zur eigenen Tat unfähigen Menschen. Es wird zu einer Reaktion, die verhindert, dass sich die Menschen gegenseitig vernichten. Im Sinne der positivistischen Naturwissenschaft wird es als Instinkt gewertet. Der außergewöhnliche

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Siehe R. Neuhäuser: Dostojewskij: Schuld und Sühne. In: B. Zelinsky (Hg): Der russische Roman. Düsseldorf 1978, S. 161–187 u. 415–419.

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Mensch hat die Kraft und die Pflicht, sich darüber hinwegzusetzen. Mit diesen Gedankengängen wird der Mord an der Wucherin, für den Raskolnikow anfangs utilitaristische und humanitäre Motive vorgeschoben hat, zum Test an der eigenen Person. Raskolnikow will anhand des Mordes entscheiden, ob er ein „Napoleon“ oder eine „Laus“ ist, ob er fähig ist zur Macht und sich über die Physiologie des natürlichen Instinkts hinwegsetzen kann. Dostojewskijs Darstellung des Themas schließt eine metaphysische Dimension ein: Der nach Macht strebende Mensch setzt sich mit seinem Ansinnen, über Leben und Tod anderer zu entscheiden, an die Stelle Gottes. Er handelt autonom, er wird zum Menschengott. Dostojewskij will zeigen, dass bewusster Mord nur auf dem Boden einer atheistischen Weltanschauung möglich ist, bzw. Mord impliziert auch die „Ermordung Gottes“ im Menschen. Doch selbst dann verstummt das Gewissen nicht, meint Dostojewskij und zeigt dies am Beispiel Raskolnikows. Durch tätige Liebe, wie sie ihm Sonja entgegenbringt, wird er so weit gebracht, dass er zu Einsicht und Umkehr kommt. Soweit Dostojewskij, der die Geschichte vom alten Mandarin zum Strukturmuster für die Handlung seines Romans gemacht hat. 305 Der Leser des 20. Jahrhunderts kann Parallelen zum Handeln eines Hitler oder Stalin ziehen, er wird aber auch die Bedingtheit von Dostojewskijs Konzeption sehen, die von typischen Motiven des 19. Jahrhunderts, dem utilitaristischen Denken, dem positivistischen, naturwissenschaftlichen Weltbild, und als Gegenposition einem fast fundamentalistischen Christentum geprägt ist. So hat Dostojewskij augenscheinlich auch nicht den geringsten Zweifel, dass das Gewissen auch im Mörder so wirkt, wie es der Beispielfall „Raskolnikow“ zeigt. All dies kann den Menschen des 20. Jahrhunderts nicht ganz zufrieden stellen. Auch ist anzumerken, dass Dostojewskijs Konkretisierung der Geschichte vom alten Mandarin auf den amoralischen Menschen zielt, den Verbrecher, bzw. zumindest auf den, der temporär die „normalen“ moralischen Wertmaßstäbe verneint. Diese Bedenken scheint Meša Selimović geteilt zu haben, als er 1972 im 14. Kapitel des Romans Ostrvo erneut Chateaubriands Gedankenexperiment aufgriff und im Kontext seiner Zeit neu formulierte.

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Dass Dostojewskij die Geschichte vom alten Mandarin in der Fassung Balzacs gekannt hat, geht aus dem Manuskript der Puschkinrede hervor, die er im Juni 1880 in Moskau hielt. Darin resümiert er Balzacs Text (vgl. F.M.D. PSS, Bd. 26, S. 288). In der Endfassung der Rede wird Dostojewskijs Variante der Antwort Bianchons Puschkins Tatjana aus Eugen Onegin in den Mund gelegt: „Ich will nicht glücklich sein, wenn ich damit einen anderen verderbe!“ (op.cit., S. 142). Diese Formulierung stammt zwar aus dem Jahr 1880, ist aber implizit bereits in Schuld und Sühne gegeben.

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Der Beginn des Kapitels wurde eingangs referiert. Der Student Dragan Mikić modifiziert nun schrittweise die Rahmenbedingungen für die böse Tat. Zuerst kombiniert er Motive, die schon Chateaubriand, Balzac und Dostojewskij anführten: „Es würde reichen, dass ihr bloß wünscht, dass er stirbt, ohne dass ihr euer Haus verlässt. Dem Mandarin nützt sein Reichtum nichts, ihr könntet ihn mit Nutzen verwenden: Um gute Werke zu verrichten, den Armen zu helfen, die schrecklichen, sozialen Unterschiede in der Welt zu mildern. Der Reichtum, der beim alten Mandarin brach lag, würde dem menschlichen Glück dienen.“

Es ist augenscheinlich, dass sich Selimović mehr an Dostoewskij als an dessen Vorgänger orientiert. So findet sich die humanitäre Zielsetzung, die ungerechte Verteilung der Güter durch eine gewaltsame „Umverteilung“ zu mildern, erst bei Dostojewskij. Als Tante und Onkel aber bekräftigen, dass sie den alten Chinesen am Leben lassen würden, setzt Dragan erneut zum Angriff an. Er verweist nun explizit auf Dostojewskijs Raskolnikow: „Soll man eine alte Frau, eine Laus, erschlagen, wenn andere davon Nutzen hätten? Das ist die Frage von Mittel und Zweck, die älteste moralische Frage der Welt. Mit seinem Roman beantwortet Dostojewskij die Behauptung Nietzsches, dass der außergewöhnlich willensstarke Mensch, der Übermensch, das Recht hat, sich anderer Menschen zu bedienen, ohne Rücksicht darauf, ob er dabei auch zu den schlimmsten Mitteln greift. Die moralische Frage ist eine Frage der Macht, sagt Nietzsche. So denkt auch Raskolnikow. Dostojewskij aber sagt: ‚Nein! Macht ist unmoralisch, die Moral gehört zum Wesen des Menschen: Die wahre menschliche Moral lässt nicht zu, dass einem anderen Menschen Böses getan wird, aus welch Gründen auch immer, sei es auch um irgend eines großen Zieles halber. ,Dem stimme ich zu!‘, – sagte Ivan. ,Ich auch!‘, – sagte Katarina.“

Damit scheint Chateaubriands These von der Wirkung des Gewissens bestätigt. Selbst die eigene Armut und die humanitären Argumente können die Moral der beiden Alten nicht erschüttern. Dragan verstärkt nun die schon bei Balzac und Dostojewskij vorhandene negative Sicht der Gesellschaft als einer chaotischen Welt, in der das Böse zu regieren scheint, durch einen Verweis auf den Marquis de Sade und dessen Gesellschaftsverständnis als eines Zustandes ewigen Krieges zwischen den Starken und Schwachen, in dem der Egoismus und die Machtgier des Einzelnen die stärkste Triebkraft sind: Eine Gesellschaft, in der jeder tun kann, was er will. Dragan resümiert dann Raskolnikows Theorie von den Großen der Weltgeschichte wie Lykurg, Solon, Mohammed und Napoleon, deren Taten die Welt veränderten, wenngleich unter Blutvergießen. Ihnen stellt er die Masse der Durchschnittsmenschen gegenüber: „Das Material ... die gewöhnlichen Menschen, gehorsam, gutmütig, konservativ.“ Anders als sie treten die

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„,wahren Menschen, die der Welt ein neues Wort sagen können‘, das Gesetz mit den Füßen; sie streben die Vernichtung dessen an, was besteht, im Namen von etwas Besserem.“

Hier werden zeitgeschichtliche Bezüge sichtbar. Dragan stellt die Konsequenzen deutlich dar: „Wenn ein solcher Mensch über eine Leiche schreiten muss, durch Blut, dann gibt er sich selbst die Erlaubnis dazu!“

Und er schließt: „Er zerbricht sich nicht den Kopf mit der Frage – soll der Mandarin sterben oder leben. Selbst 100.000 Mandarine sind da nicht wichtig.“

Damit hat Selimović die Problematik von Schuld und Sühne vom 19. ins 20. Jahrhundert transponiert. Doch ist dies noch nicht das Ende von Dragans Geschichte. Als die beiden Alten wiederum ablehnen, den Mandarin sterben zu lassen, führt er seine Argumentation noch einen Schritt weiter. Dragan weist darauf hin, dass die „frühen Moralisten“ die Frage nach der Moral von der Existenz Gottes abhängig machten: „Wie würden die heutigen Menschen handeln, wenn sie damit den Sieg einer Ideologie herbeiführen könnten?“

