Faszination Amazonas: Seine Menschen, seine Tiere, seine Pflanzen [1. Aufl.]
 978-3-662-58327-2;978-3-662-58328-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Einleitung: Was Reisende auf ihrer Reise in den Regenwald wirklich sehen können (Lothar Staeck)....Pages 1-3
Der Amazonas – größter Fluss der Erde (Lothar Staeck)....Pages 5-28
Städte am Amazonas (Lothar Staeck)....Pages 29-44
Die Menschen am Amazonas (Lothar Staeck)....Pages 45-77
Der Regenwald (Lothar Staeck)....Pages 79-111
Blütenpflanzen am und im Wasser (Lothar Staeck)....Pages 113-181
Blütenpflanzen im Regenwald (Lothar Staeck)....Pages 183-208
Tierbeobachtungen am und im Wasser (Lothar Staeck)....Pages 209-316
Tierbeobachtungen im Regenwald (Lothar Staeck)....Pages 317-348
Schlussbemerkung: Wie geht die Entwicklung im Amazonas-Tiefland weiter? (Lothar Staeck)....Pages 349-353
Back Matter ....Pages 355-371

Citation preview

Lothar Staeck

Faszination Amazonas Seine Menschen, seine Tiere, seine Pflanzen

Faszination Amazonas

Geografische Übersicht über die faszinierende Welt des Amazonas von Nauta in Peru bis zur Mündung

Lothar Staeck

Faszination Amazonas Seine Menschen, seine Tiere, seine Pflanzen

Lothar Staeck Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-662-58327-2 ISBN 978-3-662-58328-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stephanie Preuß Coverfoto: Lothar Staeck Grafiken: Manfred Krüger Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung: Was Reisende auf ihrer Reise in den Regenwald wirklich sehen können 1

2

Der Amazonas – größter Fluss der Erde 5 2.1 Der Fluss zwischen seiner Quelle und Mündung 6 2.2 Várzeas – Überschwemmungswiesen 13 2.3 Igapós – Überschwemmungswälder 15 2.4 Flussschleifen und Terra-Firme 17 2.5 Weißwasser 23 2.6 Schwarzwasser 24 2.7 Klarwasser 27

3

Städte am Amazonas 29 3.1 Iquitos 29 3.2 Leticia 32 3.3 Manaus 34 3.4 Parintins 40 3.5 Santarém 41 3.6 Belém 42

4

Die Menschen am Amazonas 45 4.1 Die Urbevölkerung 45 4.2 Die Caboclos 71

V

VI     Inhaltsverzeichnis

5

Der Regenwald 79 5.1 Größte Vielfalt an Pflanzenarten 79 5.2 Ein „neuer“ Urwald kann nicht gepflanzt werden 81 5.3 Unterstes Stockwerk des Regenwaldes 82 5.4 Mittleres Stockwerk des Regenwaldes 89 5.5 Urwaldboden 92 5.6 Oberstes Stockwerk des Regenwaldes 95 5.7 Wurzeltypen 98 5.8 Der Paranuss-Baum 100 5.9 Epiphyten und Kletterpflanzen 104 5.10 Zusammenfassung: Aufbau des Regenwaldes 109

6

Blütenpflanzen am und im Wasser 113 6.1 Bäume 113 6.2 Sträucher 135 6.3 Stauden 144 6.4 Wasserpflanzen 150 6.5 Epiphyten 168 6.6 Lianen 177

7

Blütenpflanzen im Regenwald 183 7.1 Laubbäume der Terra-Firme 184 7.2 Palmen 204 7.3 Riesenstrelitzie 207

8

Tierbeobachtungen am und im Wasser 209 8.1 Fische 210 8.2 Frösche 240 8.3 Reptilien 246 8.4 Vögel 259 8.5 Säugetiere 299 8.6 Schmetterlinge 311

9

Tierbeobachtungen im Regenwald 317 9.1 Pfeilgiftfrösche 317 9.2 Echsen 320 9.3 Papageien 322 9.4 Tukane 325 9.5 Spechte 326 9.6 Tangaren 328

Inhaltsverzeichnis     VII

9.7 Affen 330 9.8 Stachelschweinverwandte 332 9.9 Vogelspinne 335 9.10 Ameisen 337 9.11 Termiten 343 9.12 Käfer und Fangschrecken 345 10 Schlussbemerkung: Wie geht die Entwicklung im Amazonas-Tiefland weiter? 349 10.1 Waldzerstörung 349 10.2 Klimawandel 350 10.3 Bevölkerungswachstum 351 Literatur 355 Stichwortverzeichnis 357

1 Einleitung: Was Reisende auf ihrer Reise in den Regenwald wirklich sehen können

Der größte Fluss der Erde hat mich schon zu meiner Studentenzeit fasziniert. Seit Ende der 1970er-Jahre habe ich immer wieder – bis heute bestimmt 30-mal – die Region zwischen Nauta in Peru und dem Mündungsgebiet westlich von Belem in Brasilien besucht. Anfangs reiste ich auch zu wissenschaftlichen Zwecken in die Amazonasregion. Der Schwerpunkt meines Forschungsinteresses galt damals den Cichliden, das ist eine tropische Fischfamilie aus der Gruppe der Barschverwandten (Percomorphaceae), die sich durch ein äußerst interessantes und hoch entwickeltes Balz- und Brutverhalten auszeichnet. Von den bis heute weltweit etwa 3000 Cichlidenarten wurden inzwischen mehr als 500 im Amazonas und Rio Negro nachgewiesen. Seit Ende der 1980er-Jahre führe ich naturkundliche Exkursionen in die riesige Landschaft der beiden Flusssysteme durch und war auch immer wieder einmal als Reiseleiter und Lektor zwischen Nauta und Iquitos (am westlichen Rand dieses Flusssystems) und Belem (etwa 120 Flusskilometer von der Mündung des Amazonas in den Atlantik) tätig (vgl. die Karte auf der Seite II dieses Buches). Auf diesen Reisen hatte ich zahlreiche Begegnungen sowohl mit den unterschiedlichsten Tieren als auch mit Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen, die am Ufer der Flüsse wohnen. Begleitet waren meine Reisen zudem von etlichen gesundheitlich riskanten Abenteuern: Da gab es Bisse von Piranhas, Kaimanen und Baumschlangen, Attacken von Bienenschwärmen und Ameisenvölkern und es ist ein Boot auf dem Amazonas gekentert. Glücklicherweise habe ich alles letztlich unbeschadet überstanden.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_1

1

2     L. Staeck

Über alles dieses ausführlich zu berichten, würde den Umfang dieses Werkes sprengen. Die Motivation, stattdessen einen zusammenfassenden Band über die Tier- und Pflanzenwelt Amazoniens einschließlich der in dieser Region lebenden Menschen zu verfassen, kam von außen. Reiseteilnehmer und Zuhörer meiner Vorträge haben immer wieder nach einer zusammenfassenden Darstellung • der faszinierenden Flora und Fauna, • der Ureinwohner und der Caboclos, der Nachfahren von ursprünglichen Einwanderern aus Europa und eben diesen Ureinwohnern, sowie letztlich auch • des mächtigen Amazonas-Stromes selbst mit seinen enormen jahreszeitlichen Schwankungen, seinen extrem unterschiedlichen Nebenflüssen und seinen allgemeinen imponierenden Eigenschaften gefragt. Bedauerlicherweise ist diese gesamte Region extrem gefährdet durch ständige Brandrodung der Wälder, durch Raubbau, durch illegale massive Ausbeutung der Bodenschätze (z. B. Gold), durch den Bau riesiger Staudämme, aber auch durch das exponentielle Wachstum der menschlichen Bevölkerung in diesen sensiblen Ökosystemen -So hat sich die Bevölkerung Brasiliens von 1951 bis 2018 vervierfacht, von 51 Mio. auf jetzt über 210 Mio. Niemand weiß, wie lange es noch dauert, bis der Fluss und seine angrenzenden Regenwälder kollabieren. Aber eines ist gewiss: Wenn die aufgezählten Fakten für die Waldvernichtung und die Flussverseuchung und vor allem die exorbitante Bevölkerungszunahme nicht bis zum Heranwachsen der nächsten Generation aufhören, dann gibt es im nächsten Jahrhundert keine Primärwälder mehr am Amazonas, und damit werden dann auch nahezu alle wilden Tiere ausgestorben sein. Vielleicht trägt der vorliegende Band mit dazu bei, dass die große Katastrophe, die sich in Amazonien anbahnt, noch abgewendet werden kann. Ich bin schon seit vielen, vielen Jahren im Amazonastiefland unterwegs. Jedes Mal wenn ich wiederkam, dachte ich bei einer neu begonnenen Reise, dass ich nun schon alles gesehen habe, und es für mich nichts Neues mehr zu erfahren gibt. Doch dann wurde ich auf jeder weiteren Reise aufs Neue überrascht, dass ich – zusätzlich zu dem Zusammentreffen mit fremden Menschen – immer wieder Blütenpflanzen und Tieren begegnete, die ich vorher noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Deshalb ist jede Reise zum Amazonas voller Überraschungen!

1  Einleitung: Was Reisende auf ihrer Reise in den Regenwald …     3

Aus der ungeheuren Fülle der noch längst nicht umfassend identifizierten Pflanzen- und Tierarten filtert dieses Buch diejenigen in charakteristischen Fotos und spannenden Beschreibungen heraus, die man als Besucher auf einer dreiwöchigen Reise durch das Gebiet tatsächlich sehen kann. Jedes der in diesem Band ausgewählten Pflanzen- und Tierbeispiele hat eine staunenswerte, oftmals unglaubliche Besonderheit – entweder in seiner speziellen Morphologie oder in seinen Verhaltensweisen, die zum Lesen oder weiteren Nachdenken über die vorgestellte Pflanze oder das vorgestellte Tier anregen. Bei meinen Recherchen zur Einordnung bzw. Klassifizierung bestimmter Pflanzen und Tiere habe ich festgestellt, dass zurzeit eine gewaltige Korrektur bzw. Neueinordnung der seit langer Zeit festgelegten Nomenklatur, dem international verbindlichen wissenschaftlichen Namensverzeichnis von Lebewesen, stattfindet. Neue Methoden bei der Erforschung der Stammesgeschichte und aus der Molekularbiologie ermöglichen es, das Erbgut – das Genom – eines bestimmten Lebewesens genau zu analysieren. Dabei werden aktuell zahlreiche neue Verwandtschaftsbeziehungen festgestellt und Umordnungen sowie neue Artfestlegungen vorgenommen, die auch hier Berücksichtigung finden. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt aber wie gesagt bei denjenigen Pflanzen und Tieren, die der Besucher auch bei einer Stippvisite wirklich sehen kann. Die großen Säugetiere wie beispielsweise der Jaguar, der Puma, der Ozelot oder das Flachlandtapir bleiben deshalb unerwähnt. Man müsste erst tief in den Urwald vordringen und auch dort für längere Zeit leben, um überhaupt die Chance zu haben, ihnen einmal zu begegnen. Allerdings wird der Reisende trotzdem häufiger auf ihre Spuren stoßen, z. B. auf Märkten, wo ihre Felle angeboten werden oder Tapirfleisch auf der Speisekarte steht, etwa in Iquitos. Tauchen Sie nun mit mir ein in die faszinierende Welt des Amazonas von Nauta bis zur Mündung (bitte sehen Sie das Bild auf der Seite II).

2 Der Amazonas – größter Fluss der Erde

Der größte Fluss unseres Planeten stellt mit seinen etwa 10.000 direkten oder indirekten Zuflüssen und angrenzenden Regenwäldern mit einer ursprünglichen Größe von 7.500.000 km2 unmittelbar am Äquator das riesige Ökosystem Amazonien dar. Wie ausgedehnt dieses Gebiet ist, zeigt Abb. 2.1: Mühelos haben die europäischen Länder im Amazonasbecken Platz. Mit Sicherheit gibt es in diesem noch immer nicht gänzlich erforschten Großraum noch viele unbekannte Tier- und Pflanzenarten. Zwar sind bis heute allein in Brasilien mehr als 5500 Wirbeltierarten und mehr als 56.000 Samenpflanzenarten beschrieben worden (zum Vergleich in Deutschland: 530 Wirbeltier- und etwa 3500 Samenpflanzenarten) – und jedes Jahr kommen zahlreiche neu entdeckte Tier- und Pflanzenarten dazu. Schon jetzt erreicht das Amazonas-Becken weltweit Platz 1 bei den Pflanzen-, Säugetier-, Fisch- und Insektenarten. Vermutlich werden niemals alle Arten des Amazonas-Tieflandes entdeckt werden. Bei den Ureinwohnern, den Indianern, werden auch heute noch alle paar Jahre völlig isoliert im Regenwald lebende Gruppen entdeckt, die ohne Kontakt zur modernen Zivilisation leben. So berichteten Zeitungen vor kurzer Zeit, dass im brasilianischen Amazonas-Gebiet Ureinwohnergruppen, die vom Hubschrauber aus gesichtet wurden, mit Pfeil und Bogen auf das Kleinflugzeug der Entdecker schossen. Nach Schätzungen der brasilianischen Behörde zum Schutz der Urbevölkerung (FUNAI), gibt es allein im Regenwald Amazoniens über 100 isoliert lebende indigene Völker, deren Sprache und Lebensgewohnheiten völlig unbekannt sind.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_2

5

6     L. Staeck

Abb. 2.1  Größenvergleich Amazonien und Europa

Dies alles ist möglich trotz unserer technisch hoch entwickelten und vernetzten Welt, da der Amazonas-Regenwald so unglaublich riesig und dabei so schwer zugänglich ist. Außerdem ist das tropische Klima für Menschen extrem lebensfeindlich.

2.1 Der Fluss zwischen seiner Quelle und Mündung Der Amazonas-Fluss, der den südamerikanischen Kontinent kontinuierlich in Höhe des Äquators von West nach Ost durchfließt, gilt seit GPSBerechnungen brasilianischer Wissenschaftler im Jahr 2012 mit 6868 km als der längste Fluss der Welt und hat damit den Nil mit dessen 6695 km auf Platz 2 verdrängt (vgl. Tab. 2.1). Die Quelle hat man 1996 in der Lagune McIntyre, 200 km westlich des Titicacasees hoch oben in 5547 m Höhe des Berges Nevado Mismi in den peruanischen Anden, weniger als 200 km vom Pazifik entfernt zwischen

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     7 Tab. 2.1  Der Amazonas in Zahlen Längea schiffbar Nebenflüsseb Sedimenttransport Strömung Wassermengec

6868 km (Flusskilometer) 5215 km ca. 10.000 900 Mio. T/Jahr in den Atlantik 0,75–5 m/s

bei Hochwasser bei Niedrigwasser Gefälle von den Ost-Anden bis zur Mündung Engste Stelle (bei Obidos) Wassertiefe

mehr als 300.000 m3/s etwa 100.000 m3/s insgesamt 180 m = 3  cm/km 1,5 km 10 bis 30 m, bei Obidos tiefe Löcher von bis zu 120 m

aNil:

6695 km, Rhein: 1320 km 15 größer als der Rhein cim Rhein-Delta 2330 km/s (max. jemals gemessene Menge 12.000 km/s im Jahr 1926) bdavon

den Städten Cuzco und Arequipa ausfindig gemacht. Von dort vereinigen sich immer mehr Bäche und Flüsse zu einem gemeinsamen Abfluss, der von diesem gewaltigen Gebirge hinunterfließt. Dieser Wasserlauf trägt zunächst viele verschiedenen Namen, bis sich schließlich der Name Amazonas auf der Landkarte findet: Zuerst Lloquera, dann Callamayo, Hornilles, Rio Ene, Apurímac, Rio Tambo, Ucayali und Marañon. In der Nähe von Nauta in Peru, wo der Ucayali und der Marañon bei dem kleinen Dorf Puerto Grau zusammenfließen, heißt er bei den spanischsprechenden Menschen zum ersten Mal Amazonas (bitte sehen Sie hierzu die Seite II). Zum Begriff „Amazonas“ gibt es eine Reihe von Namensdeutungen. Möglich ist etwa die Herleitung aus dem Begriff der Tupi-Guarini-Sprache „Amaçu“, was „Geräusch von Wasser“ bedeutet und sich auf die Gezeitenwelle des Meeres bezieht, die sich alljährlich in einer Überlagerung von Neumond- und Hochwassereffekten vom Atlantik aus zwei Nebenflüsse des Amazonas flussaufwärts bewegt. Auch zu Hochwasserzeiten beträgt die Wassertiefe bei Nauta häufig nur etwa sechs Meter, sodass sich auch kleinere Kreuzfahrtschiffe nur selten von Iquitos bis nach Nauta wagen. Dabei ist diese Region vor allem faunistisch hoch interessant. So kommen innerhalb des gesamten Amazonas-Tieflandes nur in dieser Region am Oberlauf bis zu den Abhängen der Ost-Anden einige Arten der spektakulär gefärbten Pfeilgiftfrösche (Baumsteigerfrösche vor (Abschn. 9.1). Auch die seltenen Kahlgesichtigen Saki-Affen (Pithecia irrorata) sind hier verbreitet. Doch der Amazonas entwässerte nicht schon immer in West-OstRichtung zum Atlantik. Bevor die Teile des ehemaligen Urkontinents

8     L. Staeck

Gondwana auseinanderdrifteten, floss der Ur-Amazonas ursprünglich genau entgegengesetzt von Ost nach West und mündete in den Pazifik, denn vor etwa 130 Mio. Jahren gab es weder die Anden noch den Atlantik. Die Quelle des Ur-Amazonas lag damals im heutigen Tschad (Afrika) in den Seen Ounianga Kébir des Ennedi-Gebirges mitten in der Sahara (Abb. 2.2). Von seiner Quelle bis zur Mündung war dieser Strom damals mit 14.000 km der längste und mächtigste Fluss der Erde. Mit dem Aufbrechen und Auseinanderdriften der Teile des Urkontinentes entstand der Atlantik und im Westen des neuen südamerikanischen Kontinentes falteten sich – beginnend vor etwa 25 Mio. Jahren – allmählich die Anden auf, wodurch der Mündungstrichter des Ur-Amazonas vom Meer abgeschnürt wurde und viele Tierarten des Meeres in dem sich nunmehr aufstauenden riesigen Binnensee verblieben. Im Verlauf der folgenden vielen Millionen von Jahren versüßte das Wasser dieses Binnensees mehr und mehr, zahlreiche ehemalige Tierarten des Meeres adaptierten sich an diese veränderten Lebensbedingungen und leben bis heute im Amazonas, zum Beispiel zwei Delfinarten, Sardinen, Heringe, Hornhechte, Kofferfische, Rochen, Garnelen und Taschenkrebse in mehr als 30 verschiedenen Arten, Schwämme und

Abb. 2.2  Verlauf des Ur-Amazonas vor etwa 130 Mio. Jahren

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     9

viele andere ehemalige Bewohner der Meere. Der Druck der sich in dem Binnensee sammelnden Wassermassen wurde schließlich so stark, dass das Wasser nunmehr in demselben Urstromtal des Ur-Amazonas nach Osten abfloss und schließlich in den Atlantik mündete. Während der beiden Eiszeiten im Verlauf der letzten 100.000 Jahre sank der Spiegel der Meere so stark, dass sich der „neue“ Amazonas an seiner Mündung über gigantische Wasserfälle in den Atlantik stürzte. Für die Existenz des Ur-Amazonas und damit für die Flussumkehrung gibt es zahlreiche geologische und biologische Belege, zum Beispiel • Gesteinsablagerungen aus Afrika im heutigen Amazonas, • die bestehende Anomalie, dass das Flussbett des Amazonas in Richtung Mündung bei Belém schmaler wird (und nicht breiter, wie es bei großen Flüssen normalerweise der Fall ist), • Funde von diversen Fossilien, beispielsweise identische Arten von Kieselalgen und Mesosauriern im Amazonas und in der Wüste von Tschad, • die einzigen heute noch lebenden Wüstenkrokodile in den Seen des Ennedi-Gebirges (Tschad), die genetisch mit den Amazonas-Kaimanen verwandt sind. Übrigens: Auch heute noch düngt der Sahara-Staub die Regenwälder des Amazonas-Beckens, wie jüngere meteorologische Untersuchungen gezeigt haben. Mit dem beständigen Nordost-Passat gelangen in fünf Kilometern Höhe pro Jahr unglaubliche 400–700 Tonnen davon nach Amazonien. Ohne diese gigantische Düngerfracht würde auf den extrem nährstoffarmen Böden die Vegetation niemals so üppig wachsen, wie wir sie heute vorfinden. Heute liegt der Amazonas in einer riesigen mit Sedimenten und Sedimentgestein bedeckten Tiefebene, die im Westen an die Anden, im Norden an die alten Mittelgebirge der Guyana-Länder und im Süden an das brasilianische Schild grenzt, ein uraltes, abgetragenes Bergland. An einigen Abschnitten des heutigen Amazonas kann man noch die ehemaligen Steilufer des Ur-Amazonas erkennen: Gewaltige, Millionen Jahre alte bis 15 m aufragende Laterit-Kliffs, in denen heute Amazonas-Rotbrustfischer ihre Bruthöhlen graben (Abb. 2.3). Das Gefälle des Flusses beträgt vom Fuße der Ost-Anden bis zu seiner Mündung nur unglaubliche 180 m, das sind auf den Flusskilometer umgerechnet nur drei Zentimeter! Trotz dieser extrem geringen Neigung fließt der Strom sogar in der Trockenzeit mit 0,75 m pro Sekunde, das sind 45 m in der Minute beziehungsweise 2,7 km in der Stunde. In der Regenzeit, wenn die Wassermassen aus den vielen Seitenarmen in den Hauptstrom

10     L. Staeck

Abb. 2.3  Reste eines Laterit-Kliffs des Ur-Amazonas mit Bruthöhlen des Amazonas-Fischers (Abschn. 8.4.6)

drücken, erhöht sich die Fließgeschwindigkeit auf bis zu 18 km/h. Durch die andauernde Abholzung des Regenwaldes verliert der Wald Jahr für Jahr mehr seiner Fähigkeit, Regenwasser zu speichern, sodass die Regenmengen immer schneller den Amazonas erreichen, wo sie seine Fließgeschwindigkeit immer weiter steigern. Die größte Fließgeschwindigkeit, die bisher registriert wurden, betrug 39,2 km/h. Der Grund für solch hohe Geschwindigkeiten sind die extrem großen Wassermengen, die schon in der Trockenzeit den Fluss „hinunter“-fließen. Bei Niedrigwasser sind es rund 100.000 m3/s, was zum Höhepunkt der Regenzeit auf mehr als 300.000 m3/s anschwellen kann. Im Vergleich dazu sind die Wassermengen, die zum Beispiel während des Sommers den Rheinfall bei Schaffhausen hinunterstürzen mit 600 m3/s kaum der Rede wert. Dort wurde im Sommer 1965 die bisher höchste Wassermenge gemessen, sie betrug 1250 m3/s. Während der Regenzeit sind auf dem Amazonas ständig flussabwärts treibende Gras-Schilf-Inseln unterschiedlicher Größe mit zahlreichen Wasserhyazinthen (Eichhornia crassipes) zu sehen, die vom Ufer losgerissen wurden (Abb. 2.4; Abschn. 6.4.2). Einige dieser Schwimmblattinseln können durchaus bis zu 100 m lang sein. Einmal habe ich es erlebt, dass auf einer solchen vorbeitreibenden Insel ein lautes Konzert unterschiedlicher „Musiker“ ertönte: Da mischten sich die hellen Stimmen

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     11

Abb. 2.4  Zur Regenzeit treiben Gras-Schilf-Inseln flussabwärts

von Kleinfröschen mit den tieferen Stimmen von Kröten, untermalt durch das Gezirpe männlicher Zikaden. Schon aus der Ferne hörte ich diesen vielstimmigen Chor, der beim direkten Vorbeischwimmen der Insel zu einem lauten Getöse anschwoll, und dann schließlich allmählich immer leiser wurde. Etwa 120 Flusskilometer weiter östlich von Nauta bei Iquitos (Peru) beträgt die Breite des Amazonas bereits 1,8 km. Bei der Millionenmetropole Manaus in Brasilien mündet der Schwarzwasserstrom Rio Negro in den Amazonas, der hier mittlerweile fünf Kilometer breit ist. Bei den Brasilianern heißt der Fluss erst ab Manaus Amazonas, von Iquitos bis Manaus bezeichnen sie ihn als Rio Solimões. Manaus liegt nur etwa 20 m über dem Meeresspiegel, doch diese Stadt ist noch 1370 km Luftlinie von der Mündung des Amazonas in den Atlantik entfernt. Durch die großen Regenmengen von bis zu drei Metern im Jahr, die vor allem zwischen Februar und Juni fallen, steigt der Flusspegel in Manaus um bis zu 15 m zum Ende der Hochwasserzeit, etwa Ende Mitte Juni. Die Strömungsgeschwindigkeit des zum Atlantik abfließenden Wassers beträgt deshalb bei Hochwasser östlich von Manaus bis zu 18 km/h – trotz des geringen Flussgefälles.

12     L. Staeck

Bei Belém am Beginn des Mündungstrichters des Amazonas, der korrekt ein Mündungstrichter des Rio Pará ist, erstreckt sich die Bucht von Guajará (Bahia do Guajará), die Teil des Rio Pará ist. Dieser ist ein großer südlicher Seitenarm des Amazonas, der sich mit dem Rio Tocantins und einigen kleineren Flüssen vereint hat. Heutzutage fließt kaum noch Wasser vom Amazonas in den Rio Pará, höchstens über einige der schmalen Breviskanäle. Schon vor Jahrtausenden wurde nämlich der südliche Arm der Amazonasmündung durch die heranflutenden Schlamm- und Sedimentmassen zugestopft. Die Bucht von Guajará ist in Höhe des Hafens von Belém vier Kilometer breit. Auf der anderen Seite dieser Bucht befindet sich eine Insel, hinter der der Rio Pará fließt, der dort etwa 15 km breit ist. Der Rio Pará wird danach immer breiter, bis er im Mündungsbereich bis zu 80 km breit ist. In dieser Trichtermündung liegt auch die Insel Marajó, die mit 40.100 km2 so groß ist wie die Schweiz. Sie wird demnach östlich durch den Rio Pará begrenzt und nordwestlich durch mehrere schmale und auch sehr breite Mündungsarme des Amazonas, die aktuell den eigentlichen Abfluss des Amazonas darstellen. Südlich von ihr fließt eine Reihe sehr schmaler, oft nur 100 m breiter Kanäle, die sogenannten Breviskanäle. Diese landschaftlich außerordentlich attraktiven natürlichen Kanäle, bei denen der Urwald bis an das Ufer reicht – also vom Schiff aus sehr nahe ist – verbinden Belém und den Amazonas Richtung Westen. Wenn man alle diese Abflüsse der Trichtermündung des Amazonas im Westen und Osten zusammenzählt, kommt man auf eine Gesamtbreite von 250 km, das entspricht der Entfernung zwischen Paris und London. Noch über 200 km östlich und nördlich bis nach Französisch-Guyana ist der Atlantik lehmig-gelb gefärbt durch die Sedimente des einfließenden Amazonas, die sich zu einer Menge von 1,2 Mrd. Tonnen pro Jahr addieren. Umgekehrt machen sich die Gezeiten erstaunlich weit ins L ­andesinnere bemerkbar. Während der mittlere Tidenhub, also der Unterschied z­wischen Hoch- und Niedrigwasser, bei Belém – etwa 100 km Luftlinie von der Mündung in den Atlantik entfernt – drei Meter beträgt, sind es in Santarém (750 km Luftlinie vom Atlantik, bitte sehen Sie hierzu die Seite II) immer noch 0,35 m. Sogar im 800 km (Luftlinie) entfernten Obidos sind die Gezeiten mit 0,10 m immer noch spürbar. Zum Vergleich: In ­ Hamburg-Altona beträgt der mittlere Tidenhub 3,60 m bei einer Entfernung von 92 km bis zur Nordsee. Die Flussanwohner nennen den Amazonas auch liebevoll „El Rio Mar“, den Meeresfluss, weil seine Länge und Breite sowie seine Wassermassen wahrlich eher einem Meer oder Meeresarm gleichen als einem Strom. Wenn man auf dem Amazonas mit dem Schiff unterwegs ist, sieht – oder erahnt – man nur selten beide Flussufer. Fast immer liegen im Fluss viele

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     13

langgestreckte Inseln, die zumeist einen Blick auf das gegenüberliegende Ufer versperren. So ist die tatsächliche Breite des Amazonas nur selten mit den Augen erkennbar. Hinzu kommt noch, dass sich während der Regenzeit die Wasserfläche von 300.000 km2 auf 600.000 km2 verdoppelt. Zum Vergleich: Die Fläche Deutschlands beträgt ca. 380.000 km2. Durch diese ungeheuren Wassermassen senkt sich sogar die Erdkruste während der Regenzeit – wie jüngste GPS-Berechnungen ergeben haben – um acht Zentimeter.

2.2 Várzeas – Überschwemmungswiesen Der Strom tritt zwischen April und Juli regelmäßig über seine zumeist flachen Ufer. Die Wassermassen des Hauptstromes ergießen sich dann beiderseits des Flusses bis zu 50 km weit in das flache Land, wo sich zur Trockenzeit weite Wiesenflächen mit wasserarmen, natürlichen Kanälen erstrecken. Diese unzähligen Kanäle – sogenannte Igarapés (brasilianisch für einen schmalen, natürlichen Kanal) –, die die Nebenflüsse und Seen untereinander verbinden, füllen sich dann mit Wasser. Nach längeren, starken Regenfällen kehren kleinere Nebenflüsse und auch diese Igarapés sogar ihre Fließrichtung vorübergehend um. Es entsteht eine riesige Seenlandschaft aus Überschwemmungswiesen – sogenannte Várzeas (= portugiesisch für Flussauen) – auf einer Fläche von 200.000 km2 (Abb. 2.5). Diese riesige, offene Seenlandschaft zeichnet sich durch einen hohen Nährstoffgehalt aus. Die vom Hauptstrom einfließenden, sedimenthaltigen Wassermassen düngen regelrecht diese nur wenige Meter tiefen überschwemmten Wiesen mit der Folge, dass sich ein äußerst reichhaltiges Nahrungsnetz aus bis zu 15 verschiedenen Arten von Schwimmblattpflanzen (Abschn. 6.4), Dutzenden von Fischarten (Abschn. 8.1) und ebenso vielen Beutegreiferarten – vor allem Vögel (Abschn. 8.4) – herausbilden kann. An den flacheren Uferstellen der normalerweise wallartigen Uferböschung strömen mit fortgeschrittener Regenzeit die Wassermassen des Hauptstromes ständig mit großer Geschwindigkeit in das Hinterland, wo sie das Ökosystem der Várzea entstehen lassen (Abb. 2.6). Mit dem Wasserstrom gelangen viele Fische in diese Várzeas, wo sie in den ruhigen Flachwasserzonen zwischen den Wasserpflanzen ablaichen. Auch die größte Seerose der Welt, die Amazonas-Riesenseerose (Victoria amazonica), wächst in diesen strömungsfreien Várzeas (Abschn. 6.4.1). Auf Erhebungen innerhalb dieser Überschwemmungswiesen sowie auf Uferböschungen wachsen vor allem Bäume, die als Pionierpflanzen bezeichnet werden, da sie als schnellwachsende,

14     L. Staeck

Abb. 2.5  Várzea-Seenlandschaft aus Überschwemmungswiesen; der Pfeil markiert die Grenze des Flussbettes

Abb. 2.6  Gewaltige Wassermassen strömen in das flache Hinterland, wo sie die Várzeas bilden. Im Hintergrund rechts wachsen zahlreiche Riesen-Seerosen (Victoria amazonica)

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     15

sonnenliebende Pflanzen die ersten sind, die sich auf frei werdendem Land ansiedeln. Charakteristische Pionierbäume der Várzeas sind die schlanken Ameisenbäume (Cecropien) mit ihren hellen Stämmen und kastanienähnlichen Blättern (Abschn. 6.1.1 und Abb. 6.1), aber auch Pseudobombax munguba, Ocotea pulchella sowie Campsiandra comosa, Humboldt-Weiden (Salix humboldtina), Balsabäume (Ocrhroma pyramidale), die Westindische Zedrele (Cedrela odorata), verschiedene Ficus- und Inga-Arten (Kap. 6). So bilden sich in einigen Várzea-Abschnitten über die Jahre hinweg auch junge Wälder mit diesen Pioniergehölzen heraus, die während der Hochwasserzeit ebenfalls unter Wasser stehen. Auf dem Scheitelpunkt des Hochwassers verharrt der Wasserstand bis zu drei Monate lang. Mit fortschreitender Trockenzeit ab etwa Ende August/September laufen die Várzeas allmählich wieder leer, die Altfische und die vielen Jungfische müssen sich zunehmend beeilen, wieder zurück in das offene Wasser zu gelangen. Wem dies nicht gelingt oder wer über keine Organe zum Überdauern der Trockenzeit verfügt, wird nun leichte Beute für Scharen von Reihern, Kormoranen, Großschnabel-Seeschwalben und anderen Vogelarten, die die verbleibenden Tümpel abfischen.

2.3 Igapós – Überschwemmungswälder An anderen Uferabschnitten reicht jedoch auch der über Jahrhunderte gewachsene Regenwald mit einigen Baumriesen bis an die Ufer des Hauptstromes. Wenn der Fluss dann mit zunehmendem Hochwasser über seine Ufer tritt und sich ins Hinterland ergießt, wird auch dieser alte Regenwald kilometerweit für bis zu sieben, acht Monate überflutet, sodass die Bäume damit monatelang unter Wasser stehen (Abb. 2.7), niedrigere Bäume sogar bis zur Krone. Den Bäumen machen diese lange andauernden Überflutungen nichts aus. In Mitteleuropa halten lediglich Silberweiden (Salix alba) solche langen Zeiten aus, Pappeln (Populus) beginnen dagegen etwa nach vier Monaten zu faulen, Stieleichen (Quercus robur) und Ulmen (Ulmus minor) nach knapp drei Monaten und der Bergahorn (Acer pseudoplatanus) bereits nach 15 Tagen. Diese besondere Landschaftsform Amazoniens wird als Igapó (= „Wald im Wasser“; Tupi-Sprache) bezeichnet. Die Igapós im Bereich der Schwarzwasserflüsse und -seen sehen besonders dunkel und fast geheimnisvoll aus (Abb. 2.7). Diese saisonal überfluteten Bäume sind zumeist niedriger, schwächer entwickelt und häufig knorrig gewachsen und auch die Zahl der Baumarten ist in dieser flussnahen Landschaft deutlich geringer als in den niemals überfluteten Regenwäldern der Terra-Firme. Dazu später mehr.

16     L. Staeck

Abb. 2.7  Die überfluteten Wälder der Schwarzwasserflüsse und -seen (Schwarzwasser-Igapós) stehen bis zu sieben, acht Monate unter Wasser

Die unter Wasser stehenden Bäume sind in dieser Zeit zu einem anaeroben Stoffwechsel befähigt, das heißt, sie sind nicht auf eine direkte Sauerstoffzufuhr angewiesen. Dafür ist – wie beschrieben – ihr Wachstum in dieser Zeit stark reduziert. Zudem vergrößert sich bei besonders angepassten Baumarten das Feinwurzelsystem beträchtlich (Oberflächenvergrößerung), indem die feinen Wurzeln wie große Bärte unter Wasser direkt aus dem Stamm heraussprießen und den im Wasser gelösten Sauerstoff aufnehmen. Wenn das Wasser wieder zurückgeht und der Boden trockenfällt, beginnen die Wurzeln, die während der Regenzeit erhalten geblieben sind, sofort um bis zu 15 Zentimeter in die Tiefe zu wachsen. Während der Hochwasserzeit müssen sich die Affen und Vögel diese Bäume mit den Fischen teilen. Wegen dieser periodischen Überflutung des Regenwaldes können auch alle seine Bewohner schwimmen, sogar Faultiere und Affen sowie Insekten, zum Beispiel Ameisen. Viele Bodenbewohner dieses Waldes haben im Laufe der Evolution sogar Strategien gegen die Überflutung erworben, zum Beispiel:

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     17

• Einige können zeitweilig mithilfe eines Luftfilmes in ihrer Körperbehaarung auf der Wasseroberfläche laufen (etwa Asseln, Milben, ­Ameisen). • Es gibt Insekten, bei denen überstehen zwar nur zehn Prozent die Überflutung ihres Lebensraumes, doch die Überlebenden produzieren sofort nach dem Rückzug des Wassers so viele bereits entwickelte Nachkommen, dass dieselbe Populationsdichte erreicht wird wie vor der Überflutung. • Umgekehrt überleben beispielsweise Kieselschwämme die Trockenzeit in Dauerzysten (Abschnürungen) auf Baumstämmen. Mit beginnender Hochwasserflut erwachen sie wieder zum aktiven Leben. Während der Regenzeit ergibt sich durch die überfluteten Wälder eine zusätzliche Wasserfläche von 100.000 km2. So addieren sich mit zunehmender Dauer der Regenzeit die Wassermassen von ursprünglich 300.000 km2 plus 200.000 km2 Várzeas plus 100.000 km2 Igapós auf insgesamt 600.000 km2 (= fast die doppelte Fläche von Deutschland). So entstehen zur Regenzeit für sieben Monate ganz unterschiedliche Landschaften beiderseits des Hauptstromes.

2.4 Flussschleifen und Terra-Firme Durch das geringe Gefälle des Amazonas bildet er bei seinem Abfluss Richtung Atlantik viele Schleifen (Mäander). Auf der Uferseite, wo die Strömung mit ihren gewaltigen Wassermassen während des Hochwassers am stärksten direkt auf das Ufer trifft – dem Außenradius des Flusses –, entsteht ein Prallufer (oder Prallhang), (Abb. 2.8). Dies ist die „Todeszone“ des Regenwaldes, denn hier kommt es bei zunehmendem Hochwasser zu gewaltigen Uferabbrüchen des weichen, verklumpten Sedimentbodens. In der Folge davon werden bei ablaufendem Wasser jedes Jahr viele randständige Bäume entwurzelt und stürzen schließlich in den Fluss (Abb. 2.9).

Abb. 2.8  Schematische Darstellung von Prall- und Gleitufer: Mit fortschreitender Regenzeit wird der Prallhang erodiert und es kommt zu Uferabbrüchen. Während der Trockenzeit werden am Gleithang Sedimente abgelagert, sodass sich allmählich Sandbänke bilden

18     L. Staeck

Abb. 2.9  In der „Todeszone“ am Prallufer stürzen jedes Jahr viele Bäume ab

Der Fluss wird am Prallufer also immer breiter. So kann es passieren, dass sich die Flussschlingen immer näher kommen. Dann durchbrechen eines Tages die Wassermassen des Hauptstromes das Ufer und suchen sich dem Gefälle folgend den kürzesten Weg durch den Regenwald. Dabei treffen benachbarte Flussschleifen aufeinander oder vereinigen sich. Der Fluss fließt von nun an durch diese Abkürzung. So kann es vorkommen, dass sich Waldstücke einer Uferseite plötzlich auf der anderen Seite wiederfinden. Es entstehen neue kleinräumige Ökosysteme, wo sich nunmehr fremde Arten begegnen und möglicherweise kreuzen, die früher wegen des Flusses als natürliche Grenze nie aufeinandertrafen. Anderseits werden auch Mitglieder derselben Art durch dieses Ereignis auf Dauer voneinander getrennt und können damit mit der Zeit nach vielen Generationen zu neuen Arten werden. Im Verlauf der folgenden Jahre wird dann die nicht mehr vom Strom durchflossene Flussschlinge zu einem allmählich versandenden und zuwachsenden fast kreisförmigen Altarm des Flusses (Abb. 2.10). Dies kann man besonders vom Flugzeug aus an vielen Stellen gut beobachten. Am strömungsarmen Uferrand der gegenüberliegenden Seite hingegen, dem kurveninneren Ufer, strömen die Wassermassen ruhig am Ufer entlang, ohne dieses zu erodieren. Dieses Ufer am Innenradius des Amazonas

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     19

Abb. 2.10  Schematische Darstellung des Wasserdurchbruches an einer Flussschleife

wird als Gleitufer (oder Gleithang) bezeichnet. Hier werden im Gegensatz zum Prallufer ständig Sedimente angelagert, sodass sich in der Trockenzeit große Sandbänke bilden können. Hier kann man sehr schön die Etablierung von Pionierarten (etwa Cecropien) beobachten. Diese gewinnen die erste Runde der Besiedlung; doch unter ihrer Krone wachsen allmählich schattentolerante Arten heran, die die kurzlebenden Pionierarten nach zehn bis 20 Jahren ablösen. Zur Trockenzeit zwischen Oktober und Dezember entstehen an den Rändern des Hauptstromes bis zu 15 m hohe Steilufer, sodass die Menschen in dieser Zeit viele Stufen in den weichen Sedimentboden graben oder Leitern anlegen müssen, um zu ihren Gärten oder Häusern zu gelangen (Abb. 2.11). Wenn sich das Hochwasser hingegen im Mai und Juni seinem Scheitelpunkt nähert, fließt das Flusswasser über den Uferrand hinweg in das dahinterliegende, etwas tiefer liegende Land und überflutet dabei zum Beispiel Bananen- und Maniokplantagen oder Viehweiden sowie die ufernahen Dörfer. Die Menschen bauen zwar deshalb ihre Häuser auf Stelzen, trotzdem müssen bei extremen Hochwasserlagen, wie sie in den vergangenen Jahren immer häufiger eingetreten sind, viele Menschen ihre Häuser verlassen. Das Landschaftsbild am Amazonas ist demnach in der Trocken- und Regenzeit total verschieden (Abb. 2.12, 2.13 und 5.7). Das Relief des Amazonas mit seinen verschiedenen Landschaften zur ­Trocken- und Regenzeit zeigt Abb. 2.14.

20     L. Staeck

Abb. 2.11  Zur Trockenzeit erhebt sich ein bis zu 15 m hohes Steilufer am Flussrand

Abb. 2.12  Uferrand bei Niedrigwasser

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     21

Abb. 2.13  Uferrand bei Hochwasser

Abb. 2.14  Querschnitt durch die Flusslandschaft mit ihren Ökosystemen beiderseits des Amazonas

Außerhalb der Überschwemmungsgebiete erstreckt sich der eigentliche Regenwald, der so hoch liegt, dass er niemals überflutet wird. Deshalb wird diese Landschaftsform Terra-Firme (= festes Land) genannt. Sie ist nicht nur bedeutend artenreicher als die Igapó-Wälder, sondern diese Regenwälder sind Jahrhunderte alt und deshalb die artenreichsten Wälder unseres Planeten. Der Amazonas ist zwischen Manaus und seiner Mündung ganzjährig beschiffbar. Allerdings ist der Schiffsverkehr gering. Er beschränkt sich vor allem auf einige Fahrgastschiffe und regionale Frachtschiffe, die die Siedlungen und Ortschaften am Fluss miteinander verbinden, sowie auf ebenfalls insgesamt wenige Container- und Lastschiffe pro Tag, die Güter vor allem von und nach Manaus bringen – etwa Tropenholz, Rohstoffe wie Bauxit, Eisenerz, Steinkohle, Gas oder Öl. Darunter gibt es auch Ozeanschiffe, die

22     L. Staeck

in der Regenzeit bis zu einem Volumen von 9.000 Bruttoregistertonnen sogar bis nach Iquitos fahren können, das 4200 Flusskilometer vom Atlantik entfernt ist. Iquitos ist damit ein Seehafen mitten im Kontinent. Darüber hinaus befahren den Fluss noch die typischen mehrstöckigen, aus Holz gebauten Amazonas-Schiffe mit ovalem Aufbau, die meist Caboclos (vgl. Abschn. 4.2) gehören und für den Transport kleinerer Lasten sowie manchmal auch als Viehtransporter benutzt werden (Abb. 2.15 und 2.16). Schließlich sieht man noch ab und zu Einbäume oder Kanus mit Außenbordmotoren als Transportmittel zwischen den Dörfern. Während der Regenzeit fahren auch einige Kreuzfahrtschiffe unterschiedlicher Reedereien zumeist bis Manaus, seltener bis Iquitos. Bis auf die großen Container- und Kreuzfahrtschiffe fahren die Boote stets in Ufernähe, dort ist nämlich flussaufwärts der Wasserwiderstand geringer als in der Mitte des Stromes. Tiere gibt es auf dem Hauptstrom bis auf die Großschnabel-Seeschwalben nur wenige, dafür ist die Strömung zu stark. Im Laufe einer Reise kann man allenfalls ab und zu einmal einen rosafarbenen Amazonasdelfin (Inia geoffrensis) oder am Ufer einen Riesenotter (Pteronura brasiliensis) sehen, über den Fluss fliegen auch einmal Hellrote Aras (Ara macao) und unterschiedliche Amazonenpapageien.

Abb. 2.15  Viehtransport auf dem Amazonas

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     23

Abb. 2.16  Typisches, mehrstöckiges Amazonas-Schiff

2.5 Weißwasser Im Amazonas-Gebiet werden nach dem jeweils charakteristischen Grad der Durchsichtigkeit und Eigenfärbung des Flusswassers drei verschiedene Gewässertypen unterschieden, deren Entstehung auf ganz bestimmten geologischen, landschaftlichen und klimatischen Bedingungen beruht (Abb. 2.17). Der Amazonas ist demnach ein Weißwasserfluss, das heißt, seine Wasserfarbe ist lehmig-gelb durch viele anorganische Schwebstoffe, meist Sedimente, die von den Anden in die Amazonas-Zuflüsse gespült werden (Abb. 2.18). In einem Liter Flusswasser schwimmen etwa drei Gramm Sedimente (Gletschermilch, Sand- und Lehmpartikel). Die Sichtweite ist gering und beträgt maximal 0,50 m. Bis in zehn Zentimeter Wassertiefe gelangen nur 44 % des Sonnenlichtes, bis 20 cm nur noch 20 %. Deshalb gibt es in Weißwasserflüssen auch keine untergetauchten Wasserpflanzen, dafür aber aufgrund der vielen Nährstoffe zahlreiche Schwimmblattpflanzen. Auch Wasserschnecken findet man im Weißwasser selten und Plankton gar nicht. Chemisch gesehen ist das Weißwasser fast neutral (pH = 6,5–6,9). Weitere chemische Besonderheiten sind Tab. 2.2 zu entnehmen. Weitere Weißwasserströme Amazoniens sind zum Beispiel der Rio Madeira sowie der Rio Branco und fast alle seine Quellflüsse in den Anden. In Deutschland

24     L. Staeck

Abb. 2.17  Verteilung der drei Gewässertypen im Amazonas-Becken. Legende: 1 =  Uralte, abgetragene Bergländer (Guyanas und Zentralbrasilien), 2  = Sumpfige Niederungen, Überschwemmungsregionen und Bleichsandgebiete, 3  = Überschwemmungswälder (Weißwasser-Igapós) und Terra-Firme auf Schwemmland der Sedimente der Anden, 4 = Regenwälder (Terra-firme), 5 = Überschwemmungswälder (meist Schwarzwasser-Igapós)

sind beispielsweise Inn und Donau abschnittsweise und in der Schweiz der Vorderrhein, ein Quellfluss des Rheins, Weißwasserflüsse.

2.6 Schwarzwasser In den Amazonas mündet jedoch auch eine beträchtliche Zahl von Schwarzwasserflüssen und Igarapés sowie Abflüsse von Schwarzwasserseen. Die Wasserfarbe des klaren, durchsichtigen Wassers ist jedoch nicht wirklich schwarz, sondern eher tee- oder colafarben, bisweilen auch rötlich, bei einer Sichtweite unter Wasser von bis zu zwei Metern (Abb. 2.19a). Verantwortlich für diese Färbung sind gewaltige Mengen an zersetztem Pflanzenmaterial, die bei der Überflutung der Überschwemmungsgebiete ins Wasser

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     25

Abb. 2.18  Mit seiner typischen lehmig-gelben Färbung ist der Amazonas ein Weißwasserfluss

gelangen, wo sie sich zu Tanninen sowie zu Humin- und Fulvosäuren zersetzen. Sedimente – wie in den geologisch jungen Anden – gibt es in den Regionen der Schwarzwasser nicht. So gibt es beispielsweise nahe am Amazonas mitten in einer Várzea oder auch im Regenwald Schwarzwasserseen oder kleine Schwarzwasserflüsse. Diese entstehen, wenn Jahr für Jahr während der Regenzeit große Mengen Laub und anderes pflanzlichen Material aus der dicht bewachsenen Umgebung in diese Gewässer gespült werden. Diese werden allmählich saurer und „schwarz“ (Abb. 2.20). Chemisch gesehen ist das Schwarzwasser mit einem pH-Wert von 3,8 bis 4,9 extrem sauer und für viele Organismen damit lebensfeindlich, zum Beispiel für die Eier und Larvenstadien der Moskitos. Auch Bäume, die im Einzugsbereich von Schwarzwasser leben, sind meist bedeutend niedriger und schwächer strukturiert als in Weißwassernähe. Weitere chemische Besonderheiten sind Tab. 2.2 zu entnehmen. Weitere Schwarzwasserflüsse Amazoniens sind der Rio Negro, der Rio Jutaí und viele weitere Flüsse, die aus den sumpfigen Niederungen und Bleicherdengebieten nördlich des Amazonas kommen. In Deutschland ist beispielsweise die Ilz bei Passau ein Schwarzwasserfluss. Moore und Sümpfe weisen ebenfalls Schwarzwasser auf.

26     L. Staeck

Abb. 2.19  a Ein typischer Schwarzwasserfluss mit der charakteristischen Cola-ähnlichen Färbung, die Tannine färben den Gewässeruntergrund bisweilen rötlich. b Der Rio Tapajos, ein typischer Klarwasserfluss, der durch Algen bewuchs auf dem Untergrund hellgrün bis gelbgrün erscheint

2  Der Amazonas – größter Fluss der Erde     27 Tab. 2.2  Geologischer, chemischer und landschaftlicher Vergleich der drei Gewässertypen Amazoniens Weißwasser Agua branca

Schwarzwasser Agua preta

Klarwasser Agua clara

Sichttiefe Wasserfarbe

10–50 cm lehmgelb, trüb

mehr als 4 m grünlich

Quellgebiet

Anden

1,5–2,5 m tee- bzw. colafarben, bisweilen rötlich Überschwemmungsland, Sumpfgebiete

Bodenstruktur

Latisole, Tonminerale, Bleichsand, Podsole Lehme, Endmoränen 6,5–6,9 3,8–4,9 0,09–0,45a 0,65–1,27a

Bergland der Gyua­ nas, Zentralbrasi­ lianisches Massiv Latosole, Lehme, Braunlehme 6,4–6,7 0,31–0,82a

30–70b

8–15b

15–30b

üppig, Várzeas, Igapós, auch Baumriesen

niedrige Bäume, „Caatinga“-ähnlich, niedrige Bäume, auch Sträucher Sträucher, weiße Strände keine Wenige Schwimmblattpflanzen, z. B. Wasserschlauch (Utricularia)

pH-Wert Gesamthärte (in°dH) Leitfähigkeit (in µS/cm3) Uferlandschaft

Wasserpflanzen Viele Schwimmblattpflanzen in Altwässern und Várzeas; Victoria amazonica aGehalt

an Calcium und Magnesium; in Deutschland 12–18°dH der gelösten Mineralien; in Deutschland 300–500 µS/cm3; destilliertes Wasser: 0 µS/cm3 bGesamtheit

2.7 Klarwasser Schließlich gibt es noch einen dritten Gewässertyp in Amazonien: die Klarwasserflüsse. Diese sind durch Algenbewuchs am Boden hellgrün bis gelbgrün gefärbt und von außerordentlicher Klarheit, da es fast keine Sedimente oder gelöste organische Bestandteile gibt (Abb. 2.19b). Die Sichtweite beträgt mehr als vier Meter. Die Quellgebiete dieser Flüsse sind die uralten, abgetragenen Bergmassive der Guyanas im Norden des Amazonas oder Zentralbrasiliens im Süden des Amazonas, in denen die Sedimente und erodierte Sandmassen bereits seit langer Zeit abgetragen sind. Chemisch gesehen ist das Wasser leicht sauer (pH = 6,4–6,7). Weitere chemische Besonderheiten sind Tab. 2.2 zu entnehmen. Bedeutende Klarwasserflüsse Amazoniens sind der Rio Tapajos und Rio Xingu, die von Süden kommend in den Amazonas einmünden. In Deutschland sind beispielsweise die Isar und

28     L. Staeck

Abb. 2.20  Schematische Darstellung der Versauerung Amazonas-naher Seen

in der Schweiz der Hinterrhein, ein weiterer Quellfluss des Rheins, Klarwasserflüsse. Natürlich haben diese drei unterschiedlichen Gewässertypen weitreichende Konsequenzen für das gesamte Pflanzen- und Tierleben in Amazonien. Es gibt auch alle erdenklichen Mischformen zwischen diesen Gewässern, etwa wenn verschiedene Wassertypen zusammenfließen.

3 Städte am Amazonas

3.1 Iquitos Iquitos (Peru) liegt nur 92 m über dem Meeresspiegel, obwohl die Amazonasmündung fast 3000 km Luftlinie entfernt ist (4200 Flusskilometer). Der Amazonas, der nicht weit vom Hafen vorbeifließt, hat hier bereits zur Trockenzeit eine Breite von 1,8 km und zum Höchststand der Regenzeit im Juni von über sieben Kilometern. Die Stadt verzeichnet durch die sprudelnde Erdölförderung und den boomenden Tourismus ein gewaltiges Bevölkerungswachstum und hat heute – mitten im (mittlerweile überwiegend Sekundär-)Urwald gelegen – mehr als 600.000 Einwohner. Auch der Autoverkehr innerhalb der Stadt hat in den vergangenen Jahren extrem zugenommen, vor allem durch die kleinen Motokars: dreirädrige Taxis, von denen es mehr als 40.000 gibt (Abb. 3.1), obwohl es überhaupt keine Straßenverbindungen durch den Urwald zu anderen Regionen gibt. Die Stadt ist zum einen über den internationalen Flughafen zu erreichen. Es gibt tägliche Verbindungen nach Miami und Lima. Zum anderen ist der Hafen über zahlreiche Fährverbindungen mit einer Vielzahl von Städten ­verbunden; es gibt zudem Speed-Boote, die für ein kräftiges Aufgeld 50 bis 70 km in der Stunde schnell sogar in der Nacht den Amazonas befahren. Iquitos gilt als Tor zum Amazonas. Die Märkte quellen über mit Produkten aus den Wäldern und Flüssen wie Holz, Früchte, zum Beispiel Bananen, Ananas, Papayas, Avocados, Guaven, Paranüsse, Cashew-Nüsse, Maracuja oder Açai-Beeren, Gemüse wie Palmenherzen, Süßkartoffeln, Maniok, Taro, Tucumão und Pupinha (Abschn. 7.2.1 und 7.2.2), verbotene © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_3

29

30     L. Staeck

Abb. 3.1  Mehr als 40.000 dreirädrige Motokars fahren durch die Straßen von Iquitos

Felle und Häute, etwa des Ozelots, der Anakonda und des Brillenkaimans, daneben Fische wie Arapaima, Tucunaré oder Tambaqui (Abschn. 8.1) sowie Importware aus China, zum Beispiel Kleidung und Haushaltsgegenstände. Auf der Speisekarte der kleinen Imbissstände und Restaurants gibt es auch ungewöhnliche Angebote wie Tapir-Fleisch, Kaiman-Steak, Schlangen-Gulasch, Schildkröten-Fleisch und -Eier oder fette Suri-Maden (Abb. 3.2; Abschn. 6.1.13), die Larven des Palmen-Rüsselkäfers. Die Stadt hat eine Reihe interessanter Sehenswürdigkeiten zu bieten. So liegt im Zentrum der Plaza de Armas. Hier stehen mit interessanten Epyphyten bewachsene Bäume und die imposante Iglesia Matriz (Mutterkirche). An seiner östlichen Ecke liegt ein sehenswertes, aus Gusseisen gebautes Gebäude: das Casa de Hierro genannte Eisenhaus, entworfen von dem französischen Architekten Gustave Eiffel, dem Erbauer des Eiffelturmes. Ein Block entfernt von diesem Platz in östlicher Richtung erstreckt sich die vor einigen Jahren neu gestaltete Uferstraße Malecon Tarapaca. Hier steht ein im Jugendstil errichteter Prachtbau aus der Zeit des Kautschuk-Booms, das ehemalige Hotel Palace. Seine Fassade ist mit hübschen Kacheln aus Portugal verkleidet. An der Malecon befindet sich auch das renovierte Café Fitzcarraldo, in dem sich Werner Herzog, Klaus Kinski, Claudia Cardinale und das übrige Film-

3  Städte am Amazonas     31

Abb. 3.2  Die fetten Suri-Maden des Palmen-Rüsselkäfers gelten bei den Einheimischen von Iquitos als Delikatesse

team während der Dreharbeiten zu dem im deutschsprachigen Raum auch heute noch bekannten Film „Fitzcarraldo“ trafen, der 1982 uraufgeführt wurde. Kinski spielt darin einen Exzentriker, der im Urwald ein Opernhaus bauen möchte und dabei scheinbar Unmögliches versucht, zum Beispiel ein typisches Amazonas-Schiff über einen Berg zu ziehen … Am Abend treffen sich auf der Malecon junge Familien und die Jugend. Eine entspannte Atmosphäre lädt zum Verweilen ein, zumal dann die zahlreichen Bars und Restaurants öffnen und man im Freien bei angenehmen Temperaturen appetitliche exotische Gerichte und das schmackhafte peruanische Bier genießen kann. Von der Malecon hat man am Tage einen schönen Blick hinunter auf ein Überschwemmungsgebiet. Außerdem sieht man von hier auch das Stadtviertel Belén (= Kurzform von Bethlehem), in dem der ärmere Teil der Bevölkerung in zumeist noch mit Palmblättern gedeckten Hütten lebt. Diese stehen eng gedrängt auf Stelzen in einer Vielzahl von Kanälen und kleinen Wasserstraßen. Alle diese Häuser sind durch oft abenteuerlich gestaltete und nicht selten auch morsche Stege verbunden. In dieses Gebiet sowie auch auf den benachbarten riesigen Markt sollte sich der Besucher allerdings nur am Tage wagen, denn Taschendiebe und Drogenabhängige sollten nicht unterschätzt werden. Der Markt ist neben dem in Manaus und Belém der größte und vielfältigste des gesamten Amazonas-Tieflandes.

32     L. Staeck

Alle nur denkbaren Produkte des tropischen Regenwaldes werden hier neben Waren des täglichen Bedarfs „Made in China“ in einem faszinierenden Ambiente angeboten.

3.2 Leticia Weitere drei Tage mit dem Fracht-Personen-Schiff flussabwärts (alternativ: zehn Stunden mit dem Schnellboot) liegt Leticia (Kolumbien) am linken Ufer des Amazonas. Die Entfernung zwischen Iquitos und Leticia beträgt 490 Flusskilometer (372 km Luftlinie). Diese Stadt im „Wild-West-Look“ liegt 82 m über dem Meeresspiegel. Der Amazonas ist hier fast drei Kilometer breit, obwohl er noch mehr als 4000 Flusskilometer bis zu seiner Mündung in den Atlantik vor sich hat. Ursprünglich war der kolumbianische Landzipfel bis zum Amazonas peruanisch, und Leticia hieß früher San Antonio. Nach einem Konflikt mit Kolumbien Anfang des 20. Jahrhunderts spaltete Peru jedoch diese Region 1922 ab, wodurch der Zugang zum Amazonas mit der Stadt kolumbianisch wurde. Auch ein kurzer Krieg zwischen beiden Staaten um diese Region von 1932 bis 1933 änderte diese Situation bis heute nicht. Leticia wird auch gern als Las Tres Fronteras bezeichnet, da sich hier die Grenzen der drei Staaten Peru, Kolumbien und Brasilien berühren (Abb. 3.3). Auf der anderen Seite des Flusses befindet sich die peruanische Siedlung Santa Rosa. Eigentlich bildet Leticia zusammen mit dem brasilianischen Städtchen Tabatinga eine Doppelstadt, denn die Geschäftsstraßen gehen vom

Abb. 3.3  Grenzverlauf zwischen Leticia (Kolumbien), Tabatinga (Brasilien) und Santa Rosa (Peru)

3  Städte am Amazonas     33

kolumbianischen in den brasilianischen Teil kaum sichtbar und ohne Grenzkontrollen über. Beide Städte hatten in den vergangenen Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, so leben heute schätzungsweise 100.000 Menschen in dieser Zwillingsstadt. Als Grenzstadt mit Freihandelszone gibt es in Leticia einen regen Handel mit Devisen, Benzin, Holz, Früchten, Fisch und illegalen Produkten (Drogen) über die „grüne Grenze“ hinweg. Gerüchte besagen, dass sich einige Banden sogar auf Organhandel spezialisiert haben. Militär und Polizei sind im Stadtbild überall präsent. Also: In der Nacht besser im Hotel bleiben! Doch bei Tage gilt die überschaubare Innenstadt als sicher. Unzählige Mopeds umkreisen ständig die Innenstadtstraßen, eine Straßenverbindung nach außen existiert nicht. Beide Städte haben jedoch einen eigenen Flughafen. Von Leticia aus bestehen Flugverbindungen nach Miami und in die Hauptstadt Bogotá, Tabatinga wird nur innerbrasilianisch angeflogen, etwa von Manaus aus. Von der neu gebauten Uferstraße Malecon mit Anlegern für kleinere Schiffe geht die Hauptstraße (Calle 8) ab (Abb. 3.4). Hier gibt es zahlreiche Wechselstuben mit günstigen Kursen für die brasilianische Währung Real. Rund um diese Straße erstreckt sich ein großer Markt mit abgegrenzten

Abb. 3.4  Die Hauptstraße Calle 8 in Leticia

34     L. Staeck

­ eilbereichen für Fisch, Gemüse und Obst sowie (meist chinesische) Waren T für den täglichen Bedarf. Ein Block weiter aufwärts gibt es die Galeria Arte Indigen, wo neben modernen touristischen Souvenirs auch authentische Kunstgewerbeprodukte verschiedener ethnischer Gruppen angeboten werden – zum Beispiel von den Huitotos, den Boras und Yaguas. Außerdem gibt es in diesem Laden ein kleines – allerdings angestaubtes – Indianer-Museum und einige Aquarien mit Fischen aus der Umgebung. Ein Block weiter westlich der Calle 8 befindet sich in einem Bankgebäude das überschaubare Ethnografische Museum mit Exponaten der Huitotos und Boras sowie Poster zur Entwicklung der menschlichen Kultur in den vergangenen Jahrhunderten. Auch der Parque Santander ist von hier nicht weit entfernt. Dort sind in einem Teich die Amazonas-Riesenseerosen (Victoria amazonica), Cichliden und Schildkröten zu bewundern. Am westlichen Parkrand steht die große Kathedrale Leticias. Letztlich bietet sich das Hotel Anakonda für eine Pause nach dem schweißtreibenden Rundgang an. Bei einem kühlen Getränk am Swimming-Pool können tropische Blütenpflanzen der Region und einige zahme Aras fotografiert werden.

3.3 Manaus Weitere vier Tage flussabwärts mit dem Personenschiff – oder alternativ 36 Stunden mit dem Schnellboot – liegt Manaus (Brasilien) am Rio Negro, etwa 16 km oberhalb seiner Mündung in den Rio Solimões, 20 m über dem Meeresspiegel. Die Entfernung von Leticia bis Manaus beträgt rund 1600 Flusskilometer (Luftlinie: 1106 km). Der Amazonas ist hier fünf Kilometer breit, noch immer sind es über 1800 Flusskilometer beziehungsweise 1370 km Luftlinie bis zur Mündung in den Atlantik. Die Mündung des Rio Negro in den Rio Solimões (Encontro das Aguas) ist wahrlich spektakulär. Die Grenze zwischen dem teefarbenen Schwarzwasser des Rio Negro – hier durch den blauen Himmel nicht dunkel erscheinend – und dem lehmig-gelben Weißwasser des Rio Solimões lässt sich genau erkennen (Abb. 3.5). Ausflugsschiffe fahren direkt an diese Stelle und Kleinflugzeuge überfliegen den Zusammenfluss, um einen spektakulären Blick darauf zu vermitteln. Auf der Abbildung mündet der Rio Negro von rechts kommend (Nordwesten) in den Amazonas. Am oberen Bildrand kommt der Amazonas in zwei Bögen an (aus Westen), wird dann im Vordergrund sehr breit und fließt sodann nach links unten weiter (nach Osten). Das Wasser des Rio

3  Städte am Amazonas     35

Abb. 3.5  Zusammenfluss des Rio Solimões (Weißwasserfluss) und des Rio Negro (Schwarzwasserfluss) in der Nähe von Manaus. Ab hier heißt der Fluss bei den Brasilianern „Amazonas“

Negro fließt an der linken unteren Ecke der Abbildung noch länger neben dem Amazonaswasser entlang.Je nach Wassermengen der beiden Ströme fließen beide Flüsse noch bis zu elf Kilometer nebeneinander her mit einer deutlich erkennbaren Grenze, bis schließlich der größere, der Weißwasserfluss, den kleineren Rio Negro gänzlich aufnimmt. Dass sich die Wassermassen nur allmählich durchmischen, liegt an der vollkommen verschiedenen Qualität beider Gewässer – ähnlich wie bei einer Tasse Kaffee, in die langsam Sahne gegossen wird: Die Fließgeschwindigkeit, die Wassertemperatur, der ph-Wert und die Menge der gelösten Mineralien unterscheiden sich deutlich (Kap. 2, Tab. 2.2). Mit dem Zusammenfluss der beiden Ströme ändert sich auch bei den Brasilianern der Name: Der Rio Solimões heißt von nun an bis zu seiner Mündung in den Atlantik Amazonas. Manaus ist die Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, der eine Größe von 1,56 Millionen Quadratkilometern aufweist. Er ist damit viermal so groß wie Deutschland, zählt dabei aber nur 3,9 Mio. Einwohner, was eine äußerst dünne Besiedlung bedeutet, zumal allein in Manaus heute mehr als zwei Millionen Menschen leben. Durch den Kautschuk-Boom um 1890

36     L. Staeck

wurde aus dem kleinen Dorf Manaus eine reiche Großstadt mit einer elektrischen Straßenbahn (diese fuhr bis 1957) und ebensolchen Straßenlaternen. Die Gummibarone jener Zeit waren so reich, dass sie ihre Bettwäsche zum Mangeln nach Europa verschifften – es spielte keine Rolle, wann die Wäsche wieder zu Hause war. In dieser Zeit wurde eine Reihe von luxuriösen Bauwerken errichtet, die noch heute im historischen Stadtkern besichtigt werden können. Manaus galt damals als das „Paris der Tropen“! Durch Einrichten einer Freihandelszone im Jahre 1957 konnte die Stadt allmählich wieder an die Kautschukzeit anknüpfen, die Einwohnerzahl dieser Urwaldmetropole wuchs weiter stark und sie gilt heute als die viertreichste Stadt Brasiliens. In der größten Motorradfabrik der Firma Honda weltweit läuft alle acht Sekunden ein Motorrad vom Band. Nach Öl- und Gasfunden in der weiteren Umgebung von Manaus bis in etwa 400 km Entfernung wurden in den vergangenen zehn Jahren Pipelines durch den Urwald und durch die Flüsse bis zum neuen riesigen Terminalhafen am Ufer des Rio Negro östlich der Innenstadt verlegt, sodass sowohl Rohöl wie Gas direkt dorthin gepumpt werden. Große Öl- und Gastransportschiffe bringen nun das „schwarze Gold“ und das Erdgas von Manaus bis nach Rio de Janeiro und andere brasilianische Atlantikstädte. Manaus erlebt damit einen neuen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Seit 2012 gibt es ein neues Wahrzeichen der Stadt: Eine 3,6 km lange, moderne Brücke – Gesamtkosten eine Milliarde Real – überspannt den Rio Negro im Norden der Stadt. Es ist die bisher einzige Brücke im gesamten Amazonas-Rio-Negro-Flusssystem, das eine Länge von fast 10.000 km aufweist. Über diese Brücke besteht auf dem anderen Ufer des Rio Negro eine Straßenverbindung nach Manacapuru und nach Novo Airão. Von Manaus selbst gibt es nur eine 220 km lange, oft durch Erdrutsche und Überschwemmungen unterbrochene Straßenverbindung nach Norden bis Boa Vista im Bundessaat Roraima, und weiter nach Venezuela. Der internationale Flughafen bietet Verbindungen nach Miami, vom Hafen kann man mit den typischen mehrstöckigen Amazonas-Schiffen den Amazonas flussauf- und flussabwärts fahren. Direkt am Hafen erstrecken sich die großen Markthallen, in denen Obst, Gemüse, Gewürze und Waren des täglichen Bedarfs angeboten werden. Berühmt ist die nunmehr liebevoll renovierte Fischhalle, die nach dem Vorbild der Pariser Les Halles 1883 im Jugendstil errichtet wurde. Der Konstrukteur des Eiffelturmes, Gustave Eiffel, war damals der Architekt dieses schmiedeeisernen Gebäudes (Abb. 3.6).

3  Städte am Amazonas     37

Abb. 3.6  Die inzwischen renovierte Fischhalle, errichtet 1883 nach dem Vorbild der Pariser Les Halles, hat Gustave Eiffel entworfen

Tipp Der Besuch eines Fischrestaurants am Hafen oder an der Punta Negra (dasselbe gilt natürlich auch für Iquitos, Leticia oder Belém) sollte sich kein Besucher entgehen lassen. Dort gibt es eine große Auswahl frisch gefangener typischer Amazonas-Fische (Abschn. 8.1), die landestypisch zubereitet werden und mit Pommes Frites oder kross gebratenem Maniok-Mehl serviert werden. Sie werden allerdings mit ihrem brasilianischen Namen auf der Speisekarte angeboten (Tab. 3.1):

Bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt erscheint besonders lohnend, das legendäre, 1896 im Stil der italienischen Renaissance erbaute Teatro Amazonas zu besuchen, ein Opernhaus für etwa 700 Besucher (Abb. 3.7). Die wertvollsten Baumaterialien wurden aus Europa importiert, zum Beispiel Gobelins aus Frankreich, Marmor aus dem italienischen Tab. 3.1  Namen von Amazonas-Fischen auf Brasilianisch Brasilianisch

Deutsch

Brasilianisch

Deutsch

Tambaqui Pirarucú Pacú

Mühlsteinsalmler Arapaima Silberdollar

Tucunaré Jaraqui Surubím

Augenfleckbuntbarsch Schwanzstreifen-Nachtsalmler Tigerspatelwels

38     L. Staeck

Abb. 3.7  Das Opernhaus von Manaus wurde 1896 auf dem Höhepunkt des Kautschuk-Booms erbaut

­ arrara, Eisen und Bronze aus Lothringen in Frankreich, erlesenes Parkett C aus Edelhölzern aus dem Urwald sowie Kacheln aus Deutschland und Portugal. Auch heute noch sieht der Innenraum sehr edel aus. Auch das prächtige, im portugiesischen Stil errichtete Palácio Rio Negro stammt aus der Zeit des Gummi-Booms. Erbaut wurde diese eindrucksvolle Villa 1910 durch den deutschen Gummi-Baron Waldemar Schulz. Heute ist es ein Kulturzentrum und Kunstmuseum. Im Vorgarten stehen zwei kleinere Exemplare des Brasilholz-Baumes (Caesalpina echinata; Fam. Fabaceae), der dem heutigen Brasilien seinen Namen gab. Die Rinde und das Harz wurden zur Farbstoffgewinnung benutzt. Seine rötliche Farbe, die an die Glut des Feuers erinnert, führte zu seinem brasilianischen Namen „pau brasil“ (pau = Holz, brasil =  glühend) und damit zum Staatsnamen Brasil (ausgesprochen ­Brasíu = Brasilien). Die hübschen gelben Blüten erinnern ein wenig an Orchideen. Die für Kreuzfahrtschiffe geeignete, 1906 von England erbaute Hafenanlage ist auf schwimmenden Pontons verankert, die sich dem stark

3  Städte am Amazonas     39

­ echselnden Wasserstand anpassen. Direkt an der zuführenden Brücke w hängt am Ufer ein großes Schild, das die maximalen Hochwasserstände der vergangenen 115 Jahre zeigt (seit 1904). Die Tendenz weist seit einer Reihe von Jahren deutlich nach oben. Sind diese immer neuen Maxima natürliche Schwankungen oder schon Auswirkungen des Klimawandels? Die Schwankung zwischen Niedrigwasser (im November/Dezember) und Hochwasser (Ende Mai/Anfang Juni) sind gigantisch und betragen bis zu 15 m, wobei der Pegel bis zu drei Monate auf seinem Höchststand verharrt. Im Jahre 2014 stand das Wasser des Flusses in den Straßen hinter dem Hafen. Gleich hinter dem Hafenterminal steht die hübsche Kathedrale Nossa ­Senhora da Conceição aus dem Jahr 1877. Weitere touristische Sehenswürdigkeiten sind: • der Wald der Wissenschaft (Bosque de Ciênca), ein großer intakter Urwald mitten in Manaus mit riesigen Brettwurzel-Bäumen, Lianen, Epiphyten (Abschn. 6.5 sowie Abschn. 5.10) und zahlreichen frei lebenden Tieren wie Agutis, Faultiere, Kapuzineraffen und viele Vogelarten sowie in vielen Gehegen Rundschwanz-Seekühe (Manatis), Riesen-Flussottern, Kaimane u. a. m. Auch ein interessantes Museum steht auf dem Gelände. Das Nationale Fisch-Institut Amazoniens (INPA) unterhält diese Einrichtung. • Der Militär-Zoo, der viele typische Tierarten des Amazonas-Regenwaldes zeigt, wenngleich die Tiere in wenig zeitgemäßen Gehegen untergebracht sind. • Der Mindú-Park (Parque do Mindú), ein großes parkähnliches Gelände auf 330.000 Quadratkilometern mit Restaurants und einem Orchideenhaus, in dem zahlreiche Tierarten ausgestellt werden. • Das Hotel Tropical ist direkt am Rio Negro gelegen. Von hier starten die Rundflüge über Manaus und zum Zusammenfluss von Rio Solimões und Rio Negro. Angeschlossen ist ein kleiner Zoo mit Affen, Vögeln, Pekaris und einem Jaguar und in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich ein intakter Regenwald, in dem neben vielen interessanten Vögeln und Insekten eine Gruppe der sehr seltenen Zweifarben-Tamarinen (­Sanguinus bicolor) lebt, die endemisch für die Umgebung von Manaus sind (Abb. 9.10). • Und noch Ponta Negra: Dies ist am Wochenende die Flaniermeile der Stadtbewohner, ein Gelände mit Bühne, großem Sandstrand (bei Niedrigwasser), vielen Bars und Ständen mit typischen Speisen der Region; ganz in der Nähe des Hotel Tropical.

40     L. Staeck

3.4 Parintins Weiter geht die Reise flussabwärts. Die nächste erwähnenswerte Stadt ist Parintins, 470 Flusskilometer von Manaus entfernt. Sie liegt auf einer großen Insel mitten im Fluss (Tupinambarana) und hat 110.000 Einwohner. Obwohl sie nur über den Amazonas zu erreichen ist, gibt es viele Motorräder (meist als Taxis) und Autos. Die Stadt hat durch viele Fernsehberichte in den letzten Jahren Aufsehen erregt, da sie einmal im Jahr am letzten Juniwochenende ein mitreißendes folkloristisches Festival veranstaltet, das an den Karneval in Rio erinnert. Dann kommen Tausende Besucher mit ihren Booten, die natürlich nicht alle an der kleinen Pier Platz haben. So liegen viele, viele Boote nebeneinander, sodass spät ankommende Besucher Hunderte von Meter von Boot zu Boot springen müssen, bis sie schließlich festen Boden erreichen. In einem großen Stadion mit Platz für 16.000 Besucher findet dann die Boi-Bumbá-Show statt (boi = Ochse, bumba = schlagen; also „Schlag den Ochsen“). Dabei handelt es sich um einen Wettstreit von 3.500 Teilnehmern um die gelungenste Präsentation von • Figuren, z. B.Tiere des Flusses oder Waldes, wie den Tucunaré (Buntbarsch), Jaguar oder Kaiman, • Fantasietieren, wie Drachen oder Riesenschlange, • Kostümen der Tänzer und • rhythmischen Musikstücken. Dieser Wettbewerb wird immer zwischen denselben zwei Parteien ausgetragen: Die Anhänger des Blauen Ochsen (Boi Caprichoso) kämpfen gegen die Anhänger des roten Ochsen (Boi Garantido). Die Unterstützer dieser beiden Gruppen tragen entsprechend blaue oder rote Hemden. Es werden auch die Dächer und Zäune der Häuser blau oder rot bemalt, die Schilder der Banken sind natürlich zweifarbig (rot und blau), um keine Kunden zu verärgern. Es gibt sogar blau oder rot lackierte Taxis und auch Coca Cola macht mit: Die Werbeschilder erscheinen auch in Blau und neben den bekannten roten Dosen gibt es – weltweit einmalig! – auch blaue. Bei dem nächsten Städtchen, das flussabwärts passiert wird, engt sich der Amazonas auf „nur“ 1890 m Breite ein. Hier bei der Kleinstadt O ­ bidos ist tatsächlich die engste Stelle des gesamten Amazonas, denn beiderseits des Flusses liegt nicht wie sonst Schwemmland, sondern über 90 m hohes,

3  Städte am Amazonas     41

­ artes Granitgestein, das eine größere Ausdehnung des Flusses auch wähh rend der Regenzeit verhindert, sodass es zu diesem „Flaschenhals“ kommt. Die Brasilianer nennen diese Stelle auch Garganta do Amazonas („Gurgel des Amazonas“). Durch diese Verengung hat der Fluss hier eine starke Strömung und mit etwa 120 m seine größte Tiefe, während es sonst nur zwischen 15 und 30 m sind. An dieser strategisch wichtigen Stelle errichteten die portugiesischen Eroberer 1697 eine Siedlung, die zu einem Fort ausgebaut wurde (Fort Gurjão). Das Städtchen selbst hat eine hübsche Altstadt mit engen Gassen und antiken Villen.

3.5 Santarém Die nächste größere Stadt flussabwärts ist Santarém. Diese Großstadt mit 270.000 Einwohnern liegt im Bundesstaat Pará, benannt nach dem großen Seitenarm des Amazonas, der zur Mündung des Amazonas-Flusssystems in den Atlantik führt. Auch dieser Bundesstaat ist mit 1,25 Mio. km2 Fläche riesig und mehr als dreimal so groß wie Deutschland – bei acht Millionen Einwohnern. Pa´rá bedeutet in der Tupi-Guaroni-Sprache „Fluss-Meer“. Tatsächlich: Der Amazonas gleicht hier am Unterlauf immer mehr eher einem riesigen See oder einem Meer. Santarém liegt 51 m über dem Meeresspiegel und zwar auf der rechten Seite des Amazonas – genauer dort, wo der Klarwasserfluss Rio Tapajós in den Weißwasserfluss Amazonas mündet. Von hier sind es immer noch 970 Flusskilometer (Luftlinie 750 km) bis zur Mündung. An dieser Stelle kommt es also ebenfalls zum Zusammenfluss zweier unterschiedlicher Wassermassen: Das klare, bei Sonnenschein von oben blau erscheinende Wasser des mächtigen Tapajós mündet ist das lehmig-gelbe Wasser des Amazonas. Ähnlich wie bei Manaus fließen zur Regenzeit beide Wassermassen wegen ihrer unterschiedlichen Fließgeschwindigkeit und Temperatur noch bis zu sechs Kilometer nebeneinander her, bevor sie sich vermischen. Santarém ist an das Straßennetz Brasiliens bis Rio de Janeiro angeschlossen. Außerdem gibt es eine gut ausgebaute Straße zum 38 km entfernten Naherholungsort Alter do Chão, wo die Großstädter gern zum Wochenende an schönen weißen Sandstränden – in der Trockenzeit – Urlaub machen. Deshalb hat dieses Gebiet den Spitznamen „Karibik Amazoniens“ (Abb. 3.8). Die Bewohner Santaréms leben vor allem vom Holz des Waldes, von der Viehzucht und vom Fischfang.

42     L. Staeck

Abb. 3.8  Zur Trockenzeit gibt es in Alter do Chão schneeweiße Sandstrände

3.6 Belém Belém – benannt nach der biblischen Stadt Bethlehem – ist die letzte große Stadt am Beginn des Mündungstrichters des Amazonas – noch etwa 120 Flusskilometer vom Atlantik entfernt. Sie liegt nur noch zehn Meter über dem Meeresspiegel an der Bucht von Guajará (Bahia do Guajará), die Teil des Rio Pará ist, eines großen Nebenarms des Amazonas, der sich mit dem Rio Tocantins vereint hat. Belém wurde 1616 von portugiesischen Seeleuten als Forte de Castello gegründet und ist heute eine Zwei-Millionen-Metropole. Sie verdankt ihren wirtschaftlichen Aufschwung dem Kautschuk-Boom vor 120 Jahren. Auch heute noch sieht man in der Innenstadt Zeichen des ehemaligen Reichtums: • An vielen Hausfassaden befinden sich noch alte portugiesische Fliesen. • Die Hafengebäude aus dem Jahre 1901 mit dem Ver-o-peso-Markt (auf Deutsch: „Pass auf das Gewicht auf!“). Dieser ist von einer überwältigenden Vielfalt und quillt förmlich über an Gemüse, Früchten und Fischen, an Heilkräutern und Gewürzen (Abb. 3.9). • Die benachbarte Hafenanlage (Estação das Docas) wurde komplett renoviert und ist nunmehr an den Wochenenden eine interessante Flaniermeile der einheimischen Bevölkerung mit Geschäften und Restaurants. • Die Basilika de Nossa Senhora de Nazaré von 1909. Sie ist nach römischem Vorbild mit Säulen aus Rosengranit und Mauern aus Carrara-­ Marmor im neoklassizistischen Stil errichtet.

3  Städte am Amazonas     43

Abb. 3.9 Der Ver-o-peso-Markt in Belém

• Dazu die Catedral da Sé, die schon 1771 im neoklassizistischen und Barockstil errichtet wurde und in Hafennähe unmittelbar neben der Festung steht. Weiterhin ist sehenswert: • Der zoologisch-botanische Garten Emilio Goeldi mit einem kleinen Urwald voller prächtiger Bäume, einem Teich mit der Amazonas-Riesenseerose (Victoria amazonica) und einer Reihe von Gehegen mit Tieren aus dem Regenwald. Diese Käfige entsprechen allerdings nicht mehr den heutigen zoodidaktischen Vorstellungen. • Der 2005 eröffnete ökologische Park Mangal das Garças, der sich in der Nähe der Festung befindet. Dieser Park beherbergt neben vielen einheimischen Blütenpflanzen und frei lebenden Vögeln auch ein Orchideen- und ein Schmetterlingshaus sowie eine große Vogelvoliere. Viele Straßen der Innenstadt werden von hohen, Schatten spendenden Mangobäumen gesäumt, die bereits weit über 100 Jahre alt sind. Ab Ende April sind die Mangos reif und fallen in großer Zahl von den Bäumen.

44     L. Staeck

Übrigens verdankt die Stadt ihren Spitznamen „Belémhatten“ (nach Manhatten in New York) den zahlreichen Bürohochhäusern. Um von Belém aus flussaufwärts in den Amazonas zu gelangen, wählen die Schiffe zumeist die Passage durch die Breviskanäle (etwa über den Rio Parauaú), vorbei an der Kleinstadt Brevis, und dann weiter über eine Reihe von weiteren natürlichen Kanälen (Igarapés) bis schließlich nach einer knappen Tagesreise der Hauptstrom erreicht ist.

