Familien in verschiedenen Kulturen 9783110511482, 9783828245594

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Familien in verschiedenen Kulturen
 9783110511482, 9783828245594

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Familien in verschiedenen Kulturen
I. OSTASIEN
Der Einfluß von sozialen Netzwerken auf die Partnerwahl und bildungshomogame Eheschließungen in Taiwan: Eine Analyse von Heiratsvermittlern
Familie und Eltern-Kind-Beziehungen in Japan
Familienzufriedenheit: Ein Vergleich der Bedeutung von Familienstruktur, innerfamilialer Rollenverteilung und elterlicher Bildung in Ostasien und Deutschland
II. AFRIKA
Der Beginn des Fertilitätsübergangs im subsaharischen Afrika. Einige Antworten und viele Fragen
Die Reziprozität der Ehepartner und die Vater-Kind-Beziehung bei den Aka-Pygmäen
Mütterliches Sozialisationsverhalten in Kamerun: Kontinuität und Veränderung
III. MITTELMEER
Familie und Sozialisation in der Türkei
Sozialer Wandel, Migration und Familienbildung bei türkischen Frauen
Die griechische Familie
IV. OSTEUROPA
Die Wahl des Zeitpunktes von Heirat und Geburt von Kindern in der ehemaligen Sowjetunion
Arbeitserfahrungen, Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien
Transgenerationale Kontakte in Rußland und Deutschland: Ist Babuschka anders als Großmutter?
V. MIGRANTEN UND MINDERHEITEN
Identitätswahrung und eigenethnische Familie, Schule und Nachbarschaft: Der kanadische Kontext unterschiedlicher Migrantengruppen
Wirksamkeit familialer Umwelten türkischer Migranten in Deutschland
Intergenerative Konflikte und gesundheitliches Wohlbefinden in türkischen Familien. Ein interkultureller und interkontextueller Vergleich
Autorenverzeichnis

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Familien in verschiedenen Kulturen

Der Mensch als soziales und personales Wesen Herausgegeben von Lothar Krappmann, Klaus A. Schneewind, Laszlo A. Vaskovics, Gerhard Wurzbacher

Band 13

Familien in verschiedenen Kulturen Herausgegeben von

Bernhard Nauck und Ute Schönpflug 41 Abbildungen • 86 Tabellen

«

Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1997

Professor Dr. phil. habil. Bernhard Nauck Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie I Technische Universität Chemnitz D-09107 Chemnitz PD Dr. M.S. Ute Schönpflug, Dipl.-Psych. Europa-Universität Viadrina Fakultät für Kulturwissenschaften Große Scharrnstr. 59 D-15230 Frankfurt/Oder

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Familien in verschiedenen Kulturen / hrsg. von Bernhard Nauck und Ute Schönpflug. - Stand: 19. August 1997. - Stuttgart: Enke, 1997 (Der Mensch als soziales und personales Wesen ; Bd. 13) ISBN 3-432-29721-1

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1997 Ferdinand Enke Verlag, P.O.Box 3003 66, D-70443 Stuttgart Printed in Germany Druck: Gruner Druck GmbH, D-91058 Erlangen

Vorwort Interkulturelle Vergleiche sind in der deutschsprachigen Familienforschung nicht eben häufig anzutreffen und haben hierzulande keine Forschungstradition stiften können, obwohl ihre Bedeutung für die familiensoziologische Theoriebildung stets betont und ihr reichhaltiges Potential für die empirische Überprüfung von familienbezogenen Aussagen unbestritten ist. Der vorliegende Band will dazu beitragen, die fachliche Diskussion zur vergleichenden Familienforschung zu beleben und Studierende mit Fragestellungen, Methoden und empirischen Befunden der interkulturell vergleichenden Familienforschung vertraut zu machen. Dies könnte zweierlei bedeuten: - Erstens könnte die längst überfallige Belebung der kulturvergleichenden Forschung in Deutschland dazu beitragen, die Reichweite generalisierender Aussagen in der Familienforschung einer sehr viel strengeren Überprüfung zu unterziehen, mindestens aber ein stärkeres Bewußtsein für die Kontextgebundenheit vieler familienbezogener Aussagen hervorrufen; Eine solche methodische Nutzung des interkulturellen Vergleichs, die Varianz von Untersuchungsanordnungen zu maximieren, hätte allerdings neben einer Veränderung der häufig am Provinzialismus orientierten Forschungsmittelvergabe auch die Einrichtung von internationalen Forschungskooperationen zur Voraussetzung. - Zweitens werden wissenschaftliche Fragestellungen, die bislang üblicherweise im Kontext interkultureller Vergleiche abgehandelt worden sind, zunehmend auch im Zusammenhang mit sozial-kulturellen Differenzierungsprozessen entwickelter Gegenwartsgesellschaften thematisiert. Dadurch gewinnt die Entwicklung von Kompetenzen aus dem Kulturvergleich und die Überprüfung von sozialwissenschaftlichen Routineinstrumenten an Dringlichkeit. Entsprechend sollte ein intensivierter sozialwissenschaftlicher Diskurs der leidigen Praxis entgegenwirken, kulturelle Differenzierungen nach Möglichkeit aus Untersuchungen auszublenden, indem z.B. sozialwissenschaftliche Umfragen aus 'pragmatischen', forschungsadministrativen Gründen auf die (deutsche) Bevölkerungsmajorität begrenzt werden, statt kulturell heterogene Minoritäten einzubeziehen und sie als sinnfällige methodische Herausforderung der Sozialwissenschaften zu betrachten, die sich aus den Folgen gesellschaftlicher Differenzierung zwangsläufig ergibt. Diese wenigen Überlegungen machen deutlich, daß es vielleicht weniger der Reiz des Exotischen ist, der die Auseinandersetzung mit interkulturell vergleichenden Familienstudien zur lohnenden Aufgabe macht, sondern vielmehr die damit unmittelbar verbundenen Herausforderungen für die theoretischen und methodischen Grundlagen der Sozialwissenschaften. Die Konzeption dieses Sammelbandes versucht seinen Zielsetzungen dadurch zu entsprechen, daß ein möglichst breites Spektrum aktueller interkulturell vergleichender Familienforschung aus verschiedenen disziplinaren Zugängen repräsentiert wird; entsprechend kommen in den Beiträgen neben Soziologen und Psychologen auch Vertreter aus Ethnologie, Ökonomie, Erziehungswissenschaft und Demographie zu Wort. Weiterhin sind in diesem Sammelband sowohl Arbeiten versammelt, die von Wissenschaftlern "aus" den jeweiligen Kulturregionen stammen, als auch von solchen, die "über" die jeweilige Region geforscht haben, wodurch interkulturelle Forschungskontexte sichtbar werden sollen. Allen Beiträgen gemeinsam ist, daß

es sich um empirische Analysen handelt, die entweder als Originaluntersuchungen oder als zusammenfassende Darstellungen empirische Befunde zur Familienstruktur in der jeweiligen Kultur diskutieren, wobei neben kulturspezifischen auch kulturvergleichende Studien einbezogen worden sind. Angesichts der kulturellen Vielfalt familiärer Lebensformen konnte es selbstverständlich nicht das Ziel dieses Bandes sein, Kulturkreise vollständig zu repräsentieren. Vielmehr war es notwendig, exemplarisch vorzugehen und großräumig repräsentativen Kulturmustern den Vorrang einzuräumen, d.h. spezialisierte Studien ethnographischer Art über segmentäre Stammeskulturen blieben unberücksichtigt. Aufgrund systematischer Überlegungen und angesichts der Verfügbarkeit entsprechender Studien konnten Arbeiten aus Ostasien, Zentralafrika, dem Mittelmeerraum und Osteuropa berücksichtigt werden. Ein abschließendes Kapitel thematisiert 'Familien in verschiedenen Kulturen' unter einem anderen Blickwinkel; es beschäftigt sich nämlich mit Familien, die sich selbst anderen Kulturen aussetzen, d.h. mit Migrantenfamilien. Die Anregung zu diesem Band haben die Herausgeber der Reihe "Der Mensch als soziales und personales Wesen", K. A. Schneewind, L. Vaskovics, L. Krappmann und G. Wurzbacher gegeben. Ihnen danken wir für ihre Unterstützung und ihr Verständnis für die Besonderheiten dieses Vorhabens während der gesamten Zeit der Arbeit an diesem Band. Nicht nur wegen des vergleichsweise hohen Koordinierungsaufwandes, der bei internationalen Kooperationsprojekten dieser Art unvermeidlich ist, waren immer wieder Verzögerungen bis zur Fertigstellung eingetreten, die die Geduld aller Beteiligten stark gefordert hat. Als Herausgeber dieses Bandes haben wir allen, insbesondere aber den Autorinnen und Autoren aus den 'anderen' Kulturen, für ihre Bereitschaft zu danken, in kooperativer und konstruktiver Weise an dem notwendigen Verständigungsprozeß über Ländergrenzen und Wissenschaftstraditionen hinweg mitgewirkt und einen Beitrag für diesen Band verfaßt zu haben. Weiterhin danken wir Heike Diefenbach utid Wolfgang Meyer, alle TU Chemnitz, für ihre Mitarbeit bei der Übertragung von englischsprachigen Originalarbeiten. Frau Rita Krätzer, TU Chemnitz, danken wir für ihren bewährten Einsatz und ihre gewohnte Sorgfalt bei der technischen Fertigstellung des Bandes.

Chemnitz und Berlin, im Juni 1997

Bernhard Nauck Ute Schönpflug

Inhalt

1.

Bernhard Nauck und Ute Schönpflug Familien in verschiedenen Kulturen

1

1.

Ostasien

2.

Chin-Chun Yi und Ray-May Hsiung Der Einfluß von sozialen Netzwerken auf die Partnerwahl und bildungshomogame Eheschließungen in Taiwan: Eine Analyse von Heiratsvermittlern

25

Gisela Trommsdorff Familie und Eltern-Kind-Beziehungen in Japan

44

Klaus Boehnke und Susanne Rippl Familienzufriedenheit: Ein Vergleich der Bedeutung von Familienstruktur, innerfamilialer Rollenverteilung und elterlicher Bildung in Ostasien und Deutschland

64

3.

4.

II. Afrika

5.

Ron Lesthaeghe und Carole Jolly Der Beginn des Fertilitätsübergangs im subsaharischen Afrika. Einige Antworten und viele Fragen

85

6.

7.

Barry S. Hewlett Die Reziprozität der Ehepartner und die Vater-KindBeziehung bei den Aka-Pygmäen

105

Therese M. Tchombe Mütterliches Sozialisationsverhalten in Kamerun: Kontinuität und Veränderung

125

III. Mittelmeer

8.

9.

Cigdem Kagitcibasi und Diane Sunar Familie und Sozialisation in der Türkei

145

Bernhard Nauck Sozialer Wandel, Migration und Familienbildung bei türkischen Frauen

162

10. James Georgas Die griechische Familie

200

IV. Osteuropa

11. Mikk Titma und Ellu Saar Die Wahl des Zeitpunktes von Heirat und Geburt von Kindern in der ehemaligen Sowjetunion

217

12. Ute Schönpflug und Grazyna Wieczorkowska Arbeitserfahrungen, Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

248

13. Tatjana Meischner Transgenerationale Kontakte in Rußland und Deutschland: Ist Babuschka anders als Großmutter?

265

V. Migranten und Minderheiten

14. Wsevolod W. Isajiw und Tomoko Makabe Identitätswahrung und eigenethnische Familie, Schule und Nachbarschaft: Der kanadische Kontext unterschiedlicher Migrantengruppen

285

15. Olaf Morgenroth und Hans Merkens Wirksamkeit familialer Umwelten türkischer Migranten in Deutschland

303

16. Bernhard Nauck Intergenerative Konflikte und gesundheitliches Wohlbefinden in türkischen Familien. Ein interkultureller und interkontextueller Vergleich

324

Autorenverzeichnis

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Familien in verschiedenen Kulturen Bernhard Nauck und Ute Schönpflug

Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Kultur im Kontext xenologischer Analysen Kulturvergleich als Gesellschaftsvergleich Kulturvergleich auf der Ebene von Kulturkreisen, Nationalkulturen und ethnischen Subkulturen Kultur in der stmktur-funktionalistischen Familiensoziologie Beispiele struktur-funktionalistischer Kulturvergleiche in der Familienforschung Kulturvergleich, Funktionalismus und erkenntnistheoretischer Relativismus Familie und Persönlichkeit im funktionalistischen Kulturvergleich Kultur im Mehrebenenmodell familiensoziologischer Forschung Literatur

In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise 'Kultur' Eingang in die familienwissenschaftliche Diskussion gefunden hat und welche Probleme und Potentiale für die familiensoziologische Theoriebildung und Forschung damit verbunden sind. Mit einer solchen problemorientierten Einführung sollen notwendige Verbindungslinien zwischen den durchweg empirisch angelegten Einzelanalysen dieses Bandes und allgemeinen theoretischen Fragestellungen in den Sozialwissenschaften hergestellt werden, die zugleich auch eine Einordnung dieser Beiträge ermöglichen. Der Begriff 'Kultur' hat nämlich auf sehr unterschiedliche Weise Eingang in die familientheoretische Literatur gefunden. Dies hat sicher einerseits die begriffliche Schärfe des Konzepts weiter vermindert, andererseits indiziert der wechselnde Sprachgebrauch aber auch fundamentale theoretische Probleme, die nicht nur die familienwissenschaftliche Forschung von Anfang an begleitet haben, vielmehr spiegelt sich darin die Vielfältigkeit 'kulturalistischer' Konzepte in den Sozialwissenschaften. Es ist deshalb einleitend notwendig, auf einige Implikationen dieses unterschiedlichen Sprachgebrauchs aufmerksam zu machen.

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Kultur im Kontext xenologischer Analysen

Mit der Verwendung kulturalistischer Konzepte sieht sich die familienwissenschaftliche Diskussion spätestens immer dann konfrontiert, wenn bei der Interpretation von Befunden nicht mehr auf alltagsweltliche Primärerfahrungen rekurriert werden kann, wie dies typischerweise bei Untersuchungen über Familien mit größerer räumlicher oder historischer Distanz zur eigenen Lebenswelt der Fall ist. Häufig stellt sich diese Situation bereits dann ein, wenn trotz fehlender räumlicher und zeitlicher Distanz infolge großer gesellschaftlicher Umbrüche oder hoher Binnenkomplexität von Gesellschaften nur mehr eine partielle Synchronisierung von lebensweltlicher Erfahrung und Reichweite empirischer Befunde gegeben ist, wie dies z.B. bei Befunden zu Familien 'anderer' ethnischer Zugehörigkeit oder sozialstruktureller Plazierung der Fall sein mag. 'Kultur' wird also routinemäßig als relevantes Erklärungsmoment in Betracht gezogen, wenn familiäre Lebensformen als fremd, ungewöhnlich, andersartig, exotisch,

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B. Nauck & U. Schönpflug

unalltäglich wahrgenommen werden, wohingegen dieses Moment typischerweise immer dann fehlt, wenn alltagsweltliche Referenz gegeben ist. Diese xenologische Perspektive dominiert nicht nur den öffentlichen Diskurs, sie ist auch innerhalb des Wissenschaftssystems weit verbreitet und gehört nicht selten sogar zum unreflektierten Selbstverständnis entsprechender auf kulturvergleichende Phänomene spezialisierter Fachorganisationen. Wie eine Durchsicht einschlägiger Inhaltsverzeichnisse schnell zeigt, ist es durchaus möglich, auf einem Kongreß für Cross-Cultural Psychology einen Vortrag oder im Journal for Comparative Family Studies einen Beitrag über eine monokulturelle Untersuchung zu Familien in der Türkei, Pakistan oder Nigeria zu plazieren, wohingegen ein strukturell identischer Beitrag über z.B. englische Familien eher selten zu finden ist und wohl auf Befremden stoßen würde. Dieses Verhalten ist nur vor dem Hintergrund verständlich, daß die 'Differenz' zu Familien westlicher Industriegesellschaften als alltagsweltlicher Erfahrungshintergrund der Majorität der entsprechenden scientific Community das wesentliche Entscheidungskriterium bildet und damit die Beschäftigung mit Familien aus anderen Kulturen per se als ein Beitrag zur vergleichenden Familienforschung betrachtet wird (Lee 1987: 60) . In diesem Sinne ist 'Kultur' zunächst nichts anderes als eine undifferenzierte Sammelbezeichnung, unter die umstandslos alle möglichen sozialen Gebilde, materiellen Gegebenheiten, 'Mentalitäten' und Verhaltensweisen subsumiert werden, d.h. es handelt sich um eine Äquivokation von "Kultur" und "Gesellschaft". Eine so verstandene kulturbezogene Familiensoziologie wäre entsprechend eine Sammelbezeichnung für alle möglichen Untersuchungen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestünde, daß sie sich etwa - in diesem Falle - auf nicht-deutsche (nicht-bildungsbürgerliche Mittelschicht-)Familien beziehen. Selbstverständlich haben auch solch xenologisch motivierten Vergleiche eine wichtige aufklärerische Funktion im öffentlichen Diskurs, tragen sie doch wesentlich dazu bei, das 'Eigene' durch die Erfahrung des 'Fremden' überhaupt erst ins Bewußtsein zu rücken und dadurch der 'kulturellen Selbstverständlichkeit' zu entreißen. Auch in der familiensoziologischen Diskussion sind solche Verweise auf 'andere' familiäre Lebensformen von großer Bedeutung, wenn sie die impliziten (häufig genug: normativen) Prämissen familienwissenschaftlicher Forschung bewußt machen und die Kontextgebundenheit vieler empirischer Regelmäßigkeiten und Theoreme aufdecken. So kann bereits der beispielhafte Verweis auf Familien- und Verwandtschaftssysteme in anderen Gesellschaften/Kulturen/Regionen außerordentlich anregend auf eine explizite und um vollständige Erklärungen bemühte Familiensoziologie wirken: Kulturanthropologische und kulturhistorisch-vergleichende Darstellungen bieten einen reichen Fundus, sich die kulturelle Relativität der eigenen Lebenswelt zu vergegenwärtigen (Harris 1989; Goody 1990).

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Kulturvergleich als Gesellschaftsvergleich

Die Tendenz, 'Kultur' als Sammelbezeichnung für die Klassifikation von Gesellschaften zu verwenden, hat auch die generelle methodologische Diskussion der klassischen Kulturanthropologie und der kulturvergleichenden Psychologie geprägt. Hierbei hat stets das Interesse im Vordergrund gestanden, 'cultural units' voneinander abzugrenzen, um damit eine Grundlage für die Definition von sampling units zu gewinnen. Murdock (1953) hat vorgeschlagen, "to define a culture as including all local cultural variants exhibited by communities within a particular geographical area which speak mutually intelligible languages and have essentially similiar forms of economic adjustment". Seine Vorschläge sind von der Vorstellung geprägt,

Familien in verschiedenen Kulturen

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man könne Kulturen in Analogie zu biologischen Taxonomien klassifizieren, und er übernimmt bei seiner Konstruktion von Kulturtypen (culture types) sowohl deren phylogenetisch fundierte hierarchische Klassifikation als auch deren Konzept lokaler Varietäten. Ein Kulturtyp ist "a single unquestionably distinctive culture or a group of cultures which differ from one another to a degree not significantly greater than the local variations to be expected in the culture of any homogeneous society of substantial geographic extent" (Murdoch, Ford, Hudson, Kennedy, Simmons & Whiting 1961: 249). Murdocks ethnographischer Atlas unterteilt die Welt in sechs Kulturregionen (Afrika, Mittelmeerraum, Eurasien, Pazifik, Nordamerika, Südamerika), die wiederum in Kulturen unterteilt werden, wobei wichtigstes Differenzierungskriterium die Zeitspanne ist, seitdem eine sprachliche Ausdifferenzierung stattgefunden hat. Schwartz (1994) hat ähnlich wie Hofstede (1980) versucht, eine Einteilung der Weltkulturkreise nach einem Wertesystem vorzunehmen. Schwartz wertete 87 Stichproben aus 41 ethnischen und Kulturgruppen in 38 Nationen mit Hilfe des multidimensionalen Skalierungsverfahrens der Smallest Space Analysis (SSA) aus. Sieben Wertedimensionen erwiesen sich als gute Diskriminatoren zwischen Kulturkreisen. Diese Wertedimensionen ergaben sich aus 45 Einzelwerten: (1) Konservativismus; (2) intellektuelle Autonomie; (3) affektive Autonomie; (4) Macht/Hierarchie; (5) Meisterschaft; (6) Egalitäre Einstellung; (7) Harmoniebestreben. Nach diesen sieben Dimensionen ließen sich die 41 ethnischen und Kulturgruppen zu Kulturkreisen zusammenfassen: In der Konservativismusregion der SSA sammeln sich vorwiegend asiatische und arabische Länder, aber auch Slowenien; in der intellektuellen Selbstbestimmungsregion westeuropäische Länder, Slowenien und Japan; in der affektiven Autonomieregion europäische Länder, aber auch Zimbabwe und Thailand; in der Machthierarchieregion asiatische Länder und die Türkei; in der Meisterschaftregion asiatische Länder, USA, Griechenland, Mexiko und Zimbabwe; in der Egalitarismusregion europäische Länder vor USA; in der Harmonieregion süd- und osteuropäische Länder. Um kulturelle Homogenität zu gewährleisten, hat Whiting (1968: 702) weitergehend festgestellt, "that for cross-cultural research involving assumptions concerning the relations between psychological process and culture, the homogeneous community is the most appropriate organized culture-bearing unit". Er sieht in einer solchen taxonomischen Klassifikation von Kulturtypen zumindest eine brauchbare Heuristik fur die Auswahl von (stratifizierten) sampling units inkulturvergleichenden Studien und für die Evaluation des interkulturellen Bewährungsgrades vergleichender Studien, wobei seine Forschungsstrategie darin besteht, Hypothesen interkulturell vergleichend in sets von mehreren, voneinander unbeeinflußten units verschiedener Kulturtypen zu testen: "If the magnitude and direction of the functional relationship being investigated is reasonably comparable for each of these subtests, it is unlikely that it can be attributed to some single accident of history" {Whiting 1968: 707). Für eine Vielzahl von Untersuchungszwecken mag eine solche typologische Klassifikation von Gesamtgesellschaften hinsichtlich ihrer kulturellen Nähe zwar ausreichend sein, sie ist jedoch in ihrem Bestreben, "voneinander unabhängige" Kulturen zu identifizieren, an die Vorstellung gebunden, daß kulturelle Homogenität eine unbezweifelte Eigenschaft von Gesellschaften ist. Die vorgeschlagenen Verfahren gehen sogar so weit, nur solche units zu selektieren, die möglichst 'rein' und unbeeinflußt von Nachbarkulturen sind - ganz in Analogie zu den Praktiken, die z.B. zur Hinterlegung von Belegmaterial für die Einordnung neuer Spezies der von menschlichen Eingriffen unbeeinflußten 'Natur' in die Taxonomie der klassischen Botanik Routine sind. Mag diese konservierende Verfahrensweise in der Botanik ihre Berechtigung haben, weil der wechselseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Spezies durch

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B. Nauck & U. Schönpflug

die Möglichkeiten der Befruchtung enge Grenzen gesetzt sind, so zeigen sich daran die Grenzen einer analogen Übertragung auf die Klassifikation von Kulturen, weil solche Grenzen in der wechselseitigen Beeinflussung von menschlichen Kulturen nicht stillschweigend zur Voraussetzung gemacht und alle möglichen Formen von 'Hybridisierungen' denkbar sind. In jedem Falle wird man davon ausgehen müssen, daß mit einer solchen Konzeption (rascher) sozial-kultureller Wandel weder erfaßt noch in Rechnung gestellt werden kann, und die darauf beruhende sozialwissenschaftliche Praxis eine stark konservierende und die kulturelle Differenz betonende Tendenz innehat.

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Kulturvergleich auf der Ebene von Kulturkreisen, Nationalkulturen und ethnischen Subkulturen

Von solchen holistisch angelegten Herangehensweisen sind zunächst jene zu unterscheiden, in denen 'Kultur' nicht als 'catch all'-Begriff, sondern als spezifisches Unterscheidungsmerkmal eingeführt wird. Deutlich geworden ist eine solche Bestrebung bei der methodischen Differenzierung von international vergleichender ("cross-national"), gesellschaftsvergleichender ("cross-societal") und kulturvergleichender ("cross-cultural") Forschung, wie sie insbesondere von Rokkan (1968, 1970, 1980) vorgeschlagen worden ist. Die kulturvergleichende Familienforschung wird dabei von der international-vergleichenden und der gesellschaftsvergleichenden Forschung dadurch abgehoben, daß die letzteren auch Vergleiche von Familienstrukturen aus mehreren Gesellschaften beinhalten können, die "innerhalb eines Kulturkreises" bestehen (Boh 1989), wobei allerdings selten Versuche unternommen werden, systematisch Gesellschaften, Nationen und Kulturen voneinander zu unterscheiden. Auffallig ist vielmehr, daß sowohl holistisch angelegte Ansätze als auch die methodischen Differenzierungen im Gefolge von Rokkan auf eine nähere Bestimmung dessen, was unter "Kultur" zu verstehen ist, verzichten. Zumeist läuft der Sprachgebrauch in diesem Kontext darauf hinaus, den Begriff der kulturvergleichenden Familienforschung pragmatisch für solche Untersuchungen zu reservieren, in denen Familien aus Gesellschaften mit großer "kultureller Distanz" éinbezogen werden, wobei die Übergänge fließend und die Anwendung der Begriffe entsprechend variabel sind. Die Begriffssystematik von Rokkan ist für die vergleichende Analyse von sozialwissenschaftlichen Daten aus unterschiedlichen Gesellschaften entwickelt worden und ganz von der methodischen Vorstellung geprägt, das Augenmerk auf die Varianz zwischen nationalgesellschaftlichen Kontexten zu legen. Eine Prämisse dieser Herangehensweise ist, daß Gesellschaften und (National-)Staaten kulturell relativ homogene Gebilde sind. Entsprechend hat in dieser Begriffssystematik eine interne kulturelle Variabilität von Gesellschaften, wie sie insbesondere bei der Untersuchung von Familien aus kulturellen und nationalen Minoritäten von Bedeutung ist, keinen Platz, da "Kultur" als makrostrukturelle Eigenschaft der (nationalstaatlich organisierten) Gesellschaft aufgefaßt wird, und nicht etwa als Eigenschaft von Akteuren oder sozialen Gruppen, die für sich eine "Familienkultur" oder eine "Minoritätenkultur der Familie" hervorbringen und aufrechterhalten. Ob solche segmentaren Familien- und Minoritätenkulturen in einer Gesellschaft existieren, ist eine empirische Frage, die dann positiv zu beantworten wäre, wenn eine hohe interne Homogenität bei gleichzeitig hoher Distinktión und mithin wenig Übergangsformen - vorzufinden sind (Wilkinson 1987). Untersuchungen zur ethnischen Differenzierung von familiären Lebensformen am Beispiel der afro-amerikanischen Familien in den Vereinigten Staaten (McAdoo 1993, 1997) oder zu türkischen Migrantenfamilien in Deutschland (Nauck 1989) legen den Schluß nahe, daß in diesen ethnischen

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Gruppen Familienkulturen entwickelt und tradiert werden, die einerseits deutlich auf den gesellschaftlichen Kontext bezogen sind, sich aber andererseits ebenso deutlich von der Familienkultur der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Diese kulturelle Binnendifferenzierung hat jedoch in der neueren familienwissenschaftlichen Diskussion eine zunehmend größere Aufmerksamkeit erlangt, was u.a. an der Entwicklung von Gesamtdarstellungen der Familiensoziologie (Christensen 1964; Burr, Hill, Nye & Reiss 1979; Sussman & Steinmetz 1987; Boos, Doherty, LaRossa, Schümm & Steinmetz 1993) ablesbar ist: Wurde in früheren Werken ausschließlich 'Comparative Family Sociology'im Sinne einer international bzw. interkulturell vergleichenden Forschung thematisiert (Zelditch 1964; Lee 1987; Lee & Haas 1993), so ist in neueren Darstellungen stets auch ein Beitrag über kulturelle Differenzierung von Familien in Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt von Migration und Ethnizität enthalten (Wilkinson 1987; Dilworth-Anderson, Burton & Johnson 1993), wohingegen solche Beiträge in früheren Gesamtdarstellungen entweder fehlen oder allenfalls unter dem Gesichtspunkt subkultureller Differenzierung sozialer Schichten aufgegriffen wurden (Cavan 1964). Auslöser für dieses wachsende Interesse an ethnischer Differenzierung von Familien in modernen Gesellschaften sind in den seltensten Fällen theoretische Fragestellungen gewesen, vielmehr haben mehrheitlich praktische Probleme im Vordergrund gestanden, mit Hilfe von soziologischen Befunden den (zumeist als bedrohlich empfundenen) sozialen Folgen von Zuwanderung und gesellschaftlicher Pluralisierung zu begegnen. Gleichwohl steht diese Neuorientierung in deutlichem Zusammenhang mit theoretischen Paradigmen. Im anglo-amerikanischen Kontext bedeuteten sie eine Wiederaufnahme von Forschungstraditionen, wie sie von Thomas für die Chicago School mit ihrem Fokus auf problemorientierter, qualitativer Analyse biographischen Materials in der Studie "The Polish Peasant in Europe and America" begründet worden war (Thomas & Znaniecki 1920), in der die Bedeutung von Familienkulturen für das Überleben in einem fremden Kontext und das Eingliederungsverhalten erstmals herausgearbeitet worden ist. Mit der zunehmenden Orientierung der empirischen Sozialforschung an der Analyse von national-repräsentativen Querschnittserhebungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit der Chicago School of Sociology auch das Interesse an ethnischer Differenzierung verblaßt, waren doch diese Querschnittserhebungen ihrem Selbstverständnis nach nicht nur monosprachlich, sondern auch monokulturell ausgerichtet. Entsprechend wurden kulturellsprachliche Minoritäten mehrheitlich entweder von vornherein aus den Untersuchungen ausgeschlossen oder allenfalls zum Gegenstand von Spezialuntersuchungen gemacht, und eher defensiv als Störfaktor für die Reliabilität und Validität der Befunde behandelt, anstatt sie als besonders sinnfällige methodische Herausforderung der Sozialwissenschaften zu betrachten, die sich aus den Folgen gesellschaftlicher Differenzierung ergibt (Esser 1979, 1991). Dieser Sachverhalt trifft für die noch prononcierter einem monokulturellem Selbstverständnis verpflichteten Staaten in Mitteleuropa in entsprechend verstärktem Maße zu, so daß z.B. für Deutschland festzustellen ist, daß alle repräsentativ angelegten Familienerhebungen sich praktisch ausnahmslos auf die Bevölkerung deutscher Nationalität beschränkt haben (Nauck 1991). Selbst in diesem Rahmen haben Analysen z.B. von regional geprägten Familienkulturen praktisch keine Rolle gespielt, vielmehr hat diese Fragestellung erst über die politische Vereinigung Deutschlands eine gewisse Aufmerksamkeit unter der Fragestellung erlangt, ob vorfindbare Unterschiede außer auf sozialpolitische Anreizsysteme auch auf überdauernde Regionalkulturen zurückzuführen sind (Nauck 1993). Sieht man von dieser historischen Besonderheit ab, daß eine politische Vereinigung zweier Staaten zu einer gesteigerten Sensibilität der empirischen Sozialforschung für theoretische und methodische Fragen des Gesell-

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schafitsvergleichs gefuhrt hat, so läßt sich insgesamt für Mitteleuropa feststellen, daß die wesentliche Belebung dieser Fragestellung durch die Mitte des Jahrhunderts einsetzenden Zuwanderungen aus dem Mittelmeerraum erfolgt ist: Über die Erforschung des Wandels der Familienstrukturen in diesen Zuwandererminoritäten erwachte ein zunehmendes Interesse an einer vergleichenden Analyse mit den jeweiligen Bedingungen in den Herkunftsgesellschaften: Wenn kulturalistische Hypothesen in die Erklärung des Wandels der Migrantenfamilien einfließen sollen, besteht eine methodische Notwendigkeit in der empirischen Analyse darin, sowohl eine Vergleichsgruppe in der Herkunftsgesellschaft (als baseline) als auch eine Vergleichsgruppe aus der Aufhahmegesellschaft in das Untersuchungsdesign einzubeziehen, wenn situative Faktoren der Migrations- und Minoritätensituation von Faktoren der Herkunftskultur und von Akkulturationsprozessen analytisch getrennt oder Wechselwirkungsprozesse untersucht werden sollen.

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Kultur in der struktur-funktionalistischen Familiensoziologie

Solche Fragestellungen lassen sich allerdings erst dann konzeptualisieren, wenn nicht 'Gesamtgesellschaft' und 'Kultur' gleichgesetzt, noch 'Kultur' als Eigenschaft von 'Gesamtgesellschaft' betrachtet wird. Um interkulturell-vergleichende Familienforschung sowohl auf der Ebene des Gesellschaftsvergleichs als auch auf der Ebene intragesellschaftlicher Differenzierung sinnvoll von anderen vergleichenden Analysen zu unterscheiden, ist es vielmehr notwendig, 'Kultur' und 'Struktur' von Gesellschaft als unabhängige Dimensionen zu konzeptualisieren und eine inhaltliche Bestimmung von 'Kultur' vorzunehmen. Eine geschlossene und umfassende Konzeption hierzu ist im Kontext der strukturfunktionalistischen Soziologie von Parsons ausgearbeitet worden. In 'The Social System' entwickelt Parsons (1951) einen Bezugsrahmen, in dem unter 'Kultur' strukturierte Systeme des Wissens (belief systems), Ausdrucks (expressive symbolism) und der Wert-Orientierung (value orientation) verstanden werden, die systematisch mit den übrigen Bestandteilen seiner Handlungstheorie, den Persönlichkeitssystemen und den sozialen Systemen verknüpft werden. Die Verbindung zu Persönlichkeitssystemen erfolgt über den Prozeß der Sozialisation und Internalisierung von motivationalen, kognitiven und evaluativen Orientierungen. Die Verbindung zu sozialen Systemen erfolgt über den Prozeß der Institutionalisierung von akteursunabhängigen reziproken Rollenerwartungen und der Ausdifferenzierung von regulativen und kulturellen Institutionen {Parsons, Shils & Olds 1951; Parsons 1953). "Cultural patterns when internalized become constitutive elements of personalities and of social systems. All concrete systems of action, at the same time, have a system of culture and are a set of personalities (or sectors of them) and a social system or subsystem. Yet all three are conceptually independent organizations of the elements of action" (Parsons, Shils, Allport, Kluckhohn, Murray, Sears, Sheldon, Stouffer & Tolman 1951:22). Das weiterführende Potential dieser fiinktionalistischen Handlungstheorie für die interkulturell vergleichende Familienforschung ist insbesondere darin zu sehen, daß hier durch die Betonung der kognitiven und evaluativen Komponenten das kulturelle System in einer Weise in einem allgemeinen soziologischen Bezugsrahmen konzeptualisiert worden ist, der unmittelbar anschlußfahig ist an Konzepte und Befunde der Kulturanthropologie (Kluckhohn 1953; Kroeber & Kluckhohn 1963) und damit erheblich zur Kumulation sozialwissenschaftlichen Wissens beiträgt. Ein weiterer Vorzug ist dadurch gegeben, daß diese Handlungstheorie in ein Mehrebenen-System/Subsystem-Modell eingebettet ist, das es zumindest prinzipiell

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zuläßt, die Institutionalisierung einzelner kultureller Elemente in funktional oder segmentär differenzierten sozialen Subsystemen zu verfolgen und zueinander in Beziehung zu setzen. Hierzu hat Parsons selbst mit seinen Analysen der Rollendifferenzierung in Gattenfamilien und des Verwandtschafitssystems in modernen Gesellschaften Anwendungsbeispiele geliefert (Parsons & Bales 1955; Parsons 1964, 1964a). Schließlich ist in den 'pattern variables', mit denen Parsons Vergemeinschafts- bzw. Vergesellschaftsprozesse im Sinne Georg Simmeis analytisch differenziert hat, ein geschlossenes System von Handlungsorientierungen zu sehen, die für die vergleichende Analyse von Institutionalisierungsprozessen und Handlungsorientierungen der Akteure sehr fruchtbar sind. Durch die Verschränkung von Internalisierungs- und Institutionalisierungsprozessen in den 'pattern variables' gelingt es insbesondere, die Elemente der Situationsdefinition individueller Akteure in den Blick zu nehmen, die mit dem jeweiligen kulturellen System in Beziehung stehen. Für die Modellierung von 'frames' in soziologischen Handlungstheorien (Esser 1996), die interkulturelle Vergleiche zum Gegenstand haben, bilden deshalb die in den 'pattern variables' benannten Codierungen sozialen Sinns einen wichtigen Ausgangspunkt. Schließlich hat sich die in den 'pattern variables' bereits enthaltene Differenzierung in individualistische vs. kollektivistische Handlungsorientierung als die in der interkulturell vergleichenden Forschung in jüngster Zeit am stärksten diskutierte und am häufigsten angewandte und als eine für typisierende Beschreibungen fruchtbare Dimension erwiesen (Hofstede 1980; Kim, Triandis, Kagitcibasi, Choi & Yoon 1994).

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Beispiele struktur-funktionalistischer Kulturvergleiche in der Familienforschung

Exemplarisch für die Anwendung strukturfunktionalistischer Erklärungsansätze in der interkulturell vergleichenden Familienforschung sind die Arbeiten von Goode (1963, 1993) und Zelditch (1955, 1964, 1964a). Ihnen ist gemeinsam, daß sie ihre Erklärungsversuche darauf richten, die Funktionalität je unterschiedlicher Familien- und Verwandtschaftsstrukturen in den jeweiligen Gesellschaften, Kulturkreisen und Phasen des sozialen Wandels zu belegen. Goode (1963) hat hierzu die These von Ogburn (1928) über den 'cultural lag' des Familiensystems gegenüber den ökonomischen Entwicklungen in der Gesellschaft aufgegriffen und mit den Überlegungen von Parsons zur modernen Gattenfamilie als dem an die mobile Leistungsgesellschaft bestangepaßten Familientyp verbunden. Mit seinen interkulturell vergleichenden empirischen Analysen sucht deshalb Goode insbesondere zu belegen, daß der Strukturwandel der Familie wesentlich als - verzögerter - Anpassungsprozeß ("fit") an die veränderten ökonomischen Bedingungen zu verstehen ist. Anders als konventionelle Moderhisierungstheorien bezieht er dabei jedoch Wechselwirkungen zwischen kulturellen Faktoren und sozialem Wandel ein. So zeigt er beispielsweise, daß nicht in allen Gesellschaften Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung mit einem Anstieg in den Scheidungsraten verbunden gewesen sind: Insbesondere in Kulturen mit traditionell stabil-hohen Scheidungsraten, wie z.B. in Japan, Malaysia und Taiwan, ist Modernisierung und Industrialisierung (bislang) mit einem Trend sinkender Scheidungsraten verbunden gewesen (Goode 1993). Weiterhin zeigen diese Analysen, daß Scheidungsraten stark davon abhängen, in welchem Maße Scheidungen als durch institutionelle Regelungen 'normalisierte' und in ihren Folgen regulierte (Scheidungsfolge-Regelungen und Wiederverheiratungen) Handlungsmuster kulturell legitimiert werden, d.h. wie sie in ein übergreifendes Funktionsgefüge institutioneller Regelungen eingebettet sind.