Es zeigt sich, dass die beiden Alten auch bei dieser Fragestellung den alten Mandarin nicht opfern. Dragan behauptet hingegen, dass die Mehrheit der Menschen einwilligen würde und sollte auch eine Million Mandarine dabei das Leben verlieren. Er verweist als Beispiel auf zeitgenössische Terrorkommandos. Onkel und Tante distanzieren sich aber davon. Da entwirft Dragan ein fantasievolles Bild. Er schlägt dem Onkel vor, sich vorzustellen, er sei der Generalsekretär der Großen Weltpartei der Pensionisten, deren Programm in Folgendem bestünde: „Alle Pensionisten der Welt sind Brüder, sie seien einander tatsächlich gleich, ein jeder tue dem anderen Gutes und alle zusammen den übrigen Menschen.“

Dragan malt das Bild dieser Partei in den rosigsten Farben. Die zentralen Passagen dieses Plädoyers für eine bessere Welt lauten: „Die Pensionisten haben Lebenserfahrung, sie werden nicht mehr von stürmischen Leidenschaften geleitet, sie können an das Wohl der anderen ebenso denken wie an das eigene, sie kennen und schätzen die wahren Werte sowohl unter den Menschen wie auch für sie, sie könnten sich aufrichtig gegen den Krieg wenden, denn der Krieg bringt Armut, Vernichtung und allgemeine Verrohung, die sich dann wie eine Krebszelle von selbst weiter vermehrt. Die Große Weltpartei der Pensionisten würde Wissenschaft und Künste unterstützen, würde sich um Schulen, um die Gesundheit, Sozialdienste – sie sind am notwendigsten – sorgen ...“

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Dragan zeichnet das Bild einer Welt, in der alle Menschen in Frieden miteinander leben und ihr gesichertes Auskommen haben: „ ,Friede und Wohlstand allen Menschen!‘ – das könnte die Devise der Großen Weltpartei der Pensionisten sein, …“

beendet Dragan seinen Entwurf einer besseren Zukunft. Diese utopische Vision erinnert deutlich an die künftige Weltordnung, wie sie der Revolutionär Schigaljow in Dostojewskijs Roman Die Dämonen und der Großinquisitor in seinem Monolog entwarfen. Dann kommt Dragan zum entscheidenden Punkt. Er wendet sich direkt an den Onkel: „Und du stehst an der Spitze dieser mächtigen, internationalen Organisation, welche die Menschen weder nach Rasse, noch nach Hautfarbe, noch nach Nation oder Reichtum unterscheidet, denn alle sind gleich und alle sind reich … Aber damit all dies verwirklicht wird, muss eine Bedingung erfüllt sein: Der alte Mandarin in China muss sterben. Es ist nicht nötig, irgendetwas zu unternehmen, man muss es nur wünschen, ohne sich dabei aus dem Haus zu bewegen: Der alte Mandarin soll sterben! Wozu würdest du dich entscheiden?“

Da beginnt der Alte zu schwanken und vergewissert sich: „Und diese Partei würde allen Menschen ihr Glück bringen?“ Darauf Dragan: „Davon bist du überzeugt.“ Der Onkel zögert, sagt dann aber leise: „Er soll sterben!“ – Die Tante erregt sich darauf und meint: „Ich bin dafür, dass er lebt!“ Da variiert Dragan, der längst begriffen hat, dass seine Tante ein religiöser Mensch ist, die Situation: „Wenn es aber so wäre, sagen wir, dass die Kirche die ganze Macht in der Welt übernehmen soll, um das Reich Gottes herbeizuführen und die Bedingung wäre, dass der Mandarin stirbt, wofür würdest du dich entschließen? ,Wenn das so ist, dann ist es etwas anderes. Möge Gott mir verzeihen: Er soll sterben!‘ “

Dragans Kommentar dazu: „Möge Gott der Menschheit beistehen!“ Darauf die beiden Alten: „Weshalb? Haben wir einen Fehler gemacht?“ Dragan erwidert: „Nein. So würde heute die Mehrzahl der Menschen handeln.“ Man sieht in der Entwicklung der Geschichte vom alten Mandarin von Chateaubriand bis Selimović eine Hinwendung vom Individuellen zum Gesellschaftlichen. Dies beginnt bei Balzac noch in Form einer Randbemerkung, wird bei Dostojewskij als vordergründig humanitäre Motivation dargestellt, und bei Selimović ideologisch begründet. Dostojewskij folgert aus dem „Mord an Gott“ und dem Gewissen (das sich allerdings nicht beseitigen lässt), dass die Lust nach Macht das fundamentale Motiv für den Mord ist. Im Mord testet sich das Individuum, ob es fähig ist, nach der Macht zu greifen. Das Regulativ für diese negative Entwicklung ist die Religion (Sonja). Dostojewskij kehrte damit zu Chateaubriands Argumentation zurück. Der vom Gewissen geplagte Mörder findet zu Reue und Umkehr (Raskolnikow), 236

der jenseits von Gut und Böse stehende Mensch (Swidrigajlow) endet im Selbstmord. Selimovic wiederholt vorerst die Argumentation Dostojewskijs und aktualisiert sie dann mittels deutlicher Anspielungen auf die Diktatoren des 20. Jahrhunderts, deren Ziel stets „die Vernichtung dessen, was besteht, im Namen von etwas Besserem“ gewesen sei. Dabei kommt es zu einer Verschiebung der Perspektive, wie sie den Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts entspricht. Waren einmal Moral und Glaube fest miteinander verknüpfte Begriffe, die das Gewissen des Menschen bestimmten, so ist es heute anders, denn wir leben in einer durchgehend ideologisierten Welt, einer Welt der „aggressiven Sinnlosigkeit“ und des „ideologischen Schnellfeuers“. Ideologie kann dabei wohl als Kehrseite der Sinnlosigkeit verstanden werden. Die Frage nach Gott, so Dragan/Selimović, stelle sich heute nicht mehr. Damit entfalle auch die Frage der damit verbundenen traditionellen Moral. Bei Selimović geht es nicht um Menschen, die nach Macht streben. Ivan und Katarina Marić sind alles andere als Raskolnikows oder Rastignacs, ein Napoleon oder ein Alexander. Und doch sind auch sie letztlich zum Mord bereit! Was sie und nach Dragan/Selimović die Mehrheit aller Menschen dazu veranlasst, ist die Verbindung von Ideologie und gesellschaftlicher Utopie. Im Dienste einer Ideologie, die vorgibt, eine gesellschaftliche Utopie zu realisieren, sind die Menschen bereit, nicht nur das Leben eines Mandarins, sondern wie Dragan formuliert, auch das von 100.000 Mandarinen zu opfern. Damit nicht genug, weist Dragan/Selimović auch auf die stets vorhandene Gefahr hin, dass eine Religion zu einer Ideologie werden kann, dass im Grunde jede organisierte, auf Machtstrukturen beruhende „Kirche“ mit ihren utopischen Ansprüchen dazu tendiert. Damit hat Selimović eine im Kontext seiner Zeit ernüchternde und erschreckende Bilanz über die Verführbarkeit der Massen durch Ideologie und Utopie gegeben, die zu seiner Zeit höchst aktuell war, allerdings heute angesichts der Veränderungen im gesellschaftlichen Leben der Länder Exjugoslawiens im Zuge der damit verbundenen „Entideologisierung“ dort einer optimistischeren Einstellung gewichen ist, anderswo jedoch bedauerlicherweise weiterhin besteht.

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5.