4 Die Menschen am Amazonas

4.1 Die Urbevölkerung Die Besiedlung Amerikas begann nach jüngsten archäo-genetischen Untersuchungen schon vor etwa 23.000 Jahren, als während des Höhepunktes der damaligen, mehr als 70.000 Jahre dauernden Visconsin-Eiszeit und des damit verbundenen um 70 m niedrigeren Wasserstandes die Beringstraße eine Landbrücke zwischen dem asiatischen und dem amerikanischen Kontinent bildete. Zu jener Zeit fand über Sibirien eine erste Einwanderungswelle eurasischer Menschengruppen statt. Die Nachfahren dieser Population zogen danach allmählich entlang der Küsten weiter und erreichten die Südspitze Feuerlands bis spätestens vor 14.600 Jahren. Wie genetische Untersuchungen offenbaren, sind Mitglieder einer zweiten Gründungspopulation, die bei einer weiteren Kaltzeit nach Amerika gelangten, verblüffend deutlich mit den untersuchten Ureinwohnern im Amazonas-Gebiet verwandt (Abb. 4.1 und 4.2). Diese Migranten hatten ähnliches Erbgut wie die Menschen, die heute in Neuguinea, Australien und auf den Andamanen im Golf von Bengalen leben (Abb. 4.3). Die Zuwanderer der ersten Einwanderungswelle sind eher mit den Ureinwohnern Nord- und Zentralamerikas verwandt. Zur Hochzeit der Besiedlung – vor der europäischen Entdeckung Amerikas Ende des 15. Jahrhunderts – siedelten etwa fünf bis sieben Millionen Mitglieder indigener Völker im Amazonas-Becken. Wie war dies möglich bei diesem als „Klimaxboden“ bezeichneten Substrat, das zumeist ein tonreicher Oxysol- bzw. Latosol-Boden darstellt, also ein weißlicher oder rötlicher, ausgelaugter, überwiegend unfruchtbarer Boden, dessen Humusdecke nur © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_4

45

46     L. Staeck

Abb. 4.1  Eine Angehörige der Ticuna-Indianer in traditioneller Kleidung

wenige Zentimeter beträgt? Die Antwort lautet: Die Urbevölkerung hatte in ihren Siedlungen meist zwei bis drei Hektar große Abfallhalden angelegt, in denen alle organischen Abfälle (Speisereste, Knochen, Fischgräten, Pflanzenreste) und eigene Fäkalien mit beigemischter Holzkohlenasche und im Tauschhandel erworbenem Muschelkalk gesammelt wurden. Mit der Zeit wurde dieser Boden zu einer tiefschwarzen, fruchtbaren Erde, der Terra-Preta, die als Grundlage für ihre Gärten und Plantagen verwendet wurde. Sie ist schwach sauer (pH 6,8) und enthält durch die Knochenbeigaben außerordentlich hohe Phosphat-Werte von bis zu 184 ppm (parts per million) – normal fruchtbarerer Boden weist zehn ppm auf – sowie Kalzium, Kalium, Magnesium und Humusstoffe. Die Bestandteile dieses Bodens waren durch die beigemengte Holzkohle, den Muschelkalk und die Milchsäurebakterien aus dem Kot sehr stabil hinsichtlich ihrer Zersetzung und Auswaschung durch den starken Regen. Aktuell werden immer mehr solche uralten, meist 20 bis 30 Zentimeter dicke Terra-Preta-Böden im Amazonas-Becken

4  Die Menschen am Amazonas     47

Abb. 4.2  Angehörige derselben Ethnie – modern gekleidet, sie gehören der Sippe der ungeflügelten Tiere an, und zwar des Jaguar-Clans

Abb. 4.3  Die Urbevölkerung am Amazonas zeigt große genetischen Ähnlichkeiten mit Menschen, die heute in Neuguinea, Australien und den Andamanen leben – je dunkler die Farbkreise, umso enger die Verwandtschaft

48     L. Staeck

Abb. 4.4  Terra-Preta-Funde am mittleren und unteren Amazonas

gefunden (Abb. 4.4); in solchen mehr als 1000 Jahre alten Halden fand man auch alte Keramikbruchstücke der damaligen Kulturen. Als dann die ersten Europäer in dieses Gebiet vordrangen, brachten sie Berichte und Zeichnungen von Menschen fressenden Wilden und absonderlich aussehenden oder grotesk maskierten Menschen mit. So gelangte zum Beispiel 1599 ein nach Gerüchten gezeichnetes Bild der Ewaipanoma-Indianer nach Europa, das kopflose Wesen mit Gesichtszeichnungen auf der Brust zeigte (Abb. 4.5). Andere Darstellungen zeigen blutrünstige Amazonen, die weiße Eindringliche fangen, rösten und verzehren oder mit tierischen und Dämonenmasken verkleidete Indianer (Abb. 4.6). Durch Verfolgung und eingeschleppte Krankheiten hat die indianische Bevölkerung seit jener Zeit drastisch abgenommen. Zusätzlich kam es zu einer weiteren Dezimierung durch eine Vermischung von Teilen der indigenen Bevölkerung mit europäischen Einwanderern. Exakte Zahlen über den derzeitigen Umfang indigener Menschen in Amazonien gibt es nicht. Doch Schätzungen gehen von nur noch etwa 70.000 Angehörigen indigener Völker im brasilianischen Teil Amazoniens aus, die in etwa 50 unterschiedlichen Völkern mit jeweils wenigen Hundert Angehörigen leben. Von diesen – so schätzt die brasilianische Indianerbehörde FUNAI – gibt es zurzeit noch bis zu 20 im Regenwald isoliert lebende indigene Gruppen, deren Sprache und Lebensgewohnheiten völlig unbekannt sind.

4  Die Menschen am Amazonas     49

Abb. 4.5  Ende des 16. Jahrhunderts gelangten Bilder nach Europa, die Angehörige der Ewaipanoma-Indianer aus Amazonien zeigen sollten: kopflose Wesen mit Gesichtszeichnungen auf der Brust

Die heute noch existierenden Indianerstämme bestehen zumeist aus kleineren dörflichen Einheiten, die in die entlegensten Gebiete Amazoniens abgedrängt wurden, meist in Terra-Firme-Wälder. Ob sie sich von ihren ursprünglichen Traditionen und Lebensweisen verabschiedet haben, hängt vor allem damit zusammen, wie intensiv sie in ihrem Lebensraum mit der „modernen westlichen Zivilisation“ in Berührung kommen. Wenn Gruppen der Urbevölkerung mindestens sieben Tagesmärsche von einem schiffbaren Fluss entfernt leben, kann davon ausgegangen werden, dass diese Gruppen aufgrund ihrer Isolation noch weitgehend gemäß ihren ursprünglichen Gewohnheiten leben. Durch die willkürlich gezogenen Grenzen im Zuge

50     L. Staeck

Abb. 4.6  Die Urbevölkerung glaubte an die beseelte Natur. Auf ritualisierten Festen verkleiden sich Indianer mit Dämonen- und Tiermasken

der Kolonisierung gab es auch größere Umsiedelungsprojekte von indigenen Gruppen im Amazonas-Becken, dazu später mehr. Am direkten Ufer des Amazonas oder seiner unmittelbaren Nebenflüsse haben sich in der Vergangenheit unterschiedliche indigene Völker niedergelassen, etwa die Yagua, die Ticuna, die Huitotos und Boras sowie die Desano. Die Angehörigen der Urbevölkerung Amazoniens gelten bis heute nicht als Brasilianer. Sie besitzen keinen Pass, zahlen keine Steuern und leben ohne die staatlichen Gesetze. Das Yagua-Volk besteht aktuell aus etwa 6000 Mitgliedern und siedelt im heutigen Kolumbien und in Nordost-Peru, zum Beispiel am Amazonas und am Rio Napo, verteilt auf etwa 30 Dörfer. Sie sprechen eine eigene Sprache. Ihr Name geht auf das Ketschua-Wort yawar zurück, das „Blut“ beziehungsweise „Farbe des Blutes“ bedeutet. Traditionell bemalen sich die Angehörigen dieser Ethnie mit der blutroten Samenfarbe des Lippenstiftbaumes (Bixi orellana), der endemisch im Amazonas-Becken vorkommt (Abb. 7.8). Die hier wiedergegebenen Eindrücke und Fotos gehen zurück auf häufige Besuche des Yagua-Dorfes Libertad in Kolumbien mit etwa 300 Einwohnern, das am nördlichen Amazonas-Ufer liegt, etwa 110 km westlich von Leticia. Die Frauen und Männer tragen traditionell, das heißt zu ihren Festen wie auch zu Besuchen fremder Gruppen, rot gefärbte Baströcke und Oberteile aus den Blättern der Buruti-Palme (Mauritia flexuosa), die Frauen auch rote Leinenröcke (Abb. 4.7). Im Alltagsleben tragen sie jedoch westliche Kleidung. Sie sind christlich missioniert, daneben bewahren sie jedoch noch ihren animistischen Glauben, wonach zum Beispiel Naturereignisse

4  Die Menschen am Amazonas     51

Abb. 4.7  Yagua-Frauen in ihrer typischen traditionellen Kleidung

wie Regenbogen, Blitz, Donner, Stürme, aber auch die Sonne, der Mond und Baumriesen des Waldes beseelt sind. Auch der Ahnenkult gehört zum Animismus. Im Dorf gibt es eine Kirche und eine Grundschule. Neben vielen Hunden halten die Yagua noch unterschiedliche, meist junge Tiere des Regenwaldes, die den Besuchern stolz präsentiert werden. So bekommt man Tiere zu Gesicht, die üblicherweise verborgen sind und nur bei längeren Aufenthalten in dieser Region beobachtet werden können, etwa Faultiere, Wickelbären (Potos flavus), Wasserschweine (Capybaras), Agutis, Zwergseidenäffchen, Totenkopfaffen, Wollaffen, kleine Königsboas (Boa constrictor), Wasserschildkröten, kleine Brillenkaimane, kleine Leguane, Amazonen- oder Sperlingspapageien und Riesen-Nashornkäfer (Megasoma acteon) (Abb. 4.8). Die Bora- und Huitoto-Indianer (auch Witoto oder Uitoto geschrieben) sind nahe verwandte Ethnien, sprechen jedoch unterschiedliche Sprachen. Sie leben heute in benachbarten Dörfern im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Peru, was historische Ursachen hat. Ursprünglich lebten sie am Putumayo-Fluss in Peru. Infolge von Grenzstreitigkeiten zwischen Kolumbien und Peru wurde diese Region 1922 kolumbianisch. Daraufhin verließen die meisten Angehörigen dieser beiden Völker ihre Heimat, um sich nunmehr am Rio Ampiyacu, einem Nebenfluss des Amazonas, in der Nähe des Dorfes Pevas in Peru anzusiedeln. Beide Stämme litten während des

52     L. Staeck

Abb. 4.8  Jungen des Yagua-Stammes präsentieren ihre „Haustiere“: einen Amazonen-Papagei, ein kleines Totenkopfäffchen und einen kleinen Brillenkaiman

Kautschuk-Booms zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts gewaltig unter der Versklavung, sodass die Bevölkerungszahlen von ursprünglich 50.000 auf jetzt etwa 500 Boras und 9000 Huitotos zurückging. Zu traditionellen Anlässen tragen sie Röcke und Hosen, die aus der Bastschicht der Rinde einer Feige (Ficus spec.) hergestellt werden (Abb. 4.9). Die schwarze Körperbemalung und die aufgetragenen Muster auf der Kleidung stammen aus dem Saft des Genipapo-Baumes (Abb. 4.22a und b). die Muster haben sich in den letzten 100 Jahren nicht verändert (Abb. 4.10a und b). Das Volk der Ticuna-Indianer besiedelt mit aktuell etwa 44.000 Angehörigen den oberen Rio Solimões in den Ländern Brasilien, Peru und Kolumbien, wobei in Brasilien mit rund 32.000 der größte Anteil lebt. Auch die Ticunas litten wie andere Ethnien des Amazonas-Beckens unter der Versklavung während des Kautschuk-Booms. Diese Indigenen sprechen ebenfalls eine eigene Sprache, was darauf hindeutet, dass auch sie über lange Zeit isoliert von anderen Ethnien lebten. Meine Eindrücke und Fotos auch von diesen Menschen gehen zurück auf häufige Besuche in den vergangenen 25 Jahren, vor allem des Dorfes Vendeval/Brasilien am Ufer des Solimões (Amazonas). In dieser Zeit hat sich die Zahl der Einwohner mehr als verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht, die Schar vor allem kleiner Kinder ist riesig, offenbar wird bei den Ticunas keine Empfängnisverhütung ­praktiziert. Der Bruder des Dorfvorstehers zum Beispiel hat 30 Kinder.

4  Die Menschen am Amazonas     53

Abb. 4.9  Die Kleidung der Huitotos wird traditionell aus geklopftem Rindenbast einer Feigenart hergestellt. Die Oberkörper sind mit dem Saft des Genipapobaumes schwarz gefärbt

Abb. 4.10  a Huitoto-Frau heute, b Huitoto-Frau um 1870

Da die Bewohner seit langer Zeit regelmäßig Kontakt zu Weißen haben, die mit dem (Kreuzfahrt-)Schiff vorbeikommen, sind sie westlich gekleidet und pflegen auch kaum noch ihre traditionellen Sitten und Gebräuche – mit einer großen Ausnahme: Wenn die Mädchen das erste Mal menstruieren, wird das große traditionelle Fest Pelazon veranstaltet, das dem Wechsel von der Kindheit zur fruchtbaren Frau gewidmet ist. Da die Zahl der Kinder so extrem groß ist, findet dies entsprechend häufig statt, wobei zu einem Fest stets mehrere

54     L. Staeck

Abb. 4.11  Das gebadete Ticuna-Mädchen wird mit Genipapo-Saft und Vogelfedern dekoriert

Mädchen zusammengefasst werden. Zwei Tage vor Beginn der Aktivitäten wird damit begonnen, das alkoholhaltige Getränk Masato herzustellen: Hierfür wird Maniok-Mehl zerkaut und mit dem angesammelten Speichel in ein Gefäß gespuckt. Unter Zugabe von Wasser und Zucker fermentiert die Flüssigkeit innerhalb von zwei Tagen zu einem schmutzig-gelblichen, süßlichen Getränk mit einem Alkoholgehalt von etwa fünf bis zwölf Prozent. Am Festtag werden die betreffenden Mädchen nackt ausgezogen, im Amazonas gebadet, anschließend mit dem schwarzen Saft des Genipapo-Baumes bestrichen, wobei auch ihr Clan-Symbol aufgetragen wird. Danach werden sie mit Blütenstaub (Pollen), Vogelfederketten und einer Krone ebenfalls aus Vogelfedern dekoriert (Abb. 4.11 und 4.12). Unter Musikbegleitung (vor allem Trommeln) werden sie in das mit Blättern und Blüten dekorierte Versammlungshaus geführt, wo ihnen die älteren weiblichen Verwandten (Mutter und Tanten) unter der Anteilnahme der  Dorfbewohner alle Kopfhaare büschelweise ausreißen (Abb. 4.13). Anschließend wird ihnen ein weißes Kopftuch umgebunden als Signal, dass sie für die nächsten neun Monate,

4  Die Menschen am Amazonas     55

Abb. 4.12  Die Mädchen werden in das Versammlungshaus geleitet …

bis die Haare nachgewachsen sind, vor sexuellen Annäherungsversuchen der männlichen Dorfjugend geschützt sind. Das Fest endet zumeist mit einem Trinkgelage vor allem der männlichen Dorfbewohner. An den Jungen wurde früher ebenfalls ein Ritual ausgeführt. Wenn sie in die Pubertät kamen, mussten sie sich ebenfalls einer äußerst schmerzhaften

56     L. Staeck

Abb. 4.13  …wo Ihnen weibliche Verwandte büschelweise die Kopfhaare ausreißen

Prozedur unterziehen: Ihnen wurden mit einfachen Werkzeugen die Schneidezähne des Oberkiefers so lange abgeschliffen, bis diese in ihrer Form Piranha-Zähnen ähnelten (Abb. 4.14). Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei den Ticunas, die bis heute praktiziert wird: das Exogamiegebot. Dieses erlaubt Heiraten und eigentlich auch sexuelle Kontakte nur außerhalb der eigenen Sippe, deren Mitglieder untereinander blutsverwandt sind. Die Sippe teilt sich auf in Clans (Großfamilien). Diese Heiratsordnung soll verhindern, dass sich Erbkrankheiten ausbreiten. Alle Bewohner eines Dorfes gehören demnach zu einer bestimmten Sippe und einem bestimmten Clan. In dem von mir besuchten Dorf Vendeval tragen die Angehörigen der einen exogamen Sippe Namen geflügelter Tiere (zum Beispiel Tukan, Ara oder Adler) und die Angehörigen der anderen exogamen Sippe Namen ungeflügelter Tiere (etwa Jaguar, Kaiman oder Anakonda). Kinder werden Angehörige des väterlichen Clans. Wenn Feiertage stattfinden, etwa das beschriebene Pelazon-Fest, müssen sich die sexuell aktiven Dorfbewohner das Symbol ihres Clans auf ihrem Gesicht auftragen, also der Jaguar-Clan die Tasthaare des Jaguars (Abb. 4.2), um

4  Die Menschen am Amazonas     57

Abb. 4.14  Ticuna-Junge mit abgefeilten Zähnen, die einem Piranha-Gebiss ähneln

vor der Aufnahme sexueller Kontakte sicherzustellen, dass der Partner einer anderen Sippe angehört. Das Volk der Desano-Indianer besiedelt den Nordosten Brasiliens und Teile des angrenzenden Kolumbiens beiderseits des Rio Negro. Die Angehörigen dieses Stammes bezeichnen sich auch als gente do universo (= „Menschen des Universums“). Durch frühe Kontakte mit europäischen Einwanderern und den damit eingeschleppten Krankheiten – vor allem Masern – wurde die Zahl der Angehörigen dieser Ethnie drastisch reduziert und beläuft sich heute nur noch auf etwa 1500 Menschen, verteilt auf 60

58     L. Staeck

Abb. 4.15  Tanzvorführung von Männern der Desano-Indianer im traditionellem Dress, mit Kette aus Eckzähnen der Kaimane

Gemeinden. Auch diese Ethnie praktiziert das Exogamiegebot. Meine Eindrücke und Fotos dieses Volkes gehen zurück auf Besuche während der letzten 15 Jahre in ihrem Dorf Praia do Tupé, etwa 20 km westlich von Manaus entfernt flussaufwärts am linken Ufer des Rio Negro. Ihre traditionellen Tänze, ihre Körperbemalung und ihr Körperschmuck sind beeindruckend (Abb. 4.15, 4.16 und 4.17). Letztlich sei noch die Ethnie der Tupi erwähnt, da diese historisch gesehen die gesamte Region prägte. Diese Volksgruppe bewohnte mit einer großen Bevölkerungszahl von über einer Million Mitgliedern und zahlreichen unterschiedlichen Stämmen große Teile der Küstenregion des heutigen Brasiliens und des unteren bis mittleren Amazonas. Sie alle sprachen die Tupi-Sprache, die als verbindende Sprache auch von anderen Stämmen sowie von den eingewanderten Europäern verwendet wurde. Deshalb tragen viele Begriffe des täglichen Lebens sowie ihnen bekannte Pflanzen und Tiere auch heute noch einen Namen aus der Tupi-Sprache. Ab dem beginnenden 18. Jahrhundert wurde auch diese Ethnie durch eingeschleppte Krankheiten wie Grippe, Windpocken, Masern, Polio oder Geschlechtskrankheiten sowie durch die Versklavung und Verfolgung weitgehend ausgerottet, sodass heute nur noch versprengte Untergruppen in Amazonien leben.

4  Die Menschen am Amazonas     59

Abb. 4.16 Junge Desano-Frau mit typischer Körperbemalung

60     L. Staeck

Abb. 4.17  Desano-Indianer mit Federkrone aus Ara-Federn

4  Die Menschen am Amazonas     61

Im Amazonas-Becken gibt es keine Landstraßen. So vollzieht sich der gesamte Verkehr über (Wasser-)Straßen. Durch die dadurch ermöglichten ständigen Kontakte der Urbevölkerung mit unserer Zivilisation haben diese ethnischen Gruppen im Laufe der Zeit viele unserer Verhaltensweisen übernommen, wie zum Beispiel Religion, Kleidung, Hausbau und Schulbildung. Immer häufiger gibt es Handys und sogar westliches Fernsehen und westlich geprägte Musik. Letzteres wurde durch das von dem früheren brasilianischen Präsidenten Lula ins Leben gerufene Projekt Luz para todos! (= „Licht für alle!“) begünstigt. Mit seiner Umsetzung werden seit etwa 2014/2015 immer mehr – auch von indigenen Gruppen bewohnte – Dörfer am Ufer des Amazonas und seiner größeren Nebenflüsse an die elektrische Grundversorgung angeschlossen – zuerst gratis, mittlerweile für einen bestimmten monatlichen Pauschalpreis. Hierfür müssen breite Schneisen in den Urwald geschlagen werden. Die Anwohner beklagen sich daraufhin über steigende Moskito-Zahlen in den Hütten. Zudem sterben viele nunmehr am Rand der Schneise stehende Urwaldbäume ab, die ursprünglich im Schatten standen, sodass die Schneise immer breiter wird. Wie der notwendige Freiraum für die elektrischen Leitungen auf Dauer gepflegt wird, das heißt, wie die immer wieder aufkommenden Schösslinge der Pioniergehölze beseitigt werden sollen, bleibt eine große logistische Aufgabe. Trotz aller modernen Erneuerungen haben auch diese indigenen Gruppen einige ihrer traditionellen Lebensweisen beibehalten. So werden zwar die Wohnhäuser schon zunehmend mit Steinwänden und Dächern aus Wellblech gebaut, noch aber sieht man auch die traditionelle Bauweise ganz ohne Drähte und Nägel mit Wänden aus Schilfblättern oder aus Brettern aus dem Stamm der Buriti-Palme (Mauritia flexuosa), Pfosten aus dem Stamm derselben Palme und die Dachbedeckung ebenfalls aus den großen Wedeln dieser Palme (Abb. 4.18a). Zumeist stehen die Wohnhäuser auch auf Stelzen, sodass unter dem Fußboden noch Hausrat gelagert und auch die Haustiere gehalten werden können. Darüber hinaus kann das häufige Hochwasser nicht so leicht die Wohnräume erreichen. Die Versammlungshäuser werden beispielsweise bei den Huitoto- und Yagua-Indianern auch heute noch ausschließlich aus Pflanzenmaterial des Urwaldes errichtet. Diese Malocas genannten Gemeinschaftshäuser sind mit einer Firsthöhe von 20 m und einer ebenso großen Länge die größten Bauwerke Amazoniens (Abb. 4.18b). Durch ihre Konstruktionsweise sind sie hervorragend durchlüftet: Die Luft im Inneren ist nicht stickig, sondern durch einen ständigen leichten Luftzug kühl. Es gibt jeweils einen Eingang für Männer und einen für Frauen. Früher lebten die Familien des Dorfes in diesem Bauwerk in voneinander abgetrennten Einheiten, heute werden sie für Festivals und zeremonielle Veranstaltungen genutzt.

62     L. Staeck

Abb. 4.18  a Hütte der Urbevölkerung in traditioneller Bauweise, b Maloca (Gemeinschaftshaus) der Yagua- und Bora-Indianer

4  Die Menschen am Amazonas     63

Als Nutztiere werden zumeist nur Hühner gehalten, Schweine sind in Amazonien selten, da ihre Ernährung der menschlichen sehr ähnelt und damit sehr aufwendig ist. Als Haustiere werden sehr häufig Hunde gehalten und darüber hinaus prinzipiell alle Tiere, die im umgebenden Wald (noch) leben, zum Beispiel Affen, Schildkröten, kleine Würgeschlangen, Agutis, Faultiere, kleine Kaimane (im Kochtopf als Spielzeug für die Kinder) sowie unter den Papageien meist die Amazonenpapageien oder kleinen grünen Sperlingspapageien. In ihren Gärten und Plantagen bauen sie Maniok, Süßkartoffeln, Ananas, Papayas, Kakao und Bohnen an sowie die später nach Südamerika eingeführten Bananenstauden, Yams- und Taro-Knollen, aber auch unterschiedliche Obstbäume zum Beispiel Orangen und Paradiesapfel (Szygium malaccense), beide eingeführt, Guavenbaum (Psidium guajava), Cashew-Bäume (brasilianisch Cajú, Anacardium occidentale ), Schuppen-Anonen (auch Rahmapfel genannt, Annona squamosa ) und Açai-Palmen sowie Kalebassenbäume (Crescentia cujete), aus deren ausgehöhlten, noch unreifen, oft kindskopfgroßen Früchten Schalen, Schöpfkellen, aber auch Masken gefertigt werden. Normalerweise praktizieren die Angehörigen der Urbevölkerung noch das shifting cultivation (=  „Wanderanbau“). Das heißt, sie roden ein begrenztes Areal Primärwald von vielleicht einem oder zwei Hektar Größe und beseitigen dann die Bodenvegetation. Anschließend werden die Bäume gefällt, aber die Stämme liegengelassen und auch die Baumstümpfe im Boden belassen, um eine Bodenerosion durch die permanenten Regenfälle und die starke Sonneneinstrahlung zu verhindern (Abb. 4.19).

Abb. 4.19  Prinzip des shifting cultivation: Gerodetes Stück Regenwald, Baumstämme und -stümpfe bleiben liegen

64     L. Staeck

Im Gegensatz dazu roden Caboclos fast immer komplett ein großes Waldstück, sodass nach kurzer Zeit die dünne fruchtbare Bodenschicht durch Erosion zerstört wird (Abb. 4.20a, b und c). Darüber hinaus betreiben Caboclos häufig die nutzlose Brandrodung, die sehr zudem oft außer Kontrolle gerät und so einen Flächenbrand verursacht. Bei der Brandrodung gehen 90 % der Biomasse und 40 % der mineralischen Nährstoffe verloren. Dagegen wird beim Wanderanbau (shifting cultivation), wenn die Bodenfruchtbarkeit nach wenigen Jahren erschöpft ist, das bearbeitete Land aufgelassen und in der Nähe ein weiteres Gebiet für die Landwirtschaft hergerichtet. Inzwischen kann sich der Urwald das aufgegebene Land in etwa fünf bis zehn Jahren zurückerobern. Aus dem benachbarten Regenwald besorgen sich die Anwohner eine Fülle nützlicher Pflanzen. Während wir Großstädter im Urwald nur „Grün“ sehen, differenziert der Indigene. Für ihn hat der Wald einen großen Wert: Er ist nicht nur Lebensmittelladen (für Fleisch, Eier, Gemüse, Beilagen, Obst usw.) und Baumarkt (Holz, Blätter für den Hausbau), sondern auch Apotheke (pflanzliche Medikamente). Schließlich ist auch der Fluss selbst lebensnotwendig für seine Anwohner: Er ist nicht nur Supermarkt (Fische, Krebstiere, Schildkröten), sondern auch Badewanne, WC und Waschmaschine. Zählt man zu den Produkten aus dem Wald und zu den aufgezählten in Plantagen und Gärten gezüchteten Gemüse- und Obstsorten noch die ungeheure Menge an Speisefischen aus den Amazonas-Flüssen dazu, so wird deutlich, dass die Ernährung der Menschen im Amazonas-Becken aktuell noch gesichert ist. Da sich die Bevölkerungszahlen jedoch anhaltend steil nach oben bewegen (Kap. 10), ist abzusehen, dass in ein bis zwei Generationen das Nahrungsangebot nicht mehr ausreichen wird, um alle Menschen zu ernähren – zumal auch die Zerstörung des Regenwaldes ungebrochen anhält. Hier ist also dringend ein politisches und zivilgesellschaftliches Umdenken erforderlich, um eine menschliche Katastrophe zu vermeiden. Unter dem Einfluss der Missionierung tragen fast alle Ethnien mittlerweile westliche Kleidung, nur zu Festen werden traditionelle Kleidungsstücke getragen, wie zum Beispiel kurze Hosen und Röcke aus geklopftem Rindenbast (Papierrinde) bestimmter Ficus-Arten, Federkronen, meist aus Ara-Federn, Ketten aus den Samen bestimmter Pflanzen (zum Beispiel der Açai-Palme, ihre Samen werden gefärbt), der aus Indien eingeführten Paternostererbse (Abrus precatorius), rot-schwarze Samen, des Pfeilgrases (hellgraue Samen), des Kautschukbaumes (braunschwarz marmorierte Samen, Hevea brasiliensis ) oder aus Zähnen (meist von Kaimanen, Ebern oder Hunden, seltener des Jaguars) beziehungsweise aus den riesigen, vier Zentimeter

4  Die Menschen am Amazonas     65

Abb. 4.20  a Intakter Wald mit geschlossener Kronenbedeckung, b Bäume werden durch Caboclos und weiße Siedler komplett entfernt inklusive Stämme und Wurzeln, c Schon nach kurzer Zeit findet eine massive Bodenerosion statt

66     L. Staeck

Abb. 4.21  Holz des Muirapiranga-Baumes, auch Blutholz genannt

langen, weiß gebleichten Schuppen des Pirarucu (Arapaima gigas). Derartige Ketten werden auch gern als Souvenirs für Touristen verkauft. Aus dem schönen, blutrot gefärbten Holz des Muirapiranga-Baumes (Brosimum paraense, Moraceae), auch als Blutholz, roter Palisander oder falscher Brasilbaum (Falso-Pau-Brasil) bezeichnet (Abb. 4.21) oder aus dem leichten Holz des Balsa-Baumes werden Tiere Amazoniens geschnitzt (etwa Anakonda, Süßwasser-Delfin oder Pirarucu). Aus dem Bast der Buruti-Palme und aus verschiedenen Lianen werden Matten, Röcke, Seile, Körbe hergestellt. Die beiden wichtigen Farben zum Auftragen der überlieferten Farbmuster sind Rot und Schwarz. Der bereits erwähnte leuchtend rote Farbstoff Urucú (rucu = „rot“ in der Tupi-Sprache) wird aus den Samen des Lippenstiftbaumes (Bixi orrellana) gewonnen (vgl. Abb. 7.9). Die Ureinwohner benutzen diese Samen zum Färben von Kleidungsstücken, aber auch von Speisen sowie von Haut und Haaren. So kam übrigens auch die Bezeichnung „Rothaut“ zustande. Der schwarze Farbstoff wird aus dem zerquetschten Fruchtfleisch des Genipapo-Baumes (Genipapa americana; Pflanzenfamilie Rötewächse – Rubiaceae) gewonnen, der in der Terra-Firme wächst. Hierbei wird das Fruchtfleisch der

4  Die Menschen am Amazonas     67

Abb. 4.22  a Früchte des Genipapo-Baumes, b Zubereiteter und oxidierter Saft der Genipapo-Früchte

noch rohen Frucht zerrieben, das lose Pflanzengewebe durch ein Sieb gepresst, der klare Pflanzensaft aufgefangen und zum Beispiel mit eine Bambusspitze auf die Haut aufgetragen (Abb. 4.22a und b). Nach etwa zehn Minuten oxidiert der Saft und wird schwarz (Abb. 4.9 und 4.10). Die Muster sehen auf der Haut aus wie ein Tattoo, bleiben jedoch nur für etwa zwei Wochen sichtbar, bevor sie sich ablösen. Der aufgetragene Saft dient aber auch zur Insektenabwehr. Die reifen Früchte werden auch gern für die Fruchtsaftherstellung genutzt, sie enthalten Vitamin C. Auch das Wort genipa ist der Tupi-Sprache entlehnt und bedeutet übersetzt „Brust einer alten Frau“. Für die Waldbewohner bietet die ungeheure Pflanzenfülle eine Vielzahl an Pflanzensekundärstoffen zum Betäuben oder Töten ihrer tierischen Nahrung, als Drogen sowie als Medikamente. Viele Pflanzen haben im Laufe ihrer Evolution biochemische Eigenschaften erworben, die sie – da sie nicht

68     L. Staeck

Abb. 4.23  Blütenstand des Piaõ-Strauches

weglaufen können, vor phytophagen (= pflanzenfressenden) Fressfeinden – schützen. So haben sie unterschiedlichste chemische Substanzen (Alkaloide) eingelagert. Dies haben sich Medizinmänner und -frauen, Heilkundige, Heiler, Pflanzenspezialisten und Schamanen innerhalb der Dorfgemeinschaften seit vielen Generationen zunutze gemacht und verwenden viele Pflanzenarten als gesunde Nahrungsergänzung sowie für die Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. So gibt es Medikamente aus dem Regenwald zum Beispiel gegen Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Wurmbefall, blutende Wunden, Abszesse und sogar zur Empfängnisverhütung und Abtreibung. So darf etwa der kleine Strauch Pião (oder auch pinhão-roxo, Jatropha gosypiifolia, Euphorbiaceae) mit seinen hübschen, rötlichen Blättern in keinem Garten fehlen. Ein Extrakt aus den Blättern gilt als altes indianisches Hausmittel. Der Saft ist vor allem entzündungshemmend und blutstillend und wird gegen verschiedene Erkrankungen eingesetzt, zum Beispiel bei Brechreiz, Durchfall und Bauchschmerzen. Deshalb heißt dieser Strauch auf Englisch auch bellyache bush (= „Bauchschmerzen-Busch“) (Abb.  4.23). Auch der bis zu fünf Metern Höhe erreichende Strauch Camu-Camu (brasilianisch Araçá de ãgua, Myrciaria dubia, Myrtengewächs), der gern am sonnenreichen Ufer der Schwarzwasserseen und -flüssen wächst, spielt eine wichtige

4  Die Menschen am Amazonas     69

Abb. 4.24  Die Beeren des Camu-Camu-Strauches haben einen 40-mal so hohen Vitamin-C-Gehalt wie Orangen

Rolle in der Ernährung der Urbevölkerung. Er hat kleine weiße Blüten, die zwischen Dezember und April zu rötlichen Früchten heranreifen. In ihrem Aussehen ähneln sie Kirschen, sind aber größer (Abb. 4.24). Sie schmecken süß-sauer, sind sehr eisenreich und weisen einen außerordentlichen hohen Gehalt an Vitamin C auf (bis drei Prozent des Frischgewichtes), 40-mal so viel wie bei Orangen! Außerdem senkt ihr Verzehr den Blutzuckeranteil und die Menge der Blutfette. Bei den Einheimischen gelten sie auch als ­Aphrodisiakum. Aber nicht nur die Heiler, auch die anderen Dorfbewohner haben meist in der Nähe ihrer Wohnung neben Küchenkräutern wichtige Heilpflanzen angebaut. Zu den wichtigsten Krankheiten zählen bei der Urbevölkerung Malaria, Tetanus, Durchfallerkrankungen, Infektionen der Luftwege, Amöben- und Wurminfektionen (zum Beispiel Hakenwürmer, Darmegel oder Bandwürmer). Zusätzlich wurden durch die Europäer TBC, Röteln, Windpocken, Geschlechtskrankheiten und die Virus-Grippe eingeschleppt. Die Waldbewohner nutzen auch das Gift der Brechnuss (Strychna toxifera), um damit ihre Pfeilspitzen für die Tierjagd zu präparieren. Sie enthält in ihren Samen ein Alkaloid, das als Strychnin bekannt ist. In kleineren Dosen betäubt es einen Menschen, in stärkerer Dosis tötet es ihn. Die Pflanze ist ein am Ufer von Schwarzwasserflüssen wachsender kletternder Strauch mit Sprossen, die zu Haken umgebildet sind (Abb. 4.25).

70     L. Staeck

Abb. 4.25  Die Brechnuss (Strychna toxifera) enthält in ihren Samen das Alkaloid Toxiferin, das hochgiftig ist

Insgesamt mehrere Hundert Pflanzen- (und auch Tier-)Gifte sind unter der Sammelbezeichnung Curare bekannt. Sie können heilen, aber auch töten. Curare bewirken zum Beispiel über das Alkaloid Toxiferin (Abb. 4.25) eine Muskellähmung, die zum Atemstillstand führt. Es wirkt über die Blutbahn und nicht über den Verdauungstrakt. Das hatte schon Alexander von Humboldt erkannt, als er sah, dass Indianer mit Curare getötete Wildschweine aßen. Er probierte sogar Strychnin aus und nahm eine kleine Menge in den Mund, die ein Schwein innerhalb von sechs Minuten tötet. Anschließend schrieb er in sein Tagebuch: „Es schmeckt

4  Die Menschen am Amazonas     71

angenehm bitter, doch Zahnfleischbluten sollte man nicht haben!“ Einmal hatte er versehentlich eine Socke mit Strychnin getränkt. Er wollte sie gerade über seinen mit Flohstichen aufgekratzten Fuß ziehen, da bemerkte er dies und entronn so knapp dem Tod.

4.2 Die Caboclos Neben der Urbevölkerung gibt es noch eine andere Menschengruppe, die in Amazonien lebt: Es sind Caboclos, die Nachfahren von Indianern und europäischen Einwanderern. Auch dieses Wort ist der Tupi-Sprache entlehnt. Dort heißt dieser Begriff kaa’boc und bedeutet „von Weißen herkommend“. Die Gesichter der Caboclos sind nicht so asiatisch wie bei der reinen Urbevölkerung, die Augen sind nicht mandelförmig, die Hautfarbe ist braun oder hellbraun, die Haarfarbe ist durchweg schwarz und sie sind klein, kaum über 1,60 m groß (Abb. 4.26a und b). Die meisten von ihnen leben in der Metropole Manaus sowie in kleinen Siedlungen oder Dörfern an den Ufern des Amazonas und seiner vielen Nebenflüsse, zum Beispiel in São Paulo de Olivença, Amaturá, Fonte Boa, Uarini, Alvarães, Tefé, Coari, Codajás, Anori oder Manacapuru. Darüber hinaus leben viele einzelne Caboclo-Familien weit ab von jeder Infrastruktur ganz allein am Fluss, wo sie eine einfache Hütte auf Stelzen und dazu noch einen Bootssteg bauen, an dem sie ihr Kanu – zumeist heute mit kleinem Außenbordmotor – festbinden können (Abb. 4.27). Die Hütten sind aus einfachen Brettern gezimmert, Fensterglas gibt es nicht, dafür Fensterläden aus Holz. Das benötigte Trinkwasser gewinnen die Menschen

Abb. 4.26  a Caboclos sind Nachfahren von Indianern und europäischen Einwanderern, b Die Gesichter der erwachsenen Caboclos sind braun, die Haarfarbe ist durchweg Schwarz

72     L. Staeck

Abb. 4.27 Eine Caboclo-Hütte, umgeben von einer Palmenplantage (Açai-Palmen)

über den aufgefangenen Regen. Meist haben sie viele Kinder (fünf bis zehn sind keine Seltenheit!), Empfängnisverhütung kennen sie nicht. Hinter der Hütte haben sie ein Stück Regenwald gerodet, die Baumstämme und Wurzeln jedoch verbrannt und nicht als Erosionsschutz liegen gelassen, wie es die Indigenen praktizieren. Es wurde schon erwähnt: Der Nährstoffverlust durch diese Brandrodung ist immens – 90 % des Stickstoffs der Biomasse und 40 % der mineralischen Nährstoffe gehen verloren. Nach der Rodung pflanzen sie einige Bananenstauden, vielleicht auch einige Obstbäume (etwa einen Cashew- und einen Guaven-Baum), und bringen Süßkartoffeln und Maniok-Stecklinge in die Erde. Wenn Caboclos einen neuen Boden bewohnen und bearbeiten, erwerben sie nach fünf Jahren ein Dauernutzungsrecht über dieses Gelände, das sie dann auch verkaufen dürfen. Es ist geplant, dass sie nach zehn Jahren ihr Grundstück im Grundbuchamt als ihren Besitz eintragen können. Maniok stammt ursprünglich aus Südamerika. Der Name Maniok geht auf die Tupi-Sprache zurück (mani-oca) und bedeutet „Haus des Mani“. Weitere gebräuchliche Bezeichnungen sind Tapioka (das ist reine ManiokStärke in kleinen weißen Kügelchen) oder Cassava beziehungsweise Yuka (in Spanisch sprechenden Ländern). Aus einzelnen, in die Erde gesetzten Sprossstücken wächst ein schwach verholzter Strauch von über 1,50 m Wuchshöhe heran. Da diese Pflanzenart zu den Wolfsmilchgewächsen gehört

4  Die Menschen am Amazonas     73

Abb. 4.28  Beim Maniok entwickeln sich die spindelförmigen Knollen aus den Seitenwurzeln. Im Hintergrund sind an den Sprossen die handförmigen Laubblättern zu sehen

(­Euphorbiaceae) führen alle Pflanzenteile einen Milchsaft, der giftig ist. Die handförmigen Laubblätter ähneln Kastanienblättern (Abb. 4.28). Die Blüten sind unscheinbar. Die Pflanzen sind pflegeleicht, wachsen auch gut auf tropischen Klimaxböden, brauchen jedoch viel Sonne und hohe Temperaturen. Die aus den verdickten Seitenwurzeln gebildeten, spindelförmigen bis zu einigen Kilogramm Masse ausmachenden Maniok-Knollen werden nach sechs bis 36 Monaten (je nach Sorte) geerntet. Frisch geerntete Knollen verderben bereits nach wenigen Tagen, im Boden überdauern sie hingegen bis zu vier Jahre. Sie liefern den Menschen ein stärkehaltiges Mehl. Roh verzehrt ist Maniok mit gelbem Fruchtfleisch giftig, da es das Glycosid Linamarin enthält, das beim Schälen ein Abkömmling der Blausäure (Blausäurederivat) frei gibt. Nach dem Schälen muss die Knolle mit gelbem Fruchtfleisch deshalb für zwei Tage gewässert werden. Dabei wird die Blausäure durch Fermentierung an das Wasser abgegeben (Abb. 4.29a). Die danach weichen Knollen werden durch ein Korbgeflecht (brasilianischTipiti) gepresst (Abb. 4.29b). Die dabei austretende, mit Blausäureresten versetzte, gelbliche Flüssigkeit wird häufig aufgefangen, gewürzt und auf dem Markt in Plastikflaschen als Tucupi verkauft. Durch Zugabe zu Suppen und Saucen wird die Blausäure beim Kochen eliminiert. Anschließend wird die feuchte Maniok-Masse auf einer großen Pfanne geröstet (Abb. 4.30).

74     L. Staeck

Abb. 4.29  a Nach dem Schälen muss die Maniok-Knolle zwei Tage gewässert werden, wobei die in den Knollen enthaltene Blausäure an das Wasser abgegeben wird, b Nach dem Wässern werden die weichen Maniok-Knollen durch ein Korbgeflecht (Tipiti) gepresst

Abb. 4.30  Die feuchte Maniok-Masse wird auf der Pfanne zu Mehl geröstet

4  Die Menschen am Amazonas     75

Je nach Temperatur und Dauer dieses Prozesses entsteht feines gelbes Maniok-Mehl (brasilianisch farinha ) oder krosse Mehlpartikel, die als Beilage zu Fleisch oder Fisch serviert wird. Auf dem Markt werden häufig auch die bis zu sieben Tage gegorene Maniok-Blätter – dann ist die Blausäure verschwunden – als Gemüse (Macaxeira) verkauft. Inzwischen ist auch Maniok gezüchtet worden, das frei von Blausäure ist. Das Fruchtfleisch dieser Sorte ist weiß. Die Caboclos legen häufig hinter ihren Hütten eine kleine Plantage mit Açaí-Palmen (Euterpe oleracea) an, die leicht aus den Samen aufgehen und schnell heranwachsen. Diese sehr schlanke, bis 20 m hohe Palme mit einem Kronenschopf aus Fiederblättern, die in ihrem Erscheinungsbild der Kokospalme ähneln, wächst nur im Amazonas-Becken (Abb. 4.31). Ihre nur 12 mm großen Früchte und ihre Palmenherzen bringen auf dem Markt gutes Geld ein. Wenn die Palme ausgewachsen ist, kann der letzte Meter der Palmenspitze abgeschnitten und entrindet werden. Das nunmehr frei werdende junge Mark der Palme wird als Palmenherzen genutzt. Es schmeckt wie frischer Spargel. Die gekappte Palme geht allerdings ein, denn sie verliert ihren Vegetationspunkt, aus dem sich Stamm, Blätter und letztlich

Abb. 4.31  Die bis 20 m hohen schlanken Açai-Palmen wachsen nur im Amazonas-Becken

76     L. Staeck

Abb. 4.32  a Der Fruchtstand der Açai-Palme mit Früchten, die in Größe und Farbe Heidelbeeren ähnlich sehen, b Açai-Saft

auch die Blüten entwickeln. Dies ist jedoch bei der Açaí-Palme nicht von Nachteil, denn diese Palmenart stellt eine botanische Besonderheit dar: Sie ist sprossbürtig. Das heißt, an der Stammbasis sitzen zahlreiche rötliche Adventivwurzeln. Diese sind teilungs- und wachstumsfähig. So treibt der abgeschnittene Stamm aus diesen Wurzeln Tochtersprosse, die zu neuen Palmen heranwachsen. Noch bedeutsamer bei dieser Palme sind jedoch ihre Früchte. Nach der Ernte des viele Kilogramm schweren Fruchtstandes (Abb. 4.32a) wird aus dem nur wenige Millimeter dicken Fruchtfleisch der in Größe und Farbe wie Heidelbeeren aussehenden Früchte der Saft herausgepresst (Abb. 4.32b). Die übrig bleibenden Kerne werden weggeworfen. Der Saft enthält Pflanzensekundärstoffe, die nicht nur eine Reihe wichtiger Vitamine wie A und C sowie Mineralstoffe wie Kalzium und Eisen enthalten, sondern auch Anthocyane, die nachweislich auch der Alterung des Körpers vorbeugen (Anti-Aging-Eigenschaften). Sein Protein ist sogar dem Milchprotein ähnlich. Für einen Liter Fruchtmark erhalten die Caboclos bis zu acht Euro! Diese Palmen werden deshalb auch ehrfurchtsvoll als das „grüne Gold Amazoniens“ bezeichnet. Der Açaí-Saft hat einen erdigen, leicht adstringierenden Eigengeschmack, der erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. In der gesamten brasilianischen Bevölkerung ist dieser Saft schon immer sehr beliebt, vor allem die Großstädter kaufen ihn am liebsten als „Energy-Drink“ mit Wassereis und Zucker oder mit Limonade versetzt oder verzehren ihn auch gern als Eiscreme. Die Kosmetikindustrie hat inzwischen den Trend aufgegriffen und stellt aus dem Açaí-Saft eine duftende Körperlotion her. Auch in Deutschland gibt es erste Anbieter von Açaí-Erfrischungsgetränken als gesundes „Superfood“ und von Açaí-Feuchtigkeitscremes.

4  Die Menschen am Amazonas     77

Indianer oder Caboclos, die ihr Leben lang Açaí-Saft getrunken haben, weisen im Alter tatsächlich kaum Falten auf und ihre Haare ergrauen erst im hohen Lebensalter. Nicht zu Unrecht wird diese Frucht auch Fruta, que chora genannt (= „Frucht, die heilt“). Caboclos jagen grundsätzlich alle Tiere und Vögel des Regenwaldes für die eigene Ernährung, zum Beispiel Affen, Pekaris, Faultiere, Schildkröten. Wenn sie genügend Nahrung haben, pflegen sie diese Tiere auch vorübergehend als Haustiere. Sie halten aber auch einige Hühner, seltener Schweine, da diese eine aufwendige Fütterung benötigen. Alle Haustiere sind Hochwasser gewöhnt und verbringen dann während dieser Zeit den Tag auf Stegen. Ihre Grundversorgung beziehen die Flussanrainer jedoch jeden Tag aus dem Fluss. Fische gibt es so reichhaltig in den Amazonas-Flüssen wie in keinem anderen Fluss der Welt. Mittlerweile haben Biologen mehr als 3000 verschiedene Fischarten beschrieben. Zum Vergleich: In Mitteleuropa gibt es etwa 60. Einige Caboclos halten sich sogar Cebu-Rinder (Indisches Buckelrind). Ein solches Rind benötigt in Amazonien mit einem Flächenbedarf von etwa zwei Hektar eine gewaltige Fläche für seine Ernährung. In Deutschland sind es dagegen nur 0,8 Hektar. Die Rinderzucht in Südamerika ist daher sehr problematisch; hinzu kommt noch, dass die Viehweiden nach einigen Jahren durch die Rinderhufe kaputt gehen: Danach werden die Böden durch die einsetzende Erosion für immer unfruchtbar. Es gibt nämlich in Südamerika, wo es nie Tiere mit derartigen Hufen gegeben hat, keine trittfesten Gräser. Für die Versorgung der oft sehr einsam lebenden Caboclo-Familien gibt es einige schwimmende Läden auf Booten, die die Ufer des Amazonas abfahren, und in den Dörfern sogar mal eine Apotheke, die überraschend gut ausgestattet ist mit Medikamenten gegen Malaria, Übelkeit, Schmerzen, Wurmbefall und Pilzinfektionen sowie Säureblockern, Aspirin und Anti-Diabetika. Da in Brasilien Schulpflicht besteht, gibt es in jedem Caboclo-Dorf auch eine Grundschule. Der Dorf-Vorsteher – bei den indigenen Völkern der Häuptling – wird Kazike genannt und von seinen Dorfbewohnern gewählt. Kirchen gibt es auch, doch diese bestehen aus finanziellen Gründen in kleinen Dörfern meist nur aus einem offenen, überdachten Raum mit einem Altar. Die praktizierte Glaubensrichtung kann ganz unterschiedlich sein und orientiert sich an den Missionaren, die in der Region die ersten waren. So gibt es in Amazonas-Tiefland Römisch-Katholische, Baptisten, Presbyterianer, Evangelisten und andere mehr.

5 Der Regenwald

5.1 Größte Vielfalt an Pflanzenarten Das auffälligste Merkmal des amazonischen Regenwaldes ist seine Vielfalt an Pflanzenarten. Er ist ein Primärwald oder Urwald, das heißt ein ursprünglicher, vom Menschen unbeeinflusster Wald im End- beziehungsweise Reifestadium (Klimaxstadium), das nach etwa 200 bis 400 Jahren erreicht ist. Ein intakter Urwald ist ein hochkomplexes Ökosystem mit vielen wechselnden Abhängigkeiten und schließt alle Entwicklungsstadien ein, die der Wald im Verlaufe der Zeit durchlaufen hat. So finden sich in diesem Wald • zum einen Pioniergehölze, • des Weiteren die in der langen Phase des sukzessionalen Wandels mit zunehmendem Schatten nachfolgenden Baumarten von mittlerer Höhe und mäßigem Dickenwachstum • und schließlich auch die hohen Harthölzer der Klimaxarten. Während der ablaufenden Sukzession – der Abfolge unterschiedlicher Pflanzengruppen oder Pflanzengesellschaften – nehmen auf dem langen Weg zum Klimaxstadium die Stattlichkeit, Artenvielfalt und vertikale Komplexität des Regenwaldes ständig zu. So beherbergt zum Beispiel ein 100 bis 150 Jahre alter Wald erst halb so viele Vögel, Säugetiere und Bäume wie ein Wald im Reifestadium. Der Urwald befindet sich am Ende dieser Entwicklung in einem dynamischen, sich selbst regulierenden Gleichgewicht

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_5

79

80     L. Staeck

von Nahrungsketten und Nahrungsnetzen, in dem zum Beispiel Lücken, die durch sterbende Bäume oder durch einen Gewittersturm in den Wald gerissen werden, schnell wieder durch Jungbäume aus der Gruppe der Pioniergehölze, die viele Jahre in „Wartestellung“ ausharrten, geschlossen werden. Der Urwald im Klimaxstadium setzt sich zusammen aus einem Mosaik mikrosukzessionaler Flecken verschiedenen Alters. Dies alles kann man sehr schön beobachten, wenn man aufmerksam durch den Regenwald streift. Wie sich die Artenvielfalt vom ersten Pionierstadium über die Abfolge verschiedener Sukzessionsstadien bis hin zum reifen Regenwald nach bis zu 400 Jahren entwickelt, gibt die nachfolgende Zusammenstellung sehr gut wieder, die das Ergebnis vieljähriger Forschungsarbeiten darstellt, die mir vom Nationalen Institut der Amazonas-Forschung INPA in Manaus zur Verfügung gestellt wurden (Tab. 5.1). Damit wird immer deutlicher, dass Diversifikation – also Vielfalt – geradezu als Schlüsselwort zum Verständnis dieses Waldes gilt: Von den etwas mehr als 60.000 weltweit bestimmten Baumarten (Stand 2017) sind allein im Amazonas-Regenwald 6727 (Stand 2017) identifiziert. Die meisten von ihnen gehören zu der Familie der Leguminosen (Hülsenfrüchtler). Den enormen Artenreichtum kann man auch so ausdrücken: Auf einem Hektar Regenwald nahe Manaus – das sind 100 mal 100 m – wurden 476 verschiedene Baumarten nachgewiesen; hinzu kommen noch viele Epiphyten- und Lianenarten. In Deutschland mit 387.000 km2 gibt es demgegenüber nur deutlich unter 100 verschiedene Baumarten, das bedeutet: In Amazonien gibt es auf einen Hektar mehr Baumarten als in ganz Europa! Diese enorme Artenfülle hat zur Folge, dass nur wenige Individuen vorkommen – oft nur ein Exemplar einer einzigen Art im weiten Umkreis. Das zweite auffällige Merkmal des amazonischen Regenwaldes ist damit die geringe Siedlungsdichte einzelner Arten. Tab. 5.1  Entwicklung der Artenvielfalt auf einer Schwemmlandfläche von 5000 m2 (0,5 ha) im Amazonas (Baumarten mit mindestens zehn Zentimeter Durchmesser in Brusthöhe)

Vögel Primaten Bäume

Pionierstadium (nach 3–5  Jahren)

Frühes Sukzessionsstadium(nach 30–50 Jahren)

Spätes Sukzessionsstadium (nach 100–150 Jahren)

Reifer Wald (Klimaxstadium) (nach ˃300  Jahren)

21 0 19

49 2–6 33

127 6–8 50

236 8–12 112

5  Der Regenwald     81

5.2 Ein „neuer“ Urwald kann nicht gepflanzt werden An dieser Stelle wird deutlich, dass der Mensch keinen „neuen Urwald“ anpflanzen kann, wenn der ursprüngliche abgeholzt oder abgebrannt wurde. Eine Neuanpflanzung kann nur ein Sekundärwald sein, der sehr deutlich artenärmer ist und sich vor allem aus wenigen, schnell wachsenden und sonnenliebenden Pioniergehölzen zusammensetzt sowie aus eingeschleppten Arten anderer Regionen. Ein Sekundärwald weist eine hohe Individuenzahl weniger Pflanzenarten auf, was natürlich viele negative Auswirkungen auf die ursprüngliche tierische Artenvielfalt hat. Neue Schätzungen gehen davon aus, dass zurzeit Jahr für Jahr eine Urwaldfläche von 30.500 km2 in Amazonien verloren geht, das entspricht der Fläche von Belgien beziehungsweise in zwölf Jahren der Fläche Deutschlands. Verlässliche Zahlen über die weltweite RegenwaldAbholzung gibt es selten. Der Living Planet Report der Umweltschutzorganisation WWF veröffentlichte 2018 einen Bericht, wonach seit 1990 weltweit rund 239 Mio. ha Regenwald vernichtet wurden – eine Fläche, die mehr als sechseinhalb Mal so groß ist wie Deutschland. Auf Amazonien bezogen gehen Hochrechnungen davon aus, dass bis zum Jahr 2050 rund 90 % des noch bestehenden Regenwaldes verschwunden sein wird. Mit dem Urwald verschwinden auch alle Tiere, da die Nahrungsketten zusammenbrechen, sie keine Nahrung mehr finden und auch keine Versteckmöglichkeit mehr haben. Und was für den Menschen fast noch schlimmer ist: Der sich aus der Verdunstung des Waldes selbst regenerierende Regen – das ist die Hälfte der gesamten Niederschläge – bleibt für immer aus. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Die Ursache dafür sind die fehlenden gasförmigen Terpene, die in einem intakten Regenwald von den Urwaldbäumen mit Beginn des täglichen Sonnenaufganges in großer Zahl produziert werden. Diese Terpene – chemische Ausdünstungen der Bäume – bilden zum einen natürliche Aerosole, in der Luft schwebende Teilchen mit einem Durchmesser von etwa einem Nanometer, die sich mit dem Sauerstoff der Luft verbinden, wobei verschiedene weitere Verbindungen entstehen, sogenannte sekundäre Aerosole. Über der geschlossenen Baumkrone des gesunden Amazonas-Regenwaldes sind in jedem Liter Luft eine halbe Million Aerosole enthalten. An ihnen kondensiert die aufsteigende Feuchtigkeit der Luft zu winzigen Wassertröpfchen, die in den folgenden Stunden miteinander verschmelzen und im

82     L. Staeck

­ erlauf des Tages immer mehr Wolken bilden, bis diese so schwer werden, V dass sie auf die Erde abregnen. Ohne diese Aerosole können sich keine Regenwolken bilden. Und noch etwas verschlimmert das Problem der Vernichtung des Regenwaldes: Die übrigen mit den Passatwinden herbei transportierten Regenmengen versickern nicht mehr vorübergehend im Urwaldboden. Sie werden demnach nicht mehr aufgehalten, sondern gelangen sofort wieder in die Flüsse, von wo aus sie ohne Nutzen Richtung Atlantik abfließen. Für den Artenreichtum sind vor allem historische Gründe verantwortlich. Ein ökologisches Grundprinzip lautet: Je länger ein Lebensraum gleichartige Umweltbedingungen aufgewiesen hat, umso ausgeglichener und stabiler und damit umso artenreicher ist er – wie im vorliegenden Fall. Das raue, stets wechselhafte Klima mit häufig auftretenden natürlichen Katastrophen wie etwa in Mitteleuropa führt immer mal wieder zu einem hohen Artensterben, sodass nur relativ wenige verschiedene Arten übrig bleiben. Diese weisen jedoch aus „Überlebensgründen“ hohe Individuenzahlen auf. Die gewaltige Artenvielzahl im Amazonas-Regenwald führt demgegenüber zu einer ständigen Konkurrenz, der nur durch eine hohe Spezialisierung begegnet werden kann. Hierbei werden im Verlauf von Jahrmillionen auch kleinste Nischen im Gesamtgefüge des Regenwaldes besetzt, wobei kaum größere Individuenzahlen erreicht werden können; so steht zum Beispiel eine Baumart mit nur einem Exemplar auf fünf bis zehn Quadratkilometern nicht selten alleine dar. Im Übrigen trägt auch die enorme Zahl von phytophagen (Pflanzen fressenden) Insekten dazu bei, dass von den einzelnen Baumarten nur wenige Nachkommen eine Chance haben, alt zu werden. Die Isoliertheit einer Pflanzenart ist demnach eine Überlebensstrategie, Fressfeinde übersehen die Pflanze in der Urwaldüppigkeit schlichtweg. Trotzdem wird an diesem Beispiel die große Zerbrechlichkeit und Gefährdung dieses Ökosystems deutlich, denn sogar durch ein Abholzen oder Abbrennen kleinerer Flächen geht bereits eine große Zahl verschiedener Arten unwiederbringlich verloren.

5.3 Unterstes Stockwerk des Regenwaldes Am besten lässt sich die unglaubliche Artenvielfalt des Regenwaldes in seiner vertikalen Gliederung aufzeigen. Beim Betreten des Waldes fällt dem Besucher schnell auf, dass in der großen Konkurrenz um Licht und Raum vielfältige Strategien angewendet werden.

5  Der Regenwald     83

Tipp Vorbereitung einer Urwaldwanderung • Feste, knöchelhohe Schuhe sind wichtig, denn der Boden ist uneben, Wurzeln ragen heraus und es ist meist schlammig. • Ein langärmeliges Hemd und lange Hosen schützen vor Blut saugenden Insekten und den langen Stacheln vieler Pflanzen. • Reibe Gesicht, Hals und Nacken sowie Arme und Beine mit Mückenschutz ein. • Nimm eine Machete mit, um Zweigen und Lianen abschlagen zu können, die den Weg versperren. So lässt sich auch die direkte Berührung mit Pflanzen vermeiden, auf denen beißende Ameisen oder Schlangen lauern können.

Bei der geringen Lichtausbeute am Urwaldboden von nur etwa einem bis zwei Prozent des Sonnenlichtes gibt es dort naturgemäß weder eine flächendeckende Krautschicht noch eine nennenswerte Strauchschicht wie in unseren Wäldern. Selbst bei Sonnenschein ist der Lichteinfall in Augenhöhe gering, etwa so wie 40 Minuten vor Sonnenuntergang bei uns. Im Wald weht auch kein Wind. Für den menschlichen Besucher ist meist ein gutes Durchkommen möglich, und der Gebrauch der Machete ist nur selten erforderlich. Vorherrschend sind in diesem untersten Stockwerk die unterschiedlichsten Sämlinge und bis zu 1,5 m hohe schlanke Schößlinge gekeimter Baumsamen (Abb. 5.1). Diese haben aufgehört zu wachsen. Sie verharren vielmehr im Dämmerlicht der untersten Waldetage in einer Art Warte- oder Schlafstellung, die nur enden kann, wenn das Sonnenlicht die Schößlinge direkt erreicht. Ob dies je passiert, ist ungewiss, denn eine Lichtung oder Bresche im Urwald kann nur entstehen, wenn zum Beispiel ein Urwaldriese aus Altersgründen umfällt und dabei etliche benachbarte Bäume mitreißt. Die Baumsterblichkeit im amazonischen Regenwald liegt bei etwa 1,7 % pro Jahr, das heißt, pro Hektar sterben in einem Jahr immerhin etwa zehn Bäume plus eine Reihe von Nachbarbäumen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einem solchen sterbenden Baumriesen volatile Substanzen in Form von chemischen Botenstoffen entweichen. Sobald diese Stoffe benachbarte Bäume und die Schösslinge in Wartestellung erreichen, lösen sie bei jenen Stress aus, der sie in eine Art „aktive Wartestellung“ versetzt. Diese ermöglicht es ihnen, schnell in die bald entstehende Lücke hineinzuwachsen. Solche Baumzwerge in (Dauer-)Wartestellung habe ich in Anlehnung an den Zwerg Oskar Mazerath in dem Roman „Die Blechtrommel“ von Günther Grass „Oskar“ getauft. Neben diesen Oskars wachsen in dieser untersten

84     L. Staeck

Abb. 5.1 Zwergenhaft verbleibende bezeichnet) am Boden des Urwaldes

Baumschößlinge

(von

mir

als

„Oskars“

Waldetage noch kleine strauchartige Palmen, hier und da mal ein Strauch oder Zwergbaum und wenige, an diffuse Lichtverhältnisse angepasste Blütenpflanzen. Eine ganz besondere ist die hier vorkommende Brechwurz (Psychotria poeppigiana; Rubiaceae). In ihrem Blütenstand findet sich die in den Tropen häufige Farbkombination Rot-Gelb, die Schmetterlinge (und Vögel) anlockt. Sind nach der Bestäubung die Früchte herangereift, präsentieren sich diese in leuchtendem Blau (mit Rot), einer Farbe, die bei Früchten häufiger, aber bei tropischen Blüten sehr selten ist. Vermutlich handelt es sich hier um ein Doppelsystem von Signalen: Zuerst signalisiert Rot-Gelb dem Bestäuber die Nektarquelle, Blau-Rot dagegen Früchte fressenden Vögeln (zum Beispiel Tangaren, Abschn. 9.6) ein Futterangebot (Abb. 5.2a und b). Dieses Doppelsystem hat für alle Beteiligten nur Vorteile, keine Täuschung ist involviert. Blütenbesucher sparen Zeit und Energie, die markierten Ziele werden sofort erkannt, Bestäubung ist garantiert. Für die Früchte gilt dasselbe: Die Vögel erkennen das deutlich kontrastierte Suchbild, das die Verbreitung der Samen garantiert. Bevor der Blütenstand sich öffnet und die kleinen gelben Röhrenblüten freigibt, sehen die grellroten Kelchblätter aus wie auffallend geschminkte Lippen, weshalb sie in Brasilien den Beinamen „Labias da prostituta“ tragen (Abb. 5.3).

5  Der Regenwald     85

Abb. 5.2  a Die Blütenfarbe Rot-Gelb der Brechwurz (Psychotria poeppigiana) signali­ siert Schmetterlingen und Vögeln eine Nektarquelle, b Die blauen Früchte derselben Pflanze locken im dunklen Urwald Vögel an

Abb. 5.3  Die grellroten Kelchblätter dieser Pflanzen haben in Brasilien den Beinamen „Labias da prostituta“

An Baumstämmen, Totholz oder seltener direkt auf dem Boden sind auch Moose zu finden, doch insgesamt weniger Arten als zum Beispiel in ganz Schleswig-Holstein. Sichtbare Pilze, zum Beispiel Ständerpilze, sind selten zu sehen, meist wachsen sie dann auf totem Substrat, etwa auf vermoderten Baumresten oder Blättern. Unter den Pilzen gibt es allerdings spektakuläre Arten, beispielsweise nachts leuchtende, die ein grün-fluoreszierendes Kaltlicht emittieren und damit Insekten anlocken oder fast ästhetisch anmutende mit farbenprächtigen Fruchtkörpern (Abb. 5.4 und 5.5).

86     L. Staeck

Abb. 5.4  Ständerpilze recyceln Blätter …

Abb. 5.5  … und morsches Holz; hier eine Gruppe der Art Cookeina speciosa

5  Der Regenwald     87

Unter den wenigen Pflanzenarten, die in Erdbodennähe wachsen, gibt es vereinzelt krautige Schattenpflanzen, die zumeist dunkelgrüne oder fast blaugrüne Blätter aufweisen. Der blaue Farbanteil begünstigt das Herausfiltern des gelben Lichtes, das für den Ablauf der Fotosynthese wichtig ist. Die dunkelgrünen Blätter enthalten sehr viel mehr Chloroplasten (fotosynthetisch aktive Zellorganellen) als Blätter im Sonnenlicht, so können auch sie fotosynthetisch aktiv werden. Dann gibt es sich samtig anfühlende Blätter, die eigenartige farbige oder weiß-elfenbeinfarbige Einsprengsel, Flecken, Streifen oder auch weiße Punkte mit Linienmuster aufweisen – zum Beispiel Vertreter der Gattungen Begonia, Calathea und Maranta. Heute wissen wir, dass derartige Farbmuster keine „Luxusbildung“ sind, sondern sie verwischen die Blattkonturen, sodass solche Blätter im Dämmerlicht am Waldboden von Blätter fressenden Insekten schlechter identifiziert werden. Derartige Muster werden als Mimikry (Täuschung durch Nachahmung) bezeichnet und dienen der Tarnung. Sie senden Signale aus, die ein bestimmtes Aussehen vortäuschen, nämlich dass das Blatt schon alt und/oder bereits abgefressen ist. Insekten, die nur zum unscharfen Sehen befähigt sind, fallen darauf rein und fressen nicht von dem Blatt, sondern fliegen weiter (Abb. 5.6a und b). Da diese Pflanzen für uns Menschen hübsch aussehen, kann man sie inzwischen sogar in gut sortierten Gartencentern kaufen. Andere Schattenpflanzen haben warzenartige, transparente Epidermiszellen entwickelt; diese sitzen in der obersten Zellschicht, wo sie wie Lupen wirken und das wenige einfallende Sonnenlicht bündeln, sodass eine Fotosynthese möglich wird. Außerdem gibt es Schattenpflanzen, bei denen die Blattunterseite durch eingelagerte Anthocyane purpurfarben bis dunkelrot gefärbt ist. Diese Farbstoffe reflektieren das einfallende Restlicht bis zur ­Zellschicht, die die Chloroplasten tragen. Sie verdoppeln dadurch die Lichtmenge und ermöglichen so die Fotosynthese.

Abb. 5.6  a Die Blätter einer Begonie (Begonia nasoniana) täuschen vor, dass sie alt und abgefressen sind, b Bei Vertretern der Calathea- und Maranta-Arten (hier Calathea elliptica ) werden durch farbige Einsprengsel die Blattkonturen verwischt, um blattfressende Insekten zu täuschen

88     L. Staeck

Lediglich nach dem Sturz eines Baumriesen oder auch nach Brandrodungen entsteht in der entstandenen Lichtung vorübergegend eine dichte Krautschicht, auch mit sonnenliebenden Blütenpflanzen (z. B. Heliconien, Ingwerarten), Buschwerk und dürftigem Sekundärwald aus schnellwüchsigem Pioniergehölz. Diese Besiedlungsphase wird jedoch im Verlauf der Sukzession nach wenigen Jahren durch aufkommende kräftige Baumarten beendet, die Lichtung ist zugewachsen. Ein ähnliches Bild wie auf offenen Urwaldlichtungen zeigt sich auch in Lücken im Waldesinneren, im Wurzel-, Stamm- und Kronenbereich umgefallener Urwaldriesen sowie entlang der Flussufer. Hier erfolgt jedoch wegen der anhaltenden kräftigen Sonneneinstrahlung keine Sukzession. Berichte über den „undurchdringlichen Dschungel“, zum Beispiel von Alexander von Humboldt in seinen Tagebüchern, sind also falsch; die Eindrücke, die zu diesen Berichten führten, wurde von Bord eines Bootes gewonnen, wie Abb. 5.7 zeigt. Urwaldgeräusche halten sich im untersten Stockwerk des Regenwaldes in Grenzen. Ab und zu singt mal ein Vogel, meist wenig melodiös, dafür mit lauten, schnell auf einander folgenden Tönen, so zum Beispiel der Tukan. Hier und da ruft auch eine Gruppe Affen, die damit kundtut, dass hier ihr Revier ist. Besonders eindrucksvoll sind die lärmenden, aus dem Nichts anschwellenden monotonen Konzerte der Zikaden. Es sind reine Männerchöre, denn bei diesen Insekten sind nur die Männchen lautbegabt. Zu

Abb. 5.7  Das dicht mit Pioniergehölzen bewachsene Flussufer vermittelt den (falschen) Eindruck, dass der Urwald undurchdringlich ist

5  Der Regenwald     89

Hunderten streichen sie gleichzeitig mit einem Hinterbein über ihren Flügelrand und erzeugen dabei einen gleich bleibenden lauten Ton, der nach einigen Minuten abrupt abbricht. Dieser „Gesang“ kann sich anhören wie das laute Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges oder ein schriller gleichbleibender Ton einer Kreissäge und kann sich eine Zeit lang alle zehn oder auch alle 30 Minuten wiederholen.

5.4 Mittleres Stockwerk des Regenwaldes Das zweite, bedeutendste Stockwerk des Urwaldes bilden die 20 bis 40 m hohen Laubbäume, die mit einem fast einheitlichen Baumkronendach abschließen, was man besonders gut erkennen kann, wenn man mit dem Flugzeug über den Regenwald fliegt. Das Blätterdach selbst ist lichtdurchflutet, lässt aber nur sehr wenig Sonnenlicht bis zum Boden durch. Nadelbäume gibt es überhaupt nicht. Auffallend sind vor allem die verschiedenen Grünabstufungen der Laubblätter, blühende Bäume sind hingegen vom Boden aus selten auszumachen. Der Grund: In den Tropen gibt es keine ausgeprägten Jahreszeiten wie bei uns, vor allem fehlt der Winter. Das jährliche Schauspiel der wiedererwachenden Natur in Mitteleuropa gibt es in den tropischen Wäldern nicht. Dort unterscheidet man nur die Trockenzeit (mit weniger Regen) von Juni bis Oktober und die Regenzeit (mit viel mehr Regen) von November bis Mai. So blühen auch Bäume wie krautige Pflanzen nicht zur gleichen Zeit, sondern jede Art hat ihren individuellen Blühzyklus. Während der Blühphase werfen viele Waldbäume ihre Blätter ab, damit die Blütenpracht für potenzielle Bestäuber besser auszumachen ist. Auch der Laubwechsel passiert nicht bei allen Bäumen gleichzeitig, sondern auch hier hat jede Art einen eigenen Rhythmus; dieser kann bei einer Art alle zehn Monate sein, bei einer anderen Art auch nur alle drei Jahre. Tropische Bäume haben deshalb auch keine scharf abgegrenzten Jahresringe. Wenn man auf dem Fluss am Regenwald entlang fährt, sieht man also alle unsere vier „Jahreszeiten“ nebeneinander: Ein Baum ist blattlos („Winter“), bei einem anderen brechen gerade die Knospen auf („Frühling“), ein weitere blüht gerade („Vollfrühling“), ein Baum hängt voller Früchte („Spätsommer“), bei einem anderen sind alle Blätter gerade gelb oder braun(-rot), („Herbst“). Aufgrund der Windstille im Inneren des Urwaldes benötigen fast alle Pflanzen für ihre Bestäubung/Befruchtung und für ihre Samenverbreitung Tiere. So werden vor allem Insekten (Käfer, Schmetterlinge), aber auch Vögel und Fledermäuse angelockt, die Pollen und Nektar oder Samen und Früchte verzehren. So ist im Regenwald die Stammblütigkeit (­Kauliflorie)

90     L. Staeck

recht häufig anzutreffen (Abb. 5.8). Blüten und damit auch später die Früchte entspringen direkt aus dem Stamm. So sind sie z. B. für Fledermäuse leichter zu finden inmitten des Blätterwaldes; zudem können sie sich am Stamm festkrallen, um leichter an Nektar oder Fruchtfleisch zu gelangen. Nur die winzigen Sporen der blütenlosen Moose, Farne und Pilze werden durch geringste Luftströmungen verbreitet und keimen dann in Rissen der Baumrinde sowie auf Astgabeln. Ein besonderes Phänomen im Urwald ist das sogenannte Laubschütten. Bei optimalen Witterungsverhältnissen – etwa bei beginnender Regenzeit – entfalten sich plötzlich ganze Blattbüschel, wobei die Bildung von Festigungselementen, wie Blattadern, Sprosse und Zweige erst einmal zurückbleibt, und sich auch die Ausreifung des grünen Farbstoffes (Chlorophyll) verzögert. So hängen diese jungen Blätter schlaff herab, wobei ihre Farbe entweder blass-gelblich, rötlich ist oder sogar violett (Abb. 5.9 und 5.10). Auch bei diesen Falschfarben handelt es sich um eine Mimikry, die frischen jungen Blätter täuschen altes, welkes – oder giftiges – Laub vor, um Insekten fernzuhalten.

Abb. 5.8 Stammblütigkeit (Kauliflorie) ist recht weit verbreitet im Regenwald: Hier der Wilde Kakao (Herrania mariae)

5  Der Regenwald     91

Abb. 5.9  Frische, junge Blätter hängen schlaff herab (Laubschütten), um blattfressende Insekten zu täuschen

Abb. 5.10  Für eine perfekte Täuschung werden sogar Falschfarben (hier Lila) eingesetzt

92     L. Staeck

5.5 Urwaldboden Trotz der unglaublich großen Vielfalt der Pflanzenarten und der überall üppig wachsenden Vegetation im Regenwald ist der Urwaldboden extrem nährstoffarm. Auch Alexander von Humboldt hatte sich damals von der wuchernden und „verschwenderischen“ Vegetation täuschen lassen, als er den Boden für ausgesprochen fruchtbar hielt. Tatsächlich sind aus dem Boden im Laufe der Jahrmillionen längst die Nährstoffe herausgewaschen. Übrig geblieben ist eine eisen- und alluminiumhaltige Erde, die wurzelfeindlich ist. Dieser Klimaxboden behält an seiner Oberfläche seine eingeschränkt fruchtbare, ausbalancierte   Struktur nur so lange, wie er dauerfeucht ist – zum Beispiel im ständig beschatteten Urwaldboden. Trocknet er nach Abholzung des Waldes oder Brandrodung durch, dann bleiben nur harte, kräftig rotbraune Latsole (von lat. later = Ziegelstein und solum  = Erdboden) oder auch Oxisole (oxydierte, also verbrauchte Böden) oder Rotlehme genannte Böden übrig. An anderen Orten, etwa an Schwarzwasserflüssen und -seen, findet man auch helle Bleicherden (Podsole). Alle diese Böden sind unfruchtbare, reine Auswaschungsböden (Abb. 5.11a). Die rötlichen Böden bestehen – wie bereits ausgeführt – vor allem aus eisen- und alluminiumhaltigem Haftgrund (Al203 und Fe203), der für Pflanzen giftig ist. Ihm fehlen zudem nahezu alle Tonmineralien, wie sie unsere heimischen Böden bereichern. Wenn sich beim Verlust der dünnen Humusschicht, zum Beispiel bei Straßenarbeiten, die Roterden zu einem stabilen ockerroten Gefüge verhärten, werden sie Laterit genannt (Abb. 5.11a). Diese Klimaxböden sind außerdem sehr sauer, da auch der Kalk ausgewaschen wurde. Über diesen Auswaschungsböden liegt im Urwald eine nur wenige Zentimeter dicke, dunkle, fruchtbare Humusschicht (Abb. 5.11a und b). Bei derartigen Bodenverhältnissen könnte bei unserem Klima nur eine artenarme, niedrige Vegetation existieren. Doch der amazonische Regenwald steht auf einem der ärmsten und ausgewaschensten Böden der Erde! Warum kann sich hier trotzdem eine derartig üppige Pflanzenvielfalt mit einer ungeheuren Biomasse entwickeln? Wie ist dieses Paradoxon zu erklären? Die überraschende Antwort lautet: Der Wald wächst tatsächlich nur auf und kaum aus dem Boden. Der Boden wird vor allem nur als Substrat und als mechanische Fixierung für die Bäume genutzt und kaum als Nährstoffquelle. Die Erklärung für den scheinbaren Widerspruch zwischen Üppigkeit auf der einen und armen Böden auf der anderen Seite liegt in dem kurzgeschlossenen Nährstoff-Kreislauf des Waldes. Durch die hohe Feuchtigkeit und Wärme findet nämlich bis etwa zehn Zentimetern Bodentiefe eine

5  Der Regenwald     93

Abb. 5.11  a Unter der dünnen Humusschicht erstreckt sich der Klimaxboden (Latsole), der für immer unfruchtbar ist, b Dieses ockerrote harte Bodengefüge wird Laterit benannt. Es ist ebenfalls für immer unfruchtbar

außerordentlich schnelle Remineralisation des Laubes und anderer organischer Abfälle wie Kot und Tierleichen statt. Während der Regenzeit wird das Bodenlaub innerhalb eines Monats vollständig abgebaut, ein umgestürzter kleinerer Baum wird in nur einem Jahr durch Bakterien, Pilze, Ameisen und Termiten mumifiziert. Nur das Mosaik der vielen spezialisierten Mitglieder diese Ökosystems kann diesen schnellen Kreislauf der Nährstoffe geschlossen halten. Man kann auch sagen: Der Mangel an Kapitalreserven (Nährstoffe) wird in diesem geschlossenen System durch eine rasantes Recycling der

94     L. Staeck

v­ orhandenen Nährstoffe aufgewogen. Allerdings weist dieser Nährstoffkreislauf keine Effizienz von 100 % auf. So müssen die verlorengehenden etwa 20 % Nährstoffe ausgeglichen werden durch den ständig niedergehenden Saharastaub, den Kronenauswaschungen und den aus dem Boden stammenden Verrottungen und Verwitterungen. Ein Hektar des amazonischen Regenwaldes produziert 33,5 t Biomasse (im Wesentlichen Blätter) pro Jahr. Ein deutscher Buchenwald produziert dagegen nur 13 t/ha. Dieser tropische Wald lebt demnach in einem nahezu geschlossenen Nährstoffkreislauf, in dem das oberflächliche und außerordentliche dichte Wurzelsystem (Wurzelfilz) als perfekter Filter für die Nährstoffe wirkt (mit einem Spaten kommt man kaum in den Urwaldboden hinein). Allerdings brauchen die großen Urwaldbäume hierfür noch die Hilfe von Bakterien, Ameisen, Termiten und vor allem von Bodenpilzen, sogenannte Mykorrhizen (Pilzfadengeflecht). Unter dem Waldboden spannt sich dieses gewaltige Netzwerk aus Pilzhyphen (Pilzfäden) und Baumwurzeln, das mit einer „unsichtbaren Intelligenz“ (Suzanne Simard, University of British Columbia) zu vergleichen ist (Abb. 5.12). Über die Pilzfäden, die alle Wurzelspitzen umhüllen, werden die Nährstoffe im Laubstreu aufbereitet und als Nährsalz-Ionen (etwa Stickstoff, Kalium, Phosphat) direkt an den Wurzelfilz der Bäume abgegeben. Zwischen den beiden Beteiligten besteht eine Art Symbiose: Das Pilzmyzel liefert dem Baum Nährsalze und Wasser, die Baumwurzeln dem Mykorrhiza Kohlenhydrate. Darüber hinaus werden aber auch spezifische chemische Botenstoffe ausgetauscht. Wenn

Abb. 5.12  Unterirdisches symbiontisches Netzwerk zwischen den Baumwurzeln des Regenwaldes und Mykorrhizen (Pilzfadengeflecht). Großer Stern: alter Urwaldriese; kleine Sterne: jüngere Bäume

5  Der Regenwald     95

zum Beispiel Pflanzen fressende Insekten in großer Zahl einen Baum befallen, werden spezifische Stresssignale ausgesendet, die über die unterirdischen Vernetzungen zwischen Baum und Pilzfäden an andere Bäume weitergegeben werden, was bei diesen zu chemischen Abwehrreaktion führt. Durch die Entnahme eines einzelnen großen, jahrhundertalten „Mutterbaumes“ aus dem Regenwald, zum Beispiel durch das Fällen eines besonderen „Edelholzes“ (siehe „großer Stern“ in Abb. 5.12), gehen viele solcher Verbindungen verloren, ein Kahlschlag zerstört das gesamte, sich über Jahrhunderte entwickelte Netzwerk. Im Amazonas-Regenwald haben mehr als 80 % der Baumarten korrespondierende Pilzarten, sodass Hochrechnungen von bis zu einer Million unterschiedlicher Bodenpilze im gesamten Amazonas-Becken ausgehen. Die absolute Nährstoffmenge, die sich in diesem ohne menschlichen Einfluss stabilen Klimaxstadium befindet, ist zu 80 % gleich. In diesem nahezu ausgeglichenen Gleichgewicht aller Organismen kreisen dieselben Nährstoffe immer wieder durch den Urwald – ergänzt durch den Saharastaub, Bodenverwitterungen und Kronenauswaschungen. Das Tropfwasser aus dem Kronendach und aus dem Stammablauf der Bäume besteht aus Auswaschungen aus Blättern und Blüten sowie aus Wasserspülungen der Ausscheidungen und ist deshalb chemisch sehr reich und kann mit einer Bouillon verglichen werden. An dieser Stelle wird die große Gefahr deutlich, wenn Menschen in dieses hauchdünne ausbalancierte Ökosystem eingreifen. Bei einer großflächigen Abholzung wird die Zirkulation des Nährstoffkapitals abgebrochen. Nach Schlagen und/oder Abbrennen des Waldes wird das Mykorrhiza-Geflecht unzähliger Bodenpilzarten vernichtet, 90 % der Biomasse in Form des gebundenen Stickstoffs und 40 % aller vorrätigen mineralischen Nähstoffe gehen sofort verloren und die Fruchtbarkeit des Bodens für Anpflanzungen ist schon nach einigen Jahren für immer erschöpft. Auch eine vom Menschen vorgenommene Mineraldüngung würde nichts helfen, sie wird sofort wieder ausgewaschen und müsste alle 14 Tage erneuert werden.

5.6 Oberstes Stockwerk des Regenwaldes Das oberste Stockwerk bilden bis zu 60 m hohe Baumriesen, die das gesamte Laubdach des mittleren Stockwerkes überragen. Diese eindrucksvollen Baumgiganten bezeichne ich in Anlehnung an den Kölner Dom, der sich ebenfalls weit über das Dächermeer erhebt, als „Kathedralen“ des Regenwaldes (Abb. 5.13).

96     L. Staeck

Abb. 5.13  Die bis zu 60 m hohen Baumriesen (hier ein Kapok-Baum) überragen das geschlossene Kronendach

Warum wachsen diese Bäume nicht in den Himmel? Die Antwort ist physikalischer Natur: Durch die an warmen, sonnigen Tagen ständig über die Blattporen stattfindende Verdunstung findet ein permanenter Wassersog von den Wurzeln über das Röhrensystem im Holz zu den Blättern statt. So verdunstet ein nur 25 m hoher Baum im Regenwald mit einer Blattfläche von etwa 1500 m2 400 L Wasser. Der starke Unterdruck in den Blättern und der Zusammenhalt der Wassermoleküle in dem engen Röhrensystem des Holzes ermöglichen diesen Wasseraufstieg entgegen der Schwerkraft. Die Wassermoleküle sind nämlich unterschiedlich elektrisch geladen und „kleben“ deshalb förmlich zusammen – entsprechend dem physikalischen Prinzip der „kommunizierenden Röhren“. So können die Wassermoleküle hohe Zugspannungen aushalten. Irgendwann stößt jedoch jede Wasserleitung entgegen der Schwerkraft an ihre Grenzen. Reicht der Wasserdruck nicht aus, bilden sich Gasblasen im Wasser, die den ständigen Fluss unterbrechen. Sinkt dann der Wassertransport unter eine kritische Grenze, stellt der Baum sein Höhenwachstum ein. Diese Grenze liegt etwa bei einer Baumhöhe von 115 m (wie beim Riesen-Mammutbaum, Sequoia sempervirens, in Kalifornien). Die Baumriesen im Amazonas-Regenwald sind meist Kapok-Bäume, auf Englisch auch als Cotton-Trees bezeichnet (Ceiba pentandra; ­Bombacaceae),

5  Der Regenwald     97

aber auch Kautschukbäume (Hevea brasiliensis; Euphorbiaceae), Paranuss-Bäume (Bertholletia excelsa; Lecythidaceae), Kolumbianische Mahagoni-Bäume (Cariniana pyriformis; Lecythidaceae) und andere mehr. Diese einzeln stehenden Bäume sind besonderen klimatischen Bedingungen ausgesetzt. So sind für sie die Temperatureinstrahlung sowie die Windstärke deutlich höher als in den unteren Lagen. Diese Urwaldgiganten sind oft mehrere Hundert Jahre alt und beherbergen selbst oft Hunderte verschiedene Epiphyten- (Abschn. 6.5) und Lianenarten und bieten zudem in ihren riesigen Brettwurzeln Unterschlupf für verschiedene Tierarten (etwa für Nachtaffen, Fledermäuse, Baumratten, Schlangen, Agutis, aber auch für Vogelspinnen). Interessanterweise sehen die Kapok-Bäume ganz anders aus, wenn sie noch jung sind. Dann ist ihr schlanker Stamm nämlich grün und voller spitzer Dornen. Erst nach mehreren Jahrzehnten entwickeln sich die typischen Brettwurzeln (Abb. 5.14). Wenn die Fruchtkapseln reif sind, öffnen sie sich und geben die etwa 100 schwarzen Samen frei, die mithilfe der anhaftenden langen Seidenhaare flugfähig sind. Diese Haare besitzen einen feinen Wachsüberzug und sind dadurch wasserabweisend. Sie werden als hochwertige Faser für Schwimmwesten, Mattratzen und Kopfkissen verwendet.