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Zelditch (1964) greift dagegen mit dem Universalienproblem eine Thematik auf, die die vergleichende Familienforschung immer schon stark beschäftigt hat. Er zeigt anhand verfügbarer Aggregatdaten, daß die These von der Universalität der Kernfamilie als 'einmalige' Verknüpfung von Funktionen in einer über alle Gesellschaften verbreitete Institution einer empirischen Bewährung nicht standhält, vielmehr lassen sich jeweils hinreichend viele Gegenbeispiele von Kulturen finden, in denen Funktionen wie Sexualität, Elternschaft, Sozialisation, Abstammung, Ehe, Haushaltsführung, Solidargemeinschaft u.a.m., die üblicherweise mit 'Familie' in Verbindung gebracht werden, sowohl in großer Variationsbreite mit anderen, 'nichtfamiliären' Funktionen verknüpft als auch in voneinander getrennten sozialen Beziehungen realisiert werden. Die funktionale Analyse von Zelditch richtet sich deshalb darauf, die Interdependenz der jeweiligen institutionellen Regelungen, in die Familie eingebettet ist, zu verdeutlichen. Er zeigt z.B., daß Regelungen wie 'Verheiratung der (jungen) Kinder durch die Eltern', 'Brautpreis' und 'matrilokale, patrilokale bzw. neolokale Residenz' in engem Zusammenhang mit der Bedeutung von ehelicher vs. Deszendenz-Solidarität in einer Kultur steht: "The interests of the larger kinship groups are organized around and embodied in the solidarity of parent and child after marriage; the greater the solidarity of the husband and wife, the more are the interests of the larger kinship group threatened... Hence, where the corporate descent group is important, so is arranged marriage, because it ensures that too strong a personal attachment will not destroy the lineal bond" (Zelditch 1964: 470). In gleicher Weise ist es auch möglich, unterschiedliche Scheidungsraten in patrilinearen Gesellschaften zu erklären (obwohl Brautpreise gleicher Höhe gezahlt werden), da hier die Ehestabilität vom Institutionalisierungsgrad der Deszendenz und der der ehelichen Partnerschaft abhängt: In den patrilinear organisierten Gesellschaften, in denen die Frauen ihre Herkunftsfamilie vollständig verlassen und zum festen Bestandteil der Familie des Mannes werden, sind Scheidungsraten typischerweise extrem niedrig; in solchen Gesellschaften, in denen zwar die Kinder zur Abstammungslinie des Mannes gehören, die Ehefrau aber ihre Mitgliedschaft in der Herkunftsfamilie behält, sind die Scheidungsraten typischerweise hoch. Schließlich zeigt Zelditch, wie die geschlechtsspezifische Aufgabenallokation und Entscheid dungsmacht in der Familie zum Gegenstand eines funktionalistischen Erklärungsansatzes gemacht werden können: Instrumentelle und expressive Komponenten der jeweiligen Ehegattenund Elternrollen und die Kumulation von Entscheidungsmacht hängen demnach stark von der Institutionalisierung patrilinearer bzw. matrilinearer Deszendenz ab. Dies fuhrt in patrilinear organisierten Gesellschaften zu einer stärkeren Trennung in den geschlechtsspezifischen Rollenattributen und zu einer eindeutig festgelegten, von der Generationszugehörigkeit abhängigen Rangfolge bei Männern und Frauen hinsichtlich der Entscheidungsmacht. Matrilinear organisierte Gesellschaften unterscheiden sich davon insofern, als hier zwar auch typischerweise eine Kumulation von Entscheidungsmacht bei Männern (der weiblichen Linie) vorliegt. Die matrilineare Deszendenz "erzwingt" aber aufwendigere Formen der Institutionalisierung der (eigentlich prekäreren) männlichen Autorität und macht ähnlich starke expressive Komponenten in den männlichen Rollen wie in denen der Frauen zum funktionalen "Erfordernis" (jedoch nicht: den kompletten Rollenwechsel zwischen Männern und Frauen). Zelditch gelingt es auf diese Weise, mit wenigen Annahmen über die kulturspezifische Institutionalisierung von Ehe, Familie und Verwandtschaft eine Vielzahl von Einzelphänomenen aus einem sehr breiten Spektrum von Gesellschaften "kulturvergleichend" zu erklären und theoretisch in ein geschlossenes Aussagensystem zu integrieren. Zumindest was die kulturvergleichende Familiensoziologie anbetrifft, wurde mit den Analysen von Goode und Zelditch in den 60er Jahren ein theoretischer Reifegrad erreicht, der neue Maßstäbe gesetzt hat. Der

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Vorzug dieser Analysen ist insbesondere darin zu sehen, daß sie die vielfaltigen Befunde der kultur- und sozialanthropologischen Familienforschung als empirisches Material fur die Prüfung genereller familiensoziologischer Theorien benutzt haben, d.h. ihr Interesse richtete sich eindeutig auf die Formulierung allgemeiner Gesetzesaussagen im Rahmen eines nomothetischen Wissenschaftsprogramms. Damit war jedoch in doppelter Weise eine Außenseiterrolle im Wissenschaftssystem gegeben. Einerseits wurde an einem allgemeinen soziologischen Bezugsrahmen festgehalten, der zu dieser Zeit kaum mehr paradigmatische Bedeutung hatte: "It seems ironic that mainstream sociology was repudiating Parsonianism during the very period when a number of eminent scholars were vigorously producing works aimed at explicitly connecting family sociology to general theory... although functionalism had virtually disappeared from general sociology, the sociology of family, kinship, and socialization has been the bastion of functionalism, framing its analysis against an ideal system in which men, women, and children all fit nicely in their places" (Kingsbury & Scanzorti 1993: 204 f.). Andererseits ist die Verbindung von kulturvergleichendem Funktionalismus und nomothetischem Wissenschaftsideal immer schon eine Minderheitenposition gewesen.

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Kulturvergleich, Funktionalismus und erkenntnistheoretischer Relativismus

Die große Mehrzahl von Forschungsarbeiten zu Familien in 'anderen' Kulturen ist mit ausschließlich ideographischen Mitteln vorgenommen worden, wobei diesbezüglich große Gemeinsamkeiten zwischen sozialgeographischen, historiographischen und ethnographischen Arbeiten bestehen. Die Gründe hierfür sind darin zu suchen, daß solche mit idiographischen Methoden arbeitenden Einzelfallstudien sich ganz überwiegend eine methodologische Grundpösition zu eigen gemacht haben, die besonders prägnant von Boas (1896) formuliert worden ist: Kulturvergleichende Analysen sind deshalb unmöglich, weil die jeweiligen Bestandteile der Kultur ihre Bedeutung aus dem gesamtkulturellen Kontext erhalten, in den sie eingebettet sind, und Gesamtkulturen können nicht verglichen werden, weil sie je einmalig sind; entsprechend können Kulturen nur mit idiographisch-historiographischen Methoden beschrieben und "aus sich heraus" als integrale, singulare Ganzheiten verstanden werden. Die Verbindungslinien dieser Argumentation zum Funktionalismus ist darin zu sehen, daß sie sich dessen .organismische Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft zu eigen macht. Diese werden jedoch dann mit radikalen methodischen Konsequenzen insofern verknüpft, als interkulturelles Fremdverstehen als Grundbedingung vergleichender Forschung für "unmöglich" erklärt wird. Damit wird zugleich jeder Suche nach "Universalien" oder auch nur nach "funktionalen Äquivalenzen", einem Schlüsselbegriff in der kulturvergleichenden Forschung (Berry 1980), eine Absage erteilt. Es ist unschwer zu erkennen, daß es von dieser Grundposition aus nur mehr ein kleiner konsequenter Schritt zu den speziellen Varianten des erkenntnistheoretischen Solipsismus ist, wie er (nicht nur) in der kulturalistischen Familienforschung immer wieder vorgetragen worden ist, daß nämlich "letztlich" das Verständnis dieser Institution nur für Mitglieder der jeweiligen Kultur möglich ist, d.h. daß nur jede Kultur sich jeweils selbst verstehen könne. Eine solche Argumentation mag in manchen pragmatischen Kontexten einige Berechtigung haben und Sympathien hervorrufen, wenn es etwa darum geht, - fur eine besondere Aufmerksamkeit fur die "Betroffenen"-Perspektive im Forschungsprozeß zu werben - sei es als Lieferant für "authentische" Sinndeutung familiären Handelns,

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sei es zur Exploration der 'bounded rationality' kulturspezifischer Handlungsmuster oder sei es als heuristisches Verfahren für die Formulierung von Brückenhypothesen bei der Modellierung kontextgebundener Handlungssituationen {Lindenberg 1996; Diefenbach & Klein 1997), - Forschungsdomänen für Angehörige anderer Kulturen (vor dem Wissenschaftsimperialismus der Industriegesellschaften) oder für Angehörige von Minoritäten (vor dem der Mehrheitsgesellschaft) strategisch zu sichern, wie dies insbesondere im Konzept der 'indigenous psychology' bzw. der 'ethnic psychology' zum Ausdruck kommt (Kagitcibasi 1996). Gleichwohl taugen solche Propositionen weder als theoretisches noch als methodologisches Argument: Sie haben bislang das Demarkationsproblem nicht lösen können, ab welchem Aggregationsniveau sozial-kultureller Gebilde "Verstehen" unmöglich sein soll, wenn man diesem Gebilde nicht selbst angehört, oder - in abgemilderter Form - warum Eigenverstehen a priori zu gültigeren Erklärungen führt als Fremdverstehen. Schließlich hat sich eine solche Argumentation mit dem Problem auseinanderzusetzen (und dazu keine Antwort bereit), wieso ausgerechnet sie selbst transkulturelle Gültigkeit beanspruchen kann (und muß), zugleich aber allen anderen sozialwissenschaftlichen Aussagen dies abgesprochen wird. Ebenso unschwer zu erkennen ist, daß die in jüngerer Zeit in der kulturvergleichenden Psychologie auflebende Debatte um den "emic-" (kulturimmanenten) vs. "etic" (kulturübergreifenden) Ansatz damit nur eine Revitalisierung dieses älteren Methodenstreits ist, aus ihm seine wesentlichen Argumente bezogen hat, ohne ihnen erkennbar neue hinzuzufügen (Berry 1980; Berry, Poortinga, Segall & Dasen 1992; Boehnke 1996: 79 ff.; Kagitcibasi 1996). Statt dessen hat die aus der Unterscheidung von 'phonei/cs' und 'phonemics' in der strukturalistischen Linguistik entlehnte Metapher der ohnehin an Mißverständnissen nicht armen Diskussion ein weiteres hinzugefügt, indem sie die (in der Linguistik durchaus beide als allgemeine, nomologisch deduktive Theorien zu verstehenden) Aussagensysteme als Sinnbild für den Gegensatz zwischen erkenntnistheoretischem Relativismus (emic) und naturalistischen Wissenschaftsauffassungen (etic) umgedeutet hat.

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Familie und Persönlichkeit im funktionalistischen Kulturvergleich

Unabhängig von den Konsequenzen, die sich aus der methodologischen Radikalisierung in Richtung eines erkenntnistheoretischen Relativismus bzw. Solipsismus ergeben, haben sich funktionalistische Erklärungsansätze auf der Objektebene mit dem Problem auseinanderzusetzen, daß wegen der in ihnen stets stark betonten Systemhaftigkeit und Interdependenz von Kultur und Sozialstruktur über Institutionalisierungsprozesse und von Kultur und Persönlichkeit über Sozialisationsprozesse endogener Wandel und individuelle Abweichungen unerklärt bleiben müssen. Statt dessen richten sich funktionalistische Erklärungsprogramme ganz auf die Entwicklung von Idealtypen, an denen dann die 'Funktionalität' von bestimmten institutionellen Regelungen der Familie für den jeweiligen sozial-kulturellen Kontext ebenso herausgestellt werden soll wie die 'Notwendigkeit' der Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen im Sozialisationsprozeß. Parsons' These von der nuklearen Gattenfamilie als dem bestangepaßten Familientyp an die Mobilitätserfordernisse der Industriegesellschaft und ihre Differenzierung von produktiven und reproduktiven Aufgaben ist hierfür ebenso ein Beispiel wie Zelditchs These über die Funktionalität von Heiratsregeln in Deszendenz-Systemen. Auch die funktionalistische 'Culture and Personality'-Schule der interkulturell vergleichenden

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Sozialisationsforschung ist von der Vorstellung geleitet gewesen, in den jeweiligen Kulturen würde jeweils durch spezifische Sozialisationsprozesse ein bestimmter modaler Persönlichkeitstypus bzw. ein "Nationalcharakter" hervorgebracht {Kardiner 1939; Whiting & Child 1953; Child 1954; Barry, Bacon & Child 1957; Miller & Swanson 1958; Barry, Child & Bacon 1959; Kaplan 1961). Die Mehrzahl der Analysen dieser Forschungsrichtung basiert auf methodisch sehr schlicht angelegten Untersuchungen, die zumeist ihre Schlußfolgerungen aus Mittelwertdifferenzen zwischen Stichproben aus unterschiedlichen Kulturen beziehen (Kornadt 1993: 188), die dann als Indiz für den jeweiligen kulturspezifischen "Sozialcharakter" gedeutet werden. Zwar lassen sich solche Mittelwertdifferenzen in der Regel in plausible Deutungsmuster einfügen, doch muß im Rahmen eines solchen Ansatzes prinzipiell unerklärt bleiben, warum (in aller Regel) solche Mittelwertdifferenzen bei weitem bescheidener ausfallen als es die theoretischen Annahmen nahelegen würden. Da es sich hier zumeist um ZweiEbenen-Modelle handelt, bei denen ein direkter Zusammenhang zwischen "Kultur" einerseits und "Persönlichkeit(sentwicklung)" andererseits unterstellt wird, bleibt außerdem unerklärt, über welche Mechanismen und institutionellen Regulierungen solche Zusammenhänge genau bewirkt werden. Solchen Ansätzen ist damit gemeinsam, daß sie der Variabilität von familiären Lebensformen und von Sozialisationspraktiken innerhalb einer Kultur keinerlei Beachtung schenken und sie allenfalls als Anomalien behandeln können. Auch das Forschungsprogramm der "Children of Six Cultures" (Whiting 1963; Minium & Lambert 1964; Whiting, Child & Lambert 1966; Whiting & Whiting 1975; Whiting & Edwards 1988), hat sich - trotz aller erheblichen methodischen Fortschritte, durch das es nach wie vor zu den bahnbrechenden und beispielgebenden Unternehmungen in der interkulturell vergleichenden Sozialisations- und Familienforschung zu zählen ist - theoretisch nicht ganz von den funktionalistischen Vorstellungen über Kultur und Persönlichkeitsentwicklung lösen können; vielmehr wird darauf ausdrücklich Bezug genommen {Whiting & Whiting 1975: 4 ff.). In diesen Studien wird jedoch der theoretische Rahmen zu einem expliziten MehrebenenModell erweitert, in das (1) die ökologischen Bedingungen, (2) Sozialstruktur, d.h. die Institutionalisierung von. Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion, Residenzregeln, sozialer Sicherheit und Kontrolle ('maintenance systems'), (3) die Lernumgebung des Kindes und die Aufgabenteilung seiner Betreuungspersonen als Bedingungsfaktoren des Sozialisationsprozesses und der Persönlichkeitsentwicklung (4) eingehen, die zur Internalisierung von Persönlichkeitszügen fuhrt (5), die in der jeweiligen Kultur ('projective expressive systems') verankert sind (und diese reproduziert). Beispielsweise werden folgende Hypothesen über den Zusammenhang .zwischen der Struktur des 'maintenance systems', der Lernumgebung des Kindes und der Entwicklung von aggressiven bzw. prosozialen Verhaltensdispositionen formuliert {Whiting & Whiting 1975: 9 f.): " (1) Kinder aus polygynen Haushalten oder solchen, in denen Mann und Frau keine gemeinsame Schlafstätte haben, nehmen ihre Mütter als Kontrollinstanz für Ressourcen wahr und identifizieren sich mit ihr. Leben Kinder in einer Gesellschaft mit stark patrilinearer Ausrichtung und männlicher Vorherrschaft, erleben Jungen ihre Geschlechtsrollenidentität als konflikthaft und tendieren zu größeren Aggressionen... Im Gegensatz dazu identifizieren sich Jungen in monogamen Kernfamilien, in denen der Vater stark in das häusliche Leben eingebunden ist, schon früh mit ihrem. Vater und haben ein geringeres Bedürfiiis zur Aggression. (2) Kinder, die in Haushalten aufwachsen, in denen die Mutter wenige ökonomische oder rituelle Pflichten hat, sind im frühen Kindesalter nicht solchem Sozialisationsdruck ausge-

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setzt wie Kinder aus solchen Haushalten, in denen die Mutter durch derartige Verpflichtungen stark beansprucht ist... (3) Kinder aus erweiterten Familien oder Familien mit zwei weiblichen Erwachsenen werden im Kleinkindalter mit größerer Nachsicht aufgezogen. (4) Von Kindern, die in Gesellschaften aufwachsen, in denen die Haushaltsökonomie auf Eigentum, wie Vieherden oder auf Überschußproduktion basiert, wird ein höheres Ausmaß an Gehorsam und Verantwortungsbereitschaft erwartet als von Kindern, die in Gesellschaften mit geringer Eigentumsakkumulation aufwachsen. (5) Kinder in erweiterten Familienhaushalten werden für Aggressionen härter bestraft als Kinder, die in monogamen Kernfamilien aufwachsen." Der empirische Test dieser Hypothesen erfolgt auf der Basis von standardisierten Verhaltensbeobachtungen von Kindern zwischen 3 und 11 Jahren in ihrem natürlichen Lebensraum, wobei die sechs Kulturen aufgrund sehr eingehender Analysen der Sozial-, Siedlungs- und Haushaltsstruktur typologisch geordnet werden: Orchard Town (USA) repräsentiert den Gesellschafts-Typus mit komplexem ökonomischem System und nuklearer Haushaltsstruktur, Khalapur (Indien) und Taira (Japan) repräsentieren den mit komplexem ökonomischem System und einer nicht-nuklearen Haushaltsstruktur; Tarong (Philippinen) und Juxtlahuaca (Mexiko) repräsentieren eine nukleare Haushaltsstruktur und Nyansongo (Kenia) eine nichtnukleare Haushaltsstruktur in einfachen Wirtschaftssystemen. Ihre Hypothesen sehen Whiting & Whiting (1975: 128 f.) dadurch bestätigt, daß autoritär-aggressives Verhalten bei Kindern aus den drei Kulturen mit nicht-nuklearer Haushaltskomposition häufiger beobachtet wird als bei Kindern aus den drei Kulturen mit typischerweise nuklearen Haushalten, deren Verhalten eher als "gesellig-vertraulich" charakterisierbar ist. Andererseits tendieren Kinder aus Kulturen mit komplexer Wirtschaftsstruktur eher zum Aufbau "abhängig-dominanter" Interaktionsbeziehungen, während Kinder aus Kulturen mit einfachen Wirtschaftsstrukturen eher "umsorgend-verantwortungsvolle" Interaktionsbeziehungen zu anderen Kindern entwickeln. Bestechend an diesem Forschungsprogramm ist - neben der sorgfaltig durchgeführten Untersuchungsanlage und der aufwendigen Methodendokumentation, die zugleich eine Fülle von illustrativem ökologischem, sozialstrukturellem und kulturellem Hintergrundmaterial liefert und deshalb Befunde und Schlußfolgerungen vorbildhaft nachvollziehbar macht -, daß hier Hypothesen über mehrere Ebenen des Modells formuliert werden. Allerdings konnte eine theoretische Geschlossenheit in dem Sinne, daß alle Ebenen systematisch miteinander verknüpft sind, nicht erreicht werden. Auch handelt es sich allenfalls um eine partielle empirische Prüfung, da (a) nicht für alle Ebenen des Modells unabhängig erhobene Daten herangezogen worden sind, die etwa zur Messung der 'Aufgabenteilung', der 'Haushaltsstruktur' oder der 'Komplexität des ökonomischen Systems' geeignet gewesen wären, und da (b) die empirische Basis jeweils viel zu klein gewesen ist, als daß geprüft werden konnte, ob die angenommenen Zusammenhänge (z.B. zwischen Haushaltskomposition und kindlichen Verhaltensdispositionen) auch innerhalb der jeweiligen Kulturen gelten. Schließlich bleibt c) auch die zentrale Annahme des funktionalen Zusammenhangs zwischen 'Kultur' und 'Persönlichkeit', daß nämlich das durch kulturspezifische Sozialisationspraktiken in der frühen und mittleren Kindheit erworbene und im Umgang mit Gleichaltrigen praktizierte Verhalten in engem Zusammenhang mit die Lebensspanne überdauernden modalen Persönlichkeitsmerkmalen steht, mit Hilfe der verfugbaren Querschnittsdaten ungeprüft. Solche weitergehenden empirischen Analysen wären jedoch für die Prüfung der Frage, ob die in den jeweiligen Kulturen vorfindbaren Verhaltensvariationen ausschließlich das

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Resultat systematisch verteilter Gelegenheitsstrukturen sind (wie dies auch einige der Hypothesen nahelegen), oder ob darüber hinaus Wechselwirkungen mit kulturspezifischen Handlungspräferenzen (z.B. normativ gestützte Erziehungsziele) und tradierten Handlungsroutinen (z.B. naive Erziehungstheorien und Kontrollorientierungen) bestehen (Kornadt & Trommsdorff 1990; Trommsdorff 1993, 1995), eine wesentliche Voraussetzung. Im ersten Falle wären die interkulturellen Differenzen auf die institutionell und sozialstrukturell vermittelten Handlungsopportunitäten zurückfuhrbar, im zweiten Falle wären demgegenüber Verteilungsunterschiede in den Individualmerkmalen der Akteure ausschlaggebend, ohne daß diese Präferenzen und Routinen zwangsläufig institutionell gestützt sein müssen. Die Beantwortung solcher weitergehender Fragestellungen ist jedoch nur möglich, wenn funktionalistische Modellvorstellungen mit ihren Interdependenzannahmen über kulturspezifische Institutionalisierungsprozesse von Familie und Internalisierung modaler Persönlichkeitseigenschaften aufgegeben werden, die damit in offensichtlicher Weise den Vorgaben der normativen Rollentheorie und ihrem Konzept des 'socialized, role-playing, sanctioned man' folgen, dessen Verhalten vollständig durch Konformität mit kulturell definierten Rollenerwartungen erklärt wird und für den keine individuellen Selektionsregeln zu gelten scheinen {Lindenberg 1985; Esser 1993): Verhaltensstreuungen innerhalb einer Kultur sind mit diesem Modell ebensowenig erklärbar wie abweichendes Verhalten oder sozialer Wandel.

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Kultur im Mehrebenenmodell familiensoziologischer Forschung

Eine Lösung dieser theoretischen Probleme ist nur dann zu erwarten, wenn interkulturell vergleichende Familienforschung systematisch in der Form von Mehrebenen-Kontextmodellen realisiert wird. Mehrebenen-Modelle sind in der Lage, die komplexen Zusammenhänge zwischen individuellen Akteuren und den situationalen Bedingungen ihres Handelns angemessen abzubilden (Coleman 1990: 11 ff.; Esser 1993: 98 ff.; Huinink 1998). Für die Familienforschung sind hierbei Modelle erforderlich, die mindestens vier Ebenen umfassen: - Auf der Mikro-Ebene werden individuelle Akteure betrachtet, die als handelnde Subjekte absichtsvoll, aktiv und innovativ ihre Ziele der Maximierung von materieller Sicherheit und sozialer Anerkennung durch Situationswahrnehmung, Wissen und Intelligenz Verfolgen. - Akteure sind auf vielfaltige Weise in soziale Beziehungsstrukturen mit anderen Akteuren verkettet, an denen sie sich orientieren, mit denen sie interagieren und auf die sie durch ihr Handeln wechselseitig einwirken. Familien sind in diesem Zusammenhang als enge, auf Dauer angelegte und auf persönlichen Bindungen basierende, exklusive Beziehungsstrukturen von zumeist hoher institutioneller Absicherung anzusehen, in denen die beteiligten individuellen Akteure zur Realisierung ihrer Ziele kooperieren. - Akteure mit ihren Beziehungsstrukturen sind in sozialräumliche Kontexte eingebettet, die durch ihre Komposition sowohl Gelegenheitsstrukturen für die Realisierung der individuellen Ziele der Akteure bieten als auch als soziale Kontrolle auf die Akteure hinsichtlich der Legitimität der dabei eingesetzten Mittel ausüben. - Schließlich handeln Akteure unter den Bedingungen der institutionellen Struktur der Gesellschaft als Ganzer, durch die die Handlungskoordination der Akteure gewährleistet wird, indem die Grenzen zwischen legitimen und nicht-legitimen Handlungen festgelegt und Wege der Zielerreichung organisiert werden.

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Koorientierung in sozialen Beziehungen, Opportunitätsstrukturen des Handlungskontexts und institutionelle Strukturen sind nach diesem Modell einerseits Bedingungen individuellen Handelns, da sie von den Akteuren subjektiv wahrgenommen und als Handlungsalternativen mit jeweils spezifischen Kosten und Nutzen und variierenden Eintretenswahrscheinlichkeiten interpretiert werden. Von Bedeutung für soziologische Analysen sind dabei solche relativ stabilen individuellen Orientierungen, die als kognitive „frames" das Denken und die Wahrnehmung von Individuen steuern und damit sein Bild von der Welt festigen {Lindenberg 1990). Sie stabilisieren die Erwartungsstrukturen der Akteure für den jeweiligen Handlungskontext und antizipieren kollektive Reaktionen. Makrostrukturen sind andererseits als Emergenzphänomene individueller Handlungen zu verstehen: Indem Akteure durch ihr Handeln neue Realitäten schaffen, tragen sie zur Veränderung der sozialen Wirklichkeit bei. Einmal entstanden, sind solche neuen sozialen Realitäten nicht mehr beliebig von den Akteuren veränderbar, sie erweisen sich daher wiederum als Bedingungsfaktoren weiterer individueller Handlungsprozesse. Eine solches Mehrebenen-Modell ist als analytisches Instrument zu verstehen. Entsprechend läßt es sich selbstverständlich erweitern, indem zusätzliche Ebenen berücksichtigt und damit die Mehrebenenhierarchie differenziert wird. Weiterhin kann dieses Modell dynamisiert werden, indem Prozesse des sozial-kulturellen Wandels (Ebene 4), Veränderungen in der Opportunitätenstruktur (Ebene 3), die Dynamik von familiären Aufgaben im Familienzyklus (Ebene 2) und die individuelle psychosoziale Entwicklung im Lebensverlauf (Ebene 1) einbezogen und in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Mehrebenenmodell von der statischen Taxonomie sozial-ökologischer Kontexte (Bronfenbrenner 1981, 1990), in der eine Hierarchie sozialer Sphären reifiziert wird und eine dynamische Modellierung unmöglich ist. Innerhalb eines solchen Modells fällt es nun auch leichter, kulturelle Faktoren einzuordnen und einigen Problemen zu entgehen, die mit zuvor diskutierten Lösungen verbunden waren: Weder ist es notwendig oder sinnvoll, 'Kultur' mit 'Gesellschaft' gleichzusetzen, noch müssen so voraussetzungsvolle Annahmen über die Konkordanz von 'Gesellschaft', 'Kultur' und 'Persönlichkeit' wie in der strukturfunktionalistischen Familiensoziologie gemacht werden. Vielmehr genügt es, zunächst unter Kultur - wie in der strukturfunktionalistischen Soziologie, Kulturanthropologie und kulturvergleichenden Psychologie auch - kognitiv-evaluative Symbolsysteme zu verstehen. Kagitcibasi (1996: 10) hat daraufhingewiesen, daß eine allumfassende Konzeptualisierung von 'Kultur' insofern ein methodologisches Problem für die Sozialwissenschaften hervorruft, als dieses Konzept dann weder als Explanans noch als Explanandum verwendbar ist, weil sonst nur mehr zirkuläre "Erklärungen" vom Typ "Chinesen sind so wegen ihrer Kultur" möglich sind. Schon aus diesen Gründen gebe es zu einer weniger umfassenden, "molekularen" Konzeptualisierung keine Alternative, bei der 'Kultur' als "set of conditions" und als "shared constraints that limit the behavior repertoire available to members of a certain socio-cultural group" zu definieren sei. Ähnlich, aber weniger zirkulär, definiert Trommsdorff (1989: 12): "Kultur beinhaltet die von einer sozialen Gruppe verwendeten Deutungs- und Handlungsmuster, Wissen, Sprache und Techniken zur Bewältigung von Anpassungsproblemen im Umgang des Menschen mit seiner Umwelt". Nunmehr läßt sich Kultur den jeweiligen-Ebenen des Modells zuordnen: - Auf der individuellen Ebene sind all das, was zuvor als individuelle Orientierungen, 'cognitive maps', Präferenzen, Werte und Wissen umschrieben worden ist, die kulturellen Voraussetzungen individuellen Handelns. Über die individuellen Präferenzen und Wahrscheinlichkeitserwartungen wird Kultur als Selektionsmechanismus individuell wirksam,

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mit dem die Valenz von Handlungszielen und die in Routinen bewährten Mittel in ihrem 'frame' ihren spezifischen 'Sinn' erhalten (Esser 1990, 1996). Entsprechend wird sich in den meisten Fällen 'Kultur' auf der individuellen Ebene als das Repertoire an Brückenhypothesen, das Akteuren zur Verfügung steht, modellieren lassen. Im Hinblick auf familiensoziologische Fragestellungen ist dabei von Bedeutung, daß auf dieser individuellen Ebene auch die Koordinierung von inner- und außerfamiliären Handlungszielen erfolgt. Auf der relationalen Ebene sind insbesondere solche Aspekte der Kultur von Bedeutung, die als Alltagstheorien über das Funktionieren von familiärem Zusammenleben, über 'sinnvolle' und 'gerechte' Verteilung von Aufgaben, Rechten und Pflichten innerhalb des Generationenbezuges und zwischen den Geschlechtem jeweils präsent sind. Am weitesten ausgearbeitet sind solche familienbezogenen Alltagstheorien als kulturspezifische 'naive Erziehungstheorien', in denen systematisch herausgearbeitet wird, wie Erziehungsziele, Pflegeund Sozialisationspraktiken und normative Erwartungen an intergenerationale Beziehungen als relativ geschlossenes Orientierungswissen bei Eltern präsent ist (Super & Harkness 1986; Harkness & Super 1987; Kornadt & Trommsdorff 1990; Trommsdorff in diesem Band). Die Qualität der Generationenbeziehungen bestimmt in starkem Maße die Tradierung von Kultur in einer Gesellschaft. Selbst für funktional stark differenzierte Gesellschaften gilt, daß die Transmission von Kultur sich überwiegend zwischen den Generationen innerhalb der Familien vollzieht. Die Transmission ist keineswegs einseitig von der jeweils älteren zur jüngeren Generation gerichtet. Je weniger stark die Altershierarchie in einer Kultur ausgeprägt ist, desto größer wird auch der retroaktive Einfluß der jüngeren Generation auf die ältere - ein Mechanismus, der den kulturellen Wandel beschleunigt. Generationale Transmission ist von (familienexternen) epochalen Einflüssen raschen sozialen Wandels auf die Generationenbeziehungen zu unterscheiden: solche externen Effekte erhöhen die Koorientierung zwischen den Generationen, verkleinern damit die Generationenkluft und tragen so zur Kontinuität von Kultur über die Generationen bei (Schönpflug & Silbereisen 1992). Auch die Fülle der vorliegenden Befunde zu interkulturell variierenden Aufgabenverteilungen und Entscheidungsmacht in der Ehe lassen sich als Resultat solcher bereichsspezifischen Alltagstheorien deuten: Rodman (1970) hat auf der Basis von empirischen Befunden zu ehelichen Machtverhältnissen in unterschiedlichen Kulturen (Blood & Wolfe 1960; Centers, Raven & Rodriguez 1971; Safilios-Rothschild 1967, 1969, 1976; Buric & Zecevic 1967; Blood 1967; Fox 1973, 1975; Kim & Kim 1977; Conklin 1979; Buehler, Weigert & Thomas 1974; Szinovacs 1978; Kandel & Lesser 1972; Kumagai 1979) zeigen können, daß die Ressourcenabhängigkeit von Entscheidungsmacht davon abhängt, in welchem Ausmaß patriarchalische bzw. egalitäre Geschlechtsrollen-Normen in diesen Kulturen institutionalisiert sind. Schließlich sind auch Alltagstheorien über die 'Entwicklungslogik' des Familienbildungsprozesses (Nauck in diesem Band) bedeutsam für das 'spacing' von Heirat, Haushaltsgründung und Geburten im Lebensverlauf. Auf der Ebene der sozial-räumlichen Kontexte wirkt sich Kultur in zweierlei Weise aus: Zum einen sind sozialräumliche Variationen von Opportunitätenstrukturen größtenteils das Resultat voraufgegangener, kulturell selegierter Handlungen. Zum anderen wird.über diese Kontexte die soziale Kontrolle wirksam. Entsprechend hängen die sozialen Kosten abweichender Handlungen und der Nutzen konformer Handlungen sehr stark von der Homogenität und Konstanz der Sozialbeziehungen sowie der Interaktionsdichte ab. Umgekehrt wird mit der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften und sozialer Mobilität die Prävalenz und Wirksamkeit von sozial-kulturellen Nischen zunehmen. Entsprechend wird man nur ab einem hinreichenden Grad sozialer Differenzierung von einem Selbstselektions-

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Mechanismus zwischen Akteur und sozial-räumlicher Umwelt ausgehen können, der in vielen neueren Entwicklungstheorien eine außerordentlich große Rolle spielt (Scarr & McCartney 1983; Scarr 1992; Lerner 1982; Lerner & Lerner 1987). Nach diesen Theorien entwickeln Kinder eine aktive Selektionsstrategie, die es ihnen ermöglicht, die unter den jeweiligen Gegebenheiten optimale Umgebung für ihre Entwicklung in einer je spezifischen Entwicklungs-Nische zu erhalten. Entsprechend ergeben sich für jedes Individuum einmalige 'Goodness-of-fit'-Konstellationen von genotypischen, phänotypischen und KontextMerkmalen. Soziale Kontexte bilden somit Rückkoppelungsprozesse mit der durch Eigenaktivität gesteuerten Kontext-Selektion des Kindes: Kinder sind somit "Produzenten ihrer eigenen Entwicklung" {Lerner 1982; Schönpflug 1995). Insgesamt sind solche sozialisationstheoretischen Modelle vielversprechende Umsetzungen dynamisierter Mehrebenenanalysen, für die z.B. Entsprechungen in der Entwicklung von Paarbeziehungen oder von Familienzyklen noch vollständig fehlen. - Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft besteht der Einfluß der Kultur darin, daß Festlegungen darüber bestehen, welche kulturellen Ziele mit der Institution Familie verfolgt werden können und welche Stellung die Familie in der institutionellen Gesamtstruktur der Gesellschaft im Hinblick auf die Befriedigung menschlicher Bedürfhisse hat. Die Institution 'Familie' ist damit als eine für die jeweilige Gesellschaft exklusive, 'sinnvolle' Organisation erwartbarer Leistungen in Differenz zu solchen anderer Institutionen zu verstehen. Entsprechend ist in der historisch- und interkulturell vergleichenden Familienforschung vielfach daraufhingewiesen worden, welch weitreichende Konsequenzen es z.B. hat, wenn über 'Familie' ausschließlich reproduktive Aufgaben organisiert werden oder welche intergenerativen Solidarleistungen ihr institutionell zugeschrieben sind. Ein Hauptproblem der interkulturell vergleichenden Familienforschung besteht darin, daß das 'Wissen' über diese institutionelle 'Tiefenstruktur' einer Gesellschaft zumeist induktiv gewonnene Verallgemeinerungen sind: Eine - notwendige - empirische Prüfung solcher Aussagen über die institutionelle Tiefenstruktur ist jedoch typischerweise allenfalls indirekt möglich. So ist ein kaum lösbares Problem darin zu sehen, wenn eine solche Prüfung etwa unter Verwendung von mit herkömmlichen Methoden der empirischen Sozialforschung gewonnenen Individualdaten vorgenommen werden soll, daß hier analytische Ebenen konfundiert werden und bei den individuellen Antworten situationsspezifische Wahrnehmung von Opportunitätenstrukturen, Handlungspräferenzen und institutionelle Allokation kultureller Ziele und Mittel kaum zu trennen sind. Entsprechend lassen sich Befunde zu 'kulturspezifischen' Werten, Einstellungen und Handlungspräferenzen nur unter den voraussetzungsvollen Annahmen des Strukturfunktionalismus als Indiz für das Vorhandensein einer spezifischen institutionellen Struktur der Gesellschaft werten, wenn nämlich Institutionalisierung und Internalisierung als prinzipiell gleichsinnige Prozesse zu betrachten wären. Diesem Mehrebenen-Problem hat die im übrigen breit gefächerte Diskussion über 'individualistische' vs. 'kollektivistische' Kulturen bislang überraschend wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Wird dieses Mehrebenen-Modell als Bezugsrahmen für die Bewertung von interkulturell vergleichende Familienforschung genommen, so lassen sich damit vorliegende Analysen danach unterscheiden, in welchem Maße sie das skizzierte Theorienprogramm umsetzen, wozu eine explizite Berücksichtigung der vier angesprochenen Ebenen und eine zeitlich dynamisierte Modellierung gehören würde. Ebenso ergeben sich aus einem solchen Modell sehr weitreichende Anforderungen an das Forschungsprogramm: Idealerweise würde es die Einbeziehung

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von Individual- und Familiendaten aus mehreren Kulturen bei systematischer Variation der intragesellschaftlichen Opportunitätenstrukturen beinhalten. Von der Umsetzung solcher weitreichender Anforderungen sowohl hinsichtlich der Theoriebildung als auch hinsichtlich der empirischen Prüfung sind vorliegende Arbeiten zur interkulturell vergleichenden Familienforschung in der Regel noch weit entfernt. Die Ursachen hierfür sind einerseits in der Aufwendigkeit solcher Forschungsprogramme und in den (hier nicht weiter thematisierten) großen methodischen und forschungstechnischen Problemen interkulturell vergleichender Untersuchungen zu suchen. Andererseits setzt jedoch eine explizite Konzeptualisierung kulturspezifischer Institutionalisierungsprozesse ein vergleichsweise hohes Wissen über die jeweilige Gesellschaft voraus, das zumeist nicht in geeigneter Form unmittelbar zur Verfügung steht, sondern vielmehr durch zeitaufwendige Auswertung unterschiedlichster Materialien indirekt erschlossen werden muß. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich solche Analysen typischerweise auf Vergleiche (moderner Industrie-)Gesellschaften beschränken, in denen die Institutionalisierung von Familie allenfalls marginal variiert. Selten kommen solche Analysen über eine vergleichende Beschreibung anhand deskriptiver Maßzahlen hinaus, selbst wenn die Daten prinzipiell eine Mehrebenen-Modellierung zuließen. Insbesondere werden Möglichkeiten der Modellierung von Kontexteffekten, mit denen kulturspezifische Institutionalisierungsprozesse von Opportunitätenstrukturen systematisch zu trennen wären oder mit denen (hilfsweise) makrostrukturelle Kultureffekte aus Mikrodaten gewonnen werden können, in interkulturell vergleichenden Studien bislang praktisch überhaupt nicht eingesetzt (Boyd & Iversen 1979; Alpheis 1988). Solche anspruchsvollen Analysen setzen jedoch eine entsprechend aufwendig erhobene Datenstruktur voraus. Da ein Mehrebenen-Modell in jedem Fall auf Individualdaten angewiesen ist, genügt z.B. die Datenstruktur der Human-Area-Files solchen Anforderungen nicht. Die Datenstruktur der Children-In-Six-Cultures-Studies kommt solchen Anforderungen dagegen schon recht nahe, da hier Daten zu mehreren Ebenen erhoben worden sind. Allerdings besteht keine Möglichkeit, kulturelle Faktoren von Opportunitätsstrukturen systematisch zu trennen, da jede Kultur jeweils durch einen Erhebungskontext repräsentiert ist; da diese Erhebungskontexte im Hinblick auf ihre (kleinstädtischen) Eigenschaften kontrolliert und konstant gehalten worden sind, ist jedoch eine hohe Vergleichbarkeit der Ergebnisse gegeben. Eine sehr weitgehende Entsprechung solcher Anforderungen ist bei den "Value-of-Children-Studies" gegeben, in denen Zusammenhänge zwischen Kultur, sozial-ökologischem Kontext, individuellen Werten von Kindern für ihre Eltern und generatives Verhalten untersucht worden ist (Arnold\ Bulatao, Buripakdi, Chung, Fawcett, Iritiani, Lee & Wu 1975). In diesem Forschungsprogramm, in das neben den fernöstlichen Ländern Taiwan (Wu 1977), Japan (Iritani 1979), Republik Korea {Lee 1975), Philippinen {Bulatao 1975), Thailand {Buripakdi 1977), Indonesien, Singapur auch die Türkei {Kagitcibasi 1982) und USA {Arnold & Fawcett 1975) einbezogen war, sind für jede Kultur sowohl Opportunitätenstrukturen (durch die Einbeziehung von städtischen und ländlichen Kontexten) als auch familiäre Ressourcen (durch eine Stratifizierung der Stichproben nach Schichtzugehörigkeit) systematisch variiert worden. Da zudem eine Reihe von Ereignisdaten für den Familienbildungsprozeß erhoben worden sind, läßt dieses Forschungsprogramm prinzipiell auch eine dynamische Modellierung zu. Da die mit diesem komplexen Datensatz bislang durchgeführten Analysen sich in herkömmlicher Weise weitgehend auf deskriptive Vergleiche beschränken, kann das analytische Potential dieses Forschungsprogramms bislang kaum als ausgeschöpft gelten. Gleichwohl dürfte deutlich geworden sein, daß die Realisierung des vollen Theorien- und Forschungsprogramms des skizzierten Mehrebenen-Modells nicht hur ein lohnendes Ziel mit

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erheblichem Erkenntniszuwachs ist, sondern unter dem Gesichtspunkt einer im methodologischen Sinne vollständigen sozialwissenschaftlichen Erklärung aller auf die Famil je bezogenen Fragestellungen unausweichlich ist. Über den interkulturellen Vergleich stellen' sich entsprechend stets grundsätzliche Fragen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und Methodologie, da er sowohl die größte Herausforderung als auch die größte Bewährungsprobe für die Reichweite sozialwissenschaftlicher Erklärungen darstellt. Insofern ist auch jede Untersuchung, die eine familiensoziologische Fragestellung vergleichend thematisiert oder empirische Befunde unter dem Gesichtspunkt kulturspezifischer Institutionalisierungsprozesse analysiert, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

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I.