What is Wrong with America? Today’s Neoliberalism Criticized from the Point of View of the Nineteenth Century “I hate America already now” F. M. Dostoevsky, The Brothers Karamazov “Egoism was the sole, sacred rule of life ... Merchants became rulers, and the government turned into a stock-company.” V. F. Odoevsky, Russian Nights

Russian literature and Dostoevsky in particular have been engaged, more than other European literatures, perhaps, to point out pathways to a brighter future, or, alternatively, to warn of coming disasters. 306 Dostoevsky’s “prophecies“, usually linked to the Demons, the messages of Zosima, the Ridiculous Man and others illustrate both negative and positive aspects of such attempts to predict what is yet to come. Dostoevsky’s acquaintance with radical thinking, in no small measure based on his experiences in Geneva, influenced his negative views of coming political disasters. His interpretation of Russia’s past, on the other hand, nourished his hopes for a brighter future. Predictions concerning the rise and fall of nations, existed in Dostoevsky’s time. Leopold von Ranke and Nikolai Danilevsky were both well-known to Dostoevsky. Recently it has been the Swiss intellectual Jean Ziegler, who gave his reading of coming changes leading to a new world in his book Les nouveaux Maitres du Monde et ceux qui leur résistent (Fayard, Paris 2002), which I shall have occasion to quote later in this paper. Let us first turn to Dostoevsky’s view of America, i.e. the United States, as presented in his novels. The hatred voiced in the first motto comes from the mouth of Dmitrii Karamazov who, while in prison, thinks of an escape to America. He would even go to America, as he says, knowing, as he admits, that this would mean another Siberian Forced Labor Camp (PSS, v.15, p. 486). Having spent there three years, he would then return to Russia, because: “The devil take them, they are not my people, not to my taste! I love Russia, Alexei, I love the Russian God.” 307 America appears as diametrically

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“Ненавижу я эту Америку уж теперь.“ (F. .M. Dostoevsky, Brat'ia Karamazovy). “Эгоизм был единственным, святым правилом жизни;... Купцы сделались правителями, и правление обратилось в компанию на акциях.“ (V. F. Odoevsky, Russkie nochi) „черт с ними, не мои люди, не моей души! Россию люблю, Алексей, русского бога люблю...“; ibid. Translations here and elsewhere by the author R.N. The quotation from Crime and Punishment on p.12 is taken from the Norton Critical Edition

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opposed to Russia. The two seem to be incompatible. The only other reason Dmitrii gives is the practical orientation of American society: “Over there all of them to the last man are sort of unlimited machinists ... it is not in vain they are mechanics.” 308 Apart from Dmitrii, there is his rationalist brother Ivan who meets with Alesha, the third brother, in an inn where Ivan confesses his instinctive and exuberant love of life, the distinctive character trait shared by all Karamazovs, though in very different ways! At age 30, he admits, he would like to “throw the cup to the floor” (“бросить кубок об пол”) a metaphor, we can assume, for committing suicide. But before that takes place, he would return for a final conversation with Alesha, “even from America”. 309 One may surmise that in Ivan’s understanding of American society, it stands for a thoroughly rationalistic and atheistic view of life where Ivan could freely put his ideas into practice. On the other hand, we could also see in Ivan’s American „dream“ an escape from the pressing problems at home, an explanation which would be very much in line with Dostoevsky’s russophile views. At any rate, the result would be the same: It will end most appropriately in suicide. At this point we will remember Svidrigailov’s metaphor for committing suicide – “going to America”! (PSS, v. 6, p. 343f. and 394) The word “America” is used five times in this connection! Svidrigailov earlier had suggested to the victim of his sexual advances to escape with him to “America or Switzerland ... to arrange there for both their happiness.” (PSS, v. 6, p. 215) The combination of the two countries is intriguing. America stands for (moral or actual) suicide, Switzerland for a naive, Rousseau’an idyl. We remember that Prince Myshkin grew up in Switzerland and returned there after the murder of Nastasia! Raskolnikov himself at one point is urged to consider fleeing to America by Svidrigailov! “Well then, you travel some other place, best of all to America! Run off, young man.” 310 He suggests to Dunia, Raskolnikov’s sister, to take him abroad: “If you like, I’ll take him

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(ed. G.Gibian), New York 1964. Quotations from the Notebooks (Zapisnye knigi) for The Adolescent (= A Raw Youth) are taken from the English edition (see „Bibliography“). Brief references and brief original texts will appear in parentheses in the text. „Они там все до единого машинисты необъятные какие , ... не даром же они механики.“ (ibid.) Lack of space does not permit a discussion of British liberalism, e.g. Manchesterism. Dostoevsky did harshly criticize deprivation and impoverishment in London in his Winter Notes on Summer Impressions. He was also well aware of Dickens' descriptions in his tales and novels, yet he did not generalize as in the case of the USA. „Хотя бы даже из Америки!“ PSS, v.14, p. 209 and p. 240! „так уезжайте куда-нибудь поскорее в Америку! Бегите молодой человек!“ PSS, v.6, p. 373; cf. v.7, p. 396f.

240

across the border?” (PSS, v.6, p. 379) We can assume that this has the same meaning as “going to America.” The Demons is the only novel in which we meet characters who actually have been to America, the engineer Kirillov and his friend Shatov who went there presumably inspired by their common mentor Stavrogin. Shatov explains that they wanted to try out the life of American workers and “in this manner to check on the basis of personal experience on our own bodies the plight of man in his most difficult circumstances.” 311 The italicized words convey in a typically Dostoevskian manner the author’s rather negative understanding of America as, we may assume, the most oppressive and exploitative society existing. This implied criticism is expanded when Shatov adds that the two of them initially accepted everything enthusiastically: “We had praise for everything, spiritism, the laws of lynching, pistols, vagabonds” (ibid.). The four aspects that obviously impressed the two Russians most in America stand for a perverted religiosity (“spiritism”), the death penalty administered without proper judicial trial (“lynching”), a gun-doting society (“pistols”) and/or a high rate of crime, and general impoverishment (“vagabonds”). Dostoevsky’s Kirillov and Shatov worked there for an “эксплуататор” who cheated them when they left. This adds a fifth aspect: Exploitation by the employers. The motif of exploitation is mentioned again when Shatov complains that they had to pay “a dollar each” for “things worth a penny” (ibid.). This aspect, we could also name it greed for money, is raised to the status of a leading feature of American life. One may argue that these generalizations go beyond what was on Dostoevsky’s mind, but knowing the importance of symbolic details in his novels we may surmise that we are in all probability not far from truth in our interpretation. This list of potential or real immigrants to America would not be complete without mentioning the adolescent in the novel The Adolescent who also toys with the idea of going to America when he realizes the near impossibility of proving his innocence after being accused of theft in the gambling establishment. (PSS, v. 13, p. 268) In the Notebooks to the novel Dostoevsky was more explicit. “America” as a place of refuge for the adolescent is mentioned there several times. Versilov reveals the motivations of the adolescent: “Now you would like high life, set fire to something, smash it, rise even above Russia, rush on like a thunderstorm and leave everybody frightened and delighted and you yourself, you would hide in the Northamerican

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„таким образом личным опытом проверить на себе состояние человека в самом тяжелом его общественном положении.“ PSS, v.10, p. 111; cf. v.12, p. 293f. See also A.S. Dolinin, Poslednie romany Dostoevskogo, p. 159f.

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States.”( PSS, v. 13, p. 174) Again the motif seems to be an escape from taking over responsibility. (cf. Notebooks, p. 286, which says as much!) Interesting is a phrase referring to the adolescent which appears only in the Notebooks: “to America or kill himself”. (op. cit., p. 277) This sounds like an echo of Svidrigailov’s parting phrase! Once again going to America is equal to committing suicide! By the way, not only the hero of the novel, but also his friend Efim Zverev thinks of possibly going to America! (PSS. v. 13, p. 42) Interesting is another phrase from the Notebooks which echoes Shatov’s words and sounds like a precise summary of Dostoevsky’s criticism: “I am leaving for America. They are depraved to the core.” 312 In The Brothers Karamazov Dostoevsky gives a summary assessment of the desire of Russians to escape to America, in whatever sense we may interpret this phrase. This time it is young Kolia Krasotkin, a representative of the young generation on whom Dostoevsky placed his hopes. He acts as the author’s spokesman: “To run away to America from your fatherland – this is baseness, worse than baseness – it’s stupidity.” (PSS, v. 14, p. 501) His and, obviously, Dostoevsky’s reason is that there is enough to do for young men in Russia, – “to be of use to mankind ... a multitude of productive activities.”(ibid.) Let us now go back in time to see how Russians looked at America up to a century earlier before Dostoevsky gave us his assessment of the New World. This may give us some indication of the views current in Russia with which Dostoevsky came into contact in his formative years. The rise of the American colonies to the status of an independent republic, as well as the Rousseau’an sentiment manifesting itself in the veneration of untouched nature and noble savages, had helped to focus interest on the new nation. At the time when sentimental and preromantic literature were predominant in Russian society, there existed a rather positive picture of primeval nature and innocent savages characterized by a naive and romantic understanding on the Rousseau’an model. As for European immigrants, the future Americans, Russian writers of the time meant Red Indians when they wrote “Americans“, it was the Republican spirit, the scope of civil rights that people enjoyed and the newly gained independence from the British monarchy which drew very positive comments from Russians. N.I. Novikov said of the “American revolution” that it belonged to the “most important events of our age”. 313 In no.47 of the same newspaper edited by Novikov, he published

312 313

Notebook, 499; italics added, R.N.; cf. A.S. Dolinin, Poslednie romany Dostoevskogo, p. 159–162. Moskovskie vedomosti. Pribavlenie, 1784, no.39, p. 306.