Abb. 5.14  Die Urwaldriesen entwickeln bis zu neun Meter hohe Brettwurzeln, die den Baum wie ein Fundament stabilisieren

98     L. Staeck

Auf einem solchen Urwaldriesen (nämlich Luehea seemannii ) wurden in einem einzigartigen Experiment die Anzahl der Käferarten ermittelt. Hierzu besprühte der US-Biologe Terry Erwin das gesamte Laubwerk des Baumes mit dem biologisch abbaubarem Pyrethrum, wodurch alle Insekten betäubt wurden und auf den Boden fielen. Als Ergebnis dieses Experimentes wurden 1200 verschiedene Käferarten identifiziert (zum Vergleich: Auf der Gesamtfläche Deutschlands gibt es 5800 Käferarten). Auf einem anderen Baumriesen wurden 43 Ameisenarten bestimmt, so viele wie im gesamten Großbritannien leben.

5.7 Wurzeltypen Im Tieflandregenwald wachsen aufgrund der besonderen Bodenverhältnisse (Staunässe und schon nach wenigen Zentimetern abnehmende Bodenfruchtbarkeit) nur Flachwurzler. Ein Drittel aller Bäume entwickelt dabei meist gewaltige Brettwurzeln. Diese reichen bis zu neun Meter den Stamm hinauf und bilden nur an ihrer Oberseite Holz aus. Damit stabilisieren sie wie ein Stützpfeiler den Baum auf den wassergesättigten, flachgründigen Böden. Dort wo sie in den Boden übergehen, sitzen kurze, rübenförmige Hauptwurzeln, von denen rechtwinklig eine riesige Zahl feiner Seitenwurzeln abzweigt. Diese bilden den Wurzelfilz, der mit dem Mykorrhiza verbunden ist und den Baum mit Sauerstoff, Nährstoffen und Wasser versorgt. In diesem sauerstoffarmen, ständig vernässten Boden gibt es noch zwei weitere charakteristische Wurzeltypen. Es sind zum einen Stelzwurzeln, die in einigen Meter Höhe von der Stammbasis abzweigen und den Baum fest im Boden verankern (wie bei der schlanken, bis 20 m hohen Palme Socratea exorrhiza ). Sie befähigen den Baum sogar im Verlauf von einigen Jahren zu einem Standortwechsel, etwa wenn durch Baumbruch in der Nähe auf einer Seite plötzlich mehr einfallendes Licht zur Verfügung steht. Dann bilden sie in diese Richtung verstärkt Stelzwurzeln aus, die den gesamten Stamm in die neue Richtung verlagern (siehe den Pfeil in Abb. 5.15). Deshalb trägt sie den Beinamen „laufende Palme“. Auch eine Reihe von Feigenarten (Moraceae) bilden vom Hauptstamm abzweigende Wurzeln, die den Baum im weichen Boden abstützen. Der dritte Wurzeltyp sind sogenannte sprossbürtige Wurzeln. In diesem Fall geht die Stammbasis noch über dem Boden in Tausende etwa fingerstarke Wurzeln über, die dem Baum den nötigen Halt geben; so zum Beispiel bei der Açai-Palme Euterpe oleracea (Abb. 5.16).

5  Der Regenwald     99

Abb. 5.15 Die Socratea-Palmen („Laufende Palmen“) entwickeln hohe Stelzwurzeln, die ihre Standfestigkeit erhöhen und den Baum sogar in Pfeilrichtung zum Standortwechsel befähigen

Abb. 5.16  Sprossbürtige Wurzeln entspringen der Stammbasis wie etwa bei der Açai-Palme

100     L. Staeck

5.8 Der Paranuss-Baum Auch der Paranuss-Baum (Bertholletia excelsia; Lecythidaceae) – auf Englisch Brazil Nut – ist ein schlanker, bis 50 m hoher Klimaxbaum der Terra-Firme, dessen Krone über das mittlere Stockwerk hinausragt (Abb. 5.17). Sein deutscher Namen bezieht sich auf den Bundesstaat Pará, in dem sich diese Baumart vor allem angesiedelt hat. Sein Stammdurchmesser kann über drei Meter betragen. Schon Alexander von Humboldt wusste um die Bedeutung seiner Früchte für den Menschen. Bei seiner Reise in den südamerikanischen Regenwald bot er demjenigen, der ihm die großen creme-gelben Blüten dieses Baumes bringen würde, eine Unze Gold. Doch er war zur falschen Zeit dort, niemand konnte ihm die Blüten besorgen. Wenn der Besucher jedoch im Februar durch den Amazonas-Regenwald streift, findet er auf dem Urwaldboden unter einem Paranuss-Baum überall die fast unversehrten Blüten, bei denen nur der Fruchtknoten fehlt, der am Baum verblieben ist (Abb. 5.18). Sie blühen hoch oben an der Spitze des Baumes und nur ein paar Stunden am Vormittag, bevor sie abfallen. So kann sich der Sammler selbst von dem komplizierten Blütenbau dieses Baumes überzeugen. Weiterhin liegen unter der Baumkrone zwischen dem vermodernden Laub viele Paranüsse. Schon nach wenigen Monaten wird die Schale brüchig und viele Samen beginnen zu keimen (Abb. 5.19a).

Abb. 5.17  Der schlanke Paranuss-Baum wird bis zu 50 m hoch

5  Der Regenwald     101

Abb. 5.18  Die Blüten des Paranuss-Baumes

Abb. 5.19  a Keimlinge wachsen aus der Kapselfrucht des Paranuss-Baumes und wetteifern miteinander. Nur einer wird überleben, b Im Inneren der fast kugelrunden Frucht der Paranuss liegen bis zu 32 hartschalige schmackhafte Samen. Allerdings muss noch die verholzte Samenschale entfernt werden

102     L. Staeck

Auch hier findet ein Kampf um Leben und Tod statt. Letztlich wird nur ein Sämling zu einem Baum heranwachsen können, doch bis dahin wetteifern die auf engstem Raum gekeimten Sämlinge um Raum und Nährstoffe. Der letzte, der übrig bleibt, ernährt sich schließlich von seinen „Geschwistern“. 100 bis 500 dieser mächtigen Kapselfrüchte produziert ein ausgewachsener Baum innerhalb von 22 Monaten. Sie fallen nach dieser langen Reifezeit vom Baum, ohne dass sich der Deckel öffnet. Es gibt nur wenige Tiere im Regenwald, die in der Lage sind, die harten Außenwände aufzubrechen. Hierzu gehören die Kapuzineraffen (Abb. 8.74), die die Kapsel so lange auf den Boden schlagen, bis sie bricht, und das Aguti (auch als Goldhäschen bezeichnet), das mit seinem starken Gebiss diese harte Frucht zu öffnen vermag (Abschn. 9.8 und Abb. 9.13). Da es die Samen auch in Verstecken vergräbt, trägt es so zur Verbreitung der Paranuss-Bäume bei. Dass die Kapselfrüchte zu Boden fallen, ohne dass sich der Deckel öffnet, ist gut für den Sammler, denn so kann er die Früchte aufnehmen, ohne dass der kostbare Inhalt verlorengeht. Die fast kugelrunde, bis drei Kilogramm schwere Frucht von bis zu 20 cm Durchmesser wird von einer extrem harten Schale umschlossen. In ihrem Inneren liegen bis zu 32 dreikantige, etwa sechs Zentimeter große, hartschalige Samen (Abb. 5.19b). Diese müssen erst von ihrer braunen, verholzten Samenschale befreit werden, bevor man an das schmackhafte, elfenbeinfarbige und harte Fruchtfleisch herankommt (brasilianisch „Castanha de Pará“). Es ist mit 60 % Fettgehalt sehr kalorienreich. Weitere für den Menschen vorteilhafte Bestandteile und Eigenschaften sind in Tab. 5.2 zusammengestellt. Übrigens: Als vor einigen Jahren im Rentnerparadies Florida in einem Artikel der Tageszeitung die „Anti-aging“-Eigenschaften und aphrodisierende Wirkung der Paranüsse beschrieben wurde, waren am Folgetag in den Supermärkten alle Paranüsse ausverkauft. Tab. 5.2  Die Bestandteile der Paranuss – Die Paranuss mit „Anti-aging“-Eigenschaften 100 g enthalten…

Nachgewiesene Wirkungen

• Eiweiß 13,0 g • Zucker 2,8 g • Fett 66,0 g • Davon ungesättigte FS 25,5 g • Faseranteile 8,3 g • Wasser 6,0 g • Na, Mg, Ph, K, Ca, Fe • Vitamin E, C sowie weitere • Selen 1,9 mg

• Antioxidativ • Schmerzstillend • Blutdruck senkend • Entzündungshemmend • Immunstimulierend • Förderung der Zellregeneration • Aphrodisierend

5  Der Regenwald     103

Das im Berliner Botanischen Museum noch heute vorliegende Herbar-Exemplar des Baumes stammt von Humboldt. Ein Herbar (von lateinisch herba = „Kraut“) ist eine Sammlung konservierter Teile einer bestimmten Pflanze. Sie dient dazu, die Pflanze (erstmals) zu beschreiben, sie mit anderen Arten zu vergleichen und letztlich dazu, sie in den Stammbaum der Pflanzen einzuordnen. Das Humoldt’sche Exemplar des Paranuss-Baumes beschränkt sich auf die Laubblätter, die Blüten fehlen. Trotzdem war Humboldt der Erstbeschreiber dieses Baumes. Er benannte ihn nach dem französischen Chemiker Claude Louis Berthollet, der damals die Bleichwirkung des Chlors entdeckt hatte. Als Artnamen wählte er excelsa (= hervorragend). Nachfolgend soll beispielhaft genauer beschrieben werden, wie existenziell diese Baumart von anderen Lebewesen des Regenwaldes abhängt. Seine Lebensweise macht deutlich, dass der Urwald mehr ist, als die bloße Summe seiner Bäume. Zwischen den Bewohnern des Waldes bestehen nämlich auch über dem Boden viele für ihr Überleben zwingend notwendige Beziehungen, die sich uns nicht sofort erschließen. Gehen einzelne Organismen dieses Beziehungs- und Nahrungsnetzes – zum Beispiel durch Abholzen oder Abbrennen – verloren, gibt es auch für die übrigen Mitglieder dieses Bündnisses kein Überleben. Die Blüten des Paranuss-Baumes etwa sind eigenartig eng gebaut. Das Blüteninnere ist schraubenartig gewunden und der Nektar befindet sich im engen Zentrum der Spirale, wohin es nur bestimmte Insekten mit langen Rüsseln schaffen. Die langrüsseligen Weibchen einer bestimmten metallisch-grünen Prachtbienenart (Euglossa) sind dazu in der Lage. Mit ihren langen Rüsseln gelangen sie an den schmackhaften Nektar der Blüten und bestäuben dabei die Blüten. Die weiblichen Prachtbienen paaren sich indes nur dann mit ihren Männchen, wenn diese sich mit dem attraktiven Duft einer ganz bestimmten Orchideenart parfümiert haben, die nur auf den Paranuss-Bäume oder in ihrer Nähe als Epiphyten (Abschn. 6.5) wachsen. Ohne diese Orchideenart gäbe es also die Prachtbienen nicht und ohne diese auch keine Paranuss-Bäume. Es ist eine wechselseitige Abhängigkeit, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet hat. Wegen dieses komplizierten Dreieckverhältnisses kann man Paranuss-Bäume auch nicht in Plantagen anlegen. So sind diese drei total verschiedenen Lebewesen für immer auf einander angewiesen. Stirbt die eine Art, sterben auch die beiden anderen Arten. Solche für uns Menschen unsichtbaren Beziehungen zwischen verschiedenen Lebewesen gibt es zahlreiche im Amazonas-Regenwald. Wir kennen sie nur noch nicht alle. Einige weitere, zum Beispiel bei der Amazonas-Riesenseerose

104     L. Staeck

(Victoria amazonica, Abschn. 6.4.1) und bei der Sumpfcalla (Montrichardia arborescens, Abschn. 6.3.2) werden in diesem Buch beschrieben. Wenn man im Urwald zwischen allen diesen voneinander abhängigen Lebewesen einen Faden spannen würde, ergäbe sich ein gigantisches Netz.

5.9 Epiphyten und Kletterpflanzen Die obersten Stockwerke des tropischen Regenwaldes werden von einer Vielzahl von Epiphyten (wörtlich: „Oben-drauf-Pflanze“ oder Aufsitzerpflanze) besiedelt (Abb. 5.20). Sie bevorzugen sonnige Standorte und sitzen gern auf geschwächten oder bereits entlaubten Bäumen sowie auf Bäumen am Flussufer. Epiphytisch lebende Farne siedeln sich auch im Schattenbereich des Waldes an. Kletterpflanzen dagegen finden sich auch im untersten Stockwerk, das ganztägig dem Dämmerlicht ausgesetzt ist. Kletterpflanzen und Epiphyten sind zwar „Hausbesetzer“, doch sie schädigen den Baum nicht, sind also keine Schmarotzer. Epiphyten besiedeln Astgabeln und Baumstämme, und zwar je nach Lichttyp die unteren lichtarmen, temperaturgemäßigten Etagen (zum

Abb. 5.20 Unterschiedliche Epiphyten-Arten auf einem Trägerbaum. Im Vordergrund sind blühende Vertreter der Bromeliaceen (Ananasgewächse) zu sehen

5  Der Regenwald     105

­Beispiel Nestfarne, Philodendron, Bromelien) oder die ganztägig heißen, sonnendurchfluteten exponierten Standorten ganz oben im Kronendach (wie Orchideen). Da die Standorte in beiden Fällen extreme Umweltbedingungen aufweisen, weisen die meisten Epiphyten, so etwa die Bromelien, sukkulente – also dickfleischige –, schmale Blätter aus, viele bilden auch Blattrosetten, die das Regenwasser sammeln. In diesem Mini-Biotop leben sogar bestimmte Baumsteigerfrösche, die dort ihre wenigen – meist nicht mehr als zehn – Eier ablegen, die ausschlüpfende Brut bewachen und bei fehlenden Mückenlarven sogar unfruchtbare Eier (Abortiveier) produzieren, um die Larven zu ernähren. Fällt die Blattrosette trocken, werden die Kaulquappen der Reihe nach zu wassergefüllten Blattrosetten umquartiert (Abschn. 9.1). Daneben haben Epiphyten noch andere Strategien entwickelt, um an Wasser und Nährsalze heranzukommen. So gibt es Bromelien-Arten, die an ihren Wurzeln Wasserabsorptionshaare ausbilden, und einige Farnarten sammeln in ihren Rosetten herabfallende Blätter, die zu Humus werden. Orchideen besitzen Luftwurzeln, die zur Regenwasseraufnahme befähigt sind sowie verdickte Sprossachsen (sogenannte Bulben), die als Speicherorgane für Wasser und Nährsalze dienen. Schlingpflanzen (Lianen) wiederum haben besondere Tricks entwickelt, um aus den schattigen Waldarealen zu den lichtreichen Kronen zu gelangen. Es gibt Arten, deren Samen im Waldboden keimen und dann mit ihren dünnen und biegsamen, schnell wachsenden Sprossachsen an den Baumstämmen nach oben wachsen. Hierbei gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen. Da gibt es Wurzelkletterer. Diese schlingen sich an Baumstämmen empor. Es gibt Ranker, Links- und Rechtswinder, die an ihrem Wirt emporranken (wie die Passionsblumen; siehe Abschn. 6.6.2). Es gibt Spreizklimmer, deren Blätter und Stängel zu Hakendornen umgestaltet sind und Haftwurzler. Erst wenn sie die Baumkronen und damit das Sonnenlicht erreicht haben, entwickeln alle diese Kletterpflanzen zuerst eine Art verzweigte Kronen, bis sie schließlich – häufig erst nach vielen, manchmal sogar erst nach 20 Jahren – blühen und fruchten. Kletterpflanzen können viele Jahrzehnte alt werden, ihr verholzter Hauptstamm kann so dick wie ein Oberschenkel werden und ihre Stämme bilden oft eigenartige frei hängende Biegungen, Schlaufen und Bögen zwischen den Bäumen. Diese sind Relikte der Vergangenheit, als die aktuellen Verbiegungen noch an Stämmen emporwuchsen, die schon lange nicht mehr existieren. In einem Lianenspross sind häufig voneinander getrennte dünne Stränge von Gewebe vereinigt – wie Kabelbündel mit dünnen Drähten, so sind sie

106     L. Staeck

biegsam und zäh (Abb. 5.21) und können auch 100 m Länge erreichen. Lianen gehören vielen unterschiedlichen Pflanzenfamilien an, so etwa Passifloraceae, Curcubitaceae, Vitaceae, Convolvulaceae oder Fabaceae. Weiterhin gibt es Lianenarten, die – umgekehrt – auf ihrem Trägerbaum keimen, dann zuerst epiphytisch leben mit unmittelbarem Zugang zum Sonnenlicht. Von dort aus entwickeln sie bald lange, dünne Luftwurzeln, die frei schwebend oder den Wirt umklammernd nach unten wachsen. Hierzu zählen vor allem die vielen Vertreter der großen Pflanzenfamilien der Aronstabgewächse (Araceae), der Maulbeergewächse (Moraceae) sowie der Leguminosen (Fabaceae), wie zum Beispiel die Gattung Bauhinia, genannt „Affenschaukel“ wegen ihrer wellenbandförmigen Sprosse. Wenn diese den Boden (oder die Wasseroberfläche eines Flusses) erreicht haben, erstarken ihre (Luft-)Wurzeln durch die erhöhte Nährstoff- und Wasserversorgung und bilden rasch viele weitere Sekundärstämme aus. Schließlich hat sich – vielleicht nach 50 Jahren – die Größe und flächenmäßige Ausdehnung der Ursprungspflanze um das 100- oder gar 1000-Fache erhöht. Ihre Krone überragt mittlerweile deutlich die ihres Wirtes. Es gibt zahlreiche Feigen- und Würgefeigenarten, die diese Wachstumsstrategie praktizieren.

Abb. 5.21  In einem alten Lianenspross sind häufig voneinander getrennte dünne Gewebestränge vereinigt – wie Kabelbündel mit dünnen Drähten, so sind sie biegsam und zäh

5  Der Regenwald     107

Es gibt jedoch auch Würgefeigenarten, die ihr Leben lang auf dem ursprünglichen Trägerbaum sitzen bleiben, nachdem sie im Waldboden oder auf seiner Astgabel zur Keimung kamen. Ihre roten oder gelben Früchte sind für Vögel sehr attraktiv. Sie enthalten Zucker, aber sie führen auch ab. So muss sich der Vogel nach dem Genuss bald erleichtern und dies tut er gewöhnlich auf einem Ast. Dort werden dann auch die Samen abgelegt, und es dauert nicht lange, bis eine weitere Würgefeige zu keimen beginnt. Der Sieger des lautlosen Kampfes, mag dieser auch viele Jahrzehnte dauern, steht von Anfang an fest: Es ist stets die Würgefeige. Im Laufe der Jahre umgibt sie ihren Wirt mehr und mehr mit einer tentakelartigen Rinden- und Holzstruktur, bis diese den Stamm des Wirtes völlig umschließt (Abb. 5.22 und 5.23) und ihn wortwörtlich erstickt. Dies ist dann der „Würgezeitpunkt“, dem Trägerbaum wird Luft und jede Wachsmöglichkeit genommen, er stirbt. Die Würgefeige hat seine Stelle eingenommen, ein frei stehender Baum von bis zu 50 m Höhe und einer eigene Krone mit einer Spannweite von mehr als 40 m. Dieser fängt an zu blühen und zu fruchten und der beschriebene Zyklus beginnt von vorn.

Abb. 5.22  Eine Würgefeige zu Beginn ihres Wachstums: Tentakelartig beginnt sie ihren Wirt zu umwachsen

108     L. Staeck

Abb. 5.23  Eine Würgefeige hat bereits ihren Trägerbaum fast völlig umschlossen

5  Der Regenwald     109

Abb. 5.24  Nach vielen Jahrzehnten ist der Kampf vorbei: Die Würgefeige hat den Platz ihres Wirtes eingenommen. Der Hohlzylinder markiert den Raum des ehemaligen Trägerbaumes

Ab und zu passiert es, dass der erstickte morsche Ursprungsbaum allmählich zerfällt, sodass ein Hohlzylinder entsteht, der vom tentakelartigen Holz der neu entstandenen Würgefeige umgeben ist (Abb. 5.24).

5.10 Zusammenfassung: Aufbau des Regenwaldes Der Aufbau und die Zusammensetzung des Amazonas-Regenwaldes vom Erdboden bis zur Höhe sind also anders strukturiert als bei unseren Wäldern, wenngleich hier wie dort alle Pflanzen zum Licht streben. Zusammenfassend besteht der Urwald aus drei, nicht deutlich ausgeprägten Stockwerken: In Erdbodennähe gibt es – wie bereits erwähnt – wegen des dort herrschenden Lichtmangels nur Sämlinge, ein- bis zwei Meter lange Baumschößlinge („Oskars“ ) sowie nur wenige krautige Pflanzen und praktisch keine Sträucher. Hier im Schatten liegen auch die Früchte und Samen der Bäume bereit: Man findet die wenigen großen und schweren Samen der langsam wachsenden Hartholz-Klimaxarten, die nicht weit von ihrer Mutterpflanze hinunter gefallen sind. Sie liegen wie in einer Samenbank in Wartestellung (die auch lang andauern kann). Vor allem in der Nähe zum Flussufer findet man in reicher Anzahl kleine Samen lichtbedürftiger, schattenintoleranter

110     L. Staeck

Pionierarten wie die Cecropien (Abschn. 6.1.1 und Abb. 6.1). Pionierarten leben jedoch auch im Waldesinneren, allerdings in geringer Zahl. Ihre Samen sind dormant (= „schlafend“), das heißt, sie sind zur langen Keimruhe fähig. Sie sind also „für alle Fälle“ gewappnet; denn es muss sehr schnell gehen, wenn eine plötzliche Baumlücke entsteht. Schon eine kurzfristige Erhöhung des Weißlichtes in Gestalt wandernder Sonnenflecken auf dem Waldboden wirkt bei diesen Licht- und Temperaturkeimern keimungsinduzierend, was ein Wettbewerbsvorteil ist. Die Temperatur schwankt in Höhe des Bodens im Verlauf eines Tages nur um ein bis zwei Grad Celsius, da kaum Sonnenlicht dorthin gelangt (Abb. 5.25). Die Blätter der Pflanzen sind groß, meist mit einer Träufelspitze zum raschen Abführen des Regenwassers versehen. In diesem Raum des Regenwaldes haben ca. 14 Vogelarten ihr Habitat. Die wenigen Schmetterlinge sind überwiegend dunkel oder metallisch gefärbt. Blüten sind nur selten zu sehen, dafür liegen am Boden oft Blütenreste, die aus dem Kronendach hinunter gefallenen sind. Bei einer ersten Wanderung durch den Wald sind deshalb viele Besucher enttäuscht, da ihre Vorstellung vom Urwald durch gemalte Bilder voll mit blühenden Pflanzen, bunten Vögeln und herrliche gefärbten Schmetterlingen geprägt ist. Nur fünf Prozent des Regenwaldes sind uns Menschen unmittelbar zugänglich, da wir in dieser Welt von Bäumen mit unserer Voraussicht nur auf die unteren zwei Meter beschränkt sind. Tatsächlich bewegen wir Menschen uns im Verdauungstrakt des Waldes. Denn hier am Urwaldboden werden die noch mit Nährstoffen beladenen hinunter gefallenen Laub- und Blütenblätter, Früchte und Samen, Tierexkremente und -kadaver durch Bodenorganismen und dem Mykorrhiza „verdaut“, genauer recycelt. Wenn man genauer hinschaut, bemerkt man vielleicht ab und zu einen Frosch oder auch unterschiedliche Reptilienarten, zum Beispiel Eidechsen, Anolis, Schienenechsen (Teiidae), Skinke oder auch einmal eine Schlange, interessante Ameisenarten (Blattschneiderameisen, Bullenameisen) und auf den Baumstämmen Termitenbauten (Abschn. 9.10 und 9.11). Das zweite Stockwerk – die Mittelschicht – wird aus einer Vielzahl von Bäumen gebildet, die mehr oder weniger ein einheitliches Kronendach ausbilden. Hier schwankt die Temperatur während eines Tages um sieben Grad Celsius und ca. 70 Vogelarten haben hier ihren Lebensraum (Abb. 5.25); man hört sie zwar, sieht sie jedoch kaum. Zwei Drittel allen Lebens spielt sich hier in den Baumkronen ab. In diesem Stockwerk und im Bereich der Baumriesen blühen und fruchten auch die meisten Bäume sowie die Epiphyten und Lianen, doch wir sehen dies alles kaum vom Erdboden aus, vielleicht mit dem Fernglas. Je höher es nach oben geht, umso bunter sind Blüten, Schmetterlinge, Vögel. Diese auffallenden Farben dienen der

5  Der Regenwald     111

Abb. 5.25  Aufbau des Amazonas-Regenwaldes

­ arnung, denn sie sind in dem ständigen Wechsel von Licht und Schatten T ebenso wie metallische Farben (etwa bei den Kolibris) kaum zu erkennen. Diese perfekte Tarnung wirkt wie eine Somatolyse: Der Körperumriss wird im Mosaik der Blätter im Verbund mit Licht und Schatten aufgelöst. Die Laubblätter sind hier erstaunlich einheitlich gestaltet. Sie sind klein, oval, derb und meist mit einer Wachsschicht abgeschlossen – das alles dient dem Verdunstungsschutz bei der hohen Sonneneinstrahlung. Die Baumriesen („Kathedralen“) bilden mit ihren Stämmen und gewaltigen Kronen das oberste Stockwerk (Abb. 5.25). Hier schwankt die Temperatur während des Tages am stärksten, nämlich um neun bis zwölf Grad Celsius, und nur zwei Vogelarten haben hier ihr Habitat. Manchmal sieht man die kunstvoll aus Palmenfasern gefertigten Webervogel ähnlichen Nester der Krähenstirnvögel (Psarocolius decumanus; auf Englisch Oropendola ), die bevorzugt in hohen Kapok-Bäumen nisten (Abb. 8.62b). Unsere Wälder hingegen haben drei ausgeprägte Stockwerke, bestehend aus der Krautschicht (zum Beispiel Farne, Moose und Blaubeerpflanzen), der Strauchschicht (zum Beispiel Holunder, Pfaffenhütchen oder Vogelbeere) und der Baumschicht (etwa Linde, Buche oder Birke). Lianen gibt es nur sehr wenige (zum Beispiel Efeu) und auch Epiphyten wie die Mistel sind extrem selten.

6 Blütenpflanzen am und im Wasser

6.1 Bäume 6.1.1 Schildblättriger Ameisenbaum (Cecropia peltata) – Brennnesselgewächse (Urticaceae) Es gibt eine Gruppe von Bäumen, der man während einer Reise entlang des Amazonas immer begegnet: Pioniergehölze mit hohem Lichtbedarf, die leicht am Ufer aller Weißwasserflüsse und an den inneren Mäanderbögen des Hauptstromes, wo sich in der Trockenzeit Sandbänke ablagern, zu erkennen sind. Es sind die Ameisenbäume (Cecropien), eine Gattung, die mehr als 60 verschiedene Arten umfasst. Nach neuesten genetischen Untersuchungen wurde diese Gattung in die Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae) eingeordnet. Sie haben überwiegend schlanke, fast weiße Stämme mit weichem Holz und bleiben als typische Pionierbäume mit etwa zehn bis 20 m eher niedrig. Die weißen Stämme sind ein Anpassungsmerkmal an den extremen Standort mit bis zu zwölf Stunden Sonneneinstrahlung pro Tag. Die weiße Rinde reflektiert das Sonnenlicht, während dunkle Stämme das Licht absorbieren. Ihre auffallend großen, an langen Blattstielen, meist zehnzipfeligen silbrig-grünen Blätter erinnern entfernt an unsere Kastanie (Abb. 6.1). Die großen Blattknospen leuchten dunkelrot am Baum und sehen auf den ersten Blick wie Blütenknospen aus. Der Blattumfang ist meist nahezu kreisrund. Diese Pionierbäume stellen keine Ansprüche an eine besondere Bodenqualität, und sie sind die ersten, die nach einer (natürlichen) Katastrophe wie Feuer oder Überschwemmung © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_6

113

114     L. Staeck

Abb. 6.1  Der Schildblättrige Ameisenbaum ist ein Pioniergehölz mit hohem Lichtbedarf

oder nach dem Abholzen des Urwaldes in dem nunmehr freien Gelände keimen und blitzschnell emporwachsen: Sie wachsen vier Meter oder sogar mehr im Jahr und erreichen in drei Jahren eine Höhe von bis zu zehn Metern. Auch eine nach dem Ende der Regenzeit neu entstandene Sandbank kann so, wie oben angedeutet, in kurzer Zeit neu besiedeln werden, sodass im Folgejahr trotz einsetzender Überflutung die durchwurzelte Sandbank mit ihrem Cecropien-Bewuchs erhalten bleibt. Während der Regenzeit stehen diese Bäume monatelang im Wasser. Sie sind wahrlich die typischen Erstbesiedler des Amazonas-Regenwaldes. Ihre Lebenszeit ist jedoch bei den meisten Arten auf etwa 20 Jahren begrenzt, sie bereiten indes in dieser Zeit den Boden für nachfolgende, anspruchsvollere Baumarten vor, die bereits unter ihren Kronen zu wachsen beginnen. Cecropien sind zweihäusig, das heißt, es gibt männliche und weibliche Bäume. Männliche wie weibliche Blütenstände setzen sich aus Blütenstielen mit mehreren Ähren zusammen. Die männlichen sind gelblich und bestehen aus unzähligen winzigen Staubbeuteln, die weiblichen sind grau-grün und sehen wie Würstchen aus. Die Fertilität eines einzigen Ameisenbaumes ist – typisch für Pionierbäume – beeindruckend. Hochrechnungen ergaben, dass ein Baum pro Jahr bis zu 900.000 winzige Samen produziert, die bis zu

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     115

zehn Jahren keimfähig sind. Die Früchte sind die Lieblingsspeise bestimmter Fledermäuse und diese sorgen auf diese Weise für die massenhafte Verbreitung der Samen vor allem an den Flussufern. Auch eine Reihe von Fischarten frisst die ins Wasser fallenden Früchte und trägt damit ebenfalls für die Verbreitung der Cecropien bei. Warum aber heißen sie Ameisenbäume? Sie leben in einer engen Lebensgemeinschaft mit den Völkern der Ameisengattung Azteca. Mehr als 80 % der aufkommenden jungen Cecropien, die zwischen April und Oktober im nahen Uferbereich im Wasser stehen, sind mit Völkern dieser Ameisenart besiedelt, wobei die Individuenzahlen in die Millionen gehen. Es sind winzige, kaum zwei Millimeter lange rötliche Ameisen. Sie heißen nicht ohne Grund auch Feuerameisen. Nachdem ich vom Kanu aus mit der Machete Sprossstücke junger Cecropien abhackte, um zu zeigen, dass diese innen hohl sind und von diesen Ameisen bewohnt sind, schwärmten sofort Heerscharen aus. Sie stürzten sich sofort auf mich und meine Nachbarn im Boot und bissen aggressiv auf uns ein. Jeder einzelne Biss schmerzt für kurze Zeit heftig wie Stiche von Stecknadeln und wenn Hunderte von ihnen auf unseren Körpern ausschwärmen, kann man sich leicht vorstellen, dass es lange dauert, bis die letzte beißende Ameise erwischt wird. Die Abb. 9.16 ist demnach unter erheblichen körperlichen Einsatz entstanden. Die meisten dieser Cecropien-Arten leben in einer engen Symbiose mit diesen Ameisen (Abschn. 9.10). Kletternde Fressfeinde, wie z. B. Blattschneiderameisen, werden ebenfalls erkannt, sofort attackiert und vertrieben. Durch die Ausscheidungen der Millionen von Individuen erhalten diese Bäume zudem einen wertvollen Dünger. Ein Fressfeind wird allerdings übersehen: das Faultier, das sich offenbar so langsam auf den Cecropien bewegt, dass die Ameisen es beim Fressen seiner saftigen Lieblingsblätter schlicht nicht erkennen. Tipp Wenn man mit dem Boot die Flussufer entlang fährt, lohnt es sich, mit dem Fernglas die Wipfel der Ameisenbäume nach Faultieren abzusuchen, die – optimal getarnt – wie ein Haufen welker Blätter aussehen und hoch oben in den Bäumen sitzen.

Übrigens nutzen die Caboclos die Blätter des Schildblättrigen Ameisenbaumes (Cecropia peltata) für medizinische Zwecke. Die Blattinhaltsstoffe senken den Blutzuckerspiegel und ein Tee aus den Blättern wird gegen

116     L. Staeck

grippale Infekte getrunken. Hierfür werden in einem Aufguss 100 g Blätter mit einem Liter kochendem Wasser überbrüht und der Sud getrunken.

6.1.2 Gustavia (Gustavia superba) – Deckeltopfgewächse (Lecythidaceae) Eine weitere auffallende Baumart, die sich gern an solchen Ufern der Weißwasserflüsse ansiedelt, die saisonal überschwemmt werden, fällt schon von weitem durch ihre handgroßen, prächtigen Blüten auf, die ab April im Blättergrün wie Kerzen leuchten. Dieser immergrüne, meist buschartig ohne erkennbare Spitze wachsende Baum von sechs bis zehn Metern Höhe wurde nach dem schwedischen König Gustav III (1746–1792) benannt (Abb. 6.2). Der Artname superba bedeutet „erhaben“ und bezieht sich auf die auffällige, angenehm duftende Blüte. Die meist endständigen Blüten stehen in Trauben, wobei in der Regel nur eine oder zwei Blüten offen sind, während sich die übrigen noch in unterschiedlichen knospigen Entwicklungsstadien befinden. Die cremig-weißen, zu Blühbeginn mit einem rosafarbenen Hauch überzogenen, löffelförmigen Blütenblätter sind besonders attraktiv. Im Blütenzentrum steht eine Unmenge ebenso attraktiver, in dicht gedrängten Ringen angeordneter hellgelber Staubgefäße, deren zitronengelbe Staubbeutel nach innen gebogen sind. Diese markante Anordnung sieht

Abb. 6.2 Der Gustavia-Baum hat zart duftende, prächtige Blüten

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     117

wie ein Reifen aus. Die auffälligen, etwa acht Zentimeter großen, becherförmigen, verholzten Früchte werden von einem flachen Deckel verschlossen (siehe Familienname). Der Gustavia-Baum ist mit dem Paranussbaum verwandt, so haben die Früchte eine ähnliche Gestalt. Bei der Paranuss bleibt jedoch der Deckel auch nach der Samenreife geschlossen, sodass die Früchte mit allen Samen bei der Reife zu Boden fallen und so leicht aufgesammelt werden können. Der bei der Samenreife abgesprengte Fruchtdeckel gibt zahlreiche winzige, schwarz-glänzende Samen frei, die ein gelbes Samenhäutchen (Arillus) tragen.

6.1.3  Eschweilera ovata – Deckeltopfgewächse (Lecythidaceae) Dieser bis 18 m hohe, immergrüne Baum mit ausladender Krone wächst mit Vorliebe an den zur Regenzeit überschwemmten Ufern von Weißwasserflüssen. So gelangen seine Samen bei der Reife ins Wasser und tragen auf diese Weise zur leichten Verbreitung dieser Baumart bei. Während seiner Blütezeit im Mai sieht man noch mehrere Kilometer flussabwärts seines Standortes die dekorativen, ins Wasser gefallenen Blüten, die bis auf den Blütenboden mit dem Fruchtknoten noch unversehrt sind und wie kleine gelbe Segel im Wasser treiben. Dieser Blütenabwurf ist typisch für viele Angehörige der Deckeltopfgewächse, etwa den Paranuss- und Paradiesnussbaum, die häufig ihre nahezu intakten Blüten abwerfen. So lässt sich der Blütenaufbau gut studieren und fotografieren, was sonst unmöglich ist, da die Blüten hoch oben in den Baumkronen sitzen. Die wohlriechenden Blüten sitzen meist in einer kurzen Traube. Der Blütenaufbau aller Deckeltopfgewächse ist kompliziert und nicht einfach erkennbar. Bei der vorliegenden Art sitzen die zahlreichen, zitronengelben Staubgefäße in einem engen Ring dicht gedrängt im Zentrum der sechs großen cremefarbigen Blütenblätter (Abb. 6.3). Über diesen Ring stülpt sich auf der einen Seite eine gelbe Haube, die die Staubgefäße teilweise bedeckt. Bestäubende Insekten müssen unter diese Haube kriechen, um an die Pollen zu gelangen, wobei sie die Blüte bestäuben. Die rundlichen zehn Zentimeter großen Kapselfrüchte bleiben – anders als etwa beim Paranussbaum – nach der Reife am Baum hängen. Ihr Deckel wird jedoch abgesprengt, wobei die zwei Samen – oft ins Wasser – entlassen werden. Die mit einem cremefarbenen Samenhäutchen (Arillus) besetzten Samen werden gern von Nagetieren wie Hörnchen oder Stachelratten und Fischen gefressen. Namensgeber ist der deutsche Botaniker Franz Gerhard Eschweiler (1796–1831), der Artname ovata bedeutet „eirund“ und bezieht sich auf die Fruchtform.

118     L. Staeck

Abb. 6.3  Die attraktiven Blüten des Eschweilera-Baumes bestechen durch ihre zahlreichen, ringförmig angeordneten, zitronengelben Staubgefäße, die im Zentrum der cremefarbigen Blütenblätter sitzen

6.1.4  Campsiandra comosa – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Auch dieser mittelgroße, kaum zwölf Meter Höhe erreichender Baum steht bevorzugt an Weißwasserflussläufen. Erkennbar ist er vor allem, wenn im März/April die bis 25 cm großen hell- bis schokoladenbraunen, verholzten, leicht gekrümmten Hülsen in großen Mengen an den Zweigen hängen (Abb. 6.4). Wenn man diese hübschen Früchte trocknen lässt, brechen die Fruchtschalen spiralförmig auf und geben bis zu zehn, nahezu runde, glänzend-kastanienbraune, hartschalige Samen frei, die deutlich größer als eine Zwei-Euro-Münze sind. Die einheimische Bevölkerung verwendet die gemahlenen Samen als Zugabe für Mehlspeisen. Der Rindenextrakt soll Durchfall stoppen und die Bewohner in Spanisch sprechenden Regionen benutzen den Rindensaft unter dem Namen Huacapurana, um ZeckenBorelliose zu bekämpfen.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     119

Abb. 6.4  Mit Beginn der Regenzeit hängen unzählige, 25 cm lange verholzte Hülsen am Campsiandra-Baum

Die ab Oktober sichtbaren hübschen, ährenförmigen Blütenstände enthalten zahlreiche kleine, fünfzählige Blüten mit weißen Blütenblättern, die – bevor sie aufblühen – an ihren Außenseiten blutrot gefärbt sind. Besonders auffallend sind zahlreiche lange, weiß-rote Staubgefäße, die einen dunkelroten Staubbeutel tragen (Abb. 6.5). Der Gattungsname setzt sich zusammen aus campsis (= sich krümmen) und aner (= männlich) und bezieht sich auf die Form der Staubgefäße bei einigen Arten. Der Artname comosa bedeutet „schopfartig“ und nimmt damit Bezug auf dem endständigen Blütenstand.

6.1.5  Parkia discolor – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Dieser immergrüne, bis 15 m hohe Baum mit dichter Krone ist ein sonnenliebendes schnellwachsendes Pioniergehölz, das mit Vorliebe am überschwemmten Ufer der Várzeas steht, aber auch gern am Rande der Schwarzwasser-Igapós wächst – ohne besondere Bodenansprüche. Sandige, nährstoffarme Böden reichen dieser Baumart völlig. Vermutlich lebt er in Symbiose mit Bodenbakterien, die ihn mit dem notwendigen Stickstoff versorgen. Seine hübschen Laubblätter sind Fiederblätter, die aus doppelt gefiederten, bis zu 50 Einzelblättchen bestehen.

120     L. Staeck

Abb. 6.5  Die vor dem Aufblühen blutrot gefärbten Blüten des Campsiandra-Baumes sitzen dicht gedrängt in einem Blütenstand zusammen

Der Parkia-Baum ist leicht identifizierbar, wenn er zwischen August und November blüht, denn seine Blütenstände sind einzigartig, seltsam und unverwechselbar (Abb. 6.6)! Sie sehen wie die Fruchtkörper eines Pilzes aus und sind scharlachrot gefärbt. Die langgestielten Blütenstände hängen an den Zweigen und sind so hervorragend auch für ihre nächtlichen Bestäuber erreichbar: nachtaktive Fledermäuse. Tagsüber kommen Bienen, um sich Nektar abzuholen. Jeder Blütenstand weist eine interessante „Arbeitsteilung“ auf: Die zuoberst sitzenden sterilen Blüten mit den langen, haarförmigen, knallroten, blütenartigen Staubgefäßen (der „Pilzhut“) dienen zum Anlocken der Bestäuber. Darunter befindet sich eine schmale Zone kleiner, steriler Nektar produzierender Blüten. Der untere Abschnitt (der „Pilzstiel“) ist mit vielen winzigen fruchtbaren Blüten besetzt. Die bis zu 15 cm langen, rotbraunen Hülsen (Abb. 6.7) enthalten Samen, die bei den Caboclos mit auf dem Speiseplan stehen. Als Namensgeber dient der schottische Forschungsreisende Mungo-Park (1771–1805). Der Artname discolor bedeutet „verschiedenfarbig“ und bezieht sich wohl auf die unterschiedliche Rotfärbung des Blütenstandes.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     121

Abb. 6.6  Der pilzartige Blütenstand des Parkia-Baumes ist einzigartig

6.1.6 Wasserkastanie (Pachira aquatica) – Malvengewächse (Malvaceae) Weitere Namen: Provision Tree, Malabar Chestnut Dieser immergrüne Laubbaum von bis zu 14 m Wuchshöhe und breit ausladender Krone ist ein sonnenliebendes Pioniergehölz, das gern längere Zeit im Wasser steht. So findet man ihn häufiger in den Überschwemmungswiesen der Várzeas. Seine gestielten Laubblätter sind zusammengesetzt und handförmig. Zwischen September und Dezemberr erscheinen am Astende einzelne äußerst dekorative, bis 15 cm lange Blüten, die an große Rasierpinsel erinnern (Abb. 6.8). Zwischen den vier langen, lanzettförmigen, zuerst cremegelben, später dunkelroten Blütenblättern sitzen viele lange weiße, an der Spitze rote Staubgefäße mit roten, später gelben länglichen Staubbeuteln. Zwischen ihnen ragt der lange, rote Stempel empor. Diese Blüten werden von Fledermäusen bestäubt. Die imposanten, bis 30 cm

122     L. Staeck

Abb. 6.7  Die Früchte des Parkia-Baumes wachsen zu 15 cm langen, rotbraunen Hülsen heran

langen verholzten braunen Früchte beherbergen zahlreiche Nüsse (Abb. 6.8), die von den Caboclos roh oder geröstet gegessen werden (siehe den deutschen Namen). Die Wasserkastanie ist auch wegen ihrer dekorativen Blätter eine beliebte Zimmerpflanze, die ganzjährig in der Wohnung gepflegt werden kann. Abgeschnittene Blattstiele bewurzeln leicht, wenn man sie in ein Wasserglas stellt.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     123

Abb. 6.8  Die dekorativen Blüten der Wasserkastanie sehen einem Rasierpinsel ähnlich. Ihre bis zu 30 cm langen Früchte beherbergen zahlreiche essbare Nüsse

Der Gattungsname Pachira ist ein Eigenname der Indianer in Guayana, wo dieser Baum erstmalig bestimmt wurde. Der Artname aquatica bedeutet „im Wasser“ und bezieht sich auf den bevorzugten Standort dieser Art. Früher wurde diese Baumart der Pflanzenfamilie der Wollbaumgewächse (Bombacaceae) zugerechnet.

6.1.7 Falscher Kapokbaum (Pseudobombax munguba) – Malvengewächse (Malvaceae) Weitere Namen: Pseudobombax, Munguba-Baum Dieser schnellwachsende, sonnenliebende Pionierbaum wird bis zu 30 m hoch. Er ist auf feuchte Standorte angewiesen und überdauert ohne Probleme das monatelange Stehen im Wasser. Man findet ihn deshalb vor allem in Überschwemmungswiesen der Várzeas. Auffallend sind seine imposanten rotbraunen Früchte, die am Ende der Regenzeit im Mai am Baum hängen bleiben, während die Laubblätter allmählich abfallen (Abb. 6.9). Die Samen werden von Affen, Fledermäusen und Fischen gefressen. Zusätzlich findet

124     L. Staeck

Abb. 6.9  Die imposanten rotbraunen Früchte des Falschen Kapokbaumes hängen noch am Baum, wenn die Laubblätter bereits abgefallen sind

die Verbreitung durch ins Wasser fallende Früchte statt, die gern von Fischen gefressen werden. Ebenso eindrucksvoll wie die Früchte sind die apfelgroßen Blüten, die erst mit der Abenddämmerung aufblühen und in der aufziehenden Nacht bei Mondschein wie Kerzen leuchten. Die Blüten werden von Fledermäusen bestäubt. Sie scheinen nur aus cremeweißen Staubgefäßen zu bestehen (Abb. 6.10), die sich dicht an dicht in einer ungeheuren Fülle um den aus ihrer Mitte herausragenden stabilen, weißen Stempel mit kuppiger Narbe drängen. Die derben, weißlichen, lanzettförmigen Blütenblätter verkümmern schnell am Blütenboden. Früher wurde diese Baumart der Pflanzenfamilie der Wollbaumgewächse (Bombacaceae) zugerechnet, heute wird sie nur noch in die Unterfamilie der Bombacaceen eingeordnet. Sie ist auch mit den Affenbrotbäumen Madagaskars, Ost-Afrikas und Nordwest-Brasiliens verwandt. Der Begriff Bombax stammt vom griechischen bombyx ab und bedeutet Seide: Die Samen des Kapokbaumes (Ceiba) weisen an ihren Samen seidenähnliche Flugorgane

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     125

Abb. 6.10  Die cremeweißen Blüten des Falschen Kapokbaumes scheinen nur aus Staubgefäßen zu bestehen

aufweisen. Der hier beschriebene Baum ist zwar mit dem Kapokbaum verwandt, aber eben ein falscher Bombax (= Pseudobombax). Der Artname munguba ist ein Eigenname aus der Tupi-Sprache.

6.1.8 Schamlosbaum (Clitoria fairchildiana) – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Weiterer Name: Clitoria Diese Pflanze ist von ihrem Erscheinungsbild an den Ufern von Schwarzwassergewässern und seltener auch am Weißwasser eher ein großer Strauch als ein Baum. Das liegt an dem kurzen Stamm und der sich darüber ausbreitenden dichten Krone. Deshalb trägt die Clitoria auch den brasilianischen Spitznamen „Sombreiro“ (also wie ein Hut, der Schatten spendet). Sie ist als sonnenliebende, schnellwachsende und Hochwasser tolerante Pflanze ein Pioniergehölz, das sich gern auf abgeholzten Arealen ansiedelt. Es lebt in Symbiose mit Stickstoff-Bakterien, die in seinen Wurzeln atmosphärischen Stickstoff aufbereiten und diesen den Zellen verfügbar machen. Die Wurzeln enthalten wie bei vielen anderen Hülsenfrüchtlern Ruthenon. Dieser bedeutsame Pflanzensekundärstoff gehört zu den Isoflavonoiden bzw. Fucocumarinen, die entzündungshemmend wirken. Die einheimische Bevölkerung benutzt den Wurzelextrakt auch beim Fischfang zum Betäuben von Fischen.

126     L. Staeck

Abb. 6.11  Wegen ihrer Blütenform wird dieser Baum der „Schamlose“ oder Clitoria genannt

Nach der Blüte im April/Mai beginnen die Laubblätter abzufallen und die bohnenartigen, braunen Früchte reifen heran. Im Juni platzen sie explosionsartig auf und schleudern die purpurfarbenen Samen weit weg. Die dekorativen, etwa fünf Zentimeter langen Blüten sitzen in endständigen Trauben. Sie sind blass-violett mit purpurnen schmalen Längsstreifen und duften leicht. Ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit der weiblichen Vulva einschließlich der Klitoris verdankt sie ihren deutschen und internationalen Namen Clitoria (Abb. 6.11). Sie ist in Brasilien ein beliebter Straßen- und Parkbaum. Mit dem Artnamen fairchildiana wird der US-amerikanische Botaniker David Fairchild (1869–1959) geehrt.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     127

6.1.9 Affenschwanz-Baum (Inga edulis) – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Weitere Namen: Inga-Baum, Eiscreme-Bohne Diese Baumart wurde früher den Mimosengewächsen (Mimosaceae) zugerechnet, heute gehört sie nur noch zur Unterfamilie dieser Pflanzenfamilie und wird der Familie der Hülsenfrüchtler zugeteilt. Dieser immergrüne, eine Höhe von bis zu 15 m erreichende Baum ist sonnenliebend und Hochwasser tolerant. Er wächst gern in sumpfigen Überschwemmungsböden entlang von Weißwasserflüssen. Er gilt als Pioniergehölz, das in Sekundärwäldern häufig anzutreffen ist. Die Angehörigen der Gattung Inga kann man leicht an der auffallend großen Fülle ihrer meist weißen, aber auch gelblichen, häufig krauser Staubgefäße (Puderquastenblüten) identifizieren. Die gefiederten Laubblätter setzen sich aus vier bis sechs Paaren großer, ovaler Fiederblätter zusammen. Zwischen August und November erscheinen die endständigen Blütenstände. Die sitzende, leicht duftende Einzelblüte besteht aus einer recht unscheinbaren, weißlichen Kelchblattröhre, aus der eine große Zahl länglicher, an der Basis röhrig verwachsener, weißer Staubgefäße emporwachsen (Abb. 6.12a). Aus ihrer Mitte erhebt sich der ebenfalls schmale, weiße unscheinbare Stempel. Imposant sind die Früchte, die zwischen März und Mai reifen. Es sind bis zu 50 cm lange und ein bis drei Zentimeter breite, häufig verdrehte und in der Reife schwarze Hülsenfrüchte (deshalb der Spitzname „Affenschwanz“; Abb. 6.12b). Beim Aufbrechen der Frucht wird das cremig-weiße Fruchtfleisch sichtbar, in das acht bis 15 schwarz-glänzende Samen eingehüllt sind. Diese fleischig-cremige Masse schmeckt angenehm süß, fast vanilleartig, und wird direkt aus der Bohne gegessen, die Samen werden ausgespuckt. Auf den Märkten am Amazonas werden diese Früchte häufig angeboten. Das Fruchtfleisch wird zu süßen Nachspeisen wie Pudding und Eiscreme verarbeitet. Von den mehr als 250 Inga-Arten wachsen in der Amazonas-Region viele verschiedene

Abb. 6.12  a Die filigranen Blüten des Inga-Baumes, b Den bis zu 50 cm langen, schlanken Früchten verdankt der Inga-Baum seinen volkstümlichen Namen „Affenschwanz“

128     L. Staeck

endemische Arten, deren Früchte ebenfalls essbar sind, zum Beispiel die gelb blühende Inga pilosula. Der sirupähnliche Pflanzensaft wird als Tee gegen Bronchitis eingenommen oder auch zur Wundheilung verwendet. Das Holz dient zur Möbelherstellung. Der Gattungsname Inga ist ein Eigenname in der Tupi-Sprache, der Artname edulis bedeutet übersetzt „essbar“.

6.1.10 Mari-Mari-Baum (Cassia leiandra) – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Auch diese sonnenliebende Pionierart besiedelt gern saisonal überflutete Schwarz- und Weißwasserufer sowie Sekundärwälder in der Nähe von Lagunen und Kanälen. Mehrmonatige Überflutungen machen ihr nichts aus. Mari-Mari ist ein kleinerer, laubabwerfender Baum von etwa zehn Metern Höhe. Seine Fiederblätter bestehen aus neun bis zwölf Paar Fiederblättchen von vier bis sieben Zentimetern Länge. Der endständige, hängende 15 bis 20 cm lange Blütenstand kann mehr als 30 Einzelblüten enthalten und entfaltet sich von September bis Dezember. Die Blüten sind dekorativ zitronengelb und setzen sich aus je fünf Kelch- und Blütenblättern zusammen. Auch die vier Staubgefäße und der schmale Stempel sind hellgelb (Abb. 6.13). Die bis zu 50 cm langen, drei Zentimeter breiten,

Abb. 6.13  Der Mari-Mari-Baum hat große gelbe Blüten mit auffallenden Staubgefäßen

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     129

Abb. 6.14  Das grüne schmackhafte Fruchtfleisch umgibt die ringförmigen Samen des Mari-Mari-Baumes

rundlichen und leicht gebogenen, mit deutlichen Einkerbungen versehenen Früchte reifen zwischen März und Juni. Sie öffnen sich nicht bei vollendetet Reife. Die Ernte der Früchte erfolgt etwa im Februar, wenn die Früchte beginnen, sich von grün nach gelb-braun zu färben. Nach dem Aufreißen der Fruchtwände sieht man, dass die einzelnen runden Samen, durch stabile Scheidewände voneinander getrennt und von einem Ring aus grünem Fruchtfleisch umgeben sind (Abb. 6.14). Man greift sich mit den Fingern einen vom Fruchtfleisch umschlossenen Samen und lutscht den Samen ab, dann spuckt man ihn aus. Diese Masse schmeckt angenehm süß-sauer – wie die Kinder-Zitronendrops, die man bei uns kaufen kann. Auf den regionalen Märkten werden diese Früchte deshalb gern angeboten. Weltweit umfasst die auf die Tropen beschränkte Gattung Cassia mehr als 700 verschiedenen Arten, von denen eine Reihe – stets gelb blühende – auch in Amazonien endemisch sind.

6.1.11 Knoblauchsbirne (Crateva tapia) – Kreuzblütler (Brassicacea) Dieser immergrüne, sonnenliebende kleine Baum, bleibt oft strauchförmig, und erreicht auch bei guten Bedingungen eine Wuchshöhe von lediglich etwa acht Metern. Er steht gern am Ufer und ist hochwassertolerant. Seine

130     L. Staeck

Früchte fallen bei ihrer Reife zwischen Januar und Juni in das Wasser, wo sie von Fischen gefressen und so weiter verbreitet werden. An den endständigen Blütenständen, die zwischen August und September erscheinen, sitzen die Blüten in Trauben. Dabei sitzen die äußeren Blüten auf längeren Stängeln als die inneren, sodass alle Blüten ein gemeinsames Niveau erreichen. Die dekorativen Einzelblüten bestehen aus vier gegenständigen weißen Blütenblättern. Aus dem Blüteninneren ragen bis zu 20 langen rötlichen Staubgefäßen heraus, die sich bald hinunterneigen (Abb. 6.15a). In ihrer Mitte sitzt der etwas dickere blass rosafarbene Stempel, der zur Narbe hin kolbig verdickt ist. Die auch zur Reife harten, grünlich-grauen, mandarinengroßen Früchte sind essbar und haben einen süßlichen Geschmack (Abb. 6.15b). Beim Aufschneiden verströmen sie einen leichten Knoblauchgeruch. Die Gattung Crateva kommt pantropisch – also weltweit – vor, früher wurde sie den Kapergewächsen (Capperaceae) zugerechnet.

6.1.12 Vielblättrige Akazie (Acacia polyphylla) – Hülsenfrüchtler (Fabaceae) Es überrascht, dass es am Amazonas Akazien gibt, die doch eigentlich in Australien zuhause sind. Dies liegt daran, dass Südamerika zusammen mit Afrika, Australien, Madagaskar und der Antarktis früher den großen Südkontinent Gondwana bildeten. Heute wächst die große Mehrheit der weit über 1000 Akazien-Arten in Australien. Die hier beschriebene Art ist ein sonnenliebender Pionierbaum, der gern an Flussufern wächst. Dort fällt er dem vorbei fahrenden Besucher auf, wenn er zwischen Dezember und April in voller Blüte steht. Als Pioniergehölz besiedelt er auch gern Sekundärwälder. Alle paar Jahre wirft er auch seine Blätter ab, wenn zwischen August und September seine Früchte reifen. Diese Akazie ist ein dorniger Baum mit runder, dichter Krone, der bis zu 20 m Höhe erreicht. Seine dekorativen Fiederblätter von bis zu 26 cm Länge gliedern sich in jeweils zehn bis 16 Fiederblättchen, die jeweils sechs bis acht Zentimeter lang sind. Der Blütenstand ist eine endständige Rispe von weißen Blütenköpfchen. Die etwa sechs Zentimeter langen, flachen, braune Hülsen springen bei der Reife auf und entlassen ihre Samen in das Wasser. Der Gattungsname kommt vom Griechischen akakia, was „Dorn“ bedeutet. Früher wurden die Akazien zu den Mimosengewächsen gerechnet, heute gehören sie nur noch zur Unterfamilie der Mimosoideae.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     131

Abb. 6.15  a Blütenstand der Knoblauchsbirne, b Die runden, leicht nach Knoblauch duftenden Früchte der Knoblauchsbirne werden gern von Fischen gefressen

132     L. Staeck

6.1.13 Mauritius-Palme (Mauritia flexuosa) – Palmengewächse (Arecaceae) Weitere Namen: Buruti-Palme (brasilianisch), Morich Palm (spanisch) Diese Palmenart ist unter den mehr als 300 Palmenarten Brasiliens aufgrund ihrer stattlichen Wuchsform und ihrer Früchte unverwechselbar. Sie stellt eine dekorative Charakterpflanze vor allem am Unterlauf des Amazonas und seiner Nebenflüsse dar. Sie ist sonnenliebend und wächst gern in Sümpfen und periodisch überfluteten Ufersäumen. Sie entwickelt einen mächtigen, bis 30 m hohen Stamm, bei einem Durchmesser von bis zu 80 cm. Auch ihre Krone ist besonders ausladend und halbkugelförmig, da die lebenden Blattwedel meist nach oben oder horizontal wachsen. Auch die Blattwedel sind mit bis zu 4,5 m sehr breit, und ihr Blattstiel ist ebenfalls von bis zu neun Metern extrem lang. Der gewaltige Blütestand besteht aus zahlreichen, einem Vorhang ähnelnden, cremefarbenen, ca. 60 cm langen Seitenzweigen, an denen dicht gedrängt die kleinen Blüten sitzen. Die gewaltigen rotbraunen Fruchtstände reifen zwischen Dezember und Juni und sind bereits aus der Ferne gut zu erkennen (Abb. 6.16). Die Verbreitung der Samen

Abb. 6.16  An den mächtigen Mauritius-Palmen hängen die auffallenden, großen, rot-braunen Fruchtstände. Die essbaren, dekorativen Früchte sind mit großen Schuppen bedeckt, die nach dem Wässern mit dem Fingernagel abgezogen werden können

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     133

geschieht über die Strömung und über viele verschiedene Tiere wie Agutis, Tapire, Pekaris, Affen und natürlich Fische, die diese Früchte besonders mögen. Die zahlreichen, in einem Jahr bis zu 5000, acht Zentimeter langen, kugeligen, sehr dekorativen Früchte sind mit großen Schuppen bedeckt (Abb. 6.16). Diese Palmenart dient der lokalen Bevölkerung als Nahrungsund Nutzpflanze. Alexander von Humboldt nannte sie deshalb in seinen Schriften „den „Baum des Lebens“, da so viele Dinge mit der Existenz einer einzigen Palme verknüpft sind. (…) So finden wir auf der untersten Stufe menschlicher Geistesbildung die Existenz eines ganzen Völkerstammes an fast einen einzigen Baum gefesselt“ (A. v. Humboldt: Ansichten der Natur. Berlin 1807, S. 33). Wenn die Früchte 24 Stunden  gewässert werden, kann man die ledrige Haut leicht mit dem Fingernagel abziehen. Dann wird das zitronengelbe Fruchtfleisch sichtbar, das eine harte Nuss beherbergt. Dieses an Vitamine C und A reiche Fruchtfleisch wird roh gegessen, zu Mehl verarbeitet oder zu Alkohol vergoren. Man kann aus dem Fruchtfleisch auch ein orange-rotes Öl gewinnen, das dreimal mehr Vitamin A enthält als Karotten. Es enthält zudem Oleinsäure mit einfach ungesättigten Fettsäuren und Carotinoide. Man benutzt es, um Süßspeisen herzustellen. Wenn der Blütenstand vor dem Aufblühen abgeschnitten wird, fließt ein süßer Pflanzensaft aus den Schnittstellen, der fermentiert wird und schließlich einen gut schmeckenden Buruti-Wein liefert. Die Knospen des Blütenstandes werden ebenfalls als Gemüse verwendet. Aus dem Stammgewebe wird eine sagoähnliche Stärke gewonnen. Die Blattfasern liefern Seile und Hängematten, aus dem Mark der Blattstiele werden Matten geflochten. Schließlich können die dicken Larven eines Palmen-Rüsselkäfers als Suri-Maden „geerntet“ werden, wenn diese ihre Eier in das Stammgewebe eingebracht haben (Abb. 3.2). Letztlich liefert der dicke Stamm Holz für den Hausbau und für Pieranlagen. Humboldt hatte also mit seinem Ausspruch durchaus Recht. Der Gattungsname Mauritia ehrt den Prinzen Moritz von Nassau (1567– 1665), Maurice ist die französische Fassung des Namens. Der Artname flexuosa bedeutet „gebogen, gekrümmt“ und bezieht sich auf die Wuchsform der Wedel.

6.1.14 Buçu-Palme (Manicaria saccifera) – Palmengewächse (Arecaceae) Weitere Namen: Ubuçu (brasilianisch) Auch diese Palmart ist von ihrem Erscheinungsbild so markant, dass sie unverwechselbar ist. Sie fällt sofort auf, wenn man am Ufer der Weißwasserflüsse

134     L. Staeck

Abb. 6.17  Die Buçu-Palme hat riesige, bis zu zehn Meter lange Fiederblätter

entlang fährt. Ihre Fiederblätter sind nämlich gigantisch und messen bis zu zehn Metern, sie gehören damit zu den größten Blättern der Welt (Abb. 6.17). Nach dem Absterben bleiben sie noch länger am Baum. Sie ist häufiger auch mehrstämmig, wobei die Stämme selbst mit drei bis fünf Metern Höhe eher kurz sind. Die Stammbasis ist mit vielen Wurzeln vergrößert. Sie wächst mit Vorliebe auf Sandböden sowie auf Überschwemmungswiesen (Várzeas) und ist sonnenliebend. Ihre Früchte hängen in Büscheln das ganze Jahr über am Baum. Sie sehen aus wie kleine Kokosnüsse. Die lokale Bevölkerung nutzt die Milch unreifer Früchte als Medizin gegen Husten. Der Stamm wird als Bauholz genutzt, die Blätter zum Dachdecken. Der Gattungsname Manicaria bedeutet „wie ein Ärmel“ und bezieht sich auf die Form der Tragblätter des Blütenstandes, der Artname saccifera bedeutet „sacktragend“ und bezieht sich ebenfalls auf die Form dieser Tragblätter (Brakteen).

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     135

Noch eine weitere Palme ist am Weißwasserflussufer leicht erkennbar: Die schlanke Açai-Palme mit dem kleinen Schopf aus Fiederblättern. Diese wird in Kap. 4 mit den Abb. 4.31 und 4.32 beschrieben.

6.2 Sträucher 6.2.1 Micky-Maus-Strauch (Ouratea lucens) – Nagelbeerengewächse (Ochnaceae) Weitere Namen: Carnival Bush (Karneval-Busch), Chupeta de Macaco (brasilianisch für „Affenschnuller“) Diese Pflanze ist ein reich verzweigter, zierlicher bis etwa drei Meter hoher Strauch, der in den Überschwemmungsgebieten von Schwarzwasserseen und -flüssen wächst und in der Regenzeit bis zu sieben Monate fast völlig im Wasser steht, ohne zu sterben. Die etwa zehn Zentimeter langen, ovalen Blätter sind ganzrandig, oft auffallend glänzend. Die kleinen Blüten sind goldgelb, wobei die je fünf Kelch- und Blütenblätter auf Lücke stehen. Im Zentrum stehen zahlreiche gelbe Staubgefäße. Die zahlreichen Stempel sind miteinander verwachsen und bilden einen gemeinsamen Griffel. Am Blütenboden sind sie jedoch voneinander isoliert, sodass es bei der Fruchtreife zu einer witzigen Anordnung kommt (siehe der deutsche Name). Die Früchte überraschen mit ihrer blütenähnlichen Form und Farbe. Die am Anfang erst grün-oliven, später schwarzen, länglich-ovalen ein bis zwei Steinfrüchte sitzen getrennt voneinander auf einem leuchtend roten, fleischig angeschwollenen Blütenboden. Wenn zwei schwarze Früchte auf dem rundlich-roten Blütenboden sitzen, sieht es aus wie ein ovaler Micky-MausKopf mit zwei schwarzen Ohren (Abb. 6.18), was dem Strauch den Namen gab. Manchmal gibt es sogar eine zusätzliche Zeichnung von Micky-Maus auf dem angeschwollenen ehemaligen Blütenboden, sogar die Augen fehlen nicht. Der Gattungsname Ochna bedeutet „wilder Birnbaum“ und nimmt Bezug auf die Form der Blätter. Der Artname lucens bedeutet „glänzend“ und bezieht sich auf die Oberfläche der Laubblätter. Eine recht ähnliche Blüte zeigt die Abb. 6.19, doch diese stammt von einem Baum aus dem Schwarzwasser-Überschwemmungswald Amazoniens mit dem Namen Heisteria spruceana, so benannt zu Ehren des deutschen Botanikers Lorenz Heister (1683–1758). Auch diese Blüten bezeichnen die Brasilianer gern als „Affenschnuller“. Sie gehören zur Familie der Olacaceae (Stinkholzgewächse), die einheimische Bevölkerung nennt diesen Baum auch Muruchi.

136     L. Staeck

Abb. 6.18  Die zwei schwarzen Früchte des Micky-Maus-Strauches sehen aus wie die Ohren der gleichnamigen Comicfigur. Die zusätzliche Zeichnung auf dem roten Blütenboden vervollständigt den Eindruck einer Micky-Maus-Figur

Abb. 6.19  Die Blüten des Heisteria-Strauches sehen dem Micky-Maus-Strauch ähnlich

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     137

6.2.2 Guaraná (Paullinia cupana) – Seifenbaumgewächse (Sapindaceae) Diese Pflanze ist ein verholzender, immergrüner Strauch, der auch unter günstigen Bedingungen – zum Beispiel am Flussufer – bis zu einer Höhe von etwa zwölf Metern klettern kann. Aus abgeschnittenen dünnen Zweigen fließt eine gummiartige Latex-Milch. Man erkennt ihn nur unter den vielen Pflanzen am Ufer, wenn seine dekorativen etwa zwei bis drei Zentimeter großen Früchte zwischen Februar und März reifen. Dann färben sie sich orange-rot bis rot und öffnen sich teilweise. Dadurch werden zwei (oder drei) tiefschwarze, zwölf Millimeter langen Samen sichtbar, die an ihrer Basis mit einem weißen, fleischigen Arillus (Samenmantel) umgeben sind. Die plakative Farbe der Früchte lockt Vögel an. Diese fressen den Samenmantel mit Samen und verbreiten damit diese Pflanze. Dieses Arrangement von Schwarz und Weiß ist sehr attraktiv und wirkt wie ein Auge. Hieran knüpfen auch zahlreiche Legenden des Guaraní-Volkes an. Auch der Pflanzenname ist dieser indianischen Ethnie entlehnt. Während der Fahrt entlang der Ufer von Schwarzwasserflüssen und -seen wird man eher diese Wildform der Guaraná sehen, etwa die verwandte Art Paullinia pinnata (Abb. 6.20a), und nicht die auf dem Markt nur im Dezember angebotenen größeren Plantagenfrüchte. Die Wildfrüchte sehen etwas anders aus als die kommerziell vertriebenen Paullinia cupana (Abb. 6.20b). Die kleinen, eher unscheinbaren, weißlichen, eingeschlechtlichen Blüten sind fünfzählig und blühen zwischen November und Dezember. Die Samen sind coffeinhaltig (drei bis sechs Prozent beziehungsweise 40 bis 90 mg je Gramm Trockenmasse) und werden von der lokalen Bevölkerung therapeutisch verwendet. Die Inhaltsstoffe wirken anregend, leistungsfördernd, dämpfen das Hungergefühl. Heute sind die Guaraná-Früchte ein Nahrungsergänzungsmittel, die Pflanzen werden in amazonasnahen Plantagen angebaut. Die geschälten und getrockneten Samen werden zu einem hellbraunen Pulver zermahlen, in Wasser aufgelöst, gesüßt und als Erfrischungsgetränk oder Energy-Drink getrunken. Ohne Zuckerzusatz schmeckt das Pulver herb und bitter. Die in dem Guaraná-Pulver enthaltenen Gerbstoffe sind leicht adstringierend und verzögern die Wirkung des Alkaloids Coffein. Als Nebenwirkung werden Schlafstörungen, Tachykardie (Herzrasen), Kopfund Muskelschmerzen beschrieben. Eine andere Paullinia-Art mit einem dekorativen gelben Samenmantel fand ich ebenfalls am Ufer eines Weißwasserflüsschens.

138     L. Staeck

Abb. 6.20  a Die Wildform des Guaraná-Strauches Paullinia pinnata, b Die Früchte der „echten“ Guaraná sehen aus wie Augen

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     139

Die Erstbeschreibung dieser Pflanzenart wurde von Karl Kunth, einem Botanikprofessor, vorgenommen, der 1801 die von Humboldt mitgebrachten Pflanzenproben auswertete. Der Gattungsname Paullinia ehrt den deutschen Arzt Simon Pauli den Jüngeren (1603–1680).

6.2.3 Goldtrompete (Allamanda cathartica) – Hundsgiftgewächse (Apocynaceae) Weitere Namen: Allamanda, Liane à Lait („Milchliane“) Dieser sonnenliebende, bis sechs Meter großer Strauch wächst gern an den Ufern von Weißwasserflüssen. Dort klettert er auch gern als Schlingstrauch. Der Strauch fällt dem am Flussufer entlang fahrenden Besucher leicht auf, da er stets sehr reich blüht und angenehm süß duftet. Da er sehr blühfreudig ist, wird er in Brasilien (inzwischen sogar weltweit in tropischen Regionen) häufig auch – kräftig zurückgeschnitten – als Bodendecker auf Mittelstreifen und Parkanlagen angepflanzt. Die glänzenden Laubblätter besitzen eine Träufelspitze. Die fast kugeligen, großen Kapselfrüchte sind mit bis zu 2 cm langen Stacheln besetzt. Seine dekorativen sonnengelben, wachsartigen und trichterförmigen großen Blüten stehen in endständigen Trugdolden, der Schlund erscheint leicht gerötet (Abb. 6.21a). Der Familienname setzt sich zusammen aus apo (= hinweg) und kynos (= Hund), was bedeuten soll: Halte diese Pflanzen „vom Hund fern“, denn ihr milchig aussehender Pflanzensaft ist giftig. Der Gattungsname deutet auf den Schweizer Botaniker Frederick Allamand hin. Dieser schickte 1770 Samen aus Surinam an Carl von Linné, der dann wiederum den Gattungsname vergab. Der Artname cathartica bedeutet sehr treffend „abführend“

Abb. 6.21  a Die Goldtrompete hat große Blüten, die der Form des Blechblasinstruments ähneln, b Die Schwester der Goldtrompete, Allamanda violacea, wächst als zartgliedrige Kletterpflanze in den Überschwemmungswiesen

140     L. Staeck

beziehungsweise „darmreinigend“ und weist damit auf die allesamt giftigen Pflanzenteile hin (siehe auch den Namen dieser Pflanzenfamilie). Die Raupen des Frangipani-Sphynx-Falters sind spezialisiert auf die Blätter der Goldtrompete (vgl. Abschn. 8.6). Trotz dessen Giftwirkung setzt die indigene Bevölkerung den Milchsaft der Blätter zuweilen als Abführmittel ein. In den Städten sieht man auch gezüchtete dunkelrote Sorten. In den Várzeas wächst zwischen Februar und Mai die verwandte Art Allamanda violacea, eine dekorative, zartgliedrige Kletterpflanze, die durch ihre violett-roten Blüten auffällt (Abb. 6.21b). Bei uns wird die Goldtrompete inzwischen in Gärtnereien angeboten. Über Grünstecklinge lässt sie sich leicht bewurzeln.

6.2.4 Kartoffelstrauch (Solanum spec.) – Nachtschattengewächse (Solanaceae) Weitere Namen: Enzian-Baum, Potato Tree („Kartoffelbaum“) Zur Familie der Nachtschattengewächse gehören weltweit mehr als 3000 Arten. Meist handelt es sich um Sträucher unterschiedlicher Wuchshöhe, wobei die größten bis sechs Meter erreichen können und bisweilen – wie bei den hier beschriebenen beiden Arten – wie kleinwüchsige Bäume erscheinen. Sie sind sonnenliebend, stehen oft am Rande der Weißwasser-Überschwemmungswiesen (Várzeas), mehrmonatige Überflutungen machen ihnen nichts aus. Oft zählen vor allem die hier beschriebenen Arten zu den ersten, die sich ansiedeln, wenn der Primärwald zerstört wurde. Die Blätter sind häufig groß und besonders im Alter gelappt. Ein besonderes Kennzeichen ist die Ausbildung von weichen Haaren auf allen Pflanzenteilen, wenn sie noch jung sind, und die Ausbildung von Stacheln auf den Blättern, der Sprossachse und am Blütenkelch. Bei Solanum crinitum setzen sich die großen, satt-lilafarbenen, der Kartoffel sehr ähnlichen Blüten aus fünfzähligen, sternförmigen, grünen Kelchblättern und ebenfalls fünfzähligen, größtenteils verwachsenen, gekrausten Blütenblättern zusammen (Abb. 6.22a). Die anfangs violetten Blüten bleichen rasch aus und sind schließlich fast weiß. Im Zentrum befindet sich der markante gelbe Staubblattkegel; die Staubblätter sind nach oben zugespitzt. Die erst grünlichen, später grau-grünen, mirabellengroßen Beerenfrüchte sind häufig essbar, bei der hier beschriebenen Art jedoch nicht. Die Frucht ist vor allem anfangs oft noch von den Kelchblättern umhüllt. Knollen wie bei der Kartoffel, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Bei der verwandten Art Solanum subinerme sind die fünf tief-violetten

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     141

Abb. 6.22  a Der Kartoffelstrauch Solanum crinitum weist gekrauste Blütenblätter auf, b Wegen ihrer bizarren euterförmigen Gestalt wird die Solanum-Art mammosum gern in Gärten angepflanzt

Blütenblätter schmal, glatt und tief. Bei dieser Pflanze sind die Früchte sind etwa kirschgroß und färben sich zur Reife über Gelb nach Rot. Ein Verbreitungsschwerpunkt der Gattung Solanum ist das tropische Südamerika, hier vor allem Brasilien, wo alle Lebensräume von Trockensavannen bis zu Überschwemmungswiesen besiedelt werden. Diese Gattung kommt aber auch in Südost-Asien, in Afrika und sogar im tropischen Australien vor. Wegen ihrer eleganten, reich blühenden Pracht und schönen Blütenfarbe sind einige Arten nunmehr auch pantropisch als Zierstrauch verbreitet. Der Gattungsname kommt von solamen, was übersetzt „Trost- oder Linderungsmittel“ bedeutet und sich auf die schmerzlindernde Wirkung einiger Arten bezieht. Der Artname crinitum bedeutet übersetzt „behaart“. Zur Gattung Solanum gehören sowohl die Kartoffel als auch die Tomate. Bei den zahlreichen Wildformen beider bei uns eingeführten Gemüsesorten sind die Übergänge fließend. In Brasilien, auch am Amazonas, habe ich zahlreiche Solanum-Arten entdeckt, die teils wohlschmeckende, johannisbeerbis kirschgroße, rote Früchte haben. Einigen Arten sind sogar von lokaler Bedeutung, etwa Lulo (Solanum quitoense), deren drei Zentimeter großen, gelben oder rötlichen Früchte von Peru bis Amazonien vorkommen. Wegen ihrer bizarren, schnuller- oder euterförmigen, gelben, auch orangenen, nicht-essbaren Früchte wird im amazonischen Tiefland gern die Art Solanum mammosum (= „starkbrüstig“) angebaut (Abb. 6.22b). Vor allem sind es die Solanine und bitter schmeckende Glykoside, die ihre in geringen Dosen heilende, zum Beispiel abführende, in größeren Dosen jedoch tödliche Wirkung entfalten. Alle Nachtschattengewächse sind undosiert in ihren grünen Teilen prinzipiell giftig – auch die Kartoffel und die Tomate.

142     L. Staeck

6.2.5 Langfaden (Combretum aubletii) – Langfadengewächse (Combretaceae) Weitere Namen: Spanische Fahne, Affenkamm, Monkey Brush, Flor de cepillos (spanisch = „Bürstenblume“), Escova-de-macaco-alaranjada (portugiesisch = „Orangene Affenbürste“) Sehr wuchsfreudig, sonnenliebend, sich bis etwa 15 m hoch windender, an der Basis verholzender, kletternder Strauch mit dunkelgrünen, derben, lappigen, bis zehn Zentimeter großen Blättern: Der Langfaden wächst stets an stark besonnten Weißwasserflussufern. Schon aus der Entfernung fallen dem vorbeifahrenden Besucher im grünen Durcheinander der vielen Uferpflanzen die orange-roten bürstenförmigen Blüten auf. Der ährige Blütenstand mit Hunderten von Einzelblüten steht auf einer bis 15 cm langen Achse nach oben, wie die Bürsten einer Zahnbürste. An ihrer Basis ist die Einzelblüte röhrenförmig. Dort sitzt auch der (nicht sichtbare) Fruchtknoten. Besonders auffallend sind die sehr zahlreichen, bis zu drei Zentimeter langen Staubgefäße (wie bei allen Angehörigen dieser Pflanzenfamilie), die am oberen Rand des leuchtend roten kleinen Blütenbechers ansetzen. Die Staubbeutel sind rosafarben. Die Staubgefäße sind erst zitronengelb und mit zunehmendem Alter leuchtend orange-rot gefärbt (Abb. 6.23), wodurch die

Abb. 6.23  Aufgrund der zahlreichen, aufrecht stehenden Staubgefäße der langgestreckten Langfadenblüte nennen die Amazonas-Bewohner diese Pflanze auch „Affenkamm“. Bei einem zweiten Langfadengewächs, Combretum cacoucia, hängen die Blüten büschelförmig am Ast

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     143

Zweifarbigkeit des Blütenstandes entsteht (ähnlich der Fahne Spaniens). Mit der Farbänderung signalisiert die Pflanze ihren Bestäubern, vor allem Schmetterlingen und Kolibris, wann das Nektarangebot besonders üppig ist, nämlich bei der Gelbfärbung der Staubgefäße. Auch die kleinen Tamarinen-Äffchen sowie der Weißstirn-Kapuzineraffe ernähren sich gern von ihrem Nektar, damit sind beide Affenarten wichtige Bestäuber dieser Pflanze (Abschn. 8.5.4). Der Blütenkelch verändert seine Farbe nicht. Die zwei Zentimeter großen Früchte sind geflügelt. Eine weitere Combretium-Art findet der Besucher ebenfalls entlang der Flussufer vor allem in Sekundärwäldern: Combretum cacoucia. Diese Art ist auch ein kletternder Strauch – oder sie wächst wie eine Liane bis über zehn Meter hoch an geeigneten Trägerpflanzen. Der endständige, büschelförmig hängende Blütenstand ist mit etwa 20 cm groß und beherbergt zahlreiche etwa zwei Zentimeter große, dekorative Einzelblüten. Diese bestehen aus einem satt-roten, verwachsenen, fünfzähligen Blütenkelch, aus dem zehn ebenfalls rote, bis 2,5 cm lange Staubgefäße herausragen (Abb. 6.23 rechts oben). Es sind typische Kolibri-Blüten. Der wissenschaftliche Gattungsname Combretum geht auf die römische Bezeichnung eines nicht verwandten Schlingers zurück. Der Artname aubletii bezieht sich auf den französischen Apotheker Jean Aubletiana (1720–1778).

6.2.6  Odontadenia hypoglauca – Hundsgiftgewächse (Apocynaceae) Andere Namen: Agadenia hypoglauca, Dipladenia (in Gärtnereien) Dieser zierliche Halbstrauch, der auch gern wie eine Liane klettert, ist sonnenliebend und wächst gern in Weißwasser-Überschwemmungszonen. Seine fast handtellergroße, trichterförmigen Blüten weisen eine ungewöhnliche Farbgestaltung auf: Im Zentrum der propellerartig gedrehten, fünf zitronenfarbigen Blütenblätter zeichnet sich ein aprikosenfarbiges Farbmuster ab, das wie eine zweite, fünfzipfelige Blüte aussieht (Abb. 6.24). Als Angehörige der Hundsgiftgewächse enthalten die Zweige einen weißen, giftigen Milchsaft. Die Laubblätter scheinen auf der Unterseite blaugrün. Die länglich-elliptisch geformten Früchte sind ebenfalls besonders. Sie wachsen stets paarig (also zu zweit) und sind mit etwa 20 cm Länge und fünf Zentimetern Breite riesig. In guten Gärtnereien werden andere Vertreter der Gattung Odontadenia, zum Beispiel sehr dekorative, rotblühende Arten, unter dem Namen Dipladenia angeboten.

144     L. Staeck

Abb. 6.24  Die fast handtellergroßen Blüten der Odontadenia hypoglauca weisen in ihrem Zentrum ein Farbmuster auf, das wie eine zweite Blüte aussieht

Der Gattungsname Odontadenia setzt sich aus den beiden griechischen Begriffen odonthos (= Zahn) und adén (= Drüse) zusammen und bezieht sich damit auf fünf bezahnte kleine Drüsen unter dem Fruchtknoten. Der Artname hypoglauca bedeutet übersetzt „blaugrün“.

6.3 Stauden 6.3.1 Geschnäbelte Helikonie (Heliconia rostrata) – Bananengewächse (Musaceae) Weitere Namen: Hummer- oder Krebsschere, Papageienschnabel (französisch: Bec de Perroquet) Diese bis drei Meter hohe, unverholzte Staude mit bananenähnlichen Blättern ist sonnenliebend und wächst mit Vorliebe an den Ufern von Weißwasserflüssen, auch an lichtdurchfluteten Waldsäumen und -lichtungen, an Wegen sowie in Sekundärwäldern. Ihre zusammengerollten Blattscheiden – der unterste Teil des Blattes – bilden einen Scheinstamm. Die Blätter sind bis zu einem Meter lang und ähneln Bananenblättern. Bei der hier beschriebenen Art hängt der mächtige Blütenstand an einem langen roten Stiel aus dem Scheinstamm heraus. Die von kahnförmigen, rot-gelben

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     145

Abb. 6.25  Die großen rot-gelben Hochblätter der Geschnäbelten Helikonie hängen wie Girlanden oder „Hummerscheren“ herunter

Tragblättern (Brakteen) umschlossenen, unscheinbaren, weißen oder weiß-grünlichen Röhrenblüten sind kaum zu erkennen. Diese großen Brakteen hängen wie Girlanden oder „Hummerscheren“ hinunter (Abb. 6.25). Es gibt verschiedene endemische Helikonienarten im Amazonas-Tiefland. Bei einer anderen stehen die Blütenstände wie Flammen auf einem Spross (Heliconia caribaea, vgl. Staeck 2016a, S. 49 f.), der zwischen den Blättern des Scheinstammes hindurchwächst. Bei einer weiteren sind die Brakteen nicht rot, sondern goldgelb (Heliconia psittacorum; Golden Torch, vgl. Staeck 2016a). Die Fruchtkapseln der Helikonien enthalten drei große, kobaltblau gefärbte Samen und sind damit besonders attraktiv für Vögel. Ursprünglich im Amazonas-Tiefland beheimatet sind diese Helikonien mittlerweile in den gesamten Tropen verbreitet, oft verwildert, aber auch in Parkanlagen. Der Gattungsname bezieht sich auf den Berg Helicon in Böotien/ Griechenland, dem Sitz der Musen, der Artname rostrata bedeutet „geschnäbelt“, da die gelb-grüne Spitze an den roten Tragblättern ihres Blütenstandes an einen Schnabel erinnert. Es gibt ca. 150 verschiedene Arten der Gattung Heliconia mit den unterschiedlichsten Wuchs- und Blütenformen sowie Blütenfarben. Sie sind mit ihren attraktiven Blütenfarben

146     L. Staeck

typische „Vogelblumen“. So werden sie in Südamerika von Kolibris besucht. Häufig sind die kahnförmigen Tragblätter mit Regenwasser gefüllt. Diese Mini-Aquarien sind häufig ein buntes aquatisches Biotop: Kleine Krebstiere, Mückenlarven, Käferlarven, Würmer, Einzeller, ja sogar Kaulquappen von Fröschen mit engen Wechselbeziehungen des Fressens und Gefressenwerdens leben in diesen begrenzten Räumen. Da sich die farbenprächtigen und robusten und damit extravaganten Blütenstände wochenlang halten, bis sie verblühen, werden sie seit Jahren nach Europa exportiert, wo sie in dekorativen Blumengebinden zum Verkauf angeboten werden. Jamaika und Hawaii sind die Hauptexporteure. In den Ursprungsregionen werden die Blätter gern als Tischdecke oder Packmaterial zum Einwickeln von Lebensmitteln verwendet.