OSTASIEN

Der Einfluß von sozialen Netzwerken auf die Partnerwahl und bildungshomogame Eheschließungen in Taiwan: Eine Analyse von Heiratsvermittlern Chin-Chun Yi und Ray-Mqy Hsiung

Inhalt 1 2 3 4 5 6 7

Einführung Die traditionelle chinesische Praxis der Partnerwahl Die gegenwärtige chinesische Praxis der Partnerwahl Stratifizierung durch homogame Eheschließungen unter besonderer Berücksichtigung der Bildung der Partner Ergebnisse Diskussion Literatur

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Einführung

In allen bekannten Gesellschaften wird die Wahl eines Ehepartners durch institutionelle Normen gesteuert. Unter ihnen sind das Arrangement einer Ehe durch die Eltern und die persönliche Wahl eines Partners die am weitesten verbreiteten Formen der Partnerwahl (Nimkoff 1965; Leslie 1976; Reiss 1980). Gewöhnlich werden diese beiden Formen als Pole eines Kontinuums betrachtet. Ihrer jeweiligen kulturellen Tradition entsprechend nimmt jede Gesellschaft auf diesem Kontinuum eine bestimmte Position ein. Die traditionelle Form der Partnerwahl in China ist die von den Eltern arrangierte Ehe. Die Eheschließung wird gewöhnlich als ein wichtiges Familienereignis betrachtet, weniger als eine persönliche Angelegenheit (Lei 1991). Im Vergleich zum westlichen Muster der freien, persönlichen Partnerwahl üben Eltern durch das Arrangieren der Ehen ihrer Kinder eine direkte Kontrolle über die Wahl eines Ehepartners aus und reduzieren gleichzeitig den Einfluß ihrer Kinder auf diese Wahl. Im Prozeß der Partnerwahl spielen familiale Netzwerke, insbesondere Verwandte, Freunde, Nachbarn und Heiratsvermittler, eine große Rolle. Mit der Modernisierung wird die freie, persönliche Wahl eines Ehepartners zum universellen Trend {Fox 1975; Kumagai 1992; Whyte 1992), und auch Taiwan stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar (Wei & Reische 1983). Eine weitverbreitete Variante dieser "freien Wahl" beinhaltet allerdings, daß Kinder die Zustimmung ihrer Eltern einholen, bevor die Eheschließung endgültig vereinbart wird (Speare 1974). Umgekehrt gilt für Ehen, die von den Eltern arrangiert werden, daß die Kinder letztendlich ihre Einwilligung geben müssen. Frühere Studien zum Prozeß der Partnerwahl betonten entweder die systematische Struktur verschiedener Aspekte der Homogamie von Ehepartnern (Centers 1949; Cavan & Cavan 1971; Mare 1991) oder den sozialpsychologischen Aspekt der individuellen Wahl eines ganz bestimmten Partners (Coombs 1966; Kerckhoff & Davis 1962; Murstein 1970). Nur wenige Studien konzentrierten sich auf die Interaktionen von Familien und ihrem sozialen Netzwerk.

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Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Insofern als die Bedeutung der Wahl eines Ehepartners in China gerade darin liegt, daß das verwandtschaftliche Netzwerk des Partners übernommen wird, ist es unerläßlich, die Partnerwahl aus der Sicht des familialen Netzwerks zu untersuchen {Hsu 1948; Milardb 1988). Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht eine Netzwerkperson, die im Prozeß der Partnerwahl eine wichtige Rolle spielt, nämlich der Heiratsvermittler. Unter den wenigen Studien, die familiale Netzwerke im Zusammenhang mit Partnerwahlprozessen berücksichtigen, thematisieren die meisten die Unterstützungsleistungen, die Eltern und Freunde für das Paar erbringen, jedoch nicht die anderer Netzwerkpersonen {Sprecher & Felmlee 1992). Weil Heiratsvermittler oder die Arrangeure von Ehen in der chinesischen Geschichte {Hsu 1948) wie in der Gegenwart {Liu 1991; Pasternak 1991) eine Rolle spielen, ist es wichtig, sie in die Untersuchung von Partnerwahlprozessen miteinzubeziehen. In der vorliegenden Studie wird die Beteiligung eines Heiratsvermittlers als wesentlicher Indikator für bestimmte Muster von Partnerwahlprozessen über mehrere Geburtskohorten hinweg betrachtet. Weiter soll die Struktur homogamer Paarbildung und ihr Zusammenhang mit bestimmten Mustern der Partnerwahl untersucht werden. Es ist zu erwarten, daß die Untersuchung von Partnerwahlprozessen aus netzwerkanalytischer Perspektive zum Verständnis homogamer Partnerwahl als gängigem Forschungsgegenstand der Familienforschung beiträgt.

2

Die traditionelle chinesische Praxis der Partnerwahl

Die Aufnahme und der Unterhalt vorehelicher Beziehungen sind in den meisten Gesellschaften Gegenstand normativer Kontrolle. Exogamiegebote, Geschlechtersegregation, Meidungsgebote etc. wirken gleichermaßen auf eine stärkere elterliche Entscheidungsmacht hinsichtlich der Wahl eines Ehepartners für ihr Kind hin {Goode 1959). Eine Eheschließung, die auf romantischer Liebe oder gegenseitiger Attraktivität beruht, stellt eine Bedrohung für die existierende soziale Stratifikation dar und muß deshalb verhindert werden. Die traditionelle chinesische Ehe ist diesbezüglich keine Ausnahme. In der traditionellen chinesischen Familie sind Gehorsam gegenüber den Eltern und Respekt vor dem Alter die beiden wichtigsten Werte, die die Kontrolle von Eltern über die Entscheidung ihrer Kinder für einen Ehepartner legitimieren. In der Vergangenheit war der Gehorsam der Kinder den Eltern gegenüber ein so hervorstechendes Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung, daß die zukünftige Braut und der zukünftige Bräutigam nicht nach ihrer Meinung zu ihrer eigenen Eheschließung gefragt wurden {Wen 1973; Hsu 1948). Mit anderen Worten: Die traditionelle Partnerwahl und Eheschließung in China ist eher die "Adoption" einer Schwiegertochter durch die Eltern als die Wahl einer Ehefrau durch den Sohn. In einer Gesellschaft, in der Familialismus zum kulturellen Erbe gehört, ist die Existenz des Individuums definiert über die Position, die es in der Kette sozialer Kontinuität einnimmt {Fei 1966). Die Zeugung von Nachkommen ist dann von wesentlicher Bedeutung für die Familie und der Hauptzweck der Ehe. Es ist bekannt, daß die wichtigste Beziehung in der chinesischen Familie typischerweise die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist, während die eheliche Beziehung im Familiensystem immer sekundär bleibt {Yi 1975). Folglich dient die Ehe der Sicherung der Kontinuität der Familie und der Verehrung der Ahnen, nicht dem Glück des jungen Paares {Sun 1968). Nach diesem Verständnis ist eine Eheschließung etwas, was von den Eltern und anderen älteren Familienmitgliedern arrangiert werden muß, um die Wahl eines passenden Partners sicherzustellen. Die betroffenen jungen Leute können die Eheschließung nur passiv akzeptieren. Häufig begegnen sie sich zum ersten Mal erst am Tag der Heirat.

Partnerwahl in Taiwan

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Bei der Partnersuche nehmen Eltern gewöhnlich die Dienste professioneller Heiratsvermittler in Anspruch {Hsu 1948; Whyte 1995). Obwohl Eheschließungen zwischen Verwandten unter Berücksichtigung bestimmter Exogamiegebote möglich sind, wird meist eine Eheschließung zwischen Nicht-Verwandten angestrebt. Der Heiratsvermittler ist hier von besonderer Bedeutung. Meist ist es eine Frau aus dem Dorf oder aus der Nachbarschaft, die sich professionell oder nebenbei als Heiratsvermittlerin betätigt. Sie muß die beiden betroffenen Familien kennen, um Fragen jeweils einer Familie über die andere beantworten und beide Familien gleichermaßen davon überzeugen zu können, daß die geplante Ehe eine perfekte Verbindung wäre. Akzeptiert die Familie des Mädchens den Vorschlag der Heiratsvermittlerin, folgen weitere Prozeduren zur Vorbereitung der Eheschließung, wie z.B. die Konsultation von Wahrsagern (vgl. Hsu 1948) und die Verhandlungen über den Brautpreis und die Zusammensetzung der Mitgift. Dies alles dient dazu zu garantieren, daß ein zukünftiger Ehepartner auch tatsächlich die Merkmale hat, die zur Befriedigung der familiären Bedürfnisse und zur Steigerung der familiären Ressourcen beitragen, und insofern ein 'passender' Partner ist. Natürlich hat die Rücksichtnahme auf das Familieninteresse dabei Vorrang vor individuellen Vorlieben (Whyte 1995). Außerdem sichert die Kontrolle, die die Eltern hinsichtlich der Partnerwahl ausüben, die Aufrechterhaltung der maximalen Fürsorge innerhalb der väterlichen Linie des Verwandtschaftssystems. Mit der Inanspruchnahme der Dienste einer Heiratsvermittlerin gewährleistet die traditionelle chinesische Praxis der Partnerwahl durch die Eltern bzw. die Familie, daß ein neues Mitglied zur Fortführung der männlichen Abstammungslinie rekrutiert wird.

3

Die gegenwärtige chinesische Praxis der Partnerwahl

Alle traditionellen Gesellschaften sehen sich der Herausforderung universeller Modernisierung gegenüber. Je länger sie dem Einfluß der westlichen Kultur ausgesetzt waren oder je häufiger sie mit westlichen Praktiken in Berührung gekommen sind, desto eher zeigen sie eine Akzeptanz westlicher Normen (Goode 1970; McDonald 1980; Rodman 1972; Yi & Tsai 1989). Dies gilt auch im Hinblick auf die Wahl eines Ehepartners. Sowohl im Westen als auch in China tendiert die Partnerwahl dazu, sich im Zuge zunehmender Industrialisierung immer mehr in Richtung einer freien, persönlichen Wahl zu entwickeln (Eshleman 1981). Empirische Daten aus Festland-China und Taiwan zeigen gleichermaßen, daß die gegenwärtige Praxis der chinesischen Partnerwahl besser als sich allmählich der gänzlichen Kontrolle der Eltern entziehend beschrieben wird denn als persönliche Entscheidung. In vielen Forschungsberichten werden die folgenden drei Arten der Wahl eines Ehepartners unterschieden: elterliches Arrangement, persönliche Wahl sowie gemeinsame Entscheidung von Eltern und Kindern {Lei 1991; Thornton et cd. 1989). Aus einer netzwerkanalytischen Perspektive können entsprechend elterliches Arrangement, direkte persönliche Bekanntschaft und Vorstellung der Partner durch andere Personen unterschieden werden (Liu 1991; Pasternak 1991). Für Festland-China hat eine 1982 in fünf großen Städten durchgeführte Studie ergeben, daß unter den fast 5.000 verheirateten weiblichen Befragten der Anteil der durch die Eltern arrangierten Ehen 1937 bei 55% lag, im Jahr 1953 bei 21% und 1982 bei weniger als 1%. Der Anteil der Ehen, die aufgrund persönlicher Bekanntschaft der Partner zustandekamen, stieg von 5% im Jahre 1937 auf 19% im Jahr 1953 und 33% im Jahr 1982. Das dominante Muster, nach dem die Wahl eines Ehepartners erfolgt, ist jedoch die Vorstellung der Partner durch andere Personen, besonders durch Freunde (15% im Jahr 1937, 31% im Jahr 1953 und 50% im

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Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Jahr 1982), weniger durch Verwandte (24% im Jahr 1937, 27% im Jahr 1953 und 16% im Jahr 1982) (Liu 1991). Ähnliche Ergebnisse werden für eine bestimmte Wohngegend einer Stadt berichtet, die ein rasches Anwachsen des Anteils an Eheschließungen, bei denen die Partner einander von Kollegen vorgestellt wurden (von 20% während der Jahre 1949-1957 auf 46% im Jahr 1976) und ein rasches Absinken des Anteils an Eheschließungen, bei denen die Partner einander von Verwandten vorgestellt wurden (von 38% während der Jahre 1949-1957 auf 38% im Jahr 1976) aufweist (Pasternak 1991). Manche Autoren behaupten, die Praxis der Partnerwahl in Festland-China habe sich aufgrund eines zunehmenden Bekanntheitsgrades des Eherechts von 1950, das die freie Wahl eines Ehepartners unter Ausschluß von Einflußnahme oder Zwang durch dritte Personen garantiert, so drastisch verändert {Lei 1991). Dieses Gesetz zielte darauf ab, die Eheschließung zu einer persönlichen statt zu einer familiären Angelegenheit zu machen. Die vorherrschende Praxis des Einsatzes von Heiratsvermittlern zeigt jedoch, daß das traditionelle Muster der Partnerwahl und Eheschließung durchaus weit verbreitet ist. Dabei ist aber zu beachten, daß Freunde und Kollegen eine zunehmend große Rolle als Heiratsvermittler spielen, so daß anzunehmen ist, daß Bildung und Beruf ebenso wie die eigene aktive Beteiligung an der Partnersuche tatsächlich auf eine größere Ähnlichkeit der Partner hinwirken. Diesbezüglich wichtige Studien wurden in Taiwan erstmals in den 60er Jahren durchgeführt. Eine städtische Stichprobe ergab 22.5% von den Eltern arrangierte Ehen, 33.2% direkte Bekanntschaften der beiden Partner und 31.1% gemeinsame Entscheidungsprozesse der Partner und ihrer Eltern (Lung & Chang 1967). Nach der Beteiligung von Heiratsvermittlern wurde in dieser Studie nicht gefragt. Normalerweise beinhalten die gemeinsame Entscheidung von Kindern und ihren Eltern über die Eheschließung und das elterliche Arrangement der Ehe gleichermaßen die Beteiligung einer Person, die im Prozeß der Partnerwahl vermittelnd auftritt. In einer früheren Befragung von 300 Schülern an höheren Schulen aus dem Jahr 1962 gaben 57.7% der Schüler an, die Ehe ihrer Eltern sei eine traditionelle Ehe (oder eine von den Eltern arrangierte Ehe), während 17.1% angaben, die Ehe ihrer Eltern sei eine moderne Ehe (oder auf freier, persönlicher Partnerwahl basierende Ehe) (Tsai 1987). Interessant ist, daß der Anteil der von den Eltern arrangierten Ehen unter den Fukien oder Taiwanesen mit 71% weit höher ist als unter den Festland-Chinesen mit 17%. Umgekehrt berichten Festland-Chinesen viel häufiger (47.2%) von einer freien Wahl des Ehepartners als Taiwanesen (7.3%). Unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit scheint also mit unterschiedlichen Mustern der Partnerwahl verbunden zu sein. Eine neuere Studie des Familienplanungsinstituts der Provinz Taiwan ergab, daß unter 1.200 verheirateten Frauen im Alter von 15-49 Jahren der Anteil der Frauen, deren Ehe auf direkter Bekanntschaft mit dem Partner beruht, von 13% im Zeitraum zwischen 1955 und 1959 auf 39% im Zeitraum zwischen 1980 und 1984 gestiegen ist. Durch die Eltern arrangierte Ehen sind durch einen gegensätzlichen Trend gekennzeichnet (1955-59: 57%; 1980-84: 22%). Der Anteil derer, die dem Partner durch eine dritte Person vorgestellt wurden, bleibt relativ stabil (1955-59: 30%; 1980-84: 38%) (Thomton et al. 1989). Bringt man diese Daten in Zusammenhang mit Daten zur Entscheidung darüber, mit wem die Ehe geschlossen wurde bei denen Entscheidungen der Eltern 11% ausmachten, gemeinsame Entscheidungen von Eltern und Kind 57% und persönliche Entscheidungen 32% - so wird deutlich, daß Paare, deren Ehe auf direkter Bekanntschaft beruht, auch die größte Autonomie bezüglich der Entscheidung für einen Ehepartner hatten. Bei anderen Mustern der Partnerwahl ist der Einfluß der Eltern überdurchschnittlich groß. Es wird angenommen, daß das Zustandekommen von

Partnerwahl in Taiwan

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schließt, während das Zustandekommen von Ehen durch elterliches Arrangement und durch die Vermittlung durch eine dritte Person die Beteiligung von Heiratsvermittlern einschließt. Beim Versuch zu erklären, wie soziale Netzwerke den Prozeß der Partnerwahl oder die Entwicklung vorehelicher Beziehungen beeinflussen, stimmen frühere Studien unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung darin überein, daß die Bestätigung und die Unterstützung durch Angehörige des sozialen Netzwerks signifikant zur Stabilität der Paarbeziehung beitragen {Parks et al. 1983; Berger 1987). Abgesehen von den wenigen Studien, die einen "Romeo-und-Julia-Effekt" feststellen (Driscoll et al. 1972), deuten die Ergebnisse der meisten Studien darauf hin, daß die Unterstützung durch das soziale Netzwerk - insbesondere durch Eltern und Freunde - positiv mit der Entwicklung der Beziehung zwischen potentiellen Ehepartnern verbunden ist (Sprecher & Felmlee 1992). Der Einfluß, den Eltern und Freunde auf den Prozeß der Partnerwahl haben, kann weiter spezifiziert werden. Allgemein wirkt dieser Einfluß indirekt über im Verlauf des Sozialisationsprozesses erworbene und für die Partnerwahl relevante Werte sowie über die Verfügbarkeit möglicher Heiratspartner innerhalb eines bestimmten geographischen Raums (Leslie et al. 1986). Sussman berichtet, daß Eltern für ihre Kinder endogame Ehen bevorzugen und exogame Ehen ablehnen (Sussman 1953). Durch die Wahl des Wohnorts, geplante soziale Aktivitäten und durch die während des Sozialisationsprozesses vermittelten Werte nimmt ein zukünftiger Ehepartner bzw. ein ausreichend "gut passender" Partner allmählich Gestalt an. Deshalb werden Eltern nur dann direkt in den Prozeß der Partnerwahl eingreifen, wenn zu befurchten steht, daß der Partner "nicht paßt" oder eine nicht erwünschte Ehe geschlossen werden wird. Es ist zu vermuten, daß die positive Wirkung der Unterstützung durch das soziale Netzwerk auf die Entwicklung der Partnerschaft und der indirekte Einfluß der Eltern auf die Partnervahl im heutigen Taiwan ebenfalls gegeben sind. Bei der Analyse des Übergangs von verpflichtenden Normen der Partnerwahl, nach denen Eltern die letztendliche Entscheidungsgewalt haben, zu optionalen Normen der Partnerwahl, bei denen die freie Wahl des Partners ein individuelles Recht ist {Johnson 1988), sollte jedoch berücksichtigt werden, daß sich der Einfluß des sozialen Netzwerks nicht im Einfluß der Eltern erschöpft. Heutzutage treten neben die traditionellen Heiratsvermittler aus dem Kreis der Verwandten und Nachbarn die modernen Heiratsvermittler aus dem Kreis der Arbeitskollegen, Klassenkameraden und Freunde. Die Existenz unterschiedlicher Typen von Heiratsvermittlern wird hier als ein Indikator für den Wandel der Muster, nach denen die Partnerwahl erfolgt, aufgefaßt. Die Untersuchung der Frage, ob und wie Heiratsvermittler die Qualität der durch sie beförderten Paarbildung beeinflussen, erlaubt es einerseits, das Zustandekommen homogamer Partnerschaften im heutigen Taiwan zu verstehen, und andererseits die Bedeutung der Heiratsvermittler für den Prozeß der Partnerwahl zu ermitteln.

4

Stratifizierung durch homogame Eheschließungen unter besonderer Berücksichtigung der Bildung der Partner

Wer wen heiratet und welche Mechanismen bei der Paarbildung wirken, ist im Zusammenhang mit sozialer Stratifizierung eine wichtige Forschungsfrage. Frühere Studien haben sich auf die Bedeutung von Homogamie im Gegensatz zu Heterogamie für den Paarbildungsprozeß konzentriert. Die strukturellen Indikatoren, die für homogame Eheschließungen bedeutsam sind, sind das Lebensalter, der Wohnort, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, Religionszugehörigkeit, Bildung und ethnische Zugehörigkeit {Eshleman 1981;

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Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Leslie 1979; Pagnini & Morgan 1990; Johnson 1980; Hurt 1982; Rockwell 1976). Außerdem werden psychologische oder biologische Merkmale genannt (Epstein & Guttman 1984). Untersuchungen in der westlichen Welt haben ergeben, daß eine Tendenz'zur homogamen Partnerwahl besteht, insbesondere hinsichtlich des sozialen Hintergrunds der beiden Partner. Dies entspricht ganz und gar dem chinesischen Ideal einer Gleichheit der Partner nach Herkunft und Ansehen, worin ebenfalls das Streben nach Homogamie zum Ausdruck kommt. Insofern als die Ehe eine wichtige soziale Institution ist, gelten strukturelle Merkmale, die in einer Gesellschaft eine besondere Rolle spielen (z.B. Bildung oder ethnische Zugehörigkeit), als die wichtigsten Faktoren, die bei der Wahl eines Ehepartners zu berücksichtigen sind. Folglich ist die homogame Partnerwahl, die die existierende soziale Stratifizierung am wenigsten in Frage stellt und traditionelle familiale Werte aufrechterhält, das bevorzugte Heiratsmuster. Die Vorstellung davon, wer zu wem "paßt", ist eng verbunden mit der Vorstellung von der homogamen Paarbildung. Empirische Studien haben gezeigt, daß Faktoren wie Religionszugehörigkeit und Nähe der Wohnorte aufgrund zunehmender sozialer Mobilität und Migration an Bedeutung für die Partnerwahl verlieren. Jedoch bleiben Bildungs- und Berufshomogamie wesentliche Kriterien für die Partnerwahl (Eshleman 1981). Es sollte festgehalten werden, daß zahlreiche Befunde auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf den sozialen Auf- oder Abstieg, der mit einer Eheschließung verbunden sein kann, hindeuten: Aufgrund der größeren Ressourcen des Mannes ist mit der Eheschließung gewöhnlich ein sozialer Aufstieg der Frau verbunden (Leslie 1979). Auch dies entspricht der bestehenden sozialen Stratifizierung, nach der die Ressourcen der Männer über den Status und das soziale Prestige einer Familie entscheiden. Deshalb wird es nicht als Verletzung des Homogamieprinzips angesehen, wenn Männer "nach unten" heiraten. Vielmehr drückt sich hierin zu einem frühen Zeitpunkt des Familienbildungsprozesses ein Aspekt der sozialen Stratifizierung aus. Häufig basieren Erklärungen für Partnerwahlprozesse auf Theorien des sozialen Tauschs. Die grundlegende Annahme hierbei ist, daß Männer ihren sozio-ökonomischen Status gegen sexuelle Gratifikationen und die von den Frauen geleistete Hausarbeit tauschen (South 1991). Damit legen die Theorien des sozialen Tauschs wiederum die Annahme eines sozialen Aufstiegs der Frauen durch die Eheschließung nahe. In Festland-China durchgeführte Studien haben ergeben, daß 80% der Befragten meinten, ihrem Ehepartner hinsichtlich der sozialen Herkunft ähnlich zu sein. Von denen, die unterschiedliche soziale Herkunft angaben, bezeichneten 61% der Frauen die soziale Herkunft ihres Ehemannes "besser" als ihre eigene (Pasternak 1991). Dieser Befund scheint die Hypothese vom sozialen Aufstieg der Frauen durch die Eheschließung weiter zu stützen. Betrachtet man den sozialen Aufstieg der Frauen durch die Eheschließung als Ausdruck einer heterogamen Paarbildung bzw. als Asymmetrie in der Paarbildung, so verdient insbesondere die Bildungshomogamie nähere Betrachtung: Mit zunehmendem Modernisierungsgrad einer Gesellschaft wird Bildung zu einer bedeutsamen und objektiven Dimension der Partnerwahl. Dies konnte durch verschiedene empirische Untersuchungen belegt werden (Hymanetal. 1975; Jencks et al. 1979; Mare 1991). Der Einfluß von Bildung auf die Partnerwahl kann unterschieden werden nach einem Einstellungs- und einem Verhaltensaspekt. Es wurde festgestellt, daß höher Gebildete weniger bereit sind, Personen zu heiraten, die schon einmal verheiratet waren oder einen niedrigeren sozio-ökonomischen Status haben (South 1991). Mit anderen Worten: Die Einstellungen höher Gebildeter gehen in Richtung einer Präferenz für homogame Eheschließungen.

Partnerwahl in Taiwan

31

Dies entspricht den Befunden zur tatsächlichen Partnerwahl. Mare untersuchte, wie sozialer Wandel sich auf Homogamie beider Partner hinsichtlich ihrer Bildung auswirkt (Mare 1991). Er stellte fest, daß die Wahl eines Partners mit gleicher Bildung vom erreichten Bildungsgrad und vom Zeitpunkt der Eheschließung abhängt. US-amerikanische Daten aus dem Zeitraum zwischen 1930 und 1980 zeigen, daß die Barrieren gegen eine Eheschließung zwischen Personen ungleicher Bildungsniveaus früher niedriger gewesen sind. Dies ist im Zusammenhang mit der zunehmenden Präsenz von Frauen mit guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt auf dem Heiratsmarkt zu sehen (Oppenheimer 1988). Als Folge hiervon ist Bildungshomogamie am stärksten unter Hochgebildeten. Dieser Trend könnte zu größerer Ungleichheit zwischen Ehepaaren und deren Nachkommen fuhren (Mare 1991). Bildungshomogamie impliziert deshalb intra-familiale Homogenität und inter-familiale Heterogenität, was wiederum die soziale Mobilität zwischen den Generationen beeinflußt. Bisher gibt es keine systematischen Informationen darüber, welche Rolle Bildung bei der Partnerwahl in Taiwan spielt. Dies wird hier erstmals untersucht. Außerdem wird geprüft, ob die Beteiligung von Heiratsvermittlern oder das Muster der Partnerwahl im allgemeinen die Qualität der Paarbildung beeinflussen. In der folgenden Analyse werden zunächst die Veränderungen der Muster der Partnerwahl in Taiwan über die Zeit beschrieben. Die Beteiligung oder Nicht-Beteiligung von Heiratsvermittlern dient dabei als Indikator für unterschiedliche Muster der Partnerwahl. Danach wird untersucht, welche Rolle Bildung bei verschiedenen Mustern der Partnerwahl spielt. Schließlich werden die Ergebnisse kurz diskutiert und die Konsequenzen dieser Studie für die zukünftige Forschung angesprochen.

5

Ergebnisse

Die Daten, auf denen die folgende Analyse basiert, wurden dem "Social Image Survey of Taiwan" vom Juni 1991 entnommen. Die inselweit stratifizierte Zufallsstichprobe umfaßt 1.589 befragte Personen, von denen zum Befragungszeitpunkt 1.221 Personen verheiratet waren. Für die folgende Analyse wurde diese Verheirateten-Stichprobe ausgewertet. Tabelle 1: Muster der Partnerwahl und die Beteiligung von Heiratsvermittlern (in %) Beteiligung eines Heiratsvermittlers Muster der Partnerwahl

nein

ja

36.1

63.9

100.0 (n=133)

Vorstellung durch andere

0.9

99.1

100.0 (n=547)

persönliche Bekanntschaft

85.2

14.8

100.0 (n=541)

42.1 (n=514)

57.9 (n=707)

Arrangement der Ehe durch die Eltern

insgesamt

insgesamt

100.0 (N=1221)

Die makro-strukturelle Bedeutung sozialen Wandels kann durch die Betrachtung der Geburtskohorten untersucht werden, denen die befragten Personen angehören. Hier werden drei Geburtskohorten unterschieden, um drei verschieden Zeiträume abzudecken: den Zeitraum vor 1946 (dies entspricht der Vorkriegs-Generation), den Zeitraum zwischen 1947 und 1955 und den Zeitraum nach 1956 (der die Generationen umfaßt, für die Schulpflicht bis zum

32

Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Abschluß der 11. Klasse bestand). Die entsprechenden Alterskohorten sind die 45-64jährigen, die 36-44jährigen und die 20-35jährigen. In bezug auf die Muster der Parttierwahl werden hier drei Haupttypen unterschieden: die von den Eltern arrangierte Ehe (n=133), die Vorstellung der Partner durch andere Personen (n=547) und die persönliche Bekanntschaft der Partner (n=541) (vgl. Tabelle 1). Tabelle 2: Geburtskohorten, Bildung, ethnische Zugehörigkeit, Urbanisierungsgrad und Muster der Partnerwahl (Zeilenprozente) Muster der Partnerwahl: mit Beteiligung eines Heiratsvermittlers

ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers

insgesamt N

Geburtskohorten (n=1058) - Alter 45-64 - Alter 36-44 - Alter 20-35

75.2 56.5 42.1

24.8 43.5 57.9

347 345 366

Bildung (n=1084) - Primary School - Junior High - Senior High - College - Universität

72.7 54.9 45.6 43.0 36.7

27.3 45.1 54.1 54.4 63.3

461 184 241 100 98

ethnische Zugehörigkeit (n=1059) - Fukien -Hakka - Festland-Chinesen

58.9 69.0 40.0

41.1 31.0 60.0

859 100 100

Urbanisierungsgrad (n=1087) - Dörfer, ländl. Gebiete - Stadtgemeinden - Städte (außer Kernstädten) - Kernstädte

70.3 60.7 56.7 48.8

29.7 39.3 43.3 51.1

155 336 277 319

Chi 2

P

80.39

.00

85.32

.00

18.50

.00

21.88

.00

Tabelle 1 zeigt, daß die Beteiligung von Heiratsvermittlern nicht an ein bestimmtes Muster der Partnerwahl gebunden ist, deshalb werden die Muster der Partnerwahl neu klassifiziert: Nunmehr wird einerseits unterschieden zwischen Personen, die angeben, ein Heiratsvermittler sei beteiligt gewesen, und gleichzeitig angeben, den Partner nicht persönlich gekannt zu haben, und andererseits Personen, die angeben, ihre Ehe sei aufgrund persönlicher Bekanntschaft zustandegekommen, und explizit sagen, es sei kein Heiratsvermittler beteiligt gewesen. Das traditionelle Muster der Partnerwahl umfaßt nun also diejenigen, deren Ehe von den Eltern arrangiert wurde (64%), und diejenigen, die ihrem Partner durch eine andere Person vorgestellt wurden (99%). Insgesamt entfallen 627 Befragte (51.4%) auf dieses traditionelle Muster der Partnerwahl. Durch persönliche Bekanntschaft der Partner zustandegekommene Ehen, bei denen auch kein Heiratsvermittler beteiligt war (85%), repräsentieren das moderne Muster der Partnerwahl. Insgesamt entfallen 461 Befragte (37.8%) auf diese Kategorie. In die Analysen, bei denen zwischen Ehen, die unter Beteiligung eines Heiratsvermittlers zustandegekommen sind, und solchen ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers unterschieden wird, gehen also insgesamt 1.088 Befragte ein. Betrachtet man die drei Haupttypen der Partnerwahl aus einer netzwerkanalytischen Perspektive, so ergibt sich, daß die Beteiligung bzw. Nicht-Beteiligung eines Heiratsvermittlers ein geeignetes Kriterium zur Unterscheidung verschiedener Muster der Partnerwahl ist. Es

Partnerwahl in Taiwan

33

wird vermutet, daß Eheschließungen, an denen ein Heiratsvermittler beteiligt ist, traditionellen oder obligatorischen Normen folgen; Eheschließungen ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers stehen für den modernen Typ, der optionalen Normen bei der Partnerwahl folgt. Tabelle 2 gibt zunächst Auskunft über die Beziehung zwischen bestimmten Mustern der Partnerwahl und verschiedenen Geburtskohorten. Es zeigt sich, daß die Beteiligung eines Heiratsvermittlers an der Partnerwahl bei älteren Geburtskohorten häufiger ist als bei jüngeren Kohorten. Die Häufigkeit der Beteiligung eines Heiratsvermittlers an der Partnerwahl sinkt deutlich von 75% in der ältesten Kohorte auf 57% in der mittleren und auf 42% in der jüngsten Kohorte. Umgekehrt kann eine stetige Zunahme des Anteils derer, die den Partner selbst bzw. ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers gewählt haben, beobachtet werden. Dabei weist von den drei Geburtskohorten die jüngste Kohorte dieses Muster der Partnerwahl am häufigsten auf: Die prozentualen Anteile in den einzelnen Kohorten betragen 25% bei der ältesten, 44% bei der mittleren und 58% bei der jüngsten Kohorte. Offensichtlich geht der Trend in die Richtung einer persönlichen Partnerwahl, an der kein Heiratsvermittler beteiligt ist. Ebenfalls in Tabelle 2 werden verschiedene Aspekte des persönlichen Hintergrundes einer Person im Zusammenhang mit bestimmten Mustern der Partnerwahl ausgewiesen: Hinsichtlich der Bildung läßt sich ein ähnliches Muster feststellen wie hinsichtlich der Geburtskohorten. Höher Gebildete geben häufiger an, den Partner ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers kennengelernt zu haben. Fast drei Viertel der Befragten mit weniger als zehn Schuljahren geben an, daß ein Heiratsvermittler an ihrer Eheschließung beteiligt gewesen sei. Dem stehen 63% derer gegenüber, die eine Universitätsbildung haben und angeben, es sei kein Heiratsvermittler an ihrer Eheschließung beteiligt gewesen. Auch was die ethnische Zugehörigkeit betrifft, lassen sich signifikante Unterschiede feststellen. Die Hakka weisen am häufigsten das traditionelle Muster der Partnerwahl auf (69% der Hakka geben an, dem Partner von einer anderen Person vorgestellt worden zu sein), die Fukien nehmen eine mittlere Position ein (59% geben an, ein Heiratsvermittler sei an der Partnerwahl beteiligt gewesen), und die Festland-Chinesen folgen am stärksten optionalen Normen bei der Partnerwahl, denn 60% von ihnen geben an, den Partner selbst gewählt zu haben. In bezug auf den Einfluß des Urbanisierungsgrades entsprechen die Ergebnisse den Erwartungen: Der Urbanisierungsgrad hängt positiv mit dem modernen Muster der Partnerwahl zusammen. Befragte, die in nationalen oder regionalen Zentren, sogenannten Kernstädten, leben, haben mit 49% den geringsten Anteil an Eheschließungen, die unter Beteiligung eines Heiratsvermittlers zustandegekommen sind. Befragte aus anderen Städten folgen mit 57%, daran schließen sich Befragte aus städtischen Gemeinden mit 61% an, und schließlich folgen Befragte aus ländlichen Gebieten mit 70%. Zusammenfassend kann aus Tabelle 2 entnommen werden, daß die Bedeutung der Beteiligung von Heiratsvermittlern an der Partnerwahl über die Zeit gesehen allmählich zurückgegangen ist, während 'moderne' Eheschließungen (ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers) und optionale Normen mit der Zeit vorherrschend wurden. Dieser Rückgang findet sich auch bei Höhergebildeten und bei höherem Urbanisierungsgrad und variiert mit der ethnischen Zugehörigkeit.

34

Ch,-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Tabelle 3: Bildungshomogamie der Ehepartner in der Alterskohorte der 45-64jährigen (prozentuale Anteile) Bildung des Ehemannes weniger als 10 Schuljahre

10-11 Schuljahre

12 Schuljahre

College

Universität

insgesamt

Bildung der Ehefrau weniger als 10 Schuljahre

56.5

9.1

7.6

0.8

2.1

76.1

10-11 Schuljahre

1.6

2.3

2.1

2.3

1.6

9.9

12 Schuljahre

0.5

0.8

2.1

1.6

2.3

7.3

College

0.0

0.3

0.3

0.5

2.3

3.4

Universität

0.0

0.3

0.0

0.5

2.6

3.4

insgesamt

58.6

12.8

12.1

5.7

10.9

100.0

Tabelle 3a: Bildungshomogamie der Ehepartner in der Alterskohorte der 36-44jährigen (prozentuale Anteile) Bildung des Ehemannes weniger als 10 Schuljahre

10-11 Schuljahre

12 Schuljahre

College

Universität

insgesamt

46.6

Bildung der Ehefrau weniger als 10 Schuljahre

28.9

10.0

7.0

0.7

0.0

10-11 Schuljahre

4.1

3.9

5.3

1.0

1.2

15.5

12 Schuljahre

2.4

2.4

8.0

5.3

3.9

22.0

College

0.0

0.0

0.7

3.4

3.6

7.7

Universität

0.2

0.0

0.0

1.9

5.8

7.9

insgesamt

35.6

16.3

21.0

12.3

14.5

100.0

Tabelle 3b: Bildungshomogamie der Ehepartner in der Alterskohorte der 20-35jährigen (prozentuale Anteile) Bildung des Ehemannes weniger als 10 Schuljahre

10-11 Schuljahre

12 Schuljahre

College

Universität

insgesamt

Bildung der Ehefrau weniger als 10 Schuljahre

7.9

7.2

3.4

0.0

0.5

19.0

10-11 Schuljahre

1.9

11.8

12.0

1.0

0.2

26.9

12 Schuljahre

1.9

5.3

20.9

5.8

3.6

37.5

College

0.2

0.7

2.2

4.6

2.4

10.1

Universität

0.0

0.0

0.0

1.0

5.5

6.5

insgesamt

11.9

25.0

38.5

12.4

12.2

100.0

Partnerwahl in Taiwan

35

Tabelle 4: Verhältnisse zwischen bildungsheterogamen und bildungshomogamen Eheschließungen: Ein Vergleich zwischen Taiwan (nach Alterskohorten) und den USA* (im Jahr 1940 sowie im Zeitraum von 1985-1987) Taiwan (a) Bildungsgrad A B C D E

45-64 0.3:1 7.7:1 7.2:1 15.5:1 3.5:1

36-44 0.9:1 6.1:1 3.4:1 3.9:1 1.9:1

USA (b) 20-35 1.9:1 3.1:1 2.6:1 2.9:1 1.4:1

1940 0.8:1 4.8:1 2.1:1 3.7:1 2.8:1

1985-1987 3.6:1 6.2:1 1.2:1 2.9:1 1.1:1

Anmerkungen:

* Die Daten für die USA wurden entnommen aus Mare 1991 und neu berechnet. (a) Bildungsgrad A: Primary School Bildungsgrad B: Junior High School Bildungsgrad C: Senior High School Bildungsgrad D: College Bildungsgrad E: Universität

(b) Bildungsgrad A: weniger als 10 Schuljahre Bildungsgrad B: 10-11 Schuljahre Bildungsgrad C: 12 Schuljahre Bildungsgrad D: 13-15 Schuljahre Bildungsgrad E: 16 oder mehr Schuljahre

Im folgenden wird danach gefragt, wie verschiedene Muster der Partnerwahl mit der Bildungshomogamie der Ehepartner zusammenhängen. Zunächst wird der Bildungsgrad des Ehemannes mit dem der Ehefrau in den unterschiedlichen Geburtskohorten verglichen. Tabellen 3, 3a und 3b zeigen, daß homogame Heiraten in der Gruppe der am höchsten und der Gruppe der am niedrigsten Gebildeten in jeder der drei Geburtskohorten dominieren. In der Alterskohorte der 45-64jährigen haben in 56.5% aller Ehen beide Partner weniger als zehn Jahre Schulbildung. In der Kategorie der universitären Bildung sind Ehen zwischen Partnern, die beide eine universitäre Bildung haben, mit 2.6% häufiger als alle anderen Kombinationen innerhalb dieser Bildungsklasse. Ahnliche Muster lassen sich auch für die beiden anderen Kohorten feststellen. In der Kohorte der 45-64jährigen ist das Bildungsniveau durchschnittlich geringer als in den beiden anderen Kohorten. Die Dominanz einer Bildungshomogamie in der Gruppe der Niedriggebildeten ist sicher als ein Ergebnis dieser Opportunitätsstruktur aufzufassen. Für die Höhergebildeten besteht jedoch eine Tendenz zur freien Wahl eines gleichermaßen gebildeten Partners. Dies gilt insbesondere für Frauen mit universitärer Bildung: 76.5% dieser Frauen wählen Partner mit dem selben Bildungsgrad. Die Hürden, die einer Eheschließung unterschiedlich hoch Gebildeter entgegenstehen, scheinen - wie auch im Westen - hoch zu sein. Welche Muster bildungshomogamer Eheschließungen lassen sich abgesehen von der Bildungshomogamie der Höhergebildeten feststellen? Anhand von Tabelle 4 wird zunächst die Bildungsstratifikation von Paaren unterschiedlicher Geburtskohorten in Taiwan untersucht. Der Vergleich der drei Geburtskohorten zeigt, daß die Anzahl von Eheschließungen zwischen Partnern mit unterschiedlichem Bildungsgrad abnimmt: In jüngeren Kohorten ist der Anteil bildungsheterogamer Ehen geringer als in älteren. Dagegen ist für diese Gruppe der am wenigsten Gebildeten (Bildungsgrad A) ist ein Anstieg der Bildungsheterogamie festzustellen. Alle anderen Bildungsgruppen weisen ein einheitliches Muster auf: Der Anteil der bildungsheterogamen Ehen geht zurück, während der Anteil der bildungshomogamen Ehen steigt. Da in jüngeren Geburtskohorten der Anteil derjenigen, die weniger als zehn Schuljahre aufzuweisen haben, stetig abnimmt, kann angenommen werden, daß der beobachtete Trend zur Bildungshomogamie unterschätzt wird.