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an article A Brief Description of the Life and Character of Washington, in which he formulated what was to become a widely accepted view of General Washington: “He founded a Republic, which, probably, will become a place of shelter for freedom, driven out of Europe by luxury and vice.” Novikov even predicted the fall of the Bastille which was soon to happen! (Mosk. vedomosti, 1786, no. 90, p. 787) Radishchev went a step further wanting to transplant the “American revolution” to Russian soil in famous lines written between 1781 and 83, when peace was concluded between the warring parties in America: “You triumph! But here we suffer! We thirst for the same, the same, we too.”

And he said of General Washington, an “unbending warrior” (“воин неколебимый”) that he had been led by a vision of freedom: “Your leader is – freedom, Washington” (“Твой вождь – свобода, Вашингтон”). Apart from Washington, it was Thomas Jefferson who was equally highly praised by the liberal intelligentsia, and later, following the Napoleonic wars, by the future decembrists! One of the best-known Russian works dealing with America in the 1780’s was a comedy authored by Krylov who wrote it in collaboration with A. I. Kliushin, entitled The Americans (Amerikancy, 1788; the title meaning “Indians”!) presenting Indians on stage! Understandably Russians at that time depended on foreign sources for information concerning America. Two very popular texts were the Histoire general des voyages (15 vols, Paris 1746–59) by Abbé A. F. Prévost, which appeared in Russian translation in 1785 and W. Robertson’s History of America (1777), translated and published in Russian by the Academy of Sciences in St. Petersburg (1785) that drew a very positive picture of the “American revolution”. Prévost’s work praised George Washington and gave an enthusiastic appraisal of the democratic nature of American life. Diplomatic relations between Russia and America (USA) were finally established in 1808/09 stimulating further interest in the young Republic. Pavel P. Svinin (1787–1839), a writer and diplomat, spent the years 1811–1813 in America as secretary to the Russian ambassador A. Ia. Dashkov. After his return he published two essays based on his American experiences in 1814 which became part of his book Essay about a picturesque journey across North America, published the same year. He presented his readers with lively accounts of Indian life and primeval nature, praising also American schools and education and noting that Americans had gained much by bringing works of art from Italy and Spain to their country.

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The negative view of America found an early representative in Radishchev who had much praise, as we have seen, for the liberties and independence of the new state, but nevertheless did not close his eyes to less positive features. In his famous Journey from St. Petersburg to Moscow he condemned the extermination of the indigenous population by European settlers in harsh words: “Having devastated America, having drowned her fields in the blood of her natural inhabitants, Europeans put an end to killing by turning to what they now found to their advantage.” 314 Radishchev does not overlook either the evils of slavery: “Shall we call a country blessed, where a hundred proud citizens drown in luxury, but thousands do not have the necessary nourishment, nor their own shelter from heat and frost” (ibid.). The actual turning point in the up to then mostly positive, not to say enthusiastic descriptions of the American indigenous population, of romantic nature, and a democratic society inspired by liberal ideas came with the publication of Alexis Comte de Tocqueville’s famous book De la démocratie en Amérique published between 1835 and 1840, the first serious study of democratic government in America. Tocqueville was an astute and impartial observer who had spent almost two years in the USA on a government mission to inspect American prisons and penitentiaries. He saw in democratic government the model for the future development of European states. Yet he was afraid of the potentially unlimited power of majority rule fearing that clever demagogues might influence public opinion and determine the results of elections. Pushkin had received Tocqueville’s book in 1836 and was impressed by it calling it a “famous book“ (“славная книга”), yet as he admitted in the draft of a letter to Chaadaev, he was frightened by the author’s conclusions fearing particularly “an inundation by a democracy worse than that in America” (PSS, 16, p. 421) For him the main features of democracy were a “repulsive cynicism”, “cruel prejudices” and an “intolerant tyranny”. He saw the cause for this in a boundless egoism and a passion for comfort, in greed, hypocrisy and envy between people in America. 315 Chaadaev shared Pushkin’s views. In his Philosophical Letter published in Teleskop (1836, no. 15, p. 293) he mentioned the “materialistic enlightenment of the United States!” (“материальное просвещение Соединненых Штатов!”) Dostoevsky was 15 years old at that time and an avid reader. Famous is Tocqueville’s comparison of the two emerging powers Russia and the United States of America who had taken their places only recently in the first rank of nations unnoticed by the rest of the world, as the author put

314 315

Puteshestvie iz Peterburga v Moskvu. Chapter Khotilov. John Tanner. In: Sovremennik, 1836, kn. 3.

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it. It is understandable that Russians liked to refer to and comment on this passage as we shall see. The continuous popularity of Tocqueville’s study is proved by the fact that both Dostoevsky and Tolstoy mentioned him in their novels! In The Demons we read that old Stepan Trofimovich used to walk in the garden with Tocqueville in his pocket; Tolstoy lets us know that Anna Karenina had read his study as a “fashionable and serious book”! It was in the year of publication of Tocqueville’s book that unfavourable comments on America began to appear. In a journal published in French in St. Petersburg, Revue Etrangère (1832–63), an article appeared by the wellknown French critic Ph. Chasles (russ. Shal’) entitled De la litterature dans l’Amérique du Nord (1835, t. 15, p. 394) in which Chasles maintained that there was no American literature. He considered W. Irving and J. F. Cooper, the American writers best known in Russia, to be English writers who imitated Walter Scott. This view was echoed in the widely read Library for Reading (Biblioteka dlia chteniia) which published a review of American poetry still in the same year (vol.10, otd. II, p. 60) adding: “There cannot be a Byron in poetry in America, even less so a Balzac, a Victor Hugo or George Sand in prose.” Belinsky generalized and expanded this statement in 1836 in his journal Teleskop in his usual effusive and repetitive manner: “May civil prosperity flower in the Northamerican States, may civilization reach the final step, may prisons be empty and tribunals be idle: but if, as people confirm, there is no art, no love for beauty, then I have contempt for this prosperity, I have no faith in this morality, because this prosperity is artificial, this civilization is barren, this morality is suspicious.”

His conclusion is harsh, indeed, and anticipates the judgment of countless commentators of later times: America is leading in technology, “metal roads, post by air, factories, manufactures” (later Dostoevsky was to say “they are all mechanics”!), but hopelessly backwards in the field of morals and ethics, i.e. religious feeling, morality. 316 The opposition America versus Russia actually was not so new. It was already in 1830 that Ivan Kireevsky wrote in his Survey of Russian Literature for the year 1829: “In all enlightened mankind two nations do not participate in the universal inertness: two nations, young, fresh, budding with hope: these are the United States and our fatherland,” 317 anticipating Tocqueville’s similar words, but as yet without attaching any moral qualifications! Hertsen, writing seven years later, put it already differently in a letter of 1837 repeat-

316 317

Teleskop, March, 1836; Belinsky, PSS, 1953. v. 2, p. 47. Обозрение русской словесности 1829-ого года. In: Dennitsa. Al'manach na 1830 god, Moscow 1830; Kireevsky: 61.