6.3.2 Sumpfcalla (Montrichardia arborescens) – Aronstabgewächse (Araceae) Diese große, bis über drei Meter große Staude ist sonnenliebend und wächst nur an Ufersäumen und in Sumpfgebieten des Weißwassers. Je weiter man von Manaus zum Unterlauf des Amazonas kommt, umso häufiger wird sie. Besonders auffallend sind große Bestände an den Ufern der Brevis-Kanäle. Sie kommen vor bis in die Brackwasser- und Mangrovenregionen. Bei Niedrigwasser kann man die kräftigen Rhizome sehen, aus denen sich vegetativ die Sprossanfänge – ähnlich wie Spargelspitzen – aus dem Schlamm schieben. Die ausgewachsenen, bambusähnlichen Scheinstämme sind beeindruckend und können bis 25  cm im Durchmesser erreichen (Abb. 6.26). Ihre großen, pfeilförmigen und harten Blätter gehören zu den Lieblingsspeisen der Hoatzin-Schopfhühner (Abschn. 8.4.11). Wie bei allen Aronstabgewächsen besteht der Blütenstand aus einem scheidenartigen Hoch- oder Hüllblatt (Spatha) – hier 20 cm groß und cremeweiß –, das den fleischigen Blütenkolben halb geöffnet umgibt. Dieser ist mit unzähligen, winzigen ebenfalls cremeweißen Blüten besetzt, und zwar von oben nach unten mit fruchtbaren männlichen, unfruchtbaren männlichen und fruchtbaren weiblichen Blüten (Abb. 6.27). Der Bestäubungsmechanismus ist bei der Sumpfcalla außergewöhnlich und ähnelt dem bei der Amazonas-Riesenseerose Victoria amazonica (Abschn. 6.4.1): Mit Einsetzen der Dämmerung erhöht sich die Eigentemperatur des Blütenkolbens nach dem Aufblühen der unfruchtbaren männlichen Blüten im mittleren Abschnitt des Kolbens beträchtlich und erreicht über 40 °C, sodass ein großes Temperaturgefälle zur aktuellen

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     147

Abb. 6.26  Die mächtigen Scheinstämme der Sumpfcalla schieben sich wie Spargelspitzen aus dem Uferschlamm

Umgebungstemperatur von etwa 26 bis 28 °C besteht (Abb. 6.27). Dabei werden gespeicherte Reservefette veratmet. Dieser enorme Energieaufwand entspricht dem von warmblütigen Tieren, beispielsweise Kolibris. Durch diese Erwärmung werden die aromatischen, süßlichen Duftstoffe des Blütenkolbens verstärkt in die Abendluft verströmt. Diese beiden Parameter wirken zusammen mit der weißen Blütenfarbe in der beginnenden Nacht als unwiderstehliche sexuelle Signalreize für Käfer der Gattung Cyclocephala. Diese besuchen überfallartig diesen Blütenkolben, fressen von den Pollen, den Narbensekreten und dem Nektar der sterilen Blüten. Dabei bestäuben sie die zu diesem Zeitpunkt empfängnisbereiten weiblichen Blüten mit dem Pollen eines anderen Blütenkolbens, den sie bereits auf ihrem Rücken tragen. Um Selbstbestäubung auszuschließen, werden männliche und weibliche Blütenorgane zu unterschiedlichen Zeiten reif. Parallel dazu kopulieren die Käfer untereinander. Diese Käfer sehen unseren Maikäfern ähnlich, nur etwas kleiner; beide gehören zur großen Familie der Blatthornkäfer. Wenn man als Besucher dieser Montrichardia-Bestände – etwa im Oktober – am Nachmittag einen Blütenkolben abschneidet, kann man zur Dämmerung, etwa um halb sieben, die beschriebenen Phänomene selbst erleben. Die Temperaturerhöhung der Blütenkolben ist mit der Hand deutlich zu spüren, ebenso der parfumartige Duft. Die Früchte, etwa halb so groß wie eine Ananas und ebenso mit einer schuppigen Schale ausgestattet, sind

148     L. Staeck

Abb. 6.27  Der Blütenstand der Sumpfcalla besteht aus einem weißen Hochblatt und einem fleischigen, cremefarbenen Blütenkolben. Um die für die Bestäubung erforderlichen Käfer anzulocken, erhöht sich die Temperatur des Blütenkolbens auf über 40 Grad Celsius

gekocht essbar und werden wegen ihres unwiderstehlichen Geschmacks als Fruit of the Devil bezeichnet. Der Familienname leitet sich von Aaron ab, von dem im Alten Testament berichtet wird, dass er einen Stab in seinen Händen hielt, der später austrieb – wohl in Anspielung auf den stabförmigen Fruchtkolben bei dieser Pflanzenfamilie. Der Gattungsname ehrt Gabriel de Montrichard, der zum Zeitpunkt der Namensgebung 1854 auf Trinidad lebte. Der Artname arborescens bedeutet „baumartig“ und bezieht sich auf die gewaltige Wuchsform dieser Pflanzenart.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     149

6.3.3 Schamblume (Mimosa pudica) – Mimosengewächse (Mimosaceae) Weitere Namen: Sinnpflanze, Touch-Me-Not („Berühr-mich-nicht“) Diese niederliegende, bis 40 cm hohe krautige Pflanze hat Stängel, die stachelig sind. Die etwa einen Zentimeter großen, kugeligen Blüten sind rosa bis hell-violett gefärbt (Abb. 6.28). Die Blätter sind doppelt gefiedert und gehen von Blattstielen aus. Die unscheinbaren, vier Millimeter breiten und zwei Zentimeter langen Früchte hängen in einem Büschel zusammen. Ursprünglich aus den Trockengebieten Brasilien stammend, haben sich die Samen der Schamblume über Schuhsohlen und Strümpfe in allen Tropenregionen ausgebreitet, sodass diese Pflanze jetzt als tropisches „Unkraut“ gilt und auch in Amazonien an besonnten Flussufern sowie in Städten auf Ruderalflächen (zum Beispiel ehemalige Ruinenflächen) anzutreffen ist. Der Gattungs- und Familienname geht zurück auf den Begriff mimos, was übersetzt „Schauspieler“ bedeutet, der Artname pudicus bedeutet „schamhaft“. Wer als Mensch überempfindlich reagiert, muss sich gefallen lassen, sich als Mimose bezeichnen zu lassen. Bei plötzlicher Abdunkelung,

Abb. 6.28  Die Blüten der Schamblume sind rosa bis hell-violett gefärbt

150     L. Staeck

Annäherung einer Wärmequelle, bei Erschütterung, vor allem aber bei leisester Berührung – auch bei Regen – klappen die Fiederblättchen dieser Pflanze zusammen und bei andauernder Reizung klappen auch die Blattstiele nach unten. An den Stielen der Blattfiedern und an den einzelnen Fiederblättchen sitzen hierfür scharnierartige „Gelenke“. Der Berührungsreiz wird – je nach Stärke – bis zu fünf Zentimeter pro Sekunde weitergeleitet. Dies bewirkt die Pflanze, indem sie Kaliumionen in die Zellen an der Blattbasis transportiert, die eine Änderung des Zell-Innendruckes (Turgor) auslösen. Nach etwa zehn bis 15 Minuten  richten sich die Blätter wieder auf. Deshalb ist diese Pflanze ein Paradebeispiel des Biologieunterrichtes für die Fähigkeit von Pflanzen, Bewegungen auszuführen. Das Zusammenfalten der Blätter und das Anschmiegen an den stacheligen Stängel bieten möglicherweise einen gewissen Schutz vor Fressfeinden. Es gibt sogar eine gelb blühende Schwester der Schamblume, die Wasser-Mimose (Neptunia natans), die in den Várzeas als Schwimmblattpflanze lebt, im Übrigen jedoch alle oben beschriebenen Eigenschaften aufweist. Sie ist auch unter dem Synonym Neptunia oleracea bekannt.

6.4 Wasserpflanzen Ein besonderes Erlebnis für jeden Amazonas-Besucher ist die Fahrt mit dem Kanu oder Zodiac hinein in die Várzeas, die sich zur Hochwasserzeit hinter dem Ufersaum des Hauptstromes oft über Dutzende von Kilometer ins Hinterland erstrecken (Abschn. 2.2 und Abb. 2.7 und 2.8). An flachen Abschnitten der wallartigen Uferböschung des Amazonas strömen mit fortschreitender Regenzeit ständig die mit Nährstoffen beladenen Wassermassen des Hauptstromes in das flache Hinterland. Neben der beeindruckenden Vogel- und Fischwelt in diesem Habitat ist es vor allem die große Vielfalt an attraktiven, meist blühenden Schwimmblattpflanzen, die sich die stillen Buchten der nährstoffreichen Weißwasserseen zwischen den Schwimmgraswiesen teilen. Auch die ungeübten Augen kommen leicht auf bis zu 20 verschiedene Schwimmblattpflanzen, die im stehenden Wasser einer Várzea nebeneinander wachsen (Abb. 6.29). Die nachfolgend beschriebenen Pflanzenarten findet man spätestens ab Anfang April, wobei viele von ihnen in Blüte stehen. Wenn nicht anders angegeben, wachsen alle vorgestellten Pflanzen im Weißwasser. Im Schwarzwasser dagegen ist von der erwähnten Pflanzenfülle aufgrund der sauren Wasserqualität (pH 3,8 bis 4,9) und Nährstoffarmut nichts zu sehen. Außer der Gattung Cabomba (Haarnixengewächse, Cabombacaceae), die mit einigen – untergetauchten – Arten im

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     151

Abb. 6.29  Bis zu 20 verschiedene Schwimmblattpflanzen wachsen in den Überschwemmungswiesen

Schwarzwasser vertreten ist, gibt es dort nur wenige andere Schwimmblattpflanzen (zum Beispiel den Wasserschlauch (Utricularia) ).

6.4.1 Amazonas-Riesenseerose ( Victoria amazonica) – Seerosengewächse (Nymphaeaceaea) Diese imposante, größte Schwimmblattpflanze der Welt wächst nur in den Várzeas, den stehenden, nährstoffreichen Überschwemmungswiesen beiderseits des Amazonas (Abb. 6.30), seltener auch in Igarapés, den natürlichen Verbindungskanälen zwischen den Amazonas-Schlingen. Sie ist die einzige Seerose, die zweimal aufblüht! Aber der Reihe nach. Mit Beginn der Regenzeit im Januar beginnen die ersten Blattknospen aus den im trockenen Schlamm zurückgebliebenen Rhizomen, den fleischigen Wurzeln, zu wachsen. Die ersten Blätter öffnen sich noch unter Wasser (mit einer pfeilförmigen Blattform), ab dem vierten Blatt ist die Wasseroberfläche erreicht. Von nun an wird die Blattfläche immer größer und erreicht schließlich bis zu drei Meter Durchmesser, womit sie die größten Blätter aller Wasserpflanzen aufweist. Sie sind kreisrund und haben einen etwa vier Zentimeter großen Rand, der verhindert, dass andere Schwimmblattpflanzen auf die Blattfläche wachsen. In diesem Rand gibt es einige

152     L. Staeck

Abb. 6.30  In den ruhigen und nährstoffreichen Überschwemmungswiesen kann sich die Amazonas-Riesenseerose prächtig entfalten

Lücken, sodass die großen Regenmengen schnell abfließen können. Außerdem gibt es winzige Löcher in der Blattspreite, die ebenfalls dem schnellen Abtransport des Regenwassers dienen, denn jeder zurückbleibende Wassertropfen kann wie ein Brennglas wirken. Zwischen den Blattnerven gibt es ausgedehnte Luftkammern, die dem schweren Blatt das Schwimmen erleichtern. Auf der rötlichen Blattunterseite befinden sich vielfach verzweigte Versteifungswülste, die für die Stabilität des riesigen Blattes sorgen; die Blattrippen verzweigen sich immer dann, wenn der Abstand zur Nachbarrippe eine bestimmte Größe übersteigt. In diesen Rippen befinden sich zusätzlich Luftröhren. Das Blatt kann damit problemlos ein Gewicht von bis zu 50 kg tragen. Meine kleine Nichte Anja hat so problemlos auf dem Blattteller im Berliner Botanischen Garten sitzen können. Die Unterseite des Blattes ist zudem mit zentimeterlangen Stacheln bewehrt, um Fressfeinde abzuhalten (Abb. 6.31). Erst nach dem 20. Laubblatt – im April/Mai – werden die ersten Blütenknospen gebildet. Die fast kindskopfgroßen, langgestielten Blütenknospen öffnen sich fast schlagartig mit Beginn der Dämmerung des ersten Tages mit schneeweißen Blütenblättern (Abb. 6.32) – man kann das Öffnen fast mit bloßem Auge verfolgen –, wobei sie herrlich duften (ein Duftgemisch aus Ananas und

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     153

Abb. 6.31  Die Blattunterseite der Riesenseerose ist mit zentimeterlangen Stacheln bewehrt, um Fressfeinde fernzuhalten

Abb. 6.32  In der Dämmerung am Tag 1 blüht die Amazonas-Riesenseerose schneeweiß auf

154     L. Staeck

Butterkeksen). Die Narben der Fruchtblätter sind empfängnisbereit. Die in großer Zahl vorhandenen gelben Staubgefäße (bis zu 300!) sind jetzt noch unfruchtbar. Vier verschiedene Käferarten der Gattung Cyclocephala werden vom Duft und dem sich zunehmend erwärmenden Blüteninneren angelockt: Die Temperatur ist um bis zu elf Grad Celsius höher als die Umgebungstemperatur. Vor allem sind es die Maikäfer ähnlichen Cyclocephala hardyi und die kleinere Art Cyclocephala verticalis, die die Größe von Junikäfern hat, die ins Blüteninnere kriechen und sich von den gelben, eiweißhaltigen Futterkörpern ernähren (Abb. 6.33). Bei ihrer Futteraufnahme bestäuben sie mit dem auf ihrem Rücken mitgebrachten Pollen anderer Blüten die Narben des Stempels. Gegen Mitternacht schließt sich die Blüte, die Käfer sind eingeschlossen. Am Vormittag des zweiten Tages haben sich die Blütenblätter rosafarben umgefärbt, wobei sich der Blütenstiel deutlich über die Wasseroberfläche streckt. Nachmittags, etwa um drei Uhr, öffnen sich die Blütenblätter ein zweites Mal, nunmehr in einem dunklen Rot-Violett (Abb. 6.34), ohne allerdings die innere Höhlung freizugeben. In der Abenddämmerung gibt die Blüte schließlich die Käfer frei. Die Pollen sind nunmehr herangereift. Die über Nacht eingeschlossenen Käfer kommen frei und fliegen – mit reifem Pollen bestäubt – alle auf einmal weg auf der Suche nach weißen, duftenden, warmen und nährenden Seerosenblüten,

Abb. 6.33  Unterschiedliche Käferarten werden durch den Duft, hohe Temperaturen und die kerzenhelle Farbe der Blüte angelockt und kriechen in das Blüteninnere

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     155

Abb. 6.34  Am Ende des Tages 2 hat sich die Blüte in ein dunkles Rot-Violett umgefärbt

die zum ersten Mal aufblühen. Dort angekommen lassen sie den Pollen auf den bereits empfängnisbereiten Narben zurück und bestäuben damit den Fruchtknoten. Die Koevolution beider Organismenarten macht beide voneinander abhängig: Der Käfer braucht die Seerose zu seiner Ernährung, und die Seerose braucht den Käfer zur Kreuzbefruchtung. In der zweiten Nacht sinkt die Blüte unter die Wasseroberfläche, wo entweder die Samen heranreifen oder die Blüte verfault. Die Früchte sind normalerweise nicht zu sehen, da sie unter der Wasseroberfläche reifen. Sie sind faustgroß, stachelig und enthalten eine große Zahl linsenförmiger Samen, die roh oder gekocht von den Einheimischen gegessen werden. Diese prächtige Pflanze ist heute in vielen Botanischen Gärten der Welt anzutreffen, auch in gemäßigten Breiten – dort jedoch in Gewächshäusern, wo sie auch regelmäßig zur Blühen kommt. Diese Pflanze wurde durch den deutschen Botaniker Eduard Poeppig 1832 entdeckt. Ein weiterer Botaniker, Richard Schomburgh, regte an, sie zu Ehren der damals in England regierenden Königin Victoria regia zu nennen. Da Poeppig jedoch der Erstbeschreiber war, hatte er auch das Recht zur Namensgebung. So wurde sie in Victoria amazonica umbenannt. Das netzartige Gerüst der Blattnerven auf der Blattunterseite diente dem britischen Gärtner und Architekten Joseph Paxton als Vorlage für das imposante Gewächshaus Cristal Palace der ersten Weltausstellung in London im Jahr

156     L. Staeck

1851, das nur aus Glas und gusseisernen Verstrebungen erstellt wurde. Damit wurde ein bedeutendes Bauwerk nach der neuen Wissenschaft Bionik erbaut, die die Natur als Vorbild nimmt.

6.4.2 Wasserhyazinthe (Eichhornia crassipes) – Pontederiagewächse (Pontederiaceae) Weitere Namen: Dickstielige Wasserhyazinthe, Eichhornia, Lila Fluch, Blauer Teufel In den nährstoffreichen Überschwemmungswiesen scheint diese Pflanzenart regelrecht zu explodieren. Bei großem Nährstoffangebot ragen sie bis zu einem halben Meter über die Wasseroberfläche, sonst – vor allem bei größerer Strömung – bleiben sie niedriger. Auf dem Hauptstrom und auf seinen Nebenflüssen treiben zur Regenzeit bei großer Strömung überall, teilweise mehr als 100 m2 große Schwimmblattteppiche von Eichhornia-, Gras- und Schilfpflanzen flussabwärts (Abb. 2.4). Auf diesen hat es sich zuweilen ein instrumentales Orchester unterschiedlicher Froscharten und Zikaden gemütlich gemacht. Wenn eine solche Schwimmblattinsel an dem Besucher vorbeirauscht, ertönt vorübergehend ein lautes, vielstimmiges Konzert unterschiedlichster Tonlagen. Die ovalen, wasserabweisenden Blattflächen mit stumpfer Spitze bilden an längeren Blattstielen eine Rosette. Die Blattstiele sind an ihrer Basis blasen- beziehungsweise schwammartig verdickt, sodass sich Luft einlagert. Dadurch erlangt die Pflanze einen fantastischen Auftrieb, sodass sie mit der Strömung leicht in die abgelegensten Winkel des Amazonas gelangen. Die reich verzweigten Hauptwurzeln tragen viele vollbartartige, bläulich-schwarze Seitenwurzeln, die die Sedimente aus dem Weißwasser auffangen. An der Mutterpflanze sitzen häufig an Seitentrieben diverse kleinere Tochterpflanzen. Ab April/Mai zeigen sich an einem ährigen, etwa 15 cm langen Blütenstand die dekorativen hellvioletten Blüten, die an Hyazinthen erinnern (aber keine sind). Die inneren oberen Blütenlappen zeigen einen leuchtend gelben Fleck (Abb. 6.35). Diese Pflanzenart ist ursprünglich nur in den tropischen Gewässern rund um den Amazonas heimisch und hat dort natürliche Feinde, zum Beispiel Käfer- und Mottenarten. Doch wegen ihrer hübschen Blüte ist sie mittlerweile über die Zwischenetappe Florida in allen Kontinenten mit tropischen Klimazonen verbreitet. Sie zählt heute zu den zehn schlimmsten „Unkräutern“ unserer Erde. Sie verstopft außerhalb der Amazonas-Region die Gewässer, sodass keine Boote mehr durchkommen. Da sie vielerorts die strömungsfreien Wasseroberflächen lückenlos bedeckt, ist das Unterwasserleben gefährdet. Häufig kippen dann die Gewässer um und durch die

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     157

Abb. 6.35  Kennzeichnend für die Wasserhyazinthe ist der leuchtend gelbe Fleck an den oberen Blütenlappen

abnehmende Fließgeschwindigkeit der Gewässer kann sich die Anophelesmücke als Malariaüberträgerin leicht verbreiten. Alexander von Humboldt entdeckte diese auffällige Wasserpflanze während seiner Südamerika-Expedition 1801 im kolumbianischen Cauca. Gut zwei Jahrzehnte später gab ihr der Leipziger Botaniker Carl Sigismund Kunth den wissenschaftlichen Gattungsnamen Eichhornia, mit dem er den preußischen Kultusminister Johann Albert Friedrich von Eichhorn (1779–1856) ehren wollte. Der Artname crassipes bedeutet „dickbäuchig“ oder „dickstielig“. Der Familienname bezieht sich auf den italienischen Botaniker Giulio Pontedera. Ihre Vermehrungsrate verläuft nicht – wie normalerweise üblich – linear, sondern exponentiell (Kap. 10). Das heißt, eine Mutterpflanze kann innerhalb von sechs Monaten die unglaubliche Zahl von 50.000 Tochterpflanzen produzieren. So wird sie in nicht-heimischen Gebieten, wo die natürlichen Feinde fehlen, schnell zu einer „biologischen Amokläuferin“. Deshalb heißt sie auch in den eingeschleppten Regionen „Lila Fluch“, „Wasserpest“ oder „Blauer Teufel“. Bei uns ist sie inzwischen im Sommer eine beliebte Pflanze für den Gartenteich. Hier kann sie keinen Schaden anrichten, da sie nicht winterhart ist. Trotzdem ist ihre Einfuhr in die EU seit dem 1. Januar 2018 offiziell verboten. Ihre Schwester Eichhornia azurea (= himmelblau) kommt

158     L. Staeck

in den Ursprungsgebieten neben Eichhornia crassipes vor, wenn auch nicht so explosionsartig. Ihre Blattstiele sind jedoch nicht verdickt, die Ränder ihrer inneren Blütenblätter sind gefranst und der Blütenschlund ist dunkellila. Eine weitere Angehörige der Pontederiagewächse, deren Blüte Ähnlichkeiten mit Eichhornia aufweist, kommt ebenfalls in ruhigen Várzea-Gewässern vor: Das Rundblättrige Hechtkraut (Pontederia rotundifolia, Synonym Reussia rotundifolia). Sie wurzelt im schlammigen Boden oder flutet in ruhigen Várzea-Regionen. Die sukkulenten, also fleischigen Blätter sind eiförmig-rund, pfeilförmig eingekerbt und erheben sich mit ihrem Stängel deutlich über die Wasseroberfläche. Die Einzelblüte ist blassrosa-violett mit einem gelben Fleck im oberen Drittel – wie die Eichhornia –, doch die Einzelblüte selbst ist kaum einen Zentimeter groß und sitzt zusammen mit weiteren mehr als 50 Blüten an dem ährenförmigen, nur etwa vier Zentimeter langen, dichtblütigen Blütenstand (Abb. 6.36).

Abb. 6.36  Das Rundblättrige Hechtkraut blüht in einem nur vier Zentimeter großen, ährigen, blass-rosafarbenen Blütenstand

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     159

Auffallend sind die drei dunklen Staubgefäße mit meist querliegenden, schwarzen Staubbeuteln. Mit diesem Blütenstand ist das Hechtkraut nicht mit der Eichhornia zu verwechseln. Alle Pflanzenteile sind roh oder gegart essbar und dienen den Einheimischen als Bestandteil von Salaten und Suppen.

6.4.3 Wassersalat (Pistia stratiotes) Aronstabgewächse (Araceae) Weiterer Name: Muschelblume Diese Schwimmblattpflanze ist allgegenwärtig in allen Várzeas, Weißwasserseen und -flüssen. Auf dem Amazonas selbst treiben viele Inseln des Wassersalat wie der Eichhornia flussabwärts. Auffallend sind die dekorativen, leuchtend hellgrünen Blätter (Abb. 6.37). Sie sitzen praktisch auf der Wasseroberfläche und sind rosettig angeordnet. Die breit-spatelförmige Blattspreite ist an ihrer Spitze schwach eingekerbt. Zur Nacht schließen sich die Blätter. Wenn man eine Pflanze aus dem Wasser fischt, sieht man die

Abb. 6.37  Die hellgrüne Blattrosette ist kennzeichnend für den Wassersalat. Der winzige Blütenstand besteht aus einem weißen Hochblatt, dem ein ebenso winziger gelblicher Blütenkolben gegenüber steht

160     L. Staeck

langbärtigen, blau-schwarzen Wurzeln, die die Nährstoffe aus dem Wasser herausfiltern. Normalerweise schwimmt diese Pflanze stets auf dem Wasser, doch bei sinkendem Wasserstand wurzelt sie auch fest im Boden. Bei einem guten Nähstoffangebot, zum Beispiel im menschlichen Abwasser sowie in stehenden Gewässern, kann sie über 40 cm Durchmesser erreichen, sonst bleibt sie kleiner. Sie vermehrt sich stark vegetativ über Ausläufer und kann so ähnlich wie die Eichhornia schnell stehende Wasserflächen lückenlos besiedeln. Gelangt sie mit der Strömung ins Schwarzwasser, überlebt sie nicht, sondern geht nach einer Weile ein. Ihr Blütenstand ist nur zehn Millimeter klein, und man kann ihn nur bei größeren Pflanzen finden. Hierzu muss man die Blütenblätter auseinander biegen, sodass das Zentrum der Blattrosette frei liegt. Dort befindet sich – wie bei allen Angehörigen der Aronstabgewächse – das Hochblatt mit dem Blütenkolben. Bei der hier beschriebenen Art ist das grünlich-weiße Hochblatt jedoch winzig und außen dicht behaart. Ihm gegenüber sitzt der noch kleinere, gelbliche Blütenkolben mit fertilen und sterilen Einzelblüten (Abb. 6.37). Besonders auffallend sind die an der Spitze des kleinen Kolbens ringförmig angeordneten, gelblichen männlichen Blüten. Der Wassersalat sieht zwar appetitlich frisch aus wie ein knackiger Salat, doch er enthält Oxalsäurekristalle (Calcium-Oxalat), die auch im gekochten Zustand für die menschliche Ernährung in hohen Dosen nicht empfehlenswert sind, für Schweine hingegen ist er essbar. Die Caboclos wenden den Pflanzensaft an, um Warzen zu entfernen. Der Wassersalat ist bei uns eine beliebte, gut zu pflegende Aquarienpflanze, die man in Gärtnereien erwerben kann. Ihr Ursprung ist nicht ganz eindeutig. Einige Autoren geben ein, sie sei pantropisch, also auch im tropischen Afrika und Asien zu Hause. Ich meine hingegen, dass sie – auch aufgrund ihrer Koevolution mit einigen Insektenarten im Amazonas-Tiefland heimisch ist. Wie auch immer, tatsächlich ist sie in vielen tropischen afrikanischen und asiatischen Ländern eine invasive, das heißt eindringende, stark wuchernde Art, die heimische Pflanzen zurückdrängt. Deshalb gilt sie in diesen Ländern (nicht jedoch im Amazonas-Tiefland) als „gefährliches Unkraut“, das bekämpft wird. Der Gattungsname Pistia ist griechisch und bedeutet übersetzt „Wasser“, der Artname stratiotes, ebenfalls griechisch, bedeutet „Soldat“.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     161

6.4.4 Seekanne (Nymphoides humboldtiana) – Fieberkleegewächse (Menyanthaceae) Weitere Namen: Humboldts Seekanne, Floating Heart, Water Snowflake, Nymphoides indica Diese dekorative, ausdauernde Schwimmblattpflanze erinnert mit ihren auf dem Wasser schwimmenden Blätter an Seerosen – deshalb auch ihr Gattungsname Nymphoides (= Seerosen ähnlich). Sie wächst vor allem in nährstoffreichen, stehenden Gewässern wie Seen oder Sümpfe, wo sie auch größere Horste bilden kann. Sie bildet nämlich an den wurzellosen Knoten der Stängel in großer Zahl Ausläufer aus. Ihre dem Wasser aufliegenden Blätter sehen den Seerosen-Blättern ähnlich, sind jedoch mit etwa fünf Zentimetern deutlich kleiner. Die Blüten stehen in Gruppen an den Knoten über der Wasseroberfläche. Sie sind radiär-symmetrisch, die weißen Blütenblätter gehen am Blattgrund in Gelb über und haben einen stark gefransten Rand. Die Blütenorgane sind fünfzählig. Der dunkelbraune Griffel weist zwei bis drei helle, dickfleischige Lappen auf (Abb. 6.38a). Diese Gattung kommt weltweit vor, auch in gemäßigten Breiten. Die hier beschriebene Art ist Alexander von Humboldt gewidmet (humboldtiana).

6.4.5 Ludwigien Mosaikpflanze (Ludwigia sedioides) – Nachtkerzengewächse (Onagraceae). Weitere Namen: Heusenkraut, Ludwigie Diese ausdauernde, attraktive Wasserpflanze fällt durch ihre mosaikartig angeordneten Blätter auf. Sie bevorzugt nasse, sumpfige, nährstoffreiche Standorte. Auf den Überschwemmungswiesen (Várzeas) ist sie gelegentlich zu sehen, wo sie hübsche geometrische Muster ausbildet (Abb. 6.38b). Bei starker Sonneneinstrahlung sind sie durch Anthocyane zum Schutz vor schädlichen UV-Strahlen häufig rötlich eingefärbt. Diese Pflanzenart ist in der Lage, auch untergetauchte Blätter auszubilden. Ihre Atemwurzeln sind fädig. Die dekorativen radiär-symmetrischen, gelben Blüten sind nur vereinzelt zu sehen. Diese Ludwigie ist eine beliebte Aquarienpflanze. Sie ist benannt zu Ehren des deutschen Arztes und Botanikers Christian Ludwig (1709–1773). Der Artname sedioides bezieht sich auf die Fetthenne (Sedum) und bedeutet „Sedum ähnlich“, da die Blätter der Ludwigie ihr ähneln.

162     L. Staeck

Abb. 6.38  a Die Blätter der Seekanne sehen aus wie eine Mini-Seerose, doch ihre dekorativen Blüten erscheinen deutlich feingliedriger und kleiner, b Die Mosaikpflanze bildet auf der Wasseroberfläche hübsche geometrische Muster aus, c Die deutlich erkennbaren weißen Atemwurzeln neben der Blüte der Schwimmenden Ludwigie ermöglichen dieser Pflanze einen fantastischen Auftrieb. Neben der Blüte schwimmen einige Azolla-Algenfarne

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     163

Schwimmende Ludwigie (Ludwigia helminthorrhiza) – Nachtkerzengewächse (Onagraceae) Sie ist eine ausdauernde, im stehenden Wasser der Várzeas flutende oder im Sumpf kriechende Pflanze, die sich an allen Knoten bewurzelt. Ihre auffällig weißen, einen Zentimeter dicken und bis zwei Zentimeter langen Atemwurzeln ermöglichen ihr im sauerstoffarmen Schlamm den notwendigen Gasaustausch und außerdem einen fantastischen Auftrieb, sodass sie immer an der Wasseroberfläche schwimmt. Ihre Stängel sind bis zu einem Meter lang und häufig verzweigt. So wächst sie oft von einer schwimmenden Pflanzeninsel aus in offene Wasserflächen. Ihre fast kreisrunden, ganzrandigen, etwa zwei Zentimeter großen Blätter sind häufig rötlich eingefärbt. Die einzelnen Blüten besitzen weiße Blütenblätter, die an ihrer Basis gelb sind (Abb. 6.38c). Alexander von Humboldt hat diese Pflanze zusammen mit seinem Freund Aimé Jacques Alexandre Bondpland gesammelt und herbarisiert. So konnte sie später durch den Botaniker Carl Sigismund Kunth bestimmt und benannt werden. Der Artname helminthorrhiza bedeutet „wurmförmige Wurzel“ und bezieht sich auf die Gestalt der Stängel.

6.4.6 Wasserschlauch (Utricularia foliosa) – Wasserschlauchgewächse (Lentibulariaceae) Der ausdauernde, krautige Wasserschlauch ist eine außergewöhnliche Pflanze. So hat er keine echten Wurzeln, und auch Blätter und Sprosse können kaum unterschieden werden. Vor allem ist er eine fleischfressende (carnivore) Pflanze. Er wächst gern, wo sich Weiß- und Schwarzwasser mischen oder im reinen Schwarzwasserseen oder -sümpfen, die sehr sauer sind, also ph-Werte um oder unter 5 aufweisen. Dort bildet er größere Bestände. Hier ist er wegen fehlender Nährstoffe auf zusätzliche Eiweißversorgung angewiesen, indem er mit einem ausgeklügelten Fangapparat im Wasser lebende Kleinstorganismen fängt. Seine untergetauchten, feinen Fliederblättchen bilden ein oft verfilztes Geflecht aus. Innerhalb dieses Gewirrs aus feinen Blättchen und Sprossen befinden sich zahlreiche als Fallen ausgebildete, zwei bis drei Millimeter große Fangblasen (Abb. 6.39). Diese funktionierten nach dem Saugfallenprinzip: Innerhalb der Fangblase wird zunächst ein Unterdruck aufgebaut. Die Fangblase ist mit einer Klappe verschlossen, die nur nach innen aufgeht. Außen sind einige Borsten angebracht. Die algenähnlichen Blättchen locken nun Beutetiere an, zum Beispiel Wasserflöhe, Fadenwürmer oder Rädertierchen. Bei Berührung

164     L. Staeck

Abb. 6.39  Der Wasserschlauch ist eine fleischfressende Pflanze. Mit zahlreichen Fangblasen fängt der Wasserschlauch seine Beutetiere, zum Beispiel Wasserflöhe

einer Borste öffnet sich die Tür und die Beute wird durch den Unterdruck eingesaugt. Das Öffnen und Schließen der Tür vollzieht sich innerhalb von zwei Millisekunden. Innenliegende Drüsen verdauen das Beute-Eiweiß, das der Pflanze zugutekommt. Fährt man mit dem Kanu oder Zodiac über einen Schwarzwassersee kann man den Wasserschlauch lediglich an seinen gelben Blüten erkennen, die an der Spitze eines aufrechten, mit Luftkammern versehenen Stängels in einem sehenswerten Kontrast zum teefarbenen Wasser bis zu 20 cm über die Wasseroberfläche emporragen (Abb. 6.39). Der Gattungsname Utricularia bedeutet „kleiner Schlauch“ und bezieht sich auf die Gestalt der Fangblasen. Der Artname foliosa bedeutet „blattreich“ und knüpft an die immense Zahl der sehr fein gefiederten Blättchen an.

6.4.7 Schwimmblatt-Farne In der Lebensgemeinschaft von Schwimmblattpflanzen in den Überschwemmungswiesen (Várzeas) kommt überraschenderweise auch eine Reihe von Farnpflanzen vor, also blütenlose Pflanzen, die sich über Sporen vermehren. Alle im Folgenden vorgestellten Schwimmblatt-Farne stehen in Europa bei Aquarienliebhabern hoch im Kurs.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     165

Schwimmender Hornfarn (Ceratopteris pteridoides) – Hornfarngewächse (Parkeriaceae) Weitere Namen: Adlerfarnähnlicher Hornfarn; auch den Saumfarngewächsen (Pteriaceae) zugerechnet Dieser sehr dekorative, einjährige Farn liebt wenig bewegtes Wasser, wie wir es häufig in den Várzeas vorfinden. Dort kann er bis 30 cm im Durchmesser erreichen, sonst bleibt er in Form und Größe kleiner. Bei abnehmendem Wasserstand kann er auch im schlammigen Boden wurzeln. Seine hellgrünen Schwimmblätter, die anfangs auch untergetaucht sein können, sind im jungen Stadium ungeteilt, später breit gelappt mit einem breit dreieckigen Umriss. Die aus dem Wasser ragenden, fein gefiederten Blätter sitzen an dem verbreiterten Blattstiel. An älteren Blättern entwickeln sich bei guten Lebensbedingungen in den Einkerbungen zwischen den Lappen viele Jungpflanzen aus Brutknospen (wie beim Brutblatt, Bryophyllum ). Die Wurzeln sind haarförmig, fein und entspringen direkt der Blattbasis. Die Blattstiele verbreitern sich stark in Richtung Blattspreite (deshalb sein Name Hornfarn). Sie bestehen aus schwammigem, luftgefüllten Gewebe und dienen als Schwimmkörper. An ausgewachsenen Exemplaren entwickeln sich Sporen tragende Blätter (Sporenwedel). Diese ragen steil nach oben und unterscheiden sich beträchtlich von den sterilen Blättern. Sie sind mehrfach gefiedert und weisen schmale Segmente auf. Der Rand dieser Blattsegmente ist nach unten eingerollt und verbirgt die Sporenkapseln. Die einheimische Bevölkerung soll die Blätter als Gemüse verwenden, doch in der Literatur wird darauf hingewiesen, dass sie karzinogene Inhaltsstoffe enthalten. Der Familienname ehrt den schottischen Pflanzensammler Charles Parker. Der Gattungsname setzt sich zusammen aus kéras (= Horn) und ptéris (= Farn), der Artname pteridoides bedeutet „adlerfarnähnlich“ und bezieht sich auf die geweihähnliche Gestalt der Sporenwedel. Öhrchenfarn (Salvinia auriculata) – Schwimmfarngewächse (Salviniaceae) Weitere Namen: Rundblättriger Schwimmfarn, Kleinohriger Schwimmfarn Dieser kleine Schwimmfarn ist aus Amazonien nicht wegzudenken. Man findet ihn in allen stehenden oder langsam fließenden nährstoffreichen (Weißwasser-)Gewässern an der Wasseroberfläche treibend. Als sehr invasive Pflanze kommt er inzwischen weltweit in den Tropen und Subtropen vor. Sogar in den Reisfeldern Madagaskars oder Japans habe ich ihn gefunden. Er besteht stets aus zwei etwa zwei Zentimeter großen hellgrünen, rundlichen Blättern, die der Wasseroberfläche aufliegen (Abb. 6.40). Ein drittes, sogenanntes „Wasserblatt“ ist fiederartig fein zerteilt und als solches kaum identifizierbar, denn es dient als „Wurzel“.

166     L. Staeck

Abb. 6.40  Der Öhrchenfarn besteht aus nur zwei öhrchenförmigen Schwimmblättern. Auf der Blattoberseite sitzen unzählige schneebesenförmige Papillen, die die Blätter stets an der Wasseroberfläche halten (1 μm = 0,001 mm)

Auffallend ist seine extrem hohe Vermehrungspotenz in Form von Ausläufern. Die Tochterpflanzen bilden dann größere zusammenhängende Ketten auf dem Wasser. Bei einem guten Nährstoffangebot kommt es in strömungsarmen Wasserarmen in kurzer Zeit zu großflächigen Überwucherungen. Dann bildet sich eine geschlossene bräunlich-grüne Decke dieses Schwimmfarns, die vergesellschaftet ist mit einem weiteren kleinen Schwimmfarn, dem Azolla-Farn. Der Salvinia-Farn verfügt an seiner Blattoberfläche über eine morphologische Besonderheit, die eine ähnliche Wirkung entfaltet wie der Lotos-Effekt der Lotosblume (hierzu Staeck 2016, S. 54). Auf der Epidermis aller Blätter sitzen vier winzige, warzenförmige Fortsätze (sogenannte Papillen ), deren Spitzen so miteinander verbunden sind,

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     167

dass sie wie ein Schneebesen aussehen (Abb. 6.40). Mit dieser Einrichtung wird das Blatt schnellstens wieder an die Wasseroberfläche befördert, wenn es eine Welle unter Wasser drückt. So kann es ohne Unterbrechung im Sonnenlicht Fotosynthese betreiben. Wenn man mit einer Lupe ein Blatt betrachtet, kann man unzählige dieser Papillen als winzige Noppen erkennen. Was man indes meist nicht sieht, sind unterhalb der Wasseroberfläche bisweilen an Stielen hängende kugelförmige Sporenkapseln. Unter Aquarianern ist der Öhrchenfarn eine beliebte Aquarienpflanze. Sowohl der Familien- als auch der Gattungsname Salvinia ehren den italienischen Professor Antonio Salvini (1653–1729). Der Artname auriculata bedeutet „öhrenförmig“. Die Art Salvinia biloba kommt ebenfalls in Amazonien vor; sie ist jedoch kaum von der hier beschriebenen zu unterscheiden. Azolla-Algenfarn (Azolla caroliniana) – Algenfarngewächse (Azollaceae) Weiterer Name: Kleiner Algenfarn Dieser Mini-Farn ist ebenfalls allgegenwärtig in den Várzeas. Die Einzelpflanze ist nur fünf bis zehn Millimeter groß und treibt in stehenden oder nur langsam fließenden Gewässern an der Wasseroberfläche. Über Ausläufer breitet sie sich rasant aus und bedeckt – ähnlich wie Salvinia – großflächig die Wasserflächen. An ihren verzweigten, horizontal verlaufenden Blattstängeln sitzen winzige, zur Wasserabweisung an ihrer Oberseite papillös behaarte Blätter, die sich schuppig überlappen (Abb. 6.41). Mit zunehmendem Alter der Blätter lagern diese (als Sonnenschutz?) Anthocyane ein, sodass sie dunkelrot aussehen. Jedes Blatt ist in zwei Lappen geteilt. Der Oberlappen liegt der

Abb. 6.41 Der Azolla-Algenfarn ist nur fünf bis zehn Millimeter groß

168     L. Staeck

Wasseroberfläche auf und betreibt Fotosynthese. Der Unterlappen ist dünn, nahezu farblos und untergetaucht. Ihre Wurzeln ragen nur wenige Millimeter nach unten. Sie beherbergen in einer nach unten offenen Höhlung des Oberblattes Blaualgen (Cyanobakterien), mit denen sie in Symbiose leben. Diese fixieren den im Wasser gelösten Stickstoff, den sie den Farnpflanzen zuführen. Dadurch sind diese zu diesen ungeheuren exponentiellen Vermehrungsraten befähigt. Diese Eigenschaft der Mini-Farne machen sich die Reisbauer in Asien zunutze. Sie lassen die Azolla-Farne sich zwischen den Reispflanzen massenhaft vermehren, kompostieren sie dann und verwenden anschließend das stickstoffreiche Kompostmaterial als Dünger für die Reispflanzen. In Amazonien wird dieser Farn als Vieh- und Fischfutter verwendet, die Caboclos verwenden einen Aufguss der Farnblätter gegen Halsschmerzen. Der Gattungsname setzt sich zusammen aus azo (= Dürre) und ollyo (= Absterben) und bezieht sich auf das Absterben der Farne bei einsetzender Trockenzeit. Der Artname weist darauf hin, dass diese Pflanzenart bis zum Bundesstaat Carolina in den USA natürlicherweise vorkommt. Als Zierpflanze in Gartenteichen und Aquarien ist der Azolla-Algenfarn sehr beliebt. Er ist mittlerweile pantropisch verbreitet und gilt in vielen tropischen Ländern als invasive Pflanze. Wasserklee (Marsilea crotophora) – Kleefarngewächse (Marsileaceae) Diese hübsche Farnpflanze wächst im stehenden, flachen Gewässern, wo sie lange, schlanke, verzweigte Rhizome bildet, oder sie kriecht auch im Schlamm, wenn der Wasserstand niedrig ist. Ihre wechselständigen vier Fiederblätter ähneln Kleeblättern. Die kugeligen Sporenbehälter entspringen dem Rhizom oder der Blattbasis eines Blattstieles. Der Familien- und Gattungsname ehrt den italienischen Pflanzensammler Graf Aloysius Marsigli (1658–1730). Der Artname setzt sich zusammen aus croto (= schmutzig) und phora (= tragend) und bezieht sich auf die Lebensweise dieser Pflanze, die mit ihren Rhizomen im Schlamm kriecht.

6.5 Epiphyten An den Säumen von Flüssen und Seen sowie in Sumpfgebieten mit einer Sonneneinstrahlung von bis zu zwölf Stunden am Tag siedeln sich gern Aufsitzerpflanzen (Epiphyten; von epi = obendrauf und phyta = Pflanze) an, die auf Stämmen und Ästen ihrer Trägerpflanze wachsen, ohne ihr zu schaden. Sie sind sozusagen Hausbesetzer: Der Trägerbaum kann eine Besiedlung

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     169

in der Regel nicht verhindern, wenn er nicht etwa mit Ameisenvölkern in wechselseitiger Abhängigkeit lebt, die jeden beginnenden Aufwuchs beseitigen, wie es zum Beispiel bei den Cecropien (Ameisenbäumen) der Fall ist (Abschn. 6.1.1). Es gibt Epiphyten, die Trägerpflanzen im Einzugsbereich des Weißwassers bevorzugen und andere, die mit Vorliebe auf Bäumen der Schwarzwasser-Igapós wachsen. Generell werden ihre Samen entweder mit dem Wind herbei geweht, wie bei den Orchideen, oder mit dem Vogelkot auf den Trägerbaum übertragen, wie bei den meisten Epiphyten.

6.5.1 Cattleya-Orchidee (Cattleya labiata) – Orchideengewächse (Orchidaceae) Die Orchideen bilden mit über 25.000 Arten die artenreichste Familie der Blütenpflanzen. Rund 90 % von ihnen sind in den Tropen beheimatet, aber es gibt auch Arten, die in den gemäßigten und sogar in den subarktischen Klimazonen wachsen. Im Amazonas-Tiefland wachsen mit Sicherheit mehrere Hundert verschiedene Arten. Doch wenn wir mit dem Boot an den Flussufern entlang fahren oder zu Fuß durch den Urwald wandern, sehen wir sie nur zufällig, da sie zumeist hoch oben in den Trägerbäumen wachsen, sie gerade nicht blühen oder ihre oft kleinen Blüten von uns übersehen werden. Die hier beschriebene Cattleya-Orchidee mit ihren großen hell-lilafarbenen Blüten blüht zwischen März und Ende April. Die Pflanzen wurzeln mit ihren kräftigen Rhizomen (verdickter Wurzelstock) gern auf den Ästen geschwächter Bäume, die zur Regenzeit mehrere Monate lang in den Schwarzwasser-Igapós stehen. Häufig werden noch zusätzlich dünne Luftwurzeln gebildet, die in der Lage sind, das an ihnen herunterlaufende Regenwasser aufzunehmen. Die Sprosse sind verdickt (Pseudobulben) und dienen als Wasserspeicher. An der Spitze der Pflanze stehen wenige schmal-lanzettförmige Blätter. Diese sind stets dickfleischig (sukkulent), dickledrig und parallelnervig sowie glattrandig. Die Blüten sind bizarr geformt. Sie bestehen aus drei äußeren und drei inneren Blütenblättern. Das mittlere der inneren Blütenblätter ist zu einer Lippe (Labellum) umgestaltet, die als „Schauapparat“ dient (Abb. 6.42). Gegenüber dieser Lippe steht meist ein keulenförmiges Säulchen, das aus den männlichen Staubblättern und dem weiblichen Griffel besteht, die miteinander verwachsen sind. Am oberen Ende dieses Säulchens steht meist ein Staubgefäß mit zwei Staubbeuteln, in denen der Pollen zu Paketen verklebt ist. Diese werden mit einem „Sekundenkleber“ oder durch Explosion auf den Bestäuber übertragen: Insekten, Vögel oder Fledermäuse. Unterhalb

170     L. Staeck

Abb. 6.42  Die Cattleya-Orchidee ist die Nationalblume Brasiliens

des Säulchens befindet sich die Narbe des Stempels als glänzende Scheibe. Auf dieser kleben die Pollenpakete fest, die die Blütenbesucher mitbringen. Unter dem Säulchen schließt sich der Fruchtknoten an. Die Früchte sind fast immer kleine Kapseln, die die extrem kleinen und ultraleichten Staubsamen enthalten: 10.000 bis 20.000 Samen wiegen nur ein einziges Gramm. Orchideensamen keimen nur, wenn ein artspezifischer Pilz den Samen an einer vorbestimmten Stelle („Pfortzelle“) infiziert. Er nimmt die Nährstoffe des Samens auf, der Samen bringt nun den Pilz zum Absterben, die dabei frei werdenden Nährstoffe reichen dem Samen zur Keimung. Der Name Orchidee kommt von dem Begriff orchis, was übersetzt „Hoden“ bedeutet. Die runden Wurzelknollen des Knabenkrautes bewogen den griechischen Naturwissenschaftler Theokrat vor 2400 Jahren zu dieser Namensgebung. Ein Paar dieser pflanzlichen „Hoden“ galt als Aphrodisiakum. Die Gattung Cattleya gilt als Königin der Orchideen. Ihr Namensgeber ist der englische Gartenbauspezialist Sir William Cattley, dem es 1824 als Erstem

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     171

gelang, sie zum Blühen zu bringen – damit löste er den ersten Orchideenrausch aus. Die Cattleya labiata (= lippenartig) ist die Nationalblume Brasiliens. Die Gattung Epidendrum (von griech. epi (= auf ) und dendron (= Holz), also „auf dem Baum“ wachsend) ist ebenfalls in Amazonien verbreitet. Bei ihr sitzen die Blüten häufig in (Schein-)Ähren. Übrigens gehört auch die Vanille (von spanisch vainilla = kleine Schote) zu den Orchideengewächsen. Die Gewürz-Vanille, Vanilla planifolia, kommt ursprünglich von Mexiko bis Mittelamerika vor.

6.5.2 Prächtige Mistel (Psittacanthus cucullaris) – Riemenblumengewächse (Loranthaceae) Weitere Namen: Papageienblume Diese Pflanze ist ein an der Basis verholzter Halbparasit mit ledrig-derben ovalen Blättern, die unserer heimischen Mistel nicht unähnlich sind. Über wurzelähnliche Absenker entnehmen sie der Wirtspflanze vor allem Wasser, daneben kann sie sich auch über ihr Chlorophyll selbständig ernähren. Die Kelch- und Blütenblätter sind gleich gestaltet und bilden zwischen März und Mai die an der Basis leuchtend orange-rot und an der Spitze orangegelb-gefärbte, etwa vier Zentimeter lange Blütenhülle (Abb. 6.43). Vor

Abb. 6.43  Die Prächtige Mistel wird von Kolibris bestäubt

172     L. Staeck

allem Kolibris übernehmen die Bestäubung. Die kugelförmigen, hellgrünen, Schleim bildenden Früchte werden von Vögeln aufgenommen. Die Samen werden bei der Reinigung der Schnäbel an Ästen abgestrichen oder sie passieren den Darm und gelangen nach der Ausscheidung auf Baumzweigen zur Keimung. Sie wächst an lichten Ufern von Weißwasser-Seen und -Flüssen sowie in den Várzeas, wo sie auf unterschiedlichen Gehölzarten schmarotzt. Der Gattungsname geht auf den Begriff psittacus (= Papagei) zurück und bezieht sich auf das lebhafte Farbenspiel der Blüten. Der Artname cucullaris bedeutet „kapuzenartig“ und bezieht sich auf die Form der Blütenhülle. Der Familienname setzt sich zusammen aus lóron (= Riemen) und anthos (= Blume) wegen der riemenartigen Blütenabschnitte anderer Vertreter dieser Familie. Die hier beschriebene Pflanzenart fällt dem Besucher vom Boot aus schon aus größerer Distanz auf, da sich ihre quirligen Sprosse und die leuchtenden Rotanteile ihrer Blüten vom grünen Laub ihrer Trägerpflanzen gut abheben.

6.5.3 Bromelien – Ananasgewächse (Bromeliaceae) Die unglaublich zahlreichen, inzwischen mehr als 3400 beschriebenen Vertreter dieser Pflanzenfamilie kommen nur in den Neotropen vor, also von Florida bis in die Urwälder der gemäßigten Klimazone in Chile. Die meisten von ihnen leben als Epiphyten in den Baumkronen, wobei sich ihre Blätter häufig in trichterförmigen Rosetten anordnen. Im Amazonas-Tiefland sind vor allem die drei Gattungen Tillandsia, Aechmea und Guzmania heimisch, von denen hier nachfolgend einige Arten beschrieben werden. Der Familienname bezieht sich auf den schwedischen Botaniker Olaus Bromel (1639–1759). Tillandsien (Tillandsia paraensis) Die Gattung Tillandsia besteht aus mehr als 500 Arten, die alle vom gemäßigten bis tropischen Süd- und Mittelamerika vorkommen. Im Amazonas-Tiefland gibt es mehrere Dutzend, die nicht immer leicht zu bestimmen sind, zumal sie meist hoch oben auf ihren Trägerbäumen sitzen. Sie sind ausdauernde Trichterpflanzen mit gestauchter Achse. Die derben, sukkulenten, parallelnervigen Blätter stehen dicht in einer Rosette zusammen, wobei sich die Blattansätze überdecken. So kann sich in dem Trichter Regenwasser sammeln. Zuweilen bilden die Laubblätter an ihrer Basis auch eine Scheinzwiebel wie bei Tillandsia paraensis (Abb. 6.44a). Bei Tillandsia limbata erhebt sich über die grau-grüne Blätterrosette ein bizarr verzweigter roter Blütenstand, bei dem die

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     173

Abb. 6.44  a Diese Tillandsie (Tillandsia paraensis) wächst als Epiphyt gern auf abgestorbenen Bäumen am Ufer von Schwarzwasserflüssen, b Diese Tillandsie (Tillandsia limbata) bildet einen bizarr verzweigten Blütenstand aus, c Diese Lanzenrosette lebt epiphytisch und auch terrestrisch – das heißt „in der Erde wurzelnd“, d Diese Guzmania (Guzmania sanguinea) lebt epiphytisch auf ihrem Trägerbaum

Hochblätter wie dünne Zweige aussehen. Aus deren leicht angeschwollenen Spitzen entwickeln sich die kleinen grünlich-weißen Blütenröhren. In der Abb. 6.44b sind die Blüten noch geschlossen. Die Hochblätter des Blütenstandes sind oft leuchtend-bunt, zumeist rot oder orange und bleiben über Wochen attraktiv. Die überwiegend winzigen Blüten sind weiß oder lila. Tillandsien leben in der Regel epiphytisch, selten terrestrisch. Häufig vermehren sie sich vegetativ durch „Kindelbildung“, wobei aus dem Stamm der Mutterpflanze Tochterpflanzen sprießen. Über Jahre kann auf diese Weise ein ganzer Horst von Pflanzen am Trägerbaum heranwachsen. Die Ernährung dieser wurzellosen Aufsitzerpflanzen erfolgt ausschließlich über Fotosynthese, sie sind also keine Schmarotzer! Der wissenschaftliche Gattungsname Tillandsia erinnert an den schwedischen Botaniker Elias Tillsands (1640–1693).

174     L. Staeck

Lanzenrosette (Aechmea distichantha) Auch die Vertreter dieser Pflanzengattung leben meist epiphytisch auf Bäumen, gern auf schwächelnden oder abgestorbenen Bäumen sitzend. Seltener wachsen sie terrestrisch, das heißt in der Erde wurzelnd, wie Aechmea distichantha (Abb. 6.44c). Durch die gestauchte Sprossachse stehen die parallelnervigen, breiten, dickfleischigen, ungezähnten oder auch mit Dornen bewehrten Laubblätter in einer Rosette zusammen. Dadurch bilden sie einen Trichter, der das Regenwasser sammelt. Der meist bemerkenswerte, oft bis 1 m hohe Blütenstand ist von kardinal-rot gefärbten Hochblättern umgeben, die bei der hier beschriebenen Art markant zurück geschlagen sind. Die winzigen Einzelblüten sind blau, blau-rot, aber auch gelb. Da sie verschwenderisch Nektar absondern, werden sie gern von Kolibris besucht. Vertreter dieser Gattung sind beliebte Zimmerpflanzen, da sie über Wochen blühen. Der Gattungsname ist dem griechischen aechme (= „Lanzenspitze“) entlehnt, da die Laubblätter sehr spitz zulaufen. Auch die im Amazonas-Tiefland heimische Wildform der Ananas Ananas nanus (nanus bedeutet in der Guarani-Sprache Ananas) gehört zu dieser Pflanzenfamilie. Sie wächst terrestrisch. Guzmania (Guzmania sanguinea) Auch die Vertreter dieser Pflanzengattung leben epiphytisch auf Bäumen. Diese Gattung kommt nur im tropischen Mittel- und Südamerika mit mehr als 200 Arten vor. Durch die gestauchte Sprossachse stehen die parallelnervigen, breiten, dickfleischigen meist mit Dornen bewehrten Laubblätter in einer Rosette zusammen. Dadurch bilden sie einen Trichter, der das Regenwasser sammelt. Die winzigen Blüten sind von farbigen Laubblättern umgeben. Diese sind an der Basis zitronengelb und danach kardinal-rot gefärbt (Abb. 6.44d). Vertreter dieser Gattung sind beliebte Zimmerpflanzen, da sie über Wochen blühen. Der Gattungsname ehrt den im 19. Jahrhundert lebenden spanischen Naturforscher Anastasio Guzmán. Der Artname sanguinea basiert auf dem lateinischen Wort sanguis (= Blut) und deutet auf die blutrot gefärbten Hochblätter hin. Eine verwandte Gattung ist Neoregelia, die auch im Amazonas-Tiefland vorkommt. Bei dieser Gattung sitzen die winzigen Blüten zu mehreren in den Achseln der rot gefärbten Hochblätter und teilweise rot umgefärbten Laubblättern. Bei anderen Arten sitzen die blauen Blütchen eng gedrängt in einem köpfchenartigen Blütenstand fast untergetaucht (in der Regenzeit) in einem

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     175

Wassertrichter wie bei Neoregelia carolinae, die im amazonischen Regenwald heimisch ist. Diese heißt auch die „Errötende Neoregelia“, da sich die Laubblätter erst mit beginnender Blüte rot umfärben. Der Gattungsname ehrt den deutschen Botaniker Eduard von Regel (1825–1892). Da jedoch der Pflanzenname regelia bereits vergeben war, wurde ein „Neo-“ davor gesetzt.

6.5.4 Großer Philodendron (Philodendron maximum) – Aronstabgewächse (Araceae) Diese mächtige Pflanze ist immergrün und ausdauernd. Ihre rhizomartige Basis verholzt mit zunehmenden Alter, wobei die kreisrunden hellen Narben der ehemaligen Blattstiele deutlich erkennbar sind. In ihrem Jugendstadium kann sie sich auch als Kletterpflanze an den Stämmen von Bäumen mithilfe von Adventivwurzeln (Hilfswurzeln) empor winden. Diese umschlingen dann in diesem Entwicklungsstadium ihren Trägerbaum wie Bindfäden (Abb. 6.45). Im Laufe der Jahre wird der Kontakt zum Boden entweder beibehalten, dann lebt die Pflanze hemiphytisch („unten und oben“) oder er wird aufgegeben und die Pflanze lebt epiphytisch, wobei sie eine große Zahl von Luftwurzeln ausbildet, die jedoch kaum den Boden erreichen, sondern aus der Luft Feuchtigkeit und Nährstoffe aufnehmen. Bei älteren Pflanzen, zum Beispiel bei Philodendron giganteum (mit gewelltem Blattrand) erreichen die verholzten und grob bedornten Luftwurzeln den Boden und liefern damit zusätzliche Nährstoffe. Die an langen Blattstielen hängenden, sehr großen und lappigen Blätter sind bei beiden Arten mehr oder weniger herz- oder pfeilförmig, ungeteilt und parallelnervig, bei Philodendron maximum ganzrandig. Da die Sprossachse der Pflanze gestaucht ist, bilden die Blätter ein Rosette von dicht an einander liegenden und sich zum Teil überlappenden Blättern, wodurch sich im Laufe der Jahre beträchtliche Mengen an welkem Laub, Zweigen, toten Insekten und Ausscheidungen anderer Lebewesen ansammeln. Aus diesen sich zersetzenden organischen Stoffen bezieht die Pflanze viele Nährstoffe, sodass sie mit den Jahren viele Meter Umfang erreichen kann. Vom Boden aus sieht diese Pflanze wie ein großer Busch aus, der auf einem Ast sitzt. An dem großen, bis 30 cm langen, erst grünlichen, dann cremefarbenen Blütenkolben sitzen – ähnlich wie bei der Sumpfcalla (Abschn. 6.3.1) – dicht gedrängt unzählige kleine, weißliche, unscheinbare zwei- bis dreizählige Blüten, die unten steril, darüber männlich und oben weiblich sind. Dieser Blütenkolben wird von einem anfangs fast geschlossenen, später sich öffnenden dekorativen, je nach Art cremeweißen

176     L. Staeck

Abb. 6.45  Der Große Philodendron lebt anfangs als Epiphyt, wobei sich zahlreiche Luftwurzeln ausbilden. Der cremefarbene Blütenkolben wird von einem dekorativen Hüllblatt umgeben. An der schlangenartig gebogenen Frucht des Philodendron sitzen dicht an dicht rot-violette, duftende Beeren, die viele Vogelarten anlocken

oder hellgelben Hoch- oder Hüllblatt (Spatha) umgeben (Abb. 6.45). Dieses lockt in den schattigen Baumkronen mit seiner leuchtenden Farbe Insekten an. Der bestäubungsbereite Blütenkolben erhöht (wie bei einer Reihe anderer Vertreter der Aronstabgewächse, Abschn. 6.3.1) seine Stoffwechseltemperatur um bis zu 15 Grad Celsius über die Umgebungstemperatur, wodurch verstärkt Duftstoffe abgegeben werden, die Käfer zur Bestäubung anlocken. Dieser Blütenkolben entwickelt sich nach erfolgter Bestäubung bei einigen Arten zu einer rötlichen, dünnen, schlangenförmigen Frucht, auf der dicht gedrängt zahlreiche kleine rot-violette, stark duftende Beeren sitzen (Abb. 6.45). Zum Familiennamen siehe Abschn. 6.3.1. Diese Familie ist mit über 4000 Arten einer der größten überhaupt mit einer Verbreitung vor allem in den Tropen. Der Gattungsname Philodendron bedeutet übersetzt

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     177

„Baumfreund“, was darauf hindeutet, dass diese Gattung zum Überleben auf andere Bäume angewiesen ist. Viele Philodendron-Arten sehen sich sehr ähnlich und sind deshalb schwer zu bestimmen. Die Bestimmung geht deshalb vor allem über die Gestalt der Blätter. Da die Laubblätter oft groß sind, tragen die unterschiedlichen Arten auch entsprechende Namen wie gigas, giganteum oder eben maximum. Neben der hier beschriebenen gibt es in derselben Region eine ähnliche Art mit Namen Philodendron undulatum. Der Artname bedeutet übersetzt „wellig“ und bezieht sich auf den gewellten Blattrand. Die Blätter der Philodendren werden trotz ihres Gehaltes an Oxalsäure gern von roten Brüllaffen gefressen. Aus den Luftwurzeln werden Seile und Körbe gefertigt.

6.6 Lianen 6.6.1 Orchideen-Wein (Stigmaphyllon diversifolium) – Malpighiengewächse (Malpighiaceae) Weitere Namen: Herzblatt-Amazonaswein, Butterfly Vine, Brazilian Glory Vine Diese immergrüne, bis acht Meter hoch schnellwachsende Kletterpflanze findet der Besucher vor allem an den Ufern kleinerer Nebenflüsse des Amazonas, aber auch im schattigen Wald. Die Laubblätter sind oval und besitzen eine deutliche Träufelspitze. Die emporstrebenden Sprosse bleiben auch über die Jahre mit nur wenigen Zentimetern Durchmesser eher dünn. Sie bilden um die Äste ihres Trägerbaumes lose Knäuel. Aus den Blattachseln entwickeln sich im April lockere Büschel strahlend hellgelber, orchideenähnlicher Blüten, die sehr dekorativ sind (Abb. 6.46). Die fünf rundlichen, an ihrem Rand leicht gewellten Blütenblätter gehen an ihrer Basis in einen Stiel über, der auf dem Blütenboden sitzt. Nach unten wird die Blüte durch fünf dunkelgelbe Kelchblätter abgeschlossen. Die zehn gelben Staubgefäße sind kaum auszumachen, denn sie werden durch drei blattartige, fast blasige Narben fast verdeckt. Die Einzelblüte misst nur etwa drei Zentimeter im Durchmesser. Der Namensgeber für diese Pflanzenfamilie ist der italienische Professor Marcello Malpighi (1628–1693). Der Gattungsname Stigmaphyllon bezieht sich auf die eigenartige Form der Narben (stigma = Narbe und phyllon = Blatt), der Artname diversifolium bedeutet übersetzt verschiedenblättrig.

178     L. Staeck

Abb. 6.46  Der Orchideen-Wein ist eine Kletterpflanze mit dekorativen gelben, orchideenartigen Blüten

6.6.2 Rote Passionsblume (Passiflora cocchinea) – Passionsblumengewächse (Passifloraceae) Bei guten Umweltbedingungen rankt sich diese Kletterpflanze rasch an ihrer Trägerpflanze empor. Sie hat kräftige, vierkantige Stängel mit harten, oft glänzenden Blättern, die meist fünf- bis siebenlappig sind; bei anderen Arten gibt es auch andere Blattformen. Die Blüten stehen einzeln am diesjährigen Spross. Der Grundaufbau aller Passionsblüten ist immer derselbe. Der Blütengrund ist generell zu einem Nektarbehälter ausgebildet, weshalb die Passionsblumen bei Vögeln und Schmetterlingen sehr beliebt sind. Das Auffälligste ist bei der hier beschriebenen Art ein Kranz aus leuchtend rot gefärbten, fleischig-fädigen Anhängseln innerhalb der Blütenblätter, die sogenannten Nebenkronen. Dieser Blütenbestandteil symbolisiert in der christlichen Mythologie die Dornenkrone Jesu (Abb. 6.47a). Genauso attraktiv sind die fünf roten Blütenblätter und ebenfalls fünf roten Kelchblätter, die dieselbe Farbe wie die Blütenblätter haben, sodass eine Einheit aus zehn gleich gefärbten Blütenblättern entsteht. Im Blütenzentrum sitzen an einer Säule die fünf gelben Staubblätter. Der rotgestielte Stempel teilt sich nach oben in drei Griffel mit wulstigen, gelblichen Narben (die Staubgefäße symbolisieren die fünf Wunden Jesu, die drei Narben die Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, der Stempel symbolisiert den

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     179

Abb. 6.47  a Die Rote Passionsblume wächst gern an sonnenreichen Flussufern (Passiflora cocchinea), b Die Passionsblume Passiflora vitifolia hat weinähnliche Laubblätter und eine Nebenkrone aus weiß-violetten Anhängseln, c Die Passionsblume Passiflora laurifolia hat lorbeerähnliche Laubblätter und eine violett-weiß gebänderte Nebenkrone, d Die Passionsblume Passiflora nitida hat eine langfädige, tiefblaue Nebenkrone, deren Fäden im letzten Drittel weiß gekräuselt sind

Weinkelch). Die zehn Blütenblätter können für zehn von zwölf Aposteln stehen – Judas und Petrus fehlten bei der Kreuzigung. Die drei- (oder fünf-) lappigen Blätter symbolisieren die Lanze. Die weiße Blütenfarbe bei anderen Arten steht als Symbol der Unschuld des Erlösers, die blaue Blütenfarbe für das Kleid der Muttergottes. Zudem ist jede Blüte bereits nach einem Tag verblüht. In den Achseln der Laubblätter entspringen bisweilen Ranken, die die Geißeln beziehungsweise Peitschen symbolisieren, mit denen Jesus geschlagen wurde. Auch die Früchte sind sehr verschiedengestaltig, jedoch meist rund und von grünlich-gelber Farbe, wie bei der hier vorgestellten Art. Die grauen Samen werden von einem glasig-weißlichen, geleeartigen säuerlichen Samenmantel umgeben.

180     L. Staeck

Die rote Passionsblume kommt an den besonnten Ufern von Weißwassern vor, gern in Überschwemmungswäldern, wo sie an ihren Trägerpflanzen sitzen. Sie blüht zwischen März und April. Eine weitere, nicht so häufig auffindbare rot blühende Art des Amazonas-Tieflandes ist Passiflora vitifolia (= rebenblättrig). Sie unterscheidet sich von der hier beschriebenen Art vor allem durch eine Nebenkrone aus zwei Kreisen weiß beziehungsweise dunkellila gefärbter fädiger Anhängsel innerhalb der roten Blütenblätter (Abb. 6.47b). Der wissenschaftliche Gattungsname leitet sich ab von passio (= Leiden) und flos (= Blüte), also die „Leidensblume“, und bezieht sich auf die eigenartige Morphologie der Blüte (siehe oben). Der Arname cocchinea bedeutet übersetzt „scharlachrot“. Entdeckt wurde diese Pflanze erstmalig von Pater Simone Parlasca, einem Jesuitenmönch, zu Ostern 1605 in Südamerika. Er überreichte diese filigrane, symbolreiche Blüte bei seiner Rückkehr an Papst Pius V. Später benutzten die Missionare den komplizierten Blütenaufbau, um den Indianern die Stationen des Leidensweges Christi zu erläutern. Noch zwei weitere sehr dekorative Passiflora-Arten sind mir bei meinen Bootsfahrten entlang von kleinen Weißwasserflussläufen begegnet: Passiflora laurifolia (=lorbeerblättrig, Abb. 6.47c) und Passiflora nitida (= glänzend, Abb. 6.47d). Generell muss man schon sehr aufmerksam die Ufervegetation absuchen, um in dem üppigen Blättergrün die farbigen Tupfer der Passifloren zu entdecken. Beide werden auch in Gärten gehalten, um die schmackhaften Früchte zu ernten. Häufig ist das Fruchtfleisch der Passionsblumen auch in Amazonien von wirtschaftlichem Interesse, so werden zum Beispiel auf den Märkten die süß-sauren Maracujá-Früchte (Tupi-Sprache für „Speise“) der Passiflora edulis und der Königsgrenadillen (Passiflora quadrangularis) angeboten. Die Passionsblumen enthalten in allen Teilen Alkaloide, die gern in Kombination mit Baldrian, Melisse, Hopfen oder Weißdorn verabreicht werden, sodass sie Blutdruck senkend und krampflösend sowie beruhigend und antidepressiv wirken sowie gern bei Schlafstörungen und Unruhezuständen verordnet werden. So wird beispielsweise die Droge Herba passiflorae aus den Blättern der Passiflora incarnata („Die Fleischgewordene“) hergestellt. Bei uns können Passifloren problemlos gehalten und über Stecklinge vermehrt werden.

6  Blütenpflanzen am und im Wasser     181

6.6.3 Urwald-Gurke (Gurania eriantha) – Kürbisgewächse (Curcubitaceae) Diese bis etwa acht Meter Höhe kletternde Rankpflanze findet man an steileren, stark besonnten Ufern von Weißwasserflüssen. An den Sprossenden entwickeln sich im April/Mai in lockeren Büscheln bis zu zehn dekorative, orange-rote Blüten. Diese sind eigentlich zwittrig, doch sie entwickeln sich je nach genetischer Dominanz der heranwachsenden Mutterpflanze zu eingeschlechtlichen Blüten, indem entweder die Staubgefäße oder die Samenanlagen verkümmern (Abb. 6.48). Alle Blüten sind stark seidig behaart, die herzförmigen Laubblätter sind anfangs ebenfalls leicht behaart. Die fünfzähligen Blütenblätter sind zusammen mit den Kelchblättern basal becherförmig verwachsen. Die braun-orangen, derbschaligen, etwa sechs Zentimeter großen Früchte speichern Wasser und enthalten Bitterstoffe.

Abb. 6.48  Die männliche Blüte der Urwald-Gurke ist dicht mit seidigen Haaren besetzt

7 Blütenpflanzen im Regenwald

Der Wald selbst ist zwar nicht undurchdringlich, doch am besten geht eine Person voraus, die mit der Machete den geplanten Weg freischlägt. Hierbei werden vor allem die in die Laufrichtung hängende Zweige und aufkommende Schösslinge abgeschlagen, um etwaige gefährliche Tiere, zum Beispiel Bienen, Wespen, Ameisen, Skorpione und Schlangen zu vertreiben und unangenehme Dornen und Stacheln sowie Stolperfallen zu beseitigen. Feste Schuhe, lange Hosen und ein Hemd mit langen Ärmeln sind empfehlenswert. Um sich nicht zu verlaufen, was sehr leicht passieren kann, sollte man sich entweder stets in Sichtweite des Flussufers aufhalten, ein GPS-Gerät dabei haben oder einen kundigen einheimischen Führer mitnehmen. Blüten in der Terra-Firme zu entdecken, ist nicht einfach! Zum einen kommen auf dem Waldboden nur wenige Blütenpflanzen vor – und diese blühen meist nur zu Beginn der Regenzeit. Allerdings habe ich häufiger die dekorativen rot-gelben Blüten der Brechwurz (Psychotria poeppigiana) am dunklen Urwaldboden entdeckt (Abschn. 5.3 und die Abb. 5.2). Zum anderen bewegen wir uns direkt auf dem Waldboden mit einer Sichthöhe von vielleicht zwei bis drei Metern, sodass unser Blick nicht weit reicht. Wir befinden uns gewissermaßen direkt im Verdauungstrakt des Regenwaldes, etwa zwischen „Dünn- und Dickdarm“, wo das gesamte organische Material wie Pflanzenreste, Laub- und Blütenblätter, Früchte mit ihren Hüllen, Exkremente sowie tote Tiere mithilfe unzähliger Bakterien, Pilze und weiterer Bodenorganismen abgebaut wird. Als Wanderer sieht man deshalb eher selten blühende Bäume, allenfalls auf dem Waldboden gefallene Blütenblätter. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_7

183

184     L. Staeck

Die beste Gelegenheit, blühende Bäume der Terra-Firme zu sehen, ergibt sich am Rand anthropogen entstandener oder durch einen Waldbrand oder durch einen umgestürzten Urwaldriesen verursachte Lichtungen sowie hinter den am Ufer angelegten Bananen-, Maniok- und Süßkartoffel-Anpflanzungen.

7.1 Laubbäume der Terra-Firme 7.1.1 Roter Trompetenbaum (Tabebuia impetiginosus) – Trompetenbaumgewächse (Bignoniaceae) Weitere Namen: Ipé, (Rosa, Gelber Trompetenbaum); Lapacho – Synonym: Handroanthus impetiginosus Diese mächtigen, bis 30 m hohen Bäumen sieht man bisweilen schon vom Fluss aus, wenn sie etwas höher im trockenen Primärwald in voller Blüte stehen (hier in Abb. 7.1 der gelbe Trompetenbaum). Ihr Stamm macht etwa ein Drittel der gesamten Höhe aus, die ausladenden, langen Äste etwa zwei Drittel. Die Laubblätter bestehen aus fünf Fingerblättchen,

Abb. 7.1  Der Gelbe Trompetenbaum blüht in der Trockenzeit, wenn die Laubblätter abgeworfen sind

7  Blütenpflanzen im Regenwald     185

die mit langem Stiel am Zweig sitzen. Während der Trockenzeit werden die Blätter abgeworfen. Am Ende dieser Periode, etwa im September, entfalten sich an den Zweigen endständig die imposanten, in Büscheln sitzenden, bis zu fünf Zentimeter langen Blüten, die leicht zerknittert wirken. Die Einzelblüte ist glockig-trichterförmig und geht nach unten in eine Röhre über. In der Blütenröhre sitzen zwei längere und zwei kürzere Staubgefäße (Abb. 7.2). Ähnliche, verwandte Arten sind der gelbblühende Ipé (Tabebuia aurea; Abb. 7.1) sowie der rosafarbene (Tabebuia rosea) und der weiße Ipé (Tabebuia alba). Im Schlund sind bei diesem viele Röhren rötlich geädert. Die lang gestreckten Fruchtkapseln springen bei der Reife mit zwei Klappen auf und entlassen Samen, die von einem papierartigen Flügelsaum umgeben sind. Der wissenschaftliche Gattungsname geht auf den Begriff Tacyba bebuya zurück, der aus der Tupi-Sprache stammt und „Ameisenholz“ bedeutet. Auch der Begriff Ipé ist ein Tupi-Wort und bedeutet „Baumrinde“. Das gelbliche, harte und schwere, pilzresistente und damit dauerhafte Holz der Tabebuia-Arten ist begehrt und wird regional als Brasilholz verkauft.

Abb. 7.2  Die trichterförmigen Blüten des Rosafarbenen Trompetenbaumes

186     L. Staeck

Der Artname impetiginosus bedeutet übersetzt schuppend, nässend (impetigo) und ansteckend (contaginosus) und bezieht sich auf einen Hautausschlag, der sich mit dem Pflanzensekundärstoff dieser Gattung behandeln lassen soll. Hierzu wird die getrocknete und zerkleinerte Rinde in Wasser gekocht, sodass das Phenol Lapachol (ein Vitamin-K-Abkömmlin) frei wird. Das Getränk wird als Lapacho-Tee getrunken und wird auch bei Fieber und Magenbeschwerden eingesetzt. Allerdings wird dieser Aufguss bei uns heute als toxisch eingestuft.

7.1.2 Kanonenkugelbaum (Couroupita guianensis) – Deckeltopfgewächse (Lecythidaceae) Weitere Namen: Arbre à Bombe („Bomben-Baum“), Castanha de Macaco („Affen-Kastanie“) Auch diese Baumart kann über 30 m hoch werden. Die bis zu 25 cm langen und 14 cm breiten Laubblätter sind elliptisch gebaut und sitzen in Büscheln an den Zweigenden. Mehrmals im Jahr werden die Blätter in schnellen Schüben gewechselt, was außergewöhnlich ist und wofür es noch keine stichhaltige Erklärung gibt. Besonders auffallend für diese Baumart sind unterhalb der eigentlichen Baumkrone viele kurze, blattlose Seitenzweige, die direkt am Stamm ansetzen. An diesen sitzen entweder die Blüten oder später runde kindskopfgroße Früchte (Abb. 7.3). Zur Blütezeit ist der Stamm mit Blüten übersät. Die bizarren, fast porzellanartig wirkenden, bis zehn Zentimeter großen Blüten weisen sechs tiefrote bis rosafarbene Blütenblätter auf. Wie alle Blüten der Deckeltopfgewächse haben auch die Blüten dieser Art eine außergewöhnliche Gestalt: Durch das Wachstum der Blütenachse auf nur einer Seite kommt ein weiß-rosafarbenes kammartiges Gebilde zustande, das sich zungen- oder auch helmartig über das Blüteninnere wölbt. Auf ihrer Innenseite stehen Hunderte von Staubblättern. Die Blüten stehen traubig entweder in größerer Zahl an den Zweigenden oder wachsen direkt aus dem Stamm heraus (Abb. 7.4). Diese Kauliflorie (= Stammblütigkeit) ist bei Bäumen der Tropen häufiger anzutreffen (zum Beispiel auch beim Kakaobaum). In den windstillen unteren Baumzonen übernehmen Fledermäuse die Bestäubung der Blüten, indem sie sich am Baumstamm festkrallen und den Blütennektar fressen. Die Blüten verströmen vor allem nachts einen intensiven, süßlichen Duft. Sie sind sehr kurzlebig und liegen am Morgen fast unversehrt in Mengen auf dem Waldboden. Die perfekt kugeligen, bis acht Kilogramm schweren Früchte mit derber, rotbrauner Fruchtwand – bei 25 cm Durchmesser – beherbergen

7  Blütenpflanzen im Regenwald     187

Abb. 7.3  Die kindskopfgroßen Früchte des Kanonenkugelbaumes gehören zu den Lieblingsspeisen der Wildschweine

ein zur Reife unangenehm riechendes Fruchtmus, das sich über den Waldboden ergießt, wenn überreife Früchte runterfallen. Eine große Zahl von kleinen Fruchtfliegen umschwirrt dann die stinkende, breiige Masse. Die Fruchtreife dauert bis zu neun Monate. Der Baum trägt das ganze Jahr über Blüten und Früchte. Aufgrund seiner dekorativen Blüten wird diese Baumart in vielen mittelamerikanischen Ländern als Straßenbaum oder in Parkanlagen angepflanzt. Der wissenschaftliche Gattungsname Couroupita ist die Bezeichnung dieser Pflanze in der Indianersprache Guayanas. Der Artname deutet ebenfalls auf Guayana hin, wo diese Baumart auch natürlich vorkommt. Er gehört zu derselben Pflanzenfamilie wie der Paranuss- und Paradiesnussbaum. Die Frucht weist bei der hier beschriebenen Art lediglich einen angedeuteten Deckel auf, der sich jedoch nicht öffnet. Die harte Schale der Früchte wird

188     L. Staeck

Abb. 7.4  Die bizarren Blüten des Kanonenkugelbaumes sind kauliflor, das heißt, sie wachsen direkt aus dem Stamm heraus

von Wildschweinen aufgebrochen, die das Fruchtfleisch fressen. Die Blätter enthalten Alkaloide, die traumstimulierend sein sollen.

7.1.3 Paradiesnussbaum (Lecythis zabucajo) – Deckeltopfgewächse (Lecythidaceae) Weiterer Name: Affentopf, Sapucaia (brasilianisch); Synonym: Lecythis pisonis Diese Baumart – ebenfalls ein Deckeltopfgewächs – gehört mit über 40 m zu den Riesen des amazonischen Regenwaldes. Ihr Stammdurchmesser kann dabei bis zu zwei Meter betragen. Auffallend ist die dichte Krone. Bei den Einheimischen besitzen derartige Baumriesen einen kulturellen Eigenwert. Wächst so ein Baum in einem Dorf, so wird er niemals gefällt, sondern geachtet – auch wegen seiner schönen Blüten und außergewöhnlich wohlschmeckenden Samen. Er wirft nach Beendigung der Regenzeit sein

7  Blütenpflanzen im Regenwald     189

Laub ab. Im September/Oktober erscheinen dann die hell-lilafarbenen, endständigen, bizarr geformten, vier bis fünf Zentimeter großen Blüten zur selben Zeit, wenn sich das neue Laub zu entfalten beginnt. Eingebettet in sechs blass-lilafarbene Blütenblätter sitzt ein zentrales kräftig violett gefärbtes weiteres Blütenblatt, dem zahlreiche gelb-violette Staubgefäße entspringen (Abb. 7.5). Holzbienen sind auf diesen eigenartigen Blütenaufbau spezialisiert und bestäuben die Blüten. Nach zehnmonatiger Reifezeit sind die bis 30 cm großen und bis zu zwei Kilogramm schweren, napfartigen Früchte reif. Der Deckel wird abgesprengt, sodass bis zu 30 Samen frei werden (Abb. 7.5). Diese sind – anders als bei der Paranuss – lediglich von einer dünnen Samenhaut umgeben. Allerdings sind die Samen zusätzlich mit einem großen fleischigen, cremefarbigen Arillus (Samenmantel) versehen, der eine attraktive Nahrungsquelle für Fledermäuse darstellt und so zur Verbreitung dieser Baumart beiträgt. Auf den Märkten des mittleren Amazonas – etwa in Parintins – werden sowohl die leeren holzigen Nüsse als Vorratsbehälter als auch die wohlschmeckenden Samen angeboten. Ihr Geschmack ist cremig-mandelartig mit einer leichten Anisnote. Auch das Öl der Samen – im Geschmack dem Maisöl ähnlich – wird sehr geschätzt. Allerdings absorbieren und speichern die Samen das im Urwaldboden vorhandene Selen. Dieses Spurenelement ist für den menschlichen Körper essenziell, in höheren Konzentrationen jedoch stark toxisch. Die Spanne zwischen

Abb. 7.5  Wie alle Blüten der Deckeltopfgewächse sind auch die Blüten des Paradiesnussbaumes absonderlich gestaltet. Die bis zu 30 cm großen Früchte des Paradiesnussbaumes enthalten zahlreiche wohlschmeckende Samen

190     L. Staeck

­ otwendiger Zufuhr und Zellschädigung ist jedoch bei Selen sehr gering. n Es erscheint deshalb empfehlenswert, die Samen der Paradiesnüsse nur in geringen Mengen zu verzehren, da man nie sicher sein kann, ob im Boden – und damit zehn Monate später in den Samen – höhere Konzentrationen des Elementes vorhanden sind. Im Volksmund gelten die großen Nüsse als Affenfalle. Greifen die Affen in die mit Zucker gefüllte Nuss hinein, können sie anschließend die geschlossenen Faust durch die Öffnung der Nuss nicht mehr herausziehen und sollen auf diese Weise gefangen werden. Der griechische Gattungsname Lecythis bedeutet übersetzt „Gefäß“ und der Artname zabucajo ist vom lokalen Namen Sapucaia abgeleitet.

7.1.4 Drei Kakaobaumarten (Theobroma und Herrania) – Malvengewächse (Malvaceae) Der Kakaobaum benötigt für sein Wachsen und Gedeihen Schatten und 2000 mm Niederschlag im Jahr. Und diese Bedingungen herrschen tief in der Terra-Firme, wo der Kakaobaum natürlicherweise vorkommt (neben Mexiko und Mittelamerika). Der Baum zählt mit seinem kurzen Stamm und maximal acht Metern Höhe eher zu den kleinen Bäumen und ist damit optimal an das Leben unter den ausladenden Kronen der großen Regenwaldbäume angepasst. Die kleinen, fünfzähligen, kaum einen Zentimeter großen, kompliziert gebauten, weißen Blüten sitzen direkt am Hauptstamm (kauliflor) und sind fast das ganze Jahr über zu sehen. Zu unterscheiden sind fünf fleischige, weiße Kelchblätter, fünf weiße, innen rötlich gestreifte Blütenblätter, fünf weiß-gelbliche Staubgefäße und ein konischer gelblicher Griffel (Abb. 7.6). Die Blütenblätter werden von winzigen Gnitzen (Bartmücken) bestäubt. Wenn diese fehlen, etwa aufgrund der Malariabekämpfung oder wenn Trichterbromelien mit ihrem Wasserreservoir nicht vorkommen, bleibt die Fruchtreife aus. Nach etwa vier Monaten sind die ellipsenförmigen, 15 cm langen Steinfrüchte reif, was durch die gelbe bis rote Färbung ihrer ledrig-harten Schale angezeigt wird (Abb. 7.6). Nur wenige Früchte erreichen allerdings durch verbreiteten Bakterien- und Pilzbefall im feuchten Urwald ihre Reife. Unter der Schale sind in einem weißen, süßlich-schleimigen, schmackhaften Fruchtfleisch bis zu 60 in Reihen angeordnete, etwa 2,5 cm lange, bräunliche, abgeflachte Samen. Aus dem Fruchtfleisch wird lokal ein frischer süßer Saft gewonnen (Suco de Cacao), das Fruchtfleisch selbst schmeckt auch angenehm süß.