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Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

Tabelle 5: Der Zusammenhang zwischen Mustern der Partnerwahl und bildungshomogamer bzw. -heterogamer Eheschließung nach Alterskohorten Bildungsgrade der Ehepartner Muster der Partnerwahl

der des Ehemannes ist niedriger

gleich

der des Ehemannes ist höher

12.5% 14.8%

45.4% 52.6%

42.1% 32.5%

50.7% 50.9%

38.3% 36.8%

68.2% 51.2%

28.3% 41.7%

Alter: 20-35 Jahre - mit Beteiligung eines Heiratsvermittlers - persönliche Bekanntschaft

Chi 2 = 3.48; p = 0.19 Alter: 36-44 Jahre - mit Beteiligung eines Heiratsvermittlers - persönliche Bekanntschaft

11.0% 12.3% Chi 2 = 0.18; p = 0.91

Alter: 45-64 Jahre - mit Beteiligung eines Heiratsvermittlers - persönliche Bekanntschaft

3.5% 7.1% Chi 2 = 8.39; p = 0.15

Tabelle 6: Die Beziehung zum Heiratsvermittler und bildungshomogame bzw. -heterogame Eheschließung: Verhältnis zwischen dem Bildungsgrad des Heiratsvermittlers und des Befragten, Beziehungstyp, Bekanntheitsgrad und Kontakthäufigkeit Bildungsgrade der Ehepartner der des Ehemannes ist niedriger

gleich

der des Ehemannes ist höher

insgesamt N

15.6% 4.2% 11.9%

37.7% 75.6% 30.1%

46.8% 20.2% 58.0%

77 336 193

59.2% 56.2% 62.7% 51.6%

33.3% 35.6% 31.0% 37.8%

55.0% 52.7% 61.0% 63.6%

36.1% 40.2% 29.3% 29.5%

571 169 123 44

53.8% 51.0% 60.1%

37.2% 39.7% 32.0%

290 151 228

Merkmale des Heiratsvermittlers Bildungsgrad des Heiratsvermittlers - ist höher als der Bildungsgrad des Beiragten - ist gleich - ist niedriger als der Bildungsgrad des Befragten

Chi 2 = 120.7; p = .000 Beziehungstyp: Heiratsvermittler ist - Verwandter - Freund oder Kollege der Eltern - Nachbar - Freund oder Kollege des Befragten

7.5% 8.2% 6.3% 10.6%

120 73 126 283

(19.9%) (12.1°/o) (20.9%) (47.0%)

Chi 2 = 5.72; p = .454 Bekanntsheitsgrad zwischen Heiratsvermittler und Befragtem - sehr gut bekannt - durchschnittlich bekannt - nicht sehr gut bekannt - erste Begegnung

8.9% 7.1% 9.8% 6.8% Chi 2 = 5.19; p = .519

Kontakthäufigkeit zwischen Heiratsvermittler und Befragtem - häufig - manchmal - selten

9.0% 9.3% 7.9% Chi 2 = 5.53; p = .470

Partnerwahl in Taiwan

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Für die USA weist Tabelle 4 zwei gegenläufige Entwicklungen aus. Unter Personen, die die Schule für weniger als 12 Jahre besucht haben, nehmen bildungsheterogame Eheschließungen zu. In dieser Bildungsklasse beträgt das Verhältnis zwischen bildungsheterogamen und bildungshomogamen Eheschließungen 0.8 : 1 im Jahr 1940 und 3.6 : 1 im Zeitraum von 1985 bis 1987. Die entsprechenden Verhältniszahlen für die Gruppe derer, die 10-11 Schuljahre absolviert haben, betragen 4.8 : 1 im Jahr 1940 und 6.2 : 1 im Zeitraum von 1985 bis 1987. Dagegen hat sich der Anteil bildungsheterogamer Eheschließungen in den verbleibenden Bildungsschichten über die Jahrzehnte hinweg verringert. Bildungshomogamie zeigt sich deutlich in den Gruppen mit höherer Bildung, was möglicherweise darauf hinweist, daß die Barrieren, die einer heterogamen Eheschließung entgegenstehen, höher geworden sind. Sowohl für Taiwan als auch für die USA ergeben die verfügbaren Daten, daß bildungshomogame Eheschließungen für Höhergebildete über die Zeit zugenommen haben. Im Gegensatz dazu haben bildungsheterogame Eheschließungen bei Niedrigergebildeten zugenommen. Im folgenden wird die Bedeutung des Heiratsvermittlers für die PartnerwaW und die daraus folgende Bildungshomogamie oder -heterogamie anhand der Tabellen 5 und 6 illustriert. Tabelle 5 gibt Aufschluß über den Zusammenhang zwischen Mustern der Partnerwahl (mit oder ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers) und bildungshomogamer bzw. -heterogamer Eheschließung. Tabelle 6 stellt auf die Beziehung zum Heiratsvermittler ab, um zu prüfen, ob ein bestimmter Beziehungstyp mit bildungshomogamer bzw. -heterogamer Eheschließung zusammenhängt. Die möglichen Kombinationen hinsichtlich des Bildungsgrades der Partner umfassen die folgenden drei Kategorien: (1) der Bildungsgrad des Ehemannes ist höher als der der Frau, (2) der Bildungsgrad beider Partner ist gleich, (3) der Bildungsgrad des Ehemannes ist geringer als der der Frau. Es zeigt sich, daß weder die Geburtskohorte noch die Beteiligung eines Heiratsvermittlers einen signifikanten Einfluß auf Bildungshomogamie oder -heterogamie haben. Ebenso kann Tabelle 5 entnommen werden, daß die Mehrheit der Ehen in allen Gruppen bildungshomogame Ehen sind, wobei dies in der ältesten Geburtskohorte am deutlichsten ist. Die Gruppe der Ehen, bei denen der Ehemann über einen höheren Bildungsgrad verfugt als die Ehefrau, ist die zweitgrößte. Diese Kombination ist am stärksten in der jüngsten Geburtskohorte vertreten, insbesondere bei denen, an deren Eheschließung ein Heiratsvermittler beteiligt war. Neben der Frage, ob die Beteiligung eines Heiratsvermittlers einen Einfluß auf die Bildungshomogamie bzw. -heterogamie hat, kann die Beziehung zum Heiratsvermittler näher untersucht werden. In Tabelle 6 wird zunächst der Bildungsgrad des Heiratsvermittlers mit dem des Befragten in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt sich, daß Heiratsvermittler, die über den gleichen Bildungsgrad verfügen wie der/die Befragte, am ehesten bildungshomogame Partner vermitteln (76%). Unterscheiden sich Heiratsvermittler und Befragte/r hinsichtlich des Bildungsgrades, so werden in der Mehrzahl Ehen geschlossen, bei denen der Ehemann über einen höheren Bildungsgrad verfügt als die Ehefrau (58% und 47% im Gegensatz zu 20% solcher Ehen, bei denen Heiratsvermittler und Befragte/r über den gleichen Bildungsgrad verfugen). Tabelle 6 kann man weiter entnehmen, daß fast die Hälfte (47%) der Heiratsvermittler Freunde oder Kollegen sind, 21% sind Nachbarn, 20% Verwandte und 12% sind Freunde oder Kollegen der Eltern. Von den Ehepaaren, die einander von anderen vorgestellt wurden, sind 42% einander von Freunden oder Kollegen, 16% von Verwandten, 19% von Nachbarn und 9% von Freunden der Eltern vorgestellt worden, während Verwandte (28%), Nachbarn (27%)

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Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

und Freunde der Eltern (22%) bei Personen, deren Ehe von den Eltern arrangiert wurden, eine wichtigere Rolle spielen (Ergebnisse in der Tabelle nicht dokumentiert). Weder die Art der Beziehung zum Heiratsvermittler noch der Bekanntheitsgrad von Heiratsvermittler und Befragtem noch die Kontakthäufigkeit weisen einen Zusammenhang mit bildungshomogamer bzw. -heterogamer Eheschließung auf. Über die Tatsache hinaus, daß Heiratsvermittler, die den gleichen Bildungsgrad haben wie der/die Befragte, auch eher einen bildungshomogamen Partner vermitteln, haben Heiratsvermittler keinerlei Einfluß auf die Muster der Partnerwahl. Tabelle 7: Einfluß sozialstruktureller Variablen auf Muster der Partnerwahl sowie auf das Zustandekommen bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen: Logistische Regressionen Modell 1: Muster der Partnerwahl (mit vs. ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers)

Modell 2: Bildungshomogamie vs. Bildungsheterogamie

Modell 3: Bildungshomogamie vs. Bildungsheterogamie

Alterskohorte - 45-64 Jahre - 36-44 Jahre

1.178**« .492***

-.072 .290

Bildungsgrad -10-11 Schuljahre - 1 2 Schuljahre - College - Universität

-.393* -.619*** -.827*** -.030***

1.483*** 1.107*** 1.876*** .869***

ethnische Zugehörigkeit -Hakka - Festland-Chinesen

.165 -.493*

.387 .048

.406 -.058

Urbanisierungsgrad - Stadtgemeinden - Städte (außer Kernstädten) - Kemstädte

-.340 -.387 -.524*

.589** .471* .208

.544* .443* .180

-2.137*** -1.036***

-.299 -.496 .097 -.901*

Bildungsgrade der 45-64jährigen -10-11 Schuljahre - 1 2 Schuljahre - College - Universität

3.404*** 3.348*** 3.988*** 3.209***

Bildungsgrade der 36-44jährigen -10-11 Schuljahre - 1 2 Schuljahre - College - Universität

1.755*** 1.461*** 1.486** 1.611**

mit/ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers

.118

.100

Konstante

-.562

-1.493

-.035

N

1276

1073

1073

Anmerkungen: *p < .05; **p < .01; ***p < .001

Somit kann lediglich festgehalten werden, daß in Fällen, in denen Heiratsvermittler und Befragte/r den gleichen Bildungsgrad haben, eher bildungshomogame Ehen geschlossen wer-

Partnerwahl in Taiwan

39

den, während in Fällen, in denen Heiratsvermittler und Befragte unterschiedliche Bildungsgrade haben, eher Ehen vermittelt werden, bei denen der Ehemann über einen höheren Bildungsgrad verfügt als die Ehefrau. Im folgenden wird der Einfluß verschiedener sozialstruktureller Variablen auf unterschiedliche Muster der Partnerwahl sowie auf das Zustandekommen bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen mit Hilfe logistischer Regressionen geschätzt. Tabelle 7 zeigt signifikante Effekte der Geburtskohorte, des Bildungsgrades, der ethnischen Zugehörigkeit und des Urbanisierungsgrades auf die Muster der Partnerwahl (Beteiligung eines Heiratsvermittlers: ja/nein). Unter Kontrolle aller anderen Variablen im Modell (Modell 1) ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein Heiratsvermittler am Zustandekommen der Ehe beteiligt war, bei der mittleren (36-44 Jahre) und älteren (45-64 Jahre) Kohorte im Vergleich zur jüngeren Kohorte höher. Die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung eines Heiratsvermittlers nimmt mit zunehmendem Bildungsgrad ab. Festland-Chinesen tendieren im Vergleich zur Referenzgruppe der Fukien zur freien Partnerwahl, bei der kein Heiratsvermittler beteiligt ist. Bewohner von Kernstädten haben - verglichen mit Bewohnern ländlicher Gegenden - ebenfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit, Ehen ohne Beteiligung eines Heiratsvermittlers zu schließen. Die beiden anderen Modelle, die in Tabelle 7 ausgewiesen sind-(Modelle 2 und 3), zeigen den Einfluß der sozialstrukturellen Variablen auf das Zustandekommen homogamer versus heterogamer Ehen. Im Unterschied zu Modell 2 werden in Modell 3 Interaktionseffekte zwischen Geburtskohorte und Bildung berücksichtigt. Ohne Berücksichtigung der Interaktionseffekte (Modell 2) ergibt sich ein deutlicher Effekt des Bildungsgrades auf die abhängige Variable: Verglichen mit den Niedrigstgebildeten tendieren Höhergebildete eher zu bildungsheterogamen Ehen. Einer der Hauptgründe hierfür ist der größere Anteil Höhergebildeter in der jüngsten Geburtskohorte, der sich in einer größeren Bildungsheterogamie in dieser Kohorte niederschlägt. Im Gegensatz dazu sind ältere Geburtskohorten vergleichsweise geringer gebildet, so daß sich in diesen Kohorten häufiger bildungshomogame Ehen finden. Deshalb ist es notwendig, Interaktionseffekte zwischen Geburtskohorte und Bildungsgrad zu berücksichtigen (Modell 3). Tatsächlich zeigt Modell 3, daß die Interaktionseffekte, die sich zwischen unterschiedlichen Geburtskohorten und Bildungsgraden ergeben, einen deutlichen Beitrag zur Erklärung von Bildungshomogamie bzw. -heterogamie leisten. Zudem zeigt sich der Effekt der Geburtskohorte in der Weise, daß die mittlere und die ältere Geburtskohorte im Vergleich zur jüngeren eher zu bildungshomogamen Ehen neigen. Dabei ist festzuhalten, daß Höchstgebildete (akademische Bildungsgrade) im Vergleich zur Referenzkategorie der Niedrigstgebildeten Wesentlich stärker zu bildungshomogamen Ehen tendieren. In keinem der beiden Modelle (2 und 3) hat die Beteiligung eines Heiratsvermittlers einen Einfluß auf das Zustandekommen bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen. Offensichtlich ist Modell 3, in dem der Interaktionseffekt zwischen Geburtskohorte und Bildungsgrad berücksichtigt wird, das bessere Erklärungsmodell. Bildungsheterogame Ehen sind für Höhergebildete in der mittleren und älteren Geburtskohorte im Vergleich zu Niedrigstgebildeten in der jüngsten Geburtskohorte häufiger. Dagegen scheint der unabhängige Effekt der Geburtskohorte in Modell 3 im Widerspruch zu den Befunden in Tabelle 3 zu stehen, die einen negativen Zusammenhang zwischen Geburtskohorte und Bildungshomogamie ausweisen. Der Grund für diese Irikonsistenz ist der oben beschriebene signifikante Interaktionseffekt zwischen Geburtskohorte und Bildungsgrad. Tatsächlich bleibt der unabhängige Ein-

40

Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

fluß des Bildungsgrades auf Bildungshomogamie in der Gruppe der Höchstgebildeten erhalten. Zusammenfassend bleibt für die Analyse bildungshomogamer Eheschließungen festzuhalten, daß (1) das Muster der Partnerwahl für die Erklärung des Zustandekommens bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen weniger wichtig ist als erwartet, (2) Heiratsvermittler mit gleichem Bildungsgrad wie der/die Befragte eher dazu tendieren, eine bildungshomogame Ehe zu stiften und (3) für die mittlere und ältere Geburtskohorte ein negativer Zusammenhang mit Bildungshomogamie besteht. Jedoch scheint der Interaktionseffekt zwischen Geburtskohorte und Bildungsgrad ein bedeutsamerer Faktor zur Erklärung für das Zustandekommen bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen zu sein.

6

Diskussion

In diesem Beitrag wurden Veränderungen in den Mustern der Partnerwahl in Taiwan untersucht. Dabei wurde der Heiratsvermittler als eine der wichtigsten Personen im sozialen Netzwerk als Indikator für unterschiedliche Muster der Partnerwahl herangezogen. Weiterhin sollte herausgefunden werden, ob die Muster der Partnerwahl einen Einfluß auf die Bildungshomogamie bzw. -heterogamie der Partner ausüben. Die Ergebnisse zeigen, daß über die Zeit (d.h. für unterschiedliche Geburtskohorten) tatsächlich ein Wandel in den Mustern der Partnerwahl festzustellen ist. Die Beteiligung eines Heiratsvermittlers an der Partnerwahl ist für jüngere Kohorten weniger wahrscheinlich. Mit anderen Worten: Je jünger die Kohorten sind, desto größer ist die Tendenz zur freien Wahl eines Partners oder auf direkter Bekanntschaft basierenden Partnerwahl. Darüber hinaus stehen andere sozialstrukturelle Faktoren wie ein hoher Bildungsgrad, ein hoher Urbanisierungsgrad und die ethnische Zugehörigkeit in Zusammenhang mit optionalen Normen der Partnerwahl. Die Tatsache, daß Niedrigergebildete einen Heiratsvermittler in den Prozeß der Partnerwahl einbeziehen, kann auf zweierlei Weise erklärt werden. Eine Erklärung besteht darin, daß Niedrigergebildete traditionellere Werte im Hinblick auf die Wahl eines Ehepartners haben. Die andere Erklärung rekurriert auf geringere Wettbewerbschancen Niedrigergebildeter auf dem Heiratsmarkt, weshalb diese die Unterstützung eines Heiratsvermittlers brauchen. Dieser Erklärungsvorschlag wird durch eine Studie zur Arbeitssuche in Taiwan unterstützt. Hsung & Huang (1992) berichten, daß die Chancen derjenigen, die geringer gebildet sind und über weniger Arbeitserfahrung verfügen, einen besseren Arbeitsplatz zu finden, durch die Beteiligung einer vermittelnden Person steigen. Entsprechend haben Niedrigergebildete und ältere Befragte, die zu eher traditionellen Werten neigen, eine größere Wahrscheinlichkeit, sich traditioneller Muster der Partnerwahl zu bedienen. Hinsichtlich bildungshomogamer Eheschließungen ist festzuhalten, daß die Beteiligung eines Heiratsvermittlers keinen signifikanten Einfluß ausübt. Auch die Art und Nähe der Beziehung zwischen Heiratsvermittler und Befragtem ist für die Bildungshomogamie bzw. -heterogamie der Partner ohne Bedeutung. Der wichtigste Faktor zur Erklärung des Zustandekommens bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen ist der Interaktionseffekt zwischen Geburtskohorte und Bildungsgrad. Dies entspricht Ergebnissen, wie sie aus den USA berichtet werden. Allgemein sind bildungshomogame Ehen für ältere Personen, Personen aus ländlichen Gegenden und Höhergebildete wahrscheinlicher.

Partnerwahl in Taiwan

41

Das offensichtliche Fehlen eines Beleges für den Zusammenhang von Mustern der Partnerwahl und bildungshomogamen bzw. bildungsheterogamen Eheschließungen bedarf einer Erklärung. Es wurde gezeigt, daß Heiratsvermittler sich in der Regel aus der Verwandtschaft, dem sozialen Netzwerk der Eltern, der Nachbarschaft oder dem Kreis der Freunde und Kollegen rekrutieren (vgl. Tabelle 6). Obwohl die jeweilige Beziehung des Heiratsvermittlers zum Befragten keinen signifikanten Einfluß auf das Zustandekommen bildungshomogamer bzw. -heterogamer Ehen hat, kann es dennoch hilfreich sein, eine Unterscheidung nach Herkunft des Heiratsvermittlers aus dem familialen Netzwerk oder aus dem persönlichen Netzwerk des Befragten zu treffen. Heiratsvermittler, die dem familialen Netzwerk angehören, sind die traditionellen Heiratsvermittler, also Verwandte, Freunde der Eltern oder Nachbarn. Dagegen umfaßt das persönliche Netzwerk hauptsächlich Personen aus dem eigenen Bekanntenkreis. Frühere Studien haben auf die Bedeutung von eigenen Freunden oder Kollegen als 'moderne' Heiratsvermittler hingewiesen. Tabelle 8: Traditionelle und 'moderne' Heiratsvermittler und bildungshomogame bzw. -hete rogame Eheschließungen Bildungsgrade der Ehepartner Heiratsvermittler aus dem

familialen Netzwerk"> persönlichen Netzwerk

,b)

der des Ehemannes ist niedriger

gleich

der des Ehemannes ist höher

insgesamt

31.0 % (n=99)

61.4%(n=196)

7.5% (n=24)

100.0% (n=319)

37.5% (n=106)

50.2% (n=142)

12.4% (n=35)

100.0% (n=283)

Chi^™;

p=.012

Anmerkungen: a) Heiratsvermittler aus dem familialen Netzwerk sind Verwandte, Freunde und Kollegen der Eltern oder Nachbarn. b) Heiratsvermittler aus dem persönlichen Netzwerk sind Freunde und Kollegen des Befragten.

Unterscheiden sieh diese beiden Arten von Heiratsvermittlern (d.h. traditionelle und 'moderne') in bezug darauf, ob sie eher bildungshomogame oder eher bildurigsheterogame Ehen stiften, so läßt sich vermuten, daß Heiratsvermittler nach wie vor eine bedeutende Rolle im Prozeß der Partnerwahl spielen, nämlich insofern als ihre Zugehörigkeit zum familialen oder persönlichen Netzwerk ein Indikator für die unterschiedlichen Effekte traditioneller und 'moderner' Formen der Partnerwahl darstellt. Tabelle 8 zeigt, daß Eheschließungen eher bildungshomogam sind, wenn der Heiratsvermittler dem familialen Netzwerk angehört. Gehört der Heiratsvermittler dagegen zum eigenen Freundeskreis des Befragten, so steigt die Wahrscheinlichkeit bildungsheterogamer Eheschließungen. Da der Brauch, Heiratsvermittler in den Prozeß der Partnerwahl einzubeziehen, nach wie vor verbreitet ist, ist es wichtig zu unterscheiden, ob es sich um einen traditionellen oder um einen 'modernen' Heiratsvermittler handelt. Zukünftige Studien zu Mustern der Partnerwahl sollten daher die Funktion Und Bedeutung des Heiratsvermittlers als wichtigem Bestandteil des Partnerwahlprozesses weiter spezifizieren. U.a. sollte berücksichtigt werden, ob die Vorstellung der Partner formell oder informell erfolgt, um den Einfluß des Heiratsvermittlers als wichtigem Bestandteil des sozialen Netzwerkes zu bestimmen.

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7

Ch.-Ch. Yi & R.-M. Hsiung

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Aus dem Englischen übertragen von Heike Diefenbach.

43

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Familie und Eltern-Kind-Beziehungen in Japan1 Gisela Trommsdorff

Inhalt 1 2 3 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 5 5.1 5.2 6 7

Famiiiale Beziehungen in Japan aus historischer Sicht Familienbeziehungen im Japan der Gegenwart Eltern-Kind-Beziehungen in Japan Erziehungsziele und -verhalten Historischer Rückblick auf Erziehungsziele und -verhalten Erziehungsziele und -verhalten in gegenwärtigen Mutter-Kind-Interaktionen Konfliktregelung Beeinflussung oder Nachgeben Responsivität der Mutter Sozialer Wandel und Wandel von Familienbeziehungen Pluralisierung von Lebensformen in westlichen Industriegesellschaften Wandel in den Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern Ausblick Literatur

Das Studium veränderter Familienformen gibt Aufschluß über Vorgänge sozialen Wandels und Veränderungen von Sozialisationsbedingungen. In westlichen Industriegesellschaften haben Individualisierungs- und De-Institutionalisierungsprozesse die Familienformen inzwischen erheblich verändert. Sinkende Geburtenziffern, höhere Wahrscheinlichkeit, daß eine Ehe nicht dauerhaft bestehen bleibt oder späte Mutterschaft, sind nur einige Beispiele. Dies wirkt sich auch auf die interne Struktur der Familie aus, u.a. auf die Beziehung unter den Geschwistern, und damit auf die Sozialisationsbedingungen in der Familie. Wenn es darum geht, Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel und Wandel der Familie zu untersuchen, ist die Betrachtung von Familienformen und innerfamilialen Beziehungen nur aus der Sicht westlicher Kulturen unzureichend. So ist zu fragen, ob die Phänomene gewandelter Familienformen und der Individualisierung familialer Sozialisationskontexte, die wir gegenwärtig in westlichen Gesellschaften beobachten, ein notwendiges Ergebnis der Entwicklungen moderner Industriegesellschaften sind. Die Analyse von Familienformen in einem ganz anderen Kulturbereich, in dem sich aber ähnlich wie bei uns eine hochentwickelte Industrialisierung vollzogen hat, wäre hierzu sicher aufschlußreich. Ob es sich also bei den im Westen beobachtbaren individualisierten Familienformen um singulare kulturspezifische Konstellationen handelt, könnte durch solche Kulturvergleiche deutlich werden. Im folgenden werden wir uns daher in anderen Kulturkontexten umschauen, die möglichst fern der Tradition der christlich-abendländischen Kultur, der Aufklärung und des damit verbundenen Individualismus sind und dennoch eine ähnliche sozio-ökonomische und technologische Entwicklung wie im Westen durchlaufen. Dafür ist Japan ein gutes Beispiel.

Familie in Japan

45

Japan hat durch seine konfuzianisch, buddhistisch und shintoistisch geprägte Geschichte und seine jahrhundertelange Abschließung von westlichen Einflüssen bis zur gewaltsamen Öffnung Ende des letzten Jahrhunderts eine besondere Entwicklung durchgemacht. In Japan besteht die Überzeugung, daß die Familie für Individuum und Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Die Familie bildet mit den für sie typischen Werthaltungen die Grundlage für soziale Beziehungen in vielen Bereichen. Im folgenden sollen familiale Beziehungen zunächst aus historischer Sicht und im Hinblick auf den Einfluß des Konfiizianismus und dann auf der Grundlage empirischer Studien in ihren heute beobachtbaren Merkmalen dargestellt und schließlich unter dem Gesichtspunkt sozialen Wandels diskutiert werden.

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Familiale Beziehungen in Japan aus historischer Sicht

Zwar bestanden in der japanischen Frühzeit matriarchalische Strukturen, aber mit dem zunehmenden Einfluß Chinas im 5. Jahrhundert wurden die frühen shintoistischen Wurzeln überlagert, und es entstand eine konfuzianisch geprägte patriarchalische Familienstruktur. In der Heian-Zeit (794-1192) kam die eigentliche Autorität der Familie dem männlichen Familienoberhaupt zu, wenngleich Frauen in Politik und in der höfischen Kunst ein relativ hohes Ansehen besaßen (vgl. Pharr 1977). Mit Erstarken des Konfiizianismus in Japan wurde das „ie"System („ie" = Haus, Familie, Abstammungsordnung) als traditionelles Familiensystem wirksam. Im einzelnen bedeutete das konfuzianische System eine patriarchalische Familienstruktur auf der Grundlage des Senioritätsprinzips; damit verbunden waren das Prinzip der Primogenitur, niedriger Status der Frau (besonders der Schwiegertochter), Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern, Ahnenverehrung und die Forderung, die Familie durch männliche Nachkommen (oder durch Adoption) fortzusetzen. Die familialen Beziehungen waren durch Verpflichtungen gegenüber der Stammfamilie geregelt. In der Familie waren bestimmte Pflichten zu erfüllen, und zwar gegenüber den Eltern, zwischen Frau und Mann, gegenüber den Kindern sowie gegenüber dem jüngeren und dem älteren Bruder. Die Regelung der Beziehung zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern spiegelt sieh auch heute noch in der Sprache wieder (z.B. Anredeform und Bezeichnung des älteren und jüngeren Familienmitgliedes. So werden die jüngeren Geschwister mit „Onesan" sowie Vornamen angeredet; bei der Anrede des älteren Bruders entfallt der Vorname; man verwendet nur die Rollenbezeichnung). In der Tokugawa-Zeit (1600-1868), der Zeit der Abschließung vom Westen, wurde die Familie („ie") zur Grundform der idealen Gemeinschaft. Staat und Familie („ie") hatten die gleiche Struktur. Dies galt auch in der Meiji-Epoche (1868-1912), nachdem die jahrhundertelange Abgeschlossenheit Japans und das Feudalsystem beendet waren. Einerseits wurde in dieser Zeit das konfuzianische Familiensystem verstärkt sowie andererseits Merkmale der westlichen Gesellschaftsordnung, der westlichen Wissenschaft und Technologie übernommen. Frauen, die bisher primär die Pflicht hatten, Kinder zu gebären und aufzuziehen, partizipierten zunehmend am westlich orientierten Bildungssystem. Sie nahmen Tätigkeiten in Betrieben auf und wirkten an der Industrialisierung Japans entscheidend mit, ohne daß sich jedoch das konfuzianisch geprägte Familiensystem grundlegend änderte. In der anschließenden Taisho(1912-1926) und in der frühen Showa-Zeit (1926-1941) verstärkte sich (trotz militanter feministischer Organisation) eine Ideologie der Gemeinsamkeit von Familie und Staat und verband

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sich mit dem japanischen Nationalismus. Die Besonderheiten der heutigen Familienstruktur müssen im Hinblick auf den Einfluß des Konfuzianismus in Japan betrachtet werden. Die Beziehungen zwischen Frau und Mann wurden in der konfuzianischen Tradition unter funktionalen Aspekten der Binnendifferenzierung (Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann) bei eindeutig hierarchischer Vorrangstellung des Mannes (und der jeweils älteren Person) gesehen. Ehen wurden nicht aufgrund von persönlichen Neigungen eingegangen, sondern aufgrund von Entscheidungen durch die Familie. Entsprechend waren Scheidungsgründe nicht die Qualität der Partnerschaft, sondern sie beruhten auf Konflikten zwischen der Schwiegertochter und den Eltern des Mannes oder auf Kinderlosigkeit. Aufgrund der Pflicht zur Fortsetzung der Stammfamilie wurden Ehen häufig auf Probe bis zur Geburt des ersten Sohnes geschlossen. In der Tokugawa-Zeit übernahmen die buddhistischen Tempel auch die Funktion eines „Standesamtes" für die Eheschließung sowie die Funktion der symbolischen Markierung wichtiger familialer Ereignisse (Geburt und „Taufe" des Kindes; Begräbnis des Verstorbenen) bis hin zur Institutionalisierung der Ahnenverehrung. Die Ahnenverehrung war aufgrund der Reinkarnationsidee eigentlich dem ursprünglichen Buddhismus fremd und wurde erst durch das Zusammenwirken verschiedener religiöser Strömungen in der Tokugawa-Zeit zu einer zentralen Aufgabe des Familienoberhauptes. Die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern gehorchten dem konfuzianischen Prinzip, daß Kinder den Eltern lebenslang sowie auch nach deren' Tod Gehorsam schulden. Die Kinder übernehmen danach eine lebenslange Verpflichtung, ihren Eltern Respekt zu zeigen, sie im Alter zu versorgen und sie später als verstorbene Ahnen zu verehren. Mit der Gehorsams- und Versorgungspflicht gegenüber den Eltern übernehmen die Kinder auch die Pflicht, durch eigene Anstrengung und Erfolg den Namen der Eltern und des Hauses, zu dem sie gehören, in Ehren zu halten; weiter haben sie die Pflicht, selbst Kinder zu zeugen und so die Ahnenreihe fortzusetzen und die Ahnen zu verehren. Die „Kindespietät" (Ko) (Moral der 24 Ko) begründet sich auf diese festgelegten Pflichten, weil das Kind von den Eltern „on" (ursprünglich Dankbarkeit, Gnade, Liebe) empfangen hat. Seit der Meiji-Zeit übernahm die damalige Erziehungspolitik einerseits eine Kontrolle über die Familie; andererseits wurden durch die Verfassung mit Ende des vorherigen Jahrhunderts aufgrund einer neokonfuzianischen Familienmoral - die Familie galt als Ort der Sicherheit und Ordnung - Prinzipien wie der Patriarchalismus institutionalisiert. 1946 wurden diese Prinzipien mit der von den Alliierten übernommenen Verfassung und mit der Änderung des Zivilgesetzes 1948 offiziell verbannt. Damit wurde das „ie"-System offiziell aufgelöst. Das „ie"-Denken wird in Japan heute jedoch noch im außerfamiliäreti Bereich in formellen und informellen Gruppen gepflegt. Dabei gehorcht das „oyabun-kobun"-Prinzip der Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind („oya" = Eltern; „ko" = Kind). Die Firmenzugehörigkeit (aber auch die Zugehörigkeit zu einer Schule oder Universität) ist mit familialer Gruppenidentität und familialen Bindungen verknüpft (Übernahme von Verpflichtungen im Dienst an der Gruppe). Die Struktur der Sozialbeziehungen in solchen Gruppen folgt den konfuzianischen Prinzipien von Paternalismus, Loyalität, Seniorität, Disziplin und Leistung, Über- und Unterordnung. Die Altersfolge (das Dienstalter spielt im Unternehmen meistens eine wichtigere Rolle als das Lebensalter) wird durch Ehrerbietungen und bestimmte Privilegien gewürdigt und läßt sich als ein Hinweis auf die Art der Intergenerationenbeziehungen sehen. Auch heute noch sind konfuzianische Grundwerte in der Familie wirksam. Dies belegen Ergebnisse repräsentativer Befragungen japanischer Eltern u.a. zum Wert des Kindes. Für japanische Eltern sind die am häufigsten befürworteten Werte: 1. das Kind übernimmt später die

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Verantwortung für die nächste Generation (80%) und 2. das Kind gibt später den Eltern emotionale Unterstützung (69%). In den USA hingegen werden als bedeutsamste Werte betrachtet: 1. Kinder verursachen Kosten (90%) und 2. Kinder setzen die Familie fort (82%) (vgl. Japan Association for Wörnern 's Education 1995).

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Familienbeziehungen im Japan der Gegenwart

Trotz der grundlegenden Änderungen durch das neue Familienrecht blieben eine Reihe von Besonderheiten erhalten, die die japanische Familie von Familien in anderen westlichen Industrienationen unterscheiden. Zunächst sollen einige sozio-strukturelle Rahmenbedingungen in Japan berichtet werden, ohne die die Familienbeziehungen nicht angemessen zu beschreiben sind. Die demographische Entwicklung in Japan folgt ähnlichen Mustern wie in anderen Industrienationen. Für japanische Männer besteht eine Lebenserwartung von 76.1 Jahren und für japanische Frauen von 82.2 Jahren - die höchste Lebenserwartung der Welt. In 25 Jahren wird jeder vierte Japaner älter als 65 Jahre sein. Gleichzeitig sank die Geburtenziffer von 4.11 Kindern im Jahre 1940 auf 1.46 Kinder im Jahre 1992. Das Durchschnittseinkommen weiblicher Arbeitnehmer liegt fast um die Hälfte unter dem der männlichen Arbeitnehmer. Dieses Lohngefälle beginnt bereits beim Berufseinstieg und verstärkt sich mit zunehmendem Alter (vgl. Ministry of Labor 1994). Auch die Familienstruktur erscheint auf den ersten Blick ähnlich wie in westlichen Industriegesellschaften. In Japan ist die Entwicklung zur Kernfamilie seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. Die Anzahl der Großfamilien ist aufgrund der Urbanisierung und der Wohnverhältnisse in den Städten drastisch zurückgegangen. 66% der Haushalte in Japan sind 2-Generationen-Familien und 26% sind 3-Generationen-Familien (die Werte für die USA sind 86 und 6%). Die Anzahl der Personen pro Haushalt beträgt in Japan 4.7 und in den USA 4.1 (vgl. Japan Association for Women's Education 1995). Allerdings leben häufig ältere Eltern mit einem ihrer verheirateten Kinder zusammen. Gleichzeitig bestehen in Japan in den Familienformen weiterhin erhebliche Unterschiede zu westlichen Gesellschaften. Auch wenn sich Änderungen abzeichnen, ist der soziale Druck, eine Ehe einzugehen und aufrechtzuerhalten, hoch. Häufig kommt die Ehe unter Mitwirkung von Verwandten oder Vertrauenspersonen zustande (ca. 35% der Ehen werden durch Mitwirkung eines „Heiratsvermittlers" geschlossen). Die Scheidungsziffern sind gering und es gibt kaum alleinerziehende Eltern. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Scheidungsraten in den letzten hundert Jahren stark zurückgegangen sind. Die relativ hohe Scheidungsziffer aus dem Jahre 1883 (3.39 pro Tausend) im Vergleich zu der Scheidungsziffer (von 1.39 pro Tausend) im Jahre 1985 (Sofue 1994) ergibt sich aus der Tatsache, daß früher Scheidungen aufgrund von Konflikten zwischen Schwiegermutter und -tochter nicht selten waren, auch wenn die geschiedene Frau nicht finanziell von ihrem Mann unterstützt wurde. Auch heute noch ist auf dem Lande die Scheidungsrate höher als in der Stadt. (Ähnlich bestehen erhebliche StadtLand-Unterschiede in bezug auf die Akzeptanz traditioneller familienbezogener Werte; vgl. Sofue 1994). Scheidungen werden heute eher durch Frauen als durch Männer eingeleitet, auch wenn geschiedene Frauen immer noch wirtschaftlich und sozial schlechter gestellt sind. Dabei legt das heutige Familienrecht die Versorgungsansprüche der Frau fest. Die soziale Diskriminie-

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rung der geschiedenen Frau läßt sich an Umfrageergebnissen erkennen: 2% der Japaner und 30% Deutsche stimmen der Frage zu, daß sich Eheleute scheiden lassen dürfen. Daß sich Eheleute auf keinen Fall scheiden lassen dürfen, meinen 32% der japanischen und 8% der deutschen Befragten (vgl. Neuss-Kaneko 1990). Die Ablehnung der Scheidung erfolgt in Japan aufgrund der konfuzianisch geprägten Überzeugung, daß nur beide Eheleute gemeinsam die Kindererziehung erfolgreich betreiben können und dafür verantwortlich sind. Der Zufriedenheit und dem Glück des Kindes wird eine höhere Bedeutung gegeben als dem individuellen Glück der Eltern. Eine intakte Familie hat einen hohen Wert und wird als Voraussetzung für die richtige Kindererziehung gesehen. Daher erfolgen Scheidungen, wenn überhaupt, erst sehr spät, wenn das Kind beruflich abgesichert ist. Gegenwärtig nimmt die Scheidungsrate bei 40-60jährigeo zu. Die ideale Rolle der Frau wird heute weiterhin in der Rolle als Hausfrau und Mutter gesehen. Auch Jugendliche vertreten eine traditionelle Geschlechtsrollendifferenzierung und sind z.B. überwiegend der Meinung, der Mann solle arbeiten und die Frau im Hause bleiben (vgl. Somusho Seishonen Taisaku Honbu 1989; Trommsdorff 1986, 1992). Die Stellung der japanischen Frau im Arbeitsleben ist immer noch keineswegs gleich der des Mannes, obwohl entsprechende Gesetze (z.B. das Chancengleichheits-Gesetz von 1986 und das Kinderbetreuungs-Urlaubs-Gesetz von 1992) u.a. zur Sicherung einer kontinuierlichen Frauenerwerbstätigkeit eingerichtet wurden. Normalerweise gibt die Frau nach der Geburt eines Kindes vorübergehend oder ganz ihre Berufstätigkeit auf, um sich dem Kind zu widmen. Die Mutterzentrierung der Kindererziehung wird durch den (seit dem 2. Weltkrieg verstärkt) hohen Bildungseifer intensiviert, da die Mutter zusätzlich die Rolle der Verantwortung für den Schulerfolg ihres Kindes übernimmt. Das besondere Bildungssystem Japans erfordert schon im frühen Kindesalter den erfolgreichen Besuch des „richtigen" Kindergartens, um von dort aus in eine entsprechend renommierte Schule zu kommen, wodurch dann die Chance für die Aufnahme an einer der renommierten Universitäten vergrößert wird. Ein erfolgreicher Bildungsgang ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Anstellung in einer angesehenen Firma mit entsprechenden Karrierechancen. Insofern trägt die Mutter eine beachtliche Verantwortung für die Erziehung ihres Kindes („kyoiku mama": Erziehungs-Mama) (vgl. Stevenson et al. 1986; Shwalb et al. 1992). Die Frau nimmt somit in der Familie eine außerordentlich einflußreiche Rolle wahr. Sie verwaltet überdies in der Regel auch heute noch (wie dies traditionell üblich war) die Haushaltsmittel. Vor allem erfüllt sie aber zentrale Funktionen für die ältere sowie die junge Generation. So kommt auf die Frau mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit die Verpflichtung zu, die eigenen Eltern oder die Schwiegereltern zu versorgen, da eine staatlich geregelte Altersversorgung in Japan bisher nicht bestand. Schließlich steht die Frau später vor der Aufgabe, mit ihrem Mann, der inzwischen Rentner ist, und bisher für seinen Beruf, aber kaum für die Familie da war, aufgrund der verlängerten Lebenserwartung einen gemeinsamen Weg für etwa zwei Jahrzehnte zu gehen. Dabei besteht das Problem, daß Männer auf eine Lebensphase ohne Berufstätigkeit kaum vorbereitet sind („sodai-gomi": Abfallhaufen), und daß emotionale intime Beziehungen eher in gleichgeschlechtlichen altersgleichen Gruppen üblich sind (vgl. Trommsdorff 1991). Rolle von Müttern und Vätern. Aus einer international vergleichenden Umfrage in Japan (1995) geht hervor, daß japanische Eltern in ihrem Erziehungsverhalten andere Rollenaufteilungen vornehmen als amerikanische Eltern (leider wurden keine deutschen Stichproben einbezogen). Während japanische Väter im Vergleich zu Müttern ca. 4 Stunden täglich weniger mit ihrem Kind zubringen, beträgt die Differenz in den USA ca. 2.8 Stunden. Japanische Väter verbringen die relativ kürzeste Zeit gemeinsam mit ihrem Kind. Die Arbeitszeit japani-

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scher Väter ist relativ am längsten mit etwa wöchentlich 50 Stunden. Auch ist der Beitrag zum Haushaltseinkommen durch den Vater in Japan am relativ größten: in Japan 85% und in den USA 73%. Diese Zahlen belegen die unterschiedliche Rolle der Eltern: höhere Vaterabwesenheit und höhere wirtschaftliche Bedeutung des Vaters in Japan (vgl. Japan Association ofWomen 's Education 1995). Gemäß der Umfrage derselben Studie erfolgt die Erziehung (Disziplinierung) des Kindes in Japan zu 46% nur durch die Mutter und zu 48% durch beide Elternteile (im Vergleich zu 29% nur durch die Mutter und 56% durch beide Elternteile in den USA). Im Fall von elterlicher Mithilfe bei den Hausarbeiten des Kindes sind 38% der japanischen Mütter (im Vergleich zu knapp 30% der amerikanischen Mütter) beteiligt. Diese Befunde belegen die hohe Bedeutung der japanischen Mutter und die relativ geringe Bedeutung des japanischen Vaters in der Sozialisation des Kindes. Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen dieser Studie, wer in erster Linie im Fall von Problemen des Kindes einen Rat erteilt: In Japan wenden sich Kinder zu 25% an die Mutter und zu 22% an beide Elternteile (in den USA: Mutter 26% und beide Eltern 42%). Japanische Eltern sagen zu 49%, daß solche Problemsituationen nicht vorkommen (in den USA 21%). Hier wird zum einen eine vergleichsweise geringere gemeinsame elterliche Erziehung in Japan im Vergleich zu den USA sowie aber auch zumindest aus der Sicht der Eltern eine geringere Häufigkeit von Erziehungsproblemen mit dem Kind deutlich. Wenn Erziehungsprobleme auftreten, werden in Japan gemäß dieser Studie normalerweise an erster Stelle der Ehepartner und Verwandte konsultiert. Die an dritter Stelle genannten Personen sind in Japan die Freunde und in den USA ein Arzt. Ob diese Kulturunterschiede auf geringere (objektiv oder subjektiv erlebte) Erziehungsprobleme oder/und auf eine stärkere Bedeutung familialer, partikularistischer Orientierungen in Japan und stärkere Bedeutung universalistischer Orientierungen in den USA hinweisen, ist empirisch zu prüfen. Daß geringere Erziehungsprobleme in Japan bestehen, ist anzunehmen, wenn man die hier skizzierten konfuzianischen Werthaltungen zugrunde legt sowie darüber hinaus empirische Befunde zur Sozialisation von Kindern in Japan berücksichtigt.