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ing this opposition: America, he said, was a country “cold and calculating” (“холодная, расчетливая”), Russia’s future on the contrary was “infinite” (“необъятно”) and he added: “Oh, I believe in its progressiveness.” (SS, 1961, v. 11, p. 368) It was exactly this aspect (“a calculating mind”/“расчетливость”), emphasized already a year earlier by Pushkin and later ridiculed by Dostoevsky, which became most prominent in Russian assessments of American society. N. M. Satin, a friend of Belinsky, also stressed the utilitarian bent of mind in a letter to his friend in December 1837: “They love science – because it is useful; they love children, a wife, because they are useful. They love money ... and all this with a calculating mind, so righteously, so obviously useful...” and he comes to the same conclusions as his friend: “Morality, the rules of honor will become superfluous”.

God himself, he wrote, was for Americans just a “useful prejudice”. 318 The utilitarian principle of usefulness had moved to the foreground by the middle thirties. It was even made responsible for the lack of writers in America, a topic which had turned up already in an article in the Library for Reading (Biblioteka dlia chteniia, 1835, v. 9, p. 108). A rumour had reached Russia a year earlier that W. Irving had died. The journal reacted to the news saying “again sterility has spread” (“вновь наступило бесплодие”) and related this not only to Irving’s supposed death but to “the all-engulfing greed of the Northamericans, a passion which drains in them the springs of inspiration ...” Everything that Americans undertake they do “in order to turn it into ... hard cash”. The mutually exclusive qualities of a materialistic and an idealistic bent of mind were to become a cornerstone of later criticism, the first being ascribed to America, the latter to Russia. We should correctly note, however, that the Russian text was taken from the Revue Britannique which in turn had copied it from the American Monthly Magazine as pointed out by M. P. Alekseev! 319 As we can see, negative assessments of American society as ruled by greed and the desire to make a quick dollar sometimes had roots in the new world itself. A famous example is J. F. Cooper’s pamphlet The American Democrat; or, Hints on the Social and Civic Relations of The United States of America (1838). The author of this critical text was promptly accused of a lack of patriotism. 320

318 319 320

V. G. Belinsky i ego korrespondenty, M. 1948, p. 269f. Cf. Pushkin. Stat'i i materialy, Odessa 1926, vyp. 2, p. 86. “...of all the sources of human pride, mere wealth is the basest and most vulgarminded.” J.F. Cooper, The American Democrat, Vintage Books, New York 1956, p. 137.

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In summary, we can say that the second half of the 1830’s saw a marked increase in the number and intensity of such negative accounts of the New World. Things went so far that the Russian Ministry of Public Education felt obliged to publish an article in 1837 in defense of American literature! The unknown writer complained: “... it is almost considered axiomatic that in commercial America there cannot be any belletristic literature, especially poetry, and that the two novelists known to us [= W. Irving and J. F. Cooper] are only exceptions from the rule.” 321

It is noteworthy, though, that the complaint was directed mainly against European critics whom Russians were liable to follow all too eagerly! But not even this official defendant of the originality of American literature doubted the commercial orientation of American life! Young Dostoevsky must have had ample opportunity to avail himself of the texts in which America appeared as the antipode of Russia being vehemently criticized for its utilitarian tendencies and general greed that supposedly ruled American life. The extermination of the indigenous Indian population and the oppression of the black slaves had also received due attention, though in a minor key, understandable in view of the continuous existence of serfdom in Russia. It is noteworthy, though, that these latter aspects were not part of his critical pronouncements. We could end our essay at this point, as all the essential features characterizing the negative image of the United States obviously had been formulated and presented to the Russian reading public in the course of the 1830’s. However, we shall not stop here without mentioning two more works which offered even more trenchant criticism. One of them Dostoevsky knew definitely, the other remained unknown to him in all probability. Both contain a scathing criticism of the USA describing features which anticipate similar features ascribed to neoliberalism today! Vladimir Odoevsky was among Dostoevsky’s acquaintances whom he had met in Belinsky’s circle. Count Odoevsky invited Dostoevsky to his house in 1845 and a year later wrote a review of Dostoevsky’s first novel. When Dostoevsky came free after his involuntary stay in Siberia he addressed one of his first letters to Odoevsky. We can assume that Dostoevsky had read Odoevsky’s Russian Nights which appeared in 1844, a year prior to their acquaintance. At any rate, the book was in Dostoevsky’s library. Charles Sealsfield’s novel appeared in 1835 in Switzerland, at a time when the author was barely known. The title was Lebensbilder aus beiden Hemisphären (Pictures from Life in Both Hemispheres), the subtitle Die große Tour (The grand Tour). A second edition was published in Stuttgart 321

Zhurnal ministerstva narodnogo prosveshcheniia, 1837, no.11, p. 481f.

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(Metzler) in 1844, the same year when Odoevsky’s novel appeared! This time the title was changed to Morton oder die große Tour. In 1846, Metzler published a second edition of Sealsfield’s Collected Works including Morton oder die große Tour (Bde 7–8). Both authors arrive at very similar conclusions: Sealsfield describes the global activities of a group of businessmen who are in command of what we would call today transnational companies. It is they who exert not only commercial and financial power, but use this for political ends to influence and steer politics on a global scale. Odoevsky’s antiutopia describes an “American colony” which functions on the basis of a utilitarian ideology which penetrates all spheres of life and eventually leads to an aggressive state run by the representatives of financial and commercial power. Actually Odoevsky’s novel is a philosophical study of two warring trends in modern thought, materialism and idealism, patterned on the model of the Platonic dialogues. The leading part is accorded to a figure known to his friends as Faust. We recall that Odoevsky was called “Russian Faust” by his friends. Faust defends the primacy of the irrational and creative forces in man, his longing for eternal values embedded in religion, ethics and art; i. e. the fundamental values of an idealistic weltanschauung. His views are questioned by a group of young friends who defend the modern emphasis on what is useful to man, especially in commerce and technology, representing the utilitarian and materialistic world view. Faust’s description of Adam Smith’s theories as the root of modern utilitarian thinking read almost like a description of neoliberal economy of our days: “His main aim was to prove that nobody should interfere in commercial matters and that one ought to leave them to the so-called natural course and to noble competition. One can imagine the delight of English merchants, when they were told from the professorial chair that they had the right to make a profit, to barter and profiteer, to raise and lower prices at will, and by clever tricks without further effort gain a hundredfold, – that they were not only correct, but almost saintly in doing so ... from that time on, the resounding words ’extensive trade' [= globalized economy], 'the importance of trade', the 'freedom of trade‘ [= liberalization of trade] have become fashionable.” (Odoevsky, p. 114. Italics R. N.)

Odoevsky sees in “stock market games”, “monetary feudalism”, “speculation”, the consequences of the “doings of bankers”. (“банкирские дела,” ibid.) Bentham, according to Odoevsky, took a further step from “private advantage to social advantage”. (“от частной пользы к пользе общественной” Odoevsky, p. 95) proving that what is useful for all is equally useful for the individual. We note that we approach Dostoevsky’s reasoning in the first part of his Notes from Underground!