7  Blütenpflanzen im Regenwald     191

Abb. 7.6  Die kaulifloren Blüten des Kakaobaumes sind winzig, dafür sind die Früchte mit 15 cm überraschend groß. Sie haben eine ledrig-harte dunkelgelbe bis rötliche Färbung.

Als Alexander von Humboldt 1799 das Fruchtfleisch und erstmals Rohkakao kostete, schrieb er in sein Tagebuch: „Kein zweites Mal hat die Natur eine solche Fülle der wertvollen Nährstoffe auf einem so kleinen Raum zusammen gedrängt wie gerade bei der Kakaobohne.“ Damit hatte er wahrlich Recht, ohne seinerzeit über die richtige chemische Zusammensetzung der Pflanzensekundärstoffe Bescheid zu wissen. Die Samen werden zusammen mit einem Teil des anheftenden Fruchtfleisches auf dem trockenen Dorfboden oder in einer Gärkammer einem mehrstufigen Gärungsprozess unterzogen, an dem zahlreiche, natürlicherweise vorkommende Bakterienarten beteiligt sind. Diese sind für das spätere so beliebte Aroma des Kakaos beziehungsweise der Schokolade maßgeblich verantwortlich. Die trockenen Samen werden anschließend in Säcke gefüllt und zum Beispiel nach Europa exportiert, wo sie in Schokoladenfabriken weiter verarbeitet werden. Die Samen werden gemahlen und verflüssigt, sodass eine dunkelbraue Kakaomasse entsteht. Diese besteht aus

192     L. Staeck

­akaobutter und Kakaotrockenmasse. Beide Bestandteile werden vonK einander getrennt und schließlich zu Schokolade verarbeitet. Auch die Caboclos und indigene Gruppe stellen für den Eigenbedarf Rohkakao her. Einige weitere interessante Inhaltsstoffe der Kakaobohne sollen hier noch erwähnt werden: • Das Alkaloid Theobromin (mit 1,2 % im Kakaopulver enthalten) war schon den Azteken als Aphrodisiakum bekannt; • Das Alkaloid Coffein (mit 0,2 % im Kakaopulver enthalten) wirkt kreislaufstimulierend (ungerösteter Kaffee enthält bis zu 2,5 % Coffein); • Aus den Inhaltsstoffen Epicatechin und Procyanid entstehen im Körper das Gamma-Valerolacton DHPV, das stark antioxidativ wirkt und der Hautalterung entgegenwirkt, indem der Kollagenabbau gebremst wird. Studien von 2017 zeigen, dass sich bei Menschen, die 24 Wochen lang täglich vier Gramm Kakaopulver eingenommen hatten, die vorhandenen Falten abnahmen. Neben dem Kakaobaum gibt es noch etwa 20 weitere Arten der Gattung Theobroma, die von Mexiko bis zum Amazonas-Gebiet vorkommen. Unter diesen ist hier der Großblütige Kakaobaum (Theobroma grandiflorum) besonders hervorzuheben, da er vom unteren bis mittleren Amazonas verbreitet vorkommt und für die Bewohner dieses Gebietes von regionaler und kultureller Bedeutung ist. Diese Baumart benötigt ähnliche Lebensbedingungen wie seine berühmte Verwandte, wird jedoch mit bis zu 20 m deutlich größer. Der Großblütige Kakaobaum ist jedoch nicht kauliflor, sondern die gestielten, deutlich größeren Blüten sitzen an Seitenzweigen. Die bis zu 30 cm großen, granatförmigen, braun-roten Früchte verströmen zur Reife einen starken süßlich-strengen Duft. Die Früchte sind ähnlich aufgebaut wie beim Kakaobaum, und sie werden unter dem Namen Cupuaçu auf lokalen Märkten verkauft (Abb. 7.7). Ihr süß-säuerliches, aromatisches Fruchtfleisch ist bei der einheimischen Bevölkerung ebenso beliebt wie die cremigen, dickflüssigen Erfrischungsgetränke und die Eiscreme, die aus dem Fruchtfleisch zubereitet wird. Europäer haben mit dieser Geschmacksnote allerdings häufiger Schwierigkeiten. Eigenen Beobachtungen zufolge schwärmt etwa die Hälfte der Besucher von dem tropisch-exotischen Geschmack des Cupuaçu-Saftes, die andere Hälfte lehnt dieses Getränk kategorisch ab. Übrigens wird die Cupuaçu-Butter aufgrund ihrer antibakteriellen Wirkung in Brasilien zur Wundreinigung verwendet.

7  Blütenpflanzen im Regenwald     193

Abb. 7.7  Die Früchte des Cupuaçu-Baumes, eine Verwandte des Kakaobaumes, enthält ein aromatisches Fruchtfleisch

Der Gattungsname Theobroma setzt sich zusammen aus théos (= Gott) und broma (= Speise) und bedeutet demnach „Götterspeise“. Der Artname cacao ist aztekischen Ursprungs und bezeichnet die Frucht selbst (cacauatl). Tipp Ein schönes Souvenir für Zuhause ist eine Body-Lotion oder ein Stück Seife aus Cupuaçu-Butter, in der Vitamin E und zellaufbauende Derivate, das sind Abbauprodukte von Phytosterolen, enthalten sind. Die Bestandteile des Saftes vermitteln in beiden Produkten ein sehr angenehmes Hautgefühl, und der fruchtig-aromatische Duft ist unwiderstehlich und lockt fast zum Reinbeißen. Diese Produkte erhält man über brasilianische Kontaktpersonen oder in guten Drugstores.

Und schließlich soll hier noch eine weitere Verwandte des (echten) Kakaobaumes, der man in der Terra-Firme gelegentlich begegnen kann. Es handelt sich um den „Wilden Kakao“ (Monkey Cacao, Wild Cocoa) beziehungsweise Herrania mariae, der im Unterholz wächst: Ein immergrünes, unverzweigtes, kleines Bäumchen, das etwa sieben Meter groß werden kann. Die kleinen, fünfzähligen, etwa einen Zentimeter großen dunkelroten Blüten, die in Büscheln direkt am Stamm sitzen (kauliflor), wurden im April/Mai beobachtet. Auffallend sind fünf, etwa ebenso viele Zentimeter langen aus dem Blütenboden heraushängenden weißen fleischigen Fäden (Abb. 5.8). Die am Stamm wachsenden, ellipsenförmigen, zehn Zentimeter langen Steinfrüchte färben sich zur Reife gelblich. Das aromatisch duftende weiße

194     L. Staeck

Fruchtfleisch ist essbar und die sehr fetthaltigen Samen lassen sich ähnlich wie beim „echten“ Kakao zu Kakaopulver verarbeiten. Der Gattungsname Herrania wurde dem kolumbianischen Staatsmann und General Pedro Herrán (1800–1872) gewidmet.

7.1.5 Lippenstiftbaum (Bixa orellana) – Annattogewächse (Bixaceae) Weitere Namen: Orleansstrauch, Bixi, Achote, Lipstick Tree, Urucu (brasilianisch) Dieses kleine, bis etwa acht Meter hohe Bäumchen wächst im Halbschatten. Die jungen Zweige sind rötlich-braun behaart, die Blattnerven oft rötlich. Diese Baumart zeigt zwei Varietäten: Die eine mit weißen Blüten und grünen Samenkapseln, die andere mit schwach rosafarbenen Blüten und rotbraunen Kapseln. Die etwa fünf Zentimeter großen Blüten stehen in Rispen am Ende der Zweige und weisen je fünf Kelch- und Blütenblätter auf, zwischen denen sich eine Vielzahl rosa-rötlicher Staubblätter befindet. Die etwa vier Zentimeter großen Früchte sind weich bestachelt. Wenn man diese mit den Fingern öffnet, zeigen sich bis zu 50 jeweils fünf Millimeter lange Samen. Diese werden von einem scharlachroten, fleischigen Samenhäutchen (Arillus) bedeckt (Abb. 7.8).

Abb. 7.8  Die Samen des Lippenstiftbaumes enthalten einen scharlachroten Farbstoff, der in der Kultur der Yaguas eine wichtige Rolle spielt

7  Blütenpflanzen im Regenwald     195

Oft sind Blüten und Früchte mit unterschiedlichem Reifegrad gleichzeitig am Strauch zu sehen. Die Stammborke enthält Korkporen (Lentizellen), die als kanalartige Durchbrechungen der Borke für den notwendigen Gasaustausch mit der Umgebung sorgen. Im Rahmen der Globalisierung ist dieses dekorative Bäumchen mittlerweile in vielen tropischen Regionen, auch in Asien, als Zier- und Nutzstrauch eingebürgert. Der Gattungs- und Familienname Bixa geht auf die alte indianische Bezeichnung „biga“ (= rot) zurück. Der Artname orellana bezieht sich auf den berühmten spanischen Konquistadoren Francisco de Orellana, der in den Jahren 1539 bis 1541 von Ecuador aus über den Rio Napo zum Amazonas und weiter bis zu dessen Mündung fuhr. Die Samen dieser Pflanze enthalten die leuchtend roten Farbstoffe Bixin und Norbixin. Der erste ist fett-, der zweite wasserlöslich, woraus sich viele Anwendungsmöglichkeiten in der Lebensmittel- und Parfumindustrie ergeben. Der geschmacksneutrale Farbstoff (Handelsname Annatto ) wird zum Färben von Butter, Margarine, Käse, Schokolade, Reis, Suppen, Lippenstiften und Seifen verwendet, auch Wolle und Seide erhalten durch ihn eine orange Färbung. Bei uns ist Bixin sogar als Lebensmittelfarbe E 160b anerkannt und befindet sich zum Beispiel auf der Rinde der Käsesorte Esrom. Die Indianer, etwa die Yaguas, benutzen ihn auch heute zum Färben von Haut und Haaren (Abschn. 4.1). So kam es auch zur Bezeichnung „Rothäute“. Eine Reihe von südamerikanischen Ländern exportiert den Farbstoff. Die Samenschalen werden außerdem als Anti-Wurmmittel verwendet, die Blätter und Wurzeln als Medikament gegen Kopfschmerzen.

7.1.6 Stolz von Trinidad (Warszewiczia coccinea) – Rötegewächse (Rubiaceae) Weitere Namen: Wasi Wixi Dieser bis 15 m hohe Baum steht gern an Lichtungen, wo er sich zwischen konkurrierenden Bäumen emporstreckend. Er ist außergewöhnlich aufgrund seiner attraktiven, bis 80 cm langen Blütenstände aus knallroten Hochblättern (Brakteen) und unauffälligen, nur etwa sechs Millimeter großen, gelben, fünfzähligen Blütenblättern, die dicht gedrängt auf der Oberfläche einer langen Achse als Büschel stehen (Abb. 7.9). Bei ein bis zwei Blüten pro Büschel ist jeweils ein Kelchblatt zu einem lang gestielten, elliptischen, bis zehn Zentimeter langen leuchtend roten Schaublatt (Brakteum) mit blattartiger Struktur vergrößert. Im grünen Blattwerk des Waldes f­allen

196     L. Staeck

Abb. 7.9  Der außergewöhnliche Blütenstand des Baumes „Stolz von Trinidad“ besteht aus zahlreichen, bis zu zehn Zentimeter langen, leuchtend roten Hochblättern, die auf einer bis zu 80 cm langen Achse stehen. Dazwischen sitzen die unauffälligen Blüten

diese mächtigen, karminroten Blütenstände schon aus größerer Distanz auf. Die lang gestreckten, elliptischen, bis 50 cm langen Blätter weisen eine Träufelspitze auf. Von der Blattmittellinie zweigen kräftige Seitennerven ab; zwischen ihnen ist die Blattfläche oft wellig. Die nur einen halben Zentimeter großen, kugeligen Früchte stellen zweiteilige Kapseln dar, die viele winzige Samen enthalten. Der Gattungsname bezieht sich auf den polnischen Garteninspektor Józef Warszewicz Ritter von Rawicz (1822–1866), der diese Pflanze erstmals beschrieb. Da dieser Name für deutsche Zungen nicht leicht auszusprechen ist, wird sie auch häufig einfach „Wasi Wixi“ genannt. Der Artname coccinea bedeutet übersetzt „scharlachrot“. Diese Pflanze ist die Nationalblume von Trinidad und Tobago, wo sie stets zum Nationalfeiertag am 31. August blüht. Dort wird sie auch nach dem letzten spanischen Gouverneur José Chaón als „Chaconia“ bezeichnet. Die großen, roten Schaublätter locken Kolibris an, die aus den Blüten Nektar trinken. In der Volksmedizin wird die Pflanze gegen Blutungen eingesetzt.

7  Blütenpflanzen im Regenwald     197

7.1.7 Gold-Feige (Ficus aurea) – Maulbeerbaumgewächse (Moraceae) Weitere Namen: West Indian Laurel Fig, Gummibaum, Würgefeige Diese Baumart wächst sowohl in der Terra-Firme als auch an See- und Flussufern, die dem saisonalen Hochwasser ausgesetzt sind. Sie ist nicht zu verwechseln mit dem hier ebenfalls heimischen Kautschukbaum (Hevea brasiliensis). Sie ist schnellwachsend und immergrün und mit bis zu 30 m ein mächtiger Baum mit weit ausladender Krone. Seine Lebensweise ist hemi-epiphytisch, das heißt, ihre mit dem Kot von Vögeln auf Baumäste gelangende Samen keimen dort und wachsen auf ihrem Wirtsbaum schnell zu kleinen Bäumen heran, wobei sie epiphytisch leben und sich selbst ernähren; sie sind also keine Schmarotzer. Wenn die Luftwurzeln dieser Pflanze den Waldboden erreichen, beginnt ihre Biomasse durch das nunmehr große Nährstoffangebot exponentiell zuzunehmen. Zahlreiche Nebenstämme, quer verlaufende Äste und weitere Luftwurzeln entwickeln sich, bis schließlich die Luftwurzeln und zahlreiche Seitenstämme ihren Wirtsbaum umschlingen und schließlich zum Absterben bringen. Eines Tages, vielleicht erst nach 100 Jahren, wird diese Würgefeige als frei stehender Baum wurzeln (Abb. 7.10). Weitere Einzelheiten werden in Abschn. 5.9 beschrieben.

Abb. 7.10 Zahlreiche vom Hauptstamm herunterhängende Luftwurzeln sowie bereits im Boden verankerte dicke Sekundärstämme sind charakteristisch für die Gold-Pflaume. Die Schwarfärbung der Stämme markiert die Hochwasserlinie

198     L. Staeck

Die bis 20  cm langen, kurz gestielten, elliptischen, dunkelgrünen und stark glänzenden Blätter haben eine Träufelspitze. In allen Pflanzenteilen fließt ein klebriger gummiähnlicher Milchsaft (Latex), den die Einheimischen als Gummiersatz nutzen, zum Beispiel zum Kleben oder als Kaugummi. Die unscheinbaren Blüten sitzen in Blütenständen, die männliche, weibliche und sterile Blüten enthalten. Sie sind unscheinbar, von kugeliger Gestalt und selten vom Boden aus erkennbar. Alle Feigenarten leben in einer Symbiose mit Feigenwespen; nur die Wespen bestäuben die kompliziert aufgebauten Blüten und umgekehrt benötigen die weiblichen Wespen für die Eiablage die Blüten. Die fleischigen Früchte sind bis zu zwei Zentimeter groß und kugelig und werden zur Reife goldgelb. Sie werden von den Einheimischen gegessen und sind auch attraktiv für Vögel, Fledermäuse und Affen, die für die Verbreitung dieser Gattung sorgen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die einzelnen Vertreter aller Feigenarten in dem gesamten Regenwald nicht synchron blühen und fruchten, wie sonst üblich, sondern jeder einzelne Baum entwickelt seinen eigenen Blüh- und Fruchtrhythmus. Das stellt sicher, dass sowohl die Feigenwespen als auch die fruchtfressenden Tiere immer versorgt werden – und damit für die Verbreitung der Feigen beitragen. Die hier vorgestellte Feigenart ist nur ein Beispiel für zahlreiche weitere, die im Amazonas-Tiefland vorkommen. Das Erscheinungsbild dieser Feigenarten mit meist mächtigen herunterhängenden Luftwurzeln oder gewaltigen Wurzelwucherungen an der Stammbasis ist ähnlich, durch die winzigen und kompliziert aufgebauten Blüten ist jedoch eine genaue Artbestimmung schwierig. Generell lassen sich hemi-epiphytische von Bodenwurzelern unterscheiden. Feigen können ein hohes Alter von weit über 100 Jahren erreichen. Der Gattungsname Ficus bedeutet übersetzt „Feige“, der Artname geht auf den Erstbeschreiber zurück, der diese Baumart im Hinblick auf die Farbe der Früchte aureus (= golden) nannte. Zur Gattung Ficus zählen bis zu 1000 Arten, die alle in den Tropen und Subtropen vorkommen. Unsere einheimische Maulbeere ist übrigens die Namensgeberin für diese Pflanzenfamilie: Morula bedeutet übersetzt „Maulbeere“.

7.1.8 Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) – Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) Weitere Namen: Rubber-Tree, Caouchouc (französisch), Gummibaum Dieser Baumriese von bis zu 40 m ist ein typischer Vertreter der Terra-Firme. Er ist nicht zu verwechseln mit den Gummibäumen (Ficus), die

7  Blütenpflanzen im Regenwald     199

zu den Maulbeerbaumgewächsen (Moraceae) gehören. Der Kautschukbaum wirft in der Trockenzeit seine Blätter ab. In den Gefäßen seiner Rinde fließt der begehrte Milchsaft (Latex), der bis zu 40 % gummiartigen Kautschuk enthält. Die markante Rinde ist dünn und auffallend glatt und hellgrau. Auffällig sind auch die großen, gestielten, dreiteiligen Laubblätter, die elliptisch und mit einer Träufelspitze versehen sind. Die winzigen, unscheinbaren, gelblichen und penetrant riechenden Blüten sitzen in einem großen doldenartigen Blütenstand. Man bekommt sie jedoch praktisch nie zu Gesicht, da sie sich hoch oben in der Baumkrone befinden. Unter den Bäumen liegen immer entweder die ca. vier Zentimeter großen, gestielten, bräunlichen, dreiteiligen Kapselfrüchte oder die glänzenden, zwei Zentimeter großen, hell- und dunkelbraun gesprenkelten, eiförmigen Samen (Abb. 7.11). Bei einer Wanderung durch die Terra-Firme sammelte ich einmal einige Kapselfrüchte, um sie später zu fotografieren. Nach meiner Rückkehr zum Schiff legte ich sie vorübergehend auf den Nachttisch in meiner Kabine. In der Nacht wurde ich durch zwei explosionsartige Knallgeräusche geweckt. Bei Licht sah ich dann, dass zwei reife Kapseln aufgesprengt waren, wobei die jeweils drei Samen in alle Ecken der Kabine geschleudert wurden. So passiert es auch auf den Bäumen oder auf dem Waldboden, wo die bei der Reife aufplatzenden Fruchtkapseln ihre Samen über eine beträchtliche Entfernung ausstreuen. Die einheimische Bevölkerung zieht die hübschen Samen gern auf Ketten auf und verkauft sie als Souvenir. Hevea-Samen haben einen hohen Ölgehalt, sodass sie von den Caboclos zu Brei und Fladen verarbeitet werden. Auch für Fische stellen sie eine wichtige Nahrungsquelle dar, zum Beispiel der Tambaqui (Mühlsteinsalmler) mästet sich regelrecht damit (Abschn. 8.1.2). Die Urbevölkerung erkannte schon frühzeitig die gummiartigen Eigenschaften des Latex. Mit einem Messer wurden – und werden auch heute noch – alle zwei bis drei Tage diagonal einige kurze, etwa einen Zentimeter tiefe Schnitte in die Rinde gezogen, sodass die Milchsaftgefäße zwar verletzt werden, aber die Leitungsbahnen insgesamt weitgehend intakt bleiben. So wird die Rinde sukzessive bis zum Boden aufgeritzt. Der Latex fließt sodann in ein Auffanggefäß, das täglich geleert werden muss, um ein frühzeitiges Zusammenklumpen (Koagulieren) des Latex zu verhindern (Abb. 7.12). Anschließend wird der Milchsaft über Feuer und Rauch erhitzt, wobei ständiges Rühren notwendig ist, bis die Masse schließlich zu Rohgummi (Rohkautschuk) koaguliert. Der Rohkautschuk wird entweder auf sich drehende Holzspieße geträufelt, bis sich der Kautschuk verfestigt, oder zu 40 kg schweren Kugeln und Ballen geformt. Von der Urbevölkerung ist Spielzeug aus elastischem Naturkautschuk überliefert, zum Beispiel Springbälle. Schon Christoph Kolumbus berichtete 1495 von Gummibällen als Spielzeug.

200     L. Staeck

Abb. 7.11  Der Kautschukbaum hat braun gesprenkelte Samen

Kautschuk war bekanntlich für den märchenhaften, unglaublichen Gummi-Boom zwischen 1839 und 1910 verantwortlich, der Manaus und Belém zu den reichsten Regionen Brasiliens machte und viele GummiBarone hervorbrachte. Allerdings war mit jeder Tonne Rohgummi auch ein Menschenleben verbunden (Malaria, Wurmerkrankungen, Unterernährung usw.). Im Jahr 1876 schmuggelte jedoch der Brite Sir Henry Alexander Wickham mehrere Tausend Samen nach England. Von diesen keimten jedoch nur knapp 2400 in Kew Gardens bei London, 23 überlebten als Keimlinge und bildeten die Grundlage für große Kautschuk-Plantagen in Mallaka, dem heutigen Malaysia, wo allerdings erst ab 1910

7  Blütenpflanzen im Regenwald     201

Abb. 7.12  Der gummihaltige Milchsaft des Kautschukbaumes fließt aus einem diagonal angesetzten Schnitt aus der Rinde heraus

202     L. Staeck

enorme Rohgummi-Mengen erwirtschaftet wurden. Damit endete jedoch der märchenhafte Boom in einer existenzvernichtenden Katastrophe. Der US-amerikanische Autobauer Henry Ford versuchte zwar ab 1920 mit der Errichtung der gewaltigen Kautschuk-Plantage Fordlȃndia auf 10.000 km2 etwa 20 km südlich von Santarém, das Rad noch einmal zurückzudrehen. Doch in dem schwül-feuchten Klima Amazoniens sind solche Plantagen aufgrund des massenhaften Vorkommens phytophager Bakterien, Pilzen und Viren nicht überlebensfähig. Der Schlauchpilz Microclyclus ulei bereitete diesem Projekt ein jähes Ende. Tipp Der Name Kautschuk geht auf das Wort cauchum aus der Tupi-Sprache zurück und bedeutet sehr treffend „der Baum, der weint“. Der Gattungsname Hevea wurde abgeleitet von dem Begriff hevé, den die Ureinwohner für den Kautschukbaum verwendeten. Wenn der Leser nach Alter do Chão kommt, einem kleinen Ort 15 km südlich von Santarém, der malerisch an einem See des Klarwasserflusses Rio Tapajós liegt, dann findet er verstreut im ganzen Ort 120 Jahre alte Kautschukbäume, die aus der Zeit stammen, als die Transporte mit dem Rohkautschuk aus Fordlȃndia hier vorbei kamen. Hier kann man zum Beispiel zwischen April und Mai in Ruhe überall unter den Bäumen die hübsch marmorierten, glänzenden Kautschuksamen aufsammeln, die dann vielleicht später in einem Glas auf einer Vitrine im Wohnzimmer an eine schöne Reise erinnern. Darüber hinaus kann man auch unter den gewaltigen Kronen der alten Hevea-Bäume gerade keimende Samen sowie ältere Keimlinge und Schösslinge bis zu einer Größe von 20 cm sehen.

7.1.9 Pracht-Senna (Senna spectabilis) – Hülsenfrüchtler (Fabacea) Andere Namen: Kassia; Synomym: Cassia spectabilis oder excelsa Dieser immergrüne, kaum zehn Meter Höhe erreichende Baum wächst sowohl in der Terra-Firme wie an halbschattigen Flussufern. Er ist bemerkenswert, da er die von Alfred Wegener begründete Theorie der Kontinentalverschiebung bestätigt. Vertreter dieser und der eng verwandten Gattung Cassia gibt es ursprünglich sowohl im tropischen Südost-Asien als auch im Amazonas-Tiefland. Sie existierten bereits auf dem großen Süd-Kontinent Gondwana, bis sich dieser vor etwa 100 Mio. Jahren allmählich in die heute bekannten Kontinente auf der Südhalbkugel aufspaltete. Danach entwickelten sich unterschiedliche Vertreter der Gattungen Cassia beziehungsweise Senna in Südost-Asien, Australien, Madagaskar, Südafrika und auch im Amazonas-Tiefland.

7  Blütenpflanzen im Regenwald     203

Die endständigen Blütenbüschel der Pracht-Senna sind blassgelb und nicht so goldgelb wie bei den vielen bekannten Cassia-Arten, die deshalb gern auch als Goldregen oder „Golden Shower“ bezeichnet werden. Die Einzelblüte besteht aus fünf kurz gestielten Blütenblättern, bei denen der Fruchtknoten und die unteren drei braunen Staubblätter nach oben gekrümmt sind (Abb. 7.13). Jedes Laubblatt ist elliptisch geformt und hat eine Träufelspitze. Die Früchte sind etwa 30 cm lange dunkelbraune, gekammerte, verholzte Hülsen.

Abb. 7.13  Die Pracht-Senna des Amazonas-Beckens bestätigt Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung

204     L. Staeck

7.2 Palmen 7.2.1 Pfirsich-Palme (Bactris gasipaes) – Palmengewächse (Arecaceae) Weitere Namen: Stachelpalme, Chonta (spanisch), Peach Palm, Pupunha (Amazonien) Die schnellwachsende, bis in eine Höhe von 20 m reichende Palme wächst überall in der Terra-Firme. Kennzeichnend sind die breiten, mit fünf Zentimeter langen, spitzen Stacheln versehenden ringförmigen Bänder am Stamm, die sich mit stachellosen Rindenabschnitten abwechseln. Den Abschluss der Palme bildet ein Schopf aus Fiederblättern, der dem Erscheinungsbild der Kokospalme ähnelt. Bei den Bewohnern des Amazonas-Tieflandes spielt diese Palme eine wichtige Rolle: Das harte Holz wird für den Hausbau verwendet, und der Vegetationspunkt wird als Palmenherz geerntet. Die Palme geht dabei nicht ein (wie sonst üblich), da sie wie die Açai-Palme sprossbürtig neben der Mutterpflanze stets vegetativ zahlreicheiche Schösslinge als Klone ausbildet (so ist sie auch leicht zu identifizieren), die den Platz der geernteten Palme übernehmen. Ansonsten wird der gekochte Wurzelsud gegen Durchfall eingesetzt. Die fünf Zentimeter großen, ovalen Steinfrüchte sitzen in großen Bündeln zusammen. Die Einzelfrucht enthält einen kleinen schwarzen Kern (bei Kultursorten fehlt dieser auch), der von essbarem Fruchtfleisch umgeben ist. Zur Reife färben sich die Früchte – je nach Sorte – gelb, orange oder rot. Man sieht sie dann überall auf den Märkten der Region, wo sie als Pupunha verkauft werden (Abb. 7.14). Auch Vögel, vor allem Papageien, lieben diese Früchte. Das Fruchtfleisch muss jedoch für zwei Stunden gekocht werden, bis es als stärke- und Vitamin-Ahaltiges Gemüse (wie Kartoffeln) gegessen werden kann. Die Früchte werden auch zu Fruchtsaft oder zu eiweißreichem Palmöl verarbeitet. Schließlich fällen Einheimische in ihren Dörfern auch immer wieder diese Palmen, damit sich in dem verrottenden Holz Rüsselkäfer ansiedeln, deren wohlschmeckende, große Larven sich von dem toten Holz ernähren und für die Menschen eine Delikatesse sind (Abb. 3.2).

7  Blütenpflanzen im Regenwald     205

Abb. 7.14  Die Früchte der Pfirsich-Palme liefern ein beliebtes stärkehaltiges Gemüse

7.2.2 Tucumã-Palme (Astrocaryum aculeatum) – Palmengewächse (Arecaceae) Anderer Name: Astrocaryum tucumã Diese Palmenart ist typisch für trockene Standorte der Terra-Firme mit offenen Flächen und niedriger Vegetation. Sie gilt als Pionierpflanze, die auch Flächenbrände überlebt und danach schnell wieder austreibt. Ihre Samen brauchen allerdings bis zu zwei Jahre bis sie keimen und erst ab dem achten Jahr beginnt sie, Früchte zu bilden. Sie steht solitär, wird bis zu 25 m groß und ihre grau-grünen Blattwedel stehen ebenso nach oben wie ihr Blütenstand. Auffallend sind ringförmige Reihen langer schwarzer Stacheln am Stamm. Begehrt sind vor allem ihre etwa vier Zentimeter großen, gelben Früchte mit rötlicher Tönung, die in langen Rispen hängen. Diese werden im April/Mai auf regionalen Märkten angeboten, wobei oft schon das nur wenige Millimeter dicke, gelb-orange, harte Fruchtfleisch mit dem Messer vom dicken, hölzernen Kern abgeschnitten wurde (Abb. 7.15). Dieses ölige Fruchtfleisch hat einen angenehmen, sehr aromatisch-nussartigen Geschmack. Das Fruchtfleisch wird jedoch auch zu Eiscreme, Saft,

206     L. Staeck

Abb. 7.15  Das nur wenige Millimeter dicke ölige Fruchtfleisch der Tucumã-Palme hat einen aromatisch-nussartigen Geschmack

„Wein“ und zu einem rötlichen, klaren hochwertigen Speiseöl (und Massage-Öl) verarbeitet. Es enthält Omega-3-Fettsäuren und die höchste ­Konzentration an Vitamin A und Beta-Karotin aller bekannter Früchte und Gemüsesorten, nämlich 52 mg auf 100 g Fruchtfleisch. Zum Vergleich: Möhren enthalten nur 6,6 mg je 100 g. Aus den Blattfasern werden Körbe und (Hänge-)Matten gefertigt. Auch der dicke Kern liefert ein ausgezeichnetes mandelartiges Öl für Seife, Body-Lotions und Shampoos. Aus seinem harten Holz werden traditionell schwarze Ringe hergestellt, die als Symbol der Freundschaft und des friedlichen Widerstandes gegen die Allmacht des Staates gelten. Tipp Im Amazonas-Tiefland gibt es über 300 essbare Früchte. Doch welche genau sind das – bei dem großen, zumeist unbekannten Angebot? Eine einfache Regel heißt: behaarte Früchte, Früchte mit Milchsaft und bitter schmeckenden Früchte eher nicht verzehren! Früchte mit einer Schale, die das Fruchtfleisch bedeckt, sind hygienisch unbedenklich.

7  Blütenpflanzen im Regenwald     207

7.3 Riesenstrelitzie Die letzte Pflanzenart dieses Kapitels ist zwar kein Baum, doch mit deutlich über zehn Metern Höhe hat sie baumartige Ausmaße. Auf meinen Reisen im Amazonas-Tiefland bin ich dieser beeindruckenden Pflanzenart zweimal begegnet, und zwar einmal in der Terra-Firme und einmal am Ufer eines Weißwasserflusses: Die Riesenstrelitzie ist wahrlich ein Riese und findet deshalb hier Erwähnung. Wegen ihrer hübschen orange-rot-blauen Blütengestalt wird die südafrikanische Strelitzie auch Paradiesvogelblume genannt. Die hier beschriebene Verwandte – wieder ein Beleg für die Kontinentalverschiebung – ist eine stammlose, ausdauernde, leicht verholzende Hochstaude („Pseudostamm“)

Abb. 7.16  Der gewaltige grün-gelbliche Blütenstand der Riesenstrelitzie ähnelt den Strelitzien aus Südafrika

208     L. Staeck

mit einem Schaftdurchmesser von 20 cm. Die kräftigen Rhizome bilden fortwährend neue Sprosse, und über die Jahre bildet sich so ein gewaltiger Horst von zahlreichen Pflanzen. Die mächtigen, bis zu drei Meter langen und fast einen Meter breiten bananenähnlichen Laubblätter sitzen auf zwei Meter langen robusten Stielen. Ein kräftiger, mittig verlaufender Hauptnerv (Mittelrippe) ist deutlich erkennbar. Im April/Mai bildet sich der riesige aufrechte Blütenstand, der in seinem Aufbau der Strelitzie ähnelt. Er besteht aus einem mehr als drei bis fünf Meter langen Schaft, an dem mehrere Blüten sitzen (Abb. 7.16). Jede Einzelblüte besteht aus einem gewaltigen, über 40 cm großen, kahnförmigen, grünlich-gelben Hochblatt, aus dem mit zunehmender Dauer der Blüte die zugespitzten cremefarbenen Blüten- und Kelchblätter herausragen. Diese umschließen die Staubgefäße und den Griffel. Die Staubfäden sind fast neun Zentimeter und die Staubbeutel sieben Zentimeter lang. Jede Blüte produziert nur einmal Nektar, und zwar kurz vor Sonnenuntergang. Sie ist nur für eine Nacht bestäubungsfähig, was Fledermäusen übernehmen, die mit ihren bürstenförmigen, langen Zungen den Nektar auflecken. Wie bei allen Vertretern der Strelitzien beherbergen die stark verholzten Fruchtkapseln farbige Samenanhängsel (Arilli). Sie hängen leuchtend rot an den schwarz-glänzenden Samen und locken zahlreiche Vogelarten an. Die Riesenstrelitzie ist verwandt mit der attraktiven Ravenala (Baum des Reisenden) aus Madagaskar und den großen Natal-Strelitzien aus Südafrika. Alle diese Strelitziengewächse sind entfernte Verwandte der Bananengewächse. Joseph Banks, Generaldirektor von Kew Gardens in London, benannte diese Pflanzenfamilie 1772 zu Ehren von Charlotte, geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, der Ehefrau von Georg III, König von England.

8 Tierbeobachtungen am und im Wasser

Im Amazonas-Tiefland konnten sich seit Millionen Jahren ungestört von Eiszeiten auf einem riesigen Gebiet von ursprünglich rund vier Millionen Quadratkilometern mit den unterschiedlichsten Habitaten sowohl bei den Wirbeltieren als auch bei den Wirbellosen unglaublich viele Arten entwickeln. Die Tabelle vermittelt einen Eindruck von der ungeheuren Artenfülle nachgewiesener Tierarten im Vergleich mit den Zahlen in Deutschland (Tab. 8.1). Trotz dieser unglaublich hohen Zahlen sind Reisende bei einem meist nur kurzen Besuch in dieser Region enttäuscht, dass sie nur wenige Tiere sehen. Das liegt zum einen daran, dass im und am Wasser der vielen Flüsse und Seen und auch in dem riesigen Urwald – anders als zum Beispiel in Afrika – nur wenige Individuen einer bestimmten Wirbeltierart, etwa der Brüllaffen, vorkommen. Dafür ist das Nahrungsangebot z. B. essbare Früchte und Blätter oder auch tierische Beute zu gering. Der nährstoffarme Boden produziert einfach zu wenig Biomasse, um größere Tierbestände mit Nahrung zu versorgen. Darüber hinaus sind die hier lebenden Tiere einem großen Konkurrenzdruck ausgesetzt und streifen deshalb ständig im Wasser oder Wald umher. Schließlich ist im und am Wasser genauso wie im dichten Urwald mit ständig unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnissen beziehungsweise sehr verschiedenen Grüntönen des Blattwerkes jedes Tier besonders gut getarnt. Doch aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Jede Reise hat ihren „tierischen Höhepunkt“:

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_8

209

210     L. Staeck Tab. 8.1  Nachgewiesene Wirbeltierarten im Amazonas-Tiefland und in Deutschland Säugetierarten Vogelarten Reptilienarten Amphibienarten Fischarten Insektenarten

Amazonas-Tiefland

Deutschland

427 2000 378 428 über 3000 ca.750.000

100 320 12 19 70 ca. 30.000

Auf einer meiner Reisen waren es zum Beispiel drei der herrlich gefärbten Königsgeier, die sich stundenlang an dem Kadaver eines Süßwasserdelfins aufhielten. Ein anderes Mal schwamm während einer Nachtexkursion eine sehr große Anakonda im Scheinwerferlicht so dicht neben meinem Kanu, dass ich mit meinem Teleobjektiv nur ihren riesigen Kopf aufnehmen konnte, der übrige Körper aber unscharf blieb. Als letztes solcher Beispiele war an einem Flussufer ein großer, farbenprächtiger Tukan so sehr mit seinem aufgeregten und eindringlichen Balzrufen beschäftigt, dass wir uns ihm bis auf ein paar Meter nähern konnten. So besteht durchaus die Chance, dass auch die Leser auf ihren Reisen einige der hier beschriebenen Tiere tatsächlich beobachten können. Großtiere wie Tapire, Jaguare, Manati, Riesenottern oder auch der Harpyie-Adler sind allerdings sehr selten, extrem scheu und haben ein gewaltiges Revier, sodass man sie mit viel Glück und ausnahmsweise einmal sehen wird, wenn man in ihrem Habitat für längere Zeit lebt.

8.1 Fische Die Vielfalt der Fischwelt im Einzugsgebiet des Amazonas ist außergewöhnlich groß! Fast 30 % der rund 12.000 weltweit beschriebenen Süßwasserfische leben im Amazonas-Becken. Unter ihnen gibt es Spezialisten wie Beuteschnapper, Früchte- oder Blütenfresser, Schuppenfresser, Restemampfer, Erdfresser und Blutsauger sowie Riesenfische von deutlich mehr als drei Metern Länge und Zwergfische, die kaum zwei Zentimeter groß werden. Dann sind noch die Fischarten zu erwähnen, deren Vorfahren ursprünglich im Meer zu Hause waren, zum Beispiel Sardinen, Heringe, Kugelfische, Hornhechte, Plattfische und Rochen. Bei Manaus – mitten im Kontinent – sind sogar schon Bullenhaie und Sägefische gefangen worden, die eigentlich im Süd-Atlantik leben. Mittlerweile hat man in der Amazonas-Region mehr als 3000 verschiedene Fischarten beschrieben, und fast

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     211

monatlich werden es mehr. In Deutschland dagegen kommen nur 70 und in ganz Europa maximal 200 Fischarten vor. Wie kommt diese große Zahl zustande? Dafür gibt es vier Hauptgründe: 1. Es ist nicht die Produktivität der Amazonas-Gewässer selbst, sondern vielmehr die enge produktionsbiologische Verzahnung von Regenwald und Gewässern. Während der Regenzeit gehen wesentliche Anteile der terrestrischen Waldproduktion wie Blätter, Blüten, Früchte und Samen direkt in den Nahrungskreislauf der Fischfauna. 2. Die jährlichen Überschwemmungen ermöglichen eine riesige Raumerweiterung für die Fische. Zu der normalerweise rund 300.000 km2 großen Wasserfläche der Amazonas-Flüsse kommen während der Regenzeit weitere rund 200.000 km2 überschwemmte Várzea-Wiesen dazu und noch einmal rund 100.000 km2 Igapós (Überschwemmungswälder). Das ergibt zur Regenzeit eine Gesamtfläche von rund 600.000 km2, das ist fast zweimal die Fläche Deutschlands! 3. Seit vielen Millionen Jahren fand durch Mutation, Selektion und Adaptation eine ungestörte Einnischung der Fischarten statt. Das heißt, auch in kleinsten, zum Teil extremen Lebensräumen konnten sich neue Arten mit den unglaublichsten Spezialisierungen entwickeln (siehe vorher). 4. Schließlich bieten auch die drei unterschiedlichen Wassertypen Weiß-, Schwarz- und Klarwasser mehr Möglichkeiten für die Entwicklung neuer Arten. Die gewaltige Fischmenge ist auch von großer ökonomischer Bedeutung für die Bevölkerung. So ist der Marktwert der Fische größer als der von Holz, Ackerbau (zum Beispiel Maniok, Süßkartoffel) und der Jagd. Das zeigt, dass die im großen Umfang anhaltende Abholzung der Überschwemmungswälder die Fischfauna im hohen Maße gefährdet. Wie Welse und Zitteraale etwa haben viele Fischarten durch die Extrembedingungen, die in den ablaufenden Überschwemmungsgebieten zu Beginn der Trockenzeit herrschen, eine Reihe von außergewöhnlichen Anpassungsmerkmalen entwickelt, etwa bezüglich ihrer Atmung oder der Fähigkeit, Trockenperioden zu überdauern. Darüber hinaus ist erst seit wenigen Jahrzehnten bekannt, dass viele Fische – vor allem der Weißwasserflüsse – in der Lage sind, zur Revierverteidigung, bei Stress und auch während ihrer Balzrituale Töne abzugeben. Wir hören diese jedoch über Wasser in der Regel nicht, da beim Übergang des Schalls in die Luft 99,9 % der Energie verloren geht. Der Wiener Zoologe Schaller war der erste, der mithilfe von Unterwassermikrofonen untersuchte, welche verschiedenen Laute

212     L. Staeck

Fische unter Wasser produzieren. Da wird gezwitschert, gezirpt, anhaltend gebrummt, geknurrt, geknarrt und trompetet. Zur Lautgebung dienen nicht wie bei uns Kehlkopf und Stimmbänder, sondern Muskelkontraktionen, Luftbewegungen über die Schwimmblase sowie Kiemen- und Flossenbewegungen. Fische haben zwar keine äußeren Ohren, doch sie verfügen über einen schalldurchlässigen Körper und über ein inneres Ohr, sodass sie gut hören können. Mit Einsetzen der Regenzeit beginnt die Fortpflanzung der Fische. Ihr Fortpflanzungsverhalten wird ausgelöst durch die Erweiterung ihrer Lebensräume und dem Sinken der Wassertemperatur um bis zu vier Grad Celsius durch das kühlere Regenwasser und die damit verbundene Erhöhung des Sauerstoffgehalts im Flusswasser. Viele laichbereite Fischarten wandern nun flussaufwärts oder in die Lagunen und Várzea-Überschwemmungswiesen ein, wo die Strömung gering und das Nährstoffangebot hoch ist. Die überschwemmte Urwaldvegetation (Sträucher und Bäume) und die vielen Schwimmblattpflanzen bieten den ausgeschlüpften Fischlarven Schutz und Nahrung. So entwickelt sich während der Regenzeit in diesem Habitat durch das unglaublich große Nahrungsangebot schnell ein riesiges Nahrungsnetz aus Plankton, pflanzlicher Nahrung, Fischen und Vögeln, aus vegetarisch und carnivor lebenden Tieren. Besonders auffällig ist, dass es hier durch das stets verfügbare reichhaltige Nahrungsangebot Dutzende von Fischarten gibt, die sich als Beuteschnapper (früher sagte man „Raubfische“) ernähren, also carnivor. Bei uns dagegen gibt es aus dieser Gruppe nur wenige Vertreter, zum Beispiel Hechte, Forellen, Welse oder Barsche. Um sich einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit, Farbenpracht und den Spezialisierungen der vielen Fischarten zu verschaffen, reicht ein Besuch der Fischmärkte vor allem in Manaus, Belém, Leticia und Iquitos. Aber auch in jeder kleinen Ortschaft oder unterwegs bei der Begegnung mit Fischern in ihren Kanus kann der Reisende Fische aus dem Amazonas-Flusssystem sehen. Die Caboclos sind immer bereit, ihre gefangenen Fische hochzuhalten oder auch Besuchern für ein Foto in die Hand zu geben. Darüber hinaus kann man mit Stell- und Wurfnetzen oder Keschern, vor allem an vegetationsreichen Uferabschnitten, innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Fischarten fangen. Tipp Um lebende Fische besser fotografieren zu können, ist es empfehlenswert, ein schmales Fotografier-Aquarium (zum Beispiel 30 cm lang, 8 cm breit und 25 cm hoch) aus Acryl (Plexiglas) der Stärke 0,5 cm anfertigen zu lassen. Dafür gibt

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     213

es einige Fachfirmen, zum Beispiel in Berlin. Da das Aquarium so schmal ist, können sich größere Fische nicht umdrehen und lassen sich so leichter fotografieren. Als einen neutraler Hintergrund kann zum Beispiel blauer oder grauer Karton dienen.

Hier werden vor allem Vertreter der drei häufigsten Fischfamilien der Amazonas-Region vorgestellt: (Buntbarsche) (Cichlidae), die Salmlerartigen (Characiformes) und die Welsartigen (Siluriformes).

8.1.1 Buntbarsche (Cichliden) Kammbuntbarsch (Cichla orinocensis) Buntbarsche (Cichlidae) Weiterer Name: Tucunaré (brasilianisch) Ein großer Vertreter dieser Familie, der eine bedeutende Rolle als Speisefisch für die Flussanrainer einnimmt, ist der Kammbuntbarsch (Cichla orinocensis) aus der Gattung Cichla (Abb. 8.1). Er erreicht eine Körperlänge von über 90 cm und ist damit der größte Buntbarsch der Amazonas-Region. Caboclos angeln ihn mit großen bunten Plastikködern (Blinkern), kommerzielle Fischer mit großen Netzen. Er gilt als gierigster und gefräßigster Jäger, der im Weiß- und Schwarzwasser vorkommt (Abb. 8.1). Auf jedem Markt Amazoniens wird er zum Verkauf angeboten. Seine Grundfärbung ist goldgelb mit drei undeutlichen, schwarzen Querstreifen. Seine Flossen sind rot. Auffallend sind sein großes Maul mit tiefer Maulspalte und konischen Zähne. Diese Art zeigt Sexualdimorphismus,

Abb. 8.1  Der Kammbuntbarsch ist ein gefräßiger Räuber

214     L. Staeck

das heißt, die Geschlechter sehen verschieden aus Die größeren Männchen weisen eine große, steile Stirn oder einen Stirnbuckel auf. An der Schwanzwurzel befindet sich der große schwarze Augenfleck, der als Signalfälschung (Mimikry) gilt. Durch seine Ähnlichkeit in Form und Farbe mit einem großen Auge wirkt er entweder abschreckend auf andere Beutegreifer oder lenkt zumindest von seinem Kopf ab. Fressfeinde sind verwirrt: Wo ist bei dieser möglichen Beute vorn und hinten? Der Kammbuntbarsch ist ein Substratlaicher: Das aus mehreren Tausend Eiern bestehende große Gelege wird offen abgelegt, zum Beispiel auf einem untergetauchten Ast. Das Weibchen betreibt Brutpflege, das Männchen verteidigt das Revier. Eine verwandte Art, die nur in Schwarzwasserflüssen lebt, ist Cichla temensis. Dieser Buntbarsch hat ebenfalls den schwarzen Fleck auf der Schwanzwurzel, bleibt jedoch kleiner. Seine Grundfärbung ist eher grün-bräunlich mit mehreren Reihen quer angeordneter weißer Flecken. Pfauenaugenbuntbarsch (Astronotus rubroocellatus) Buntbarsche (Cichlidae) Weitere Name: Roter Oskar Diese Fischart ist ein beliebter Speisefisch, der auf keinem Markt fehlt. Er erreicht eine Körpergröße von 45 cm bei 1,5 kg und bevorzugt ruhende oder stehende Weißwasser-Seitenarme oder -seen, die nur während der Regenzeit mit den großen Flüssen verbunden sind. Auffallend ist sein großes Maul mit stark ausgeprägten Lippen. Die Grundfärbung des Körpers ist dunkelgrün mit unregelmäßigen Flecken und Streifen von leuchtend orange-roter und beiger Farbe. Dies hat ihm den Spitznamen „Roter Oskar“ eingebracht. Auf den hinteren Flossenstrahlen der Rückenflosse und am Ansatz der Schwanzflosse befinden sich markante rot oder orange-rot umrandete schwarze Augenflecken, die namensgebend sind (Abb. 8.2). Ihre Funktion wird bei der Beschreibung des Kammbuntbarsches erklärt. Beide Kiefer sind mit kräftiger Muskulatur und zahlreichen kleinen Zähnchen ausgestattet, was darauf hinweist, dass sich diese Barsche von anderen Fischen ernähren. Die bis zu 2000 Eier werden auf irgendeinem Substrat abgelegt. Die ausgeschlüpften Larven können sich für einige Tage mit einem klebrigen Kopfsekret auch bei stärkerer Strömung am Substrat festhalten, zum Beispiel an einem Stängel. Nach etwa fünf Tagen schwimmen sie dann davon. Ihr Jugendkleid ist außergewöhnlich: Auf dunkelbraunem Grund befindet sich eine weißliche Streifenzeichnung. Die Fische sind bei Aquarianern sehr beliebt, die auf Großcichliden spezialisiert sind.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     215

Abb. 8.2  Beim Pfauenaugenbuntbarsch fallen besonders die leuchtend orange-rote Flecken und Streifen auf den Körperseiten und die Augenattrappen auf den hinteren Flossenstrahlen auf

Flaggenbuntbarsch (Mesonauta insignis) Buntbarsche (Cichlidae) Diese bis 15 cm große Fischart lebt im Uferbewuchs von kleinen Weißwasserflüssen mit geringer Fließgeschwindigkeit. Der kennzeichnende breite schwarze Streifen verläuft schräg nach oben vom Maul über die Augen bis in die vorderen Flossenstrahlen der Rückenflosse. Meist steht dieser Barsch mit dem Körper schräg nach oben dicht unter der Wasseroberfläche, sodass der Streifen nun scheinbar waagerecht verläuft und sich seine Zeichnungsmuster in der Umgebung fortsetzen und die Körperumrisse im bewegten Wasser verschwimmen – ein gutes Beispiel für Somatolyse (= Auflösung des Körpers). So ist dieser Fisch optimal gegenüber Beutegreifern getarnt. Er ist omnivor, frisst also pflanzliche wie tierische Nahrung, etwa Pflanzen, Fischeier, kleine Fische, Insekten oder auch kleine Krebstiere. Flaggenbuntbarsche sind Offenbrüter: Sie legen die über 300 Eier direkt auf Blättern, untergetauchten Ästen und Baumstämmen im Überschwemmungswald ab, wo das Gelege und später die geschlüpften Jungfisch bewacht werden. Bei Aquarianern ist diese Fischart beliebt wegen ihres interessanten Brutpflegeverhaltens. Teufelsbuntbarsch (Satanoperca jurupari) Buntbarsche (Cichlidae) Diese bei Aquarianern ebenfalls beliebten Buntbarsche werden zwischen 14 und 27 cm groß. Sie bevorzugen ruhige Buchten mit sandigem Untergrund und Ästen in Weißwasserflüsschen.

216     L. Staeck

Ihre Grundfarbe ist beige oder hellgrau. Bei den Männchen sind alle Flossen und die Bauchseite leuchtend gelb bis orangenfarben. Die Rückenflosse ist mit zahlreichen Flossenstacheln versehen (Vorsicht beim Anfassen!). Ihre letzten Flossenstrahlen, die Bauchflossen und die Afterflosse sind lang ausgezogen. Zur Nahrungsaufnahme kauen sie das Substrat des Bodens durch und ziehen dabei Insektenlarven, Schnecken und Würmer heraus. Deshalb werden sie aus als Geophagen (= Erdfresser) bezeichnet. Die mehrere Hundert Eier werden offen auf dem Boden abgelegt, danach kümmern sich beide Elternteile oder nur das Weibchen um das Gelege. Die Eier werden ins Maul genommen, wo die Fischlarven auch schlüpfen – sie sind also echte Maulbrüter. Die Jungfische werden erst in die Selbstständigkeit des offenen Wassers entlassen, wenn ihre Entwicklung abgeschlossen ist. Der Gattungsname Satanoperca setzt sich zusammen aus satan (= Teufel) und perca (= Barsch), daher sein deutscher Name. Heckels Buntbarsch (Acarichthys heckelii) Buntbarsche (Cichlidae) Dieser Buntbarsch ähnelt in seiner Größe und Gestalt den Teufelsbarschen, auch sein Lebensraum ist ähnlich. Er ist omnivor, die Balzfärbung des Männchens zeigt olivgrüne Seiten mit leuchtend orangen Flächen, die sich bis zum Kopf erstrecken. Auch die Flossen färben sich dann orange (Abb. 8.3). Die mehrere Hundert Eier werden an die Decke einer Höhlung geklebt. Das Weibchen pflegt das Gelege, das Männchen bewacht das Revier. Die Jungfische schlüpfen nach wenigen Tagen und werden gepflegt und bewacht, bis sie selbstständig sind. Der Gattungsname Acarichthys setzt sich zusammen aus acará (= Tupi-Sprache für Buntbarsch) und ichthys (= Fisch), der Artname ehrt den österreichischen Ichthyologen Johann Heckel. Marmorierter Hechtcichlide (Crenicichla lenticulata) Buntbarsche (Cichlidae) Dieser hechtartige, langgestreckte, bis zu 40 cm große Fisch ist durch seine marmorierte Körperseite und seinen gepunkteten Kopf charakterisiert. Hinter den Kiemen befindet sich ein schwacher rötlicher Fleck. Die Rückenflosse erstreckt sich fast über den gesamten Rücken. Er bewohnt gern schnell fließende Schwarzwasser- und Weißwasserflüsse. Mit dem Zugnetz konnten wir ihn und andere hier beschriebene Fische leicht fangen (Abb. 8.4a).

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     217

Abb. 8.3  Der Heckels Buntbarsch ist ein beliebter Aquarienfisch

Dieser Hechtcichlide ist ein gefräßiger Beuteschnapper, den man leicht mit einem Kunststoffblinker angeln kann. Als Höhlenbrüter klebt er sein Gelege zum Beispiel an die Decke einer Baumhöhle, das Männchen verteidigt das Revier. Die Jungfische werden von beiden Eltern beaufsichtigt. Der Gattungsname Crenicichla setzt sich zusammen aus krene (= Kamm), was sich auf den gesägten Kiemendeckel bezieht, und cichla (= bezeichnet diese Fischgattung). Diese Gattung umfasst mehr als 80 Arten, die größtenteils im Amazonas-Tiefland leben.

8.1.2 Salmler Diese Fischgruppe ist sehr familien- und artenreich und umfasst weltweit mehr als 1900 Arten. Im Amazonas-Becken gibt es morphologisch und physiologisch sehr unterschiedliche Salmlerarten, darunter viele carnivore, aber auch zahlreiche rein vegetarisch lebende Arten, die während der Regenund Überschwemmungszeit Früchte, Samen, Blätter und Blüten fressen. In dieser Zeit müssen sich tatsächlich die Vögel und auch Affen den Lebensraum Überschwemmungswald mit den Fischen teilen. Viele dieser Pflanzenfresser sind Schwarmfische.

218     L. Staeck

Abb. 8.4  a Der Marmorierte Hechtcichlide ist ein gefräßiger Beuteschnapper, b An vegetationsreichen Uferabschnitten oder in der Trockenzeit kann man mit Zugnetzen in kurzer Zeit zahlreiche Fischarten fangen

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     219

Die meisten der Salmler besitzen übrigens – wie Lachse und Forellen – eine zusätzliche kleine Fettflosse, die sich zwischen Rücken- und Schwanzflosse befindet. Schließlich verfügen Salmler über den sogenannten Weber’schen Apparat – Gehörknöchelchen, die dem Weiterleiten von Schallwellen von der Schwimmblase zum Innenohr dienen. So können sie ausgezeichnet hören. Viele der nachfolgend beschriebenen Fische gelten als beliebte Speisefische. Durch die seit Jahren anhaltende Überfischung bei ständig steigenden Bevölkerungszahlen im gesamten Amazonas-Becken sind viele dieser Fischarten inzwischen in ihrer Existenz bedroht. Auf den Fischmärkten hängen zwar entsprechende Tafeln, die das Fangen der betroffenen Arten zwischen Oktober und März eines jeden Jahres bei Strafe verbietet, doch es hält sich leider niemand daran und die Behörden gelten generell in Brasilien als korrupt. Roter Piranha (Serrasalmus nattereri) – Sägesalmler (Serrasalmidae) Synonym: Pygocentrus nattereri; Piranha preta (brasilianisch) Dieser Fisch ist sicherlich die bekannteste Art des gesamten AmazonasGebietes. Mit seinem Namen verbinden sich viele Anekdoten, sensationelle Berichte und Abenteuerfilme über seine Gefährlichkeit und Aggressivität. Schon Alexander von Humboldt schrieb in einem Tagebucheintrag vom 3. April 1800: „Er fällt den Menschen beim Baden und Schwimmen an und reißt ihnen oft ansehnliche Stücke Fleisch ab …“ Und der US-Präsident Franklin D. Roosevelt hielt in seinem Bericht von 1914 fest: „Sie zerreißen und verschlingen bei lebendigem Leibe jeden verletzten Menschen und jedes verwundete Tier; denn Blut im Wasser bringt sie zur Raserei …“ Tatsächlich haben ausgewachsene Piranhas ein messerscharfes Gebiss, das in Verbindung mit einer äußerst kräftigen Kiefernmuskulatur auch dem Menschen gefährlich werden kann, wenn mit verängstigten Tieren unvorsichtig umgegangen wird – zum Beispiel, wenn man sie vom Angelhaken lösen will. Hierzu sind zahlreiche Unfälle dokumentiert, bei denen es zu tiefen Fleischwunden kam oder eine Fingerkuppe abgerissen oder ein Zeh von einem Piranha zerfleischt wurde, der vom Angelhaken gelöst auf dem Bootsboden herumsprang. Nichtsdestotrotz baden sowohl die Eingeborenen wie auch wir als Besucher gern ohne Probleme in Gewässern, wo es viele Piranhas gibt. Sägesalmler haben eine Gesamtlänge von etwa 30 cm. Während der Rote Piranha lediglich etwa 20 cm groß wird (Abb. 8.5), kommt der Schwarze oder Rotaugen-Piranha (Serrasalmus rhombeus), der ausschließlich im Schwarzwasser vorkommt, auf bis zu 40 cm bei bis zu zwei Kilogramm Gewicht. Dank seiner besonders großen Kiefermuskeln beißt gerade dieser Fisch mit der 30-fachen Kraft seines Gewichtes zu (Abb. 8.6). Seine enorme

220     L. Staeck

Abb. 8.5  Der bekannteste Fisch Amazoniens ist der Rote Piranha

Abb. 8.6  Der Schwarze Piranha wird zwei Kilogramm schwer und beißt mit der 30-fachen Kraft seines Gewichtes zu

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     221

Beißkraft ist im Verhältnis zu seinem Körpergewicht sogar stärker als die eines Weißen Haies oder Kaimans. Beim Roten Piranha erstreckt sich eine kräftige, orange-rote Zone vom Kinn über die Brust bis zur Bauchregion. Hinter den Kiemendeckeln dehnt sie sich bis zum Schulterbereich aus, der restliche Körper ist silbrig-grau. Bis auf die Rücken- und Schwanzflosse sind alle Flossen von intensiver Rotfärbung (Abb. 8.5). Jungfische zeigen ein auffälliges Muster aus schwarzen Flecken. Er kommt meist in Weißwasserflüssen und -seen in den unterschiedlichsten Habitaten vor, wo er ausgesprochen häufig ist. Er hat wie alle Sägesalmler eine gut ausgebildete Fettflosse und einen kleinen Stachel unmittelbar vor Beginn der Rückenflosse. Der Unterkiefer ist wulstig vorstehend. Die in beiden Kiefern jeweils in einer Reihe stehenden Zähne haben eine große, scharfe dreieckige Spitze in ihrer Mitte und zwei deutlich kleinere an den Seiten. Damit ist er in der Lage, Fleischstücke wie mit einem Skalpell aus seiner Beute herauszutrennen. Beim Kampf um die Beute geben Piranhas Trommel-Töne ab. Beim lebenden Fisch sind die Zähne hinter den Lippen verborgen, sodass nur die Zahnspitzen zu sehen sind. Rote Piranhas fressen hauptsächlich Fische, aber auch Schnecken und Insekten sowie pflanzliche Nahrung, wie ins Wasser gefallene Samen und Früchte, was Untersuchungen des Mageninhaltes beweisen. Piranhas üben nicht nur eine Brutfürsorge sondern auch eine intensive Brutpflege aus, so verteidigen sie das Gelege gegen Fressfeinde, sogar gegen Menschen. Der Name Sägesalmler bezieht sich nicht etwa auf das mächtige Gebiss, sondern auf die gezähnte, kielartige und deshalb an eine Säge erinnernde Körperunterseite, an der die Schuppen zu scharfkantigen Stacheln umgewandelt sind. Der Gattungsname Serrasalmus bezieht sich auf diese morphologische Besonderheit: Serra (= Säge) und Salmus (= Salmler). Der Artname ehrt den österreichischen Naturforscher Johann Natterer, der 1828 während seiner 18 Jahre dauernden Leopoldina-Expedition den Roten Piranha zeichnete. Der Name Piranha wiederum entstammt der Tupi-Sprache und setzt sich zusammen aus pira (= Fisch) und nja (= der beißt), also sehr treffend: „Der Fisch, der beißt“. Große Piranhas werden regelmäßig auf lokalen Märkten angeboten. Im Amazonas-Becken kommen über 25 verschiedene Piranha-Arten vor, darunter Schuppen- und Flossenfresser wie der Wimpel-Piranha (Catoprion mento), reine Vegetarier, die nur Früchte fressen, und ganz besondere Nahrungsspezialisten – etwa eine Piranha-Art, die sich hauptsächlich von Raupen eines Schmetterlings ernähren, die ihrerseits die giftigen Blätter des

222     L. Staeck

kleinen, am Flussufer stehenden Piranha-Baumes (Piranhea trifoliata, Familie der Wolfsmichgewächse [Euphorbiacae]) verspeisen. Das Fleisch dieser Piranhas soll so abscheulich schmecken, dass Katzen es sofort wieder ausspucken. Tipp Mit einer einfachen Angel aus einer Sehne und einem Haken mit einem Köder (ein Stück Fisch oder Fleisch) können auch ungeübte Angler an ruhigen ufernahen Standorten in kurzer Zeit Dutzende Piranhas aus unterschiedlichen Gattungen fangen. Doch Vorsicht beim Entfernen des Hakens! Dies sollte man besser erfahrenen einheimischen Bootsführern überlassen. In ihrem Stress geben die Fische Laute ab, die wie das leise „Wuff, Wuff“ eines Hundes klingen. Gegrillte Piranhas sind übrigens schmackhaft. Das Gebiss kann man heraus präparieren lassen und als Souvenir mit nach Hause nehmen.

Scheibensalmler (Piarachus brachypomus) – Sägesalmler (Serrasalmidae) Weitere Namen: Falscher Piranha, Riesen-Pacú; Pirapitinga (brasilianisch) Die Jungtiere dieser Fischart sind leicht mit dem Roten Piranha zu verwechseln, da sie eine ähnliche Körpergestalt haben und vor allem an der Brust- und Bauchseite rot gefärbt sind (Abb. 8.7). Die Caboclos nennen ihn deshalb auch Pirapitinga, was der „falsche Fisch“ bedeutet von pira (= Fisch) und pitinga (= falsch). Im Jugendalter imitieren diese Fische nämlich die Verhaltensweisen von Piranhas, um Fressfeinde durch Mimikry

Abb. 8.7  Der Scheibensalmler wird bei den Anwohnern „Falscher Fisch“ genannt, da er als Jungfisch in Farbe und Gestalt dem Roten Piranha verblüffend ähnelt

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     223

abzuschrecken. Als erwachsener Fisch weist er dann eine dunkle, schmutzigweiß-blaue Färbung auf. Auch wenn man sich diesen Fisch genau ansieht, erkennt man an den Zähnen, dass es sich nicht um den Roten Piranha handeln kann: Es sind kompakte Molarzähne mit einem leichten Überbiss. Sie ernähren sich nämlich in den Überschwemmungswäldern von Früchten und Samen, zum Beispiel denen des Kautschukbaumes, die ins Wasser gefallen sind. Diese Fischart wird mit 80 cm Körperlänge bei einem Gewicht von bis zu 20 kg sehr groß und ist bei der Bevölkerung als Speisefisch sehr beliebt. Schwarzer Pacú (Colossoma macropomum) – Sägesalmler (Serrasalmidae) Weitere Namen: Mühlsteinsalmler, Nussknackerfisch; Tambaquí (brasilianisch) Dieser eindrucksvolle Fisch ist mit bis zu 1,10 m Körperlänge und bis zu 40 kg Gewicht die größte Salmlerart. Seine Körpergrundfärbung ist schiefergrau, es gibt jedoch lokale Farbvarianten, bei denen die Flächen zwischen Unterkiefer und den Brustflossen orange und die Kiemenregion rot gefärbt sind (Abb. 8.8). Es gibt auch regionale Unterarten, die noch farbiger sind.

Abb. 8.8  Der Schwarze Pacú ist mit bis zu 1,10 m Körperlänge und einem Gewicht von 40 kg ein beeindruckender Fisch. Seine Zähne sitzen im Unter- und Oberkiefer in zwei Reihen hintereinander

224     L. Staeck

Diese Fische ertragen einen geringen Sauerstoffgehalt, wie er in austrocknenden Gewässern in Überschwemmungswäldern auftritt. Dort laichen sie auch zwischen September und Februar ab. Die Jungfische ernähren sich carnivor von Plankton, Insekten und Krebstieren, während die erwachsenen Fische rein vegetarisch leben. Sie schwimmen dazu in die überfluteten Wälder hinein, wo sie untergetauchte Blätter fressen und hartschalige Nüsse aufknacken. Ihr Gebiss erinnert an das von Rindern, doch die Zähne sitzen sogar in zwei Reihen hintereinander (s. Abb. 8.8). Besonders lieben sie die Samen der Kautschukbäume. Das Geräusch der auf die Wasseroberfläche auftreffenden Samen und die austretenden ätherischen Öle und Alkaloide lockt sie in Massen an: Sie verfügen mit zahlreichen Sinneszellen rund um das Maul über einen ausgezeichneten Geruchssinn. In dieser Zeit fressen sie sich große Fettreserven an. Harte Palmfrüchte werden in Gänze geschluckt, das Fruchtfleisch verdaut und die hartschaligen Samen nach der Passage des Darmes als keimfähige Samen ausgeschieden. Diese Fischart ist im Amazonas-Becken ein wirtschaftlich bedeutender Speisefisch, den man auf allem Märkten findet. Das grätenfreie, bis zehn Prozent Fett enthaltende Filet ist äußerst schmackhaft, aber teuer – auf jeden Fall empfehlenswert und unter dem Namen Tambaqui auf der Speisekarte zu finden. Zwischen Oktober und April darf diese Fischart nicht kommerziell gefangen werden. Der Name Pacú ist indianischen Ursprungs. Silberdollar (Metynnis argenteus) – Sägesalmler (Serrasalmidae) Dieser silbrig gefärbte Scheibensalmler lebt in ruhigen Weiß- und Klarwasserflüssen. Er wird bis zu 30 cm groß, ist auffallend hochrückig und seitlich zusammengedrückt. Die Schuppen sind besonders klein. Die Rückenflosse ist kurz, die Afterflosse jedoch saumartig lang, wobei der Saum orangenfarben ist. Die Jungfische weisen einen runden, kreisförmigen schwarzen Fleck auf beiden Körperseiten auf. Sie sind omnivor und fressen Pflanzenteile ebenso wie Insekten. Auf allen lokalen Märkten werden sie als Speisefische angeboten. Der Artname argenteus bedeutet „Silber“ deshalb auch sein deutscher Name „Silberdollar“. Schwanzstreifen-Nachtsamler (Prochilodus insignis) – Barbensalmler (Prochilodontidae) Andere Namen: Streifensalmler, Flaggenschwanz-Salmler; Jaraqui (brasilianisch) Diese Fischart erreicht eine Körperlänge von etwa 30 cm, der langgestreckte, höckerartige, silbrig gefärbte Körper endet in einer tief gegabelten

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     225

Abb. 8.9  Der Schwanzstreifen-Nachtsamler ist ein bedeutender Speisefisch in der Manaus-Region

S­ chwanzflosse mit den charakteristischen abwechselnd gelblich-weißen und schwarzen Streifen (Abb. 8.9). Auf den Lippen befinden sich zwei Reihen sehr kleiner kammartiger Zähne, mit denen die Tiere von festen Oberflächen Algen, Mikroorganismen und Detritus abraspeln, zum Beispiel von Baumstämmen in Überschwemmungswäldern. Letzteres, feste oder halbfeste organische Reste, die sich bakteriell bereits in Zersetzung befinden, stellt einen wichtigen Bestandteil des Nahrungsspektrums dieser Fische dar. Sie leben in Schwärmen in strömenden, kleineren Weißwasserflüssen, wo sie dämmerungs- und nachtaktiv sind. Mit der beginnenden Regenzeit, vor allem wenn im April das Wasser stark steigt, beginnen die Geschlechtsdrüsen der Fische enorme Mengen von Eiern und Spermien zu produzieren. Bei weiblichen Tieren machen dann die Eier bis 17 % ihres Körpergewichtes aus. Ein Weibchen produziert bis zu 300.000 Eier! Jetzt ist auch die Zeit gekommen, wo sich diese Fische in riesigen Schwärmen von Tausenden Tieren sammeln und bis zu 1000 km in die Oberläufe der Flüsse ziehen. Dort werden insbesondere zu Vollmond – wie auf Kommando – gemeinsam Eier

226     L. Staeck

und Spermien frei über Wasserpflanzen abgegeben, begleitet von einem tiefen Brummen der männlichen Fische, das wie ein Motorrad im Standgas klingt. Dies zumindest berichteten Expeditionsteilnehmer in ihren Tagebuchnotizen. Dieser „Unterwasser-Chor“ ist auch als diffuse Geräuschkulisse außerhalb des Wassers wahrnehmbar. Die Eier und die ausschlüpfenden Fischlarven gelangen mit den zur Regenzeit starken Strömungen in die fruchtbaren Überschwemmungswiesen (Várzeas). Die Anrainer der Flüsse fangen diese Fische in der Zeit ihres Aufsteigens in die Oberläufe in gewaltigen Mengen. Durch die großen Ei- und Spermienmengen in ihren Körpern sind sie extrem proteinreich. Man findet sie auf allen regionalen Märkten zum Verkauf. Wolfssalmler (Cynodontidae) Diese stromlinienförmigen, salmlerartigen Beuteschnapper kommen in schnell fließenden Weiß- und Schwarzwassern wie Bächen und Igarapés vor, wo sie kleineren Fischen auflauern. Diese Fische sind lebende Fossilien, denn es gibt sie schon seit dem Miozän, also seit Millionen von Jahren. Der silbrige Säbelzahnsalmler (Rhaphiodon vulpinus; Familie der Wolfssalmler [Cynodentidae]) etwa ist ein solcher Beuteschnapper mit leicht bläulich-gelben Flächen über dem Kopf- und Kiemenbereichen. Er erreicht eine Körperlänge von bis zu einem Meter. Seine Rückenflosse sitzt im hinteren Körperdrittel. Bei Gefahr springt er auch aus dem Wasser – uns etwa sprang er schon zweimal in das Kanu. Auffallend sind seine langen Brustflossen und vor allem seine zwei verlängerten, säbelzahnartigen Fangzähne im Unterkiefer. Ein weiterer Jäger ist der Hunds-Salmler (Acestrorhynchus falcatus; Familie der Spindelsalmler [Acestrorhynchidae]). Dieser schlanke, auch als Barrakuda-Salmler bezeichnete Fisch bleibt mit etwa 40 cm kleiner als der Säbelzahnsalmler. Auffallend ist seine große sichelförmige Rückenflosse. Seine Körpergrundfärbung ist metallisch-grün-rötlich. Sein großes, tief gespaltenes Maul zeigt zahlreiche konisch geformte Fangzähne (Abb. 8.10). Beide Fischarten werden leicht mit Blinkern geangelt.

8.1.3 Welse Diese Fischfamilie ist ebenfalls sehr artenreich mit weltweit über 3000 unterschiedlichen Arten, von denen die meisten im Süßwasser leben. Die Mannigfaltigkeit der Formen und Lebensweisen ist deshalb unglaublich groß und reicht vom kaum drei Zentimeter großen Blutsauger Candiru bis

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     227

Abb. 8.10  Der Hunds-Salmler verfügt über ein kräftiges Gebiss aus konisch geformten Fangzähnen

zum fast drei Meter großen mitteleuropäischen Flusswels (Waller). Da gibt es weiterhin Aufwuchsfresser, Detritusfresser und carnivore Arten. Auffälligste Merkmale der Welse sind ihre Tastfortsätze (Barteln), die als Geschmacks- und Tastorgan dienen. Ihre Haut ist oft schuppenlos, dafür jedoch mit Knochenplatten gepanzert. Viele besitzen Dornen, die sich direkt vor der Brustflosse oder der Rückenflosse befinden und Beutegreifer abschrecken sollen, zum Beispiel Kormorane. Darüber hinaus sind auch viele Welse lautbegabt: Sie können akustische Signale abgeben, wofür sie verschiedene Methoden entwickelt haben – es gibt zum Beispiel Kiemendeckel- oder Brustmuskeltöne sowie die Lautgebung über Flossen- und Darmbewegungen. Segelschildwels (Pterygoplichthys multiradiatus) – Harnischwelse (Loricariidae) Zu der Familie der Harnischwelse gehören mehr als 700 verschiedene Arten, davon allein im Amazonas-Gebiet viele Dutzend. Segelschildwelse besitzen einen abgeflachten, langgestreckten, bis 40 cm langen Körper, der über und über mit Knochenschilden gepanzert ist. Besonders auffallend ist ihre segelförmige, große Rückenflosse, die ebenso wie die Brustflossen messerscharfe Flossenstrahlen aufweisen (Abb. 8.11). Trotzdem vermögen es Kormorane, kleinere Welse in Gänze runterzuschlucken. Mehrfach konnte

228     L. Staeck

Abb. 8.11  Segelschildwelse sind über und über mit Knochenschildern gepanzert

ich beobachten, wie sie den Fisch immer wieder hochwerfen, ihn dabei mehrfach drehen, bis er schließlich die richtige Position zum Hinunterschlucken hat. Bei – derartigem – Stress geben diese Welse häufig grunzende Geräusche ab. Sie leben in allen Weißwassergewässern, wobei sie jedoch Überschwemmungswiesen (Várzeas), Altarme und ruhige Seen mit schlammigem Untergrund bevorzugen. Ihre Körpergrundfärbung ist schwarz-braun mit ebensolchen Flecken- und Punktmustern. Ihr Maul weist neben kurzen Barteln kräftige Lippen auf, die zu einer Saugscheibe umgebildet sind. Damit raspeln sie Algenaufwuchs ab, zum Beispiel von Baumstämmen. Sie wühlen auch im schlammigen Untergrund, aus dem sie Würmer, Insektenlarven und andere grundlebende Tiere aufstöbern. Zur Fortpflanzung heben sie eine flache Grube aus, in die Eier abgelegt werden. Die Männchen betreiben Brutpflege. Wenn Seen und Altarme in der Trockenzeit austrocknen, sind sie in der Lage, mit ihrer kräftigen Schwanzflosse und den Brustflossen größere Entfernung auf dem Landweg bis zur nächsten Wasserstelle zu bewältigen. Sie werden mit Schleppnetzen gefangen und als Speisefisch in großen Mengen auf den lokalen Märkten angeboten. Ihr Fleisch gilt indes als minderwertig.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     229

Der komplizierte Gattungsname Pterygoplichthys setzt sich aus drei Teilen zusammen: pterygion (= Flosse), hoplon (= Waffe) und ichthys (= Fisch). Rotflossen-Antennenwels (Phractocephalus hemioliopterus) – Antennenwelse (Pimelodidae) Weiterer Name: Pira-Ara (brasilianisch) Dieser imposante Wels hat einen massigen Körper mit schwarzer Grundfärbung. Über die gesamte Körperseite zieht sich darüber hinaus ein weißliches oder gelbliches uneinheitliches Band. Auffallend sind sein orange-roter Schwanz und seine ebenso gefärbte Rückenflosse, die ihm seinen brasilianischen Namen Pira-Ara eingebracht haben: pira (= Fisch) und ara (= der rote Ara-Papagei). Zwei Paar bis zu 15 cm lange Barteln (= Antennen) dienen ihm zur Orientierung (Abb. 8.12). Er ist lautbegabt und gibt trompetenähnliche Rufe ab, indem er Wasser und Luft mit hohem Druck durch die muskelverstärkten Kiemendeckel presst (etwa wenn er an der Angel hängt). Er ist nachtaktiv und frisst Krabben, kleine Fische, aber auch ins Wasser gefallene Früchte. Er wird bis zu 1,3 m lang und kann mehr als 40 kg schwer werden.

Abb. 8.12  Der Rotflossen-Antennenwels gehört zu den imposanten Fischen des Weißwassers mit einer Körperlänge von bis zu 1,30 m

230     L. Staeck

Als Speisefisch hat er nur lokale Bedeutung, doch ab und zu findet man ihn in den Stellnetzen der Caboclos. Als farbenprächtiger Jungfisch wird er gern im Aquarium gehalten. Sein Gattungsname Phractocephalus setzt sich zusammen aus phractos (= Zaun) und kephale (= Kopf ). Tiger-Spatelwels (Pseudoplatystoma tigrinum) – Antennenwelse (Pimelodidae) Weiterer Name: Surubim (brasilianisch) Dieser große nachtaktive Wels ist ein Lauerjäger, der Fische frisst. Er wir bis zu 1,3 m lang und erreicht dabei bei einem Gewicht von 30 kg. Auf seiner weißlichen Grundfärbung befindet sich auf dem Rücken und Seiten ein längs verlaufendes, schwarzes, tigerähnliches Farbmuster, das bei ähnlichen Arten variiert (Abb. 8.13). Auffallend sind sein spatelförmiges Maul und seine besonders langen antennenartigen Barteln. Als einer der wenigen Fische lebt er im Hauptstrom Amazonas, aber auch in anderen Weißwasserflüssen in größerer Tiefe und gut getarnt, zum Beispiel in versunkenen Bäumen, wo er auf Beute wartet. Mit einsetzender Regenzeit folgt er seinem Beutespektrum. Sein wohlschmeckendes, fast grätenfreies Fleisch macht ihn zum beliebten Speisefisch, der in Stellnetzen gefangen wird und jeden Tag auf den Märkten

Abb. 8.13  Das tigerähnliche Farbmuster des Tiger-Spatelwelses ist kennzeichnend für diesen beliebten, grätenfreien Speisefisch

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     231

zum Angebot kommt. Er ist inzwischen durch Überfischung bedroht trotz einer Schonzeit während vieler Monate. Schwarzer Dornwels (Oxydoras niger) – Dornwelse (Doradidae) Weiterer Name: Cuiú-Cuiú (brasilianisch) Dieser Wels hat einen gedrungenen, schwarzen Körper mit breitem Maul und Rumpf bei einer Körperlänge von deutlich über einem Meter. Sein tütenförmiges Maul ist zu einem Saugmaul umgeformt, das im schlammigen Boden ruhiger Weißwasser-Igarapés und -seen Detritus sowie verborgene Insektenlarven und Krebstiere aufspürt. Verschiedene Bartelnpaare am Unterkiefer helfen ihm dabei. Seine Rückenflosse und seine Bauchflossen sind mit skalpellartigen, gezähnten oder gerillten Stacheln ausgestattet. Sein Schädel ist stark verknöchert und besonders auffallend sind die auf jeder Körperseite in einer Reihe angeordneten Flankendornen (Abb. 8.14). Mit dieser Ausstattung ist er auch vor Kaimanen und selbst Jaguaren gut geschützt, denn jeder Magen würde zerfetzt werden beim Verschlucken dieser scharfen Dornen. Sogar Machetenhieben soll dieser Panzer standhalten. Der Fisch ist dämmerungs- und nachtaktiv, tagsüber lebt er versteckt zwischen Pflanzen und Wurzeln. Bei Stress gibt er mithilfe seiner muskelverstärkten, scharfrandigen Brustflossen ein dumpfes Grunzen ab. Caboclos fangen ihn mit Netzen, so kann man ihn hier und da fotografieren.

Abb. 8.14  Mit seinen Flankendornen und skalpellartigen Bauchflossenstacheln ist der Schwarze Dornwels (Cuiú-Cuiú) sogar vor Jaguaren und Kaimanen sicher

232     L. Staeck

Der Gattungsname Oxydoras setzt sich zusammen aus oxys (= scharf ) und dora (= Haut). Candirú (Cetopsis coecutiens) – Walwelse (Cetopsidae) Der Begriff Candirú (Tupi-Sprache für „Kleines Teufelchen“) bezeichnet Fischarten unterschiedlicher Gattungen und Familien, die sich parasitisch vom Blut größerer Fische ernähren. Sie leben auf sandigen Böden von kleinen Weißwasserflüssen mit geringer Strömung oder im Laub am Grund von Schwarzwasserseen und warten auf Duftspuren von Harnstoffen, die vorbeischwimmende Fische über ihre Kiemen oder Darmöffnung abgeben. Unter diesen Candirús gibt es sehr kleine, wurmförmige, kaum drei Zentimeter Länge erreichende Arten. Sie haben nadelförmige Zähnchen, die sich – wenn sie den Harnstoff riechen – spiralförmig mit ihrem rotierenden Körper in die Kiemenblättchen oder den Darm des Wirtsfisches bohren. Kleine Haken hinter ihren eigenen Kiemen verbessern dabei das Festhalten in den Kiemen oder im Darm ihres Wirtes. Sie perforieren mit ihren Zähnchen die Aorta ihres Wirtes, um an das Blut zu gelangen. Nach vollendeter Mahlzeit verlassen sie ihren Nahrungsspender. Den hier vorgestellten nur etwa drei Zentimeter langen Candirú habe ich zwischen welken Laubblättern in 20 cm Wassertiefe am Ufer eines Schwarzwassersees gefangen. Andere – über 20 cm große – haben wir mit blutigen Fleischstücken geangelt. Die hier vorgestellte Art hat einen schuppenlosen, zylindrischen Körper und beiderseits einen auffallend langen Flossensaum. Sechs Barteln ermöglichen ihr die Orientierung. Ihre rötliche Färbung tarnt sie perfekt am Grunde des teefarbenen Schwarzwassers zwischen abgestorbenen Blättern (Abb. 8.15). Die über dem Maul sitzenden winzigen Augen sind kaum erkennbar. Dieser Fisch schwimmt gern kleinere Fische

Abb. 8.15  Candirús dringen in den Darm ihres Wirtes ein, wo sie sich von ihrem Blut ernähren. Es kommt auch vor, dass sie in die Körperöffnungen von Menschen eindringen

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     233

an, um in ihre Darmöffnung einzudringen. Dort heften sie sich an die Darmwand, wo sie über die vorhandenen Blutgefäße Blut saugen. Berichte von Caboclos zeigen an, dass kleine Candirús auch vom Menstruationsblut badender Frauen sowie von menschlichen Harnstoffen angelockt werden, etwa Menschen, die in das Wasser urinieren, was die Flussanrainer traditionell tun. Die Candirús sollen dabei schon in Vagina, After, Nasen und Ohren eingedrungen sein. Ihre Entfernung ist problematisch wegen der Widerhaken an den Kiemen dieser Fische. Der Gattungsname Cetopsis setzt sich zusammen aus cetos (= Monster) und opsis (= Erscheinung). Der Familienname bezieht sich auf ihre walförmige Körperform.

8.1.4 Gabelbart (Osteoglossum bicirrhosum) – Knochenzüngler (Osteoglossidae) Weiterer Name: Aruanã (brasilianisch), Wasseraffe Diese langgestreckte, bandförmige, seitlich abgeplattete Fischart wird bis zu einen Meter lang und ist von silbriger Grundfarbe. Das Tier schwimmt eigenartig wellenförmig. An der schräggestellten Maulöffnungl befinden sich am Unterkiefer zwei bräunlich-grüne etwa vier Zentimeter lange Barteln (Abb. 8.16). Ihr Oberkiefer ist mit vielen kleinen, spitzen Zähnen ausgestattet. Die lange Afterflosse reicht bis zur Schwanzflosse. Seine Augen sind geteilt für das Unter- und Überwassersehen. Der Fisch bevorzugt Altarme der Weißwasserflüsse, wo er mit gezielten Sprüngen aus dem Wasser heraus zum Beispiel Insekten, Frösche und Eidechsen schnappt, die auf Ästen über dem Wasser sitzen. Ich habe dieses Fangverhalten mehrfach beobachtet, einmal sprang ein Gabelbart andauernd aus dem Wasser, um einen über das Wasser gaukelnden Schmetterling zu

Abb. 8.16  Der Gabelbart oder „Wasseraffe“ springt bis zu zwei Meter aus dem Wasser heraus, um seine Beute auf ufernahen Ästen zu schnappen

234     L. Staeck

fangen. Hierbei kann er bis zu zwei Meter hoch beziehungsweise weit springen, was ihm bei den Einheimischen den Spitznamen „Wasseraffe“ eingebracht hat. Es ist auch mehrfach passiert, dass er uns vor Schreck ins Kanu gesprungen ist. Auch diese Fische sind Maulbrüter, das heißt, nach der Eiablage in einer Sandgrube nimmt das Männchen die 1,5 cm großen Eier ins Maul, das die geschlüpften Jungfische erst nach etwa 50 Tagen verlassen. Dann sind sie bereits zehn Zentimeter groß. Der Gabelbart ist ein beliebter, schmackhafter Speisefisch, der stets auf regionalen Märkten angeboten wird, oft auch zu Bündeln gerollt.