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Eltern-Kind-Beziehungen in Japan

Während zu früherer Zeit der Vater als Autorität im konfuzianischen Sinne im Mittelpunkt der patriarchalisch strukturierten Familie stand, sind es heute die Kinder, auf die sich alle Aufmerksamkeit der Familienmitglieder richtet. Traditionell besteht in Japan die Auffassung, daß Eltern und Kinder eine Seele sind. Allerdings sind die emotionalen Beziehungen zwischen Kindern und Eltern zu differenzieren. Japanische im Vergleich zu deutschen Jugendlichen, insbesondere Mädchen, haben ein relativ kühles Verhältnis zu ihrem Vater (vgl. Trommsdorff & Iwawaki 1989). Ahnlich wies Katoh (1977) für männliche japanische Jugendliche keine besonderen Unterschiede in der Enge der Beziehung zu Vater oder Mutter nach, während weibliche japanische Jugendliche über eine enge emotionale Beziehung zu der Mutter, aber nicht zum Vater berichteten. Untersuchungen von Hatta & Tsukiji (1993) zu innerfamilialen Beziehungen (auf der Grundlage eines •Tests zur symbolischen Plazierung von Familienmitgliedern durch Puppen, „Doli Location Töst") bestätigen diese Befunde und zeigen darüber hinaus, daß die Beziehung zu den Kindern von den Eltern selbst geschlechtsspezifisch differenziert wahrgenommen wird: Väter nehmen sich selbst in bezug auf ihre Kinder als emotional fernstehend und ihre Frau in bezug auf die

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Kinder als emotional nahe wahr; und Mütter betrachten ihren Mann als ein wenig integriertes Familienmitglied. Die Rolle des Vaters in Japan ist nur mäßig erforscht (vgl. Lamb 1987), die Beziehung des Kindes zur Mutter ist hingegen durch zahlreiche empirische Untersuchungen gut dokumentiert. Während die emotionale Beziehung des Kindes zum Vater eher schwach zu sein scheint, kann die enge Mutter-Kind-Beziehung in Japan wohl als eigentliche Entwicklungsgrundlage gesehen werden. Insbesondere haben die theoretischen Überlegungen zur Wirkung der Bindungssicherheit, die ja in den ersten Lebensmonaten aufgebaut wird, eine Reihe von systematischen Untersuchungen der Mutter-Kind-Interaktionen angeregt (vgl. Miyake et al. 1985; Nakagawa et al. 1989; Grossmann & Grossmann 1996). Auch wenn zu fragen ist, ob die dort verwendete Methode („Strange-Situation-Test") für japanische Kleinkinder angemessen ist (vgl. Kornadt 1989), belegen die Ergebnisse dieser kulturvSrgleichenden Studien, daß zwischen der japanischen Mutter und ihrem Kind eine enge Symbiose besteht und daß die physische Trennung von Mutter und Kind beim japanischen Kind eine dramatische emotionale Belastung bewirken kann. Die enge Mutter-Kind-Beziehung wird in den ersten Lebensmonaten durch den ständigen physischen Kontakt aufgebaut. Dazu gehören u.a. das gemeinsame Schlafen (bis ungefähr zum 6. Lebensjahr) (der Vater schläft auf einer eigenen Matte) und das Tragen des Kindes auf dem Rücken (vgl. Hendry 1986; Iritani 1979; Shigaki 1983). Die Trennung von der Mutter als Schlafpartner bedeutet für Kinder ein besonders einschneidendes frustrierendes Ereignis. Kinder haben bis zum Schulalter selten ein eigenes Kinderzimmer (26% der japanischen im Vergleich zu 68% der amerikanischen Kinder) (Japan Association for Women 's Education 1995). Kinder erleben es als Strafe, wenn sie nicht im gleichen Zimmer wie die Mutter sind. Kein eigenes Kinderzimmer zu haben bedeutet nicht nur einen unterschiedlichen Lebensstandard, das bedeutet auch eine andere Rolle des Kindes. In Japan lernt das Kind - zunächst durch die Mutter -, sich ständig in einen sozialen Kontext einzufügen. Hier bestehen besondere Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung der japanischen Kinder. Die berühmten Studien von Caudill & Schooler (1973) und Caudill & Weinstein (1986) beschreiben, wie emotional und eng die Mutter-Kind-Beziehung in Japan ist, und wie es die japanische Mutter versteht, sensibel auf die Bedürfiiisse ihres Kindes einzugehen. Verschiedene kulturvergleichende Beobachtungsstudien belegen, wie sehr sich qualitativ auch der Kommunikationsstil japanischer und amerikanischer Mütter (mit ihrem Kind) unterscheidet. So zeigen japanische Mütter weniger nonverbale Interaktion als amerikanische Mütter (z.B. Lewis 1986). Wie dieser verschiedene Kommunikationsstil bereits in den ersten Lebensmonaten durch Wechselwirkungsprozesse zwischen dem Neugeborenen und seiner Mutter entsteht, untersuchte Bornstein (1989). Darüber hinaus belegen Kashiwagi et al. (1984) in aufwendigen Beobachtungsstudien an amerikanischen im Vergleich zu japanischen Mutter-Kind-Interaktionen, daß die kulturspezifisch unterschiedlichen Kommunikationsstile der Mütter deutlich mit unterschiedlichen Lernerfolgen der Kinder zusammenhängen. Japanische Kinder sind amerikanischen Kindern gegenüber, insbesondere bei arithmetischen Leistungen, deutlich überlegen; gleichzeitig werden sie von ihren Müttern mehr verwöhnt. Die vielfach nachgewiesene enge Mutter-Kind-Beziehung wird von Doi (1973) als Grundlage für interpersonale Beziehungen und für eine „gesunde" Entwicklung gesehen „amaeru". Unter „aemeru" versteht Doi die Abhängigkeit einer Person von dem Wohlwollen einer anderen Person bzw. dem Wunsch, geliebt zu werden und sich in der Abhängigkeit von einem wohlwollenden Anderen wohl zu fühlen. Das legt die Frage nahe, ob die enge Mutter-

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Kind-Beziehung in Japan nur ein Phänomen der Kindheit ist oder ob sie sich auch im Jugendalter nachweisen läßt. In der Tat belegen Untersuchungsergebnisse zu Erziehungsbedingungen aus der Sicht von japanischen Jugendlichen ähnliche Befunde enger Beziehungen zu den Eltern {Trommsdorff 1995a). Ein weiterer bemerkenswerter Kulturunterschied ergab, daß deutsche Jugendliche Gehorsamsforderungen ihrer Eltern als willkürliche Eingriffe in die eigene Entscheidungsfreiheit und Selbständigkeit erleben; japanische Jugendliche hingegen erleben Gehorsamsforderung als Zuwendungen ihrer Eltern (vgl. Trommsdorff 1984). Ein ganz ähnlicher Zusammenhang zeigte sich übrigens auch bei eingewanderten amerikanisch-koreanischen Jugendlichen im Vergleich mit koreanischen Jugendlichen in Korea (Pettengill & Rohner 1985). In dem traditionellen konfuzianischen Erziehungskontext erscheinen elterliche Gehorsamsforderungen als selbstverständlich vereinbar mit der Zuwendung der Eltern. Das Ausbleiben elterlicher Gehorsamsforderungen wird sogar als ein Mangel an Zuwendung, als eine unerwünschte Isolierung und Bedrohung der Interdependenz, erlebt. Im individualistischen Erziehungskontext hingegen erscheinen Gehorsamsforderungen als Bedrohung der Individualität und Eigenständigkeit. Japanische Jugendliche erleben ihren Eltern gegenüber hohe Autoritätsakzeptanz und sie vertrauen darauf, daß die Eltern es im Grunde gut mit ihnen meinen. Im Falle von Konflikten gibt mal die eine und mal die andere Seite nach. Die Eltern-Kind-Beziehung in Japan ist nach verschiedenen Datenquellen (Umfragen; Selbstberichten von Jugendlichen in bezug auf Interaktionsverlauf in potentiellen Konfliktsituationen) deutlich harmonischer als bei deutschen Stichproben (vgl. Trommsdorff \9M). Aus bindungstheoretischer Sicht wären damit besonders gute Voraussetzungen für die weitere soziale Entwicklung gegeben. Andererseits ist jedoch auch das Problem zu sehen, daß eine hohe emotionale Bindung an die Mutter für Jugendliche (besonders für Jungen) ein besonderes Problem für ihre Ablösung bedeutet. Dies darf jedoch nicht ohne Rücksicht auf den kulturellen Kontext aus westlicher Sicht gesehen werden. Denn diese Bindung fließt offenbar in andere Sozialbeziehungen ein und ist eine Bedingung für das bereits erwähnte Phänomen von „amaeru".

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Erziehungsziele und -verhalten

4.1 Historischer Rückblick aufErziehungsziele und -verhalten Kojima (1990) berichtet, daß bis zur Öffnung Japans bereitß eine eigene Vorstellung von der Kindererziehung bestand, die sich vor allem auf die chinesische Literatur stützte. Mitte des 17. Jahrhunderts wurden Theorien und Methoden der Kindererziehung der Öffentlichkeit vorgestellt. Da Frauen seltener als Männer lesen konnten, und da der Vater die Erziehung des Kindes beaufsichtigen sollte, richtete sich die im letzten Jahrhundert publizierte Erziehungsliteratur vor allem an Väter aber auch an Mütter und Kinder. Zu Beginn der Meiji-Zeit lassen sich nach Kojima (1990) folgende Merkmale der Kindererziehung feststellen: 1. Erziehungstheorien über die Natur des Kindes und über seine Entwicklung: Kinder sind von Natur aus gut; sie sind einander sehr ähnlich und werden erst durch Umwelteinflüsse verschieden; Kinder lernen durch Imitation von Modellen und werden durch frühe Erfahrungen geprägt. Damit wird klar, daß den Erziehungspersonen, d.h. den Eltern eine besondere Verantwortung für die Entwicklung der Kinder zugesprochen wird.

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2. Erziehungsziele-, Als grundlegende Werte galten zum einen die Fähigkeit, durch entsprechende Anpassungen harmonische Sozialbeziehungen innerhalb der Eigengruppe aufzubauen, und zum anderen, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu kennen und pflichtbewußt die entsprechenden Aufgaben zu erfüllen. 3. Erziehungsmethoden: Elterliche Responsivität und Kindorientierung galten als forderlich; von Überstimulation und Überbehütung wurde abgeraten. Als wichtig bei der Übernahme der Erziehungsziele durch das Kind wurde deren Akzeptanz durch und Verständlichkeit für das Kind betont. Die von Kojima aufgrund von Tagebuchnotizen recherchierten Erziehungsmethoden der Eltern (von der Mitte des letzten Jahrhunderts) enthalten Beispiele für solche abstrakte Regeln. Danach bestand alles andere als eine streng autoritäre Eltern-Kind-Beziehung. Im Gegenteil, die Eltern gingen den Bedürfnissen ihrer Kinder nach, versuchten ihre Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern und zu bestätigen und banden sie in ein enges Netzwerk emotional unterstützender Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie (u.a. mit den Nachbarn) ein. 4.2

Erziehungsziele und -verhalten in gegenwärtigen Mutter-Kind-Interaktionen

In unseren eigenen kulturvergleichenden Studien haben wir aufgrund von Interviews, Szenario-Technik und Beobachtungen in verschiedenen strukturierten Situationen Daten über Erziehungsziele und -methoden von Müttern sowie über die Art ihrer Interaktion mit ihrem Kind gewonnen, die uns Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Mutter-Kind-Beziehung bei japanischen und bei deutschen Stichproben verdeutlichen. 4.2.1 Konfliktregelung Die Art der Mutter-Kind-Beziehung läßt sich besonders gut im Fall von Konflikten demonstrieren. Konflikte treten natürlich auch im japanischen Alltag auf (z.B. Kind spielt auf Spielplatz; Mutter will nach Hause; Kind will noch nicht mitkommen). Wie lösen nun japanische und deutsche Mütter einen solchen Konflikt? Durch systematische Inhaltsanalysen von subjektiven Urteilen zu typischen Alltagskonflikten haben wir mütterliche Erziehungstheorien, Erziehungsziele und -verhalten sowie aber auch die Art der Interaktion zwischen Mutter und Kind analysiert. Was die Art der Interaktion betrifft, so besteht bei japanischen Mutter-Kind-Paaren deutlich eine größere Fähigkeit und Bereitschaft, Konflikte gar nicht erst eskalieren zu lassen. Allerdings beruht dies auf einer deutlich stärkeren Bereitschaft der japanischen im Vergleich zu deutschen Müttern, dem Kinde etwas nachzugeben. Diese Nachgiebigkeit wird den japanischen Müttern offenbar erleichtert, indem sie die Situation von vornherein nicht als frustrierend interpretieren. „Das Kind ist noch ein Kind": Diese Interpretation erlaubt ihnen, das konflikterzeugende Verhalten des Kindes geduldig zu tolerieren, nicht ärgerlich zu werden und sogar fröhlich darauf einzugehen, jedenfalls mehr als dies bei deutschen Müttern der Fall ist. Deutsche Mütter reagieren eher vorwurfsvoll und ärgerlich auf ihr Kind. Wenn sie schließlich doch selbst nachgeben sollten, so tun sie dies mit dem Gefühl, die Unterlegene in einem Kampf gewesen zu sein. Mit dieser Deutung japanischer Mütter „das Kind ist noch ein Kind", hängt eine kulturspezifisch unterschiedliche Vorstellung von der Natur des Kindes zusammen: In Japan ist das Kind Teil der Mutter und unreif. Deutsche Mütter hingegen sehen ihr Kind als eigen-

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ständigen Partner mit einem eigenen Willen - und daß das Kind diesen Willen auch durchsetzen sollte - an. Diese kulturspezifisch unterschiedliche Gewichtung von Selbständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit zeigt sich in den mütterlichen Erziehungstheorien, -zielen und im Verhalten. Und schließlich hängen diese kulturspezifischen unterschiedlichen Erziehungstheorien und -Verhaltensweisen mit deutlich unterschiedlichen Interaktionen zusammen: in den japanischen im Vergleich zu den deutschen Mutter-Kind-Dyaden treten weniger Konflikte auf. 4.2.2 Beeinflussung oder Nachgeben Aus Interviews und Szenario-Befragungen geht - ähnlich wie aus den Dokumentenanalysen von Kojima (1990) - hervor, daß für japanische Mütter das Modellernen wichtiger als die aktive Beeinflussung durch die Erziehung ist; dies wiederum halten Mütter für wichtiger als die Reifung. Für deutsche Mütter sieht die Bedeutung dieser Entwicklungsfaktoren hingegen anders aus: sie geben der aktiven Beeinflussung durch die Erziehung ein höheres Gewicht im Vergleich zum Modellernen und zur Reifung. In bezug auf die Bedeutung jeder dieser Faktoren unterscheiden sich deutsche und japanische Mütter signifikant (vgl. Kornadt & Trommsdorff 1990). Für japanische Mütter sind direkte Eingriffe und Sanktionen also deutlich weniger wichtig als für deutsche Mütter. Im Gegenteil, japanische Mütter sind eher bereit, im Konflikt mit ihrem Kind nachzugeben. Eine Schwierigkeit im Kulturvergleich ist, Einzelmerkmale zu vergleichen, ohne diese in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Wenn wir also oben festgestellt haben, daß japanische Mütter gegenüber ihrem Kind mehr Nachgiebigkeit als deutsche Mütter zeigen, ist das für sich allein genommen kein sinnvoller Befund, auch, weil die Situationsspezifität dieser Verhaltenstendenz unbeachtet bleibt. Wenn man Situationen vergleicht, in denen die Mutter mit dem Kind alleine ist und Situationen, in denen ein anderes Kind involviert ist, das durch das Verhalten des eigenen Kindes benachteiligt werden könnte, verhalten sich japanische und deutsche Mütter deutlich unterschiedlich. In der letztgenannten (Peer-) Situation verhalten sich japanische Mütter restriktiver als in der ersteren Situation der intimen Mutter-Kind-Dyade. Die japanische Mutter entschuldigt sich bei dem anderen Kind für das Fehlverhalten des eigenen Kindes und fordert von dem eigenen Kind Nachgiebigkeit und Kooperation. „Durchsetzen" (vgl. Tabelle 1) gilt in Japan als ein negatives Erziehungsziel. Hier ist also die Situationsspezifität des Erziehungsverhaltens und der Kontext der Mutter-Kind-Interaktion zu berücksichtigen. In Japan wird streng zwischen der Binnen- und Außenbeziehung unterschieden. Im Fall von Außenbeziehungen greifen Mütter mehr ein, um nach außen soziale Harmonie zu erhalten; hier zeigt sich, daß japanische Mütter strenger als deutsche Mütter sein können. Aus der Differenzierung der Binnen- und Außengruppenbeziehungen resultiert des weiteren das Interesse, das „Gesicht" der eigenen „ingroup" (mit der eine hohe Identifikation besteht) gegenüber der Außengruppe zu wahren. Insofern ist das Verhalten der Mutter darauf gerichtet, nicht nur Harmonie, sondern auch das eigene Gesicht (bzw. das des Kindes) gegenüber anderen Kindern (Familien) zu wahren. Dazu gehört auch, daß sich das eigene Kind nicht rücksichtslos anderen gegenüber verhält, sondern sich nachgiebig zeigt und somit durch Wohlverhalten den Erziehungserfolg der eigenen Mutter demonstriert. Diese Befunde lassen sich in Zusammenhang mit anderen Werthaltungen und Einstellungen zur sozialen Interaktion deuten. Die harmonische Einbettung des einzelnen in seine Umgebung ist ein traditionell hoher Wert in Japan. Diesen Wert verfolgen Eltern in ihrem Verhalten dem Kind gegenüber. Gleichzeitig ist dieser Wert auch ein Erziehungsziel. Entspre-

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chend zeigt sich auch eine höhere Zurückhaltung japanischer Mütter, direkt auf das Kind einzuwirken - jedenfalls so lange nicht Dritte involviert sind. Wenn es jedoch darum geht, Konflikte des Kindes mit einem Alterskameraden zu regeln, greifen japanische iviütter direkter und wesentlich strenger ein als deutsche Mütter, und zwar zugunsten des anderen Kindes, ohne jedoch gegen das eigene Kind Partei zu ergreifen. Das Ziel der Mutter ist dabei, eine einvernehmliche Beziehung zwischen dem anderen Kind und dem eigenen Kind aufzubauen. Damit soll das Kind lernen, eigene Interessen zugunsten der Erhaltung harmonischer sozialer Beziehungen zurückzustellen. Ahnlich unterscheiden sich deutsche und japanische Mütter in ihren Erziehungszielen: japanische im Vergleich zu deutschen Müttern legen mehr Wert auf Kooperation und prosoziales Verhalten, auf Nachgiebigkeit sowie auf Rücksichtnahme und Empathie (vgl. Kornadt & Trommsdorff 1990: 368). Auch in ihrem Erziehungsverhalten spiegeln sich grundverschiedene Werthaltungen: japanische Mütter zeigeil mehr Nachgiebigkeit und Verständnis (vgl. Kornadt & Trommsdorff 1990: 367). ! Die Pflege harmonischer sozialer Beziehungen, die in der japanischen Erziehung einen so hohen Wert hat, spiegelt sich auch in den Ergebnissen von Befragungen an Jugendlichen {Trommsdorff 1995b). Hier kommt eine Kulturbesonderheit zum Ausdruck, die sich mit dem Konzept der Kontrollorientierung beschreiben läßt. Unter Kontrollorientierung verstehen wir mit Weisz, Rothbaum & Blackburn (1984) eine bestimmte Überzeugung, wie sich Schwierigkeiten bewältigen lassen. Aus kulturvergleichenden Studien ist inzwischen bekannt, daß man nicht schlicht zwischen interner und externer Kontrolle („locus of control", Rotter 1966) unterscheiden kann. Vielmehr bestehen offenbar kulturspezifisch verschiedene Formen der internen Kontrolle, die „primäre" und „sekundäre" Kontrollorientierung. Bei der „primären" Kontrollorientierung geht man von der Überzeugung aus, eigene Ziele eher durch Veränderung der Umwelt (Assimilation) realisieren zu können; bei „sekundärer" Kontrollorientierung hingegen besteht die Überzeugung, Ziele eher durch Anpassung an die Gegebenheiten der Umwelt (Akkommodation) zu erreichen. Normalerweise verwendet man je nach Lebenslage, Situation und individuellen Handlungsdispositionen - beide oder mehr die eine oder andere Art von Kontrollorientierung. Allerdings besteht offenbar je nach kulturellen Werten doch eine unterschiedliche Präferenz für die eine oder andere Kontrollorientierung (Essau & Trommsdorff 1995). Der kulturelle Kontext für die Sozialisation und Entwicklung der Persönlichkeit in Japan fördert anders als bei uns eher eine Orientierung auf andere Personen, insbesondere auf eigene Gruppenmitglieder. In diesem sozial- oder gruppenorientierten Kulturkontext erfahrt der einzelne sein Selbstwertgefühl erst durch die Einbindung in die Gruppe („interdependentes" Selbst), im Gegensatz zu individualistischen Kulturen, in denen Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von anderen zur Selbsterfullung beitragen („independentes" Selbst) (vgl. Markus & Kitayama 1991; Kobayashi 1995; Trommsdorff 1995b). Daher ist die aktive Beeinflussung durch Sanktionen für japanische Mütter weniger notwendig als für deutsche Mütter. Diese Unterschiede entsprechen einer eher „sekundären" als „primären" Kontrollorientierung und einer „interdependenten" Vorstellung vom Selbst bei japanischen im Vergleich zu deutschen Müttern (vgl. Trommsdorff 1989). 4.2.3 Responsivität der Mutter Während sich die bisher berichteten Befunde auf verbale Daten beziehen, die allerdings durch operante und nicht durch responsive Verfahren, wie bei Fragebogen oder Umfragen üblich,

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gewonnen wurden, sollen im folgenden Mutter-Kind-Beziehungen auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen beschrieben werden. In Beobachtungsstudien konnten wir deutliche Unterschiede in der emotionalen Qualität der Mutter-Kind-Beziehung bei japanischen und deutschen Dyaden nachweisen. Es ist bekannt, daß Leistungsziele in Japan eine hohe Bedeutung haben. Daher haben wir Mutter-KindInteraktionen in Leistungssituationen beobachtet. Das Kind mußte jeweils eine Aufgabe lösen, die eigentlich zu schwierig bzw. in der vorgegebenen Zeit nicht lösbar war (ein Bild gemäß einem vorgegebenen Muster aus Papierstücken kleben). Die Interaktionen zwischen Mutter und Kind wurden videografiert und anschließend ausgewertet (zur genauen Beschreibung der Methoden und Ergebnisse vgl. Trommsdorff & Friedlmeier 1993). Die Ergebnisse der inhaltsanalytisch ausgewerteten videografierten Beobachtungen zeigten, daß japanische im Vergleich zu deutschen Müttern tatsächlich weniger primäre Kontrollorientierung sowie stärkere Responsivität zeigten. Dabei hing die Responsivität der Mutter mit hoher sekundärer Kontrollorientierung des Kindes zusammen (in beiden Kulturen). Schließlich zeigte sich, daß japanische Kinder in den Interaktionen deutlich mehr sekundäre Kontrolle bevorzugten als deutsche Kinder. Bemerkenswert ist auch, daß die japanischen Mütter in sehr verschiedenen Situationen (mit unterschiedlicher Leistungsrelevanz) in gleicher Weise responsiv ihrem Kind gegenüber waren, während deutsche Mütter gerade in der Leistungssituation ihre Responsivität deutlich reduzierten. Die situationsunabhängige, also stabile Kindorientierung und Responsivität japanischer im Vergleich zu deutschen Müttern - auch in einer eher angespannten Situation mit Leistungsanforderung - belegt einen deutlichen Kulturunterschied, der auf eine engere emotionale Mutter-Kind-Beziehung im japanischen im Vergleich zum deutschen Sozialisationskontext hinweist. Die intimere Beziehung japanischer Mutter-Kind-Dyaden wird jedoch keineswegs durch viel Blickkontakt zum Ausdruck gebracht. Im Gegenteil, gerade die verminderte Blickkontakthäufigkeit hängt mit hoher Responsivität in der japanischen Mutter-KindBeziehung zusammen, anders als dies bei deutschen Dyaden der Fall ist. Der Blickkontakt zwischen japanischen Mutter-Kind-Paaren war deutlich geringer als bei deutschen Dyaden. Bemerkenswert ist, daß sich sogar eine Wechselwirkung zwischen Responsivität der Mutter und Blickkontakt zeigte: bei responsiven japanischen Müttern war der Blickkontakt deutlich geringer, bei responsiven deutschen Müttern deutlich stärker ausgeprägt. Dies ist nicht so erstaunlich, wenn man den unterschiedlichen Kommunikationsstil in Japan berücksichtigt. An dieser Stelle muß eine weitere Kulturbesonderheit eingeführt werden. Die Mutter-Kind-Beziehung in Japan läßt sich nach Azuma (1986) oder Markus & Kitayama (1991) als symbiotische Beziehung beschreiben, die durch ein Gefühl des Einsseins gekennzeichnet ist (ittaikan) (vgl. Kornadt & Trommsdorff 1990). Dies ist die Grundlage für die Entwicklung des interdependenten Selbst, die eine grundlegend andere Kommunikationsstruktur bewirkt als in westlichen Kulturen, in denen das independente Selbst als Erziehungsziel gilt (vgl. Minami 1983, zur Unterscheidung zwischen dem „kollektivistischen Monolog" in Japan und dem „Dialog" im westlichen Sinne). Dies erklärt auch, daß Blickkontakt zwischen Mutter und Kind gerade bei responsiven Müttern nicht erforderlich ist, weil dort das „ittaikan" besteht. Diese unterschiedliche Qualität der Mutter-Kind-Beziehung müßte aus bindungstheoretischer Sicht Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes haben. Dies läßt sich jedoch erst durch Längsschnittstudien empirisch prüfen. Wie man sich vorstellen kann, ist dies gerade im Kulturvergleich ein außerordentlich aufwendiges Verfahren. Dennoch führen wir gegenwärtig solche Studien durch und untersuchen die sozio-emotionale Entwicklung

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von Vorschulkindern und die Mutter-Kind-Beziehung dieser Kinder in Japan und in Deutschland. Erste ermutigende Befunde weisen daraufhin, daß zumindest ein deutlicher Zusammenhang zwischen Kulturkontext, Mutter-Kind-Beziehung und emotionaler Entwicklung des Kindes besteht. Es scheint, daß japanische Mütter mit ihrer responsiven kindorientierten Haltung ihrem Kind die Bewältigung frustrierender Ereignisse erleichtern, daß ihr Kind weniger Ärger und Frustration erlebt, und daß es negative Emotionen bei Zielblockade besser regulieren kann als dies bei deutschen Kindern der Fall ist. Die bisher beschriebenen Unterschiede zwischen deutschen und japanischen MutterKind-Beziehungen lassen sich grob vereinfacht als Besonderheit einer gruppen- (bzw. sozial-) vs. einer individualorientierten Sozialisation darstellen (vgl. Tabelle 1). Diese Befunde weisen im übrigen auf Probleme der Methoden des Kulturvergleichs hin. So sollten keinesfalls singulare Verhaltensmerkmale für die Beschreibung von Interaktionsund Beziehungsqualität verwendet werden. Vielmehr sollten Eitizelmerkmale hinsichtlich kulturspezifischer Zusammenhangsmuster erfaßt werden. Bei mangelnder Kenntnis des Kontextes geht die kulturspezifische Bedeutung von einzelnen Verhaltensweisen unter. Tabelle 1: Sozialisation in individual- und gruppenorientierten Kulturen

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Gruppen-(SoziaI-)Orientierung

Individualorientierung

Sozialisationsziele

Konformität Soziales Selbst Interdependenz

Selbständigkeit Individuelles Selbst Unabhängigkeit

Entwicklungstheorien

Kind ist nur ein Kind; noch unreif; von Natur aus gut

Kind ist kleiner Erwachsener; verantwortlich fur Handlungen; egoistisch

Erziehungsverhalten

Modell- und Imitationslernen

Sanktionen

Mutter-Kind-Beziehung

Mutter-Kind-Einheit (Symbiose)

Mutter und Kind als Partner

Harmonie; Kooperation;

Konfliktaustragen;

Ausgleichung von Interessen

Aushandeln von Interessen

Sekundäre Kontrolle

Primäre Kontrolle

Akkommodation (Nachgeben)

Assimilation (Durchsetzen)

Sozialer Wandel und Wandel von Familienbeziehungen

5.1 Pluralisierung von Lebensformen in westlichen Industriegesellschaften Für westliche Industriegesellschaften scheint es fast schon eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß Individualisierungsprozesse zunehmen, daß traditionelle soziale Bindungen, wie sie mit der Familie institutionalisiert gewesen sind, verschwinden, und daß sich damit auch Einstellungen zur Institution der Ehe und Familie ändern. Diese Auffassung einer De-Institutionalisierung der Familie und einem zunehmendem Bedeutungsverlust der Familie wird heute jedoch von manchen Autoren in Frage gestellt, weil sie den vielfältigen Formen intimer Lebensgemeinschaften nicht Rechnung trägt (vgl. NaveHerz 1994). Die Individualisierungsthese und die These der gestiegenen Pluralität von Familienformen betonen die zunehmende Vielfalt von Prozessen der Familienbildung (durch Geburt, Scheidung etc.), sie vernachlässigen jedoch die Vielfalt der innerfamiliären Beziehun-

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gen. Und diese Thesen übersehen sozio-kulturelle Unterschiede in Mustern von innerfamiliären Beziehungen. Zum einen ist inzwischen bekannt, daß z.B. erhebliche intrakulturelle (regionale) Unterschiede in der Bereitschaft bestehen, für Kinder zu investieren (vgl. Nauck 1995). Weiter bestehen auch erhebliche interkulturelle Unterschiede in innerfamilialen Beziehungen, und zwar auch zwischen solchen Gesellschaften, die in bezug auf die technologische und ökonomische Entwicklung sehr ähnlich sind, wie am Beispiel Japans und Deutschlands gezeigt wurde. Grob vereinfacht kann man am Beispiel Japans die traditionellen Muster von Familienbeziehungen wiedererkennen, wie sie von Parsons (1968) beschrieben und bis in die 70er Jahre auch in den westlichen Industriegesellschaften im allgemeinen üblich waren (Zusammenleben von Vater, Mutter und Kindern mit einer bestimmten funktionalen Rollendifferenzierung: interne vs. externe Funktionen mit expressivem vs. instrumentellem Verhalten. Die Mutter sorgt für die Kindererziehung und den Haushalt und orientiert sich an den Bedürfhissen der anderen; der Vater sorgt für die ökonomische Sicherheit der Familie). Dazu kommt eine klare Rollendifferenzierung zwischen den Generationen mit hoher Akzeptanz der elterlichen Autorität durch die Kinder. Eine Frage ist jedoch, ob diese typologisierende Beschreibung die Kulturspezifika von Familienbeziehungen in Japan darstellen kann. Eine weitere Frage ist, ob in Japan ein ähnlicher Wandel in den Familienformen zu erwarten ist wie in westlichen Industrienationen. Diese Frage hat eine zusätzliche Bedeutung, wenn man die historische Entwicklung Japans (seit der Meiji-Zeit) bedenkt, bei der das „ie"-System institutionalisiert und als Staatsideologie (Familienstaat Japan mit dem Kaiser an der Spitze) für die Modernisierung instrumentalisiert wurde. 5.2 Wandel in den Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern Um Kulturbesonderheiten sowie aber auch mögliche Hinweise für einen Wertwandel zu erfassen, sind international vergleichende Zeitreihenstudien erforderlich. Die berühmten, im Abstand von fünf Jahren durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsumfragen des Institute for Statistical Mathematics (vgl. Hayashi 1987,1992; Hayashi & Suzuki 1990) sowie auch die international vergleichende Jugendstudie im Auftrag des japanischen Innenministeriums oder verschiedene Studien im Auftrag des japanischen Ministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Monbusho) oder Studien des NHK (Forschungsinstitut des japanischen Rundfunks) haben eine Reihe von Fragen mit einbezogen, die Einstellungen zu verschiedenen sozialen Institutionen (Familie, Betrieb) aus traditionell konfuzianischer Sicht mit umfassen. Einige Daten belegen einen Wandel, andere eine Kontinuität familienbezogener Werte. Betrachten wir abschließend daher einige neuere international vergleichende repräsentative Umfragestudien zu Familienbeziehungen in den letzten 20 Jahren (erste Erhebung 1972, weitere Erhebungen im Abstand von 5 Jahren) aus der Sicht von Jugendlichen (Youth Affairs Administration Management and Coordination Agency 1994). Der Einfluß des Vaters in wichtigen Familienangelegenheiten wird in den letzten 20 Jahren von 1972 bis 1992 relativ unverändert von der überwiegenden Mehrheit japanischer Jugendlicher als hoch angesehen (81-78%) (im Vergleich zu einem weitaus geringeren Prozentsatz deutscher Jugendlicher: 65-51%). Ebenso wird relativ gleichbleibend von ca. 30% der japanischen Jugendlichen (im Vergleich zu weniger als 10% der deutschen Jugendlichen) ein Vater, der streng mit seinen Kindern ist, bevorzugt. Ein Wandel ist in den letzten beiden Jahrzehnten in bezug auf die Einstellung aufgetreten, ob ein Vater versuchen sollte, seinen Kindern ein Freund zu sein (Zustimmung japani-

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scher Jugendlicher von 53% zu inzwischen 66%) (konstante Zustimmung bei etwa 80% der deutschen Jugendlichen). Weiter zeigt sich ein Wandel in der Auffassung japanischer Jugendlicher, daß der Vater seine Familie für wichtiger als seine Arbeit halten sollte (Von 40% zu inzwischen etwa 58% Zustimmung) (im Vergleich dazu stimmen etwa 70% der deutschen Jugendlichen zu). Die Befunde dieser Umfragestudien belegen zum einen eine relativ stabile Rolle des Vaters als Entscheidungsträger der Familie aus der Sicht japanischer Jugendlicher. Bemerkenswert ist, daß ein strenger Vater sowie aber auch ein Vater als Freund gewünscht wird, der sich mehr der Familie zuwendet. Hier deuten sich mögliche Änderungen in der Rolle des Vaters an, der möglicherweise in Zukunft mehr als bisher üblich in die Familie eingebunden wird. Allerdings müßte die kulturspezifische Bedeutung von „Strenge" und der emotionalen Beziehung zum Vater untersucht werden, bevor diese Befunde angemessen interpretiert werden können. Ein anderer Aspekt des Wandels betrifft Änderungen in Intergenerationenbeziehungen, die vermutlich durch den demographischen Wandel bedingt sind. Die erhöhte Lebenserwartung verbunden mit der geringen Geburtenziffer bedeuten für die junge Generation eine massive Belastung hinsichtlich der Versorgung der älteren Generation. Dazu kommt, daß der japanische Staat kein Wohlfahrtsstaat in unserem Sinne ist, und bisher den Familien die Versorgung der Alten überlassen hat (während in Deutschland ca. 30% des Volkseinkommens für soziale Wohlfahrt investiert werden, sind es in Japan nur etwa 14%). Altenheime sind in Japan immer noch relativ unbekannt. Nach konfuzianischer Auffassung sind die Kinder lebenslang zur Versorgung der eigenen Eltern verpflichtet („on"). Auf den ersten Blick funktioniert die Versorgung der alten Eltern durch die Kinder bisher auch relativ gut, allerdings auf Kosten der Frauen. So lebten 1988 ca. 64% der über 65jährigen mit ihren Kindern zusammen; dreizehn Jahre vorher waren es noch 75% und 1960 waren es sogar 87% der über 65jährigen, die mit ihren Kindern zusammenlebten {Japan Association for Women 's Education 1995). Mit der verlängerten Lebenserwartung und der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen (Wiedereinstieg in den Beruf nach Wegzug der Kinder) lassen sich hier Probleme und Interessenskonflikte antizipieren. Tatsächlich belegen Umfragebefunde einen Wandel in der Beziehung zwischen den Generationen in bezug auf die Frage, ob man die alten Eltern in jedem Fall später unterstützen würde. Japanische Jugendliche sind in den letzten Jahren (von 1972-1992) zunehmend weniger bereit für eine bedingungslose Unterstützung (von 35-23%) (bei deutschen Jugendlichen sind die Vergleichszahlen 34-38%). Konsistent mit dieser Antwort ist die Zustimmung zu der Frage, ob man die alten Eltern unterstützen würde, wenn man finanziell dazu in der Lage wäre. Dies bejahten 1972 53% und 1992 66% der japanischen Jugendlichen) (im Vergleich: 4944% der deutschen Jugendlichen) {Youth Affairs Administration 1994; Trommsdorff 1993a). Aus diesen Daten, die ja nur verbale Antworten sind, läßt sich natürlich nicht schließen, daß Jugendliche später, wenn sie tatsächlich vor die Frage der Versorgung ihrer Eltern gestellt werden würden, diese Verantwortung ablehnen. Es läßt sich allenfalls berichten, daß die Antizipation, die Eltern oder Schwiegereltern später versorgen zu müssen, schon im Jugendalter als eine Belastung erlebt wird. Diese Belastung wird in der Tat auch psychologisch und finanziell größer sein als in solchen Ländern, wo die Versorgung der Eltern durch andere Institutionen mitgetragen wird und nicht allein auf den Schultern der Kinder ruht. Ob und wie das Verhältnis zwischen den Generationen in Japan durch diese Belastung tatsächlich verändert wird, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann.