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Odoevsky opposes the “gentlemen utilitarian national economists” who follow Bentham to the “true aim and nature of mankind”. They who solely manipulate the “material levers” of society, keep themselves “bankers, tax collectors, stock exchange brokers, merchants and so forth, and consider themselves entitled to take the first place in mankind, to lay down the laws and show people their goal.” (Odoevsky, p. 111) Egoism becomes the single, sacred rule of life and “the merchants turned into rulers and the government into a stock-company” [= stateless global governance]; today, it seems, almost realized by the US government. 322 The reader will agree that Odoevsky’s criticism of utilitarian thinking is much more incisive than that of Dostoevsky’s Man from Underground. Odoevsky’s penetrating mind seems to lead us straight into the 21st century! But does Odoevsky actually relate this to America, one may ask? Indeed, he does! For Odoevsky it is America that is furthest advanced on the road towards the near absolute rule of bankers and merchants: “... On the other side of the earth there is a country which, it seems, has advanced further along this path; duels are fought no longer by mouth and tongue, not with swords, but simply tooth and nail and this has become a common matter” [= tearing each other to pieces; i. e. predatory capitalism or “Raubtierkapitalismus”]. (Odoevsky, p. 110)

He devotes an entire chapter Fifth Night. Town without a Name to his antiutopia of an American “colony” that based its society on one sole guiding doctrine – Bentham’s utilitarianism. Odoevsky lets Bentham as a young man address people who then go across the ocean to found a colony in the wilderness, based on his social and economic theory. In the words which the author puts into the mouth of Bentham we recognize the fundamental opposition which informs Odoevsky’s book: “Yes, one’s advantage is the fundamental mainspring of all human actions! Advantage and advantage alone – this must be your first and last rule! May all your regulations, your activities, your morals proceed from there! May advantage replace the uncertain foundations of so-called conscience, innate feeling, all the poetic fantasies, all the inventions of philanthropists – and society will attain lasting prosperity.” (Odoesky, p. 99)

The colony is founded, erects a monument to Bentham and organizes itself according to his words. For many years they florish, even “colonizing” a neighbouring colony which seems for them a good place for “so-called exploitation.” Odoevsky uses the word “эксплуатация” and adds a footnote

322

Odoevsky: p. 105f. Cf. Washington Consensus in J. Ziegler: Les noveaux Maitres du Monde, Paris 2002.

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explaining that a word in this sense does not yet exist in Russian. The meaning, he explains, is making a profit on account of your neighbour [“наживка на счет ближнего”]. (op. cit., p. 101) The question soon arises, should they acquire further land by purchase or the use of force. Eventually it is decided, if the former method does not work, the latter prevails. Benthamia, as the colony is called, thrives, subjugates all surrounding countries by intrigues, bribery, fraud, instigating civil unrest and eventually becomes a “powerful and menacing state”. (“Государство грозное и сильное”; op. cit, p. 102). All this they do guided by utilitarian and egoistic considerations: “One thing only was considered to be necessary – to gain some material profit by use of truth or untruth.” (Odoevsky, p. 104) When this principle in the end is taken to extremes, various factions in society pursue conflicting goals, Benthamia, centuries after its foundation, falls apart and ceases to exist. Odoevsky sees the final cause for the downfall in the fact that the “secret springs of the intellect had dried up” (“таинственные источники духа иссякли”) and he lists them in general form as religion, morality (“нравственность”), intellectual pursuits (“умственные занятия”), poetry, music, art. (Odoevsky, p. 106) It remains open to speculation, to what degree Dostoevsky based himself on Odoevsky in his own denunciation of utilitarian thinking more than twenty years after Russian Nights had appeared in print. We can only assume that Odoevsky’s Town without Name and its association with America were known to him and had a place in the formation of his weltanschauung in the 1840’s, when he was in personal contact with the author! The similarity to neoliberal principles becomes even more obvious, when we juxtapose Odoevsky’s description to the picture drawn by a critic of globalization and neoliberalism today Jean Ziegler, in his book Les nouveaux maitres du monde (Paris 2002). Ziegler sees the ideological centre of neoliberalism in the principles listed in the co-called “Washington Consensus” of 1989, formalized by John Williamson, Vice President of the World Bank: It amounts to the abolition of all instances, governmental and nongovernmental that regulate trade, the total liberalization of markets and the establishment of a self-regulating world-market. The aim is “the privatization of the world” leading to “stateless global governance”. (J. Ziegler, p. 51ff.) The Economist commented (London, Sept. 29, 2001, p. 27): “Anti-globalists see the Washington Consensus as a conspiracy to enrich bankers. They are not entirely wrong.” The sociologist Pierre Bourdieu in Paris called it: “... a policy of depolitization, aiming to liberate economic forces from each and every control and restriction, thereby according them a fateful influence and simultaneously subjecting governments and citizens to the thus liberated eco-

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nomic and social forces.” 323 This corresponds exactly to Odoevsky’s criticism and, at the same time, describes the situation today (2012). Let us now turn to Charles Sealsfield whose novel appeared in the same year as Tocqueville’s study of American democracy, a second edition being published the year that Odoevsky’s novel came out! Charles Sealsfield was actually an Austrian monk of the order of “Kreuzherren mit dem roten Stern” in Prague. Born in 1793 he came from Moravia, had intensive contacts with the nobility and freemasonic circles, and fled from the monastery in 1823, pursued by Austrian police. Assisted by his freemasonic friends he managed to escape to America where he assumed an American name and identity. Thereafter he travelled between America and Europe (Paris and London), until finally settling in Switzerland (Solothurn), where he died in 1864. It was only after his death that his true identity was revealed to the public. He is the author of several novels based on his American experiences. Morton oder die große Tour, his penultimate novel, describes America as a country where individuals can develop their personality in freedom. At the same time he condemns the same features in American life as does Odoevsky in his Town without a Name. Sealsfield’s novel in two parts was not finished for reasons unknown to us. His biographer Eduard Castle suggests that Sealsfield was aware of secret free-masonic plans of a conspiracy to change the oppressive political situation of the time by working to transfer power to those who already wielded financial and economic power. Accordingly a kind of “world plutocracy” should collaborate, guided by freemasonic lodges, to bring about the liberation of nations. Castle suspects that it was they who earlier had helped Sealsfield to escape from the monastery, who now put pressure on him not to finish the novel, fearing he might disclose their secret plans. 324 In his novel Sealsfield demonstrates how financial and commercial circles develop strategies using their financial weight and manipulating secret knowledge and information in order to usurp political power. He sketches a world that is in the powerful grip of ten wealthy world-wide operating merchants (“Grosskaufleute”) who wield enough capital to buy influence and to discreetly direct the fate of nations skilfully manipulating and catering to people’s needs. The center of power is located in America. The final aim is to reach complete control of the world [= stateless global governance; see above]. Girard Stephy, an American of French descent and apparently the

323 324

P. Bourdieu, Contre-feux, v. 2, Paris 2001; quoted in J. Ziegler, p. 52. E. Castle, Der große Unbekannte. Das Leben von Charles Sealsfield. [= Karl Postl ], 1952; Reprint Hildesheim 1993, p. 386.

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leader of the group of ten, explains how the “threads” work which he pulls to influence people: “... these threads are manifold. They are blind faith, stupidity, lack of reflection, habit, passion, but preferably sweet money. Once you have spun these threads and have them attached to the people themselves and have them chained to their passions and needs, you can pull them wherever you wish. It is a curious thing, these threads and the needs to which you can fix them or which you can produce with their help.” (Italics R. N.) 325

This sounds like an elementary reader about sales techniques in the neoliberal world of our age. In an almost Dostoevskian manner, Sealsfield makes clear that in the modern world it is no longer values like patriotism or religion that count but interests: “But today, my dear Mr. Morton, there is no more high treason, because there is no more fatherland, no religion for the great. These things exist only for the common people; great people have only interests. This is the chain which binds us together, the aristocrats by birth and money. Today only the common people have a fatherland and a religion. We, the great, have only interests ...” 326

We are back to the same kind of utilitarian thinking as in Odoevsky’s novel. Mr. Lomond, one of five British representatives of the ruling group of ten, explains that he holds the key to everything. He tells Morton, the hero of the novel who is being introduced to this secretive organization, that he can buy armies and soldiers – even government secrets: “We are ten, the invisible decemviri, who now govern the world!” (Sealsfield, p. 177) “There are ten of us scattered over the entire earth and yet together every day, ... we gather weekly, compare notes and determine the course of events in the world ... in

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„... diese Fäden, sie sind verschiedenartig. Sie sind der blinde Glaube, Dummheit, Mangel an Nachdenken, Gewohnheit, Leidenschaft, vorzüglich aber das liebe Geld. Haben sie diese Fäden gesponnen und mit den Menschen selbst in Verbindung gesetzt und sie an ihre Leidenschaften und Bedürfnisse gekettet, dann können sie hinziehen, wohin sie wollen. Es ist eine eigene Sache um diese Fäden und die Bedürfnisse, an die man sie knüpfen oder die man mit ihnen erzeugen kann...“ Sealsfield, p. 102. „Aber heutzutage, lieber Mister Morton, gibt es keine Staatsverräter mehr, weil es kein Vaterland, keine Religion mehr für Große gibt. Diese existieren bloß für die Kanaille; für Große gibt es nur Interessen. Das ist die Kette, die die Aristokraten der Geburt und des Geldes, nämlich uns, die Herrscher der Erde, umschlingt. Nur der Pöbel hat heutzutage ein Vaterland, eine Religion. Wir Großen haben nur Interessen...“ Sealsfield, p. 170f.