8.1.5 Fluss-Stechrochen (Potamotrygon wallacei) – Süßwasserstechrochen (Potamotrygonidae) Im Amazonas-Becken gibt es bisher etwa 30 nachgewiesene Stechrochartenarten, wobei der größte eine Körperdurchmesser von einem Meter und ein Gewicht von 200 kg erreicht. Generell leben sie in langsam fließenden Weißwasserbächen, Lagunen oder in Altwassern in der Nähe von Sandbänken. Dort liegen sie gewöhnlich bewegungslos und gut getarnt im flachen Wasser und lauern auf Beutetiere wie Insekten, Schnecken, Krebstieren, kleine Fische. Die hier vorgestellte Art ist von fast schokoladenbrauner Färbung mit zahleichen kleinen unregelmäßigen, hellbraunen Flecken und wenigen größeren, schwarz umrandeten, kreisähnlichen Mustern. Damit sind diese Fische perfekt in dem lehmig-gelben Wasser getarnt. Ihr Körper ist eine nahezu kreisrunde Körperscheibe von etwa 40 cm Durchmesser. Die Kiemen liegen bauchseitig, und die paarigen Atemlöcher befinden sich hinter den kleinen Augen. Der kräftige peitschenartige Schwanz ist wie bei einer Säge mit kräftigen, scharfen Stacheln bezahnt, die mit Widerhaken versehen sind. Sie sind mit Längsrillen versehen, über die das Gift geleitet wird, das in Drüsen an der Stachelbasis gebildet wird. Die Zähne sind stumpf. Rücken- und Schwanzflosse fehlen (Abb. 8.17). Ihre Fortpflanzung ist besonders: Die dotterreichen Eier werden nicht auf einem Substrat abgelegt, sondern im Mutterleib für etwa drei Monate ernährt, bis die Entwicklung zum Jungfisch abgeschlossen ist. Dann werden die etwa acht Zentimeter langen Jungfische lebendig geboren und sind sofort selbstständig. Den hier abgebildeten Rochen haben wird mit einem Zugnetz während der Trockenzeit im nur 30 bis 40 cm tiefen Wasser gefangen. Noch im Netz hat das Weibchen dann einige noch nicht voll entwickelte Jungfische geboren (Abb. 8.17). Das wohlschmeckende Fleisch der Rochen wird gelegentlich auf regionalen Märkten zum Verkauf angeboten.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     235

Abb. 8.17  Der peitschenartige Schwanz des Süßwasserrochens verfügt über Stachel, die mit Widerhaken besetzt sind. Bei Gefahr geben sie über diese Stacheln ein lebensgefährliches Gift ab. Das kleine Bild zeigt einen unvollständig entwickelten Stechrochen mit großem Dottersack

Die Menschen im Amazonas-Tiefland fürchten Stechrochen, im trüben Weißwasser sind diese nämlich nur schwer zu erkennen, wenn sie auf dem Boden lauern. Wenn sie sich bedroht fühlen, etwa wenn man auf sie tritt, können sie mit ihren Schwanzschlägen ernste Wunden und Vergiftungen hervorrufen. Wird dabei eine Arterie getroffen, kann die Verletzung sogar tödlich sein. Ihr Gift kann zudem zu Blutvergiftungen führen: Der österreichische Naturforscher Johann Natterer zeichnete und erforschte bereits auf seiner Expedition im Jahre 1820 den Süßwasserrochen. Ein Expeditionsmitglied, Hannes Zell, wurde durch den Giftstachel eines Rochens schwer verletzt. Brasilianische Ärzte wollten ihm sogar das eitrige Bein abnehmen. Die schmerzhafte Heilung dauerte dann über ein Jahr.

8.1.6 Zitteraal (Electrophous electricus) – Messeraale (Gymnotidae) Der Zitteraal gehört trotz seines langgestreckten, aalartigen Aussehens nicht zu den Aalen, sondern zählt zu den Messerfischen. Sein Körper ist rotbraun

236     L. Staeck

Abb. 8.18  Der Zitteraal gibt zum Beutefang und zur Verteidigung kurze Stromstöße von mehr als 600 V ab. An seinem Gaumendach sitzt seine „Lunge“ mit zahlreichen gut durchbluteten Papillen

oder grau und kann eine Körperlänge von über zwei Meter erreichen bei einem Gewicht von mehr als 15 kg. Die Afterflosse verläuft als schmaler Flossensaum fast über den gesamten Körper und endet an der Schwanzspitze. Rücken-, Schwanz- und Bauchflossen fehlen völlig, die kleinen Brustflossen sind paddelartig (Abb. 8.18). Der abgeflachte Kopf verfügt über ein breites zahnloses Maul, das neben kleinen Fischen, Insektenlaren und Krebstieren auch Frösche aufnehmen kann. Zusätzlich zur Kiemenatmung, die etwa 20 % des benötigten Sauerstoffes liefert, sitzen an seinem Gaumendach zahlreiche gefächerte, stark durchblutete Papillen (warzenartige Ausstülpungen), die in der Lage sind, atmosphärischen Sauerstoff aufzunehmen (Abb. 8.18, kleines Bild). Seine „Lunge“ sitzt demnach direkt im Maul und liefert ihm alle zehn bis 15 Minuten die restlichen 80 % Sauerstoff. Sein Lebensraum sind schlammige Weißwasser-Altarme, die oft sauerstoffarm sind. Er kommt allerdings auch im Klarwasser vor. Zur Fortpflanzung baut das Männchen Nester aus Wasserpflanzen, die Eier und die Jungfische werden von beiden Elternteilen bewacht. Alle Körperorgane einschließlich Darmausgang stauen sich direkt hinter dem Kopf in einem etwa zehn Zentimeter langen Abschnitt bis zu den Kiemen. Daran anschließend bis zum Schwanz liegen dicht gedrängt umgewandelte Zellen der Flossenmuskulatur als elektrische Organe. Diese über 70 % seines Körpervolumens umfassenden Elektrozellen sind in Reihen angeordnet und produzieren – jede für sich – eine geringe Spannung.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     237

In der Summe liefern diese bis zu 6000 Elektrozellen einen aktiven Stromimpuls von mehr als 600 V (bei großen Zitteraalen über 800 V) bei einem Strom von einem Ampere über eine extrem kurze Zeitdauer von nur zwei Millisekunden. Ein gleichzeitiges Entladen aller Elektrozellen erfolgt über eine Berührung des Opfers oder der Beute mit der Kopfspitze (Pluspol) oder der Schwanzspitze (Minuspol). Zitteraale erzeugen Stromstöße zur Verteidigung und zur Jagd, aber auch zur Orientierung im trüben Wasser und zur Revierverteidigung. Es wird berichtet, dass sie mit leichten Stromstößen einen Frosch auf einen Meter Entfernung lähmen können. Auch größere Tiere werden in der Regel durch seinen elektrischen Schlag betäubt, wodurch sie anschließend ertrinken können. Dies hatte schon Alexander von Humboldt im Jahr 1800 mit einem Experiment eindrucksvoll bewiesen, wie seine Tagebuchnotizen zeigen: „Unser Führer brachte Pferde und Maultiere und jagten sie ins Wasser. Ehe fünf Minuten vergingen, waren zwei Pferde ertrunken. Der 1,60 m lange Aal drängt sich dem Pferd an den Bauch und gibt ihm einen Schlag.“ Ich hatte einmal direkten Kontakt mit einem Zitteraal: Mit unserem Zugnetz hatten wir in der Trockenzeit in flachem Wasser einen Zitteraal gefangen. Ich versuchte, den Fisch mit meinem Kescher, der einen Metallrahmen mit Metallgriff hatte, aus dem großen Zugnetz herauszuholen. Dabei verspürte ich einen starken Stromschlag, der sich bei der Berührung des Keschers mit dem Fisch entladen hatte. Tatsächlich reicht die Stromspannung des Zitteraales, um auch Menschen tödlich zu verletzen. Mein guter Freund Moaçir Fortes Pereira, der seit vielen Jahrzehnten mit mir durch den Amazonas-Regenwald streift, erzählte mir auch, dass Zitteraale mit ihren elektrischen Schlägen sogar am Ufer stehende Açai-Palmen dazu bringt, ihre schmackhaften Beeren abzuwerfen, sodass die Fische sie fressen können.

8.1.7 Arapaima (Arapaima gigas) – Knochenzüngler (Osteoglossidae) Weiterer Name: Pirarucu (brasilianisch) Einen besonderen deutschen Namen gibt es für diese Fischart nicht, sein Name ist einer Indianersprache entlehnt. Adulte Tiere haben einen stromlinienförmigen oliv-grünen Körper mit einer saumartigen Rücken- und Afterflosse und einer Körperlänge von deutlich über drei Metern bei einem Gewicht von mehr als 200 kg (Abb. 8.19). Damit zählen diese lebenden Fossilien, die seit 150 Mio. Jahren existieren, zu den größten Süßwasserfischen unseres Planeten (neben dem Flusswels – dem Waller – in

238     L. Staeck

Abb. 8.19  Der größte Süßwasserfisch der Welt ist der Arapaima (Pirarucu) mit mehr als drei Metern Körperlänge

­ itteleuropa). Die größten jemals gefangenen Exemplare sollen mehr als M vier Meter erreicht haben. Wegen dieser Größe und der Lebensweise im warmen, sauerstoffarmen Weißwasser-Überflutungsgewässern ist er ein obligatorischer Luftatmer, der regelmäßig alle fünf bis 15 Minuten zur Wasseroberfläche kommt, wo er mit einem lauten Geräusch einatmet. Seine Schwimmblase weist lungenähnliche, stark durchblutete Strukturen auf, die über ein Kapillarsystem der atmosphärischen Luft Sauerstoff entnehmen können. Wenn sie nicht an die Wasseroberfläche kämen, würden sie ertrinken. Jüngere Arapaimas springen gern wie Delfine aus dem Wasser und lassen ihre 100-kg-Körper anschließend auf das Wasser klatschen. Sie leben carnivor und ernähren sich von Fischen, Fröschen, Wasservögeln und kleinen Säugetieren. Das geht so, dass beim Aufreißen der fleischigen, herunterhängenden Lippen ein gewaltiger Sog ausgeübt wird, mit dem die Beute eingesaugt wird; wenn dies an der Wasseroberfläche passiert, gibt es einen peitschenartigen Knall. Bei gefangenen Arapaimas konnte ich dieses beeindruckende Schaupiel in der Nähe von Manaus häufig beobachten: Nachdem die Futterfische in das Wasser geworfen wurden, schnellten sich die Pirarucus mit einem gewaltigen Schwanzschlag an die Wasseroberfläche und saugten mit einem lauten Knall die Beute ein. Zur Balzzeit färben sich die Spitzen der großen Schuppen orange-rot, was dieser Fischart den Namen Pirarucu – der rote Fisch – eingebracht hat (aus der Tupi-Sprache pira = Fisch und urucu = rot), (Abb. 8.20). Zur ­Fortpflanzung schlagen sie dann mit ihren mächtigen Schwanzflossen eine

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     239

Abb. 8.20  Dieser riesige Pirarucu (= roter Fisch) wurde vor 30 Jahren auf dem Fischmarkt von Manaus fotografiert

große Mulde in den sandigen Boden, in die etwa 50.000 Eier gelegt werden. Das Männchen betreibt anschließend Brutpflege, trotzdem überleben nur wenige Jungfische die ersten Tage.

240     L. Staeck

Die großen, sich dachziegelartig überlappenden Schuppen schützen diese Fische wie ein Panzer. Trifft ein Piranha-Biss auf eine Körperstelle, verteilt sich die Wucht auf die Schuppen der Umgebung. Im Amazonas-Becken kann man in Souvenirläden diese attraktiven, fünf cm großen Schuppen dieser Fische (das Orange-Rot ist inzwischen schwarz geworden) ebenso wie seine verknöcherte, etwa acht Zentimeter lange, bezahnte Raspelzunge für wenig Geld kaufen. Die Zunge wird im Haushalt gern als Reibe verwendet. Arapaimas sind beliebte Speisefische, die auf jedem Markt zu finden sind. Ihre Filets werden auch zusammengerollt als gesalzener Trockenfisch verkauft. Dabei stehen sie seit 2001 das ganze Jahr über unter Schutz und dürfen nicht gefangen werden. Früher waren sie von großer ökonomischer Bedeutung. Ich habe zudem beobachtet, dass mit den Jahren die angebotenen Arapaimas immer kleiner werden, und kaum noch einen Meter Länge erreichen. Abseits von den Städten und Dörfern begegne ich in jedem Jahr Caboclos, die immer noch – trotz des Verbotes – Arapaimas in großen Zahlen aus den Überschwemmungsseen mit Stellnetzen fischen und dann vom Boot aus am Flussufer verkaufen. Sie werden auch gespeert, der Fischer muss nur warten, bis sie auftauchen und ein großer Wasserkreis entsteht. Inzwischen gibt es erste erfolgreiche Versuche, Apapaimas in Seen zu züchten. Die Abb. 8.20 zeigt einen riesigen Arapaima, ich habe das Foto vor 30 Jahren auf dem Fischmarkt in Manaus geschossen. Tipp In einigen deutschen Aquarien und Zoologischen Gärten (wie in Berlin oder Köln) kann man in Landschaftsbecken Arapaimas mit deutlich mehr als einen Meter Körperlänge „Auge in Auge“ gegenüberstehen und das Verhalten dieser urtümlichen Fische beobachten.

8.2 Frösche Bedingt durch die riesigen Wasserflächen erscheint es verständlich, dass über 400 verschiedene Amphibienarten in Amazonien vorkommen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 19 Arten, weltweit mehr als 7000 Arten. Mit seinen stets gleichbleibenden Temperaturen und seiner hohen Luftfeuchtigkeit bietet das Amazonas-Gebiet ideale Lebensbedingungen für Frösche, die einen ungeschützten, nur mit einer feuchten Haut bedeckten Körper besitzen. Zum Schutz vor pathogene Bakterien und Pilzen enthält ihre Schleimhaut chemische Komponenten, die derartige Erreger in der Regel fernhalten. Frösche sind nur schwer in der Natur auszumachen, geschweige denn zu fotografieren, denn die meisten von ihnen sind nacht- oder dämmerungsaktiv,

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     241

Abb. 8.21  Frösche sind Meister der Tarnung. Hier ist der Laubfrosch kaum zu erkennen

tagsüber verbergen sie sich im schattigen Unterholz. Sie sind perfekt an ihren Lebensraum angepasst und Meister der Tarnung, wie Abb. 8.21 zeigt: Auf den ersten Blick sind auf dem Foto nur grüne Algen, graue Flechten und graubraune Rindenplättchen zu sehen. Erst bei genauerer Betrachtung erkennt man den gut verborgenen Frosch (ein Baumfrosch der Gattung Dendrosophus, der zur Familie der Laubfrösche gehört), dessen Färbung exakt seiner Umgebung entspricht. Dafür sind Frösche umso besser zu hören, wenn man sich kurz vor Einbruch der Dunkelheit, etwa gegen 18:30 Uhr lokaler Zeit, mit dem Boot in die Weißwassernebenarme des Amazonas oder in die Weißwasserseen begibt. Es sind die Männchen, die mit ihren Rufen ihr Revier markieren und die Weibchen zur Paarung anlocken. Das Froschkonzert ist vielfältig und in der Nähe von Schwimmblattwiesen fast ohrenbetäubend; allerdings nur im Weißwasser, denn nur dort gibt es Schwimmblattpflanzen und Insekten in großer Zahl. Es ist ein vielstimmiger Chor aus Quaken, Pfeifen, Hämmern und Trillern auszumachen. Viele Froscharten haben Schallblasen, die wie ein Resonanzboden ihr Rufen verstärkt. Häufig habe ich es erlebt, dass es Froscharten gibt, die auch am Tage etwa 30 Minuten vor Beginn eines starken (Gewitter-)Regens heftig zu quaken beginnen – offenbar in „Vorfreude“ auf den kommenden Regen und die Möglichkeit, zur Kopulation zu kommen. Für meine Aufnahmen habe ich entweder mit dem Kescher einen interessanten Frosch gefangen, ihn am nächsten Morgen fotografiert und wieder in die Freiheit entlassen, oder die Frösche sind bei der Fahrt ins Boot gesprungen.

242     L. Staeck

8.2.1 Baumfrösche (Hypsiboas) – Laubfrösche (Hylidae) Von Baumfröschen der Gattung Hysiboas gibt es über 100 verschiedene Arten in Amazonien. Sie alle leben ufernah auf Bäumen. Ihre Fingerspitzen sind stets als Haftscheiben tellerartig vergrößert. Sie sind alle nachtaktiv und fressen vor allem Insekten, von Mücken bis Nachtfalter. Der Gepunktete Baumfrosch (Hypsiboas punctata; auf Englisch Polka-Dot Tree Frog) ist etwa vier Zentimeter groß, hat eine glatte, hellgrüne Haut mit rötlichen Flecken und einem ebenso rötlichen, unterbrochenen, schmalen Streifen an der Seite. Seine großen hervorstehenden Augen sind weiß oder schwarz mit einer querverlaufenden schwarzen Pupille (Abb. 8.22). Unter UV-Licht erstrahlt der Körper giftgrün. Zur Fortpflanzung legt das Weibchen einen gallertigen Laichballen mit etwa 15 Eiern auf die ruhige Wasseroberfläche, wo der Laich aufschwimmt. Das Männchen bleibt bis zum Ausschlüpfen der Kaulquappen in der Nähe des Geleges.

Abb. 8.22  Der Gepunktete Baumfrosch ist nachtaktiv, wie seine großen Augen verraten

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     243

Der Kolbenfinger-Laubfrosch (Hypsiboas faber) wird auch Schmied genannt, da seine Rufe wie Hammerschläge auf einen Amboss klingen. Die Weibchen werden bis zu zehn Zentimeter groß, die Männchen bleiben etwas kleiner. Ihre Haut weist eine schokoladenähnliche Grundfärbung auf (Abb. 8.23). Die Männchen graben Gruben am Rand von Tümpeln, die sie mit einem Damm aus Schlamm umgeben. In dieses Nest werden zahlreiche Eier gelegt.

Abb. 8.23  Die Rufe des Schmiedes (Kolbenfinger-Laubfrosch) klingen wie Hammerschläge auf einem Amboss

244     L. Staeck

Auch der Rostfarbene Riesen-Laubfrosch (auch als Gladiator-Laubfrosch bezeichnet, Hypsiboas boans ) legt Schlammnester an. Das Weibchen wird bis zu 14 cm groß. Er ist nachtaktiv. Der Bokermanns Baumfrosch (Bokermannohyla luctuosa) wird dagegen nur zehn Zentimeter groß. Seine glatte Haut ist blass-grün, auffallend sind seine hervorstehenden großen Augen. Bei Gefahr produziert er ein stinkendes Sekret. Über sein Ablaichverhalten ist nichts bekannt.

8.2.2 Giftgrüner Makifrosch (Phyllomedusa tarsius) – Greiffrösche (Phyllomedusidae) Dieser giftgrün gefärbte bis 7 cm große, nachtaktive Frosch hat eine langgliedrige Gestalt. Seine Finger haben auffällige Haftscheiben (Abb. 8.24). Er kann seine Finger und Zehen gegenüberstellen, wodurch er auch dünne Stängel umfassen und hochklettern kann, was ihm übrigens sehr schnell gelingt. Wenn man seine hellgrüne Körperfärbung sieht, kann man sich leicht vorstellen, wie perfekt dieser Frosch getarnt ist. Ein Exemplar sprang jedoch in unser Boot und konnte deshalb später fotografiert werden. Die Eiablage erfolgt auf einem Blatt über der Wasseroberfläche, wobei das Blatt zu einer Tüte geformt wird. Der Gallertschleim hält die oben und unten offene Tüte zusammen. Die Kaulquappen können damit beim Schlüpfen durch die untere Öffnung ins Wasser fallen.

Abb. 8.24  Der Giftgrüne Makifrosch ist farblich perfekt an seine Umgebung angepasst

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     245

Der Artname ist dem winzigen, nachtaktiven Koboldmaki entlehnt, in Sulawesi Tarsius genannt. Übrigens wurde diese Froschart früher zu den Laubfröschen gezählt.

8.2.3 Buckleyis Laubfrosch (Osteocephalus buckleyi) – Laubfrösche (Hylidae) Dieser fünf Zentimeter große, braune Frosch weist eine warzige, tuberkelähnliche Haut auf: Zahlreiche Höcker mit knotigen Schwellungen sitzen auf der Körperoberfläche. Die Außenseite der Beine sind mit Hautfransen bedeckt. Die Fingerspitzen sind mit tellerartigen Haftplättchen versehen, der Mittelfinger ist stark verlängert. Er ist nachtaktiv und bewohnt kleine Wasserläufe wie Igarapés, klettert auch auf Bäume und frisst Heuschrecken, Nachtfalter, Spinnen und Käfer. Tagsüber versteckt er sich, zum Beispiel unter Wurzeln. Die Weibchen legen bis zu 1000 Eier in vegetationsreichen Uferabschnitte. Seine Kaulquappen sind giftig für Fische.

8.2.4 Südamerikanischer Ochsenfrosch (Leptodactylus pentadactylus) – Südfrösche (Leptodctylidae) Dieser Frosch gehört mit einer Körperlänge der Männchen von 20 cm zu den Riesen unter den südamerikanischen Fröschen. Während der Paarungszeit färben sich seine Extremitäten orange-rot, der Körper ist von grün-brauner Färbung (Abb. 8.25). Ochsenfrösche leben in Flussnähe und verbergen sich tagsüber unter Laub, denn sie sind nachtaktiv. Sie sind Allesfresser und fressen andere Frösche, Eidechsen, Schlangen, sogar kleine Vögel und Fledermäuse. Bei großer Beute drücken sie beim Schlucken mit ihren Augäpfeln auf den Gaumen und schieben dabei die Beute in die Speiseröhre. Zur Abwehr haben sie ein giftiges Hautsekret entwickelt, und sie können bei Gefahr ihre Lunge aufblasen, sodass sich der vergrößerte Körper auf den vier Extremitäten hochstellt. Wenn sie gefangen werden, stoßen sie einen schrillen Pfeifton aus. Beim Männchen ist die Daumenschwiele zu einem harten Dorn entwickelt. Zusammen mit einem zweihöckerigen Horn auf der Brust kann er damit das Weibchen wie ein Nussknacker perfekt festhalten. Ihre Balzrufe sind laut und hören sich aus der Ferne wie Rindergebrüll an. Das Männchen baut Schaumnester, in welches das Weibchen etwa 1000 Eier legt. Die Kaulquappen sind mit bis zu acht Zentimetern sehr groß, sie sind Allesfresser und fressen auch ihre Artgenossen. Die Metamorphose ist ungewöhnlich kurz, und bereits nach vier Wochen schlüpfen die Frösche. Bei der einheimischen Bevölkerung steht diese Froschart auf dem Speisezettel; häufiger habe ich gesehen, wie Caboclos gezielt diese Tiere bejagen.

246     L. Staeck

Abb. 8.25  Ochsenfrösche blasen bei Gefahr ihre Lungen auf, wobei sich ihr Körper vergrößert und sich auf seinen vier Gliedmaßen hochstellt

Der Familienname bezieht sich auf das geografische Vorkommen seiner Angehörigen: Diese Gruppe von Fröschen kommt nur in tropischen Regionen der Südhalbkugel vor. Früher wurden sie der Familie der Pfeifffrösche zugerechnet.

8.3 Reptilien Die Wirbeltierklasse der Reptilien (Kriechtiere) umfasst sehr unterschiedliche Gruppen wie Eidechsen, Leguane, Schlangen, Kaimane oder auch Schildkröten, die alle im Amazonas-Tiefland vorkommen. So ist die große Zahl von bisher 378 nachgewiesenen Reptilienarten in Amazonien verständlich, während es in Deutschland lediglich 13 sind. Sie leben überwiegend an den Ufern der Flüsse und Seen sowie in den Überschwemmungswäldern, wobei ihre Diversität in Schwarzwasserregionen deutlich geringer ist wegen des geringeren Nahrungsangebotes. Auch für Reptilien gilt: Sie sind Meister der Tarnung und darüber sind viele dämmerungs- oder nachtaktiv. So bekommt sie der Reisende nicht oft zu Gesicht. Trotzdem gibt es immer wieder Überraschungen, wenn plötzlich vom Kanu aus ganz dicht am Ufer auf einem Ast eine Eidechse auf der Pirsch ist oder direkt vor dem Boot eine Schlange von einem Ufer zum anderen schwimmt. Auch Kaimane sieht man häufiger in den menschenärmeren

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     247

Regionen, in denen sie während der Trockenzeit auch bei Tageslicht auf Sandbänken ruhen. Schildkröten sind in Amazonien sehr bedroht, da kaum ein Caboclo sie verschmäht, wenn er eine sieht. Alexander von Humboldt beschrieb noch um das Jahr 1800, dass auf allen Märkten riesige Mengen von Schildkrötenfleisch und -eiern angeboten wurden. Heute begegnen wir Schildkröten im oder am Fluss nur noch extrem selten. Einige Male haben wir den Flussmenschen Schildkröten abgekauft, verknüpft mit dem Hinweis, dass wir sie nicht essen, sondern freilassen werden, da sie geschützt und vom Aussterben bedroht sind. Die Wahrscheinlichkeit, Reptilien zu sehen, ist am größten in der Dunkelheit. Wenn man mit dem Kanu mit der Dämmerung – also gegen 18:30 Uhr – in die kleinen Igarapés, Altarme, Überschwemmungswiesen und Seen fährt, wird man mit Sicherheit Kaimane und oft auch Schlangen aufspüren. Der Trick besteht darin, mit Scheinwerfern das Ufer und ufernahe Bäume anzuleuchten. Die reflektierenden, weißen und rötlichen Lichter ihres Augenhintergrundes verraten, wo sich Reptilien (und andere Tiere) aufhalten.

8.3.1 Grüne Ameiva-Eidechse (Ameiva ameiva) – Schienenechsen (Teiidae) Zu den Eidechsen gehört ungefähr die Hälfte aller Kriechtiere der Jetztzeit, das sind etwa 3000 Arten. Im Amazonas-Becken leben Dutzende Arten, die man nur selten zu Gesicht bekommt. Die hier beschrieben Art habe ich jedoch häufiger gesehen. Sie ist sonnenliebend und tagaktiv, deshalb kann man sie im Überschwemmungswald an Baustämmen und auf Zweigen beim Sonnenbaden beobachten. Sie ist sehr schlank und wird bis 40 cm lang, wobei der Schwanz die Hälfte der Körperlänge einnimmt. Ihre Körpergrundfärbung ist braun, doch stets sind grüne Farbflächen zu sehen, wie auf dem hinteren Rücken, auf den Flanken, und auch der Schwanz ist bei ausgewachsenen Ameiven grün (Abb. 8.26). Sie jagen Insektenlarven, Käfer, Spinnen, Schaben und Heuschrecken. Ihr Familienname bezieht sich auf große regelmäßig angeordneten Schuppen/ Schilder am Bauch.

8.3.2 Grüner Leguan (Iguano iguano) – Leguane (Iguanidae) Diesen großen Leguan sieht man häufiger auch tagsüber, wenn man mit dem Fernglas die ufernahen Bäume absucht, auch am Amazonas selbst. Er

248     L. Staeck

Abb. 8.26  Die Grüne Ameiva-Eidechse jagt Insekten und Spinnen

bevorzugt dichte Vegetation mit Licht- und Schattenplätzen vor allem auf Bäumen, deren Äste bis über das Wasser reichen. Bei Gefahr, etwa durch ein lautes Boot oder auch Rufe, lässt er sich nämlich aus großer Höhe ins Wasser fallen. Dort taucht er und schwimmt unter Wasser in krautige Uferabschnitte, wo er gut getarnt ist. Grüne Leguane sind standorttreu und verteidigen ihr Revier gegen andere Leguane. Dabei kommt es zu Scheinkämpfen (Kommentkämpfen), wobei mit dem Kopf genickt und der Kehllappen aufgebläht wird. Der Vorteil dieser ritualisierten Kämpfe ist, dass dabei die Verletzungsgefahr gering ist. Der Grüne Leguan erreicht eine Gesamtlänge von etwa 1,5 m, wobei der Schwanz zwei Drittel davon ausmacht. Das Männchen ist deutlich größer als das Weibchen. An seinem massiven Kopf sitzt ein größerer Kehllappen. Weiterhin sitzen bei ihm vergrößerte grau-grüne Schuppen unter dem Trommelfell. Schließlich weist er einen deutlich größeren Rückenkamm auf als die Weibchen (Abb. 8.27). Die Körpergrundfärbung ist bei adulten Tieren eher grau-grün, je älter sie werden, desto grauer werden sie, während junge Leguane giftgrün gefärbt und damit noch besser getarnt sind. Leguane ernähren sich rein vegetarisch von Blättern, Blüten und Früchten. Um die Verdauung von harten Blättern zu beschleunigen, begibt er sich

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     249

Abb. 8.27  Das Männchen des Grünen Leguans schmückt sich mit einem großen Rückenkamm

in die Sonne, um sich aufzuwärmen, denn bei höherer Körpertemperatur wird auch seine Verdauung intensiviert. Die Kopulation findet auf Bäumen statt. Das Männchen fixiert das Weibchen während der Paarung mit einem Nackenbiss. Die etwa 30 Eier werden in eine selbst gegrabene Erdhöhle gelegt, in der die Jungen nach 30 Tagen schlüpfen. Eine Brutpflege erfolgt nicht. Bei den Flussbewohnern sind Leguane als Fleischnahrung sehr beliebt, sie tragen deshalb den Spitznamen „Baumhühnchen“.

8.3.3 Brillenkaiman (Caiman crocodilus) – Alligatoren (Alligatoridae) Zu der Gruppe der Panzerechsen zählen Krokodile (Afrika, Australien), Gaviale (Asien), Alligatoren (Florida) und Kaimane die es nur im

250     L. Staeck

Amazonas-Tiefland gibt. Sie stellen eine Unterfamilie der Familie der Alligatoren dar. Von den vier Kaiman-Arten, die im Amazonas-Gebiet vorkommen, ist der Nördliche Brillenkaiman (auf Englisch: Spectacled Caiman ), wie er exakt heißt – er wird inzwischen auch wegen seines wissenschaftlichen Namens „Krokodilkaiman“ genannt –, der häufigste. Eine knöcherne Querleiste zwischen den Augenwinkeln, die einem Brillensteg ähnelt, verhalf ihm zu seinem deutschen Namen. Seine maximale Körperlänge wird mit drei Metern angegeben (Abb. 8.28). Auffallend ist der im Gegensatz zu den Krokodilen breite Kopf, seine Kiefer sind dicht mit spitzen Zähnen besetzt. Bei geschlossenem Maul sind bei Kaimanen keine Zähne des Unterkiefers sichtbar, bei Krokodilen ist hingegen der vierte Unterkieferzahn auch bei geschlossenem Maul zu sehen; er liegt in einer seitlich offenen Furche des Oberkiefers. Rund um sein Maul sitzen Hunderte winzige, äußerst empfindliche Sinneszellen, sogenannte Tasthügel. Sie enthalten viele sensible Nervenendigungen. Schon die kleinste Berührung eines Tasthügels, etwa im Experiment mit einem Haar, löst sofort eine Reaktion aus: Die Tiere schnappen innerhalb einer Zehntelsekunde zu. Brillenkaimane bewohnen ruhige Flüsse, Seen und Sümpfe, wo sie vor allem Fische, aber auch andere Reptilien, Frösche und sogar Vögel fressen.

Abb. 8.28  Eine knöcherne Querleiste zwischen den Augenwinkeln verhalf dem Brillenkaiman zu seinem Namen. Die kleine Abbildung zeigt einen jungen Mohrenkaiman

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     251

Sie sind nachtaktiv; tagsüber ruhen sie versteckt in der Ufervegetation oder am Sandufer mit Blick auf das Wasser. Manchmal habe ich sie auch am Tage an der Oberfläche von Gewässern treiben sehen. Männliche Kaimane leben territorial und haben untereinander auch eine Rangordnung. Mit Beginn der Regenzeit bauen sie zwischen der Ufervegetation Nester aus Erde und verrotteten Blättern, in die bis 40 Eier gelegt werden. Nach etwa 70 Tagen sind die Jungen schlüpfbereit, was sie ihrer Brutpflege betreibenden Mutter durch leises „Umf-Umf-Umf“-Grunzen mitteilen. Diese öffnet dann das Gelege, anschließend sprengen die Jungen mit einem Höcker an ihrer Schnauzenspitze die elastische Eihaut. Interessanterweise besitzen Krokodile keine Geschlechtschromosomen. Bei uns Menschen wird das weibliche Geschlecht durch das XX-Chromosom geprägt, das männliche durch das XY-Chromosom. Das KrokodilGeschlecht wird dagegen durch äußere Umstände bestimmt: Bei Ei-Temperaturen unter 32 ℃ werden weibliche Tiere geboren, bei solchen über 32 ℃ männliche Tiere. Das bedeutet für die Eier, dass zum Beispiel in Jahren mit gleichbleibend höheren Temperaturen nur Männchen geboren werden. Wenn sich durch den sich andeutenden Klimawandel auch die Temperaturen am Amazonas dauerhaft deutlich erhöhen, werden fast nur noch männliche Kaimane schlüpfen, sodass diese Tierart vom Aussterben bedroht ist. Schlüpfende Kaimane sind etwa zehn bis 15 cm groß und von gelblicher Grundfärbung mit dunklen Querbändern. Sie werden etwa 14 Tage lang von ihrer Mutter beschützt, trotzdem erreicht ein Großteil von ihnen das erste Lebensjahr nicht. Sie fressen im ersten Lebensjahr Insekten und Frösche und erreichen nach einem Jahr eine Körperlänge von 30 cm. Acht Jahre lang wachsen sie jedes Jahr etwa um 30 cm, danach deutlich langsamer. Wenn man in der Dunkelheit mit dem Kanu in ruhige WeißwasserIgarapés mit verkrauteten Ufern hineinfährt und mit guten Scheinwerfern das Ufer ableuchtet, verraten die rötlich reflektierenden Augen der Kaimane ihren Standort. Was hier leuchtet, ist das Tapetum lucidum (auf Deutsch „leuchtender Teppich“), eine dünne reflektierende Hautschicht hinter der Netzhaut am hinteren Augenrand. Diese Schicht ermöglicht dem Kaiman – und übrigens auch nachtaktiven Vögeln, Schlangen oder auch Katzen –, trotz des geringen Lichtes Beute wahrzunehmen. Das wenige Licht durchdringt die Netzhaut, wird vom Tapetum lucidum reflektiert und erreicht in Sekundenbruchteilen erneut die Netzhaut, sodass die Lichtmenge praktisch verdoppelt wird und der Kaiman seine Beute zu sehen bekommt. Liegen die Augen dicht beieinander, ist es ein junger Kaiman, und man kann es probieren, ihn zum Fotografieren kurz aus dem Wasser zu holen.

252     L. Staeck

Dazu kommt es allerdings auf das Geschick von Bootsfahrer und Fänger an, möglichst ohne große Wellen und Geräusche so vor dem Kaiman zum Halten zu kommen, dass der Fänger den Kaiman hinter dem Kopf zu fassen bekommt, bevor dieser abtaucht. Im Boot kann es dann passieren, dass sich der Kaiman völlig bewegungslos verhält, dann bewirkt ein kurzzeitiger Stress die Ausschüttung von Hormonen, die seine Muskeln für kurze Zeit lähmen. Doch Vorsicht: Man weiß nie, wie lange die Bewegungslosigkeit anhält. Gutes Festhalten am Nacken des Tieres verhindert, dass er plötzlich im Boot herumläuft. Kaimane können bis zu 30 km in der Stunde schnell schwimmen, vor allem ihre kurzzeitige Beschleunigung ist enorm. Nach jedem Abtauchen kommen sie nach vier bis sechs Minuten zur Atemholen wieder an die Wasseroberfläche, sie können jedoch auch mehr als 15 Minuten unter Wasser bleiben. Neben dem Brillenkaiman ist auch häufiger – vor allem im Schwarzwasser – der Mohrenkaiman (Melanosuchus niger) zu sehen, der auf seinen Rücken- und Seitenbereichen dunkel gefärbt ist und deutlich über vier Meter lang wird. Im Gegensatz zum Brillenkaiman ist sein Bestand stark gefährdet, da ihm immer noch illegal nachgestellt wird, um an seine Lederhaut zu gelangen (Abb. 8.28, kleines Foto). Brillenkaimane wird man dagegen auch heute zu Nachtzeiten im Amazonas-Becken noch beobachten können, wenngleich auch ihre Zahl stark abgenommen hat, denn die Flussmenschen essen auch ihr Fleisch. Der britische Naturforscher Henry Walter Bates schrieb noch im 19. Jahrhundert: „Die Gewässer sind in der Trockenzeit so mit Kaimanen gefüllt, wie die Tümpel in Europa mit Kaulquappen.“ Übrigens: Von 100 Menschen, die von Schlangen gebissen werden, stirbt ein Mensch. Von 100 Menschen, die von Krokodilen beziehungsweise Kaimanen gebissen werden, sterben dagegen 13 Menschen – meist an einer Infektion aufgrund einer Blutvergiftung, denn die Zähne sind mit Keimen besetzt, die für uns lebensgefährlich sind. Wer von einem Kaiman gebissen wurde, sollte sich daher innerhalb von sechs Stunden medizinisch behandeln lassen, sonst drohen zunächst Blutvergiftung und Amputation der betroffenen Gliedmaßen, bevor das Leben selbst in Gefahr gerät.

8.3.4 Anakonda und andere Boas – Boas (Boidae) Von den etwa 60 Boa-Arten ist die Anakonda (Eunectes murinus) die größte mit einer nachgewiesenen Körperlänge von neuen Metern, einem Gewicht von über 200 kg sowie einem Umfang von über einem Meter,

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     253

wenn eine große Beute verschlungen wurde. Sie gilt als die größte Schlange der Welt. Immer wieder gibt es Berichte über noch größere Exemplare. Deshalb hat die National Geographic Society einen Preis von 10.000 US$ ausgelobt, für denjenigen, der ein Foto einer Anakonda präsentieren kann, die mindestens zehn Meter lang ist. Ihre Körpergrundfärbung ist olivgrün bis hellbraun mit den charakteristischen ovalen schwarzen Flecken („Spiegeln“) auf dem Rücken (Abb. 8.29a).

Abb. 8.29  a Die Anakonda ist mit bis zu neun Metern Körperlänge die größte Schlange der Welt, b Mit ihrer tief gespaltenen Zunge erschnüffeln Anakondas auch geringste Duftspuren ihrer Beute

254     L. Staeck

Die lidlosen Augen und die Nasenlöcher sitzen auffallend hoch am Kopf, was auf ihre Lebensweise im Wasser hinweist. Die Weibchen sind deutlich größer als die Männchen. Sie bewohnen langsam fließende oder ruhige Gewässer aller drei Wassertypen (Weiß-, Schwarz- und Klarwasser) mit dichter Ufervegetation. Sie können bis zu 30 Minuten lang tauchen und liegen auch gern für längere Zeit in Lufttaschen zwischen Baumwurzeln unter Wasser und warten als Lauerjäger auf ihre Chance, zum Beispiel einen vorbei schwimmenden Fisch. Ihr Beutespektrum umfasst auch Frösche, Reptilien – sogar zwei Meter lange Kaimane –, Vögel und Säugetiere. Mit ihrer tief gespaltenen Zunge erschnüffeln Anakondas förmlich auch geringste Duftspuren ihrer Beute (Abb. 8.29b). Alle Boas sind ungiftig, doch ihre Zähne sind sehr scharf und können auch gefährliche Keime enthalten, die bei einem Biss auch für Menschen lebensgefährlich sein können. Ebenso gehören alle Boas zu den Würgeschlangen, das heißt, sie töten ihre Beute nicht mit Gift, sondern umschlingen sie mit mehreren Schlingen ihres muskulösen Körpers. Bei jeder Ausatmung ihres Opfers wird der Ring immer enger, sodass schließlich wichtige Blutgefäße platzen und der Kreislauf zusammenbricht und die Beute stirbt. Für eine große Beute – etwa einen Kaiman – ist sie in der Lage, den Ober- und Unterkiefer mithilfe hochelastischer Bänder um bis zu 180 Grad aufzuklappen. Damit das Opfer nicht im Todeskampf aus dem Rachen rutscht, sitzen im Oberkiefer in vier Zahnreihen 100, nach hinten gebogene, sehr scharfe Zähne. Der Magensaft der Anakonda enthält – wie bei anderen Boas auch – eine hoch konzentrierte Salzsäurelösung, die auch eine Knochenverdauung ermöglicht. Lediglich Zähne, Haare und Krallen werden wieder ausgeschieden. Größere Beute benötigt sie etwa alle 50 Tage. Alle zwei Jahre ist das Anakonda-Weibchen paarungsbereit. Hierzu findet eine wahre Kopulationsorgie statt. Dutzende zierliche, männliche Bewerber und das deutlich größere Weibchen umschlingen sich und bilden ein riesiges Paarungsknäuel. Wer schließlich die eigentliche Befruchtung ausführt, lässt sich nicht ermitteln, allerdings kopuliert das Weibchen mit mehreren Männchen hintereinander. Nach etwa sieben Monaten, während denen sie fastet und 20 % ihres Gewichtes verliert, werden bis zu 100, voll entwickelte Jungtiere lebend geboren; sie sind dann schon 80 cm lang und können sofort selbstständig auf Beutejagd gehen. Trotzdem fallen viele in den ersten Wochen ihren Fressfeinden zum Opfer, etwa Greifvögeln oder Kaimanen. Anakondas habe ich während meiner Fahrten nur wenige Male zu Gesicht bekommen, da sie sehr vorsichtig sind und normalerweise nur ihr Kopf auf der Wasseroberfläche zwischen Uferpflanzen zu sehen ist. Einmal hatte ich bei einer Nachtexkursion das Glück, dass genau neben der Bordwand meines Kanus in einem schnell fließenden Igarapé für einige Minuten eine große Anakonda schwamm. Sie war so groß, dass ich im

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     255

Scheinwerferlicht mit meinem Teleobjektiv nur ihren Kopf aufnehmen konnte (Abb. 8.29b). Die zweitgrößte Würgeschlange im Amazonas-Bcken ist die Königsboa oder Abgottschlange (Boa constrictor Familie: Boas), die man mit etwas Glück zu Gesicht bekommen kann, wenn man während der Regenzeit von den überschwemmten Seen oder Flüssen in die überfluteten Wälder hineinfährt. Es kommt darauf an, vom Boot aus mit dem Fernglas die dicken Äste abzusuchen, denn auf diesen ruht die Boa constrictor am Tage gern aus. Man kann auch in den Dörfern an den Flussufern fragen, ob jemand eine Königsboa zu Hause hält, denn sie wird gern in einem Holzverschlag als Haustier gehalten und mit gefangenen Mäusen und Ratten gefüttert. Mehrere Male hatte ich damit Erfolg und konnte die Schlange fotografieren. Diese Schlange wird bis zu vier Meter lang bei stattlichen 27 kg. Ihre Grundfärbung ist meist rotbraun mit dunkel umrahmten hellen Flecken auf dem Rücken, sogenannte „Sattel“. Die Schwanzspitze ist besonders kontrastreich rotbraun eingefärbt (Abb. 8.30). Sie lebt stets in Gewässernähe in dichter Vegetation, tagsüber schläft sie in hohlen Bäumen oder im Schatten ihrer Kronen auf dicken Ästen. Mit Beginn der Dämmerung wird sie aktiv. Sie frisst alle Tiere, die sie größenmäßig überwältigen kann – entweder als Lauerjäger oder auch aktiv, indem

Abb. 8.30 Die Boa constrictor ist ein Lauerjäger

256     L. Staeck

sie den Duftspuren des Beutetieres folgt. Das Fressmuster ist ähnlich wie bei der Anakonda: Zuschnappen und anschließendes Erdrücken und Verschlingen des Opfers. Kürzlich konnte ich mich von der Muskelkraft einer noch jungen Boa constrictor am eigenen Körper überzeugen. In einem Dorf holte ich die etwa 1,20 m lange Schlange aus dem Käfig, wobei ich sie mit der Hand hinter ihrem Kopf hielt. Daraufhin umschlang sie mit mehreren Ringen ihres gesamten Körpers meinen Arm, wobei sie etwa alle zwei Minuten mit ihren Körpermuskeln pulsierend einen enormen Druck auf meinen Arm ausübte. Dabei hatte ihr Körper nur einen Durchmesser von etwa vier Zentimeter. Welche Kraft hat dann erst eine ausgewachsene Boa constrictor; mit einem Körperdurchmesser von über 20 cm! Der Artname constrictor leitet sich auch sehr treffend ab von dem lateinischen Verb constringere = würgen. Der eigenartige deutsche Name „Abgottschlange“ geht auf eine indianische Legende zurück, wonach man diese Schlange als Abgesandte des Himmels verehrte, da sich aus ihren Schlängelbewegungen Prophezeiungen ablesen lassen sollten. Einmal überraschten wir eine Königsboa im Urwald kurz nach dem Verschlingen ihres Opfers. Da sie bei der Verdauung gestört wurde, würgte sie kurz darauf das vollkommen eingeschleimte Opfer wieder heraus. Es war ein 80 cm langes Opossum. Der ufernahe Regenwald ist voller Überraschungen – wie die farbenprächtige Regenbogen-Boa (Epicrates cenchria; Familie: Boas). Sie lebt auf dem Boden in Gewässernähe zwischen niedriger Vegetation. So kann es sein, dass man ihr bei einer Waldexkursion begegnet. Sie wird maximal 2,3 m lang, dann ist ihr Körper knapp unterarmstark. Ihre Grundfärbung ist kupferrot-bräunlich mit schwarzen Kreisen als Muster. Ihr gesamter Körper ist von irisierenden Schuppen bedeckt, die beim Auftreffen von Sonnenstrahlen zu regenbogenartigen Reflexionsmuster führen (Abb. 8.31). Sie besitzt wärmeempfindliche Sinneszellen entlang ihre Lippen. So kann sie ihrer Beute folgen. Auch sie tötet ihre Opfer wie Eidechsen, Frösche und Vögel durch Umschlingen und Würgen, bis ein Herz-Kreislaufversagen des Opfers eintritt. Schließlich soll hier noch die Hundskopf-Boa, auch als Baum-Boa bezeichnet (Corallus hortulanus Familie: Boas) Erwähnung finden, da sie sich sehr häufig in den ufernahen Bäumen aufhält, wo sie sich tagsüber versteckt und von uns unmöglich zu entdecken ist. Aber in der Dunkelheit ist die Chance groß, sie mithilfe eines Scheinwerfers im Geäst zu entdecken. So habe ich diese Schlangen oft beobachten können. Sie sind von schlanker Gestalt und werden bis zu 1,5 m lang. Ihr keilförmiger, deutlich abgesetzter Kopf ähnelt entfernt einem Hundekopf, deshalb ihr deutscher Name (Abb. 8.32).

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     257

Abb. 8.31  Die Regenbogen-Boa ist von irisierenden Schuppen bedeckt, die zu regenbogenartigen Reflexmustern führen

Abb. 8.32  Die Hundskopf-Boa ist ein Nachtjäger mit tief nach hinten gebogenen, nadelförmigen Fangzähnen

Ihr Artname hortulanus deutet darauf hin, dass sie bei ihrer Erstbeschreibung in einem Garten beobachtet wurde. Ihre Körperfärbung kann sehr variationsreich sein. So gibt es Hundskopf-Boas, die sind schwarz, braun, grau, rot, orange, gelb oder mit allen Farbabstufungen dazwischen. Auch kann sie auf ihrem Rücken deutlich abgesetzte Flecken haben oder auch nicht. Das Männchen hat unter seinem

258     L. Staeck

Schwanz einen dornartigen Sporn, den er zur Verteidigung und bei der Kopulation einsetzt. Hundskopf-Boas sind lebensgebärend. Sie sind Nachtjäger, ihre Beute setzt sich zusammen aus kleinen Vögeln, Fröschen, Echsen und kleinen Säugetieren. Die tief nach hinten gebogenen, nadelähnlichen Fangzähne können tiefe Wunden verursachen. Mich selbst hat einmal eine Hundskopf-Boa in die Handfläche gebissen, als ich sie mit dem Kescher gefangen hatte und sie zum besseren Fotografieren in die Hand nehmen wollte. Da hatte ich sie wohl zu sehr gestresst … Diese Schlangenart hat zwei Bisstechniken: einen milden oder sanften Biss zur Abwehr und einen tiefen, aggressiven Biss zum Fangen und späteren Töten ihrer Beute. Bei mir hatte sie glücklicherweise nur ihren sanften Biss angewendet, der nur einen Abdruck ihrer Zähne in meiner Handfläche hinterließ, der sich dann mit Blut füllte, aber später keine negativen gesundheitlichen Folgen hatte.

8.3.5 Fransenschildkröte (Chelus fimbriatus) – Schlangenhalsschildkröte (Chelidae) Diese große Wasserschildkröte mit einer Körperlänge von bis zu 40 cm lebt in ruhigen, verkrauteten Weißwasserflüsschen und -seen. Auffallend an ihr ist, dass Kopf und ausgestreckter Hals zusammen fast so lang sind wie der übrige Körper. Im Wasser ist sie, zumal sie extrem gut getarnt ist, für uns nur mit großem Glück zu sehen. Aber ab und zu sieht man sie auf den Kanus der Caboclos, die sie mit Netzen fangen und essen. Das hier abgebildete Foto ist entstanden, nachdem wir eine Mata-Mata – so wird sie in der Tupi-Sprache genannt – einem Flussanrainer abgekauft und sie dann in die Freiheit entlassen hatten (Abb. 8.33). Auf ihrem flachen und dunkelbraunen Rückenpanzer sitzen pyramidenförmig aufgewölbte Schilde. An der Spitze des Kopfes sitzt ein dünner schnorchelartiger Rüssel, mit dem sie Luft holen kann, ohne aufzutauchen. Ihre winzigen Augen sitzen ebenfalls weit vorn am Kopf. Ihren deutschen Namen verdankt sie abstehenden, fransigen Hautlappen an der Kopfunterseite, dem Hals und an der Seite, die sie perfekt tarnen. Zwischen den Zehen besitzt sie Schwimmhäute, die ihr ein schnelles Schwimmen ermöglicht. Scharfe Krallen an den Zehen machen sie wehrhaft. Am Grund eines Gewässers lauert sie auf ihre Beute. Das sind vor allem kleine Fische, die einfach eingesaugt werden. Sie pflanzt sich zwischen Oktober und Dezember in der oberen Amazonas-Region fort, indem etwa 20 Eier in eine Nestmulde aus Schlamm gelegt werden.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     259

Abb. 8.33  Auf dem Rückenpanzer der Fransenschildkröte sitzen pyramidenförmig aufgewölbte Hornschilde

8.4 Vögel Schon wenn man in Amazonien, etwa in Manaus, vom Flughafen zum Hotel fährt, fallen dem Besucher Vögel auf. Da kreisen am Himmel Rabengeier, Schwalben sausen durch die Luft und an den Straßenkreuzungen lärmen in dichten Baumkronen Papageien. Vögel sind im Amazonas-Tiefland allgegenwärtig: Es gibt in dieser Region über 2000 Arten, das sind immerhin etwa 20 % der weltweit bestimmten ca. 10.000 Arten. Ein Grund für diese enorme Fülle sind die im Übermaß vorhandenen Nahrungsquellen für Vögel wie Blüten mit ihren Pollen und ihrem Nektar, Früchte und Samen, Insekten, Fische und für Greifvögel die vielen Vogelarten selbst. Es lohnt sich also, bei seiner Reise zum Amazonas ein leistungsstarkes und kompaktes Fernglas dabeizuhaben. Bei dem Besuch der Amazonas-Region sehen wir Vögel in unterschiedlichen Habitaten – in urbanen Zonen wie Städten, auf offenen Flächen, im Regenwald und natürlich an den Flüssen und Seen. Natürlich kommt es bei der Verbreitung der Vögel auch zu Überschneidungen. So kann man zahlreiche waldbewohnende Vogelarten oder Stadtvögel häufig auch an Flussufern beobachten. Deshalb sollen die in diesem Buch beschriebenen Vögel nur in zwei Hauptlebensräume eingeteilt werden: „Vögel am Wasser“ und „Vögel im Regenwald“. Bei der Auswahl der Arten für dieses Buch gilt – wie auch bei

260     L. Staeck

den beiden vorangegangenen Abschnitten: Vorgestellt wird, was der Besucher wirklich sehen kann. Deshalb bleiben hier auch so ungewöhnliche Vogelarten wie der Greifvogel Harpyie mit seinen zwei Metern Flügelspannweite oder der Kahnschnabel unbeschrieben, da man sie kaum zu Gesicht bekommt. Die folgenden Abschnitte zeigen, in welcher unglaublichen Perfektion es Vögel im Verlauf der Evolution gelernt haben, in ihrem Lebensraum zu überleben, und welche staunenswerten und vielfältigen Strategien sie entwickelt haben, sich zu ernähren und ihre Art zu erhalten.

8.4.1 Großschnabel-Seeschwalbe (Phaetusa simplex) – Seeschwalben (Ternidae) Überraschenderweise gibt es im Amazonas- Flusssystem keine Möwen, dieser Lebensraum wurde vielmehr durch Seeschwalben besetzt. Die hier beschrieben Art ist vor allem im Hauptstrom, aber auch in seinen Nebenflüssen und zur Regenzeit in den riesigen Várzeas allgegenwärtig. Auffallend bei der bis 40 cm großen Großschnabel-Seeschwalbe sind ihr namengebender gewaltiger, gelber Schnabel und ihre schwarze Kopfkappe (Abb. 8.34).

Abb. 8.34  Die Großschnabel-Seeschwalbe ist allgegenwärtig im Flusssystem Amazonas

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     261

Sie bilden gern kleinere Schwärme und sitzen auf Baumstämmen, die im Fluss treiben. Zur Nahrungssuche rütteln sie und tauchen danach aus der Luft nach Fischen. Wie die Möwen sind sie Opportunisten und schnappen sich auch in den Dörfern am Fluss die übriggebliebenen Reste vom Fischmarkt.

8.4.2 Rotstirn-Blatthühnchen (Jacana jacana) – Blatthühnchen (Jacanidae) Die Blatthühnchen bewohnen Gewässeroberflächen der Überschwemmungswiesen, die von Wasserpflanzen – etwa der Amazonas-Riesenseerose (Victoria amazonica), Wasser-Salat (Pistia), Öhrchen-Farnen (Salvinia) und Eichhornia – überwachsen sind. Auf diesen schwankenden Blattflächen finden sie mit ihren übergroßen Füßen mit extrem verlängerten Zehen optimal Halt. Bei ausgestreckten Zehen beträgt der Abstand zwischen dem vorderen und hinteren Zehende 23 cm – das ist genauso lang wie die gesamte Größe dieser Vögel. Ihre Flügel sind rotbraun gefärbt, Kopf, Hals und Brust sind schwarz, Gesicht und Stirnlappen rot und der Schnabel ist gelb (Abb. 8.35).

Abb. 8.35  Das Rotstirn-Blatthühnchen lebt zwischen den Schwimmblättern der Várzeas

262     L. Staeck

Zwischen den Schwimmblattpflanzen suchen sie nach Insekten, Krebstierchen und Schnecken. Sie sind schlechte Flieger, die bei Gefahr unter lautem Gezeter auffliegen und meist nach nur kurzer Distanz wieder auf den Pflanzen landen. Beim Auffliegen werden ihre hellgelb-grünen Flügelunterseiten sichtbar, was ihnen den Spitznamen „Schmetterlingsvögel“ eingebracht hat. Zur Fortpflanzung paart sich das dominante Weibchen mit mehreren Männchen. Dieses baut anschließend zu Beginn der Regenzeit auf den riesigen Blatttellern der Amazonas-Riesenseerose ein Nest, das zumeist aus den kleinen Blättern des Salvinia-Farnes sowie Ludwigia-Blättern besteht. Die vier beigen und dunkelbraun gesprenkelten Eier sind perfekt getarnt und schon aus kurzer Entfernung nicht zu erkennen. Den Schutz des Nestes und die Jungenaufzucht übernimmt ebenfalls das Männchen. Der Name Jacana ist ein Eigenname aus der Tupi-Sprache.

8.4.3 Reiher – Familie: Reiher (Ardeidae) Die verschiedenen Reihervögel sind am häufigsten an den Ufern des Amazonas-Flusssystems anzutreffen. Generell haben sie lange Beine und einen langen Hals im Vergleich zu ihrem Gesamtkörper sowie einen dolch-oder speerartigen Schnabel. Sie halten sich bevorzugt im ufernahen Flachwasser auf, wo sie als Lauerjäger bewegungslos auf ihre Beute warten und blitzschnell mit ihrem Schnabel zustoßen. Ihr Nahrungsspektrum ist groß und umfasst Fische, Frösche, Reptilien, kleine Säuger, Insekten, Krebstiere sowie Eier. Die meisten Reiherarten sind sehr scheu und fliegen schon bei einer Annäherung in großer Entfernung auf. Viele sind gesellig und übernachten auch gemeinsam -wie die Silberreiher und Papageien – auf Schlafbäumen, die dann aussehen wie nach einem Schneegestöber. Neben dem Schutz vor Fressfeinden haben derartige Vogel-Schlafbäume die Funktion von Chat-Rooms, indem zum Beispiel Informationen über fischreiche Gewässer oder solche Bäume ausgetauscht werden, die gerade in großen Mengen reife Früchte zur Verfügung stellen. Zur Fortpflanzung gründen Reiher Kolonien. Zuerst tauchen die männlichen Vögel mit nunmehr auffällig verlängerten Schmuckfedern an Kopf und Hals auf. Sie führen dann ritualisierte Kopf- und Flügelbewegungen aus, bevor es zur Kopulation kommt. Die Nester werden gemeinsam von beiden Geschlechtern gebaut und bestehen lediglich aus einer Anhäufung von dürren Zweigen. Das Gelege besteht aus drei bis fünf Eiern, die Brutpflege übernehmen die beiden Altvögel gemeinsam. Der häufigste Reiher ist der Silberreiher (Ardea alba), der bis einen Meter groß wird. Seine Größe und seine Färbung von Schnabel und Füßen sind seine Unterscheidungsmerkmale zum Schmuckreiher. Beim Silberreiher ist der Schnabel gelb und seine Beine und Füße sind schwarz (Abb. 8.36a).

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     263

Abb. 8.36  a Beim Silberreiher – hier im Balzkleid – ist der Schnabel gelb, und die Beine und Füße sind schwarz, b Bei dem Schmuckreiher ist es umgekehrt: schwarzer Schnabel und gelbe Füße

264     L. Staeck

Beim Schmuckreiher (Egretta thula) ist es genau umgekehrt: schwarzer Schnabel und gelbe Füße (Abb. 8.36b). Außerdem ist er mit 60 cm deutlich kleiner. Während der Silberreiher bewegungslos auf seine Chance wartet, einen Fisch zu erspähen, bewegt der Schmuckreiher seine langen, gelben Zehen hin und her im Wasser, um Beute anzulocken (die vermeintlich einen Wurm schnappen wollen) oder auch um sie aufzustöbern. Der dritte weiße Reiher ist der Kuhreiher (Bubulcus ibis), der mit um die 50 cm der kleinste der drei ist, wobei Schnabel und Füße gelb sind. Er ist weniger am Ufer der Amazonas-Flüsse verbreitet, sondern eher am Unterlauf des Amazonas auf gerodeten Flächen mit Viehweiden anzutreffen. Der Cocoi-Reiher (Ardea cocoi) ist mit einer Körpergröße von 1,30 m der größte Reiher des Amazonas-Tieflandes. Sein Gefieder ist grau-weiß-schwarz mit einer schwarzen Kappe am Oberkopf, die bis zu den Augen reicht. Sein Schnabel ist orange gefärbt (Abb. 8.37). Diese Reiherart nistet in der Regel einzeln in Bäumen, die – geschützt vor Fressfeinden – in Sümpfen stehen. Sein Artname cocoi ist wohl aus dem Chilenischen abgeleitet, wo dieser Reiher nach seinem typischen Ruf „Cuca“ genannt wird. Der 60 cm große Kappenreiher (Pilherodius pileatus) ist unverwechselbar. Sein Hals ist rötlichbraun-cremefarben, sein Oberkopf trägt eine schwarze

Abb. 8.37  Der Cocoi-Reiher ist mit 1,30 m der größte Reiher im Amazonas-Tiefland

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     265

Abb. 8.38  Der Kappenreiher ist mit seinen langen weißen Schmuckfedern am Kopf und blauem Gesicht unverwechselbar

Kappe. Gesicht und Schnabelansatz sind von blauer Färbung. Am Hinterkopf sitzen lange, weiße Schmuckfedern (Abb. 8.38). Er ist dämmerungsaktiv. Zur Fortpflanzung führt das Männchen kunstvolle Balzflüge verbunden mit dem Spreizen der Flügel aus. Gemeinsam bauen die Altvögel danach in ufernahmen Bäumen aus Zweigen ein Nest. Die Jungvögel werden noch einige Wochen lang versorgt. Der Krabbenreiher (Nyctynassa violacea) zählt zu den kleineren Reihern mit einer Körpergröße von knapp 60 cm und ähnelt im Aussehen dem Nachtreiher (Nycticorax nycticorax). Er ist von grauer Grundfärbung mit schwarz-grau melierten Oberflügeln. Sein Kopf ist schwarz mit einer weißen Stirn. Unter den Augen befindet sich ein weißer Streifen. Seine Augen sind bernsteinfarben. Während der Balzzeit trägt er lange weiße Schmuckfedern auf dem Hinterkopf. Er nistet in ufernahen Bäumen, wo er ein Nest aus losen Zweigen baut. Da er auch in der Karibik vorkommt, wo er auf die nächtliche Jagd nach Krebstieren spezialisiert ist, trägt er einen entsprechenden deutschen Namen.

266     L. Staeck

Abb. 8.39  Die Jungvögel der Marmorreiher haben einen tigerähnliche Federzeichnung

Der Marmorreiher (Tigrisoma lineatum) ist ein größerer Reiher mit einer Körpergröße von bis zu 90 cm. Er ist für das menschliche Auge sehr auffällig gefärbt mit seinem leuchtend kastanienbraunen Kopf und Hals. Sein Rücken ist schwarz-grün mit einer sehr feinen Fleckenzeichnung. Sein Schnabel ist zehn Zentimeter lang. Die Iris ist gelb (Abb. 8.39). Bei Gefahr nimmt er eine rohrdommelähnliche Pfahlstellung ein, die ihn optimal tarnt (Somatolyse). Als Einzelgänger bevorzugt er ufernahe Standorte mit dichtem Unterholz, wo er in der Nacht seiner Beute auflauert. Neben Fischen frisst er gern Schlangen und Libellenlarven. Die Jungvögel sehen vollkommen anders aus und haben eine tigerähnliche Federzeichnung (Abb. 8.40). Deshalb ist als sein Gattungsname Tigrisoma (= Tigerkörper) gewählt worden. Der Mangrovenreiher (Butorides striata) zählt mit einer Körperlänge von 40 cm zu den kleinen Reihern. Sein Gefieder ist grau-grün mit schwarzer

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     267

Abb. 8.40  Der ausgefärbte Marmorreiher ist sehr auffällig gefärbt

Kopfkappe. Auch sein Schnabel ist schwarz (Abb. 8.41). Er lebt versteckt an Fluss- und Seeufern, wo er als Einzelgänger auch in der Nacht seiner Beute auflauert. Dabei wendet er einen Trick an: Er platziert gezielt Insekten als Köder auf die Wasseroberfläche, um Fische anzulocken. Beim Ergreifen der Beute schnellt sein Kopf blitzschnell nach vorn, wobei er seinen Hals sehr lang streckt. Zur Fortpflanzung bauen beide Altvögel das Nest in Büschen, deren Äste über dem Wasser hängen. Da sich seine Verbreitung auch bis zu den Mangrovenwäldern der Ozeane erstreckt, trägt er diesen deutschen Namen. Auf Englisch heißt er „Gestreifter Reiher“ (Striated Heron).

8.4.4 Biguascharbe (Phalacrocorax brasilianus) – Kormorane (Phalocrocoracidae) Diese bis 70 cm großen Vögel werden auch wegen ihres – vor allem zur Balzzeit – metallisch glänzenden schwarz- grünen Gefieders Olivenscharben

268     L. Staeck

Abb. 8.41  Der Mangrovenreiher platziert Insekten als Köder auf die Wasseroberfläche, um Beutefische anzulocken

genannt. Der Schnabelansatz ist kräftig gelb, die Iris leuchtet grün (Abb. 8.42). Die Jungvögel sind hellbraun gefärbt. Im Amazonas-Tiefland sieht man oft auf den Flüssen, wie sie jagen. Oder man sieht sie in der Dämmerung, wenn sie in Formation wie auf einer Perlenkette aufgereiht, mit schnellen, kräftigen Flügelschlägen dicht über der Wasseroberfläche zu ihren Schlafbäumen fliegen. Interessant ist ihre Fangtechnik: Sie stoßen torpedoförmig in das Wasser, tauchen und verfolgen mit kräftigen Flügelbewegungen ihre Beute, bis sie diese schließlich mit ihrem starken Schnabel ergreifen. Ich habe es häufiger erlebt, dass sie Welse erbeutet haben, die messerscharfe Flossenstrahlen besitzen. Sie werfen die Beute dann immer wieder hoch und drehen sie dabei so lange, bis sie sie endlich mit dem Kopf voran hinunterschlucken (Abb. 8.42). Sie jagen gern in Gruppen, wobei sie sich gegenseitig die Beute zutreiben. Da sie ohne die fettproduzierende Bürzeldrüse leben, müssen die Federn nach den Tauchgängen getrocknet werden, wozu sie gern ihre Flügel weit ausbreiten. Sie brüten in Kolonien. Oft gibt es Hunderte Brutpaare, die ihre einfachen Nester aus Zweigen in Bäumen bauen. Während der Trockenzeit habe ich mehrfach beobachtet, dass sich Tausende von diesen Kormoranen auf Sandbänken zusammenfinden, wobei sie langsam im Kreis gehen –

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     269

Abb. 8.42  Der Wels wird solange im Schnabel gedreht, bis seine messerscharfen Flossenstrahlen die Biguascharbe beim Hinunterschlucken nicht verletzen können

ein unglaubliches Schauspiel, das bis heute nicht eindeutig geklärt ist. ­Möglicherweise ist das Nahrungsangebot im Flachwasser so gewaltig, dass sich die Vögel in Erwartung einer leichten Beute in großen Mengen dort versammeln. Einige Arten aus der Familie der Kormorane werden als „Scharben“ (englisch Shags ) bezeichnet. Dieser Namen geht auf Seeleute zurück, die alle Kormorane so genannt haben.

270     L. Staeck

8.4.5 Schlangenhalsvogel (Anhinga anhinga) – Schlangenhalsvögel (Anhingidae) Anhingas sind eng mit den Kormoranen verwandt, ihre Körperform ist ähnlich, doch sie sind bis zu einen Meter groß. Ihr Hals und Brustteil sind hellbraun, davon abgesetzt ist der übrige Körper schwarz gefärbt. Die Flügeldecken sind schwarz-weiß gestreift. Der lange, speerförmige Schnabel ist lang. Auffallend sind ihr langer, breit gefächerte Schwanz und ihr stark verlängerter Hals (Abb. 8.43). Beim Schwimmen ragt nur dieser aus dem Wasser heraus, da ihre Knochen – ungewöhnlich für Vögel – kaum mit

Abb. 8.43  Der Schlangenhalsvogel ist ein Verwandter der Kormorane

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     271

Luft gefüllt sind. Deshalb scheint ihr Flug auch beschwerlich zu sein: Es wechseln sich kräftige Flügelschläge stets mit längeren Gleitphasen ab. Alle Zehen sind mit Schwimmhäuten ausgestattet, so können sie perfekt tauchen, allerdings nur für eine kurze Zeit von etwa einer Minute. In dieser Zeit überraschen sie ihre Beute, die sie mit ihrem langen Schnabel regelrecht erdolchen. Das nasse Gefieder trocknen sie wie die Kormorane in der Sonne, indem sie die Flügel ausbreiten. Sie bewohnen Ufer mit dichter Vegetation und ins Wasser ragende Zweige, auf denen die rasten können. Sie brüten am Rand von Kormoran-Kolonien.

8.4.6 Eisvögel – Familie: Eisvögel (Alcedinidae) Von dieser Vogelfamilie gibt es im Amazonas-Tiefland fünf Arten, von denen sich drei – die häufigsten – recht ähnlich sehen. Sie sind in ihrer Größe jedoch sehr unterschiedlich, was ihre Identifizierung erleichtert. Am häufigsten ist der Rotbrustfischer, der mit bis zu 42 cm der größte dieser drei Arten ist. Alle Eisvögel leben territorial an bewaldeten Ufern von Seen oder langsam fließender Gewässer. Ihre Reviergrenzen bilden markante Ansitze, zum Beispiel dicke, ufernahe Baumäste oder ins Wasser ragende Äste, die sie leicht anfliegen können. Bei Gefahr – etwa wenn sich ein Kanu nähert – lärmt vor allem der Rotbrustfischer sehr laut und sehr aufgeregt und fliegt zu seinem nächstgelegenden Ansitz. Wenn sich das Boot erneut nähert, fliegt er wieder auf und setzt sich auf den nächsten Ansitz, bis er schließlich an seine Reviergrenze kommt, von wo er zurückfliegt. Um diese Vögel gut fotografieren zu können, sollte man diejenige Stelle im Auge behalten, wo er gelandet ist und dann warten bis das Boot sich diesem Punkt nähert. Der Schnabel ist bei allen Arten speerartig lang. Lebensweise, Ernährung und Fortpflanzung sind bei allen ähnlich. Der Rotbrustfischer gräbt bis zu zwei Meter lange Brutröhren in Sandabbrüche im Uferbereich oder in Kliffs, wie am Mittellauf des Amazonas (Abb. 2.3). An ihrem Ende verbreitert sich diese Röhre zu einer Bruthöhle. Beide Altvögel betreuen bis zu vier Eier und die Jungvögel noch etwa fünf Wochen nach dem Schlüpfen. Die Bruthöhle wird nicht von Nahrungsresten und Kot gesäubert. Beim Rotbrustfischer (Megaceryle torquata) ist der Rücken eher grau, doch beim Männchen ist die gesamte Brust kastanienbraun beziehungsweise rotbraun, darüber befindet sich ein weißes Halsband. Auf dem Kopf kann er einen struppigen Kamm aufstellen (Abb. 8.44). Beim Weibchen ist der obere Teil der Brust grau gefärbt, darunter schließt sich bauchseitg ein schmaler (manchmal unvollständiger) weißer Ring an; der Rest des Bauches ist ebenfalls rotbraun. Er wird bis zu 42 cm groß. Die Vorderzehen sind an der Basis

272     L. Staeck

Abb. 8.44  Beim männlichen Rotbrustfischer ist die Brust rotbraun gefärbt, das Gefieder sonst eher grau (Größe: 42 cm)

zusammengewachsen und dienen als Schaufel beim Graben der Bruttunnel. Der Artname torquata bedeutet übersetzt „mit Halsband versehen“ und bezieht sich auf das weiße Halsband beim Männchen. Der Amazonasfischer (Chloroceryle amazona) ist mit 30 cm etwa 25 % kleiner als der Rotbrustfischer. Sein Gefieder ist deutlich metallisch-grün gefärbt, wobei Nacken und Kehle weiß sind (Abb. 8.45). Beim Männchen ist die Brust kastanienbraun, beim Weibchen hingegen weiß mit grünen Flecken an den Seiten. Bei dieser Art gibt es keine weißen Markierungen am Flügel wie beim Grünfischer (Abb. 8.46).

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     273

Abb. 8.45  Beim männlichen Amazonasfischer ist die Brust rotbraun gefärbt, das Gefieder metallisch-grün (Größe: 30 cm)

Abb. 8.46  Bei diesem männliche Grünfischer ist die Brust noch nicht rotbraun ausgefärbt, das Gefieder ist grün mit kleinen weißen Flecken auf den Flügeln (Größe: 20 bis 25 cm)

274     L. Staeck

Der Grünfischer (Chloroceryle americana) ist mit 20 bis 25 cm der kleinste Eisvogel in diesem Dreierbündnis. Sein Gefieder ist grün mit weißen Flecken an den Flügeln. Um den Hals zieht sich ein weißes Band. Das Männchen hat eine kastanienbraune Brust (Abb. 8.46), beim Weibchen sind dagegen Brust und Bauch schmutzig-weiß gefärbt.

8.4.7 Fischadler (Pandion haliaetus) – Fischadler (Pandionidae) Dieser recht kleine Greifvogel von knapp 70 cm hat eine Flügelspannweite von ca. 1,7 m. Der Kopf ist weiß mit einem scharf abgesetzten dunkelbraunen Augenstreifen. Rücken und Flügeloberseite sind dunkelbraun, der Schwanz hell-dunkel gebändert mit einer dunklen Endbinde. Auffallend ist seine überwiegend leuchtend weiß gefärbte Körperunterseite mit einem bräunlichen Band auf der Brust. Die Flügel und der Schwanz sind unten dunkel gebändert. Seine langen, spitzen Krallen sind stark gekrümmt (Abb. 8.47).

Abb. 8.47  Der Fischadler hat eine leuchtend weiß gefärbte Körperunterseite

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     275

Seine Ansprüche an den Lebensraum sind gering: Langsam fließende und fischreiche Gewässer. Und davon gibt es genug im Amazonas-Tiefland. Wenn er einen Fisch gesichtet hat, stößt er mit vorgestreckten Füßen ins Wasser und ergreift die Beute. Seine großen aus Ästen gebildeten Horste baut er auf hohen Bäumen. Durch seine Brutplatztreue kommt es häufig zu Wiederverpaarungen. Das Gelege besteht aus zwei bis 3 Eiern, die Jungvögel werden ach knapp acht Wochen flügge.

8.4.8 Bussarde – Familie: Habichtartige (Accipitridae) Von diesen mittelgroßen Greifvögeln gibt es im Amazonas-Tiefland einige Arten, da das Nahrungsangebot sehr groß ist. Sie halten sich gern in Wassernähe auf, da sie in den ufernahmen Bereichen eine bessere Sicht auf ihre Beute haben als im Regenwald. Vom Boot aus wird man deshalb häufig diese Vögel am Himmel kreisen sehen. Sie sind auffällig breitflügelige und kurzschwänzige Schwebeflieger. Ihr gebogener Schnabel ist kurz, ihre Federn sind auf der Körperunterseite oft quergebändert. Ihr Beutespektrum ist groß und besteht aus Insekten, Aas, Fröschen, Reptilien, Vögeln und kleinen Säugern. Der Wegebussard (Buteo magnirostris) ist einer der häufigsten Greifvögel in Amazonien, er hält sich sogar gern in menschlichen Siedlungen auf, bei seiner Beute ist er nicht wählerisch und gilt als Opportunist. Er ist nur knapp 40 cm groß, das Männchen ist sogar noch etwas kleiner als bei den meisten Greifvogelarten. Seine Brust ist braun-weiß gesprenkelt, sein Schwanz ist mit vier bis fünf Querstreifen versehen, seine Iris ist gelb (Abb. 8.48). Im Flug ist er unverkennbar, da der Schwanz auffällig lang und die Schwingen ungewöhnlich kurz sind. Sein Artname magnirostris setzt sich zusammen aus magni (= groß) und rostris (= Schnabel), da sein Schnabel für Bussarde recht groß ist. Der Savannenbussard (Buteo meridionalis) ist ein mittelgroßer Greifvogel von etwa 60 cm. Besonders auffällig ist seine rotbraune Körperfärbung, womit er leicht zu identifizieren ist. Brust, Bauch und Nacken sind bedeckt mit schmalen schwarz-weißen Sprenkelungen, der Schwanz ist deutlich schwarz-weiß gebändert, seine Iris ist bernsteinfarben (Abb. 8.49). Er besiedelt offene trockene Flächen (deshalb sein Name) und weite Sumpfgebiete, wo er stets auf hohen Ansitzen nach Beute Ausschau hält. Sein Nahrungsspektrum umfasst kleine Säuger, Eidechsen, Schlangen, Krebstiere und Insekten. Seine Nester aus Zweigen und Gras baut er gern in den Wedeln von Palmen. Sein Gelege besteht nur aus einem Ei.

276     L. Staeck

Abb. 8.48  Der Wegebussard ist nur knapp 40 cm groß

Abb. 8.49  Der Savannenbussard ist an seiner rotbraunen Befiederung gut zu erkennen

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     277

Der Fischbussard (Busarellus nigricollis) ist ebenfalls ein mittelgroßer Greifvogel von etwa 60 cm und einer Flügelspannweite von 1,40 m. Seine Körperfärbung ist zimtfarben, wobei der Kopf auffallend weiß gefärbt ist. Sein meist gefächerter schwarzer Schwanz ist kurz. Die Iris ist rötlich. Ein schwarzer Halbring sitzt am Hals (Abb. 8.50). Wenn er fliegt, erkennt man seine schwarzen Handschwingen. Seine Zehen sind dornig besohlt und enden in stark gebogenen Krallen. Er bewohnt die unterschiedlichsten Gewässertypen, nur muss die Fließgeschwindigkeit langsam sein. Er sitzt bevorzugt auf einem markanten Ansatz, von wo er seine Umgebung beobachtet. Wenn er eine mögliche Beute erkannt hat, fliegt er ab, lässt sich eine kurze Strecke gleiten und greift dann die Beute aus dem Wasser. Wenn dabei sein Gefieder nass wird, muss er es anschließend lange trocknen, da seine Federn nicht wasserabweisend sind. Zur Fortpflanzung baut er in hohen, gewässernahen Bäumen einen großen Horst aus Zweigen und Blättern. Sein Gelege besteht aus einem bis zwei Eiern. Die Schneckenweihe (Rostrhamus sociabilis) – auch als Schneckenmilan bezeichnet – ist ein kleinerer Greifvogel mit einer Körpergröße von 40 cm.

Abb. 8.50  Der Fischbussard ist unverwechselbar durch seinen weißen Kopf über dem zimtfarbenen Körper und den schwarzen Halbring am Hals

278     L. Staeck

Sein Gefieder ist markant aschfarben-blaugrau, davon heben sich kontrastreich das sonnengelbe Gesichtsfeld und die rote Iris ab. Auch die langen Beine sind auffallend gelb-orange gefärbt. Die Schwanzwurzel ist weiß (Abb. 8.51). Diese Weihe hält sich bevorzugt in den riesigen Überschwemmungswiesen auf, wo sie über den großen Schwimmblattteppichen entlang gleitet und nach Apfelschnecken (Pomacea urceus) Ausschau hält. Die erbeutete Schnecke, die größten haben ein Gehäuse von bis zu elf Zentimtern Durchmesser, wird entweder zu einem Ansitz gebracht oder sie wird auf einem großen Schwimmblatt der Victoria amazonica sofort geknackt. Hierzu ist der dünne Hakenschnabel perfekt geeignet. Der Schließmuskel des Schneckenhausdeckels wird durchtrennt, anschließend kann die fleischige Schnecke aus ihrem Gehäuse gezogen und gefressen werden. Ich habe beobachtet, dass auf mehreren Blättern der Amazonas-Riesenseerose bis zu zehn leere Gehäuse lagen, hier gab es demnach eine üppige Schneckenmahlzeit. Übrigens essen auch die Caboclos diese Schnecken. Bei nicht durchgegartem Schneckenfleisch können jedoch parasitäre Würmer den Menschen befallen.

Abb. 8.51  Die Schneckenweihe hat ein markantes aschgraues beziehungsweise graublaues Gefieder. Sie ist spezialisiert auf Apfelschnecken

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     279

Zur Fortpflanzung baut diese Weihe ein 30-cm-Nest aus Wasserpflanzen auf ufernahen Ästen. Das Gelege besteht aus zwei bis drei Eiern.

8.4.9 Geierfalken – Familie: Falkenartige (Falconidae) Die Angehörigen dieser Familie sind Greifvögel, Aasfresser und Würger zugleich – und damit Allesfresser, worauf der deutsche Name Bezug nimmt. Ihre Größe schwankt zwischen 40 und 45 cm. Sie leben in Galeriewäldern der Flüsse, wo sie Fische aus dem Wasser greifen oder auch tote Fische verzehren. Sie fressen darüber hinaus als typische Nahrungsopportunisten auch unterschiedliche Früchte und suchen auf Viehweiden nach Insekten. Ich habe sogar einen Gelbkopf-Karakara beobachtet, wie er auf dem Rücken eines Cebu-Rindes Insektenlarven aus der Haut zog. Schließlich jagen sie auch kleine Vögel. Außerdem sind sie als Eierräuber bekannt, wobei sie sich auch Nestlinge greifen. Ich habe mit angesehen, wie ein Karakara sich mit seinen Krallen an den hängenden Beutelnestern festhielt, mit dem Schnabel ein Loch in die Nestwand riss, danach einen strampelnden Nestling herauszog und mit diesem in seinem Schnabel davon flog. Über das Fortpflanzungsverhalten dieser Vögel ist wenig bekannt. Der Gelbkopf-Karakara (Milvago chimachima) hat auf Hals, Brust und Bauch ein creme- bis beigefarbenes Gefieder, die Flügeldecken sind schwarzbraun, die Augenumgebung ist gelb und hinter den Augen erstreckt sich ein schwarzer Streifen. Seine Schwanzfedern sind schwarz-weiß gebändert (Abb. 8.52). Er zählt zu den häufigen Vögeln im Amazonas-Tiefland, die man vor allem zu den Morgen- und Abendstunden über die Flüsse und Seen streifen sieht. Da sie, wie schon oben beschrieben, Nahrungsopportunisten sind, kann man sie mit Fischabfall füttern, den sie sich elegant von der Wasseroberfläche greifen (Abb. 8.52). Ein naher Verwandter des zuvor beschriebenen Geierfalken ist der Rotkopf-Karakara (Daptrius ater), der auch als Schwarzer Karakara bezeichnet wird. Er hat ein glänzendes, schwarzes Gefieder mit einem orange-roten, manchmal auch gelben Kopf und orangenfarbenen Beinen (Abb. 8.53). Beim Flug wird an der Schwanzwurzel ein weißes Untergefieder mit schmalen, weißen Querstreifen sichtbar. Er bevorzugt die Ufer von Flüssen und Seen. Seine Beutespektrum ist groß und umfasst neben (toten) Fischen auch Frösche, kleine Echsen und Vögel. Auch das Attackieren von Vogelnestern gehört zu seinem normalen Verhaltensrepertoire. Sein deutscher Name Karakara und wissenschaftliche Artname chimachima sind indianisch-spanisch lautmalend und beziehen sich auf das schnarrende Rufen dieser Vögel. Der Artname des Rotkopf-Karakaras „ater“ bedeutet „schwarz“.

280     L. Staeck

Abb. 8.52  Der Gelbkopf-Karakara ist ein Nahrungsopportunist

8.4.10 Geier – Familie: Neuweltgeier (Cathartidae) Zu den Neuweltgeiern gehören sieben Arten, die auf dem amerikanischen Doppelkontinent leben. Von diesen kommen vier im Amazonas-Tiefland vor. Die mit den Störchen verwandten Vögel leben vor allem an den Ufern von Gewässern, seltener im Regenwald selbst. Die nicht gefetteten Flügelfedern werden nach dem Regen zum Trocknen ausgebreitet. Vor allem der Rabengeier ist ein Kulturfolger und lebt gern in Menschennähe. Alle dieser Geier fressen vor allem Aas. Keiner baut übrigens Nester! Der Rabengeier (Coragyps atratus) wird bis 70 cm groß bei einer Flügelspannweite von 1,5 m. Er hat ein glänzendes, schwarzes Gefieder, Kopf und Hals sind federlos und von einer grauen, faltigen Haut bedeckt (Abb. 8.54). Auffallend sind seine kurzen Flügel, die ein elegantes aerodynamisches Fliegen und Gleiten verhindern. So ist sein Flugbild charakteristisch und besteht aus einem ständig abwechselnden Flattern und kurzem Gleiten. Rabengeier sind sehr gesellig vor allem an ihren Futterplätzen. Sie sind im Amazonas-Tiefland weit verbreitet und insbesondere in menschlichen Siedlungen, auch in größeren Städten, allgegenwärtig. Da Menschen sie mit

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     281

Abb. 8.53  Der Rotkopf-Karakara hat ein glänzend schwarzes Gefieder

Abb. 8.54  Bei Rabengeiern verhindern die kurzen Flügel ein elegantes, aerodynamisches Fliegen

282     L. Staeck

Unrat und Schmutz assoziieren und sie stets verscheuchen, sind sie recht scheu. Bei einer toten Beute werden zuerst Augen und Zunge, danach die Analregion gefressen Es wurde auch häufiger beobachtet, dass sie Hundekot und Rinderdung fressen. Außerhalb der Städte fressen sie neben Aas auch wehrlose Beute wie Eidechsen und Jungvögel, aber auch Insekten und Früchte. Zur Fortpflanzung legen sie die zwei Eier ohne jede Polsterung auf den Grund von Baumhöhlen oder -stümpfen. Sie sind extrem vorsichtig und heimlich bei der Annäherung an ihr „Nest“ und auch beim Abfliegen. Der Truthahngeier des Amazonas-Tieflandes (Cathartes alba ruficollis) ist eine Unterart des Cathartes alba. Sein kleiner nackter Kopf ohne Federn ist besonders leuchtend rot (Abb. 8.55). Sein braun-schwarzes Gefieder weist lange Flügel auf, die ihm in der Thermik der Tropen ein lang anhaltendes Kreisen ermöglicht. Er wird bis zu 75 cm groß bei einer Flügelspannweite von 1,9 m. Er lebt bevorzugt an Flussufern, vereinzelt auch in den ­Regenwäldern. In der Nähe von menschlichen Siedlungen frisst er totgefahrene Tiere. Sein Geruchssinn ist extrem sensibel. So fliegt er gleitend und kreisend in großer Höhe und nimmt dabei geringe Duftstoffe von Kadavern auf. Der Gattungsname geht auf das Griechische cathartes zurück, was „Reiniger“ bedeutet. Der Artname aura stammt aus der Tupi-Sprache und bedeutet „Raubvogel“, der Unterartname ruficollis bedeutet „roter Hals“.