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Angesichts der zunehmenden Erwerbsmotivation von Frauen auch im mittleren Erwachsenenalter und angesichts der begrenzten Wohnverhältnisse in den Städten erscheint die Versorgung der alten Eltern tatsächlich als eine enorme Belastung für die jüngere Generation, eine Belastung, der sich der Einzelne aber aufgrund traditioneller Verpflichtung gegenüber den Eltern kaum entziehen kann. Daher dürfte hier eine potentielle Quelle für sozialen Wandel, für Wertwandel und für einen Wandel innerfamilialer Beziehungen liegen.

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Ausblick

Einerseits wird Japan in der Literatur häufig als eine familistisch strukturierte Gesellschaft gesehen, deren Institutionen gemäß konfuzianischen Regeln paternalistisch und nach Senioritätsprinzip strukturiert sind und wo besonderer Wert auf innere Harmonie und enge Intragruppenbeziehungen gelegt wird. Andererseits besteht jedoch seit Jahren eine Kontroverse in der japanbezogenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung, ob die Besonderheiten Japans (nihonjiron) ein Mythos oder eine Realität sind (z.B. Befu 1986). Damit hängt z.B. auch die Diskussion zusammen, ob Japan eine Harmonie- oder eine Konfliktgesellschaft sei (vgl. Kreimer 1994). Solche Kontroversen erscheinen aus kulturvergleichender Sicht überflüssig, da erst aus dem Vergleich einer Kultur mit einer anderen deren jeweilige Besonderheiten und Gemeinsamkeiten erkennbar sind. Gemäß den empirischen Befunden von zahlreichen psychologischen Einzelstudien, in denen Stichproben aus Japan und anderen Kulturen verglichen werden, bestehen hinsichtlich einer Vielfalt von Handlungsmerkmalen deutliche Kulturbesonderheiten von japanischen im Vergleich z.B. zu deutschen Stichproben (z.B. in bezug auf Selbstdarstellung; Emotionsausdruck; Gerechtigkeit etc.). Daneben bestehen jedoch eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten (z.B. in bezug auf Entwicklungsprozesse) (vgl. Trommsdorff 1993c). Auch wenn selbstverständlich immer nur bestimmte Aspekte menschlichen Handelns untersucht werden können, sollten diese aber im Zusammenhang mit anderen Merkmalen und vor allem aus der Kenntnis des Kulturkontextes heraus gedeutet werden. Die damit verbundenen methodologischen Probleme (u.a. die Verbindung von deskriptiven, objektivierbaren mit subjektiven oder von „emic" und „etic" Daten) raten zur Vorsicht bei vorschnellen Deutungen von Kulturspezifika und Wandel (Trommsdorff 1996). Auch wenn vielfach behauptet wird, daß Individualisierungprozesse in Japan das traditionelle Wertsystem verändern (z.B. Ölschleger et al. 1994), läßt sich aus systematischen Umfragedaten mit Mehrfacherhebungen (Zeitreihenstudien) jedoch bisher nur erkennen, daß einige Werte, insbesondere solche in bezug zum Konfuzianismus (z.B. Loyalität; Paternalismus; Senioritätsvorstellung; Geschlechtsrollendifferenzierung; Leistungsorientierung) weiterhin konstant bleiben, während andere Werte (z.B. „ein Leben nach eigenem Geschmack leben") zunehmend an Bedeutung gewinnen (vgl. Tokei Suri Kenkyujo Kokuminsei Chosa Iinkai 1992; Hayashi 1987, 1992; Hayashi & Suzuki 1990; Trommsdorff 1986, 1993b; Trommsdorff Suzuki & Sazaki 1987). Die Familienbeziehungen und deren möglicher Wandel sollten in dem größeren Kontext kultureller Werthaltungen und ihrer Kontinuitäten und Wandlungen eingeordnet werden. Allerdings muß vorsichtshalber auf die eingeschränkte Aussagekraft von Wertwandlungsstudien, die auf Umfragen beruhen, hingewiesen werden (vgl. Trommsdorff 1996). Einfache Vergleiche von singulären Werten und Erziehungszielen (wie z.B. Gehorsam bei deutschen und japanischen Jugendlichen) sagen nichts über die kulturspezifisch subjektive

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Bedeutung dieses Wertes für die Strukturierung von Intergenerationenbeziehungen aus. Erst im Kontext der emotionalen Bindung zwischen Eltern und Kind und deren kulturspezifischem Ausdruck können solche Vergleiche etwas besagen. Daher verdecken „objektive" Kulturvergleiche (,,etic"-Sichtweise) häufig Phänomene, die sich erst aus der kulturimmanenten Sicht („des „emic"-Vorgehens") erkennen lassen. Weiter sind gerade in Japan die besonderen kulturellen Bedingungen bei Befragungen (Unterscheidung zwischen „öffentlicher" und „privater" Meinung bzw. Antwort; vgl. „honne" und „tatemae") unbedingt zu berücksichtigen. Verbale Äußerungen in Umfragen sind gewissermaßen „öffentliche" Meinungsäußerungen, die keineswegs mit den eigentlich privaten Meinungen übereinzustimmen brauchen. So belegen die Analysen von Kim (1994) ganz deutlich, daß in Japan zwar individualistische Meinungsäußerungen in Befragungen üblich sind (und vermutlich unter dem Druck westlicher Medien wohl auch zunehmen), daß diese aber im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten stehen. Verhaltensdaten belegen hingegen eine hohe Präferenz kollektivistischer, d.h. traditionell sozialbezogener Orientierungen in Japan. Untersuchungen von möglichem Wandel innerfamilialer Beziehungen sollten daher gerade in Japan nicht alleine auf der Grundlage von Befragungen beantwortet werden. Eine genauere Analyse der Familie in Japan und deren Wandel im Kontext möglichen Wertwandels, die nicht nur auf Umfragen beruht, könnte allerdings einen Beitrag dazu liefern, ob und wie sich in Japan sozialer Wandel vollzieht. Da die Modernisierung Japans mit der Ideologisierung des „ie"-Systems als Grundlage des japanischen Staates einherging, stellt sich die Frage nach Stabilität und Wandel der japanischen Familie mit besonderem Akzent. Die in der Meiji-Zeit zur Staatsideologie erhobene These des Familienstaates Japan mit dem Kaiser an der Spitze hat ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit, wie sich z.B. an der heute noch vergleichsweise hohen Befürwortung von Gehorsamswerten, Werten der Loyalität und Seniorität ablesen läßt. Die Bedeutung dieser Werte kann jedoch nur im historisch entwickelten Kulturkontext und der kulturellen Ausprägung familiärer Beziehung verstanden werden. Wenn man versucht, Prognosen für die Zukunft familialer Beziehungen in Japan zu machen, kann man wohl davon ausgehen, daß der faktische Druck aufgrund demographischer Änderungen eine massive Herausforderung für die japanische Bevölkerung ist. Wie diese Probleme im Kontext auch veränderter ökonomischer Bedingungen (die wirtschaftliche Rezession ist noch nicht beendet) gelöst werden, ist schwer vorhersagbar. Die immer wieder beobachtete große Flexibilität, mit der in Japan auf Probleme reagiert wurde, und auch „nichtjapanische" Lösungen in bestehende Handlungsmuster aufgenommen wurden, mag auch mit der beobachtbaren Bereitschaft zusammenhängen, „traditionelle" Überzeugungen mit „neuen" Werten zu verbinden, ohne daß dies als Widerspruch wahrgenommen wird. Sollten jedoch diese Probleme auf Kosten der Frauen gelöst werden, und zwar angesichts der inzwischen erfolgten Veränderungen der Rolle der Frau, würde dies unabsehbare Folgen für innerfamiliale Beziehungen sowie für Sozialisationsbedingungen der nächsten Generation haben. Somit kann das Studium der Familie und der Eltern-Kind-Beziehungen in Japan einen Beitrag dazu leisten, unser Verständnis über Bedingungen von sozialem Wandel zu erweitern und bisher im Westen entwickelte Theorieansätze unter anderen kulturellen Bedingungen zu prüfen.

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Anmerkung: 1. Für seine wertvollen Hinweise bei einer früheren Fassung dieses Beitrages danke ich Dr. Makoto Kobayashi.

Familienzufriedenheit: Ein Vergleich der Bedeutung von Familienstruktur, innerfamilialer Rollenverteilung und elterlicher Bildung in Ostasien und Deutschland Klaus Boehnke und Susanne Rippl

Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Die Bedeutung der Familienstruktur Die Bedeutung der innerfamilialen Rollenverteilung Die Bedeutung elterlicher Bildung Familienstruktur und innerfamiliale Rollenverteilung in Ostasien und Deutschland Modell des Zusammenhangs von elterlicher Bildung, Familienstruktur und innerfamilialer Rollenverteilung mit Familienzufriedenheit Erhebungsstichproben Erhebungsinstrumente Familienzufriedenheit und innerfamilialer Rollenverteilung Diskussion der Befunde Literatur

Der folgende Beitrag setzt sich aus vorrangig beschreibender Perspektive mit der Bedeutung der Familienstruktur, der innerfamilialen Rollenverteilung sowie der elterlichen Bildung für die subjektive Zufriedenheit von Familien in Japan, Taiwan und Hongkong auseinander und vergleicht die Ergebnisse einer in diesen drei Ländern durchgeführten Untersuchung mit Ergebnissen einer parallel durchgeführten Erhebung in den alten Bundesländern. Sämtliche in die Erhebungen einbezogenen Familien haben mindestens ein Kind im Jugendalter. Zunächst werden deutsche und anglo-amerikanische Forschungsergebnisse zur Bedeutung familienstruktureller Variablen für die subjektive Zufriedenheit der Familienmitglieder referiert. Danach wenden wir uns der innerfamilialen Rollenverteilung und deren Auswirkung auf die Befindlichkeit der Familienmitglieder zu. In einem weiteren Abschnitt geht es um die Bedeutung elterlicher Bildung. Die kulturvergleichende Perspektive des hier vorgelegten Forschungsberichts zielt primär auf die Frage einer Verallgemeinerbarkeit von Zusammenhangsannahmen ab.

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Die Bedeutung der Familienstruktur

Die letzten hundert Jahre haben in vielen Ländern der Erde einen z.T. erheblichen Rückgang der Zahl der Kinder pro Familie mit sich gebracht. In Japan ist die durchschnittliche Haushaltsgröße allein von 1980-1990 um 10% (von 3.3 auf 3.0 Mitglieder) gesunken (Encyclopcedia Britannica 1985, 1995). Im Zeichen dieses epochalen Trends wurde immer wieder vermutet, daß bereits die einfache Haushaltsgröße einen Einfluß auf die psychosozialen Befindlichkeiten innerhalb der Familie hat, doch bleiben Vermutungen hierzu im Regelfall im Bereich

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der Folklore. Zwar gibt es keinen vernünftigen Zweifel daran, daß sich Sozialisationsprozesse zwischen Kernfamilien und "Großfamilien" unterscheiden (vgl. Kagitcibasi 1990). Auch die Annahme von Sozialisationsunterschieden zwischen Ein-Kind-Familien und Mehr-Kinder-Familien dürfte seit langem unstrittig sein (Fenton 1928). Die aus der Frage der Haushaltsgröße abgeleitete Frage nach Einflüssen der Stellung des einzelnen Kindes in der Geschwisterreihe wurden ebenso untersucht {Kidwell 1982) wie die Frage, welche Einflüsse es hat, ob ein Kind mit beiden Eltern, mit einem Elternteil oder in neuformierten Familien aufwächst (Bendkower & Oggenfuss 1980; Walper & Schneewind 1995). Ein zentrales Konstrukt der wenigen theoretisch fundierten, an Prozessen interessierten empirischen Arbeiten zum Einfluß der Haushaltsgröße auf die Familienzufriedenheit ist das Konstrukt der Komplexität. Peterson & Rollins (1987) berichten ein höheres Maß an Konflikten um Rollenerwartungen in großen Familien. Sie fassen die vorliegende Literatur dahingehend zusammen, daß Eltern in größeren Familien mehr Rollenanforderungen ('role strain') ausgesetzt sind und dadurch ein höheres Maß an Frustrationen erleben. Um dennoch den Alltag bewältigen zu können, so Peterson & Rollins, legen Eltern in größeren Familien mehr Kontrollversuche an den Tag, sie greifen vermehrt zu physischer Bestrafung der Kinder und zeigen einen autoritäreren Erziehungsstil als Eltern kleinerer Familien. Fast trivial ist der Befund, daß Eltern in größeren Familien weniger Zeit mit jedem einzelnen Kind zubringen. Dies hat zur Folge, daß Eltern in größeren Familien von ihren Kindern als weniger unterstützend erlebt werden (Eider & Bowerman 1963; Peterson & Kunz 1975). Der Stand der Kinder in der Geschwisterreihe ist eine zweite Strukturvariable, der sich die Familienforschung zugewandt hat (vgl. auch hierzu Peterson & Rollins 1987). Auch in diesem Bereich sind allerdings die Ergebnisse empirischer Forschung recht uneindeutig. Eine ganze Reihe von Studien (vgl. z.B. Lewis & Kreitzberg 1979) zeigen, daß Eltern anders mit erstgeborenen Kindern interagieren als mit den später geborenen Kindern. Doch obwohl ein hohes Maß an Übereinstimmung dahingehend besteht, daß Erstgeborene mehr elterliche Aufmerksamkeit erhalten, bleiben Auswirkungen dieser Unterschiedlichkeit weitgehend unklar. Zajonc & Markus (1975) stellen ein Zusammenwirkensmodell ('Confluential model') vor, wenn sie ausfuhren, daß es wenig Sinn macht, sich einzelne Charakteristika der Familienstruktur anzuschauen. Erst die gemeinsame Betrachtung verschiedener Charakteristika der Familienstruktur erlaube es, Aussagen zu deren Bedeutung für die psychosoziale Befindlichkeit der Familienmitglieder zu machen. Mctrjoribanks & Walberg (1975) heben hervor, daß Familienstrukturen in westlichen Industriegesellschaften stark mit der Schichtzugehörigkeit kovariieren. Liegle (1970) vermerkt die Kulturspezifität von Familienstrukturen. Er berichtet Daten aus der Sowjetunion, die zeigen, daß dort der Anteil der Drei-Generationen-Familien wesentlich höher ist als in Deutschland oder in den USA. Auch Scheidungsraten unterliegen bekanntlich erheblicher interkultureller Variation: In Japan lag der Anteil der Geschiedenen pro 1,000 Einwohnern 1990 bei 1.4, in Hongkong bei 1.2, in Taiwan bei 1.4 und in Deutschland bei 1.7. In römisch-katholischen Ländern wie etwa Brasilien (0.5) oder Polen (0.8) hingegen erreicht der Geschiedenenanteil höchstens die Hälfte dieser Werte (Encyclopeedia Britannica 1995). Insgesamt muß festgehalten werden, daß die Kenntnis verschiedener Haushaltsstrukturvariablen (Haushaltsgröße, Anzahl der im Haushalt lebenden Generationen, Anzahl der im Haushalt lebenden Eltern, Stand in der Geschwisterreihe etc.) nur in geringem Maße eine Vorhersage der subjektiven Befindlichkeiten der Familienmitglieder ermöglicht. Will man überhaupt auf der Grundlage der vorliegenden Literatur eine These formulieren, so wäre vielleicht davon auszugehen, daß in Familien mit mehreren nicht-normativen Strukturcharakteristika

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eher mit geringeren Zufriedenheitswerten zu rechnen ist als in 'norm-konformeren' Familien. Wieweit diese These kulturübergreifend und innerhalb der einbezogenen Kulturen belegbar ist, wird empirisch zu prüfen sein.

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Die Bedeutung der innerfamilialen Rollenverteilung

Zur Bedeutung der innerfamilialen Rollenverteilung für die subjektiven Befindlichkeiten der Familienmitglieder liegt bisher kaum empirische Forschung vor. Zwar gibt es eine große Anzahl von Studien zur innerfamilialen Rollenverteilung, doch ist die Rollenverteilung in fast allen Studien die abhängige Variable. Es wird untersucht, wie sich Sozialstruktur auf die für eine Kultur typische innerfamiliale Rollenverteilung auswirkt. Eher selten hingegen wird thematisiert, wie sich die Rollenverteilung auf die Zufriedenheit der Familienmitglieder auswirkt. Rollenverteilung und Rollendifferenzierung innerhalb von Familien stehen seit langer Zeit im Zentrum anthropologischen Forschungsinteresses. In der Anthropologie wird die Frage der Rollenverteilung in der Regel in Zusammenhang mit der Linearität einer Gesellschaft diskutiert, also mit der Frage, ob wir es mit einer patrilinealen oder einer matrilinealen Kultur zu tun haben (vgl. Munroe & Munroe 1980). Die Befunde der Anthropologie sind von herausragender Bedeutung für die hier aufgeworfenen Fragen, denn sie verdeutlichen die kulturelle Prägung und die geringe Statik von innerfamilialen Rollenverteilungen im weltweiten Maßstab. Die Rollenverteilung oder -präziser- "die Verteilung instrumenteller Aufgaben" (Zelditch 1971: 256) innerhalb von Familien ist weit entfernt davon, universell zu sein. Es gibt keinen Imperativ, nach dem Familien organisiert sind. In extremen Fällen, wie dem der Nayar (berichtet von Zelditch 1971), existiert nicht einmal die soziale Rolle des Ehemanns bzw. Vaters. Jenseits der biologischen Vaterschaft werden alle weiteren Rollen vom Bruder der Mutter übernommen. Gerade in Kenntnis der teilweise hohen transkulturellen Variabilität familialer Rollenverteilungen scheint uns kulturvergleichende Forschung zu Auswirkungen von Rollenverteilungen auf subjektive Befindlichkeiten dringlich. Zwar hat die Anthropologie zu Fragen der 'role distribution' eindrucksvolles Material vorgelegt (z.B. Whiting & Whiting 1975), doch da anthropologische Forschung stark von psychoanalytischem Denken inspiriert wurde, gilt ihr Hauptaugenmerk vor allem Fragen des Erziehungsstils in der frühen Kindheit. Da zudem vorindustrielle Kulturen, die vielfach Gegenstand anthropologischer Forschung sind, in der Regel keine separate Lebensphase Jugend kennen, liegt vergleichende anthropologische Jugendforschung zur innerfamilialen Rollenverteilung unseres Wissens nicht vor. Während wir also (psycho-)anthropologische Forschung nicht als Wissensquelle für eine Studie zum Zusammenhang von innerfamilialer Rollen- bzw. Aufgabenverteilung und Zufriedenheit nutzen können, erweist sich die familiensoziologische Literatur als sehr fruchtbar, wenn es um Rollenverteilung als deskriptivem Indikator der Variabilität von Familienformen geht. Das von Sussman & Steinmetz (1987) vorgelegte Handbook of Marriage and the Family widmet allein acht Kapitel dem Thema der Diversität von Familienformen und damit implizit unterschiedlichen innerfamilialen Rollenverteilungen. Überraschenderweise wird explizit die Rollenverteilung ('role distribution') kaum thematisiert, auch die Thematik der Rollendifferenzierung wird nur im Zusammenhang mit der Geschlechtsrollendifferenzierung diskutiert (Losh-Hesselbart 1987). Es bedarf eines Blicks in ältere Literatur, um Fragen der Auswirkungen innerfamilialer Rollenverteilung auf die Befindlichkeit von Familienmitglieder behandelt zu finden (z.B. Slater 1971; Nye & Berardo 1973). Die Arbeit von Ogburn & Tibitts (1933)

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wird oft als die klassische Studie zur Bedeutung der Rollenverteilung in Familien gesehen. Auf sie berufen sich viele nachfolgende Arbeiten. Slater (1971) entwickelt seine Position in Abgrenzung zu Arbeiten, die Parsons & Bales (1955) vorgelegt hatten. Letztere hatten drei Hauptthesen formuliert, nämlich daß klar differenzierte elterliche Rollen sich (a) universell entlang einer Achse instrumentell vs. expressiv kategorisieren lassen, daß sie (b) der Identifikation des Kindes mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil förderlich sind und daß (c) eine klar differenzierte elterliche Rollenverteilung Grundvoraussetzung für eine 'normale' Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ist. Parsons & Bales (1955) nehmen an, daß kulturübergreifend ein Elternteil (in den meisten Fällen der Vater) mehr instrumenteile Rollen übernimmt, während der andere Elternteil (in der Regel die Mutter) mehr expressive Rollen wahrnimmt1, und daß diese Rollenverteilung für eine angemessene Entwicklung der Geschlechtsidentität bzw. eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung zwingend ist. Slater (1971) propagiert fast das exakte Gegenteil. Zwar stimmt er Parsons & Bales hinsichtlich der Existenz einer Instrumentalitäts-Expressivitäts-Achse zu, doch bezweifelt er deren Universalität. Weiterhin sieht er eine starke Rollendifferenzierung zwischen den Eltern als Hindernis für die erfolgreiche Entwicklung der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Und drittens postuliert er negative Auswirkungen starker Rollendifferenzierung zwischen den Eltern auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Besonders die dritte Aussage Slaters ist relevant für die hier vorgelegte Studie. Lazowick (1955), Slater (1955) und Manis (1958) konnten zeigen, daß eine starke Rollendifferenzierung zwischen den Eltern in einem negativen Zusammenhang mit der emotionalen Befindlichkeit der Kinder steht, während die Werte der pathologischen MMPI-Skalen (eines klassischen klinisch-psychologischen Screening-Instruments) positiv mit starker Rollendifferenzierung korreliert sind. Zwar ist die Familienzufriedenheit in diesen Studien nicht die zu erklärende Variable, dennoch werden Zusammenhänge zwischen Befindlichkeitsmessungen und dem Ausmaß an Rollensegregation innerhalb einer Familie festgestellt. Dies führt uns zu der Hypothese, daß auch die Familienzufriedenheit und die Rollenverteilung in der Familie negativ miteinander in Beziehung stehen. Die globale These lautet: Je geringer die Rollendifferenzierung innerhalb einer Familie, umso größer die Zufriedenheit der Familienmitglieder. Sind die Mitglieder einer Familie in ihrem familialen Umfeld mit vielen Aufgaben betraut, spricht dies für ein hohes Maß an Integration und Gemeinsamkeit in den Familien. Hohe Rollenflexibilität erhöht zudem auch außerhalb der Familie die Möglichkeit, verschiedenartige Aufgaben zu bewältigen. Dies wiederum wirkt sich positiv auf die Familienzufriedenheit aus. Es scheint uns notwendig, zwischen einer mutterzentrierten und einer vaterzentrierten Rollendifferenzierung zu unterscheiden. Eine mutterzentrierte Familie wäre ein System, in dem eine große Anzahl von Aufgaben ausschließlich von der Mutter übernommen werden. Dies bedeutet nicht von vornherein, daß andere Aufgaben ausschließlich vom Vater übernommen werden. Es gehört fast schon zum Allgemeingut familiensoziologischer Osteuropaforschung, daß in der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten Mütter fast alle Aufgaben ausfüllen, während Väter weiterhin nur die von ihnen auch traditionell erwarteten Rollen ausfüllen. Nye & Berardo (1973) deuten an, daß es in Amerika durchaus umgekehrt sein könnte: Frauen, die 'zuhause' bleiben, erwarten von ihren Männern dennoch eine gleichgewichtige Übernahme von Haushaltsaufgaben. Träfe diese Vermutung zu, so wären die USA eine Kultur mit einer geringen Mutterzentriertheit der Rollenverteilung, da es nur wenige Aufgaben gibt, die ausschließlich von Müttern übernommen werden. Für Familien, in denen die Überlappung mütterlicher und väterlicher Rollen gering ist (Rollensegregation), würden wir von einer hohen Mutterzentriertheit bei gleichzeitiger hoher Vaterzentriertheit sprechen. Da

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wir mit Slater davon ausgehen, daß eine hohe Zentriertheit von Rollenverteilungen, ob bezogen auf Vater oder auf Mutter, sich negativ auf die Befindlichkeit der Familienmitglieder auswirkt, leitet sich hieraus die These ab, daß Familien mit ausgeprägt geschlechtstypischen Rollenverteilungen insgesamt geringere Zufriedenheitswerte aufweisen dürften als Familien, in denen eine Vielzahl von Aufgaben von beiden Eltern übernommen wird. Befunde der ökologischen Sozialisationsforschung unterstützen diese aus familiensoziologischer Forschung abgeleitete These. Die interessierende 'abhängige' Variable der Sozialisationsforschung ist jedoch nicht vorrangig die Familienzufriedenheit, sondern sind intellektuelle Fähigkeiten der Kinder. Marjoribanks (1972, 1973) belegte positive Korrelationen zwischen hoher väterlicher Teilhabe an familialen Aufgaben und sprachlichen Fähigkeiten von Kindern. Die gleiche positive Korrelation belegte er für hohe mütterliche Teilhabe an familialen Aufgaben und intellektuellen Fähigkeiten des Kindes. Brandstädter (1976) zeigte nun aber (in Reanalysen der Daten von Marjoribanks), daß diese positiven Korrelationen nur dann Bestand haben, wenn nicht nur ein Elternteil eine große Anzahl von innerfamilialen Aufgaben übernimmt, sondern beide Eltern dies tun. Indirekt belegt dieser Befund erneut die familiensoziologische These, daß eine geringe Geschlechtsspezifität der innerfamilialen Rollenverteilung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern forderlich ist. Er stützt mittelbar auch die These höherer Zufriedenheit in Familien mit einer androgynen Rollenverteilung. Der Gedanke von positiven Auswirkungen einer androgynen Rollenverteilung läßt sich aber noch weiter fortsetzen. Er bedeutet nämlich, daß in Familien mit einem geringen Machtgefalle mehr Zufriedenheit herrscht. Dies sollte, so die erweiterte These, besonders dann gelten, wenn nicht nur die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern ausgeglichen ist, sondern auch zwischen den Generationen. Die Familienzufriedenheit sollte in Familien mit jugendlichen Kindern dann besonders hoch sein, wenn möglichst viele Aufgaben von beiden Eltern und den Kindern übernommen werden.

3

Die Bedeutung elterlicher Bildung

Wenn wir uns im folgenden Abschnitt nun ganz explizit der Bedeutung elterlicher Bildung für die Familienzufriedenheit zuwenden, so verbindet sich damit der Wunsch zu prüfen, inwieweit Familienzufriedenheit sich unmittelbar aus sozialstrukturellen Merkmalen wie etwa der Schichtzugehörigkeit herleiten läßt. Warum sollte sich elterliche Bildung auf die Familienzufriedenheit auswirken? Höher gebildete Eltern gehören in der Regel höheren gesellschaftlichen Schichten an, denen es materiell besser geht. Materieller Wohlstand seinerseits könnte eine Quelle innerfamilialer Zufriedenheit sein. Dieser These steht zwar die Volksweisheit 'Geld macht nicht glücklich' entgegen, die aber fast regelhaft durch den Nachsatz 'aber es beruhigt' ergänzt wird. Nehmen wir die erweiterte Volksweisheit zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Hypothesenbildung, so ließe sich aus ihr ableiten, daß ein direkter Zusammenhang zwischen hoher Bildung (als Indikator für einen hohen Sozialstatus und materiellen Wohlstand) und Familienzufriedenheit unwahrscheinlich ist. Höherer materieller Wohlstand (der mit höherer Bildung kovariieren dürfte) könnte allerdings durchaus für eine ausgeglichenere innerfamiliale Rollenverteilung prädestinieren und, wie aus familiensoziologischer Forschung hinlänglich bekannt (Langman 1987), mit bestimmten familienstrukturellen Variablen (wie etwa der Haushaltsgröße) deutlich kovariieren. Sozioökonomischer Status ist für uns eine typische Hintergrundvariable: Sie hat keinen unmittelbaren Einfluß auf die Familienzufrieden-

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heit, kovariiert aber mit Familienstruktur und mit innerfamilialer Rollenverteilung, der eine hohe Determinationskraft für Familienzufriedenheit beigemessen wird. Hier nun gibt es ein spezifisches Dilemma kulturvergleichender Forschung. Es ist ein bekannt komplexes Unterfangen, kulturübergreifend valide Indikatoren für Schichtzugehörigkeit zu finden, die auch für Individuen aussagekräftig sind. Selbst für den Vergleich von Industriegesellschaften, wie den in die hier vorgelegte Studie einbezogenen Ländern, ist es schwierig, individualisierbare Sozialindikatoren zu finden, die sozialen Status valide über Kulturen hinweg vergleichbar abbilden. Sicherlich könnte man explizit das elterliche Einkommen erfassen, doch stellt sich die Frage, ob Auskunftsverzerrungen zwischen Kulturen vergleichbar sind (vgl. Mead 1958; Schwarzer 1975). Aber selbst wenn man unverzerrte Angaben erhalten sollte, so ist es durchaus denkbar, daß persönliches Einkommen in eher kollektivistisch orientierten Ländern wie Japan, Taiwan und Hongkong (vgl. Triandis 1990) eine andere Bedeutung hat als in individualistisch orientierten Ländern wie Deutschland. Einkommensfragen scheiden deshalb für die Messung des Sozialstatus' einer Familie bzw. eines Individuums aus. Ahnliches gilt auch für einen anderen typischen individuellen Sozialindikator, die Zahl der pro Person zur Verfügung stehenden Wohnquadratmeter: Die Wohndichte in den vier einbezogenen Stichproben unterscheidet sich so gravierend (Deutschland 0.6 Personen pro Raum, Japan 0.7, Hongkong 2.8, Taiwan 1.2; Encyclopcedia Britannica 1995), daß die Aussagekraft entsprechender Daten bezweifelt werden muß. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen haben wir uns entschieden, nur die elterliche Bildung als Sozialindikator einzubeziehen. Alle vier einbezogenen Gesellschaften kennen eine mindestens zehnjährige Schulpflicht (vgl. Bergs- Winkels 1989). Sie alle kennen einen Schulabschluß, dessen Erreichen für den Zugang zum tertiären Bildungssystem obligatorisch ist. Die Studie hat deshalb nach besuchten Schuljahren der Eltern und nach dem Bildungsabschluß der Eltern gefragt und aus beiden Angaben die sog. normative Anzahl der absolvierten Schuljahre errechnet.2

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Familienstruktur und innerfamiliale Rollenverteilung in Ostasien und Deutschland

Ökonomische Entwicklung geht typischerweise mit der Veränderung von familiären Mustern einher, etwa mit einer Reduktion der Größe und Komplexität des Haushalts, einer Abschwächung der Beziehungen zu Verwandten, die außerhalb des Haushaltes leben, einer Stärkung der Mann-Frau-Beziehung und einer Abschwächung patriarchalischer Strukturen (Shorter 1975; Caldwell 1976). Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, inwieweit dies auch für Gesellschaften mit nicht-westlichen Traditionen zutrifft (Martin 1990). Insbesondere in den prosperierenden Gesellschaften Ostasiens bestehen starke patrilineale Traditionen - wenn auch in abgeschwächter Form - fort (Lee, Parish & Willis 1994). Dennoch sind Tendenzen in Richtung einer Verkleinerung der Haushalte auch dort zu beobachten; die Kleinfamilie ist vermehrt zentraler Ort der Primärsozialisation. In Japan stieg der Anteil der Kleiiifamilien bis 1990 auf 77.6% (Mayer & Pohl 1994). Trotz dieser Entwicklungen sind fernöstliche Kulturen wie die Japans, Taiwans und Hongkongs weiterhin durch eine starke konfuzianische Tradition geprägt, die eine patriarchalische Familienstruktur 'vorschreibt'. Die traditionelle Rollenteilung drückt sich in der chinesischen Kultur in der Redewendung "strict father, kind mother" (Lau, Hau, Chueng, Lew & Berndt 1990; Ho 1987) aus. Selbst in der hoch entwickelten Industrienation Japan sind die

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Geschlechterrollen trotz einer Tendenz zu mehr Gleichberechtigung weiterhin streng differenziert (Trommsdorff 1985, 1989, idB; Sugiyama 1984). Zwar drängen Frauen immer stärker in eine Berufstätigkeit, doch haben Männer nur in sehr geringem Maße zusätzliche Aufgaben in der Familie übernommen (Coulmas 1993). Dennoch gibt es auch Belege für den Rückgang der patriarchalischen Autorität in Taiwan (Kuo 1989),. Hongkong (Ho & Kang 1984) und Japan (Coulmas 1993). Auch der rapide Rückgang der Geburtenraten in diesen Ländern in den letzten 30 Jahren bestärkt diese Entwicklung. Trotz der Schwächung überkommener Muster - so argumentieren Lee, Parish & Willis (1994) am Beispiel Taiwans - bestehen alte Traditionen fort: "...most parents continue to live with adult sons and financial flows among adults continue to be overwhelmingly from the younger generation to the older" (S. 1012). Lee, Parish & Willis vermuten, daß es gerade in dieser Übergangsphase in eine ökonomisch prosperierende Gesellschaft eine ideale Strategie ist, in die Ausbildung der Kinder zu investieren. Sie bemerken, daß gerade chinesische Familien traditionell eine solche Strategie verfolgten - was sie als Sozialisation "into the values of filial piety" bezeichnen. Taiwanesische Kinder z.B. lernen, daß es eine große Schande ist, seine Eltern zu mißachten. Die Erziehung produziert somit das Fortbestehen einer starken Familien- und Gruppenmentalität auch in hoch entwickelten Gesellschaften (Lee, Parish & Willis 1994). Zusammenfassend ist festzustellen, daß die hier ausgewählten Gesellschaften des ostasiatischen Kulturraums sich zwar in einer Phase immenser ökonomischer Entwicklung befinden bzw. diese schon abgeschlossenen haben, womit Veränderungen in familialen Traditionen und Strukturen verbunden sind. Dennoch bleiben gewisse prägende Muster bestehen insbesondere die starken konfuzianischen Einflüsse auf familiäre Interaktionen (Lin & Fu 1990), die eine stärkere patriarchalische Orientierung haben, als dies in Westeuropa der Fall ist. Ebenso ist die Differenzierung der Geschlechterrollen stärker ausgeprägt als in westlichen Kulturen, auch wenn sich dies im Wandel befindet. Zudem ist das familiale Klima durch ein höheres normatives Maß an Solidarität und "Harmonie" gekennzeichnet (Lin & Fu 1990). Dieses Fortbestehen bestimmter traditioneller familiärer Strukturen verstehen Lee, Parish & Willis (1994) als Hinweis darauf, daß es offenbar nicht ausreicht, bipolar zu unterscheiden zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften und daß ökonomische Entwicklung nicht automatisch in allen Kulturen ähnliche sozialstrukturelle Veränderungen nach sich zieht. Zum Teil sind solche Veränderungen zu konstatieren, andere Strukturen aber bestehen fort. Diese Problematik beschäftigt auch die vorliegende Studie, es ist zu klären, inwieweit universelle strukturelle Bedingtheiten und Zusammenhänge in "modernen" Gesellschaften unterschiedlicher kultureller Prägung - hier Ostasiens und Westeuropas - vorzufinden sind.

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Modell des Zusammenhangs von elterlicher Bildung, Familienstruktur und innerfamilialer Rollenverteilung mit Familienzufriedenheit

Fassen wir die bisherigen Überlegungen in einem Strukturmodell zusammen, so ergeben sich folgende Globalhypothesen: Wir gehen davon aus, daß 1. elterliche Bildung einen Einfluß sowohl auf Familienstrukturen als auch auf die inner familiale Rollenverteilung hat. Wir nehmen an, daß in Familien mit höherer elterlicher Bildung eine stärkere Tendenz hin zur Kernfamilie besteht und daß zudem eine egalitärere Rollenverteilung vorliegt;

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2. die Familienstruktur auch jenseits ihrer Ableitbarkeit aus der elterlichen Bildung bestimmend für die innerfamiliale Rollenverteilung ist; 3. die innerfamiliale Rollenverteilung bestimmend für die Familienzufriedenheit ist (egalitäre Rollenverteilung zwischen Vater, Mutter und Kindern wird als Vorbedingung für hohe Familienzufriedenheit erwartet); 4. kein unmittelbarer Einfluß der elterlichen Bildung und der Familienstruktur auf die Familienzufriedenheit besteht und daß 5. alle Thesen in Ostasien und in Deutschland gleichermaßen Gültigkeit haben. In graphischer Form ist das zu prüfende Strukturmodell Abbildung 1 zu entnehmen. Abbildung 1: Theoretisches Modell zum Zusammenhang von elterlicher Bildung, Familienstruktur, familialer Rollenverteilung und Familienzufriedenheit

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Erhebungsstichproben

Die hier vorgelegte Survey-Untersuchung ist Teil einer Sieben-Länder-Studie in Hongkong, Taiwan, Kanada, den USA, Japan, Australien und der Bundesrepublik Deutschland (alte Bundesländer), deren Befragungen in den Jahren 1985 bis 1988 durchgeführt wurden. Der nachfolgende Ergebnisbericht umfaßt allerdings nur Daten aus Ostasien und Deutschland. In jedem Land wurde eine Stadt mit mehr als 1.000.000 Einwohnern für die Befragung ausgewählt: Hongkong, Taipeh, Osaka und Westberlin. Diese Vorauswahl sollte eine sozialstrukturelle Vergleichbarkeit der Stichproben gewährleisten. Leiter der Studie waren William A. Scott und seine Frau L. Ruth Scott von der Australian National University in Canberra. Sie waren an allen drei ostasiatischen Erhebungsstandorten während der Untersuchung anwesend und wurden dort von Leung (Chinese University of Hongkong), Cheng (National Taiwan University, Taipeh) und Sasaki (Hyogo Kyoiku University, Osaka) unterstützt. In Westberlin leitete der Erstautor die Untersuchung. An allen Standorten wurden Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe, ein Elternteil und mindestens ein Lehrer der Schüler befragt. Lehrerdaten sind allerdings für die hier bearbeitete Fragestellung nicht relevant und werden deshalb nicht berichtet. Die Schülerinnen und Schüler entstammen in Hongkong einer großen Schule, in Taipeh wurden fünf, in Osaka drei und in Westberlin acht Schulen einbezogen. Alle drei ostasiatischen Länder kennen keine hierarchische Gliederung des Schulsystems, alle Schulpflichtigen einer Kohorten besuchen einen Schultyp. In Westberlin wurden sechs Gesamtschulen sowie eine Hauptschule und ein Gymnasium in die Erhebung einbezogen. Teilnahmeraten lagen im Durchschnitt bei knapp über 50% (Boehnke 1991).

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Die Befragungen der Jugendlichen wurden an allen Standorten während der Schulzeit durchgeführt. Die Entscheidung, welcher Elternteil den Elternfragebogen ausfüllte, wurde den Familien überlassen. Die Elternfragebögen wurden in Ostasien den Jugendlichen zur Weiterleitung an die Eltern mitgegeben. In Berlin wurden die Elternfragebögen von den Schulen an die Eltern der teilnehmenden Jugendlichen versandt. In beiden Fällen war ein vorfrankierter Umschlag beigefügt, in dem die Eltern die Fragebögen anonym an die Untersuchungsleiter zurücksenden konnten. Die Tabellen 1 und 2 geben einen Überblick über wichtige Charakteristika der Jugendlichen- und der Eltern-Stichproben. Tabelle 1: Jugendlichen-Stichproben

Hongkong Taipei Osaka Berlin (W)

Jungen

%

227 267 134 142

46 50 38 57

Mädchen

%

Gesamt-N

271 268 221 106

54 50 62 43

498 535 355 248

Tabelle 1 belegt, daß die größte Stichprobe in Taipeh gewonnen wurde, die kleinste (der in den gegenwärtigen Bericht einbezogenen Stichproben) stammt aus Berlin. In allen außer der Berliner Stichprobe gab es mehr Mädchen als Jungen. Die Altersmittelwerte lagen bei genau 16 Jahren in Hongkong (Klassenstufen 9-12), bei 15 Jahren und 6 Monaten in Taipeh (Klassenstufen 7, 8, 10 und 11), 15.1 in Osaka (Klassenstufen 7-12) und 15.5 in Berlin (Klassenstufen 7-13). Tabelle 2: Eltern-Stichproben

Hongkong Taipei Osaka Berlin (W)

Väter

%

Mütter

%

Gesamt-N

% der Jugendlichen

59 336 52 33

48 67 19 26

64 164 229 95

52 33 81 74

123 500 281 128

25 93 79 52

Tabelle 2 zeigt, daß die Teilnahmerate der Eltern zwischen den Erhebungsstandorten erhebliche Unterschiede aufweist. In Hongkong nahm nur etwa ein Viertel der Eltern teil, in Taipeh fast alle. Der ostasiatische Teilnahmedurchschnitt übersteigt den Berliner Wert allerdings nicht wesentlich. Das Durchschnittsalter der Eltern lag in Hongkong bei 46 Jahren und 6 Monaten, bei 45.5 in Taipeh, bei 44.6 in Osaka und bei 43.2 in Berlin.