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our hands we hold the threads tying every state and family to their existence, from the highest to the lowest.” 327

They are linked, he explains, by their common interest to reshape the world: “In reality we are founding an empire – a church, more glorious and long lasting than the Roman Vatican, and the gates of hell shall not overcome it; for it has been built on their foundations.” 328

According to Sealsfield the foundation of the world-wide rule of commerce and finance under the leadership of a small group of business magnates is evil incarnate. This was repeated by Odoevsky nine years later. In his novel, Odoevsky names a “gentleman” who, he says, “with such skill” gave currency to the terminology of empiricism and utilitarianism, his name is Lucifer who founded his “empire of lies” (“царство лжи”) on them. (Odoevsky, p. 196 and 198) Contrary to Odoevsky, Sealsfield does not foresee an end to the coming rule of the representatives of global trade and finance who manipulate human needs and desires. Indeed, he predicts that they will replace governments and will lead to, using a modern phrase coming from America and incorporated in the Washington Consensus, stateless global governance, institutions of commerce and finance eventually replacing governments. (cf. Jean Ziegler above) Yet one should not forget that Sealsfield did not finish his novel and we do not know what kind of ending might have been on his mind! We shall return to Dostoevsky who illustrated the opposition between the two warring principles materialism (based on utilitarianism and egotism) and idealism (based on ethics and altruism), we could also say between ethics and interest, in an often quoted passage of his novel Crime and Punishment (Part II, chapter 5). He lets Mr. Luzhin, a business man representing utilitarianism, say: “... in earlier times it was said to me: 'Love your neighbour' and I acted on it, what was the result? ... The result was that I divided my cloak with my neighbour and we were both left half-naked ... Science, however, says: love yourself first of all, for everything

327

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„Zehn sind wir,... Über die ganze Welt zerstreut und doch täglich, ja stündlich beisammen: ...Alle Wochen versammeln wir uns, vergleichen Noten und bestimmen den Gang der Weltverhältnisse... Wir halten die Bindungsfäden der Existenz jedes Staates, jeder Familie, von der allerhöchsten bis zur niedrigsten, in unserer Hand.“ Sealsfield, p. 177 and 179. „Wir gründen in Wirklichkeit ein Reich – eine Kirche, die glänzender als die römische Kirche werden soll, herrlicher und dauerhafter als die des römischen Vatikans, die die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollen; denn auf ihren Fundamenten ist sie ja errichtet.“ Sealsfield, p. 181.

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in the world is based on personal interest. [Cf. above, interest replacing moral values in Sealsfield's novel!] If you love yourself alone, you will conduct your affairs properly, and your cloak will remain whole. Economic truth adds that the more private enterprises are established and the more, so to say, whole cloaks there are in society, the firmer will be its foundations and the more will be undertaken for the common good. That is to say, that by the very act of devoting my gains solely and exclusively to myself, I am at the same time benefiting the whole community, and ensuring that my neighbour receives something better than half a torn cloak, and that not by private, isolated bounty, but as a consequence of the general economic advancement.”

Dostoevsky obviously is referring indirectly to two English philosophers and economists, Adam Smith und David Ricardo, founding fathers of neoliberal doctrines, who believed that the so-called “trickle down effect” would eventually lead to increased well-being in society. They reasoned that once private wealth had reached a certain high level, rich people would no longer accumulate wealth, but would distribute it among the needy, wealth would “trickle down”, as it were! (cf. J. Ziegler, p. 71ff.) The neighbour in Dostoevsky’s story is the legendary Saint Martin who gave half of his cloak to a beggar. Mr. Max Schön, once President of the “Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer” (= Working Association of Independent Businessmen) in Berlin, a modern Mr. Luzhin, commented on the ancient tale: “What was the result? One more saint, but certainly not one beggar less.” 329 Mr. Schön, the businessman, sees the cause for Germany’s at that time declining economy in what he calls the prevailing “Ethik des Teilens” (= ethics of sharing or distribution) in the name of “social justice” leading to a permanent “Umverteilung” (redistribution). Mr. Schön asked, “how would a business-minded Saint Martin approach poverty? He would found a factory and give the beggar a job in it, enabling him to buy a cloak instead of begging. This is the ethics of growth.” (= “Ethik des Mehrens”)

His conclusion parallels that of Dostoevsky’s utilitarian Mr. Luzhin: “The ethics of sharing ... is a sure pathway to poverty and ‘unfair’ social levelling.” Dostoevsky who condemned utilitarianism came to the opposite conclusion basing himself on Christian principles. If he were alive today, he would tend to describe our time as the victory of the Luzhins of our age! Representatives of the new economy have accepted Mr. Luzhin’s views. Money and cloaks, however, do not “trickle down” and modern Saint Martins prefer setting workers free instead of giving them employment. The normal and healthy balance between an ethics implying personal responsibility, and interest mo-

329

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Oct. 26, 2004, p. 16.

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tivated solely by egoistic desires has been seriously upset, interest supplanting ethics. One more remark concerning Dostoevsky’s criticism of America. A look at his Diary of a Writer shows that for him America served as a symbol for several points of criticism. There is the refusal of young Russians to accept responsibility for their country, there is the general turn towards a materialistic society in Europe epitomized by the USA, in Russian criticism noticeable already in the 1830’s and taken over by Dostoevsky, and there is the false promise of a free and democratically organized society which he criticized in Western Europe and, once again, identified with “America”, all this seemingly without any real knowledge or even interest in the actual situation in America. For him, America became a symbol for what was wrong in Western society and, being so far away, it served, he thought, as a convenient wishful dream, a “мечта”, for young Russians unwilling to accept the toils of reforming their own country. An example taken from the Diary of a Writer will illustrate my point. In the 1873 issue Dostoevsky blamed young Russians, that they “ran away to America in order to experience ‘free work in a free country’...” 330 He calls their ideas ironically ‘great ideas’ (‘великие идеи’) and links them to another ‘great idea’ “about the commune and the all-European man.” (“о комуне и об общеевропейском человеке”) We see, the origin of such ideas is Europe, their furthest development has been achieved in America. Dostoevsky’s judgment is unequivocal: “all this is nonsense ... absentism and a betrayal of one’s fatherland” (“дребедень ... абсентизм и измена обществу”, loc.cit.). The passages quoted so far come from his publications between 1866 and 1873. Only the passages from The Brothers Karamazov date from 1879–80. Towards the very end of his life, however, Dostoevsky seems to have questioned his earlier condemnation of America, if we can believe another statement from the Diary for 1881, the year of his death, which, though vaguely, reminds us of his earlier qualification of Americans as “machinists” and “mechanics” (see above). Dostoevsky seems to have actually modified his earlier rather devastating criticism. 331 Wishing to convince his compatriots of the importance of Asia for Russia, mainly because of the natural wealth below the Siberian soil, he exclaims: “Oh, if there lived the English or Americans instead of us in Russia … they would have discovered our America … And do we know, what kind of wealth is hidden in the depth of these immense lands? Oh, they would have gotten it all, the metals and

330 331

PSS, v. 21, p. 135: Одна из современных фальшей. PSS, v. 27, p. 37: Январь. Глава вторая: IV. вопросы и ответы.

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minerals and innumerable layers of coal, – they would dig up everything, would uncover everything, the raw material, and how to use it, ... they would force the earth to bear fruit a fifty times ... do not be alarmed, they would find the customers and a road to them, they would look for them in the depths of Asia, where they are slumbering now by the millions, and would build new roads leading to them!” (ibid.)