Abb. 8.55  Der leuchtend rote, nackte Kopf ist namensgebend für den Truthahngeier. Der Gelbkopfgeier (kleines Bild) hat im Gegensatz dazu einen bunt gefärbten nackten Kopf, wobei die gelben Gesichtspartien dominieren

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     283

Der Gelbkopfgeier (Cathartes urubutinga) ist mit 60 cm und einer Flügelspannweite von 1,60 m ein eher kleiner Geier. Sein Gefieder ist schwarz, sein nackter, federloser Kopf gelb-orange, seine Stirn und sein Nacken rot und sein Scheitel blaugrau (Abb. 8.55). Die Beine sind weißlich-rosa. Diese Art trifft man im Amazonas-Tiefland seltener an. Sie bevorzugt Urwälder und Flussufer abseits menschlicher Siedlungen. Sie suchen – ausgestattet mit einem ausgezeichneten Geruchssinn – ihre Nahrung, indem sie dicht über dem Boden fliegen. Oft sieht man sie, wie sie über dem flussnahen Urwald ihre Kreise ziehen. Königsgeier (Sarcoramphus papa) sind zugebenermaßen nicht häufig in Amazonien, doch mit etwas Glück kann man sie beobachten, wenn es einen großen Kadaver gibt. So habe ich gleich fünf dieser eindrucksvollen Geier an einem toten Delfin an einem Flussufer über längere Zeit beobachten können. Sie sind bis 85 cm groß bei einer Flügelspanweite von zwei Metern. Unverwechselbar ist ihre eindrucksvolle Kopffärbung, die von Schwarz über Rot-Blau und Rot bis Orange und Gelb reicht. Über dem Schnabel befindet sich ein markanter orangener, warenzartig-wulstiger Hautlappen (Abb. 8.56). Die Iris ist weiß.

Abb. 8.56  Königsgeier haben einen markanten, warzenartig-wulstigen Hautlappen über dem Schnabel

284     L. Staeck

Sie leben meist paarweise und segeln tagsüber in großer Höhe über dem Regenwald, wo sie dank der beständigen Thermik ohne Flügelbewegung stundenlang kreisen können. Mit ihrem guten Geruchssinn und ihren scharfen Augen spüren sie Kadaver aus großer Entfernung auf. Sie fressen jedoch auch Fische, Kleinsäuger und Schlangen. Zur Fortpflanzung legen sie meist nur ein Ei in hohle Baumstümpfe oder auf eine Astgabel. Beide Altvögel versorgen ihren Nachwuchs bis zu drei Monate lang.

8.4.11 Hoatzine (Opisthocomus hoatzin) – Schopfhühner (Opisthocomidae) Diese bemerkenswerten Vögel kann man häufig in den frühen Morgenund Abendstunden beobachten, wenn sie in ufernahen Bäumen sitzen. Ständig kommunizieren sie miteinander mit einem eigenartigen Schnarren und Zischen, als ob eine alte Dampf-Lokomotive Dampf ausstößt. So leitet sich auch ihr aztekischer (und deutscher) lautmalender Name von diesen Lautäußerungen ab: Auf Deutsch werden sie auch – heute nicht mehr politisch korrekt – Zigeunervögel genannt wegen ihrer kastanienbraunen, acht Zentimeter großen Federkrone auf dem Kopf oder auch Stinkvögel, da aus ihrem Vormagen gärende Gase entweichen. Dem Biologen Berhard Grzimek hat dieser durchdringende Geruch an Kuhstallduft erinnert. Der eigentliche Magen ist 50-mal kleiner als der Kropf. Diese Vögel werden etwa 70 cm groß. Auffallend sind ihr kleiner Kopf mit langem Hals, der lange, breit gefächerte Schwanz und die übergroßen Flügelschwingen. Diese sind schwarz und rotbraun gefärbt mit halswärtigen weißen Streifen. Hals und Brust sind cremefarben-hellbraun gefärbt. Die rote Iris ist von nackter, blauer Haut umgeben (Abb. 8.57). Hoatzine fliegen unbeholfen und schwerfällig. Nach einer Reihe von kräftigen Flügelschlägen folgt stets ein Gleitflug, der nach kurzer Strecke im Geäst endet. Oft hüpfen sie auch nur im dichten Laubwerk von Ast zu Ast, wobei es oft zu Federbeschädigungen kommt. Der Grund für ihr Handicap liegt in ihren Brustmuskeln, die stark reduziert sind zugunsten eines stark vergrößerten, muskulösen Kropfes, der als Vormagen dient und der Gärung ihrer Nahrung dient. Der gefüllte Kropf kann bis 25 % ihres Körpergewichtes ausmachen. Ihre Lieblingsspeise sind die großen, derben Blätter der Sumpfcalla (Montrichardia arborescens; Abschn. 6.3.2), die auch noch toxisch sind. Da diese darüber hinaus nährstoffarm sind, müssen die Hoatzine davon viel fressen, ihre Bakterienflora hilft bei der Fermentation und der Zersetzung und Beseitigung der Toxine, doch die gesamte Verdauung dauert – für Vögel höchst ungewöhnlich – bis zu 48 Stunden.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     285

Abb. 8.57  Die Hoatzine beziehungsweise Schopfhühner kommunizieren untereinander mit einem heiseren Schnarren

Sie leben gesellig in Gruppen bis 20 Individuen ausschließlich an den Ufern von Weißwasserflüssen und -seen, wo es ausgedehnte Bestände der Sumpfcalla gibt (Abb. 6.26). Man hört schon aus der Ferne ihr heiseres Schnarren und Zischen, das der „Stimmungsfühlung“ dient.

286     L. Staeck

Die Fortpflanzung findet zur Regenzeit statt. Die Altvögel bauen zusammen mit ihren vier Jungvögeln des vorangegangenen Jahres das Nest immer zur Hochwasserzeit. Die Bewachung des Nestes und das Füttern der neuen Generation übernimmt die gesamte Familie. Das aus Zweigen und Blättern gebaute Nest befindet sich stets direkt am Flussufer im Geäst, etwa fünf Meter über dem Wasser. Bei Gefahr springen die Jungvögel aus dem Nest direkt ins Wasser, wo sie erst einmal wegtauchen und sich verbergen. Sobald „die Luft wieder rein“ ist, klettern sie mithilfe kleiner gerundeter, beweglicher Krallen, die sich an den Enden der Handschwingen befinden, „auf allen Vieren“ zurück auf den Baum bis zum Nest. Nach etwa drei Monaten verschwinden diese Krallen. Aufgrund der nährstoffarmen Ernährung entwickeln sich die Nestlinge sehr langsam. Erst nach 50 bis 70 Tagen sind sie selbstständig. Die entwicklungsgeschichtliche Zugehörigkeit der Schopfhühner ist bis heute ungeklärt. Belegt scheint mittlerweile nur zu sein, dass schon vor rund 20 Mio. Jahren Vertreter der Hoatzine sowohl im heutigen Brasilien als auch im heutigen Namibia lebten.

8.4.12 Hornwehrvogel (Anhima cornuta) – Wehrvögel (Anhimidae) Diese eindrucksvollen Vögel leben als Standvögel ortstreu in den Weiten der Überschwemmungswiesen, wo man vom Kanu aus gelegentlich lockere Verbände von etwa sechs Individuen beobachten kann. Sie sind allerdings sehr scheu. Sie sind von massiver, gänseartiger Gestalt, etwa 80 cm groß, mit kräftigen Schwingen und Füßen. Das Gefieder ist schwarz mit einigen weißen Sprenkeln, der untere Hals ist schwarz-weiß gemustert. Ihre Iris ist bernsteinfarben. Auffallend ist ein dünnes, elastisches, weißliches, bis zu 15 cm langes hornartiges Gebilde, das senkrecht von der Stirn absteht (Abb. 8.58). Diese wächst kontinuierlich weiter, doch die Spitze bricht oft ab. Außerdem besitzen Hornwehrvögel an den Flügeln je zwei spitze Sporne, die sie bei Revierkämpfen und zur Verteidigung nutzen. Ihre lauten Rufe hat ihnen den englischen Namen Screamer (= Schreier) eingebracht. Sie ernährend sich ausschließlich von Wasserpflanzen. Zur Fortpflanzung bauen sie auf dem Boden ein Nest, in das bis zu sechs Eier gelegt werden.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     287

Abb. 8.58  Bei dem Hornwehrvogel wächst ein dünnes, weißliches, hornartige Gebilde auf der Stirn und an den Flügeln sitzen zwei spitze Dorne

8.4.13 Kolibris – Familie: Kolibris (Trochilidae) Kolibris gibt es mit mehr als 330 Arten nur auf dem südamerikanischen Doppelkontinent von Alaska bis Feuerland. Im Amazonas-Tiefland leben deutlich mehr als 40 Arten. Ihre Gefiederfärbung ist stets leuchtend-schillernd. Dieses metallische Glänzen macht sie im steten Licht-Schatten-Spiel der Bäume für Fressfeinde unsichtbar, ihr Körper löst sich scheinbar auf (Somatolyse), was man bei der Hellbauch-Amazilie (Amazilia ­leucogaster)

288     L. Staeck

Abb. 8.59  Kolibris, wie die Hellbauch-Amazilie, müssen bis zu 3000 Blüten am Tag aufsuchen, um nicht zu verhungern

gut sehen kann (Abb. 8.59). Ihre stets langen Schnäbel variieren stark in Größe und Form, sodass sie an die jeweiligen Nahrungsblüten angepasst sind. Die extrem lange Zunge wird weit vorgestreckt, sodass deren gespaltene und hohle Spitze bis zum Nektar am Blütenboden gelangt, der herausgesaugt wird. Die Vögel haben einen hohen Bedarf an energiereicher Kost, der zuckerhaltige Nektar passt genau dazu. Die Nacht verbringen sie bei nur 18 ℃ Körpertemperatur und einer Verringerung der Körperfunktionen um 90 % in einer Art scheintotem Zustand, um nicht zu verhungern. Die ersten Sonnenstrahlen des beginnenden Tages weckt sie auf, und sie beginnen voll aktionsfähig mit ihrer Nahrungssuche, wobei sie bis zu 3000 Blüten pro Tag aufsuchen müssen. Um ihren Eiweißbedarf zu decken, fressen sie auch Spinnen und Insekten, die sie aus Spinnennetzen stehlen. Jeden Tag müssen sie 50 % ihres Körpergewichtes an Nahrung zu sich nehmen. Ihr Grundumsatz ist nämlich extrem hoch: • Beim Rütteln vor einer Blüte machen sie bis zu 50 Flügelbewegungen pro Sekunde; • bei den kurzen Balzflügen sind es sogar 200 pro Sekunde;

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     289

• bezogen auf ihr Körpergewicht haben sie das größte Gehirn aller Tiere, nämlich 4,2 %; • ihr Körper besteht zu einem Drittel aus Flugmuskulatur; • sie besitzen eine dreimal so große Lunge und ein dreimal so großes Herz wie eine Haustaube, bezogen auf das Körpergewicht; • ihr Herz schlägt 500 Male pro Minute (beim Menschen 60 bis 90 Male); • sie können kurzzeitig mehr als 100 km pro Stunde schnell fliegen und • sie können als einzige Vögel rückwärts und auf der Stelle fliegen. Ihre Fortpflanzung ist für Vögel ganz besonders: Sie praktizieren eine „KeinEhe“ – es findet während der Kopulation sowie während des Baues und der Jungenaufzucht weder eine Paarbildung noch Paarbindung statt. Das Weibchen baut in einem Busch allein das Nest, ein nach oben offener kleiner Napf aus Pflanzenfasern, die mit Spinnenfäden zusammenhalten werden. Nach der Paarung bleiben sich Männchen und Weibchen fremd, wenn man von kurzen Sturzflügen des Männchens vor dem sitzenden Weibchen einmal absieht. Das Gelege besteht aus zwei Eiern, das Weibchen brütet sie allein aus und zieht die Jungvögel groß, die bis zu 140-mal am Tag gefüttert werden müssen.

8.4.14 Ani-Kuckucke – Familie: Kuckucke (Cuculidae) Die unverwechselbaren Merkmale dieser im Amazonas-Tiefland häufigen Vögel sind: ein einheitliches schwarzes Gefieder, mächtige Schnäbel, lange Schwänze. Die Anis vagabundieren am Tag in offenen Habitaten wie Überschwemmungswiesen, offenen Flussufern, Rodungsflächen auf der Suche nach Termiten, Insekten, Früchten und Samen. Stets sind sie in Gruppen von etwa zehn Individuen unterwegs. Ihr typisches Flugbild besteht aus sich abwechselnden schnellen Flügelschlägen und kurzen Gleitphasen. Diese Vögel sind sehr sozial und erledigen Nahrungssuche, Gefiederpflege, Feindabwehr und Brutpflege im Gruppenverband. Sie sind also keine Brutschmarotzer, allerdings betreiben sie eine Vorform dieser Verhaltensweise: Alle Weibchen legen ihre Eier in ein Gemeinschaftsnest, doch die ranghöchsten Tiere schichten schon mal in unbeobachteten Momenten die Eier so um, dass ihre eigenen Eier oben liegen oder sie werfen sogar Eier anderer Weibchen aus dem Nest. Der Riesen-Ani (Crotophaga major) wird elsterngroß (45 cm) und weist einen markanten Höcker auf dem Oberschnabel auf. Sein glattes Gefieder

290     L. Staeck

schimmert metallisch-blau (Abb. 8.60). Der Glattschnabel-Ani (Crotophaga ani) ist mit 35 cm um ein Drittel kleiner, sein mächtiger Oberschnabel ist kammartig erhöht. Am Kopf, Nacken und Hals sehen die Federn „struppig“ aus und der metallisch-blaue Glanz ist nicht vorhanden (Abb. 8.61).

8.4.15 Stärlinge – Familie: Stärlinge (Icteridae) Zu dieser formenreichen Vogelfamilie zählen zwei ähnliche Vogelarten, die an den Ufern der Flüsse und Seen des Amazonas-Tieflandes sehr verbreitet sind, aber auch gern in den Dörfern und kleinen Städten in Flussnähe in großen Bäumen ihre Brutkolonien errichten. Zum einen sind es die Gelbrücken-Kaziken (auch als Gelbbürzel-Kaziken bezeichnet), (Cacicus cela), die in der Wahl des Baumes für eine künftige Brutkolonie nicht ­wählerisch sind – das kann schon ein kleiner Baum sein, der in den Várzeas

Abb. 8.60  Der Riesen-Ani hat einen markanten Höcker auf dem Oberschnabel

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     291

Abb. 8.61  Beim Glattschnabel-Ani ist der Oberschnabel kammartig erhöht

steht und in der Regenzeit fast bis zu seiner Krone im Wasser steht. Eines scheint jedoch wichtig für die Koloniegründung zu sein: Die Nähe zu einem Wespennest bietet ihnen Schutz etwa vor räuberischen Tukanen und Rotkopf-Karakaras, die gern ihre Nester plündern. Ihre Nester sind beutelförmig, bis zu 40 cm lang und an der Basis erweitert. Sie sind aus Grashalmen geflochten, wobei das Nistmaterial kreuz und quer aus dem Nestkörper heraussteht. Eine solche Kolonie wächst im Laufe der Jahre und kann durchaus aus 60 oder mehr Nestern bestehen (Abb. 8.62a). Die Nester des Vorjahres werden wieder verwendet und – wenn nötig – von den Weibchen repariert. Das Gelege besteht aus nur einem Ei. Es herrscht ein reger Verkehr in einer solchen Kolonie. Da wird an den Nestern gebaut, und ständig fliegen Vögel ab zur Nahrungssuche oder kommen von dieser zurück. Sie fressen Insekten und Früchte. Dabei rufen die Männchen ständig mit den unterschiedlichsten Tönen wie Flöten, Gackern und Pfeifen, sie imitieren jedoch auch unterschiedlichste Geräusche. Wenn der Beobachter sich ruhig verhält, kann er dieses Treiben ausgiebig beobachten und gute Fotos machen.

292     L. Staeck

Abb. 8.62  a Brutkolonie der Gelbrücken-Kaziken, b Brutkolonie der Krähenstirnvögel

Abb. 8.63  Die Gelbrücken-Kaziken sind schwarz gefärbt bis auf gelbe Flecken auf den Flügeln, dem Rumpf und am Bürzel

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     293

Diese quirligen Vögel sind etwa 30 cm groß, vollständig schwarz gefärbt bis auf einige gelbe Federn auf den Flügeldecken, dem Rumpf und am Bürzel. Ihre Iris ist hellblau und ihr großer Schnabel elfenbeinfarben (Abb. 8.63). Ihr Gattungsname Cacicus und auch ihr deutsche Name stammt von dem Wort Kaziken, die Bezeichnung für einen Anführer oder Dorfhäuptling – wohl weil diese Vögel so dominant sind. Der zweite Stärlingsvogel hier ist der Krähenstirnvogel oder Oropendola (Psarocolius decumanus). Er sieht dem Kazikenvogel sehr ähnlich ist jedoch mit knapp 50 cm deutlich größer. Auch er ist schwarz, bis auf die Schwanzfeder. Diese sind an der Schwanzwurzel kastanienbraun und der Stoß, also die Steuerfedern, sonnengelb. Seine Iris ist hellblau und sein mächtiger Schnabel elfenbeinfarben (Abb. 8.64). Das Männchen trägt eine kaum erkennbare haarähnliche Haube (deshalb auch der englische Name Crested Oropendola ). Das laute Rufen beider Geschlechter klingt wie ein lautes Klackern. Sie sind Kolonienbrüter, und zwar nur auf sehr hohen Bäumen. Dort bauen sie gewaltige, kunstvoll geflochtene Hängenester von bis zu 1,2 m Länge (Abb. 8.62b). Diese sind schlauchförmig, bis sie sich an der Basis kugelartig erweitern. Ein dominantes Männchen der Kolonie begattet nach einem vorangegangenen ausgeklügelten Ritual mit den anderen Männchen der Kolonie die meisten Weibchen. Das Gelege besteht aus zwei Eiern. Auch diese Vogelart lebt in Regenwäldern am Rand von Flüssen und Seen. Terra-Firme-Wälder meidet sie.

Abb. 8.64  Krähenstirnvögel sind schwarz gefärbt bis auf die kastanienbraune Schwanzwurzel und die gelben Steuerfedern

294     L. Staeck Tipp Um Vögel zu fotografieren, benötigt man ein leistungsfähiges Teleobjektiv mit einer Brennweite von 400 oder noch besser 600 mm. Es gibt eine App für das Handy mit dem Namen „Birds of Brazil“, die man sich kostenlos herunterladen kann. Diese kann man benutzen, um die beobachteten Vögel zu bestimmen und um sie sogar anzulocken. Die App enthält sogar die Gesänge und Rufe der beschriebenen Vögel. Wenn man diese abspielt, kann man die Männchen territorialer Vogelarten wie etwa Tukane anlocken und sie gut fotografieren.

8.4.16 Tyrannenvögel – Tyrannen (Tyrannidae) Diese große Vogelfamilie des amerikanischen Doppelkontinentes – sie wird auch Neuweltfliegenschnäpper genannt – umfasst mehr als 430 Arten. Exemplarisch werden hier drei davon vorgestellt, die der kurzzeitige Besucher des Amazonas-Tieflandes vom Boot aus oder auch an Land beobachten kann. Ihren Namen verdanken sie übrigens ihrer Aggressivität gegenüber Eindringlingen in ihr eigenes Revier, sogar auch gegenüber bedeutend größeren Greifvögeln. Von ihrem Ansitz aus jagen sie vor allem Insekten. Der Schwefelmaskentyrann (Pitangus sulphuratus) ist einer der häufigsten Vögel in Amazonien, man kann ihn fast als Kulturfolger bezeichnen, denn er in den Dörfern und Städtchen am Amazonas ebenso zu Hause wie an ufernahen Habitaten. Sein unüberhörbares Rufen hört man überall. Brasilianisch sprechende Menschen nennen ihn lautmalend Bem-ti-vi (auf Deutsch = „Ich habe dich gut gesehen“), bei Französischsprachigen Qu´est-ce qu´il dit (auf Deutsch = „Was hat er gesagt?“). Bei Spanisch sprechenden Menschen heißt er Kiskadee („So, wie er ruft“). Auf Deutsch heißt er schlicht und kurz Schwefeltyrann. Dieser 22  Zentimetergroße Sperlingsvogel hat einen schwarz-weiß gestreiften Kopf, eine mittelbraune Flügeldecke, eine weiße Kehle und einen schwefelgelben Bauch. Sein schwarzer Insektenschnabel ist kurz und dick (Abb. 8.65). Neben Insekten fängt er auch sturztauchend kleine Fische sowie Frösche, Eidechsen sowie kleine Krabben und er frisst auch Früchte. Er brütet auch in menschlichen Siedlungen, sein Nest baut er aus Pflanzenstängeln, das Weibchen brütet die zwei bis drei Eier aus. Der Gabelschwanztyrann (Tyrannus savana) hat eine Körperlänge von knapp zehn Zentimeter, doch sein markanter gegabelter Schwanz ist beim Männchen dreimal so lang (Abb. 8.66). Damit hat er den längsten Schwanz aller Vögel unseres Planeten bezogen auf die Körpergröße. Beim ­Weibchen

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     295

Abb. 8.65  Schwefelmaskentyrannen heißen auf Brasilianisch Bem-ti-vi (= „Ich habe dich gut gesehen“)

Abb. 8.66  Der gegabelte Schwanz ist beim Männchen des Gabelschwanztyrann dreimal so lang wie sein Körper

296     L. Staeck

Abb. 8.67  Kennzeichnend für das Männchen des Sumpftyrann ist der weiße Kopf bei sonst schwarzem Gefieder

sind die Schwanzfedern deutlich kürzer. Seine Unterseite ist weiß. Seine Oberseite ist grau, die Flügeldecken mittelbraun. Auf dem Kopf sitzt eine schwarze Kappe. Er bevorzugt offene Lebensräume wie Galeriewälder, Buschland, Grasland und Várzeas. Das Weibchen baut das napfförmige Nest in Büschen, das Gelege besteht aus zwei bis drei Eiern. Der Sumpftyrann (Arundinicola leucocephalis) wird 13 cm groß, das Männchen ist schwarz-braun gefärbt bei einem weißen Kopf, die Schnabelunterseite ist gelb (Abb. 8.67). Das Weibchen ist nicht so kontrastreich gefärbt: Die Flügeldecken sind braun, Kopf und Vorderseite matt-weiß und der Schwanz schwarz. Er lebt bevorzugt in den Überschwemmungswiesen, wo er von seinem Ansitz auf einem Busch Insekten jagt. Sein Grasnest baut er an einem Zweigende über Wasser. Die zwei bis drei Eier werden von beiden Eltern betreut.

8.4.17 Tagschläfer (Nyctibius griseus) – Tagschläfer Eine Nachtexkursion gehört zu den Höhepunkten jeder Amazonas-Reise. Beim Absuchen der Ufer mit einem guten Scheinwerfer kann man zahlreiche Vögel beobachten. Da sind zum einen die tagaktiven Vögel, die auf

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     297

ufernahen Bäumen übernachten, zum Beispiel Eisvögel, Silber-, Schmuckund Kappenreiher, Kahnschnabel und Schlangenhalsvogel, die in den Scheinwerfer geraten und nicht davonfliegen, da sie nachts nichts sehen können. So kommt man sehr nah an diese Vögel heran. Zum anderen kann man nachtaktive Vögel beobachten – etwa den Tagschläfer und Nachtschwalben. Gerät der Tagschläfer in den Scheinwerferkegel reflektieren seine beiden Augen rot wie glühende Kohlen. Wie der Brillenkaiman besitzt auch er eine reflektierende Hautschicht hinter der Netzhaut (Abschn. 8.3.3). Da sich dieser Vogel seiner extremen Tarnung bewusst ist, kann man sich ihm recht nah mit dem Boot nähern, bevor er abstreicht oder seine Augen einfach schließt. Während des Tages ruht er mit dem pfahlähnlich nach oben gerichteten Kopf und fast geschlossenen Augen auf der Spitze abgebrochener schlanker Baumstämme (Abb. 8.68). Da seine großen Augen eine auffallend leuchtend gelbe Iris aufweisen, lässt er die Augen geschlossen, damit sie ihn

Abb. 8.68  Der Tagschläfer ist perfekt an seine Umgebung angepasst – am Tag und auch nachts

298     L. Staeck

nicht verraten. Trotzdem kann er noch sehen, denn es befinden sich zwei senkrecht verlaufende Schlitze in seinen Augenlidern. Mit dieser Körperhaltung und seinem graubraun gestreiften und gefleckten Gefieder verschmilzt der Vogel mit der Rindenstruktur des Baumes. Die Tarnung ist wirklich perfekt! Mit den guten Augen der Bootsführer und einem Laserpointer habe ich diesen interessanten Vogel auch am Tage sehen und fotografieren können. In der Nacht ist er genauso perfekt getarnt wie am Tage, auch nachts verschließt er häufiger seine Augen. Sein Körper ist bei einer Größe von 40 cm kräftig gebaut, der Schwanz ist lang. Am Schnabelansatz befinden sich einige Borsten und seinen überproportional großen Schlund reißt er bei der Feindabwehr auf. Er lebt in offenen Waldhabitaten am Rand von ruhigen Gewässern. Dort geht er von seinem Hochsitz aus mit Beginn der Nacht auf die Jagd, in dem er auf Großinsekten wie Nachtfalter hinabstößt. Zur Fortpflanzung wird ein Ei in die Höhlung eines Baumstumpfes gelegt, beide Altvögel wechseln sich beim Brüten ab, das Männchen brütet tagsüber, das Weibchen in der Nacht. Wenn man mit dem Kanu bei Vollmond unterwegs ist und sein tiefes, trauriges Rufen (po-ou po-ou po-ou) ertönt, ist dieses Erlebnis sicherlich ein Höhepunkt jeder Reise. Die Flussbewohner nennen ihn auch deshalb Potoo. Ein weiterer einheimischer Name ist wegen seines großen Schlundes Urutau(-Tagschläfer), was übersetzt „Gespenstermaul“ heißt. Nachtschläfer sind mit den Schwalmen beziehungsweise Ziegenmelkern verwandt.

8.4.18 Falken-Nachtschwalbe (Chordeiles minor) – Nachtschwalben (Caprimulgidae) Während der Nachtexkursionen kann man häufig – vor allem vor dem Regen oder während es regnet – Nachtschwalben beobachten, von denen es sehr viele unterschiedliche Arten gibt. Im Scheinwerferlicht fliegen sie mit flatternden Flügelbewegungen knapp über der Wasseroberfläche. Im direkten Licht reflektieren die Augen glutrot. Die Falken-Nachtschwalbe wird bis zu 23 cm groß, hat eine dunkelbraune oder graue Grundfärbung mit schwarz-graubrauner Musterung mit einigen unvollständigen weißen Bändern auf den Flügeln. Die schmalen Flügel tragen eine weiße Binde. Bei den Männchen ist die Kehle weiß. Im geschlossenen Zustand sieht der Schnabel ungewöhnlich klein aus (Abb. 8.69). Während des Tages sitzen sie längs geduckt auf einem niedrigen Ast, wodurch sie perfekt getarnt sind. Nachts jagen sie von ihrem Ansitz aus geflügelte Ameisen, Motten, Nachtfalter, Glühwürmchen und Käfer. Auffallend ist ihr unregelmäßiger Zick-Zack-Flug, der manchmal von

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     299

Abb. 8.69  Die Falken-Nachtschwalbe fliegt mit einem unregelmäßigen Zick-ZackFlug über die Wasseroberfläche

einem Sturzflug unterbrochen wird. Ich habe mich mit dem Boot bei eingeschaltetem Scheinwerfer oft ihrem Ansitz genähert. Die Nachtschwalbe bleibt auf ihrem Ast wie gelähmt sitzen, man kann sie aus nächster Nähe fotografieren und könnte sie sogar greifen – als ob sie sich ihrer perfekten Tarnung bewusst ist.

8.5 Säugetiere Für die Säugetiere gilt wie für viele andere Tiere auch: Es gibt zwar viele verschiedene Arten, doch durch die dichte Vegetation an den Ufern von Flüssen und Seen oder im Regenwald selbst sind sie nur schwer auszumachen und selten zu beobachten, obwohl von dieser Wirbeltierklasse in Amazonien über 400 verschiedenen Arten vorkommen – in Deutschland sind es nur 100. Entsprechend den Leitkriterien für diesen Band werden hier nur solche Tierarten vorgestellt, die der Besucher während eines Aufenthaltes von etwa zwei bis drei Wochen wirklich sehen kann. Das kann in der Natur selbst sein

300     L. Staeck

oder auch beim Besuch der Caboclos oder der Ureinwohner, denn diese halten sich häufiger Tiere des Regenwaldes als „Haustiere“. Dabei haben sie allerdings ein anderes Verhältnis zu diesen Tieren als wir in unserem Kulturkreis. Bei uns leben zum Beispiel Hunde oder Katzen als Teil der Familie in unserem Haushalt, die Tiere haben in der Regel einen Namen und die Besitzer haben ein „persönliches Verhältnis“ zu ihnen. Im Amazonas-Tiefland nehmen die im oder am Haus lebenden Tiere einen anderen Stellenwert ein. Sie leben eher abseits der Familie ohne eigenen Namen und für sich, Affen und Faultiere werden dabei meist sehr kurz angeleint. Meist sind es junge Tiere, deren Eltern zuvor im Kochtopf gelandet sind. Hoch sensible Tiere wie Affen leiden unter diesen Erlebnissen und können nur selten ein artgerechtes Leben führen. Bei meinen Besuchen solcher Dörfer habe ich im Verlauf von 20 Jahren viele unterschiedliche, fast immer nur junge Säugetiere aus dem Regenwald als „Haustiere“ kennengelernt: zum Beispiel Wasserschweine (Capybaras), Wickelbären (Honigbären), Nasenbären, Waldhunde, Tapire, Agutis, Faultiere oder auch zahlreiche Affenarten, unter diesen – neben den hier vorgestellten Arten – auch Spinnen- und Wollaffen sowie verschiedene Krallenaffen (Löwenäffchen, Zwergseidenäffchen und unterschiedliche Tamarinen).

8.5.1 Flussdelfine – Familien: Amazonas-Flussdelfine (Iniidae) und Delfine (Delphinidae) Im Amazonas-Flusssystem leben bedingt durch die tief greifenden geologischen Ereignisse vor rund 25 Mio. Jahren, die eine riesige Meeresbucht vom pazifischen Ozean abtrennte und diese allmählich zu einem Süßwasser-Binnensee verwandelte (Abschn.  2.1), zwei völlig unterschiedliche Flussdelfinarten. Diese stellen Relikte zweier ursprünglich in den Meeren lebenden Delfinarten dar. Die beiden heute lebenden Arten gehören auch verschiedenen Familien an. Die größere der beiden ist der Amazonas-Flussdelfin (Inia geoffrensis), der auch als Rosa Flussdelfin und von den Flussanrainern als Boto bezeichnet wird. Er ist in allen Gewässertypen, ob Weißwasser (wie der Amazonas), Schwarzwasser (wie der Rio Negro ) oder Klarwasser (wie der Rio Tapajós ), häufig zu beobachten. Während des Hochwassers schwimmt der Boto sogar in die Überschwemmungswälder hinein, wo er zwischen den Ästen der Baumkronen nach Beutetieren Ausschau hält. Dabei kommt ihm zugute, dass seine Nacken- und Halswirbel nicht miteinander verwachsen sind, sodass er seinen Kopf – wie wir Menschen – drehen kann und so Hindernissen besser ausweichen kann. Botos sind recht neugierig und tauchen häufig direkt neben dem Kanu auf, trotzdem sind sie nur schwer zu fotografieren, am ehesten zu filmen.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     301

Tipp Es gibt inzwischen einige Caboclofamilien, die die Botos von ihren Hausbooten aus regelmäßig mit Fischen füttern. So hat man sie an den Menschen gewöhnt. Gegen ein geringes Entgelt können Besucher auf diese Weise mit ihnen schwimmen und sogar ihre lederweiche Haut berühren (Abb. 8.70). Mit einer Schnorchelbrille kann man sie auch unter Wasser aus nächster Nähe beobachten.

Der Boto erreicht eine Körperlänge von knapp drei Metern bei einem Gewicht von 200 kg, wobei die Männchen größer und schwerer sind als die Weibchen. Die Körperfärbung ist rosa. An ihrem massigen Körper sitzt ein rundlicher Kopf mit einer deutlich abgesetzten Schnauze. Seine kugelförmig vorgewölbte Stirn enthält die Melone, die für die Echoortung zuständig ist. Wie alle Säugetiere haben Delfine Lungen. Sie atmen mithilfe eines Atemloches, das hinter der Melone quer auf seinem Kopf sitzt; alle paar Minuten kommen sie zum Luftholen an die Wasseroberfläche. Übrigens habe ich Luftsprünge, wie sie ozeanische Delfine häufiger praktizieren, bei Botos nur sehr selten gesehen. Seine Rückenflosse – die Finne – ist als kleine Erhebung auf dem Rücken kaum zu erkennen, während die breiten Brustflossen besonders auffällig sind und ihm eine hervorragende Steuerung im Wasser ermöglichen. Auch die Schwanzflosse ist kräftig und ermöglicht dem Boto auch gegen die starke Strömung des Amazonas voranzukommen. Seine winzigen Augen sind wenig leistungsfähig. Sein schnabelförmiges Maul ist im Ober- und Unterkiefer dicht mit je zwei Zahnreihen besetzt (Abb. 8.70), wobei es unterschiedliche Zahnformen gibt, was für Delfine einzigartig ist. Zu seinem Beutespektrum zählen über 50 verschiedene Fischarten sowie Schildkröten. Um seine Beute aufzuspüren, schwimmt er, wie eine

Abb. 8.70  Der Rosa Flussdelfin wird von den Flussbewohnern Boto genannt

302     L. Staeck

­ oktorarbeit über seine Lebensweise dokumentiert, paarweise oder in kleiD nen Gruppen täglich sieben bis zehn Stunden lang 30 bis 40 km die Flüsse entlang. Am häufigsten trifft man sie dort, wo die dunklen Schwarzwasserflüsse in die Weißwasserflüsse münden. An diesen Stellen treffen Fische aus dem bis zu drei Grad Celsius wärmeren und total sauren Schwarzwasser auf das chemisch fast reine und nahezu ph-neutrale Weißwasser, wodurch sie zunächst irritiert und wie betäubt sind, sodass sie zu einer leichte Beute für die Botos werden. Die Echoortung ermöglicht ihnen auch in dem nahezu undurchsichtigen Weißwasser ein perfektes Auffinden ihrer Beute. Hierzu sendet die Melone Schallwellen – wie ein Echolot – aus, die durch den Fisch reflektiert werden. Die in der Melone zurückkommenden Schallwellen werden im Hinblick auf Größe, Form und Konsistenz der Beute ausgewertet. Ihr Sonarsystem ist so genau, dass sie etwas Fressbares von der Größe einer Zwei-Cent-Münze auf zehn Meter Entfernung genau orten können. Zusätzlich haben sie noch Tasthaare auf ihrer Schnauze für die Feinorientierung. Botos bekommen nur alle zwei Jahre ein Kind, das anfangs anthrazitfarben ist und noch für viele Monate bei seiner Mutter bleibt. Während der Balz schmücken sich einige männliche Flussdelfine mit Stöcken (nach Vera da Silva, Instituto Nacional de Pesquisas de Amaẑonia, Manaus ). In Kolumbien wird dieser Flussdelfin leider immer stärker bejagt. Sein Fleisch wird als Köder benutzt, um bestimmte Antennenwelse zu fangen, die als Speisefische sehr beliebt sind. Die Flussbewohner lassen die Botos jedoch in der Regel in Ruhe und fangen sie auch nicht für ihre Ernährung. Caboclos sagen über sie, dass es Unglück über ihre Familie bringt, wenn man aus Versehen einen Boto getötet hat, etwa beim Fischfang, wenn sie sich den Netzen verheddern und ersticken. Zudem gibt es zahlreiche Legenden um den Boto, dem eine Reihe von menschenähnlichen Verhaltensweisen nachgesagt wird: So soll der Boto mit weißem Anzug und einem Hut zum Verdecken des Atemloches bei Vollmond an Land gehen, um nach jungen Mädchen Ausschau zu halten. Nachdem er eines verführt hat, verschwindet er wieder im Fluss. Auch heute noch gibt es im Amazonas-Tiefland viele Geburtsurkunden in denen nach Angaben des Mädchens als Vater „Boto cor de Rosa“ (= Rosafarbener Boto) eingetragen wird. Entdeckt hat den Rosa Flussdelfin übrigens der französische Naturforscher Etienne Geoffrey Saint-Hilaire im Jahr 1807. Deshalb trägt er ihm zu Ehren seinen Namen. Der zweite Amazonas-Delfin ist der anthrazitfarbene Sotalia oder Tucuxi-Delfin (Sotalia fluviatilis), der mit 1,5 m Körperlänge und 50 kg viel

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     303

Abb. 8.71  Der Tucuxi-Delfin (oder Sotalia) ähnelt in seinem Aussehen den Meeresdelfinen

k­leiner bleibt (Abb. 8.71). Er ist auch seltener zu sehen, allerdings dann meist in kleinen „Delfin-Schulen“, in denen sie synchron schwimmen und Luft holen. Ihr Verhalten ähnelt sehr den ozeanischen Delfinen. Sie haben eine deutliche, 15 cm hohe Rückenfinne. Der Eigenname Tuxuci entstammt der Tupi-Sprache.

8.5.2 Dreifinger-Faultier (Bradypus tridactylus) – Faultiere (Bradypodidae) Diesem Tier haben wir Menschen einen überheblichen und abwertenden Namen gegeben. Der Naturforscher Charles Darwin etwa schrieb: „Es ist die hässlichste Kreatur, die die Schöpfung je hervorgebracht hat. Von allen Tieren hängt dieses armselige, verkrüppelte Wesen am beharrlichsten am Leben.“ Dies war ungerecht, denn tatsächlich sind Faultiere perfekt an ihre Umwelt angepasst und kommen im Regenwald fantastisch zurecht. Ihre Nahrung läuft ihnen schließlich auch nicht weg. Ihre Langsamkeit, Unauffälligkeit und Tarnung sind ihr bester Schutz! Neuere Freilanduntersuchungen haben zudem ermittelt, dass Faultiere weit weniger schlafen als bisher angenommen: Es sind 9,6 Stunden pro Tag, nicht wie bisher angenommen bis zu 20 Stunden. Faultiere sind recht häufige Bewohner der flussnahen Bäume.

304     L. Staeck Tipp Auch wenn ein Faultier vom Boot aus gesichtet wird, ist es sehr schwer, die genaue Position des Tieres den Mitreisenden zu vermitteln. Hier hilft ein Laserpointer, mit dem man das Faultier „punktgenau“ zeigen kann.

In diesem Habitat finden sie auch ihre Lieblingsnahrung: die Blätter der Ameisenbäume (Cecropien), (Abschn. 6.1.1). Durch das überreiche Nahrungsangebot sind diese Tiere zu Weidetieren der Baumwipfel geworden, also echte Laub-Äser. Da sie weder Eck- noch Schneidezähne besitzen, reißen sie die Blätter mit ihren stark verhornten Lippen ab. Ihre Mahlzähne, die bei dieser Ernährungsweise viel zu tun haben, nutzen sich ständig ab, was jedoch durch permanentes Nachwachsen wieder ausgeglichen wird. Durch ihre besondere Anatomie von Brustwirbeln und Rippen könne sie ihren Hals um 270° vertikal und sogar um 330° horizontal drehen, wodurch sie Blätter ohne aufwendige Bewegungen abrupfen können. Sie sind wie die Rinder Wiederkäuer, da vor allem die Cecropienblätter schwer zu verdauen sind. Nach einer Vorverdauung in drei Mägen gelangt die Nahrung für die Endfermentation in den Hauptmagen. Sie atmen nur achtmal pro Minute und zur weiteren Energieeinsparung sinkt die Körpertemperatur in der Nacht auf 24 ℃. Sie leben einzelgängerisch bevorzugt in den Kronen der Cecropien, wo sie nur schwer auszumachen sind. Wenn man mit dem Fernglas gezielt diese Pionierbäume absucht, wird man die Tiere häufig kopfüber an den Ästen hängen sehen. Ohne Fernglas sehen sie aus der Ferne wie ein Bündel trockener Blätter aus. Ausgewachsene Faultiere sind bis zu 80 cm groß und wiegen etwa zehn Kilogramm. Ihr dichtes, zottiges Fell (Abb. 8.72) ist von grauer Grundfärbung, die Männchen weisen zusätzlich gelblich-weiße Streifen und Flecken auf dem Bauch auf. Die Haare sind vom Bauch weggescheitelt, sodass Regenwasser dort abfließen kann. Trotzdem wird ihr Fell bei jedem Regenschauer nass. Bei einer Felluntersuchung hatte man 978 Käfer aus vier verschiedenen Arten, neun Nachtfalter und Motten, sechs Zecken und zehn Milben gefunden. Auf den Urwaldboden begeben sie sich nur zum Koten – allerdings aufgrund ihrer langsamen Stoffwechselaktivität, die um 48 % geringer ist als bei anderen Säugetieren, nur etwa alle acht Tage. Während sie ihre Exkremente vergraben, gelingt es den in ihrem Fell lebenden mottenähnlichen Zünsler-Schmetterlingen, ihre Eier dort abzulegen. Die Schmetterlingslarven ernähren sich von dem Kot und die nach der Metamorphose ausschlüpfenden Falter suchen sich wieder das Fell eines Faultieres. Zwischen beiden besteht eine Symbiose, denn die Faultiere profitieren ebenfalls von

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     305

Abb. 8.72  Das Fell der Faultiere ist auffallend dicht und zottig

den Zünslern. Die Stoffwechselprodukte der Falter ernähren nämlich Grünalgen, die während der Regenzeit im Fell der Faultiere leben. Die Grünalgen dienen nicht nur der zusätzlichen Tarnung der Faultiere, sondern sie liefern auch den Faultieren wichtige Pflanzensekundärstoffe, die sie aus ihrer sonstigen Nahrung nicht erhalten. Der Kopf der Faultiere ist klein und rundlich, die kleinen Ohren sind im Fell verborgen, ihr Seh- und Hörvermögen sind schlecht. Am Rumpf sitzt ein kurzer, zehn Zentimeter langer Schwanz. Durch ihre ständige Körperhaltung mit dem Kopf nach unten sind ihre Leber und Magen im Vergleich zu anderen Säugetieren um 135 Grad verlagert, dadurch kann die Leber nicht auf den Magen drücken. Auffallend sind die vorderen Extremitäten, die anderthalbmal so lang sind wie die hinteren. An den Händen sitzen bei der hier beschriebenen Art drei scharfe, hakenförmige Krallen, die eine gefährliche Waffe darstellen. Sie sind so geformt, dass die Tiere mit deren Hilfe ohne aktiven Energieeinsatz am Ast hängen. Ich hatte einmal ein Faultier mit meinen Händen an seinen beiden Armen gehalten. In seiner Abwehr bohrte es die Krallen seiner einen Hand in meinen Unterarm. Es bedurfte einiger Bemühungen meiner Mitreisenden, mich von dieser Attacke zu befreien. Faultiere leben fast ihr gesamtes Leben auf Bäumen, auch die Paarung und die Geburt des Nachwuchses finden dort statt. Alle paar Tage wechseln sie die Bäume, wobei sie eine Geschwindigkeit von fünf Metern pro Minute erreichen

306     L. Staeck

können. Sie können auch überraschend gut schwimmen und damit auch mal einen Fluss überqueren. Faultiere gebären nach einer Tragezeit von sechs Monaten nur ein Jungtier pro Jahr, das bei der Geburt knapp 20 cm groß ist. Leider wird den Faultieren im Amazonas-Tiefland nachgestellt, da ihr Fleisch bei der Flussbevölkerung beliebt ist. Dabei werden die erwachsenen Tiere gegessen, die Jungen werden gern als „Haustiere“ gehalten, doch da sie Nahrungsspezialisten sind, ist ihre Haltung schwierig. Die nächsten Verwandten der Faultiere sind übrigens Ameisenbären.

8.5.3 Gewöhnlicher Totenkopfaffe (Saimiri sciureus) – Kapuzinerartige (Cebidae) Unter den etwa 60 Affenarten des Amazonas-Beckens ist der Gewöhnliche Totenkopfaffe die häufigste. Neuere genetische Untersuchungsmethoden haben zu einer Aufspaltung der Gattung Saimiri in immer mehr Arten und Unterarten geführt. Mittlerweile unterscheiden Zoologen schon etwa zehn verschiedene Arten. Deshalb wird die hier beschriebene Art, die in der Region nördlich und südlich des Amazonas beheimatet ist, nun als Gewöhnlicher Totenkopfaffe bezeichnet. Diese Affen bleiben mit einer Körperlänge von etwa 35 cm eher klein, hinzu kommt noch der Schwanz mit etwa 40 cm. Die Männchen sind etwas größer als die Weibchen. Ihre Körpergrundfärbung ist grünlich-bräunlich, der Bauch ist heller gefärbt, die unteren Extremitäten sind orange-gelb. Ihr Nahrungsspektrum ist breit und reicht von Insekten und Termiten über Vogeleier bis zu Blätter, Blüten, Knospen und Nektar. Sie halten sich bevorzugt in überfluteten Wäldern (Igapós) oder auf ufernahen Bäumen auf, wo sie in Gruppen bis zu 30 Tieren in ihren großen Revieren von bis zu zehn Quadratkilometern auf Nahrungssuche gehen. Diese gewaltigen Areale stellen ihr Überleben sicher in Perioden von Nahrungsmangel. Ihre Sozialstruktur ist für Affen außergewöhnlich: Die Weibchen bilden eine feste Rangordnung aus, um die sich die übrigen Gruppenmitglieder (Männchen, Jungtiere) einordnen. Während der Fortpflanzungszeit zeugen die dominanten Männchen die meisten Jungtiere in der Gruppe. Alle weiblichen Tiere kümmern sich um die Neuankömmlinge. Die maskenartige Gesichtszeichnung mit schwarzer Schnauze und dunklen Augen verhalf ihnen zu ihrem deutschen Namen (Abb. 8.73), auf Englisch heißen sie passender Eichhörnchen-Affe (Squirrel Monkey). Die Bewohner des Amazonas-Tieflandes hingegen nennen diese Affen „Macaco de cheiro“, auf Deutsch „Riech-Affen“. Sie lassen nämlich regelmäßig Urin über ihre Hände laufen und reiben sich danach mit dem Urin auch Füße und Fell ein. Mit

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     307

Abb. 8.73  Die maskenartige Gesichtszeichnung mit schwarzer Schnauze und dunklen Augen war namensgebend für die Totenkopfäffchen

diesem intensiven Geruch legen sie auf ihrem Weg durch die Baumkronen im Blattwerk eine „Duftstraße“. Sie markieren damit ihr Territorium und finden bei einer notwendigen schnellen Flucht schneller ihren Weg. Der Gattungsname Saimiri wiederum ist in der Tupi-Sprache ein Eigenname. Tipp Im Amazonas-Tiefland gibt es einige Orte, wo man Totenkopfaffen aus der Nähe beobachten und fotografieren zu kann: • Isla de los Micos (Kolumbien), eine Flussinsel im Mittellauf des Amazonas, etwa 1,5 Stunden (35 km) von Leticia aus mit dem Schnellboot flussaufwärts zu erreichen. Dort wird eine große Gruppe von etwa 100 Totenkopfaffen im Regenwald gehalten. Wenn die Besucher Bananen aus den bereitgehaltenen Behältern nehmen, kommen die Affen ohne Scheu von den Bäumen, um die Früchte aus der Hand zu nehmen.

308     L. Staeck • Isla de los Monos (Peru), ebenfalls eine Flussinsel im Oberlauf des Amazonas, etwa eine Stunde mit dem Schnellboot von Iquitos aus flussaufwärts zu erreichen. Dort befindet sich ein privates Rehabilitationszentrum, wo Affen aus unterschiedlichen Arten gepflegt werden, zum Beispiel Brüll-, Woll-, Spinnenaffen, Sakis, Uakaris und Tamarinen. Man kann diese Tiere dort aus nächster Nähe beobachten. • Wenn man vom rechten Ufer des Rio Negro aus, etwa 50 km von Manaus entfernt, den Weißwasserfluss Rio Ariau hinauf fährt, kann man am frühen Morgen am rechten Flussufer mit etwas Glück auf Gruppen von Totenkopfaffen treffen. Sie sind das Füttern durch Touristen gewöhnt und wenn sie Bananen sehen, kommen sie ohne Angst auch auf die Kanus, um die Früchte vorsichtig aus unseren Händen zu greifen.

8.5.4 Weißstirn-Kapuzineraffe (Cebus albifrons) – Kapuzinerartige (Cebidae) Von den etwa 15 verschiedenen Arten der Gattung Cebus, die von Mittelamerika bis Argentinien vorkommen, ist die hier beschriebene im AmazonasTiefland heimisch. Die bevorzugten Habitate sind Galeriewälder entlang den Ufern von Flüssen und Várzea-Wäldern, niedrige Baumansammlungen am Rand der Überschwemmungswiesen sowie Sekundärwälder. Diese Affen sind etwa 40 cm groß, hinzu kommt noch der Schwanz mit ebenfalls etwa 40 cm. Die Männchen sind etwas größer als die Weibchen. Auffallend sind ihre langen und dünnen Extremitäten. Ihre starken Kiefern verleihen ihnen ein grimmiges, bulldogenähnliches Aussehen. Mit einer Beißkraft von 140 kg können sie auch harte Palmnüsse knacken. Ihre Körpergrundfärbung ist hellbraun. Ihr fleischfarbenes Gesicht wird von einem breiten Band cremefarben gefärbter Haare umgeben. Die Brust ist ebenfalls cremefarben (Abb. 8.74). Weißstirn-Kapuzineraffen streifen in Gruppen von zehn bis 15 Individuen umher, um Nahrung zu suchen. Dabei begeben sie sich auch häufiger auf den Boden, wo sie für uns an Flussufern leicht zu beobachten sind. Ihr Nahrungsspektrum umfasst Insekten, Spinnen, Frösche, Eidechsen, aber auch Blätter, Früchte, Samen und sogar Honig und Nektar. Ihre L ­ ieblingsblüte sind die auffälligen rot-gelben Blütenähren des Langfadens (Combretum aubletii; Abschn. 6.2.5). Einmal habe ich beobachtet, wie ein großes Kapuzineraffen-Männchen auf einem Kanonenkugelbaum (Abschn. 7.1.2) eine abgepflückte Frucht, deutlich größer als sein eigener Kopf, auf einen breiten Ast trug. Dort schlug er sie mehrmals mit beiden Händen auf den Ast, um ihre Schale aufzubrechen. Nachdem ihm das nach einer Weile gelang, fraß er das Fruchtfleisch.

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     309

Abb. 8.74  Die starken Kiefer des Weißstirn-Kapuzineraffen verleiht ihm ein grimmiges Aussehen

Tatsächlich versteht diese Affenart sogar Ursache und Wirkung: So reiben sie ihren Körper intensiv mit ätherischen Ölen eines Johannisbrotgewächses ein, da sie erkannt haben, dass sie danach weniger von Moskitos gestochen werden. Beide Geschlechter entwickeln in ihrer Gruppe eine Rangordnung, die bei der gegenseitigen Fellpflege und Fortpflanzung zur Geltung kommt. Die dominanten Männchen zeugen die meisten Jungtiere. In der Regel bekommt ein Weibchen nur ein Baby pro Jahr. Die Männchen beteiligen sich bei der Aufzucht der Kleinen. Der Name Kapuziner bezieht sich auf die hellbraune Kleidung und die Kopfbedeckung (die Kapuze) der Kapuziner-Mönche.

8.5.5 Roter Brüllaffe (Alouatta seniculus) – Klammerschwanzaffen (Atelidae) Es gibt zwölf verschiedene Brüllaffenarten, von denen der Rote Brüllaffe im Amazonas-Becken lebt. Vom Wasser aus sieht man sie ab und zu in ihren Futterbäumen am flussnahen Ufer. Dort verbringen sie ihre Ruhezeiten. Die

310     L. Staeck

Pausen benötigen sie, um ihre harte Kost zu verdauen, die hauptsächlich aus Blättern besteht. Sie haben einen stämmigen, bis 70 cm großen Körper und einen ebenso langen Schwanz, wobei die Männchen deutlich größer sind als die Weibchen. Die Körpergrundfärbung ihres langen Felles ist rotbraun und ihr haarloses Gesicht schwarz. Typisch ist auch ihr langer Bart (Abb. 8.75). Der lange Schwanz dient als leistungsfähige Greifhand („fünfte Hand“), sein hinterer Teil ist an der Unterseite unbehaart.

Abb. 8.75  Das durchdringende, löwenähnliche Rufen der Brüllaffen dient der Reviermarkierung

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     311

Namengebend sind ihre Rufe. Häufig hört man vor allem am frühen Morgen ihr durchdringendes Rufen, was eher einem lauten Gebrüll nahekommt, ähnlich dem des Löwen. Britische Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Stimme eines Brüllaffens umso tiefer ist, je kleiner seine Hoden sind. Für ausreichende Nahrungsbäume benötigt eine Gruppe von fünf bis zehn Individuen ein großes Territorium. Dieses verteidigen sie mit lautem Gebrüll beider Geschlechter. Meist beginnen die Männchen und eine benachbarte, weiter entfernte Gruppe antwortet. So werden aufwendige Revierkämpfe vermieden, was bei einer energiearmen Nahrung auch dringend erforderlich ist. Um diese enorme Lautstärke zu ermöglichen, haben sich in ihrer Evolution das Zungenbein und der Schildknorpel des Kehlkopfes stark vergrößert. In der Gruppe herrscht unter den Männchen eine strikte Rangordnung, die dominanten Männchen paaren sich mit den Weibchen, die pro Jahr nur ein Jungtier zur Welt bringen, um das sich alle Gruppenmitglieder kümmern.

8.6 Schmetterlinge Für jeden Reisenden ist es ein besonderes Erlebnis, einen im hellen Sonnenlicht fliegenden Blauen Morphofalter (Morpho peleides; Familie: Edelfalter (Nymphalidae) zu sehen. Die Gelegenheit dafür ist in der Mittagszeit groß, denn dann fliegen sie gern entlang kleinerer, offener Wasserflächen wie Igarapés oder kleiner Flüsse. Allerdings fliegen sie in der Tageshitze sehr schnell in ihrem typischen gaukelnden Flugbild. Besonders kontrastreich ist der Anblick, wenn sie über Schwarzwasserflüsse und -seen fliegen. Das Männchen erreicht eine Flügelspannweite von 15 cm und seine Flügeloberseite ist leuchtend blau, die Außenkanten sind schwarz (Abb. 8.76). Das Weibchen bleibt etwas kleiner, und ihr Blau ist nicht so kräftig. Interessanterweise entsteht der blaue Farbeindruck nicht durch Farbpigmente. Vielmehr ist es ein optischer Trick, der das leuchtende Blau bewirkt: Durch Interferenz, der Überlagerung mehrerer Lichtwellen, wird die Rillenstruktur der Chitinschuppen so gebrochen, dass nur das blaue Licht sichtbar wird. Außerdem gibt es noch einen Lotos-Effekt an den Flügeln: Entlang der Flügelkanten verlaufen feine Rillen mit einem Sägezahnprofil, die Regentropfen an der Spitze des Profils abtropfen lassen. Wenn diese Schmetterlinge sich im Schatten auf ein Blatt setzen, sind sie kaum noch zu identifizieren, denn sie sind mit ihren nun hochgeklappten Unterflügeln perfekt getarnt: Die dunkelbraune Färbung mit gewellten weißen Streifen fügt sich nahtlos ein in das Hell-Dunkel des Blattwerkes. Zusätzlich

312     L. Staeck

Abb. 8.76  Die Flügeloberseiten des Blauen Morphofalters sind leuchtend blau. Dieser Farbeindruck entsteht durch Interferenz, wodurch die Struktur der Flügelschuppen so gebrochen wird, dass nur die blauen Lichtanteile sichtbar werden. Wenn der Blaue Morphofalter sitzt, ist nur die dunkle Färbung seiner Unterflügel mit den sieben Augenattrappen sichtbar

befinden sich auf Unterflügeln sieben gelb umrandete Augenflecken, eine Warntracht (Mimikry), die Eulenaugen imitiert (Abb. 8.76). Diese Himmelsfalter, wie sie auch heißen, ernähren sich vom Saft überreifer Früchte, ihre Larven (Raupen) fressen Blätter verschiedener Gattungen aus der Familie der Schmetterlingsblütler (Fabaceae), zum Beispiel Campsiandra, Clitoria, Inga und Cassia (Abschn. 6.1). Die Eier werden auf die Oberseite der Blätter geheftet, die ausschlüpfenden Raupen durchlaufen einige Häutungen, bis sie fast acht Zentimeter lang sind. Sie sind gelb und rot gepunktet mit einer behaarten Kopfkapsel. Nach vier Monaten erfolgt die Verpuppung und anschließend schlüpft der Falter. Von vielen Schmetterlingen im Amazonas-Tiefland bekommt man nur ihre Raupen zu Gesicht. Diese sind allerdings oft spektakulär gefärbt und/ oder von außergewöhnlicher Gestalt. So fallen sie dem Besucher bei seinen Fahrten entlang der Ufer oder bei seinen Wanderungen durch den Regenwald häufig auf. Doch Vorsicht: Das Anfassen oder Aufnehmen, etwa für

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     313

eine bessere Fotoposition, kann sehr gefährlich sein: Fast alle diese Raupen sind mit feinen Haaren oder auch kurzen Dornen versehen, die bei Berührung abbrechen und durch ihre Widerhaken in der Haut verbleiben, wo sie ihr Gift abgeben. Mir ist dies einmal passiert mit der Raupe der Bullenaugenmotte (Automeris liberia). Nach dem Eindringen einer Brennhaarspitze in das erste Daumenglied war dieses für zwei Tage gelähmt. Diese nachtaktiven Falter, die zu den Pfauenaugenspinnern (Saturniidae) gehören, haben zwei große Augenflecken auf den orangefarbenen Hinterflügeln und weisen eine Flügelspannweite von zehn Zentimetern auf. Die Grundfärbung des letzten Raupenstadiums ist sattgrün mit einer auffälligen cremefarben-dunkelroten Längslinie unterhalb der Tracheenöffnungen. Eine gewaltige Zahl von toxischen Brennhaaren, die tannenbaumartig auf einem gemeinsamen Schaft sitzen, schützt die Raupe von Fressfeinden (Abb. 8.77). Tipp Die Abbildungen der Imagos (geschlechtsreifer Schmetterlinge) der hier beschriebenen Raupen findet man zum Beispiel im Internet bei Google Images.

Abb. 8.77  Die Raupe der Bullenaugenmotte schützt sich mit unzähligen giftigen Brennhaaren

314     L. Staeck

Eine weitere spektakuläre Raupe des Amazonas-Tieflandes ist ein haariges Gebilde: Auf dem etwa acht Zentimeter langen, hellbraunen Körper sitzen elf turmartige, weiße Noppen, auf denen oben und unten aus einer roten Basis jeweils ein Büschel feiner, dunkelbrauner, mehrere Zentimeter langer, giftiger Haare sprießen (Abb. 8.78). Diese brechen bei Berührung leicht ab und verursachen in der Haut langwährende Entzündungen, allergische Reaktionen und sogar Lähmungen. Der aus dieser Raupe hervorgehende Schmetterling ist die Flanell-Motte (Megalogyne lanata; Familie der Megalopygidae). Diese ist ein weiß-grauer, wolliger, nachtaktiver Falter mit einer Flügelspannweite von fünf Zentimetern. Diese Raupen haben unterschiedliche Futterpflanzen, etwa die Blätter des Cashew-Baumes. Auch die Raupe der Woll-Motte (Podalia orsilochus) aus derselben Familie (Megalopygidae) hat eine aufsehenerregende Gestalt. Der gesamte, etwa sechs Zentimeter lange Körper ist völlig bedeckt mit einem steifen, dunkel-beigen bis goldbraunen gewellten Pelz (Abb. 8.79), der den Kopf mit seiner Mundöffnung ebenso bedeckt wie die sieben Fußpaare, deren Anzahl für Raupen höchst ungewöhnlich ist. Diese haarähnlichen Strukturen sind Borstenhaare (Setae) mit einer gespaltenen Spitze. Bei Berührung geben sie ein Nervengift ab, das lang andauernde, intensive, stumpfe Schmerzen

Abb. 8.78  Die Raupe der Flanell-Motte ist umgeben von einem Knäuel langer, giftiger Haare

8  Tierbeobachtungen am und im Wasser     315

Abb. 8.79  Die Borstenhaare der Raupe der Woll-Motte geben bei Berührung ein Nervengift ab. Der Kopf ist auf der linken Seite des Fotos

Abb. 8.80  Die Raupen des Frangipani-Sphynx-Falters tragen eine spektakuläre Warntracht

316     L. Staeck

verursacht. Betroffene beschreiben sie, als ob ein Knochen gebrochen sei. Der dazugehörige Falter hat haarige Beine und ist mit einem weißlich-grau gefleckten Pelz bedeckt bei einer Flügelspanweite von sechs Zentimetern. Seine Verbreitung reicht vom Amazonas-Tiefland bis nach Mittelamerika und Florida. In Anspielung an die Frisur des Präsidenten der USA Donald Trump wird die Raupe jüngst auch als Trump Caterpillar bezeichnet. Der Familienname Megalopygidae setzt sich zusammen aus megalo (= groß) und pygidium (= Hinterteil) und bezieht sich auf die eigenartige Gestalt der Raupe. Die Raupen des Frangipani-Sphynx-Falters (Pseudosphynx tetrio; Familie der Schwärmer/Sphyngidae) tragen eine spektakuläre Warntracht: Der Kopf ist kräftig rot-orange, der Körper trägt auf schwarzem Grund eine Reihe kräftig hellgelber Streifen (Abb. 8.80). Das für Schwärmer typische Analhorn ist fadenförmig und wird bei Gefahr kräftig hin und her gependelt. Die bis zu 100 Eier werden an einer Futterpflanze abgelegt, an der die ausgeschlüpften kleinen Raupen sofort anfangen, die Blätter zu fressen. Sie sind extreme Nahrungsspezialisten und fressen die Blätter nur weniger Pflanzenarten aus der Familie der Hundsgiftgewächse (Apocynaceae), vor allem des Frangipani-Baumes (Plumeria rubra), aber auch der Goldtrompete (Allamanda cathartica; Abschn. 6.2.3). Um nicht selbst an dem giftigen Milchsaft der Blätter zu sterben, nagen die Raupen zuerst ein Loch in den Stängel, sodass der Großteil des giftigen Latex abfließt. Erst dann fressen sie das Blatt. Bereits nach 30 Tagen ist das sechste und letzte Raupenstadium beendet. Die Raupe hat jetzt eine Körperlänge von acht Zentimetern. Nach einer Ruhezeit von wenigen Tagen, in der die Verpuppung stattfindet, schlüpfen die geschlechtsreifen Schwärmer aus. Der große, nachtaktive Schmetterling mit einer Flügelspannweite von 17 cm hat einen braun gemusterten Körper, der schuppig bereift ist. Der Hinterleib wirkt aufgeschwollen. Die auffällige Signalfärbung und das aufgenommene Gift schützen die Raupen vor Fressfeinden. Doch das mit der Nahrung aufgenommene Gift muss vom Körper unter einem großen Energieaufwand neutralisiert werden. Deshalb sind diese Raupen nur auf ein Gift spezialisiert. Bei einem größeren Spektrum an Futterpflanzen wäre der Energieaufwand um ein Vielfaches größer, denn dann müssten unterschiedliche Gifte neutralisiert werden.

9 Tierbeobachtungen im Regenwald

Generell gibt es in allen diesen Amazonas-Wäldern wegen der Nahrungsknappheit nur wenige Individuen einer Tierart. Auf 1000 t pflanzlicher Biomasse kommen nur 150 t Tiere, davon sind 50 % Ameisen und Termiten. Auch das Verhältnis des Lebendgewichtes zwischen Tieren und Pflanzen ist mit 1:6000 äußerst gering. Das zeugt von der Tierarmut im Regenwald, beträgt doch die Pflanzenmasse das 6000-Fache im Vergleich zu den Tieren. Als Folge dieses knappen Nahrungsangebotes beträgt der Grundumsatz bei nahezu allen amazonischen Säugetieren – sogar Affen – nur 70 bis 80 % von dem, was bei ihrer Körpergröße eigentlich erforderlich wäre. Eine Verringerung des energetisch sehr aufwendigen Grundumsatzes zur Aufrechterhaltung der lebenswichtigen Körperfunktionen wie Körpertemperatur, Atmung, Herzschlag und Kreislauf um so viele Prozentpunkte entspricht Energieeinsparungen, wie sie wir sie beispielsweise bei modernen Heizungsanlagen vorfinden.

9.1 Pfeilgiftfrösche Der Regenwald schafft mit seiner hohen Luftfeuchtigkeit und stets gleichbleibenden Temperaturen ideale Lebensbedingungen für Frösche, die einen ungeschützten, nur mit Schleimhaut bedeckten Körper haben. In diesem Dämmerlicht des Urwaldbodens gibt es eine Vielzahl von Fröschen und

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_9

317

318     L. Staeck

Kröten, die überwiegend dunkle Körperfarben aufweisen und sich deshalb den Blicken des Wanderers entziehen. Eine Gruppe von Fröschen ist jedoch besonders farbenprächtig: die Baumsteigerfrösche. Von diesen gibt es rund 170 Arten, doch nur wenige von ihnen leben im AmazonasBecken, die Mehrzahl von ihnen sind endemisch in den Anden, in den Regionen der Amazonaszuflüsse Rio Maranon und Ucayali sowie in Mittelamerika. Die meisten Arten sind sehr klein und erreichen kaum die Größe einer Ein-Euro-Münze. Im westlichen Amazonas-Becken kann man mit etwas Glück in der Region um Nauta (westlich von Iquitos) auf dem Urwaldboden diesen kleinen Baumsteigerfrosch entdecken. Während das Weibchen knapp 20 mm groß wird, bleiben die Männchen mit zwölf Millimetern deutlich kleiner. Auffallend sind seine blau-grünen Farbmuster auf dem Bauch und den Extremitäten sowie die abwechselnd schwarzen und gelben oder gelb-orangen Streifen auf dem übrigen Körper (Abb. 9.1). Sie leben meist in der Laubschicht und steigen nur zur Fortpflanzungszeit in die Baumkronen hinauf. Ihre Saugscheiben an den Zehen erleichtern ihnen das Klettern. Meist leben sie in kleinen Gruppen von bis zu sechs Individuen, doch am Ende der Regenzeit vereinigen sich viele dieser Kleingruppen zu großen Fortpflanzungsgemeinschaften am Waldboden. Die Männchen buhlen keckernd um die Weibchen. Nach der Ablage der maximal acht bis zehn

Abb. 9.1  Der Bauchflecken-Baumsteiger signalisiert mit seinem auffallenden Farbmuster seine Giftigkeit

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     319

Abb. 9.2  Auch der nur zwölf Millimeter große Rotrücken-Baumsteiger ist leuchtend bunt gefärbt

Eier auf einem welken Laubblatt bewachen beide Elternteile das Gelege, das regelmäßig befeuchtet wird. Die ausgeschlüpften Kaulquappen heften sich mit dem zähem Schleim ihrer Haut auf den Rücken des Weibchens, welches sie der Reihe nach „huckepack“ einen Baum hinauf trägt. Wenn es dort eine Wasseransammlung in einer Bromelie gefunden hat, werden die Kaulquappen dort abgelegt und weiter versorgt. Sie werden sogar mit unbefruchteten Eiern gefüttert, bis in acht Wochen die Metamorphose zum kleinen Frosch abgeschlossen ist. Diese Baumsteigerfrösche haben noch einen weiteren interessanten Namen: Pfeilgiftfrosch. Ihre Haut ist nämlich giftig. Sie stellen allerdings das Gift nicht selbst her, sondern sie nehmen es mit ihrer Nahrung – nämlich Ameisen, Milben und Käfer – auf und speichern es in speziellen Hautzellen unter ihrer Epidermis. Dieses Gift macht sie ungenießbar, worauf ihre Signalfarben eindringlich hinweisen. Auch Menschen können über offene Wunden, unter Umständen sogar über Hautporen, gefährliche Vergiftungen davontragen, die tödlich enden können. Die Bewohner dieser Gebiete machen sich diese Eigenschaften der Frösche zunutze: Die Frösche werden über einer Feuerstelle auf einem Rost erhitzt. Bevor die Frösche sterben, sondert ihre Haut einen weißlichen Schaum ab, der das Gift in hochkonzentrierter Form enthält. Nun werden Pfeilspitzen

320     L. Staeck

mit diesem schaumigen Schleim getränkt und anschließend für die Jagd auf Affen, Faultiere, Vögel und so weiter verwendet. Bei uns gibt es Froschliebhaber, die diese Frösche in Terrarien halten und züchten. Wildfänge bringen das Gift mit ihrer Nahrung mit, doch nach etwa einem Jahr Gefangenschaft sind diese Frösche giftfrei, da sie hierzulande mit Fruchtfliegen gefüttert werden. In derselben Region des hier beschriebenen Farbfrosches kommt noch ein weiter leuchtend bunter Baumsteiger vor: der Rotrücken-Baumsteiger (Ranitomeya reticulatus). Dieser ist ähnlich klein wie der Bauchflecken-Baumsteiger (Abb. 9.2).

9.2 Echsen Der Streifenbasilisk (Basiliscus vittatus) gehört zu den Leguanartigen. Sein Gattungsname Basiliscus entstammt dem Griechischen und bedeutet übersetzt „kleiner König“. In der Mythologie ist der Basilisk ein hahnenähnliches Mischwesen, das auf dem Kopf eine Krone trägt und dessen Unterleib eine Schlange darstellt. Der Artname vittatus hingegen lässt sich mit „gestreift“ übersetzen. Beides ist eine treffende Beschreibung des Tieres: Die schlanke Echse hat eine Körperlänge von knapp 20 cm und einen Schwanz, der deutlich länger ist als der Körper. Sie ist langbeinig, die Finger sind auffallend lang und dünn. Nur die Männchen besitzen eine helmartige Ausstülpung auf dem Kopf. Der Körper ist von dunkelbrauner Färbung mit je einem schmalen, cremefarbenen Streifen auf beiden Seiten, der von den Augen ausgeht und bis zum Rumpfende reicht, und zwei ebensolchen breiteren Streifen etwas tiefer, die hinter dem Maul beginnen und auch bis zum Rumpfende reichen (Abb. 9.3a). Zur Trockenzeit bewohnt sie den Boden und niedrigen Bewuchs der Überschwemmungswälder, während der Regenzeit lebt sie auf Bäumen. Sie frisst Insekten, Frösche, Blüten und Früchte. Ihre Eier legt die Echse in eine Bodenmulde, wo sie sich selbst überlassen bleiben. Der zweite deutsche (und auch englische) Name der Echse lautet JesusChristus-Echse. Sie sind nämlich in der Lage, bei Gefahr etwa vier Meter über das Wasser zu laufen, wobei sie sich auf ihre Hinterbeine aufrichten. Sie haben Hautfalten zwischen den Zehen, die die Oberfläche des Fußes vergrößert. Außerdem bilden sich Lufttaschen unter dem Fuß, der für einen Auftrieb sorgt. Nach den ersten Metern sinken sie zurück ins Wasser und müssen weiterschwimmen. Dennoch: Bei einer solchen Flucht können sie kurzfristig eine Geschwindigkeit von 1,5 m/s erreichen. Ich selbst habe dieses Fluchtverhalten einige Male beobachten können, als diese Echsen über ein flaches Sumpfgebiet im Wald hinwegrannten.

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     321

Abb. 9.3  a Der Streifenbasilisk kann bei Gefahr bis zu vier Meter weit über das Wasser rennen, b Die Amazonas-Anolis kann ihre Körpergrundfärbung wie ein Chamäleon verändern

Die Amazonas-Anolis (Anolis punctatus) gehört zu den Saumfingerechsen. Sie ist bis zu 15 cm große, schlanke Echse mit einem anderthalbmal so großen Schwanz ist je nach Untergrund und Stimmung von grüner oder brauner Grundfärbung mit kleinen, kaum erkennbaren weißen Punkten. Deshalb heißt sie auch Gefleckte Anolis (Abb. 9.3b). Beide Geschlechter verfügen über einen orangenen Kehllappen, den sie abspreizen können. Sie können ihre Farbe je nach Stimmung oder Umgebungsfarbe wie ein Chamäleon verändern. Hinter dem Auge sitzt das ovale, nackte Trommelfell. Kennzeichnend ist ihr spitz zulaufender länglicher Schädel mit hoch sitzenden Augen. Sie bewohnen schattige Holzstümpfe und das Unterholz in der Terra-Firme, wo sie nach Insekten jagen. Sie verhalten sich territorial, das heißt, sie verteidigen ihr Revier gegenüber Eindringlingen. Unter den Füßen befinden sich Haftsohlen, die ein Anhaften auf senkrechten Oberflächen ermöglichen.

322     L. Staeck

9.3 Papageien Papageien bemerken die Besucher des Amazonas-Tieflandes vor allem dann, wenn diese – meist in Gruppen – laut kreischend über sie hinwegfliegen. So halten die Vögel auch beim Fliegen lautstark Kontakt miteinander. Sie verbringen den Tag bevorzugt an Lichtungen und Flussufern der Überschwemmungswälder (Igapós) und in der Terra-Firme. Jeden Morgen starten sie von ihren Schlafbäumen zu ihren Futterbäumen, die sich in einem Umkreis von etwa zehn Kilometern befinden. Am auffälligsten sind die größten unter ihnen, die überaus bunten Aras. Im Amazonas-Tiefland ist der Hellrote Ara (Ara macao) verbreitet. Er wird bis 90 cm groß. Seine Grundfärbung ist hellrot, seine Flügeldecke blaugelb-rot gefärbt. Bemerkenswert ist darüber hinaus sein mächtiger, stark gebogener, cremefarbener Oberschnabel mit einem spitzen Haken am Ende (Abb. 9.4a). Dieser Schnabel dient ihm als Kletterhilfe, quasi als „dritter Fuß“. So kann sich dieser große Vogel auch im dichten Geäst von Ast zu Ast hangeln, um an Früchte, Samen und Knospen zu gelangen. Zu seiner Lieblingsnahrung gehören die Früchte der Tucumã-Palme (Astrocaryum), (vgl. Abschn. 7.2.2). Ab und zu frisst er auch Lehm, womit er giftige Pflanzenteile neutralisiert. Mit seiner muskulösen Zunge prüft er zuerst jedes Nahrungsangebot, bevor er es frisst. Aras sind sehr gesellige Vögel, so sind sie meist in Gruppen von fünf bis zehn unterwegs. In einer solchen Gruppe leben sie paarweise in einer lebenslangen Einehe. Als Höhlenbrüter suchen sie sich gern abgebrochene Palmstämme, in die sie mit ihren kräftigen Schnäbeln eine Bruthöhle hacken. Von den zwei bis vier Eiern wird in der Regel nur ein Jungvogel übrig bleiben. Das Weibchen brütet, das Männchen besorgt das Futter. Der Jungvogel bleibt vier Monate im Nest. Der zweite Großpapagei in Amazonien ist der Gelbbrust-Ara (Ara ararauna), der in Gestalt und Lebensweise dem Hellroten Ara ähnelt. Seine Oberseite ist blau, Brust und Bauch sind goldgelb gefärbt, sein Schnabel ist schwarz (Abb. 9.4b). Die zweite Gruppe der eigentlichen Papageien (Psittacidae) umfasst die Amazonenpapageien, von denen es im Amazonas-Tiefland und den angrenzenden Regionen etwa 30 Arten gibt. Die mittelgroßen Vögel von etwa 30 cm Körperlänge sind meist grün gefärbt, doch ihre Erkennungszeichen sind einzelne gelbe, rote oder blaue Farbtupfer – „Abzeichen“ – vor allem auf der Stirn, am Schwanz oder unter den Flügeln, so zum Beispiel bei der Blaustirnamazone (Amazona aestiva). Die Färbung an Kopf und Brust ist sehr variabel, so können etwa auch rötliche Federn dabei sein (Abb. 9.5). Auffallend sind der breit abgerundete Schwanz und die breiten ebenfalls abgerundeten Flügel. Ihre äußeren Schwanzfedern sind an der Basis rot.

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     323

Abb. 9.4  a Der Hellrote Ara ist mit 90 cm der größte Papagei Amazoniens, b Auch der Gelbbrust-Ara lebt im Amazonas-Tiefland

324     L. Staeck

Abb. 9.5  Die Blaustirnamazone gehört zu den Amazonenpapageien. Der Tuiparasittich (kleineres Bild) gehört zu den Sperlingspapageien, die als „Spatzen der Tropen“ gelten

Durch die entgegengesetzte Stellung der Zehen kann ihr Fuß als Greifzange eingesetzt werden und dient häufig zum Halten ihrer Nahrung, zum Beispiel Nüsse. Auch die Amazonenpapageien sind sehr gesellig und leben in größeren Gruppen, wobei ausgewachsene Vögel eine langfristige Paarbindung eingehen. Sie leben in Regenwäldern und im offenen Kulturland, wo sie Samen, Früchte, Knospen und Blüten fressen. Als Besucher sehen wir sie meist nur laut rufend über unsere Köpfe hinweg fliegen oder einen Fluss überqueren. Mit Glück können wir sie auch in den Wipfeln ihrer Futterbäume beobachten. Zum Sonnenuntergang fliegen die Vögel zu ihren Schlafbäumen, die sich meist in Ufernähe befinden. Einmal näherte sich unser Schiff einem solchen Schlafbaum. Schon aus mehreren hundert Meter Entfernung hörten wir ihr lärmendes Rufen und als wir schließlich den Baum beim letzten Tageslicht erreichten, schwoll der Lärm zu einem ohrenbetäubenden Lautpegel an. Es müssen viele Hundert Amazonenpapageien gewesen sein, die sich wie in einem riesigen Chat-Room am Tagesende über ihre Nahrungsbäume ­austauschten.

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     325

Die dritte Gruppe der eigentlichen Papageien umfasst die kleinsten, meist nur zehn bis 15 cm großen Sperlingspapageien, die „Spatzen der Tropen“. Auch von dieser Gruppe gibt es etwa 15 Arten. Ihr Gefieder ist grün; unterschiedliche farbige Flecken kennzeichnen die verschiedenen Arten. Der Tuiparasittich (Brotogeris sanctithomae) etwa ist ein kurzschwänziger Vogel von etwa 15 cm Größe. Sein Gefieder ist am Kopf, Rücken und auf den Schwingen sattgrün und am Bauch hellgrün. Die Stirn über dem kräftigen, rotbraunen Schnabel ist sonnengelb. Seine Iris ist weiß, der Augenring bläulich-weiß (Abb. 9.5). Diese Sittiche sieht man häufig in allen Waldtypen in großen Schwärmen lärmend über die Flüsse fliegen oder in ihren Futterbäumen nach Samen, Früchten, Blüten und Knospen suchen. Auch diese Sittiche sind lebenslang verpaart. Im Zentrum von Leticia habe ich kurz vor Sonnenuntergang schon häufig ein besonderes Spektakel erlebt: Aus allen Himmelsrichtungen fliegen Tausende kleiner Sperlingspapageien ein, um sich auf ihrem Schlafbaum, eine große Feige, niederzulassen. Noch bis in die Dunkelheit hinein ertönt der Lärm der zwitschernden und kreischenden Mini-Papageien bis weit in die Nebenstraßen. Alle drei Papageiengruppen habe ich häufig als Haustiere in den Dörfern der Caboclos und Indianer angetroffen. Sie lassen sich als Jungvögel leicht zähmen und sind auch recht sprachbegabt. So pfeifen sie Melodien nach oder sagen sogar ganze Sätze auf.

9.4 Tukane Zu den besonderen Erlebnissen eines Amazonas-Aufenthaltes gehört es, vom Boot aus einen Tukan zu beobachten. Einmal war ein Männchen so intensiv mit seinem lauten Balzrufen beschäftigt, dass wir uns ihm bis auf einige Meter nähern konnten. Der größte Tukan des Amazonas-Tieflandes ist der Riesentukan oder Toco, der 60 cm groß wird, dabei kurzflügelig und langschwänzig ist. Sein Gefieder ist glänzend schwarz, sein Hals weiß. Die rund um das Auge unbefiederte Haut ist gelb. Auffallend ist sein riesiger, rot-orange gefärbter, am Rand gesägter, 20 cm langer Schnabel (Abb. 9.6). Dieser ist gut durchblutet und regelt den Wärmehaushalt des Vogels. Außerdem ist er hervorragend geeignet, um Früchte abzupflücken oder sogar auszuquetschen und danach den Saft zu trinken. Die Schnabelspitzen kann der Vogel wie eine Pinzette handhaben. Seine Verwandtschaft mit den Spechten wird erkennbar an seinen Zehen, von denen zwei nach vorn und zwei nach hinten gerichtet sind. Er ist ein reiner Baumbewohner, wobei er halb offenes Gelände bevorzugt.

326     L. Staeck

Abb. 9.6  Der Riesentukan Toco hat einen 20 cm langen, rot-orange gefärbten Schnabel

Sein Nahrungsspektrum besteht aus Früchten, Insekten, Eidechsen, Vogeleiern und Jungvögeln. Vom Wasser aus sieht man ihn vor allem beim Überqueren von Flüssen. Dabei ist er entweder einzeln unterwegs oder in kleinen Trupps. Sein Rufen ist unverwechselbar und besteht aus einer lauten Abfolge schnell aufeinander folgender Töne. Zur Fortpflanzung hackt er in tote Baumstämme, besonders in Palmen, eine Höhle. Das Gelege besteht aus zwei bis vier Eiern, beide Altvögel versorgen die Brut. Unter den 45 Tukanarten leben mehr als fünf im Amazonas-Tiefland.

9.5 Spechte Spechte kann man vom Boot aus recht häufig an den Uferbäumen beobachten, wobei die großen Langhaubenspechte, die mit elf Arten in Südamerika heimisch sind, besonders auffallen. Der hier beschriebene Zimtbindenspecht (Campephilus pollens) gehört zu dieser Gruppe. Er zählt mit seinen 38 cm Körperlänge zu den großen Spechten. Der Artname pollens bedeutet übersetzt „mächtig“ und bezieht sich auf eben diese Körpergröße. Nur das Männchen weist die leuchtend rote Stirn und Kopfhaube auf, dem Weibchen fehlt das Rot völlig. Ein weißes, v-artiges Streifenmuster

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     327

Abb. 9.7  Der Zimtbindenspecht zählt mit seinen 38 cm zu den großen Spechten

zieht sich vom Schnabelansatz bis zum Rücken (Abb. 9.7). Brust und Bauch sind schwärzlich-zimtfarben gebändert. Die Zehen sind paarig angeordnet, wobei zwei nach vorn und zwei nach hinten gerichtet sind. Der lange Schnabel ist meißelförmig. Sein großer Bürzel, die hintere, obere Rückenpartie beziehungsweise deren Befiederung, dient als Stütze, wenn er sich am Baumstamm bewegt. Der Zimtbindenspecht lebt in allen Waldtypen, wobei er flussnahe und halb offene Standorte bevorzugt. Zur Fortpflanzung hackt er seine Bruthöhlen in meist tote Baumstämme. Das Gelege besteht aus zwei bis vier Eiern, beide Altvögel versorgen die Brut. Den Strohspecht (Celeus flavus) kann man oft beim Plündern von Termitenestern beobachten. Termiten sind neben baumbewohnenden Ameisen seine Lieblingsspeise. Ab und zu frisst er auch Samen und Früchte. Sein Gefieder und sein Schnabel sind hellgelb. Die Flügel sind dunkelbraun, und die Schwanzfedern schwarz. Seine Kopffedern kann er zu einer Krone aufrichten. Nur das Männchen trägt den großen hellroten Bartfleck (Abb. 9.8).

328     L. Staeck

Abb. 9.8  Beim Strohspecht trägt nur das Männchen den roten Bartfleck

9.6 Tangaren Diese Familie der Sperlingsvögel umfasst über 100 Arten ausschließlich in Südamerika. Im Amazonas-Becken gibt es zahlreiche dieser meist sehr auffällig gefärbten Vögel. Sie leben an feuchten Waldrändern, sind jedoch im Laub der Bäume nur schwer zu beobachten. Sie fressen Insekten, zum Beispiel Wanderameisen, fliegende Termiten, und Webspinnen. Der Familienname Tangaren ist indianischen Ursprungs. Die Maskentangaren (Ramphocelus nigrogularis) sind mit ihrem bunten Gefieder im Blätterwerk recht gut zu erkennen. Sie sind 17 cm groß. Kopf, Hals, Nacken, Brust und Flanke sind kräftig karminrot gefärbt, der Rest des Gefieders ist schwarz, der kurze, kräftige Schnabel setzt sich aus einem schwarzen oberen und einem weißen unteren Teil zusammen (Abb. 9.9). Diese Vögel leben paarweise oder in kleineren Gruppen. Das aus trockenen Blättern gefertigte, tassenförmige Nest wird in Baumkronen gebaut. Um das Gelege aus zwei Eiern kümmert sich das Weibchen. Der Artname setzt sich zusammen aus nigro (= schwarz) und gula (= Kehle) und bezieht sich auf die schwarze Kehle des Vogels (Abb. 9.9).