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Erhebungsinstrumente

Die hier berichtete Studie verwendete separate Erhebungsinstrumente für die Jugendlichenund die Eltern-Befragung, wobei allerdings auf eine möglichst große Anzahl identischer Items Wert gelegt wurde. Die englische Version wurde in einer Pilotstudie in Brisbane, Australien vorgetestet {Scott, Scott & McCabe 1991). Der Fragebogen wurde dann in die lokalen Dialekte des Chinesischen für Hongkong (Kanton-Dialekt) und für Taiwan (Mandarin), ins Japanische und ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzungen wurden jeweils von zwei bilingualen Personen mit unterschiedlicher Muttersprache vorgenommen und dann abgeglichen.

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Skalenwerte wurden für alle Skalen durch Mittelung der z-Werte der an der Gesamtstichprobe standardisierten Itemwerte gebildet. Diese Prozedur war notwendig, da alle Items, die aus Studien anderer Autoren übernommen wurden, jeweils einschließlich der in der Originalliteratur verwendeten Antwortvorgaben übernommen wurden. Dies bedeutet, daß innerhalb von Skalen durchaus Items mit unterschiedlichen Antwortvorgaben zusammengefaßt sein können. Eine solche 'Originaltreue' zieht aber die Notwendigkeit einer Standardisierungsprozedur nach sich, da eine einfache Addition zu einer ungerechtfertigten Übergewichtung von Items mit vielstufigen Antwortvorgaben führen würde. Für den hier berichteten Kulturvergleich wurden Skalen nach dem sog. 'Etic-Approach" konstruiert. Für die kulturvergleichenden Analysen wurden nur solche Items berücksichtigt, die in allen einbezogenen Kulturen je separat eine Trennschärfe von r>0,10 erreichten und mit keiner anderen Skala höher korrelierten als rit - 0.05. Das letztgenannte Kriterium bedeutet, daß Items innerhalb der Skala, für die Sie vorgesehen waren, in jeder einzelnen Kultur eine Trennschärfe von mindestens 0.10 erreichen mußten und zusätzlich ihre Korrelation mit anderen Skalen um 0.05 unter dem Trennschärfe-Koeffizienten liegen mußte, den Sie in ihrer 'eigenen' Skala erreichten. Items, die in nur einer Kultur diese Schrankenwerte verfehlten, wurden aus weiteren kulturvergleichenden Analysen ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie sich in einzelnen Kulturen als 'gute' Items erwiesen. Eine solche Itemauswahl steht für einen 'reinen' Etic-Ansatz: Nur der kulturübergreifend gleichartig meßbare Kern eines Konstrukts ist Gegenstand der Auswertungen. In einem zweiten Schritt wurden die Skalenwerte aus unterschiedlichen A-Priori-Skalen aus einer Datenquelle (Jugendliche oder Eltern) im Sinne einer Durchschnittsbildung zusammengefaßt, wenn diese innerhalb aller Kulturen zu mindestens 0.50 korreliert waren. In einem dritten Schritt wurden quellenübergreifende Indikatoren gebildet, wenn Jugendlichen-Skalen und Eltern-Skalen zu ein und demselben Konstrukt zu mehr als 0.20 miteinander korreliert waren. Der Jugendlichen-Fragebogen umfaßte Items zu insgesamt 46 latenten (= 172 manifesten) Variablen. Der Eltern-Fragebogen umfaßte Items zu 38 latenten (= 108 manifesten) Variablen. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die für den hier berichteten Untersuchungsteil relevanten Variablen. Exogene (Kontroll-) Variablen. Das biographische Alter der befragten Jugendlichen setzte sich aus den über die Gesamtstichprobe z-standardisierten Werten für das sog. chronologische Alter in Jahren und der Klassenstufe zusammen. Die beiden Variablen korrelieren in Hongkong zu 0.77, in Taipeh zu 0.94, in Osaka zu 0.97 und in Berlin zu 0.88. Das Geschlecht der befragten Jugendlichen ist eine weitere Variable, die in unsere Auswertungen einbezogen wurde. Die elterliche Bildung wurde als Zahl der normativ absolvierten Schulbesuchsjahre des an der Befragung teilnehmenden Elternteils im Elternfragebogen erfaßt. Familienstrukturvariablen. Als erste Familienstrukturvariable ging die Anzahl der (mit dem befragten Jugendlichen zusammenlebenden) Eltern in die Untersuchung ein. Für die Position (der befragten Jugendlichen) in der Geschwisterreihe wurde aus vier Dummy-Variablen (Einzelkind, ältestes Kind, jüngstes Kind und mittleres Kind) die erstgenannte Variable (Einzelkind) ausgewählt, da Sie uns am bedeutsamsten für die Unterscheidung von Strukturen von Familien erschien. Ob ein Kind allein aufwächst oder nicht, dürfte größeren Einfluß auf die innerfamiliale Rollenverteilung haben als die Frage, ob der befragte Jugendliche das älteste, jüngste oder ein mittleres Kind ist. Als weitere Familienstrukturvariable wurde in die Auswer-

74

K. Boehnke & S. Rippl

tungen einbezogen, ob es sich bei der Familie des befragten Jugendlichen um eine Zweigenerationenfamilie handelt oder nicht. Letztlich ging auch noch die Haushaltsgröße in unsere Auswertungen ein. Sie ergab sich aus der Zählung aller von den Jugendlichen bzw. den Eltern angegebenen Familienmitglieder. Alle Familienstrukturvariablen sind Mittelwerte aus Angaben der Kinder und der Eltern. Innerfamiliale Rollenverteilung. Das Ausmaß kindlichen Rollenengagements in der Familie wurde durch Zählung aller von Kindern übernommenen Rollen ermittelt. Als Instrument wurde eine Liste von 20 Aufgaben eingesetzt, die in Familien übernommen werden. Die Liste umfaßt folgende 20 Rollen oder Aufgabenbereiche: Reparaturen im Haushalt; Rechnungen bezahlen, Haushaltsputz; Geschirrspülen; Kochen; finanzielle Angelegenheiten regeln; die Kinder erziehen; Entscheidungen über den Kauf von Haushaltsgegenständen fallen; das Baby baden; die Kinder dahin bringen, wo sie hin müssen; die Windeln wechseln; Lebensmittel einkaufen; Kontakte mit Verwandten halten; die Familienfreizeit planen; mit Banken oder Dienststellen verhandeln; zuhause bleiben, wenn ein Kind krank ist; zuhören, wenn Familienmitglieder Probleme haben; mit den Kindern zum Arzt gehen; den anderen Familienmitgliedern Unterstützung geben; die Bildung und Ausbildung der Kinder planen. Elterliches Rollenengagement wurde definiert als Summe aller von Eltern übernommenen Familienrollen geteilt durch die Anzahl der im Haushalt lebenden Eltern. Die Vaterzentriertheit der Rollenverteilung einer Familie wurde durch Zählung der Aufgaben ermittelt, die vom Vater, aber von keiner anderen Person ausgeführt wurden. Die Mutterzentriertheit der Rollenverteilung einer Familie wurde analog zur Vaterzentriertheit als Anzahl der Aufgaben ermittelt, die nur von der Mutter übernommen werden. Auch für die Erfassung der innerfamilialen Rollenverteilung wurden Angaben der Eltern und Angaben der Kinder gemittelt. Kinderangaben und Elternangaben zu Familienstrukturvariablen und Rollenverteilungsvariablen korrelieren im Median zu 0.63. Tabelle 3: Items der quellenübergreifenden Skala 'Familienzufriedenheit' -

Wie fühlst du Dich, wenn Du an die Dinge denkst, die Du und Deine Familie zusammen machen? (J)' Wie filhlst Du Dich, wenn Du daran denkst, was für Beziehungen Ihr in Eurer Familie untereinander habt? (J) Würdest Du sagen, die Mitglieder Deiner Familie sind sich sehr nah ... sehr fem? (J) Wenn ich mit einem Familienmitglied nicht übereinstimme, bekommen wir eine Auseinandersetzung oder einen Streit. (J) Mein Zuhause ist ein Ort, an dem man glücklich sein kann. (J) Meine Eltern sind gerecht zu allen Kindern in unserer Familie (J) Wie wichtig (unter den folgenden 9 Bereichen) ist Dir die Familie? (Invertierter Rangplatz) (J) Würdest Du sagen, du bringst viel Zeit ...-keine Zeit mit Deiner Familie zul (J) Wenn ich mit jemandem anderen sprechen möchte, gehe ich zu Familienmitgliedern. (J) Wieviel Zeit verbringst Du mit Deinen Eltern? (J) Würdest Du sagen, daß die Mitglieder Deiner Familie im allgemeinen irgendwie besser/schlechter oder genauso wie andere Leute sind? (J) - Wenn Sie wirklich alles einbeziehen, wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Familienleben? (E) - Was für ein Gefühl haben Sie zu ihren Kindern; wie zufrieden sind Sie mit Ihnen? (E) sind Sie zufrieden mit der Art der Freunde, die Ihr Kind hat? (E) - Wie zufrieden sind Sie mit der Art, wie Sie Ihre Rolle als Mutter/Vater wahrnehmen? (E) - Welch ein Gefühl haben Sie hinsichtlich der Art, wie Ihre Familie Dinge zusammen unternimmt; wie zufrieden sind Sie damit? (E) - Welch ein Gefühl haben Sie hinsichtlich der Beziehungen, die in Ihrer Familie die Mitglieder untereinander haben? (E) - Würden Sie sagen, die Mitglieder Ihrer Familie sind sich sehr nah ... sehr fern? (E) - Mein Zuhause ist ein Ort, an dem man glücklich sein kann. (E) Anmerkung: Auf eine Wiedergabe der Antwortvorgaben wird verzichtet, sie sind der Arbeit von Boehnke (1991) zu entnehmen. Für die Berechnung von Skalenwerten wurden die Items jeweils so gepolt, daß hohe numerische Werte für eine hohe Familienzufriedenheit stehen. Die kursiv gesetzten Items sind die Items, die im Jugendlichen- (J) bzw. im Elternfragebogen (E) die jeweils höchste mittlere Trennschärfe in allen Teilstichproben erreichten.

Familienzufriedenheit in Ostasien

75

Familienzufriedenheit. Die Skala Familienharmonie des Jugendlichen-Fragebogens umfaßte zunächst sieben Items. Die Items entstammen Arbeiten von Andrews & Withey (1976), Jessor & Jessor (1977) sowie McCabe (1983). Die Skala Familiensolidarität des Jugendlichen-Fragebogens umfaßte zunächst sechs Items, die Arbeiten von Jessor & Jessor (1984) bzw. Scott & Scott (1989) entstammten. Die Skala Familienharmonie umfaßte im Eltern-Fragebogen zunächst acht Items, die Arbeiten von Scott & Scott (1989), Andrews & Withey (1976), Jessor & Jessor (1977) sowie McCabe (1983) entstammen. Die Skala Familiensolidarität umfaßte im Eltern-Fragebogen zunächst fünf Items aus Arbeiten von Bradburn (1969), Scott & Scott (1989) bzw. Jessor & Jessor (1984). Der Wortlaut der in die Untersuchungen einbezogenen Items ist Tabelle 3 zu entnehmen. Insgesamt verfehlten je ein Item der beiden Familienzufriedenheitsskalen aus dem Jugendlichen-Fragebogen die oben beschriebenen Schrankenwerte. Die Skala Familiensolidarität aus dem Elternfragebogen konnte überhaupt nicht in kulturvergleichende Analysen einbezogen werden, da keines der Items in allen Kulturen die Schrankenwerte erreichte. Der verwendete Indikator für Familienzufriedenheit umfaßt insgesamt 19 Items aus drei Subskalen, deren Konsistenzen im Median bei 0.73 liegt.

8

Familienzufriedenheit und innerfamilialer Rollenverteilung

Bevor wir auf die Ergebnisse der Überprüfung des Strukturmodells eingehen, sollen zur Illustration einige univariate Ergebnisse der einbezogenen Variablen vergleichend für die beiden Stichproben berichtet werden, die allerdings nicht ausführlicher dokumentiert werden. Im Rahmen einer Varianzanalyse zeigen sich erwartbare Unterschiede. In Ostasien sind die Haushalte größer, es gibt mehr Mehr-Generationen-Familien, Ein-Kind-Familien sind seltener. Auch hinsichtlich der Rollenverteilung ergibt sich das erwartete Bild: Die Mutterzentriertheit ist in Ostasien höher, das elterliche wie auch das kindliche Rollenengagement ist niedriger. In der Vaterzentriertheit und in der Familienzufriedenheit gibt es zwischen den Stichproben keine signifikanten Unterschiede. Im Zentrum der weiteren Analyse stehen die Ergebnisse der Überprüfung des postulierten Modells (Abbildung 1), die mit dem Statistikprogram LISREL8 vorgenommen wurde. Die Analysestrategie läßt sich wie folgt beschreiben: Da sich die in das postulierte Pfadmodell eingegangenen theoretischen Überlegungen primär aus Ergebnissen der Forschung in westlichen Industrienationen speisen, wurde die Modellanpassung zuerst separat für die westdeutsche Stichprobe durchgeführt. Ausgehend von den postulierten Strukturen wurde entsprechend einer model generating Situation (Jöreskog 1993) ein Ausgangsmodell spezifiziert, das schrittweise modifiziert wurde. "The goal may be to find a model which not only fits the data well from a Statistical point of view, but also has the property that every parameter of the model can be given a substantively meaningful interpretation" {Jöreskog 1993: 295). Geschlecht und Alter der befragten Jugendlichen wurden dabei auspartialisiert.3 Die Familienstrukturvariablen und die Variablen zur innerfamilialen Rollenverteilung wurden als manifeste, korrelierte Variablen in das Modell einbezogen. Das so gefundene Modell wurde dann auf die ostasiatischen Daten übertragen, entsprechend den statistischen Kennwerten wurden auch für diese Stichprobe Modifikationen vorgenommen, so daß letztlich für jede der beiden Stichproben ein eigenes Modell entwickelt wurde. Die Gütekriterien der Modellanpassung können für beide Stichproben als zufriedenstellend angesehen werden. Für Westberlin ergibt sich ein %2-

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K. Boehnke & S. Rippl

Wert von 41.61 bei 21 Freiheitsgraden (p=0.005), der Goodness-of-Fit-Index (GFI) erreicht einen Wert von 0.974. Das Root-Mean-Square-Residual (RMS) liegt bei 0.137. Ähnlich zufriedenstellende Werte ergeben sich für die Ostasienstichprobe: x2=44.58 bei 20 Freiheitsgraden (p=0.001), der GFI erreicht einen Wert von 0.995, das RMS 0.098. Die Pfade, die sich kulturübergreifend in beiden Kulturen ergaben, finden sich in Abbildung 2. Abbildung 2: Empirische Zusammenhänge zwischen elterlicher Bildung, Familienstruktur, innerfamilialer Rollenverteilung und Familienzufriedenheit: kulturübergreifend gültige Pfade

Die Starke der Pfade gibt die durchschnittliche Starke de6 Zusammenhangs in beiden Stichproben wieder.

Tabelle 4 dokumentiert alle auf dem 1%-Niveau signifikanten Pfadkoeffizienten beider Teilstichproben. Verglichen mit dem in Abbildung 1 vorgestellten Modell können die postulierten Zusammenhänge nur teilweise empirisch belegt werden. Elterliche Bildung kovariiert in beiden Teilstichproben negativ mit der Haushaltsgröße, Alle anderen Zusammenhänge zwischen Bildung und Familienstruktur bzw. Rollenverteilung sind kulturspezifischer Natur. In Ostasien finden sich Ein-Eltern-Familien eher unter den weniger Gebildeten, in Deutschland ist dieser Effekt nicht signifikant. In Ostasien gibt es in gebildeten Familien weniger kindliches und mehr elterliches Rollenengagement, zudem eine stärkere Vaterzentriertheit. In Deutschland findet sich in solchen Familien mehr kindliches Rollenengagement und geringere Mutterzentriertheit. In Ostasien findet sich zudem ein hypothesenwidriger Pfad: Elterliche Bildung kovariiert unmittelbar positiv mit Familienzufriedenheit.

ä

u

tu XI

C c

/+0.12

-0.19/-0.17

C 4

Familienzufriedenheit

-0.22/-0.09

-0.19/-0.19

a

Mutterzentriertheit

Vaterzentriertheit

Ph

/+0.25

o

elterliches Rollenengagement

J Beta-Gewichte: ** - Signifikanzniveau 0.001; * - Sigmifikanzniveau 0.05

Die Beziehung zwischen dem Alter des Berufseintritts und dem Heiratsalter war bei den Männern enger als bei den Frauen. Der Mann als "Ernährer" hatte für den Unterhalt der Familie zu sorgen; er wartete deshalb mit der Heirat in den meisten Fällen solange, bis er eine Arbeit hatte. Dies ist das typische Muster der Familiengründung. Auch haben frühere Studien gezeigt, daß in jüngeren Gruppen Beschäftigung sehr wichtig blieb, wobei allerdings keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsniveaus bestanden (Huinink & Mayer 1992). Unsere Ergebnisse bei den Männern stützten diese Schlußfolgerung. Wie sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu sehen war, hatten Bildungsstand und Eintritt in das erste Arbeitsverhältnis eine wichtigere Rolle erlangt als die Hintergrundfaktoren. Die Größe des Wohnortes und die Bildung ihrer Mutter zum Zeitpunkt der Heirat waren für die Männer ohne entscheidende Auswirkung. Für die Frauen waren die sozialen Hintergrundfaktoren wichtiger, aber wir können festhalten, daß der Bildungsgrad eine Schwächung des elterlichen Einflusses auf die jungen Menschen bewirkte. Weiterhin wenden wir uns nun der Geburt des ersten Kindes zu. Das Regressionsmodell entspricht dem des Heiratszeitpunktes. Die Ergebnisse glichen sich weitgehend. Dennoch gab es einige bemerkenswerte Unterschiede. So zeigte die Wohnortgröße sowohl für Männer als auch für Frauen einen stärkeren Effekt als im Schwangerschaftsmodell. Bewohner von Kleinstädten und ländlichen Gegenden bekamen das erste Kind tendenziell früher als die Einwohner großer Städte. Zweitens war die Bedeutung des Bildungsstands der Mütter der jungen Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Enkels weder für Frauen noch für Männer erheblich. Drittens hatte ein Zusammenleben mit den Eltern während des Abschlusses der Oberschule eine deutliche Auswirkung auf das Alter der Frau bei der Geburt des ersten Kindes. Dieses Er-

240

M. Titma & E. Saar

gebnis entsprach der Erwartung, daß ein frühes Schwinden des elterlichen Einflusses zu einer früheren Familiengründung führt - allerdings nur bei den Frauen. Unsere Resultate stützen die Folgerung aus anderen Studien: Männer und Frauen folgen einer individuellen Vorstellung von Familie und Partnerschaft, die mehr durch den gegenwärtigen Lebensweg und die allgemeine Lebensplanung bestimmt wird, als durch den sozialen Hintergrund (Huinink 1993; Huinink 1990).

12

Zeitspanne zwischen Heirat und Geburt des ersten Kindes

Die Zeitdifferenz zwischen Heirat und Geburt des ersten Kindes ist ein guter Indikator für demographisches Verhalten. Üblicherweise sind 9 Monate nötig, gedrängt durch die Aussicht auf Mußheirat und geplante Eheschließung kann es zur Verkürzung dieser Zeitspanne kommen. Neben dieser Analyse zeugt die zeitliche Verschiebung der Geburt von einem zurückhaltenden Fortpflanzungsverhalten. Dieses mag vielfältige Gründe haben. Wie wir aus Tabelle 8 ersehen, gibt es im Grunde 2 Optionen: Heirat in bereits bestehender Erwartung eines Kindes oder Empfängnis in den ersten beiden Jahren der Ehe. Der einfachere Teil der Tabelle zuerst: In den westeuropäischen Ländern hat die Anzahl der kinderlosen Ehepaare in den letzten Jahren deutlich zugenommen (Chesnais 1985; Hoffmann-Nowotny 1987; Leridon 1981). In Anbetracht des fortschreitenden Feminismus wurden in der Literatur viele Gründe dafür genannt, warum junge Paare keine Kinder haben. Natürlich ist die berufliche Karriere der Frauen ein wachsender Antrieb dafür (Gaspari 1980; Davis 1984; Keilman 1987). Ein traditionellerer Grund ist der, daß Paare schlichtweg kein Kind bekommen können. Bei Betrachtung der Werte in Tabelle 8 wird deutlich, daß in den meisten Ländern die Anzahl der Familien ohne Kinder relativ gleichbleibt und ungefähr den Anteil von 10% aller jung verheirateten Paare ausmachte. Nur die Region Jekaterinburg weist diesbezüglich einen höheren Anteil auf. Beachtet man die schlechte gynäkologische Versorgung in der Sowjetunion und den Anteil der Frauen in der Altersgruppe, die nie ein Kind hatten, so erscheint ein Zehntel eine angemessene Schätzung des Anteils unfruchtbarer Frauen in der Region Jekaterinburg. Die rationale Entscheidung, die Geburt zu verschieben, ist eher in den Baltischen Ländern anzutreffen; dies entspricht allerdings nicht dem bis jetzt weitgehend gefolgten Muster des Eheschließungsverhaltens. Die nächste Kategorie umfaßt die Paare, die erst mehr als zwei Jahre nach ihrer Heirat ein Kind bekamen. Wie zu ersehen ist, folgten Lettland und Litauen (also nicht nur Letten und Litauer allein in diesen Staaten) viel eher diesem Verhaltensmuster als andere Länder. Diese Form des Verhaltens war mehr bei den in den Baltischen Staaten lebenden Russen anzutreffen. Um das rationale Familienleben in diesen Ländern zu studieren, wäre es gut, diese Gruppe junger Familien zu beobachten. Es ist offensichtlich, daß die Einfuhrung der freien Marktwirtschaft mit den hieraus folgenden größeren Ungleichheiten zwischen den Familien und das Fehlen der aus dem Sozialismus gewohnten sozialen Sicherheit zu einem verstärkten Auftreten dieser Form familienbezogenen Verhaltens fuhrt. Das galt für alle hier miteinander verglichenen Länder. Die Daten zeigten, daß Lettland und Litauen die besten Voraussetzungen für diesen Übergang aufwiesen. Nun wenden wir uns den Verhaltensmustern zu, die in den Baltischen Staaten vor Wiedererlangung der Unabhängigkeit dominierten.

Heirat und Geburt in der Sowjetunion

241

Tabelle 8: Zeitspanne zwischen Heirat und erster Geburt bei verheirateten Personen (getrennt nach Region und Nationalität) weniger als 9 Monate

9 Monate bis 2 Jahre

mehr als 2 Jahre

ohne Kinder

durchschnittliche Dauer

Estland - Esten - Russen

54 57 41

26 24 36

10 9 13

10 10 10

0.56 0.51 0.81

Lettland - Letten - Russen

41 44 34

33 33 35

14 12 18

12 11 13

0.95 0.81 1.13

Litauen - Litauer - Russen

37 37 49

38 37 37

15 15 14

10 10 -

1.11 1.14 1.14

Weißrußland - Weißrussen - Russen

30 28 39

49 52 37

11 10 15

10 10 9

1.01 1.03 0.98

Kasachstan - Kasachen - Russen - Deutsche

39 37 40 30

44 45 41 61

9 6 10 7

9 11 9 3

0.75 0.77 0.75 0.90

Jekaterinburg

36

41

10

14

0.79

Zunächst ist festzustellen, daß das Sexualleben hier früh begann und in den letzten 20 Jahren ein recht freier Umgang in diesem Bereich geübt wurde. Daher waren die klassischen Zwangsehen, bei denen die Mädchen bereits zum Zeitpunkt der Heirat schwanger waren, nicht mehr typisch. Das gleiche Bild zeichneten die meisten Autoren für die nordeuropäischen Länder: Schwangerschaft war nicht länger ein Grund für Heirat (Hoem & Hoem 1988; Popenoe 1987). Meist wurde abgetrieben. Die Heirat wurde selten erzwungen. Daß die Schwangerschaft benutzt werden kann, um Druck auszuüben und damit eine Heirat zu erzwingen, ist eine andere Geschichte. Daneben gibt es immer auch die Möglichkeit, daß die Schwangerschaft lediglich als Anlaß zur Festlegung eines Hochzeitstermins dient, ansonsten aber die jungen Leute in dieser Hinsicht nicht weiter beeindruckt. In Rußland und Kasachstan ist die öffentliche Haltung gegenüber außerehelichen Schwangerschaften viel ablehnender. Hier fand die sexuelle Liberalisierung fast ausschließlich in den Großstädten statt. Der Zwang zu heiraten war viel größer und stellte besonders für die Jungen eine Härte dar. Wie zu erwarten war, wies Estland, wo die sexuelle Revolution am frühesten stattfand, die höchste Rate außerehelicher Schwangerschaften auf. Es folgten Lettland, das urbanisierte Rußland und Litauen. Weißrußland nahm die letzte Position ein. Bei den Esten heirateten die meisten jungen Paare, wenn die Braut schwanger war. Die Rate war extrem hoch und verdeutlicht klar, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr in Estland die Norm darstellte. Das zeigt auch, daß die öffentliche Meinung hier die Schwangerschaft vor der Heirat als normal betrachtete. Unter allen verfügbaren Daten ragten die Raten in Estland heraus und erinnerten an die westeuropäischen Länder, wo die sexuelle Revolution zur Ausbreitung der außerehelichen Lebensgemeinschaft führte (Boh 1989; Kiernan 1988; Prinz 1994). Tatsächlich hatte Schweden nach Meinung von Experten die höchste Rate nichtehelicher Paare von allen Industrienationen. Und die große Mehrheit der Schweden lebte vor der Ehe ohne Trauschein zusammen (Hoem & Rennermalm 1985; Popenoe 1987). In der Bundesrepublik Deutschland vervierfachte sich die Zahl der nichtverheirateten Paare in dem Zeitraum von 1972-1982 annähernd (Zimmermann 1985). Für die DDR schätzten die Autoren, daß 25% der Frauen im Älter von 18-35 Jahren mit ihren Partnern

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M. Titma & E. Saar

zusammenlebten, ohne vor dem Gesetz verheiratet zu sein. Zudem waren 40% der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes unverheiratet (Boh 1989; Huinink 1993). Da in Estland die Möglichkeiten zur Bildung einer außerehelichen Lebensgemeinschaft äußerst schlecht waren (es war schwierig für junge Paare, eine eigene Wohnung zu ergattern), handelte es sich hier nicht um dasselbe Phänomen wie in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern. Es hatte mehr mit freiheitlichem Sexualleben zu tun. Tabelle 9: Regressionsmodell mit dem Kriterium der Zeitspanne zwischen Heirat und erster Geburt Region - Estland - Lettland - Litauen - Kasachstan - Jekaterinburg

Beta Gewicht -.09** -.006 .03 -.05** -.04*

Geschlecht

.08**

Bildungsgrad (Untersuchungszeitpunkt) - Berufsschule - Sekundarstufe - Spezialisierte Sekundarstufe

-.06** -.04* -.04**

bei Eltern lebend

-.03**

in der Region geboren

-.03*

Wohnort - Kleinstadt -Dorf

-.05** -.09**

R2

.04

Anmerkungen: ** - Signifikanzniveau 0.001; * - Signifikanzniveau 0.05

Die Letten folgten den Esten mit 44%, was sich aus dem aus Deutschland kommenden Einfluß der Lutherischen Kirche auf beide Länder erklärt. Verglichen damit wiesen die katholischen Litauer mit 37% eine hohe Rate vorehelicher Schwangerschaften auf. Daraus wird ersichtlich, daß die sexuelle Revolution tatsächlich den Einfluß der Religion verringerte. Die industrialisierten Gebiete Rußlands rangieren immer noch hinter den Balten, und das ländlichere Weißrußland folgte mit 30%. Für Rußland und Weißrußland stellte diese Art des Reproduktionsverhaltens auch etwas Neues dar, was mit dem sehr restriktiven russisch-orthodoxen Einfluß in der Vergangenheit zu tun hat. Zu den Faktoren, die die Dauer von der Heirat bis zur Geburt des ersten Kindes beeinflussen (Tabelle 9), ist zu sagen: Der Einfluß der unabhängigen Faktoren glich weitgehend dem beim Heiratsalter und dem Alter bei der ersten Geburt, wenngleich er etwas schwächer als dort ausfiel. Verglichen mit Weißrußland verfügte Estland über ein deutlich abweichendes Muster bei der Dauer von der Heirat bis zur ersten Geburt. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß das in Estland entstandene Muster Modell für die Entwicklung in den umliegenden Ländern stand. Aber die stark veränderten Lebensumstände können Heirats- und Fortpflanzungsverhalten in den beobachteten Staaten verändern und zur Herausbildung anderer Muster führen. Es ist zu erwarten, daß die Berufsausbildung und die spezialisierte Sekundarbildung, anders als die allgemeine höhere Schulbildung, eine Auswirkung auf die Zeitspanne haben, die zwischen Eheschließung und Fortpflanzung liegt. Für die Mehrheit der Altersgruppe, die die

Heirat und Geburt in der Sowjetunion

243

allgemeinen Oberschulen und die Universitäten abschließen, ergeben sich keinerlei Unterschiede. Das bedeutet, daß der Großteil der gebildeten jungen Leute stark ähnelnde Verhaltensmuster aufwiesen, die von denen mit niedrigerem Bildungsstand abwichen. Bei den letzteren war der Zeitraum zwischen Heiratsalter und der Geburt des ersten Kindes kürzer. Entsprechendes galt für die Bewohner ländlicher Gebiete und von Kleinstädten, bei denen eine geringere zeitliche Spanne festzustellen war als bei den in Großstädten lebenden Befragten. Dieses Ergebnis paßt zu der hergebrachten Auffassung, nach der ein unerwartetes Kind ein durch niedrige Bildung und eine unterentwickelte kulturelle Umwelt verursachtes Ereignis darstellt. Wie auch immer man zu dieser Auffassung stehen mag, sie traf in jedem Fall nur für die Länder zu, die die sexuelle Revolution bereits hinter sich haben: Estland, Lettland und Litauen. Der Vergleich verschiedener Regionen zeigt, daß das Muster des zeitlichen Abstands der beiden Ereignisse dem schwedischen Modell näher ist und überwiegend in den kulturell stärker entwickelten Teilen der ehemaligen Sowjetunion anzutreffen ist. Es bleibt nur noch ein traditioneller Faktor zu entdecken, der deutlich die Dauer von der Heirat bis zur Geburt des ersten Kindes beeinflußt: Bei jungen Menschen, die bei ihren Eltern leben, traten weniger Fälle auf, in denen die Schwangerschaft bereits vor der Heirat eintrat.

13

Schlußfolgerungen

Die Daten aus der früheren Sowjetunion zeigen deutlich, daß die verschiedenen Regionen dieses Landes extrem unterschiedliche sozio-demographische Verhältnisse aufweisen, und sich die Familiengründung und nicht nur die kulturellen Gewohnheiten grundsätzlich unterscheiden. Der europäische Teil, und hier besonders die großen Urbanen Zentren sowie die Baltischen Länder, waren nahe an den sozio-demographischen Trends Westeuropas. Zur selben Zeit hoben sich die russische Provinz und besonders Zentralasien stark von dem demographisch fortgeschrittenen Teil des Landes ab. Diese allgemeinen demographischen Muster veränderten sich mit der Verschlechterung der Lebensumstände radikal. Die Sterberate überstieg die der Geburten drastisch, da letztere unter dem Eindruck der materiellen Gegebenheiten absackte. Auch wissen wir, daß die Not nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einem katastrophalen Abfall der Fruchtbarkeit führte. Dies ließ sich anhand unserer Daten nachvollziehen, wenn man sich die Altersgruppe unter 30 betrachtete, die in der Zeit vor dem Elend ein normales Fertilitätsmuster aufwies, was radikal das Fortpflanzungsverhalten veränderte. Wir haben uns auf der Basis von Langzeitdaten Familiengründung und Fertilität im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion angesehen, mit besonderem Blick auf die Baltischen Staaten, wo die Familienpolitik relativ demokratisch war, und der Staat sich in Familienangelegenheiten nur wenig einmischte. Die wesentlichen Schlußfolgerungen aus der in diesem Papier dargestellten Untersuchung lauten wie folgt: - Erstens ist festzuhalten, daß, anders als in den meisten westlichen Nationen, wo eine wach sende Zahl junger Leute für alternative Formen des Zusammenlebens optiert, im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion die gesetzliche Ehe gewöhnlich als die einzig legitime und angemessene Form der Partnerschaft angesehen wird. Uneheliche Lebensgemeinschaften sind einzig unter Esten und Letten verbreitet. Diese Nationalitäten sind dabei, das skandinavische Muster eines hohen Grades nichtehelicher Fertilität zu übernehmen. In anderen Nationen ist Empfängnis bei nichtverheirateten Frauen eine seltene Erscheinung. Entsprechend der von Prinz (1994) aufgestellten Hypothese sind Zusammenleben und Geburt eines Kindes außer-

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M. Titma & E. Saar

halb der Ehe ein nützlicher Indikator für den gesellschaftlichen Fortschritt im Übergang der Partnerschaftsformen. In diesem Übergang hat er vier Stufen unterschieden: In der ersten Stufe erscheint das außereheliche Zusammenleben als abweichendes Phänomen, das nur von einer kleinen Gruppe in der Bevölkerung praktiziert wird. In der zweiten Stufe wird diese Form der Partnerschaft gesellschaftlich akzeptiert als Vorstufe zur Ehe. In der dritten Stufe wird sie als Alternative zur Ehe anerkannt. In der vierten Stufe schließlich wird sie zu einem neuen Typ Ehe erklärt {Prinz 1994). Wir meinen, daß Estland nach dieser Unterteilung nun die dritte Phase erreicht hat. Lettland befindet sich in der zweiten, andere Regionen der vormaligen UdSSR hingegen in der ersten Phase. - Zweitens sind die Vorhersagen bezüglich des Heiratsalters sehr viel einheitlicher als das tatsächliche Alter bei der Eheschließung. Es gilt immer noch das Stereotyp von der im Verhältnis zum Mann jüngeren Ehefrau. Damit korrespondierend wird für Frauen auch ein niedrigeres Heiratsalter erwartet. Diese Verallgemeinerung trifft jedoch nur auf die frühe Heirat zu, nicht auf die späte. Generell wird später geheiratet als geplant, und wirklich schlechte Vorhersagen mit einer Abweichung von fünf Jahren, treten doppelt so häufig bei irrtümlich früher Erwartung der Ehe auf. Langzeitvorhersagen sind weniger genau. Der gesunde Menschenverstand legt die Vermutung nahe, daß junge Leute, die früh heiraten, ohne Vorausschau handeln, während die, die planen, später zu heiraten, genauer sein müßten. Die Daten zeigen, daß der Plan, erst in einem späteren Alter zu heiraten, rational ist. In der Realität ist die zeitliche Verschiebung jedoch noch viel größer als in der Vorhersage. Zur gleichen Zeit funktioniert die Orientierung auf eine frühe Ehe in der gesamten Altersgruppe erstaunlich genau. - Drittens ist die Geburt des ersten Kindes ein sehr viel schlechter kontrollierbares und vorhersagbares Ereignis als die Heirat. Je länger der zu überschauende Zeitraum, desto weniger zutreffend sind die Voraussagen. Überraschenderweise ist die frühe Geburt des ersten Kindes ein erwartetes Ereignis und beruht nicht, wie es einem weitverbreiteten Verständnis entspricht, auf irrationalem Verhalten. Die Unterschiede bei Betrachtung der Geschlechter sind durchgängig, wobei Frauen die besseren Propheten sind und auch bei denen in der Mehrzahl, die die Geburt früher erwarten, als sie tatsächlich eintritt. Die Männer hingegen sind bei den Spätplanern überrepräsentiert. - Viertens variiert das durchschnittliche Alter bei Heirat und erster Geburt von Land zu Land deutlich. Russen, sowohl in Rußland, als auch in anderen Ländern, heiraten und haben das erste Kind früher als Angehörige anderer Nationalitäten. Im Baltikum ist das Muster für beide Ereignisse gleich: Esten und Letten sind jünger als die Litauer. Deshalb haben die Russen an jedem Ort außerhalb ihrer Heimat weniger Kinder als die Aufenthaltsnation. Ein geringeres Alter bei der Geburt des ersten Kindes und weniger Zweitgeburten bis zum Alter von 28 Jahren zeigen ein widersprüchliches Fortpflanzungsverhalten. Gleichzeitig bedeutet die geringere Anzahl zweiter Kinder bis zum Alter von 18 Jahren im Verhältnis zu den Heimatnationen eine überraschend restriktive Einstellung der Fortpflanzung gegenüber. Aus diesem widersprüchlichen Reproduktionsverhalten ergeben sich zwei mögliche Hypothesen: (1) Es könnte aus Migration und Urbanisierung resultieren oder (2) es könnte auf einem, unter den Russen auftretenden kulturellen Phänomen beruhen.

Heirat und Geburt in der Sowjetunion

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- Fünftens zeigt die die Heirat beschreibende Kurve für alle untersuchten Länder weitgehend gleiche Tendenzen. Bei den Frauen liegt die Spitze der Heiratsaktivitäten bei den Lebensjahren 20 oder 21. In allen Ländern nimmt ab diesem Alter diese Aktivität stetig ab. Die Männer erreichen den Höchstwert 1-2 Jahre später, wobei dort dann eine stärkere Häufung auftritt, als bei den Frauen. Diese Konzentration liegt beim 22. Lebensjahr und hängt mit dem Abschluß der Universität und der Beendigung des Militärdienstes zusammen. Die erwähnte stärkere Häufung fuhrt dann folgerichtig auch zu einem schnelleren Abfall der Aktivitäten. In Abweichung zu den meisten westlichen Nationen ist das Aufschieben der Ehe in den Baltischen Ländern und anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion nicht weit verbreitet. - Sechstens variiert der jeweilige Höhepunkt der Fortpflanzungsaktivität zwischen den einzelnen Ländern merklich stärker als die Heiratsaktivität. Selbst das ungenaue Bild, das sich aus den für die Frauen dargestellten Kurven ergibt, beweist, daß Heirats- und Reproduktionsaktivität zwei streng getrennte Erscheinungen darstellen. Für Frauen liegt der Spitzenwert für die Fortpflanzungsaktivität im Alter von 21-22 Jahren, wobei dieser allerdings weniger stark heraussticht, als bei der Heirat. Sehen wir uns die Kurve der Männer an, ergibt sich daraus, daß, wie bei den Frauen, das Bild in den einzelnen Ländern individuell gestaltet ist, jedoch keine Übereinstimmungen zwischen Frauen und Männern innerhalb desselben Landes bestehen. Daraus folgt, daß das Fortpflanzungsverhalten viel individueller ist als die Heirat. Unsere Daten geben keinen Hinweis auf eine Verschiebung der Kindesempfangnis für verschiedene Regionen der ehemaligen Sowjetunion. - Siebentens fanden wir heraus, daß das Heiratsalter und das Alter bei der Geburt des ersten Kindes durch weitgehend die gleichen unabhängigen Variablen beeinflußt werden. Ein wichtiger Faktor ist die Nationalität, wobei überall die Bedeutung dieses Faktors bei den Frauen größer ist. Das ist insoweit nicht überraschend, als das Verhalten der Frauen in mehr egalitären Gesellschaften eher Träger nationaler kultureller Abweichungen demographischer Verhaltensweisen ist als das der Männer. Das Muster für die Familiengründung ist bei Frauen in einem hohen Maß abhängig von der Zugänglichkeit zur Bildung für Frauen und deren Bildungsstand. Bei den Männern ist ihre Stellung und Karriere in der beruflichen Hierarchie entscheidend. Wir meinen, daß nicht so sehr der Bildungsstand an sich, als vielmehr die Abhängigkeit vom Bildungssystem verantwortlich für den für Heirat und erste Geburt der Frauen gewählten Zeitpunkt ist. Sowohl für Frauen als auch für Männer spielen das Bildungsniveau und der Eintritt in das erste Arbeitsverhältnis inzwischen eine wichtigere Rolle als die sozialen Hintergrundfaktoren. - Achtens weist Estland, wo die sexuelle Revolution am frühesten stattgefunden hat, die höchste Rate von Schwangerschaften vor der Ehe auf. Es folgt zunächst Lettland. Dann kommen das urbanisierte Rußland und Litauen, die Weißrußland auf den letzten Platz verweisen. Die sexuelle Revolution bricht den Einfluß der Religion, besonders in Litauen (Katholisch) und in Rußland und Weißrußland (Orthodox). Die hohe Rate vorehelicher Schwangerschaft zeigt an, daß Sexualität vor der Ehe in Estland die Norm ist, und die dort herrschende öffentliche Meinung Schwangerschaft vor der Heirat als normal akzeptiert. In den westeuropäischen Ländern hat die sexuelle Revolution das außereheliche Zusammenleben zu einem weitverbreiteten Phänomen gemacht. Wir glauben

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M. Titma & E. Saar

jedoch, daß es sich in Estland nicht um das gleiche Phänomen handelt, da dort die Möglichkeiten für eine Beziehung ohne Trauschein nur sehr dürftig sind (sehr schwer, getrennten Wohnraum zu finden). In Estland geht es wohl mehr um ein freies Sexualleben. Unserer Ansicht nach könnten die in Estland entwickelten Muster ein Zukunftsmodell für die anderen Länder darstellen. Allerdings könnten die radikal veränderten Lebensumstände sowohl Heirats- als auch Reproduktionsverhalten in den untersuchten Ländern verändern und zur Herausbildung anderer Muster fuhren.