Of course, this time it is Dostoevsky the imperialistically-minded Russian nationalist speaking who, for the sake of the grandeur of his nation, seems to have sacrificed earlier moral considerations and now regrets that Russians remain far behind American “mechanics and machinists”. Once more America has become a symbol, but this time for advanced technology and the skill in exploiting natural wealth for profit and the development of the country. Reading the complete text we feel subtle irony mixed with envy and involuntary admiration of those qualities which he had earlier criticized as materialistic and utilitarian, but was now forced to see in a somewhat different light, if Russia ever were to become an imperial power in the world. This does not mean necessarily that he had given up positions maintained only recently on the pages of his last novel, but nevertheless suggests a certain ambivalent attitude, Dostoevsky vacillating between contempt masking as irony, and grudging recognition. We have seen that in the 1830’s and 1840’s some clear sighted writers drew an astonishingly accurate picture of those negative features in American life and society which in the course of the following one and a half centuries have led to the kind of unbridled globalized neoliberalism (or predatory capitalism, as some say) that the world enjoys today! This was also the target of Dostoevsky in several of his novels and tales. He must have been aware of early Russian criticism, as summarized here. His image of America, at times inconsistant, reflects widely spread views that had already a history of at least thirty years when Dostoevsky wrote his Notes from Underground and Crime and Punishment. In retrospect, one has to admit that neither his criticism of utilitarianism nor his negative view of America were entirely original, but reflect views that were current in Russia and beyond and were sometimes, as in the examples cited above, even more trenchant than his! We know that Dostoevsky’s merits lie in other areas. Nevertheless it is not without interest to investigate the sources of his ideological convictions. His views on America are part of his weltanschauung and in this respect they merit an investigation. His critique and that of his writer-colleagues might even help us to better understand our world today!

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Bibliography: Belinsky, V. G.: Polnoe sobranie sochinenii. Ak. Nauk, Moskau–Leningrad 1953–59 (= Belinsky PSS). Berkov, P. N.: Satiricheskie zhurnaly N.I. Novikova. Ak. Nauk, Moskau – Leningrad 1951. Dostoevsky, F. M.: Polnoe sobranie sochinenii v 30 tt. Nauka, Leningrad 1972–90 (= PSS). Dostoevsky, F. M.: The Notebooks for a Raw Youth, ed. E. Wasiolek, transl. V. Terras. University of Chicago Press, Chicago & London 1969 (= Notebooks). Hertsen, A. I.: Sobranie sochinenii. Ak. Nauk: Moskau–Leningrad 1954–66 (= SS). Kireevsky, I. V.: Kritika i estetika. Iskusstvo, Moskau 1979. Nikoliukin, A. N.: Literaturnye sviazi Rossii i SshA.. Nauka, Moskau 1981. Odoevsky, V. F.: Russkie nochi. In: Sochineniia v dvukh tomakh. Vol. 1. Khudozhestvennaia literatura, Moskau 1981. Pushkin, A. S.: Polnoe sobranie sochinenii. Ak. Nauk, Moskau–Leningrad 1937–59. Radishchev, A.: Izbrannoe. Moskovskii rabochii, Moskau 1959. Sealsfield, Ch.: Morton oder die große Tour. R. Bein, Berlin 1947. Ziegler, J.: Die neuen Herrscher der Welt und ihre Widersacher. C. Bertelsmann, München 2003. (Original publication: Les nouveaux Maitres du Monde et ceux qui leur resistent. Fayard, Paris 2002). Quotations are taken from the German edition.

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Drucknachweise und Quellenangaben Die Aufsätze I.1, I.2 und III.1 sind neu gestaltet und beruhen auf mehr als einem Text. Die zugrunde liegenden Texte sind:

I.1: Zur Kritik der romantisch-idealistischen Epoche im Frühwerk F. M. Dostoevskijs. In: Opuscula Slavica et Linguistica. Festschrift für Alexander Issatschenko. Heyn, Klagenfurt 1976. F. M. Dostojewskij: Eine Studie zur russischen Mentalität einst und heute. Historische Wurzeln und Interpretationen. In: Horst-Jürgen Gerigk. Rudolf Neuhäuser. Dostojewskij im Kreuzverhör. Mattes Verlag, Heidelberg 2008. Russland und der Westen: Zu den ideologischen Grundlagen in Dostojevskijs Werk. In: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 1992. Band 1. Sagner, München 1993. Vom ästhetisch-lebenden zum religiösen Menschen bei Dostoevskij. In: Zbornik ob sedemdesetletnici Franceta Bernika. (= Bernik FS). Hg. J. Pogačnik et al. SAZU, Ljubljana 1997. I.2: Zum prekären Verhältnis von Wirklichkeit und „Pseudologischem Raum“. F. M. Dostoevskij und der „Patriotische Konsens“ in Russland. In: Slavische Literaturen im Dialog. Festschrift für Reinhard Lauer zum 65. Geburtstag. Hg. U. Jekutsch und W. Kroll. Harrassowitz, Wiesbaden 2000. Zum Verhältnis von Lüge und Wahrheit bei Dostojevskij. „Ein Wort über das Lügen“ oder „Eine Lüge rettet die andere.“ In: Die Wirklichkeit der Kunst und das Abenteuer der Interpretation. Festschrift für Horst-Jürgen Gerigk. Hg. K. Manger. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1999. Dostojewskij im Kreuzverhör. (s. 1.1) I.3: Zur Funktion von literarischen Quellen und Modellen in Dostoevskijs literarischen Texten (1846–65). In: Dostojevskij und die Literatur. Vorträge zum 100. Todesjahr des Dichters auf der 3. Internationalen Tagung des „Slavenkomitees“ in München 12.–14. Oktober 1981. Hg. H. Rothe. Böhlau, Köln. Wien 1983. I.4: The Genres of Novel and Tale in Dostoevskii’s Works. In: Dostoevsky on the Threshold of Other Worlds. Essays in Honour of Malcolm Jones. (Ed. Sarah Young & Lesley Milne) Bramcote Press, Ilkestone 2006. II.1: Fedor Mixajlovič Dostoevskij: „Die Erniedrigten und Beleidigten“. Ein bisher unbekanntes Manuskript des Dichters aus dem Nachlaß Stefan Zweigs. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch, Band 21, 1975.

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II.2: Die Figur des Erzählers in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem toten Haus. In: Translating Culture. Essays in Honour of Erik Egeberg. Ed. G. Kjetsaa et al. Solum Forlag, Oslo 2001. II.3: Dostoevskijs Roman Der Spieler. Eine andere Lesart. In: Dostoevsky Studies, New Series, vol. vi, 2002. II.4: Olympia et Olympiada: Fiodor Dostoïevski et Édouard Manet. In: Diagonales Dostoïevskiennes. Mélanges en l’honneur de Jacques Catteau. Hg. Marie-Aude Albert. Presses de l’Université de Paris Sorbonne, Paris 2002. II.5: Der Autor und sein Erzähler. In: Life and Text. Essays in Honour of Geir Kjetsaa on the Occasion of his 60th Birthday. Ed. E. Egeberg et al. Meddelelser, Universitetet i Oslo, Nr. 79, 1997. II.6: Der Lohn des Glaubens und der Bürger des Kantons Uri: F.M. Dostojewskij und seine Bösen Geister. In: Dostoevsky Studies, vol. 14, 2010. III.1: Views of Dostoevsky in Today’s Russia. Historical Roots and Interpretations. In: F.M. Dostoevsky in the Context of Cultural Dialogues. Ed. Katalin Kroó and Tünde Szabó. Elte, Budapest 2009. Dostojewskij im Kreuzverhör. (s. 1.1) III.2: Mord in Moskau. Ein postsowjetischer Raskolnikow: Vladimir Makanins Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit. In: Der „Mord“. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hg. D. v. Engelhardt und M. Oehmichen. Schmidt-Röhmhild, Lübeck 2007. III.3: Fedor Dostoevskii and Meša Selimović: Prolegomena to a Comparative Study. In: And Meaning for a Life Entire. Festschrift for Charles A. Moser on the Occasion of His Sixtieth Birthday. Ed. P. Rollberg. Slavica Publishers, Columbus, Ohio 1997. III.4: Die Geschichte vom Alten Mandarin. Varianten eines Motivs. In: Georg Mayer zum 60. Geburtstag. Hg. U. Bieber und A. Woldan. Sagner, München 1991. III.5: What is Wrong with America? Dostoevsky and Others. Neoliberalism Criticized from the Point of View of the Nineteenth Century? In: Dostoevsky Studies. New Series, vol. ix, 2005.

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