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     329

Abb. 9.9  Die Maskentangare hat ein überwiegend rot gefärbtes Gefieder

Tipp Wenn man Vögel beobachten oder fotografieren möchte, sollte man am besten einen fliegenden Vogel mit dem Fernglas verfolgen, bis er sich auf einen Ast setzt. Dann nähert man sich langsam schräg von der Seite – niemals direkt – seinem Rastplatz, bis man ein gutes Foto machen kann.

Die Blautangare (Thraupis episcopus) ist recht häufig an Flussufern und in Sekundärwäldern zu beobachten. Das Gefieder des 15 cm großen Vogels ist schiefer-grau, die Flügeldecken grün-blau bis türkis-blau. Ihr aus unterschiedlichem Pflanzenmaterial gebautes Nest wird in niedrigen Bäumen untergebracht, das Gelege besteht aus bis zu drei Eiern. Dieser Vogel wird auch Bischofstangare genannt (der Artname episcopus bedeutet „Bischof“): Die Erstbeschreibung von 1760 stammt von dem französischen, gläubigen Zoologen Jacques Brisson, der diesen Vogel „Bischofsvogel“ nannte.

330     L. Staeck

9.7 Affen Die Zweifarbentamarinen ( Sanguinus bicolor) gehören zu den Krallenaffen. Sie haben eine Körpergröße von bis zu 28 cm bei einer Schwanzlänge von 40 cm. Bis auf die Großzehen sind die Finger und Zehen mit Krallen versehen. Auffallend ist der unbehaarte, schwarze Kopf mit großen Ohren. Langes, weißes Fell bedeckt Schulter, Nacken, Brust und Arme. Der übrige Körper ist hellbraun, der lange Schwanz ist schwarz mit hellbrauner Spitze (Abb. 9.10). Diese Tamarinen bewohnen in kleinen Gruppen von drei bis acht Tieren ein kleines Regenwaldgebiet im Amazonas-Becken bei Manaus. Dort leben sie meist hoch oben in den Baumkronen, wo sie tagaktiv nach Blüten, Nektar, Früchten, Baumsäften, Insekten, Spinnen und Vogeleiern suchen. Bei ihnen lässt sich ein seltenes Phänomen bei Säugetieren beobachten: In der Gruppe aus mehreren Weibchen, Männchen und Jungtieren dominiert ein Weibchen – normalerweise dominiert bei Säugetieren ein Männchen. Nur dieses Alpha-Weibchen paart sich mit mehreren Männchen der Gruppe. Meist kommen Zwillinge zur Welt, die von den Männchen versorgt werden. Wegen ihres eng begrenzten Lebensraumes ist diese Affenart durch die Abholzung des Regenwaldes und durch die zunehmende Urbanisierung ihres Habitates sehr gefährdet. Mit dem Begriff Tamarin werden in der Tupi-Sprache diese Affen bezeichnet.

Abb. 9.10  Bei den Zweifarbentamarinen paart sich das Alpha-Weibchen – höchst ungewöhnlich – mit mehreren Männchen

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     331

Tipp Bei einem Besuch des Tropical Hotels am westlichen Stadtrand von Manaus (Avenida Coronel Teixera) – ganz in der Nähe der Praia da Ponta Negra am Ufer des Rio Negro – kann man nach dem Frühstück in den unmittelbar benachbarten Regenwald gehen, um dort diese interessanten Tamarine beobachten. Es gibt einige Wege durch diesen kleinen Wald, von denen man mit dem Fernglas die Bäume absuchen kann. Vor allem in den Morgenstunden habe ich diese bedrohte Affenart beobachten und fotografieren können.

Spix-Nachtaffe (Aotus vociferans) – Nachtaffen (Aotidae) Diese einzigen nachtaktiven Affen Südamerikas leben in den Tiefen des Regenwaldes auf Bäumen, wo sie tagsüber in Baumhöhlen schlafen. Große Flüsse bilden für sie unüberwindbare Verbreitungsgrenzen. Sie sind etwa Eichhörnchen-groß (35 cm) und ihre Schwanzlänge misst 40 cm. Ihr weiches, dichtes Fell ist grau-meliert bis braun-rot, die Brust ist gelb-braun. Drei schwarze Längsstreifen führen über das Gesicht bis hinter den rundlichen Kopf. Auffallend sind die großen Augenhöhlen mit den großen braunen Augen und die langen Finger (Abb. 9.11).

Abb. 9.11  Die großen Augen der Spix-Nachtaffen verraten, dass diese Affenart nachtaktiv ist

332     L. Staeck

Spix-Nachtaffen leben in einer Einfamiliengruppe, das heißt, beide Elterntiere bewohnen mit ihrem Nachwuchs eine Baumhöhle, bis der Nachwuchs selbstständig geworden ist. Sie leben streng territorial und kommunizieren untereinander mit eulenähnlichen Rufen. Kurz nach Sonnenuntergang verlassen sie zur Nahrungsaufnahme ihre Schlafhöhle. Sie sind nur zum Schwarz-Weiß-Sehen befähigt, doch ihr Gehör- und Tastsinn sind gut entwickelt. Sie jagen Baumfrösche, Nachtinsekten, Spinnen, fressen auch Vogeleier sowie Blätter, Blüten und Früchte. Das Weibchen bringt pro Jahr ein Junges zur Welt, das vom Männchen versorgt wird. Der Gattungsname Aotus leitet sich aus dem Griechischen aoteín ab (= „tief schlafen“). Der wissenschaftliche Artname vociferans bedeutet übersetzt „rufend“, sein deutscher Name geht auf seinen Entdecker, den deutschen Forschungsreisenden Johann Ritter von Spix zurück, der zwischen 1817 und 1820 zusammen mit dem deutschen Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius an einer Brasilien-Expedition teilnahm. Aufgrund seiner umfangreichen Sammlungen und Publikationen wird Johann Ritter von Spix auch der „Bayerische Humboldt“ genannt. Tipp Auf dem Gelände eines kleinen Hotels in Novo Airão mit dem Namen Pousada Tarȃntula kann man kurz vor Sonnenuntergang eine Familie der Spix-Nachtaffen beobachten. In einem urwaldähnlichen Gelände neben dem Hotel haben sie eine Baumhöhle bezogen. Wenn der Tag zu Ende geht, schauen sie aus dem Eingang dieser Höhle heraus (Abb. 9.11). Novo Airão liegt am Rio Negro, etwa 195 km (drei Autostunden) von Manaus entfernt.

9.8 Stachelschweinverwandte Wenn man aufmerksam durch den Regenwald (Igapós und Terra-Firme) wandert und dabei den Blick häufig in die Baumkronen richtet, kann man auf den Ästen Vertreter der Stachelschweinverwandten beobachten. Von diesen Baumstachlern, Baumratten und Stachelratten gibt es Dutzende verschiedener Arten, die nur schwer zu bestimmen sind, wenn man sie nur kurz sieht. Generell haben sie einen stämmigen Körper und dichtes, langes, braunes Fell. Sie verbringen ihr gesamtes Leben auf Bäumen, sodass ihnen auch längere Überschwemmungen nichts ausmachen. Nachts schlafen sie in hohlen Baumstämmen oder Baumhöhlen. In der Dämmerung kommen sie heraus, um Früchte, Blätter, Schösslinge, Rinde, Wurzeln und Knollen sowie

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     333

baumlebende kleine Wirbeltiere zu fressen. Über ihre Fortpflanzung liegen bisher keine gesicherten Erkenntnisse vor. Der Greifstachler (Coendou prehensilis) gehört zur Familie der Baumstachler (Erethizontidae). Er wirkt ziemlich massig und wird bis 60 cm groß. Hinzu kommt noch sein Schwanz mit einer Länge von etwa 45 cm. Er wird auch als Greifschwanz-Stachelschwein oder Coendu bezeichnet. Sein gesamter Körper ist mit schwarz-weiß gefärbten, bis fünf Zentimeter langen, dornenartigen Stacheln besetzt, sein Schwanz ist stachellos, jedoch zum Greifen umgebildet (Abb. 9.12). Auch die Vorder- und Hinterfüße sind zum Greifen geeignet. So ist er erstaunlich schnell auf der Flucht – davon konnte ich mich selbst überzeugen, als wir ihn auf einem niedrigen Ast überraschten. Er ist ein Einzelgänger und dämmerungsaktiv. Die Bürstenschwanzratte oder Baum-Stachelratte (Isothrix bistriata) ähnelt zwar äußerlich den Ratten, ist aber mit diesen nicht verwandt. Sie gehört vielmehr zur Familie der Stachelratten (Echimyidae) und hat borstige Haare auf dem Rücken und den Seiten. Bei einer Körperlänge von 27 cm und einem ebenso langen Schwanz ist sie mit kurzen breiten Füßen ausgestattet, die gekrümmte Krallen aufweisen. Damit ist sie hervorragend an das Leben in Bäumen angepasst. Sie bevorzugt ufernahe Bäume, die Höhlen

Abb. 9.12  Der Greifstachler ist ein Baumbewohner der Terra-Firme. Die Bürstenschwanzratte (kleineres Bild) ist nicht mit den Ratten verwandt, sondern zählt zu den Stachelratten, die eine eigene Familie bilden

334     L. Staeck

zum Übernachten haben. Der Schwanz ist buschig wie bei Eichhörnchen. Auch diese Tiere sind dämmerungsaktiv und Einzelgänger (Abb. 9.12). Der Gattungsname setzt sich zusammen aus isos (= gleichlang) und thrix (= Haar). Ein weiterer Stachelschweinverwandter ist das Gold-Aguti (Dasyprocta leporina), das auch Goldhäschen genannt wird. Der wissenschaftliche Artname ist indianischen Ursprungs. Es wird kaninchengroß, ist langbeinig und mit seinem kurzen, rauen, fast goldfarbenen Fell und haarlosem Schwanz (Abb. 9.13) kann man es als stromlinienförmigen Waldschlüpfer bezeichnen. Als bodenbewohnender Zehengänger kann das Aguti bei Gefahr davongaloppieren, wofür es in seinem festen Territorium im dichten Regenwald selbst angelegte Pfade benutzt. Sie sind rein vegetarisch und fressen Blätter, Stängel, Wurzeln und Früchte. Zur Nahrungsaufnahme setzt es sich auf die Hinterbeine und nimmt eine Frucht in die Vorderpfoten. Als einziges Tier des Regenwaldes ist es in der Lage, mit seinen starken Schneidezähnen die äußerst hartschalige Paranuss zu öffnen, um an die schmackhaften, eiweißreichen Samen zu gelangen. Sie legen auch Vorräte an, die sie vergraben und so zur

Abb. 9.13  Das Gold-Aguti ist als einziges Tier des Regenwaldes in der Lage, die Paranuss zu öffnen

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     335

Verbreitung des Paranussbaumes beitragen (Abschn. 5.8). Sie sind Einzelgänger und dämmerungsaktiv. Nur zur Paarung finden sich die Agutis für kurze Zeit zusammen – die Jungen können bereits eine Stunde nach der Geburt laufen. Auf den lokalen Märkten der Dörfer wird häufig Aguti-Fleisch angeboten, das die Flussbewohner gern als Abwechslung zu den ständigen Fischmahlzeiten mögen.

9.9 Vogelspinne Für viele Besucher des Amazonas-Tieflandes stellt die erste Begegnung mit einer Vogelspinne einen Höhepunkt der Reise dar – oder auch ein großer Stress – wenn man unter einer Arachnophobie (Spinnenangst) leidet. Wenn man weiß, wo sie sich tagsüber verborgen halten, kann man sie leicht aus ihren Verstecken hervorlocken. Sie sind baumbewohnend und verbringen den Tag in natürlichen Nischen und Löchern der Baumstämme. Die Höhle selbst ist mit einem röhrenförmigen Seidengespinst ausgekleidet, die Öffnung ist mit kompaktem Seidenhaaren, die Antibiotika enthalten, verschlossen. Von diesen führt ein Signalfaden zu einem Spinnenfuß. Wenn sich das Seidengespinst bewegt, wird die Spinne informiert. Sobald man etwa mit einem Grashalm oder einem dünnen Stock den Höhleneingang berührt, kommt die Vogelspinne heraus und läuft vorsichtig zum Beispiel auf die hingehaltene Breitseite der Machete. So kann man sie – wenn man keine hektischen Bewegungen macht – in aller Ruhe betrachten. Übrigens wäre ihr Giftbiss für Menschen nicht lebensgefährlich, jedoch sind Infektionen durch Bakterien auf ihren Beißklauen möglich. Beide Geschlechter kann man äußerlich unterscheiden: Das Weibchen ist mit bis zu zehn Zentimetern Körperlänge und einer Spannweite von bis zu 20 cm deutlich größer als das Männchen. Außerdem sind die Fußenden, mit denen sie schmecken und fühlen, beim Weibchen rosafarben, beim Männchen rötlich (Abb. 9.14). Übrigens hat man fossile Exemplare gefunden mit einer Spannweite von 1,80 m … Das Weibchen hat eine Lebenserwartung von zwölf Jahren, das Männchen stirbt hingegen bereits nach der letzten Reifehäutung, oft jedoch schon bei der Kopulation. Der Körper und die acht Laufbeine sind dicht behaart. Am Vorderkörper sitzen neben den Beinen zwei Beiß- oder Giftklauen (Cheleceren) und zwei Kieferntaster (Pedipalpen) sowie die kleine, schlitzförmige Mundöffnung und der Augenhügel mit acht Augen. Das Männchen besitzt überdies am ersten Beinpaar je einen Haken zum Blockieren der Giftklauen des

336     L. Staeck

Abb. 9.14  Die weibliche Vogelspinne hat rosafarbene Fußenden. Frisch geschlüpfte Vogelspinnen tragen noch einen Dottervorrat mit sich

Weibchens bei der Paarung. Am Hinterleib sitzen zwei Paar Spinnwarzen sowie mit Widerhaken ausgestattete Brennhaare, die bei Gefahr durch Reibung abgestoßen und dem Feind entgegen geschleudert werden können. Die Spinnen wachsen durch Häutung. Vogelspinnen sind nachtaktiv und sitzen mit Beginn der Dämmerung vor ihrer Höhle und warten auf Beute oder sie unternehmen ihre Beutezüge in die nähere Umgebung. Dabei fangen sie zum Beispiel Frösche, Eidechsen, Schaben oder Skorpione. Der gefangenen Beute wird über die Beißklauen Gift und Verdauungssaft injiziert. Die verflüssigte Beute wird sodann über die Mundöffnung vom Saugmagen aufgenommen. Sogar Haut und Knochen von Fröschen werden durch den aggressiven Verdauungssaft breiartig, die Reste werden als Speiballen ausgespuckt. Zur Fortpflanzung nähert sich das Männchen dem größeren Weibchen vorsichtig, wobei es mit seinen Tastern trommelt. Wenn das Weibchen antwortet, ist es paarungsbereit. Das Männchen springt auf den Rücken des Weibchens und führt seine Tasterenden in ihre Geschlechtsöffnung ein, wo es die zuvor aufgenommenen Spermien in eine Vorratstasche (Spermathek) des

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     337

­ eibchens abgibt. Bei diesem Akt werden von zehn Männchen acht gefressen. W Aber auch die Erfolgreichen sterben nach der Paarungssaison eines natürlichen Todes. Anschließend rutschen bis zu zehn Eier an den Spermien vorbei, wobei sie befruchtet werden. Schließlich werden die Eier außen abgelegt und in ein Seidengespinst (Kokon) eingesponnen. Der Kokon wird gut getarnt, etwa unter der Rinde eines Baumstammes und oberhalb der Hochwasserlinie befestigt. Zudem bewacht das Weibchen das Gelege. Bei einer Fahrt durch einen Überschwemmungswald löste ich mit der Machete ein loses Stück Rinde von einem Baumstamm, um zu sehen, ob sich dort etwas Interessantes versteckt hat. Unter der Rinde befand sich ein Vogelspinnen-Kokon, der ins Wasser fiel. Ich nahm ihn mit dem Kescher auf. Am nächsten Tag waren in dem Glasgefäß zehn kleine, voll ausgebildete und lebensfähige Vogelspinnen-Nymphen geschlüpft (Abb. 9.14). Der Dottervorrat an ihrem Rücken versorgte sie für die nächsten Tage mit Nahrung. Ein anderes Mal inspizierte ich bei einer Waldwanderung eine Bromelie, die mit ihrem Trägerbaum bei einem Gewittersturm auf den Waldboden geschleudert worden war. Dabei entdeckte ich in der trichterförmigen Rosette etwa zehn voll entwickelte kleine Vogelspinnen, die jeweils eine Körpergröße von einer Ein-Cent-Münze hatten. Weltweit gibt es in den tropischen Klimazonen über 140 Vogelspinnenarten mit Ausnahme von Australien. Der deutsche Name geht auf Maria Sibylla Merian zurück, die 1694 in Surinam eine Vogelspinne malte, die auf einem Kolibri sitzt. Dies inspirierte 1758 Carl von Linné zu seiner Namensgebung Avicularia, auf Deutsch „einem kleinen Vogel ähnlich“. Die Spinnen werden auch Taranteln genannt, nach der spanischen Stadt Tarent, die für ihre rasenden Tarantella-Tänze berühmt ist.

9.10 Ameisen Insekten (aus dem lateinischen Wort insectus (= eingeschnitten; bezogen auf die beiden voneinander abgesetzten Körperteile) sind zwar im Regenwald allgegenwärtig, doch kaum zu sehen – mit Ausnahme der Ameisen. Weltweit gibt es etwa 13.000 Arten, das sind deutlich mehr als Vogelarten (in Deutschland leben 35 Ameisenarten). Sie haben sich aus wespenartigen Vorfahren entwickelt und es gibt sie bereits seit 100 Mio. Jahren. In dieser Zeit haben sich vielfältige Formen entwickelt. Je nach Habitat sind sie Allesfresser (omnivor), Fleischfresser (carnivor) oder Pflanzenfresser (herbivor). Wie später in der menschlichen Evolution haben sich auch bei Ameisen unterschiedliche Lebensformen entwickelt. Da gibt es • Wanderhirten, die Blatt- oder Schildläuse als Nutztiere auf ihren Wanderungen als Nomaden mit sich führen und bei Bedarf melken.

338     L. Staeck

• Dann gibt es Ameisenarten, die sich zu sesshaften Pflanzenzüchtern und Gärtnern entwickelt haben, die Pilze anbauen und von deren Produkten leben. • Schließlich gibt es sogar Sklavenhalter, die andere Ameisenvölker unterjochen, indem sie ihre Brut stehlen, diese mit den eigenen Duftstoffen versehen und damit versklaven. Im brasilianischen Regenwald ist die Biomasse aller Ameisen größer als die aller Landwirbeltiere. Auf einem Hektar Regenwald leben hochgerechnet acht Millionen Ameisen, das sind 8000 kg Biomasse, also etwa so viel wie acht VW-Käfer wiegen! Mit der Methode des US-Biologen Terry Erwins, wobei die Kronen einzelner Bäume mit biologisch abbaubarem Pyrethrum eingenebelt werden, sodass alle Insekten betäubt werden und auf den Boden fallen, hat man ermittelt, dass auf einem Baumriesen (zum Beispiel dem Kapokbaum) 46 Ameisenarten leben – so viele wie in Großbritannien insgesamt. Sie sind tatsächlich die heimlichen Herrscher des Regenwaldes. So fressen sie beispielsweise ein Sechstel aller Blätter Amazoniens, dadurch bilden sie in 100 Jahren einen Zentimeter Humusboden. Und sie konsumieren mehr Fleischnahrung als alle Beutegreifer zusammen. Ohne Ameisen würde der Regenwald kollabieren, es ständen einfach nicht genug Nährstoffe zur Verfügung. Das Oberhaupt oder die Staatsmutter eines Volkes ist die bis zu sechs Jahre lebende Königin, die in ihrer Lebenszeit bis zu 140 Mio. Eier legt. Alle paar Jahre produziert sie geflügelte Männchen und geflügelte Weibchen. Nur ein Prozent dieser „Prinzessinnen“, die von den Flügelmännchen befruchtet werden, überlebt und gründet als Königin jeweils einen neuen Staat. Durch die allen Staatsmitgliedern eingegebenen Duftstoffe und durch hormonelle Steuerung hat jedes Mitglied altruistisch eine vorbestimmte Rolle zu erfüllen nach dem Motto: „Eine für alle, alle für eine.“ Sie kommunizieren über chemische Botenstoffe, die gesprochenen Worten entsprechen. Mit ihren Kiefernzangen, den Mandibeln, sind sie sehr wehrhaft. Sie können damit ihre Feinde erdolchen, Segmente abschneiden oder auch Gift injizieren. Tipp Um das Leben der Ameisen genauer kennenzulernen, kann man sich in einem Ameisenladen (zum Beispiel Ant Store in Berlin) einen Starterset mit einer Königin und einigen Arbeiterinnen oder auch eine ganze Arbeiterkolonie in einem Kunststoffnest kaufen. Die künstlichen Ameisenbauten sind durchsichtig, was die Ameisen nicht stört, so kann man sie genau bei ihren Tätigkeiten beobachten. Sie sind sogar ideale Haustiere, denn sie riechen weder unangenehm noch machen sie Lärm. Sie halten ihren Bau stets sauber und benötigen wenig Platz. Man muss sie nur mit Zuckerlösung füttern. Da Ameisen kein Wasser mögen, sind ihre Bauten am besten von einem Wasserkanal umgeben, so können sie nicht ausreißen.

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     339

Blattschneiderameisen Für das Überleben des Regenwaldes sind etwa die Blattschneiderameisen, etwa der Gattung Atta, von großer Bedeutung, deren Königin im Laufe der Jahre Nester mit bis zu sechs Millionen Bewohnern aufbauen. Da diese Ameisen nicht direkt pflanzliche Nahrung aufnehmen können, haben sie ein Verfahren entwickelt, über einen Umweg doch noch an pflanzliche Nährstoffe heranzukommen: Sie leben in einer engen Symbiose mit bestimmten Pilzen. Die Ameisen füttern die Pilze und diese wiederum produzieren Nährstoffe, an denen sich die Ameisen laben – ein ausgeklügelter Lebensentwurf. Für die Pilzfütterung haben die Ameisen eine perfekte Arbeitsteilung mit verschiedenen Arbeitsschritten entwickelt. Zunächst müssen geeignete Blattstücke ausgewählter Bäume abgeschnitten werden. Hierfür sind auf ihren gepflegten Straßen zwei Millimeter große Kundschafter, Blattschneider und Transportarbeiter notwendig. Um einen Quadratmeter Blätter zu zerlegen, müssen die Arbeiter – zur Futterquelle hin und zurück zum Bau – eine Strecke von bis zu drei Kilometern zurücklegen. Die Blattstücke werden wie ein grünes Segel in den unterirdischen Bau getragen (Abb. 9.15). Pro Tag wird so viel Nahrung in den Bau geschleppt, wie eine ausgewachsene Kuh frisst – pro Jahr summiert sich dies auf etwa 35 t!

Abb. 9.15  Blattschneiderameisen schneiden Blattstücke ab, mit denen sie die in ihrem Bau gezüchteten Pilze füttern. Über diesen Umweg gelangen sie an eine eiweiß- und vitaminreiche Kost. Deutlich erkennbar sind im oberen Bild die Zugänge zu den unterirdischen Bauten der Blattschneiderameisen

340     L. Staeck

Einmal habe ich beobachtet, dass sie wie eine bunte, sich bewegende Girlande nur farbige Blütenblätterteile in ihren Bau trugen. So bewegt sich ständig ein nicht endender Strom von Arbeitern von ihrem Bau zu den Ernteplätzen und umgekehrt eine ebenso große Kolonne mit den Blattstücken zum Bau. Das ganze ähnelt einer viel befahrenen Autobahn, doch Staus gibt es bei diesen Ameisen nicht. Bei einem kleinen Experiment habe ich einmal ein großes Blatt quer über ihre saubere Straße gelegt. Tatsächlich gab es für genau drei Minuten einen Stau in beide Richtungen, zahlreiche Ameisen liefen kreuz und quer herum. Dann plötzlich formierten sich die Wartenden und der gesamte Verkehr bewegte sich in beiden Richtungen über die Umleitung um das Blatt herum zurück zur Straße und der Stau war beseitigt. Auf dieser Straße sind auch gigantische, zehn Millimeter große Wächter unterwegs, wahre Kampfmaschinen mit gewaltigen Zangen, die sich nicht selbst ernähren können. Im Bau gibt es Blattzerkleinerer, die Blattstücke in Hunderten von Kammern auf einen Millimeter zerkleinern, sowie Blattzerkauer, Blattaufschichter, Säuberer und Impfer, die die Pflanzenmasse gegen eingeschleppte Bakterien und Pilze behandeln. Die zerkaute Pflanzenmasse dient besonderen Pilzen als Nahrung, die in diesen Kammern gezüchtet werden. Diese Pilze überwuchern mit ihren Pilzfäden (Hyphen) die Blattmasse. Ameisengärtner beißen diese Pilzfäden immer wieder ab, sodass sich eiweißhaltige, vitaminreiche, knollenartige Verdickungen bilden. Diese werden schließlich von den Erntearbeiterinnen abgebissen und an die Mitglieder des Staates verteilt. In Aufzuchtkammern kümmern sich Babysitter und Kindergärtner um die Eier und Larven. Die Eier legende Königin bewohnt eine eigene Gebärkammer. In ihren mehr als zehn Lebensjahren kann sie bis zu 100 Mio. Eier legen. Der unterirdische Bau der Blattschneiderameisen erstreckt sich mitten im Urwald bis zu acht Metern in die Tiefe und besteht aus Tausenden von Kammern und Gängen bei einem Volumen von rund 50 m3. Hierbei werden bis zu 40 t Urwaldboden bewegt. Von oben sieht der Bau auf einer Fläche von etwa sechs mal acht Metern aus wie umgepflügte Erde, einige große Löcher markieren die Ein- und Ausgänge (Abb. 9.15). In den Pilzgärten leben auch große Bakterienkolonien, die Stickstoff aus der Luft binden. Wenn die Nester der Blattschneiderameisen mit dem Tod ihrer Königin wieder in den Urwaldkreislauf eingehen, erfährt der Wald eine beträchtliche Düngung und damit Wiederbelebung. Azteca-Ameisen Die Azteca-Ameisen sind eine Gattung, die ebenfalls in enger Symbiose lebt, und zwar mit Cecropienbäumen (Ameisenbäumen) (Abschn. 6.1.1). Der

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     341

Baum liefert den Ameisen Nahrung und Wohnraum, die Ameisen wiederum schützen den Baum vor pflanzenfressenden Insekten und dem Bewuchs durch Lianen, Moos und Epiphyten (Abschn. 6.5 sowie 5.10). Die jungen Cecropien stehen als Pionierpflanzen oftmals monatelang im Wasser der Flussufer, Seen und der Várzeas (Abb. 6.1). Trotzdem leben in mehr als der Hälfte der schlanken Schösslinge und etwas älteren, vielleicht sechs Meter hohen Jungbäume Völker dieser Ameisengattung mit Millionen von Individuen, zum Beispiel der Art Azteca muelleri. Die enge Beziehung zwischen Baum und Ameisen beginnt damit, dass eine junge Königin vor ihrer Staatsgründung durch die vorgeformte, dünne Zone einer Blattnarbe am Stamm in den hohlen Teil des Sprosses zwischen zwei Blattansätzen (Internodium) eindringt und dort beginnt, Eier zu legen. Das zwischen den Blattansätzen ursprünglich vorhandene weiche Mark ist nämlich beim Sprosswachstum verschwunden. Mit steigender Individuenzahl des Ameisenvolkes werden immer mehr Internodien besiedelt (Abb. 9.16). Da auch jede Querwand eines Internodiums von Natur aus bereits ein Loch aufweist, können die Ameisen ihre Brutkammern problemlos von einem Internodium zum nächsten ausweiten, bis der gesamte Baum mit Millionen dieser kaum einen Millimeter großen rötlichen Ameisen bewohnt ist.

Abb. 9.16 Hohle Internodien der Cecropien-Sprosse werden von Azteca-Ameisen besiedelt

342     L. Staeck

An den Unterseiten der Blattansätze bietet der Baum den Ameisen knöpfchenartige, fett- und eiweißreiche ein bis zwei Millimeter lange Ausscheidungen an (sogenannte Müller’sche Fruchtkörper ), die von den Ameisen regelmäßig abgeerntet werden. Die Ameisen legen sich zusätzlich Schildlaus-Kolonien an, die sich vom Baumsaft ernähren. Der von den Blattläusen ausgeschiedene Honigtau wird von den Ameisen gefressen. Zwischen beiden Organismenarten liegt eine sich über einen großen Zeitraum erstreckende Koevolution vor, indem die eine Art (die Cecropien) durch Veränderungen (vorgefertigte Löcher am Spross) die zweite Art (die Ameisen) richtend selektiert (Abbeißen von störendem Pflanzenbewuchs); diese Koevolution funktionierte aber auch umgekehrt (der positive Einfluss der Ameisen – größere Fitness des Baumes – führte zur Produktion der Futterkörper). Bullenameise Die Bullenameise (auch Riesen-Ameise genannt; Paraponera clavata ) macht ihrem Namen Ehre und ist von spektakulärer Größe: Die Arbeiterinnen werden – wie ihre Königin – drei Zentimeter groß, sie sind schwarz, Körper und Beine sind behaart, der Giftstachel sitzt am Hinterleib. Auffällig ist ihre lange, schmale Taille zwischen Hinterleib und Vorderkörper. Sie ähnelt im Aussehen einer flügellosen Wespe (Abb. 9.17).

Abb. 9.17  Die drei Zentimeter großen Bullenameisen sind mit ihren Giftstacheln sehr wehrhaft

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     343

Der gesamte Staat umfasst, anders als bei den vorgenannten Verwandten, nur wenige Dutzend Mitglieder. Bullenameisen bewohnen die Stammbasis von Bäumen im tiefen Regenwald, wo das unterirdische Nest angelegt wird. Leichte, frische Erdaufwerfungen um eine Stammbasis herum weisen auf ihre unterirdischen Bauten hin. Wenn man dort oder am Stamm mit der Machete klopft oder schlägt, kommen einige Arbeiterinnen aus ihrem Erdbau heraus. Man kann sie dann leicht mit der Machete aufnehmen und beobachten, denn sie sind nicht aggressiv – meist jedenfalls. Sie bewachen „ihren“ Baum, klettern bis in seine Krone, um dort junge Blätter und Blütennektar zu fressen. Ein brasilianischer Biologe berichtete mir, dass er einen Baum hinaufgeklettert sei, um eine epiphytische Orchidee abzupflücken. Dabei hat ihn eine Bullenameise mit ihrem Stachel einen Giftstich verabreicht. Er beschrieb den darauffolgenden Schmerz, als ob er bei lebendigem Leib verbrennen würde. Fieber und Herzrhythmusstörungen kamen hinzu. Sofortiges Behandeln mit Eiswasser lindert den größten Schmerz, doch wer hat schon Eiswasser mitten im Urwald? Die extremen Schmerzen halten bis zu 24 Stunden an, weshalb diese Ameisen auch als 24-Stunden-Ameisen bezeichnet werden. Das Gift Poneratoxin ist ein nur langsam wirkendes Nervengift, das besonders schmerzhaft ist, aber keine Gewebeschäden verursacht. Auf dem Stichschmerz-Index mit einer Skala von 1 bis 4, der das subjektive Schmerzempfinden misst, wird dieser Giftstich mit 4+ beurteilt. Im Amazonas-Tiefland werden diese Ameisen auch als Tucandera bezeichnet, was in der Tupi-Sprache bedeutet: „Einer, der stark verwundet ist“. Der biologische Artname clavata bedeutet dagegen übersetzt „keulenförmig“ und bezieht sich auf die Gestalt des Ameisenkörpers.

9.11 Termiten Bei einer Wanderung durch den Regenwald fallen jedem Besucher die zwischen 50 cm bis über einen Meter großen, schwarzen, kugelförmigen Gebilde auf, die in einigen Baumkronen an einem Ast sitzen (Abb. 9.18). Es sind die Nester von Termiten, die wie kleine, weiße Ameisen aussehen, aber keine sind. Ihre Verwandtschaft mit den Ameisen ist so weit entfernt wie die von Affen zu Kängurus. Tatsächlich sind Termiten mit den Schaben verwandt. Weltweit gibt es von ihnen etwa 2000 Arten, die alle in den Tropen zu Hause sind. Zusammen mit den Ameisen kommen sie auf 25 % der gesamten Biomasse im Amazonas-Tiefland. Sie spielen eine bedeutende Rolle im Regenwald. Der Name „Termiten“ leitet sich aus dem griechischen Wort

344     L. Staeck

Abb. 9.18  Termitennester werden im Regenwald stets in den Baumkronen angelegt Die Termiten-Königin hat durch die riesige Zahl ständig neu gebildeter Eier einen unförmig geschwollenen Hinterleib

termes ab, das „Ende“ bedeutet und sich auf die Holz zerstörende Tätigkeit dieser Tiere bezieht, können sie doch jedem Holz ein „Ende bereiten“: Sie fressen nämlich – meist totes – Holz. Die zerkauten Holzfasern können sie jedoch nicht selbst verdauen. Hierfür sind sie auf die Hilfe von Pilzen und Bakterien angewiesen, die in ihrem Enddarm leben und dort die Zellulose für die Termiten so aufbereiten, dass diese davon leben können. Diese Ernährungsweise führt viele Inhaltsstoffe des Holzes wieder dem Stoffkreislauf des Regenwaldes zu und mit ihrem Kot düngen Termiten zudem den Wald. Neudeutsch kann man auch sagen: Sie recyceln Totholz und übernehmen damit zusammen mit den Ameisen die Rolle der Regenwürmer, die es in den durchnässten Urwaldböden nicht gibt. Wegen der häufigen Überschwemmungen hängen ihren kugeligen Bauten ausschließlich in den Bäumen und sind nicht auf dem Boden gebaut wie beispielsweise in den Trockengebieten Afrikas. In Amazonien sind diese Wohnstätten aus zerkautem Holz gebaut, innen ziehen sich durch das gesamte Bauwerk Gänge, Wohn- und Aufzuchtkammern, der Bau ist ständig durchlüftet und funktioniert wie eine Klimaanlage. Die sich im Bau erwärmende Luft entweicht ständig nach oben, sodass von unten durch

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     345

kleine Öffnungen kühlere Luft nachströmen kann. Vom Bau führen mit zerkautem Holz abgedeckte Laufgänge direkt zu den Futterquellen. Wenn man einen solchen Gang mit dem Fingernagel öffnet, erscheinen sofort zahleiche Termiten, um das Loch zu verschließen. Die „Futterbäume“ werden von innen regelrecht ausgehöhlt, indem das Holz gefressen wird; die Baumhülle bleibt noch längere Zeit stehen. Der Termitenstaat wird von zwei Elterntieren gegründet, dem unauffälligen König und der Königin. Durch die ungeheure Zahl ständig neu gebildeter Eier schwillt der Hinterleib der Königin unförmig auf mehrere Zentimeter Länge an (Abb. 9.18). Sie gleicht dann einer „Eierlegemaschine“, die alle acht bis zehn Sekunden ein Ei legt, das sind bis zu 10.000 am Tag und 300.000 im Monat. In ihrem bis zu zehn Jahre währenden Leben legt sie in ihrer „Hochzeitskammer“ viele Millionen Eier! Diese müssen immer wieder durch den König befruchtet werden. Aus ihnen entwickeln sich – durch Hormone gesteuert – unterschiedliche Termiten-Kasten, das sind verschieden gestaltete Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben: • Die blinden, zwei Millimeter großen Arbeiter sind zuständig für Brutpflege, Bauarbeiten am Nest, Futterbesorgung und Betreuung der Königin. • Die ebenfalls blinden, bis fünf Millimeter großen Soldaten verteidigen die Arbeiter bei der Futtersuche und wehren Eindringlinge ab. • Die geflügelten, bis zwei Zentimeter großen Geschlechtstiere entwickeln sich nur etwa alle zwei Jahre. Sie schwärmen dann aus, wobei sie von vielen Fressfeinden bedroht werden. In der Luft findet die Befruchtung statt, aus der mit Glück ein neues Königspaar hervorgeht.

9.12 Käfer und Fangschrecken Der Riesen-Nashornkäfer (Megasoma actaeon) gehört zu den Blatthornkäfern. Er gehört mit einer Körperlänge von 15 cm und einem Gewicht von 220 g bei den Männchen zu den größten Käfern überhaupt. Seine Flügelspannweite beträgt 30 cm (Abb. 9.19)! Am vorderen Segment des Bruststücks ragt ein wehrhaftes, etwa vier Zentimeter langes Horn nach vorn, links und rechts daneben sitzen zwei weitere, kurze Hörner. Das Weibchen bleibt mit etwa vier Zentimetern deutlich kleiner und hat keine Hörner. Nashornkäfer sind sehr wehrhaft und besitzen an ihren Beinen mit Widerhaken ausgestattete Sporne und Dornen, die letzten Beinabschnitte weisen Klauen auf. Ihre Körperfärbung ist schwarz-braun. Zur Fortpflanzung legen die Weibchen ihre Eier in das Substrat verrotteter

346     L. Staeck

Abb. 9.19  Die Flügelspannweite des männlichen Riesen-Nashornkäfers beträgt 30 cm

Bäume, die Entwicklung der Larven dauert fast drei Jahre, dann wiegen sie 200 g. Nach der Metamorphose leben die erwachsenen Käfer nur noch fünf Monate; sie ernähren sich in dieser Zeit von Wurzeln und Blüten. Während meiner Reisen sind mir diese Käfer einige Male begegnet. Einmal landete ein Männchen im Dunkeln – sie sind nachtaktiv – mitten auf dem Deck eines Schiffes. Ich habe sie auch in den Händen von Kindern gesehen, die sie in den Dörfern als „Spielzeug“ verwenden. Dazu wird das wehrhafte Horn abgeschnitten und der Käfer an einer Leine durch das Dorf geführt. Schließlich habe ich ein weiteres männliches Exemplar in Iquitos an der Uferpromenade auf einem Baum entdeckt.

9  Tierbeobachtungen im Regenwald     347

Abb. 9.20  Die Gottesanbeterin ist eine Lauerjägerin, die solange wartet, bis ein geeignetes Opfer vorbeikommt

Gottesanbeterin (Mantidae) Im Amazonas-Tiefland fällt der Blick des Besuchers immer mal wieder auf eine Gottesanbeterin, mag sie auch noch so gut in ihrer hellgrünen Grundfärbung getarnt sein. Auch bringen Dorfkinder sie oft vorbei oder diese Tiere sitzen plötzlich im Boot, nachdem es durch Überschwemmungswiesen gefahren ist. Das Weibchen ist mit etwa sieben Zentimetern größer als das Männchen und von meist hellgrüner Färbung. Auffallend ist der dreieckige, stark bewegliche Kopf mit zwei haarförmigen Fühlern und kleinen schwarzen Augen. Auf dem kräftigen Hinterleib sitzen transparente Flügel. Die vier hinteren Beine dienen als Schreitbeine, die beiden Vorderbeine sind zu Fangbeinen mit vielen Dornen und einer Dornenklaue an jedem Bein umgebildet. Die Unterschenkel können gegen den Oberschenkel wie ein Taschenmesser eingeklappt werden. Diese Haltung ist auch zwischen grünen Halmen ihre normale Ruheposition (Abb. 9.20).

348     L. Staeck

Die Gottesanbeterin ist ein Lauerjäger: Sie wartet so lange, bis ein geeignetes Opfer (Insekten oder Spinnen) vorbeikommt, um dann aus dem Hinterhalt mit den Klauen zuzuschlagen. Die „betende“ Lauerhaltung hat ihnen auch ihren deutschen Namen gegeben. Gottesanbeterinnen sind auch berühmt für ihren bisweilen praktizierten sexuellen Kannibalismus, denn die kleineren Männchen werden häufig während oder nach der Kopulation aufgefressen. Die 100 bis 200 Eier werden an einem Spross in eine sich erhärtende Schaummasse gelegt. Mantis leben nur ein Jahr lang.

10 Schlussbemerkung: Wie geht die Entwicklung im Amazonas-Tiefland weiter?

Die sich über Jahrmillionen aufgebaute Diversität an Pflanzen- und Tierarten ist akut bedroht. Zum einen sind die bereits zerstörten Flächen immens. Zum anderen geht die Waldzerstörung immer weiter. Darüber hinaus bauen sich zwei weitere Bedrohungspotenziale für das Amazonas-Becken immer weiter auf, bis eines Tages die Entwicklung unumkehrbar sein wird: der Klimawandel und das Bevölkerungswachstum.

10.1 Waldzerstörung Die weltweite Zerstörung des Primärwaldes dauert auch in Amazonien unvermindert an und ist offenbar durch niemanden zu stoppen. Zwar haben die Vereinten Nationen schon 1992 auf ihrem Weltgipfel in Rio de Janeiro in einer Walddeklaration Amazonien zum „Naturerbe der Menschheit“ erklärt. Doch diese Erklärung hat nichts bewirkt. Nach Schätzungen von Greenpeace waren schon bis 2008 mehr als 20 % des ursprünglich 3,5 bis vier Millionen Quadratkilometer umfassenden Primärwaldes im Amazonas-Tiefland zerstört. Danach wurde weiter und wird bis heute Jahr für Jahr eine Fläche von der Größe Belgiens (30.500 km2) vernichtet. Das bedeutet, dass innerhalb von zwölf Jahren eine Urwaldfläche von der Größe Deutschlands verloren geht. Wenn dieser Umfang der Waldzerstörung andauert, wird die zurzeit (2019) noch vorhandene amazonische

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9_10

349

350     L. Staeck

Regenwaldfläche von 2,7 Mio. km2 im Jahr 2100 nicht mehr existieren. Die brasilianische Regierung tut viel zu wenig, um diesen worst case zu verhindern. Zwar hat sie in der Vergangenheit immer mal wieder Naturschutzprogramme verabschiedet, um damit formal dem Raubbau des amazonischen Regenwaldes zu stoppen, so etwa 1988 unter dem Titel „Unsere Natur“. Danach sollten Subventionszahlungen für große Viehzuchtbetriebe der Amazonas-Region eingestellt und ein Exportverbot für unbehandelte tropische Hölzer verhängt werden. Doch die weiter anhaltende großflächige Abholzung hat sie damit nicht verhindert, wie die Zahlen belegen. In jüngster Vergangenheit haben brasilianische Regierungen sogar wieder die strengeren Waldgesetze gelockert, sodass neben der illegalen Waldabholzung und dem ebenso illegalen Abbrennen der Wälder nun wieder auch der legale Holzeinschlag verstärkt vorgenommen wird. Die mächtigen Lobbyisten im brasilianischen Parlament, die fehlende Kontrolle bestehender Gesetze und die massive Korruption im Land werden die weiter fortschreitende Waldvernichtung begünstigen. Damit werden immer mehr Tierarten verschwinden, bislang vorhandene Nahrungsketten zusammenbrechen, die übrigbleibenden Tiere keine Nahrung mehr finden und auch keine Rückzugsmöglichkeiten mehr haben. Wie in diesem Band dargestellt, kann man einen Primärwald nicht „neu“ pflanzen, und der intakte Urwald ist mehr als die Summe seiner Bewohner, denn es hängen viel mehr Mitglieder des Waldes miteinander zusammen und sind voneinander abhängig, als noch vor Jahrzehnten vermutet wurde. So werden durch die Waldvernichtung auch immer mehr für die Bevölkerung unverzichtbare Fischarten verschwinden. Schon jetzt gelten wichtige Speisefische der Amazonas-Region als überfischt und sind in ihrer Existenz bedroht. Was dies für die steigenden Bevölkerungszahlen im Amazonas-Becken bedeutet, lässt sich noch gar nicht absehen. Mit dem Verlust des Primärwaldes werden aber auch die Urwaldböden mit ihren Mykorrhizen unwiederbringlich zerstört, zurück bleibt ein unfruchtbares, ausgelaugtes Land mit einer roten Lateritbedeckung. Auch auf diese Problemlage wurde in diesem Band hingewiesen.

10.2 Klimawandel Schließlich werden sich auch die Niederschläge – zeitlich etwas verzögert – drastisch reduzieren mit dramatischen Konsequenzen für die noch bestehenden Wälder sowie für die in diesen Wäldern noch lebenden Tiere und auch für die Fischfauna. Diese Prognose leitet sich daraus ab, dass sich

10  Schlussbemerkung: Wie geht die Entwicklung …     351

normalerweise 50 % der Regenmenge, die über einen Regenwald niedergeht, aus der Verdunstung des Regenwassers selbst regeneriert. Wenn der Wald jedoch nicht mehr vorhanden ist, entfällt dieses Regenquantum. Die anderen 50 % des Regens speisen sich bisher aus den Passatwinden vom Atlantik. Diese Regenmenge gelangt bei den fortschreitenden Waldverlusten nun immer schneller in die zum Atlantik abfließenden Flüsse, da das geschlossene Kronendach des Waldes, das den Regen bisher abbremste, nicht mehr vorhanden ist und auch die Schwammwirkung des aus Wurzeln und Mykorrhiza verfilzten Urwaldbodens nicht mehr greifen kann. In diese Überlegungen sind die möglichen Auswirkungen des bereits einsetzenden globalen Klimawandels noch nicht einmal berücksichtigt, da sie zurzeit noch gar nicht absehbar sind. Niemand weiß, wie sich El Niño, La Niña und andere Klimaphänomene auf die sich ständig verkleinernde Waldfläche des Amazonas-Tieflandes auswirken werden – und umgekehrt. Eines ist jedoch sicher: Wir befinden uns in einer erdgeschichtlichen Warmphase mit ungewissem Ausgang. Zusätzlich befeuern wir Menschen mit einem ständig wachsenden CO2- und Methanausstoß in die Atmosphäre diese Phase. Die gesamte Entwicklung scheint in einen sich selbst beschleunigenden Prozess zu münden, wofür Albedo-Effekte (Eis-AlbedoRückkopplung) und die voranschreitende Erwärmung der Meere maßgeblich verantwortlich sind.

10.3 Bevölkerungswachstum Eine weitere akute Bedrohung für den amazonischen Regenwald ist die rasant steigende Bevölkerung des Amazonas-Tieflandes. Mittlerweile leben in diesem Großraum 20 Mio. Menschen. Diese Bevölkerungszunahme speist sich zum einen aus der Landflucht aus dem trockenen Nordosten Brasiliens und zum anderen aus der hohen Geburtenrate von 0,75 % pro Jahr der lokalen Bevölkerung. So steigt die Zahl der Bewohner im Amazonas-Tiefland Jahr für Jahr um über 350.000. Auf meinen Reisen entlang des Amazonas erlebe ich von einem Jahr zum nächsten, wie die Dorfgemeinschaften und auch die Bevölkerung in den Kleinstädten am Fluss stark zunehmen. Bei meinen Besuchen von Schulen erzählen die Lehrer, dass mehr als die Hälfte der Dorfbewohner Kinder und Jugendliche im Schulalter sind. Diese werden in spätestens zehn Jahren selbst heiraten und Nachwuchs bekommen. Familien mit mehr als vier Kindern sind bei den Caboclos wie bei den indigenen Gruppen immer noch normal, obwohl die

352     L. Staeck

Kindbett- und Kindersterblichkeit stark abgenommen und die medizinische Versorgung insgesamt und damit die Lebenserwartung stark zugenommen haben. Diese Bevölkerungszunahme gleicht einer tickenden Zeitbombe. Niemand kann abschätzen, wie lange die sensiblen Ökosysteme Amazoniens diese enormen Zuwachsraten an Menschen aushalten werden, ohne zu kollabieren. Das große Problem exponentiell wachsender Systeme wie der Menschheit zeigt sich im typischen Verlauf einer exponentiellen Kurve: Diese steigt zunächst für eine lange Zeit nur langsam an. Auch beim Wachstum der Menschheit herrschte sehr lange eine „trügerische Ruhe“, die Menschheit und der Verbrauch der Ressourcen wuchsen einigermaßen überschaubar, die meisten Systemkomponenten – also zum Beispiel die Einwohner der Amazonas-Region, der Bestand an Fischen in den Flüssen, die vorhandenen Wild- und Weidetiere – funktionierten ohne Störfälle. Die exponentielle Kurve verläuft dann jedoch ganz plötzlich – ohne Vorwarnung – steil nach oben, bis sie unerwartet und plötzlich umkippt. Genauso läuft es zurzeit bei uns Menschen: Die Zuwachsraten werden in immer kürzeren Zeitabschnitten immer größer. Niemand weiß, wann der Punkt erreicht ist, dass das System, das globale Ökosystem Erde, umkippt, zusammenbricht. Eines ist jedoch gewiss: Es geht nicht für immer weiter so. Diese Situation zeigt sich derzeit deutlich in der Region Amazoniens. Aus dem bedrohlichen Anstieg der Bevölkerung in dem Ökosystem Amazonas-Regenwald ergibt sich eine massive Bedrohung seiner Ressourcen infolge • der Waldzerstörung für die Anlage von Plantagen, Viehweiden, Dörfern, Infrastruktur; • der Ausbeutung der Wälder durch die nicht nachhaltige Bejagung von Fischen, Vögeln, Säugetieren sowie durch unkontrollierten Holzeinschlag; • der Umweltzerstörung durch Wasserverschmutzung, Bodenzerstörung, Müllanhäufung Die exponentielle Bevölkerungszunahme zeigt sich jedoch nicht nur regional, sondern auch global. Die daraus resultierenden negativen Auswirkungen betreffen letztendlich alle Menschen, auch die am Amazonas, da sie alle Anstrengungen zunichtemachen, etwa CO2-Einsparungen vorzunehmen, Schutzgebiete zu erhalten oder Ressourcen zu schonen. Die Weltbevölkerung betrug Ende 2018 etwa 7,7 Mrd. Menschen, während es noch 1960 lediglich drei Milliarden waren. Jährlich steigt die Weltbevölkerung zurzeit um etwa 80 Mio., jeden Tag um 220.000 Personen, alle viereinhalb Tage um eine Million und jede Sekunde um 2,5 Menschen,

10  Schlussbemerkung: Wie geht die Entwicklung …     353

wobei die Todesfälle abgezogen sind. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass unser Planet im Jahr 2050 mit folgender Gesamtbevölkerung rechnen muss: • 11 Mrd. (bei einer ungebremsten durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau von zurzeit 2,56 Kindern); • 9,1 Mrd. (bei einer durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau von 2 Kindern); • 8 Mrd. (bei einer durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau von 1,5 Kindern); • 6,5 Mrd. (bei einer durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau von 1 Kind). Übrigens: Rein rechnerisch würde die Weltbevölkerung nach einer Prognose der Vereinten Nationen bei einer gleichbleibenden Geburtenrate von zurzeit 2,56 pro Frau für die nächsten 150 Jahre im Jahre 2150 bei 300 Mrd. liegen. Wie die Kinderzahl pro Familie gesenkt werden könnte, ist jedoch bis heute völlig offen. Allerdings muss schnellstens ein bevölkerungspolitischer Diskurs hierzu beginnen. Doch bislang ist dieses Problemfeld noch ein Gesprächstabu. Bisher sprechen weder Politiker noch Journalisten das ungebremst anhaltende Wachstum der Erdbevölkerung an. Dabei ist eines jedoch schon heute sicher: Eine weiter exponentiell steigende Weltbevölkerung lässt sich nur stoppen durch eine Verbesserung der Lebensqualität in den armen Gesellschaften und grundlegend mehr Bildung von Frauen in diesen Gesellschaften. Wenn die Faszination des Amazonas-Regenwaldes erhalten bleiben soll, dann müssen die vorhandenen positiven politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ansätze gebündelt und die globalen Anstrengungen des Naturschutzes verstärkt werden, um die aufgezeigten Problemfelder abzuarbeiten. Vor allem muss die Weltgemeinschaft der brasilianischen Regierung Wege und Mittel bereitstellen, diesen einzigartigen Artenreichtum Amazoniens zu erhalten. Der Erhalt dieser biologischen Vielfalt ist kein Selbstzweck, sondern damit wird ein bedeutender Beitrag geleistet, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und letztlich auch sicherheitspolitische Lage in zahlreichen Nationalstaaten zu stabilisieren. Die Zukunft kann wunderbar sein – oder aber überhaupt nicht stattfinden. Das hängt ganz von uns ab.

Literatur

Staeck, L (2016a) Außergewöhnliche Blütenwelt der Tropen. Stauden, Hochstauden, Wasserpflanzen, Sträucher, Bd. 1. Books on Demand, Norderstedt Staeck, L (2016b) Außergewöhnliche Blütenwelt der Tropen. Bäume, Kletterpflanzen, Epiphyten, Bd. 2. Books on Demand, Norderstedt

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9

355

Stichwortverzeichnis

24-Stunden-Ameisen s. Bullenameise A

Aasfresser 279 Abgottschlange s. Königsboa Abholzung 10, 81, 82, 92, 95, 114, 211, 330, 350 Abrus precatorius 64 Açaí-Palme 63, 64, 72, 75, 76, 98, 99, 135, 204, 237 Palmenherzen 75 Achote s. Lippenstiftbaum Adventivwurzel 76, 175 Aechmea 172, 174 Aerosol 81 Affe 300 Affenschwanz s. Inga Affentopf s. Paradiesnussbaum Aguti 97, 102, 133, 300, 334 Akazie 130 Albedo-Effekt 351 Algenfarn 167 Alkaloid 68–70, 137, 180, 188, 192, 224

Allamand, Frederick 139 Allamanda 139, 140, 316 Alligator 249 Alpha-Weibchen 330 Alter do Chão 41, 42, 202 Amazilie 288 Amazonas Begriff 7 Amazonas-Delfin 22, 302 Amazonasfischer 9, 10, 272, 273 Amazonas-Riesenseerose 13, 34, 43, 103, 146, 151–153, 261, 262, 278 Amazonenpapagei 22, 63, 322, 324 Ameise 16, 17, 110, 115, 317, 319, 327, 328, 337, 338, 340–342 Azteca-Ameise 340, 341 Blattschneiderameise 104, 110, 115, 339, 340 Bullenameise, 104, 110, 342, 343 Ameisenbär 306 Ameisenbaum 15, 113–115, 169, 304, 340 Ameiva-Eidechse 247, 248 Anakonda 210, 252, 254

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 L. Staeck, Faszination Amazonas, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58328-9

357

358     Stichwortverzeichnis

Analhorn 316 Ananasgewächs 104, 172 Anhinga 270 Ani-Kuckuck 289 Anolis, 104, 110, 321 Anone 63 Antennenwels 229, 230 Anthocyan 87, 167 Anti-Aging-Eigenschaften 76 Apfelschnecke 278 Aphrodisiakum 69 Aquarienpflanze 160, 161 Ara 34, 322 Gelbbrust-Ara 322, 323 Hellroter Ara 22, 322, 323 Arapaima 37, 66, 237, 238, 240 Arapaima gigas 66 Aronstabgewächs 106, 146, 159, 160, 175 Art invasive 160, 165 Artensterben 82 Artenvielfalt 79, 80, 82, 92 Aruanã s. Gabelbart Astrocaryum 205, 322 Atta s. Blattschneiderameise Aufsitzerpflanze s. Epiphyt Augenfleck 214, 313 Azolla 166–168 Azteca 115, 340, 341 B

Bactris 204 Bananengewächs 144, 208 Barbensalmler 224 Barrakuda-Salmler 226 Bartel 227–233 Basilisk 320 Streifenbasilisk 321 Bauhinia 106 Baumboa s. Hundskopf-Boa Baumfrosch 241, 242

Baumratte 97 Baumriese 83, 88, 95, 96, 104, 110, 111 Baumschicht, 104, 111 Baumstachler 333 Baumsteigerfrosch s. Pfeilgiftfrosch Baumsterblichkeit 83 Belém 12, 42–44, 200, 212 Beringstraße 45 Bertholletia 97, 100 Beutegreifer 215, 227, 338 Beuteschnapper 212, 217, 226 Bevölkerungswachstum 29, 33, 349–352 Bevölkerungszunahme 2 Biene 120 Prachtbiene 103 Biguascharbe 267, 269 Biomasse 92, 94, 95, 209, 317, 338, 343 Bionik 156 Bischofstangare 329 Bixa s. Lippenstiftbaum Bixi 66 orellana 50 Bixin 195 Blatthornkäfer 147 Blatthühnchen 261 Rotstirn-Blatthühnchen 261 Blattschneiderameise 104, 110, 110, 115, 339, 340 Blaualge 168 Blaustirnamazone s. Amazonenpapagei Blautangare 329 Bleicherden 92 Blühzyklus 89 Blütenkolben 147, 159, 160, 162, 175, 176 Blutholz 66 Blutsauger 226 Boa 252, 254–257 constrictor 255, 256 Königsboa 255, 256

Stichwortverzeichnis    359

Bodenzerstörung 352 Boi-Bumbá 40 Bora 34, 50, 51, 62 Borstenhaare 314, 315 Brakteum 134, 145, 195 Brandrodung 72, 92 Brasilholz-Baum 38 Brechnuss 69, 70 Brechwurz 84, 85, 183 Brettwurzel 97, 98 Brevis-Kanal 12, 44, 146 Brillenkaiman 51, 52, 249, 250, 252, 297 Bromelie 105, 172, 319 Brüllaffe 177, 309–311 Bruthöhle 271 Brutknospe 165 Brutpflege 214, 215, 221, 228, 239, 249, 251, 345 Brutschmarotzer 289 Buckelrind 77 Buçu-Palme 133, 134 Bulbus 105 Bullenameise, 104, 110, 342, 343 Bullenaugenmotte 313 Bullenhai 210 Buntbarsch 213 Flaggenbuntbarsch 215 Hechtcichlide 216–218 Heckels Buntbarsch 216, 217 Kammbuntbarsch 213, 214 Pfauenaugenbuntbarsch 214, 215 Teufelsbuntbarsch 215 Buriti 61 Bürstenschwanzratte 333 Buruti-Palme 50, 66, 132 Bussard 275 Fischbussard 277 Savannenbussard 275, 276 Schneckenweihe 277, 278 Wegebussard 275, 276

C

Caboclos 64, 71, 72, 75–77, 115, 120, 122, 168, 212, 213, 230, 278, 300, 302, 325, 351 Cabomba 150 Cacicus 290, 293 Campsiandra 118–120, 312 comosa 15 Camu-Camu 68, 69 Candirú s. Wels, Candirú Capybaras 300 carnivor 163, 212, 217, 224, 227, 238 Cashew 63, 72 Cashew-Baum 314 Cassava s. Maniok Cassia 128, 129, 202, 312 Cattleya 170 Cattleya-Orchidee 169 Cebu 77 Cebus 308 Cecropia 15, 19 Cecropie 104, 110, 304 Cecropien 113, 115 Cecropienbaum s. Ameisenbaum 341, 342 Ceratopteris 165 Chamäleon 321 Chonta 204, 205 Cichlidae 34 Clitoria 125, 126, 312 Cocoi-Reiher 264 Coffein 137, 192 Combretum 142, 143, 308 Couroupita s. Kanonenkugelbaum Crateva 129, 131 Cuiú-Cuiú s. Dornwels Cupuaçu 192, 193 Curare 70 Cyanobakterium 168 Cyclocephala 147, 154

360     Stichwortverzeichnis D

F

Darwin, Charles 303 Deckeltopfgewächs 116, 117, 186, 188, 189 Delfin 300, 301 Flussdelfin 300, 302 Delfin-Schule 303 Desano 50, 57–60 Detritus 225, 231 Detritusfresser 227 Dipladenia s. Odontadenia 143 Diversifikation 80 Diversität s. Artenvielfalt Dornwels 231 Dreifinger-Faultier 303

Falschfarben 90, 91 Fangblase 163, 164 Faultier 16, 63, 115, 300, 303–306 Dreifinger-Faultier 303 Feige 98, 106, 198 Feigenwespen 198 Fettflosse 219, 221 Feuerameise s. Azteca Ficus s. Feige 15, 52, 64, 197 Fieberkleegewächs 161 Finne 301, 303 Fisch 210–212 Fischadler 274 Fischbussard 277 Fischfauna 211, 350 Fischmarkt 212, 214, 219, 261 Flachwurzler 98 Flaggenbuntbarsch 215 Flanell-Motte 314 Fledermaus 97, 115, 120, 121, 123, 169, 186, 189, 198, 208 Fließgeschwindigkeit 10, 35 Fließrichtung 13 Flossenfresser 221 Flussaue 13 Flussdelfin 300, 302 Flussschleife 17 Fordlȃndia 202 Fortpflanzungsgemeinschaft 318 Frangipani-Baum 316 Frangipani-Sphynx-Falter 315, 316 Fransenschildkröte 258, 259 Frosch 240, 241, 245, 246 Baumfrosch 241, 242 Greiffrosch 244 Laubfrosch 241–243 Fucocumarin 125

E

Eichhornia 156–159, 261 crassipes 10, 121, 156, 157 Eidechse 246, 247 Eiffel, Gustave 30, 36, 37 Einehe 322 Eisvogel 271, 274 Amazonasfischer 272, 273 Grünfischer 272–274 Rotbrustfischer 271, 272 Eiszeit 209 Elektrozelle 236 Energieeinsparung 317 Epiphyt 39, 80, 97, 103, 104, 105, 110, 111, 168, 169, 172, 173, 176, 341 epiphytische Lebensweise 104, 106, 173–175, 197 Erdfresser 216 Erstbesiedler s. Pionierbaum Eschweilera 117, 118 Euglossa 103 Euterpe 98 Ewaipanoma 48, 49 Exogamie 56, 58

G

Gabelbart 233, 234 Gabelschwanztyrann 294, 295

Stichwortverzeichnis    361

Galeriewald 279 Galeriewälder 308 Geburtenrate 351 Gefälle 9 Geier 280 Gelbkopfgeier 283 Königsgeier 283 Neuweltgeier 280 Rabengeier 280, 281 Truthahngeier 282 Geierfalke 279 Gelbkopf-Karakara 279, 280 Gelbbrust-Ara 322 Gelbkopfgeier 283 Gelbkopf-Karakara 279, 280 Gelbrücken-Kazik 290, 292 Genipapo 54 Genipapo-Baum 54, 66, 67 Genom 3 Geophagen 216 Gezeiten 12 Giftstachel 342 Gladiator-Laubfrosch 244 Glattschnabel-Ani 290, 291 Gleitufer 17, 19 Glykosid 73, 141 Gold-Feige 197 Goldhäschen 97, 102, 133, 300, 334 Goldtrompete 139, 140, 316 Gondwana 8, 202 Gottesanbeterin 347, 348 Greiffrosch 244 Greifvogel 259, 274, 275, 277, 279 Großschnabel-Seeschwalbe 22, 260 Grundumsatz 317 Grünfischer 272–274 Guaraná 137, 138 Guaraní 174 Guaraní-Volk 137 Guave 63, 72 Gummi-Baron 36, 38, 200 Gummibaum 197 Gummi-Boom s. Kautschuk-Boom

Gustavia 116, 117 Guzmania 172–174 H

Haarnixengewächs 150 Haftwurzler 105 Halbparasit 171 Harnischwels 227 Haustier 52, 61, 63, 77, 255, 300, 306, 325, 338 Hechtcichlide 216–218 Hechtkraut 158, 159 Heckels Buntbarsch 216, 217 Heisteria 135, 136 Helikonie 88, 144, 145 Hellroter Ara 22, 322 hemiphytische Lebensweise 175 Herba passiflorae 180 Herrania 90, 193, 194 Heusenkraut 161, 162 Hevea s. Kautschukbaum 97, 202 Himmelsfalter s. Morphofalter Hoatzin 284, 286 Hochblatt 146, 148, 159, 160, 162, 173, 174, 195, 208 Hochwasser 17, 19, 21, 39, 125 Hochwasserzeit (Siehe auch Regenzeit) 11, 15, 16, 150 Höhlenbrüter 217 Honigtau 342 Hornfarn 165 Hornfarngewächs 165 Hornwehrvogel 286, 287 Huitoto 34, 50, 51, 53, 61 Hüllblatt 176 Hülsenfrüchtler 80, 118, 119, 125, 127, 128, 130, 202 Humboldt, Alexander von 70, 88, 92, 100, 103, 133, 139, 157, 161, 163, 219, 237, 247 Humus 46, 92, 93 Hundsgiftgewächs 139, 143

362     Stichwortverzeichnis

Hundskopf-Boa 256, 257 Hunds-Salmler 226, 227 Hysiboas s. Baumfrosch I

Igapó 15–17, 21, 119, 169, 246, 247, 322, 332 Igarapés 13, 44, 151, 226, 231, 245, 247, 251, 311 Imago 313 Indexboden 93 Inga 15, 127, 128, 312 Interferenz 311, 312 Ipé 184 Iquitos 11, 22, 29, 212, 308, 318, 346 Isoflavonoid 125 J

Jacana 261, 262 Jaguar 231 Jaraqui 37, 224 Jatropha 68 Jungtiere 222 K

Käfer 319 Kaiman 63, 231, 246, 247, 249–252, 254 Brillenkaiman 249, 250, 252, 297 Mohrenkaiman 252 Kakao 63, 90, 191, 192, 194 Kakaobaum 186, 190–193 Kalebassenbaum 63 Kammbuntbarsch 213, 214 Kanonenkugelbaum 186–188, 308 Kapok-Baum 96, 97, 104, 111, 338 falscher 123–125 Kappenreiher 264, 265, 297 Kapuzineraffe 102, 308, 309 Kartoffelstrauch 140, 141

Kaste 345 kauliflore Blüten 188, 191–193 Kauliflorie 90 Kautschuk 199, 202 Kautschukbaum 64, 97, 198, 200–202, 223, 224 Kautschuk-Boom 30, 35, 38, 42, 52 Kazike 77, 293 Kehllappen 321 Keimruhe 104, 110 Kein-Ehe 289 Kieselalgen 9 Kindelbildung 173 Klarwasser 26, 27, 41 Klarwasserfluss 26, 27, 41 Kletterpflanze 104, 104, 105, 175, 177, 178 Klimawandel 39, 349–351 Klimaxart 79, 104, 109 Klimaxbaum 100 Klimaxboden 45, 73, 92 Klimaxstadium 79, 80, 95 Knoblauchsbirne 129, 131 Knochenzüngler 233, 237 Koevolution 155, 160, 342 Kolibri, 104, 111, 143, 146, 147, 171, 172, 174, 196, 287, 288 Amazilie 287, 288 Kolonienbrüter 293 Kommentkampf 248 Königsboa 255, 256 Königsgeier 210, 283 Konkurrenzdruck 209 Kopfhaare ausreißen 54, 56 Kormoran 227, 267–270 Biguascharbe 267, 269 Krabbenreiher 265 Krähenstirnvogel, 104, 111, 292, 293 Krallenaffe 300, 330 Löwenäffchen 300 Zwergseidenäffchen 300 Krautschicht 83, 88, 104, 111 Kreuzblütler 129 Kreuzfahrtschiff 22

Stichwortverzeichnis    363

Krokodil 250–252 Kronenauswaschung 94 Kronendach 104, 104, 110, 110 Kuckuck 289 Ani 289 Glattschnabel-Ani 290, 291 Riesen-Ani 289, 290 Kuhreiher 264 Kulturfolger 280, 294 Kulturland 324 Kürbisgewächs 181 L

Landflucht 351 Langfaden 142, 308 Langfadengewächs 142 Langhaubenspecht 326 Lanzenrosette 174 Lapachol 186 Laterit 92, 93, 350 Laterit-Kliff 9, 10 Latex s. Milchsaft Latsole s. Klimaxboden Laubfrosch 241–243, 245 Laubschütten 90, 91 Laubstreu 94 Laubwechsel 89 Lauerjäger 230, 254, 255, 262, 347, 348 Lebenserwartung 352 Leguan 247–249 Leguminose s. Hülsenfrüchtler 106 Leticia 32, 33, 50, 212, 307, 325 Liane 80, 97, 104–106, 110, 111, 177 Linamarin 73 Linné, Carl von 139, 337 Lippenstiftbaum 50, 66, 194 Lotos-Effekt 166, 311 Löwenäffchen 300 Ludwigia 161, 163, 262 Luftwurzel 105, 106, 169, 175–177, 197, 198

M

Mäander 17 Macaxeira 75 Makifrosch 244 Malaria 157, 190, 200 Maloca 61, 62 Malpighiengewächs 177 Malvengewächs 121, 123, 190 Manatis 39 Manaus 11, 21, 34–36, 58, 71, 80, 146, 200, 210, 212, 225, 259, 308, 330–332 Mangrovenreiher 266, 268 Manicaria 133, 134 Maniok 54, 63, 72–75, 211 Macaxeira 75 Maniok-Blätter 75 Mantidae 348 Maracujá 180 Marajó 12 Marañon 7 Mari-Mari 128, 129 Marmorreiher 266 Marsilea 168 Masato 54 Maskentangare 328, 329 Mata-Mata s. Fransenschildkröte Maulbeerbaumgewächs 197 Maulbrüter 216, 234 Mauritia s. Mauritius-Palme 50, 61 Mauritius-Palme 132 Merian, Maria Sibylla 337 Mesosaurier 9 Micky-Maus-Strauch 135, 136 Milbe 17, 319 Milchsaft 137, 198, 199, 201, 316 Mimikry 87, 90, 214, 222, 312 Mimosengewächs 149 Mistel 171 Mivalgo 279 Mohrenkaiman 252 Montrichardia s. Sumpfcalla 104, 146, 147

364     Stichwortverzeichnis

Morpho 311 Morphofalter 311, 312 Mosaikpflanze 161, 162 Möwe 260 Mühlsteinsalmler s. Schwarzer Pacú Muirapiranga-Baum 66 Mündungstrichter 12, 42 Muschelblume s. Wassersalat Mykorrhiza 94, 95, 98, 104, 110, 350, 351 N

Nachtaffe 97, 331 Spix-Nachtaffe 331, 332 Nachtkerzengewächs 161, 163 Nachtreiher 265 Nachtsalmler 224, 225 Nachtschattengewächs 140, 141 Nachtschwalbe 297–299 Nagelbeerengewächs 135 Nährstoffangebot 212 Nährstoffkreislauf 94 Nahrungsangebot 209, 212, 246, 304, 317, 322 Nahrungskette 80, 81, 350 Nahrungskreislauf 211 Nahrungsnetz 13, 80, 103, 212 Nahrungsspezialist 306, 316 Nasenbär 300 Nashornkäfer 345, 346 Naturerbe 349 Naturschutz 353 Nauta 7, 11, 318 Nervengift 343 Neuweltgeier 280 Niederschlag 350 Niedrigwasser 10, 20, 39 Nomenklatur 3 Nordost-Passat 9 Novo Airão 332

O

Obidos 7, 12, 40 Ochsenfrosch 245, 246 Odontadenia 143, 144 Öhrchenfarn 165–167, 261 Offenbrüter 215 omnivorer Fisch 215, 216, 224 Opossum 256 Opportunist 275, 279, 280 Orchidee 103, 105, 169, 343 Orchideengewächs 169 Orchideen-Wein 177, 178 Orleanstrauch s. Lippenstiftbaum Oropendola s. Krähenstirnvogel Osteoglossum 233 Ouratea 135 Oxisol 45, 92 Ozeanschiff 21 P

Paarbindung 324 Pachira 121, 123 Pacú 37 Palmengewächs 132, 133, 204, 205 Palmenherz 204 Papagei 204, 259, 322, 323 Amazonenpapagei 322, 324 Sperlingspapagei 324, 325 Papaya 63 Papierrinde 64 Pará 41, 100 Paradiesapfel 63 Paradiesnuss 117 Paradiesnussbaum 187–189 Paranuss 117, 187, 189, 334 Paranuss-Baum 97, 100–103 Parintins 40, 189 Parkia 119–122 Passat 9 Passatwind 82, 351 Passiflora 178–180

Stichwortverzeichnis    365

Passionsblume 105, 178–180 Passionsblumengewächs 178 Paternostererbse 64 Paullinia 137–139 Pegel 11 Pelazon 53, 56 Pevas 51 Pfauenaugenbuntbarsch 214, 215 Pfauenaugenspinner 313 Pfeilgiftfrosch 7, 319 Pfeilgras 64 Pfirsich-Palme 204, 205 Pflanzengesellschaft 79 Philodendron 105, 175–177 ph-Wert 35, 46, 163 Phytosterol 193 Pião 68 Pilz 338–340, 344 Bodenpilz 95 Ständerpilz 85, 86 Pilzfaden 340 Pilzfadengeflecht s. Mykorrhiza Pilzhyphen 94 Pilzmyzel 94 Pionierart 104, 110, 128 Pionierbaum 113, 114, 123, 130, 304 Pioniergehölz 79, 81, 88, 113, 114, 119, 121, 125, 127, 130 Pionierpflanze 13, 205, 341 Pionierstadium 80 Piranha s. Salmler, Piranha Pirapitinga s. Scheibensalmler Pirarucu s. Arapaima Pistia s. Wassersalat Plankton 23 Podsole 92 Pontederiagewächs 156, 158 Potoo s. Tagschläfer Prachtbiene 103 Praia do Tupé 58 Prallufer 17–19 Primärwald 2, 63, 79, 140, 184, 349, 350

Pseudobombax 123 munguba 15 Pseudobulbe 169 Pseudosphynx 316 Psittacanthus 171 Psychotria s. Brechwurz Pupunha s. Pfirsich-Palme R

Rabengeier 259, 280, 281 Rahmapfel 63 Rangordnung 306, 309, 311 Rankpflanze 181 Raupe 312–316 Regenbogen-Boa 257 Regenwald s. Wald, Regenwald Regenzeit (Siehe auch Hochwasserzeit) 10, 19, 22, 89, 114, 117, 119, 123, 135, 150, 156, 183, 211, 212, 225, 318, 320 Reifestadium s. Klimaxstadium Reiher 262, 264, 266 Cocoi-Reiher 264 Kappenreiher 264, 265, 297 Krabbenreiher 265 Kuhreiher 264 Mangrovenreiher 266, 268 Marmorreiher 266 Nachtreiher 265 Schmuckreiher 263 Silberreiher 262, 263 Remineralisation 93 Reptilien 246, 247 Riemenblumengewächs 171 Riesen-Ani 289, 290 Riesen-Flussotter 39 Riesenotter 22 Riesen-Pacú s. Scheibensalmler Riesenstrelitzie 207, 208 Riesentukan 325, 326 Rio Ampiyacu 51 Rio Ariau 308

366     Stichwortverzeichnis

Rio Branco 23 Rio Madeira 23 Rio Napo 50 Rio Negro 11, 34–36, 39, 57, 58, 308, 331, 332 Rio Pará 12 Rio Solimões 11, 34, 35, 39, 52 Rio Tapajós 41, 202 Rio Tocantins 12 Rohgummi 199, 200 Rosa Flussdelfin s. Flussdelfin Rotbrustfischer 271, 272 Rötegewächs 195 Rotkopf-Karakara 279, 281, 291 Rotlehme 92 Rotstirn-Blatthühnchen 261 Ruderalfläche 149 Rüsselkäfer 204 Ruthenon 125 S

Säbelzahnsalmler 226 Sägefisch 210 Sägesalmler 219, 221–224 Saharastaub 9, 94, 95 Saki-Affe 7 Salmler 213, 217, 219 Barbensalmler 224 Barrakuda-Salmler 226 Hunds-Salmler 227 Nachtsalmler 224, 225 Piranha 219–222, 240 Säbelzahnsalmler 226 Sägesalmler 219, 221–224 Scheibensalmler 222 Schwarzer Pacú 199, 223 Silberdollar 224 Wolfssalmler 226 Salvinia 165–167, 261, 262 Samenpflanzen 5 Sandbank 19, 114

Santarém 12, 41, 202 Sapucaia s. Paradiesnussbaum Säugetier 299, 300 Saumfingerechse s. Anolis Savannenbussard 275, 276 Schamane 68 Schamblume 149, 150 Schamlosbaum 125 Schattenpflanze 87 Schaumnest 245 Scheibensalmler 222 Schienenechse 247 Schiffsverkehr 21 Schildaus 337 Schildkröte 34, 247, 301 Fransenschildkröte 258, 259 Wasserschildkröte 258 Schildlaus 342 Schlange 254, 255 Schlangenhalsvogel 270, 297 Schlauchpilz 202 Schmetterling 143, 178, 221, 311, 312, 314, 316 Schwärmer 316 Schmuckreiher 263 Schneckenweihe 277, 278 Schopfhuhn 284, 286 Schwarmfisch 217 Schwarzer Pacú 199, 223 Schwarzwasser 15, 24–26, 34, 35, 125, 135, 137, 150 Schwarzwasserfluss 24, 26, 35, 137 Schwarzwassersee 135 Schwebstoff 23 Schwefelmaskentyrann 294, 295 Schwefeltyrann s. Schwefelmaskentyrann Schwimmblase 219, 238 Schwimmblatt-Farn 164 Schwimmblattinsel 10 Schwimmblattpflanze 23, 150, 151, 151, 159, 161, 164, 212, 241

Stichwortverzeichnis    367

Schwimmblattwiese 241 Schwimmfarn 165, 166 Schwimmfarngewächs 165 Schwimmgraswiese 150 Sediment 9, 12, 17, 19, 23, 27 Sedimentgestein 9 Seerosengewächs, 151 Seeschwalbe 260 Großschnabel-Seeschwalbe 22, 260 Segelschildwels 227, 228 Seifenbaumgewächs 137 Sekundärstamm 106 Sekundärwald 81, 88, 127, 128, 130, 143, 144, 308, 329 Selen 189 Senna 202 Sexualdimorphismus 213 shifting cultivation 63–65 Signalfälschung s. Mimikry Signalfarbe 319 Signalfärbung 316 Silberreiher 262, 263 Solanin 141 Solanum 140, 141 Somatolyse, 104, 111, 215, 266, 287 Sonarsystem 302 Sotalia 302, 303 Spatha s. Hochblatt Specht 326, 327 Langhaubenspecht 326 Strohspecht 327, 328 Zimtbindenspecht 326, 327 Speisefisch 213, 214, 219, 223–225, 228, 230, 234, 240, 302, 350 Sperlingspapagei 63, 324, 325 Sperlingsvogel 294, 328 Spix-Nachtaffe 331, 332 Spreizklimmer 105 sprossbürtige Palma 204 Stachelpalme s. Pfirsich-Palme Stachelratte 333 Stachelschweinverwandte 332, 334 Stammbasis 98, 99

Stammblütigkeit 89, 186 Ständerpilz 85, 86 Stärling 290 Gelbrücken-Kazik 290, 292 Krähenstirnvogel 292, 293 Stechrochen 234, 235 Steilufer 9, 19 Stelzwurzel 98, 99 Stichschmerz-Index 343 Stinkvogel 284, 286 Strauchschicht 83, 104, 111 Strelitzie 207, 208 Strelitziengewächs 207, 208 Stresssignal 95 Strohspecht 327, 328 Strychnin 69, 70 Substratlaicher 214 sukkulente Blätter 172 Sukzession 79, 88 Sukzessionsstadium 80 Sumpfcalla 104, 146–148, 175, 284, 285 Sumpftyrann 296 Surubím 37 Süßkartoffel 63, 72, 211 Süßwasserdelfin 210 Süßwasserrochen 235 Symbiose 94, 115, 119, 125, 168, 198, 304, 339, 340 T

Tabatinga 32, 33 Tabebuia 184, 185 Tagschläfer 297 Tamarin 143, 300, 330, 331 Zweifarbentamarin 330 Tambaqui s. Schwarzer Pacú 37 Tangare 84, 328 Blautangare 329 Maskentangare 328, 329 Tapetum lucidum 251 Tapioka s. Maniok

368     Stichwortverzeichnis

Tapir 300 Tarantel s. Vogelspinne Taro 63 Tasthügel 250 Tattoo 67 Termite, 104, 110, 306, 317, 327, 328, 343–345 Terpen 81 Terra-Firme 15, 17, 21, 49, 66, 100, 183, 184, 190, 193, 198, 202, 204, 205, 207, 321, 322, 332, 333 Terra-Preta 46, 48 Terrarium 320 Teufelsbuntbarsch 215 Theobroma s. Kakaobaum Theobromin 192 Ticuna 50, 52, 54, 56, 57 Tiger-Spatelwels 230 Tillandsia 172, 173 Tipiti 73, 74 Toco s. Riesentukan Todeszone 17 Totenkopfaffe 51, 52, 306–308 Totholz 344 Toxiferin 70 Tragblatt 134, 145 Träufelspitze 104, 110, 139, 177, 196, 198, 199, 203 Trichtermündung 12 Trockenzeit 19, 41, 89, 113, 211, 218 Trompetenbaum 184, 185 Trompetenbaumgewächs 184 Trump Caterpillar 316 Truthahngeier 282 Tucandera s. Bullenameise Tucumã-Palme 205, 206, 322 Tucunaré 37, 40 Tucupi 73 Tucuxi-Delfin 302, 303 Tuiparasittich s. Sperlingspapagei Tukan 88, 210, 291, 294, 325, 326 Riesentukan 325, 326 Tupi 58, 128, 330, 343

Tupi-Guaroni 41 Tyrannenvogel 294 Gabelschwanztyrann 294, 295 Schwefelmaskentyrann 294, 295 Sumpftyrann 296 U

Ucayali 7 Überfischung 219 Überlebensstrategie 82 Überschwemmungswald s. Igapó Überschwemmungswiese 13, 14, 134, 139, 151, 152, 156, 161, 226, 228, 347 Ufer Gleitufer 17, 19 Prallufer 17–19 Steilufer 9, 19 Ufersaum 150 Umweltzerstörung 352 Ur-Amazonas 8–10 Urbevölkerung 46, 47, 49, 50, 61, 63, 69, 71, 199 Ureinwohner 5, 45, 66, 300 Urkontinent 7, 8 Urucú s. Lippenstiftbaum Urutau-Tagschläfer 298 Urwald s. Wald, Urwald Urwald-Gurke 181 Urwaldriese s. Baumriese Utricularia s. Wasserschlauch V

Várzea s. Überschwemmungswiese Vendeval 52, 56 Vereinte Nationen 349, 353 Ver-o-peso-Markt 42, 43 Victoria amazonica s. Amazonas-Riesenseerose Visconsin-Eiszeit 45 Vogel 259

Stichwortverzeichnis    369

Vogelblume 146 Vogelspinne 97, 335–337 Volk indigenes 5 W

Wald Galeriewald 279 Primärwald 2, 63, 79, 140, 184, 349, 350 Regenwald 10, 15, 17, 21, 39, 64, 77, 79, 81, 82, 89, 95, 104, 104, 109–111, 183, 188, 317, 330–332, 334, 337–339, 343, 344, 350, 351 Sekundärwald 81, 88, 127, 128, 130, 143, 144, 308, 329 Überschwemmungswald s. Igapó Urwald 61, 64, 79, 88, 89, 103, 104, 109, 114, 209, 340, 343, 349, 350 Urwaldboden 83, 84, 92, 104, 110, 317, 340, 350, 351 Waldabholzung s. Abholzung Waldhund 300 Waldzerstörung 349, 350, 352 Warmphase 351 Warntracht s. Mimikry Wasseraffe s. Gabelbart Wasserhyazinthe 10, 156, 157 Wasserkastanie 121–123 Wasserklee 168 Wasser-Mimose 150 Wasserpflanze 23, 150, 151, 157, 161, 261, 286 Wassersalat 159, 160, 162, 261 Wasserschildkröte 258 Wasserschlauch 151, 163, 164 Wasserschnecke 23 Wasserschwein 300 Wasserverschmutzung 352 Weber’scher Apparat 219

Wegebussard 275, 276 Wegener, Alfred 202, 203 Wehrvogel 286, 287 Weißschulter-Tamarin 39 Weißstirn-Kapuzineraffe 143 Weißwasser 23, 34, 125, 146, 150 Weißwasserfluss 23, 25, 35, 41, 113, 116–118, 127, 133, 135, 144 Wels 213, 226, 227, 231, 268, 269 Antennenwels 229, 230 Candirú 226, 232, 233 Dornwels 231 Harnischwels 227 Segelschildwels 227, 228 Tiger-Spatelwels 230 Weltbevölkerung 352 Weltgipfel 349 Wespennest 291 Wickelbär 300 Wiederkäuer 304 Wirbeltiere 5 Wirtsfisch 232 Wolfsmilchgewächs 198 Wolfssalmler 226 Wollaffe 300 Woll-Motte 314, 315 Wurfelfilz 94 Würgefeige 106–109 Würgeschlange 254, 255 Wurzel 98 Brettwurzel 97, 98 Luftwurzel 105, 106 sprossbrütige 98, 99 Stelzwurzel 98, 99 Wurzelfilz 98 Wurzelkletterer 105 Y

Yagua 34, 50–52, 61, 62, 194, 195 Yams 63 Yuka s. Maniok

370     Stichwortverzeichnis Z

Zigeunervogel s. Schopfhuhn Zikade 11, 88 Zimtbindenspecht 326, 327

Zitteraal 235–237 Zünsler-Schmetterling 304 Zweifarbentamarin 330 Zwergseidenäffchen 300