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Aus dem Englischen übertragen von Ute Schönpflug.

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Arbeitserfahrungen, Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien Ute Schönpflug und Grazyna Wieczorkowska

Inhalt Einleitung 1 1.1 Dimensionen der Arbeitserfahrungen der Eltern 1.2 Arbeitserfahrungen von Vater und Mutter 2 Arbeitsbedingungen und Familienverhältnisse in Polen und Deutschland vor und nach der Wende 2.1 Arbeit und Familie vor der Wende: Soziodemographische Daten 2.2 Arbeit und Familie nach der Wende Ein Modell des Einflusses von Arbeitserfahrungen der Eltern auf ihren 3 Erziehungsstil und das Familienklima 3.1 Berufliche Komplexität und Selbstbestimmung als Merkmal der Arbeitserfahrungen 3.2 Selbstbestimmung, egalitärer Erziehungsstil und Familienklima: Ein längsschnittliches Strukturmodell 4 Auswirkungen der elterlichen Arbeitserfahrungen auf die Kinder 4.1 Fragestellungen 4.2 Pfadmodelle 5 Schlußbemerkung 6 Literatur 7 Anhang

1

Einleitung

Der Erwachsene in westlich-industriellen Gesellschaften verbringt einen bedeutsamen Anteil seiner Wachzeit mit Berufsarbeit. Die Arbeitszeiten sind im allgemeinen geregelt und deshalb berechenbar. Die Zeit für das Familienleben wird aus der Arbeitswelt ausgeklammert, ist weniger geregelt und kalkulierbar, aber ähnlich extensiv. Dies gilt für Männer und Frauen der gegenwärtigen mittleren und älteren (Eltern-)Generation nicht gleichermaßen; immer noch neigen Frauen mehr dazu, Berufsleben für Familienleben aufzugeben bzw. geben dem Druck der sozialen Umgebung in diesem Punkte nach. Deshalb ist anzunehmen, daß besonders Männer Einflüssen ihrer Arbeitserfahrungen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung und auf ihr Familienleben ausgesetzt sind; ihre Alltagsbewältigung wird davon mitbestimmt. Sie sind jedoch in der Forschung der letzten zehn Jahre und in einschlägigen theoretischen Ansätzen nicht in der vielleicht notwendigen Breite thematisiert worden (vgl. Hoff, Lappe & Lempert 1985). Die Grundthese ist einleuchtend: Es gibt Arbeitsbedingungen, die Wohlbefinden und persönliche Entwicklung fordern, andere Formen der Arbeit beinträchtigen sie. Wohlbefinden und persönliche Entwicklung fordernde Arbeiten sind solche, die Entscheidungs- und Gestaltungsbedingungen und geistige Anforderungen stellen, also inhaltlich vielfaltig oder komplex

Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

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sind. Die gefundenen Effekte sind jedoch durchschnittlich im Ausmaß geringfügig; es ist deshalb zu vermuten, daß die angenommenen Übertragungseffekte von Situations- oder Kontextfaktoren und Personmerkmalen abhängen. Das ist eine interaktionistische Sichtweise, die zu fordern leicht, in empirische Forschung umzusetzen aber sehr aufwendig ist ( H o f f , Lempert & Lappe 1991; Volpert 1979). Die Suche muß also einsetzen bei Faktoren, die die erwarteten linearen Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Arbeit und Dimensionen der Persönlichkeit moderieren oder vermitteln können. Das können Merkmale der arbeitenden Person, ihre weiteren Lebensumstände, aber auch verschiedene Aspekte der Arbeit selbst sein. Es sind durchaus Personengruppen denkbar, die sich wohler fühlen bei weniger komplexen Arbeitsaufgaben oder die geistig eher angeregt sind in Tätigkeiten außerhalb des Arbeitsbereiches, z.B. in der Familie oder durch Hobbys. Im folgenden wird ein theoretischer Ansatz von Kohn und Mitarbeitern vorgestellt, der eine differenzierte Analyse der Arbeitserfahrungen geleistet hat. Seine nachfolgenden Forschungsbemühungen suchten dann die Auswirkungen der Dimensionen der Arbeitserfahrungen auf die Persönlichkeit und Erziehungswerte zu erkunden. Kohn versuchte, den Ansatz breit zu stützen. Unter anderem gewann er auch durch Slomczynski (vgl. Slomczynski & Kohn 1988) Zugang zu polnischen Berufstätigen, um einen Kulturvergleich durchzuführen. Hieraus ergaben sich bemerkenswerte Aufschlüsse über das Verhältnis von Arbeitserfahrungen, Persönlichkeit und Sozialisationsbemühungen der Arbeitenden in der Familie. 1.1 Dimensionen der Arbeitserfahrungen der Eltern Arbeitserfahrungen lassen sich grob gliedern nach dem Gegenstand der Arbeit: Arbeit kann den Umgang mit Menschen oder mit Gegenständen erfordern. Unabhängig davon stellten sich bereits zu Anfang in Kohns breit angelegten Untersuchungen folgende zwei Dimensionen als grundlegend für die Einschätzung der Arbeitserfahrungen heraus: Komplexität und Kontrolle. Die Erfahrung komplexer Arbeit beruht auf der Wahrnehmung einer Tätigkeit als (a) fordernd, ständig neu dazuzulernen; (b) Koordination von mehrfachen Teilarbeitsvorgängen und (c) Kreativität. Die Erfahrung von Kontrolle bei der Arbeit oder nach Kohn positiv formuliert: Die Erfahrung von Kontrollfreiheit oder Selbstbestimmung stellt sich vor allem dann ein, wenn sich der Arbeitende seine Arbeitsvorgänge und die damit verbundene Koordination selbst organisieren kann. Eigeninitiative, Überlegungen und unabhängiges Urteil sind grundlegende Bedingungen für die Selbstbestimmung bei der Arbeit. Die inhaltliche Komplexität macht den eigentlichen Kern der beruflichen Tätigkeit aus. Die Strenge der Überwachung durch andere bei der Arbeit bildet eine einschränkende Bedingung. Hochgradig routinisierte Arbeitsplätze mit repetitiven, wenig komplexen Tätigkeiten, beschränken die Möglichkeit zur Eigeninitiative und Eigenentscheidung, während Berufe mit einer Vielzahl unvorhersehbarer Aufgaben Selbstbestimmung erleichtern oder sogar erfordern können. Aus diesen Ausführungen ist zu entnehmen, daß Komplexität und Kontrollfreiheit der Arbeit nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Dieses war das erste wichtige Ergebnis Kohns zur Problemstellung (vgl. Kohn 1969). Eine konfirmatorische Faktorenanalyse von quantitativen Beurteilungen entsprechender Aussagen in einem Fragebogen (vgl. Anhang) ergab dann auch zwei Konstrukte Komplexität und Kontrolle (positiv als Kontrollfreiheit definiert), die positiv miteinander korrelierten (r = .51) und zu einem übergeordneten Konstrukt Berufliche Selbstbestimmung zusammengefaßt werden konnten.

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U. Schönpflug & G. Wieczorkowska

Berufliche Selbstbestimmung fördert eine positive Selbsteinschätzung, eine offene und flexible Orientierung gegenüber anderen und effektives geistiges Arbeiten, insbesondere die kognitive Flexibilität (vgl. Kohn et al. 1983; Miller, Slomczynski & Kohn 1982). Beruflich^ Herausforderungen fördern also die Entwicklung positiver Persönlichkeitsmerkmale. Entsprechend lassen mangelnde berufliche Anforderungen die vorhandenen Persönlichkeitsdispositionen verkümmern bzw. sie geben keinen Anstoß zu deren Entwicklung. Die berichteten Ergebnisse beruhen in der Hauptsache auf Untersuchungen mit US-amerikanischen Männern. Miller et al. (1979) und Spade (1983) konnten jedoch zeigen, daß Arbeitserfahrungen von Frauen in den Vereinigten Staaten sich ähnlich verhielten. Ebenso ergab sich die gleiche Struktur der Arbeitserfahrungen für Männer aus anderen Industriestaaten (vgl. Kohn & Schooler 1983). Länderübergreifende Belege wurden insbesondere in Polen gesammelt (Slomczynski, Miller & Kohn 1981; Miller et al. 1982). In Japan arbeiteten Naoi & Schooler (1985) und Kohn, Naoi, Schoenbach et al. (1990) die Arbeitserfahrungen auf und konnten die amerikanischen Befunde grundlegend bestätigen. Insbesondere ergaben sich wiederum die Beziehungen von sozialer Schichtzugehörigkeit zu Arbeitsbedingungen einerseits und Arbeitserfahrungen zu Persönlichkeitsentwicklung andererseits. Dieses Beziehungsgefuge findet sich in kapitalistischen wie auch in sozialistischen Gesellschaftssystemen wieder. In Polen wie auch in den Vereinigten Staaten schätzen insbesondere Arbeitende aus höheren sozialen Schichten berufliche Selbstbestimmung; sie weisen gleichzeitig soziale Orientierungen auf, die als nicht-autoritär, offen, verantwortungsvoll und vertrauensvoll zu kennzeichnen sind {Slomczynski, Miller & Kohn 1981; Kohn, Naoi, Schoenbach et al. 1990) und die mit effektivem intellektuellem Funktionieren (Slomczynski & Kohn 1988) einhergehen. Personen mit geringerem Berufsstatus erfahren mehr Kontrolle an ihrer Arbeitsstelle, üben eher Routinetätigkeiten aus und ihre kognitive Flexibilität wird wenig gefordert und gefördert. Weiterhin konnte sowohl in Polen als auch in den Vereinigten Staaten eine wechselseitige Beziehung zwischen Sozialschicht und beruflicher Selbstbestimmung gefunden werden {Slomczynski et al. 1981). Untersuchungen in Japan lieferten übereinstimmende Befunde trotz der scharfen Trennung Zwischen primärem und sekundärem Wirtschaftssektor in Japan im Vergleich zu den beiden westlichen Ländern. Der Einfluß der Arbeitserfahrungen auf Werthaltungen, die die Erziehung der Kinder betreffen, konnten ebenfalls ermittelt werden {Luster, Rhoades & Haas 1989; Slomczynski, Miller & Kohn 1982; Kohn, Naoi, Schoenbach et al. 1990). Berufliche Selbstbestimmung fuhrt zur positiven Bewertung der Selbständigkeit bei den eigenen Kindern. Fehlt die Erfahrung beruflicher Selbstbestimmung schätzen Erwachsene eher Konformität der Kinder im Verhältnis zu ihnen. Entsprechend den Erziehungszielen waren auch die Erziehungsstile und das Erziehungshandeln. Autoritär war der Erziehungsstil bei den auf kindliche Konformität bedachten Erwachsenen, autoritativ (zugleich fordernd und unterstützend) bei den auf Selbständigkeit bei ihren Kindern wertlegenden Eltern. Die Beeinträchtigungen durch Berufstätigkeit mit hoher Kontrolle, Routinisierung und mangelnden Anforderungen an die kognitive Kontrolle sind stärker als bei komplexer und selbstbestimmter Arbeit und werden an die Kinder weitergegeben in Form von mangelnder Anregung im häuslichen Milieu, weniger aufmerksame und eingehende Betreuung der Kinder. Schooler (1987) faßt zusammen, daß komplexe Anforderungen in der Umwelt des Kindes dessen kognitive Kompetenz bis ins Erwachsenenalter erhöhen. In einer Erweiterung des Ansatzes der Arbeitserfahrungen Erwachsener untersuchten Miller, Kohn & Schooler (1985) die Arbeit der Schüler in zwei Schultypen: höhere Schule (high school) und Grundstufe des Universitätsstudiums (college). Auch hier bestätigte sich die Grundhypothese: je komplexer die Schulanforderungen desto höher war die kognitive Kom-

Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

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petenz der Schüler; dies konnte auch dann bestätigt werden, wenn die Kompetenz und der sozio-ökonomische Status der Eltern auspartialisiert wurde. Gecas (1979) argumentiert, daß die Komplexität der Arbeitsanforderungen der Eltern insofern eine Ressource für die Kinder darstellt, als sie ein Erziehungsklima mit hohem Anspruchsniveau bezüglich Selbstbestimmung und intellektueller Flexibilität erzeugt. Die intergenerationale Transmission dieser Qualitäten trägt zu Aktivitäten der Kinder bei, sich sozio-ökonomisch gemäß den übernommenen Ansprüchen etablieren zu können. Die Arbeitssphäre der Eltern wird somit für Kinder bereits in der Familie bedeutsam. Sie werden damit schon antizipatorisch auf ihre spätere berufliche Tätigkeit sozialisiert. Dieser Aspekt wird von Kohn und seinen Kooperationspartnern immer wieder erwähnt, aber nicht konsequent in Forschung umgesetzt. Es soll Inhalt dieses Kapitels sein, die Beziehungen zwischen Arbeitserfahrungen der Eltern, ihrem Erziehungsstil und dem Familienklima kulturvergleichend zu erhellen. Weiterhin sollen die Auswirkungen der Arbeitserfahrungen auf die Persönlichkeit des Kindes geprüft werden. Mit den zur Verfügung stehenden Daten wird damit der Kreis der Fragestellungen erweitert um die Auswirkungen von Arbeitserfahrungen auf die Familie. Der Kulturvergleich wird vertieft um einen Vergleich polnischer und deutscher Familien kurz vor der politischen Wende im Jahre 1989 und durch relevante Angaben kurz nach der Wende. 1.2 Arbeitserfahrungen von Vater und Mutter Bisher wurden beide Elternteile als Einheit betrachtet, was im allgemeinen auch angemessen ist. Kinder differenzieren wenig zwischen Vater und Mutter in wichtigen Lebensbereichen, wenn sie gefragt werden (vgl. Müssen, Conger & Kagan 1976). Auf der anderen Seite können schon unterschiedliche Einflüsse der Elternteile angenommen werden, wenn die im allgemeinen intensivere frühkindliche Betreuung der Kinder durch die Mutter in Betracht gezogen wird. Die Bindung an die Mutter in dieser Zeit sollte sich auf deren Einfluß auf das Kind in späteren Jahren intensiver auswirken. Ist die Mutter aber in dieser Zeit tagsüber abwesend, so könnte man mit geringerer Bindung des Kindes an die Mutter rechnen. Schwächere Bindung des Kindes geht einher mit größerer emotionaler Unsicherheit und Problemverhalten. Es gibt auch Hinweise darauf, daß bindungsunsichere Kinder Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Kompetenz aufweisen (Tizard & Rees 1975). Parcel & Menaghan (1994) untersuchten verbale Flüssigkeit von Schulkindern in Abhängigkeit von Arbeitserfahrungen der Eltern und weiteren Variablen. Die Rolle der Arbeitserfahrungen erwies sich als relativ gering verglichen mit dem Anregungsgehalt der häuslichen Umgebung, der sozio-ökonomischen Herkunft der Mutter, der elterlichen Bildung und der kognitiven Kompetenz. Tragen beide Eltern zu den Familienressourcen bei, kommt dem väterlichen Beitrag meist ein höheres Gewicht zu, aber beide Elternteile nehmen Einfluß auf das Kind. Der Einfluß der Arbeitserfahrungen (Komplexitätsgrad und Kontrollfreiheit) wirkte sich ähnlich auf die Persönlichkeit und sozialen Einstellungen von Männern und Frauen aus (vgl. Miller, Schooler, Kohn & Miller 1979). Die indirekten Auswirkungen von Arbeitserfahrungen auf die Eltern-Kind-Interaktionen können jedoch variieren. Da die Mutter, auch wenn sie berufstätig ist, sich mehr mit kleineren Kindern beschäftigt, dürfte der Einfluß ihrer Arbeitserfahrungen größer sein als derjenigen des Vaters. Die Arbeitserfahrungen der Mütter und ihre Werthaltungen bestimmen wahrscheinlich auch mehr die Qualität der Familieninteraktionen. Die Wertorientierungen der Mütter wirkten sich in einer Untersuchungen von Simons, Whitbeck, Conger & Melby (1990) auf die Art und Weise, wie die Väter mit ihren Kindern im Schulalter

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U. Schönpflug & G. Wieczorkowska

umgingen, aus. Auf der anderen Seite beeinflußten die Werthaltungen des Vaters die MutterKind-Interaktionen wenig. Für Kohn und seine Mitarbeiter bedingten die Arbeitserfahrungen und der Sozialstatus Persönlichkeit und Einstellungen beider Eltern urtd ebenso bestimmten beide Eltern in unterschiedlichem Ausmaß die Werthaltungen ihrer Kinder {Kohn, Slomczynski & Schoenbach 1986). Vor allem scheint der Einfluß von Vater oder Mutter je nach Entwicklungsstand des Kindes zu variieren: Bei kleinen Kindern überwiegt der Einfluß der Mutter, im Schulalter sind beide Eltern gleich wichtig (Rossi 1985). Die mütterliche Arbeitskomplexität bestimmt den Anregungsgehalt der häuslichen Umgebung für die Kinder {Parcel & Menaghan 1994). Die bisherigen Forschungsergebnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß sie zeigen, wie Arbeitserfahrungen, insbesondere die Komplexität der Arbeit und die Selbstbestimmung während der Arbeit, einen unmittelbaren Einfluß auf die Persönlichkeit und die kognitive Kompetenz der Eltern und mittelbar auf die Kinder ausüben können.

2

Arbeitsbedingungen und Familienverhältnisse in Polen und Deutschland vor und nach der Wende

2.1 Arbeit und Familie vor der Wende: Soziodemographische Daten Im Jahre 1985 begann eine Längsschnittuntersuchung mit Berliner und Warschauer Jugendlichen und ihren Eltern {Silbereisen & Eyferth 1985; Fraczek 1987). In beiden Stichproben wurde auf Repräsentativität geachtet. Die Berliner Stichprobe umfaßte 1.742, die Warschauer 1.200 Jugendliche, jeweils 60-75% der Eltern nahmen teil. Es wurde besonders darauf Wert gelegt, daß Schüler aus allen Schultypen im repräsentativen Anteil vertreten waren. Auf diesem Weg wurden auch Eltern aus allen sozio-ökonomischen Schichten rekrutiert, allerdings nicht aus allen Altersgruppen, da wenigstens eines ihrer Kinder im Oberschulalter (Sekundarstufe I und II) war. In Berlin lebten im Durchschnitt beide Eltern zu 81% bei ihren Familien im Haushalt. Alleinerziehende Mütter gab es 15.5%; alleinerziehende Väter 2%, 1.4% Jugendliche lebten mit anderen Pflegepersonen zusammen. Die deutsche Durchschnittsfamilie hat 2 Kinder; betrachtet man die Familien mit mindestens einem Kind, so ergibt sich folgende Verteilung: 31.1% haben 1 Kind, 45.6% zwei Kinder, 14.7% 3 Kinder, 4.4% vier Kinder, 4% haben 5 und mehr Kinder. Tabelle 1: Berufliche Stellung der Berliner erwerbstätigen Mütter und Väter im Vergleich zu Warschauer Müttern und Vätern (vor der Wende, in%) Berufliche Stellung HausmannAfrau Arbeiter/in Angestellte^) Beamte(r) selbständig

Berlin Mütter n=674 30.0 13.9 47.7 4.5 3.9

Warschau Mütter Väter n=631 n=601

Väter n=795 0.9 26.6 43.4 19.4 9.6

100.0

12.4 20.9 54.1 9.0' 3.6 |

0.3 43.5 46.1 6.9 1 3.2 100.0

' Da es in Polen den Beamtenstatus nicht gibt, sind stattdessen filr die Warschauer Mütter und Väter die Prozentzahlen der in Heimarbeit Tätigen angegeben.

Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

253

Von den Warschauer Eltern lebten im Durchschnitt 75% der Eltern gemeinsam im Haushalt; alleinerziehende Mütter gab es 16.9%, alleinerziehende Väter 4%. Die polnische Durchschnittsfamilie hat etwas mehr als 2 Kinder; 22.4% haben 1 Kind, 37.9% 2 Kinder, 22.9% drei Kinder, 8.3% 4 Kinder und 5 Kinder und mehr haben 8.3%. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die berufliche Stellung der Berliner Mütter und Väter im Vergleich zu den Warschauer Eltern. Alle Angaben entstammen der ersten Längsschnittwelle aus dem Jahre 1985. In der Berliner Stichprobe waren die meisten Eltern Angestellte, Mütter und Väter zu ähnlichen Anteilen. Die Väter waren jedoch zu höheren Anteilen Arbeiter und Beamte im Vergleich zu den deutschen Frauen. Diese hatten wiederum einen hohen Anteil an den Hausfrauen. Hausmänner gibt es in dieser Elterngeneration nur wenige in Berlin. Erwerbstätige Mütter gab es in der Großstadt Berlin (West) 63.4%, während in Warschau 84% der Mütter erwerbstätig waren. Die Berliner Väter wiesen mit 95.4% einen hohen arbeitenden Anteil auf, die Warschauer Väter wiesen einen noch höheren Prozentsatz auf: 98 %. Dies entspricht der Politik sozialistischer Staaten vor der Wende, möglichst geringe Arbeitslosenquoten aufzuweisen. Die Schulbildung der Mütter und Väter in beiden Stichproben war sehr unterschiedlich: In Berlin hatten sowohl Mütter als auch Väter zum größten Teil den Hauptschulabschluß (44.2% bzw. 48.0%), die mittlere Reife hatten in Berlin 38.2% der Mütter und 27.0% der Väter. Das Abitur hatten nur 10.1% der Mütter und 17.9% der Väter. Nur 8.6% der Mütter und 8.1% der Väter hatten ein Studium abgeschlossen. In Warschau sind aufgrund des unterschiedlichen Schulsystems und der staatlichen Bildungsziele anscheinend höhere Bildungsniveaus zu verzeichnen: Den Hauptschulabschluß hatten 11.6% der Mütter und 10% der Väter. Eine Berufsschulausbildung hatten 20.6% der Mütter und 23.2% der Väter. Das Abitur hatten in Warschau 30.6% der Mütter und 26.6% der Väter. Ein abgeschlossenes Studium hatten 21.1% der Mütter und 29.0% der Väter. Die fehlenden Prozentangaben verteilen sich auf die nicht abgeschlossenen einzelnen Schultypen bzw. entfallen auf fehlende Angaben. 2.2 Arbeit und Familie nach der Wende Seit 1983 werden in 22 Nationen von fuhrenden Sozialforschungsinstituten im Rahmen der International Social Survey Programme (ISSP) jährlich in Zusammenarbeit Rahmenthemen festgelegt, die in den Erhebungen einbezogen werden. Die hier interessierenden Daten zum Thema Familie und Geschlechtsrollen aus den Ländern Polen und Bundesrepublik Deutschland (getrennt nach alten und neuen Bundesländern) wurden im Jahre 1994 erhoben. Die einzelnen Landeserhebungen haben die Stichproben sorgfaltig auf Repräsentativität angelegt; die gesamte Stichprobe in Polen und der Bundesrepublik zählte 5.059 Teilnehmer (Cichomski & Sawinski 1994). In der Erhebung des Jahres 1994 wurden für die Fragestellung Arbeit und Familie der Stichprobe einige relevante Aussagen zur Beurteilung vorgelegt. Wie Tabelle 2 zeigt, sind polnische Männer und Frauen und Männer und Frauen aus den alten Bundesländern ähnlich stark der Überzeugung, die Vollzeitbeschäfitigung der Frau schade der Familie. Männer und Frauen aus den neuen Bundesländern hingegen lehnen diese Aussage eher ab. Für dieses Item sind sowohl die Länder als auch die Geschlechtsunterschiede signifikant. Der signifikante Länderunterschied geht weitgehend auf die Differenz zwischen den neuen Bundesländern und den beiden anderen zurück. Der signifikante Geschlechtsunterschied entstand durch die etwas weniger starke Zustimmung der Frauen. Ähnliche Antworttendenzen ergaben sich bei der Aussage, daß die Arbeit der beste Weg der Frau zur Selbständigkeit sei. Daß Mann und Frau gleichermaßen zum Familieneinkommen beitragen sollten,

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U. Schönpflug & G. Wieczorkowska

wird von Männern und Frauen aus den neuen Bundesländern stärker abgelehnt als von Personen aus den anderen Ländern, wobei polnische Männer und Frauen noch am wenigsten ablehnen. Dieses Antwortmuster drückt anscheinend ebenfalls die unterschiedlichen Einstellängen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau aus. Der allgemeinen Tendenz nach wird der gleichberechtigte Beitrag zum Familieneinkommen eher abgelehnt. Tabelle 2: Geschlechtsrollen und Familie. Ausgewählte Ergebnisse der internationalen Umfragestudie 1994 des ISSP1 Polen Thema

Eine arbeitende Mutter kann auch eine warme und sichere Beziehung zu ihrem Kind aufbauen Alles zusammengenommen leidet die Familie, wenn die Frau Vollzeitbeschäftigt ist Der beste Weg zur Selbständigkeit der Frau führt über die Arbeit Männer und Frauen sollten gemeinsam zum Familieneinkommen beitragen Es ist nicht gut, wenn der Mann zu Hause bleibt, um auf die Kinder aufzupassen und die Frau geht arbeiten Das Familienleben leidet darunter, wenn der Mann sich zu sehr auf die Arbeit konzentriert Die meisten Frauen müssen arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen

Deutschland n e u e Bundesländer Männer Frauen n=464 n=436

Deutschland a l t e Bundesländer Männer Frauen n=856 n=809

Männer n=706

Frauen n=850

2.152

2.23

3.40

3.58

2.76

3.05

2.67

2.75

3.32

3.44

2.38

2.51

3.49

3.73

4.03

4.15

3.75

4.06

3.25

3.52

4.38

4.47

3.61

3.76

2.40

2.45

2.80

3.06

2.85

3.17

3.47

3.57

3.42

3.36

3.61

3.51

1.88

1.78

1.83

1.72

2.18

2.02

Anmerkungen: ' International Social Survey Programme (Cichomsky & Zbigniew 1994) Wertebereich der Antwortskala: (1) stimme überzeugt zu; (2) stimme zu; (3) stimme weder zu noch lehne ab; (4) lehne ab; (5) lehne überzeugt ab.

2

Es ist verwunderlich, daß Männer und Frauen aus den neuen Bundesländern der BRD diese Aussage sehr deutlich ablehnen, während sie in den anderen Items sich eher „progressiv" geben. Hier könnten Überlegungen bei der Beantwortung der Frage eine Rolle spielen, die die Belastungen der doppelten Berufstätigkeit ablehnen. Weiterhin könnte hier mehr als in den anderen beiden betrachteten Ländern die Erfahrung der mangelnden Auswahl zwischen Arbeit und Nicht-Arbeiten bei Männern und Frauen mit Familie Grundlage für das abgegebene Urteil sein: Berufstätigkeit und Einkommen beider war die Norm und für einen angemessenen Lebensstandard auch notwendig. Die erfahrenen Nachteile der mangelnden Wahlfreiheit und damit auch fehlenden Anpassungsmöglichkeiten an besondere Bedürfnisse der Familie fuhren zur Ablehnung aller normierten Arbeitsmuster, traditioneller und progressiver. In der ehemaligen DDR war doppelte Vollzeitbeschäftigung in der Familie, auch mit Kindern, selbstverständlich. Die Erfahrung der defizitären emotionalen Beziehung zum eigenen Kind (s. erste Aussage in der Tabelle 2) zeigt sich deutlich in der stärkeren.Ablehnung der positiv formulierten Aussage. Sie könnte die Antwortmuster mitbestimmt haben. Wie Tabelle 2 darlegt, sind die Männer und Frauen der neuen Bundesländer jedoch nicht der Meinung, das Familienleben werde durch die Vollzeitbeschäftigung der Frau beeinträchtigt. Sie legen in dieser Frage eher Verunsicherung an den Tag. Eine andere mögliche Schlußfolgerung ist, daß die

Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

255

doppelte Einkommensbeteiligung nicht die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau berührt, sondern für diese Gruppe eher die Maximierung des Einkommens bedeutet, woran ihr nicht unbedingt gelegen ist. Die Rolle des Hausmanns finden Männer weniger akzeptabel als Frauen in allen drei Ländern. Die Frauen in Deutschland zeigen sich unsicher, ob sie diese Rolle des Mannes gut heißen oder ablehnen. Die Frauen in Polen sind jedoch mit ihren Männern gleicher Meinung in der eher schwachen Ablehnung. Die Männer und Frauen der drei hier betrachteten Länder lehnen die negative Einstellung gegenüber arbeitswütigen Männern eher ab. Sie finden nicht, daß das Familienleben beeinträchtigt wird. Alle Mittelwerte übersteigen den Unsicherheitswert von M=3.00. Die Mittelwerte der neuen Bundesländer liegen signifikant näher am Unsicherheitsbereich. Das heißt, hier sind Männer und Frauen noch neutraler bezüglich dieser Meinung im Vergleich zu den alten Bundesländern und Polen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das konservativste Land hinsichtlich der Geschlechtsrollenauffassung und der Erhaltung traditioneller Vorstellung von der Familie Polen ist, gefolgt von den alten und neuen Bundesländern. Die Umbruchsituation der neuen Bundesländer macht sich in anscheinend widersprüchlichen Antworttendenzen bemerkbar. Die Widersprüchlichkeit könnte so gedeutet werden, daß die Erfahrung von mangelnder Entscheidungsfreiheit in bezug auf die Erwerbstätigkeit vor der Wiedervereinigung zur Ablehnung aller festgefügten Rollenmuster in der Familie führen. Eine neue Analyse der Situation der Frau in Polen (Titkow & Domanski 1995) stellt unverändert den ungleichen sozialen Status der Frau fest. Frauen arbeiten in weniger komplexen Berufen als Männer. Sie sind eher in schlechter bezahlten und weniger verantwortlichen Stellungen zu finden. Die repräsentative Erhebung von Titkow & Domanski kontrollierte Unterschiede in Alter, Bildung, Berufsqualifikation und Arbeitsstunden zwischen Mann und Frau und konnte doch den Statusunterschied nicht übersehen. Frauen in Polen akzeptieren jedoch diesen Statusunterschied. Eine der frühen Bedingungen für diesen Befund liegt in der Sozialisation der Frau in Polen: Die Mädchen werden mit mehr Einschränkungen großgezogen und ihr Selbstbewußtsein wird wenig gefördert. Wahrscheinlich spielt hier die Erziehung durch die Großeltern eine nicht unbedeutende Rolle. Großeltern helfen den Eltern bei der Bewältigung ihrer Alltagserfordernisse durch Beaufsichtigung der Kinder. Die traditionellere Einstellung der Großeltern verglichen mit den Eltern sorgt für einen langsamen sozialen Wandel in der Stellung der Frau. Mädchen weisen niedrigere Test-IQ-Werte auf und sind leistungsängstlicher als Jungen. Mädchen werden zur „Furcht vor Erfolg" (Titkow & Domanski 1995) erzogen. Auch arbeitende Frauen in Polen tragen die ganze Haushaltsarbeit und den Erhalt der guten Familienbeziehungen. Vom Mann wird lediglich erwartet, daß er die Familie finanziell erhält, nicht zum Trinker wird und keine Gewalt anwendet. Frauen in Polen sind eher in Stellungen zu finden, in denen demokratische Randbedingungen herrschen. Im Falle der Arbeitslosigkeit wird den Frauen nachgesagt, daß sie sich leichter in die Situation finden, psychisch stabiler sind. Diese Meinung führt zur fatalen Konsequenz, daß Frauen mit weniger Unterstützung rechnen dürfen, wieder zu einem Arbeitsverhältnis zu kommen. Auch in der Wende-Epoche nach 1989 hat sich daran nichts geändert, da die Frau auch in demokratischen Staatsformen mit freier Marktwirtschaft nicht dem Mann gleichgestellt ist. Die Arbeit ist jedoch ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung für die Frau, denn polnische Frauen geben an, auch weiterarbeiten zu wollen, wenn keine finanzielle Notwendigkeit besteht. Auf der anderen Seite sind gegenwärtig Anzeichen für einen sozio-kulturellen Wandel zu finden: Heirat, Sexualität und Fortpflanzung beginnen auseinander zu klaffen, während die traditionelle Sichtweise die drei Bereiche als unzertrennlich ansieht.

256

3

U. Schönpflug & G. Wieczorkowska

Ein Modell des Einflusses von Arbeitserfahrungen der Eltern auf ihren Erziehungsstil und das Familienklima

Die von Kohn geprägte Forschungsrichtung der Auswirkungen von Arbeitserfahrungen auf die kognitive Flexibilität und die Werthaltungen der Arbeitenden und deren Erziehungshaltungen ihren Kindern gegenüber, weist deutlich nach, daß Arbeitserfahrungen der Eltern in die Familie hinein wirken. Kohn selbst, seine Kooperationspartner und seine Nachfolger haben jedoch nicht explizit das Familienklima als Auswirkungsfeld für Arbeitserfahrungen thematisiert. Dies soll im folgenden im Rahmen des Kulturvergleichs Polen-Deutschland geschehen. 3.1 Berufliche Komplexität und Selbstbestimmung als Merkmal der Arbeitserfahrungen Die zur Erfassung von Komplexität und Selbstbestimmung der beruflichen Arbeitserfahrungen bestimmten Fragebogenitems und die zur Erfassung des egalitären Erziehungsstils und des Familienklimas eingesetzten Items sind im Anhang zusammengestellt. Die geringe Anzahl der Items pro Skala erklärt sich durch das Bemühen, äquivalente Skalen für Väter und Mütter und beide Nationen und beide Meßzeitpunkte zu konstruieren. Die mittleren Skalenwerte und Korrelationen der vier Gruppen Berliner Mütter und Väter und Warschauer Mütter und Väter über zwei Meßzeitpunkte im Jahresabstand sind in den Tabellen 3 und 4 zusammengestellt. Die Tabellen enthalten nur die Werte der erwerbstätigen Väter und Mütter. Die durchschnittlichen Skalenwerte für die Erfahrung der Selbstbestimmung bei der Arbeit unterscheiden sich für die arbeitenden Mütter und Väter erheblich: Väter geben sowohl in der zweiten als auch in der dritten Erhebungswelle höhere Selbstbestimmung an als die Mütter. Dies gilt für Polen und Deutschland gleichermaßen. Während dies auch bei der Komplexität der Arbeitstätigkeit bei den polnischen Müttern und Vätern der Fall war, gaben die deutschen Eltern den Komplexitätsgrad in gleichem Maße an. In beiden Nationen gaben Mütter höhere Einschätzungen ihres egalitären Erziehungsstiles an als Väter. Die Angaben für das Familienklima unterschieden sich für Väter und Mütter in beiden Nationen gleichermaßen. Polnische Mütter und Väter gaben weniger positive Einschätzungen des Familienklimas als die deutschen Eltern. Tabelle 3: Durchschnittliche Skalenwerte und Standardabweichungen (Werte in Klammern) der polnischen Mütter und Väter in der zweiten und dritten Welle (1987 und 1988) des Berlin/Warschauer Jugendlängsschnitts Selbstbestimmung Mütter | Väter Welle 2 1.64 1.76 (.74) (.76) Welle 3 1.66 1.91 (.72) (.79)

Komplexität MUtter | Väter

Egalitärer Erziehungsstil Mütter | Väter

1.61 (.70)

1.88 (.44)

1.78 (.41)

1.67 (.45)

1.69 (.69)

1.96 (.79)

1.78 (.42)

1.78 (.42)

Familienklima MUtter | Väter 1 |

1.82 (.39)

1.96 (.39)

1.82 (.38)

1.77 (.38)

Erziehungsstile bei polnischen und deutschen Familien

257

Tabelle 4: Durchschnittliche Skalenwerte und Standardabweichungen der deutschen Mütter und Väter in der zweiten und dritten Welle (1987 und 1988) des Berlin/Warschau er Jugendlängsschnitts Selbstbestimmung Mütter Welle 2 1.55 (.71) Welle 3 1.61 (.68)

3.2

Komplexität

Egalitärer Erziehungsstil Väter Mutter

Väter

Mütter

Väter

2.06 (.62)

2.05 (.86)

2.05 (.77)

2.58 (.41)

2.01 (.67)

1.99 (.79)

2.04 (.79)

2.55 (.41)

Familienklima Mütter

Väter

2.36 (.51)

2.07 (.32)

2.05 (.31)

2.35 (.49)

2.05 (.30)

2.05 (.32)

Selbstbestimmung, egalitärer Erziehungsstil und Familienklima: Ein längsschnittliches Strukturmodell

Selbstbestimmung oder Freiheit von Kontrolle wurde in zwei aufeinanderfolgenden jährlichen Erhebungen erfaßt und in ein Strukturmodell aufgenommen, daß den Einfluß dieser Variablen auf den egalitären Erziehungsstil polnischer und deutscher Mütter und Väter und das Familienklima in polnischen und deutschen Familien konfirmatorisch testet. Es handelt sich um LISREL-Pfadanalysen, die jeweils getrennt für die vier Gruppen gerechnet wurden. Die Korrelationsmatrizen der vier Gruppen zu den beiden Meßzeitpunkten sind in den Tabellen 5-8 dargestellt. Tabelle 5: Korrelationen zwischen Skalen des Strukturmodells (Polnische Mütter der Welle 2 und 3) Komplexität Selbstbestimmung Komplexität

Welle 2 .57**»

Welle 3 .57***

Egalitärer Erziehungsstil

Egalitärer Erziehungsstil Familienklima Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 -.01 .06 .06 .19** -.04 .05 .12** .08 .21*** .13**

Tabelle 6: Korrelationen zwischen Skalen des Strukturmodells (Polnische Väter der Welle 2 und 3)

Selbstbestimmung Komplexität Egalitärer Erziehungsstil

Komplexität Welle 2 Welle 3 .48*** .58***

Egalitärer Erziehungsstil Familienklima Welle 3 Welle 2 Welle 2 Welle 3 .02 .05 .09 .20** .05 .12* .11** .23*** .34*** .18**

Tabelle 7: Korrelationen zwischen Skalen des Strukturmodells (Deutsche Mütter der Welle 2 und 3) Komplexität Selbstbestimmung Komplexität Egalitärer Erziehungsstil

Welle 2 .46***

Welle 3 .41**

Egalitärer Erziehungsstil Familienklima Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 2\*** .08 .10 .05 .22*** .13** .19** .11* .42** .32***

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U. Schönpflug & G. Wieczorkowska

Tabelle 8: Korrelationen zwischen Skalen des Strukturmodells (Deutsche Väter der Welle 2 und 3)

Selbstbestimmung Komplexität Egalitärer Erziehungsstil

Komplexität Welle 2 Welle 3 .60«*

Egalitärer Erziehungsstil Familienklima Welle 2 Welle 3 Welle 2 Welle 3 .10* .18*** .00 .01 .20*** .14** .04 .08 39*## .38***

Innerhalb des Strukturmodells werden nur signifikante Pfade berichtet. Die Abbildungen 1- 4 geben die Strukturkoeffizienten wieder. Das Modell 1, gerechnet für die Stichprobe der polnischen Mütter, ergab ein CHI2 von 4.17 bei 7 Freiheitsgraden (p