Fakten und Verunsicherung: Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit 9783787340552, 9783787340545

Alternative Facts, Post-Truth, Fake News – kaum etwas erregt und spaltet den öffentlichen Diskurs aktuell derart wie die

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Fakten und Verunsicherung: Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit
 9783787340552, 9783787340545

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Fakten und Verunsicherung Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, ­Katharina Simon, Florian Telsnig, Martin Wittmann (Hg.)

Meiner

Carina Breidenbach / Ines Ghalleb /  Dominik Pensel / Katharina Simon /  Florian Telsnig / Martin Wittmann (Hg.)

Fakten und Verunsicherung Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4054-5 ISBN eBook  978-3-7873-4055-2

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei ­gebleichtem Zellstoff.  Printed in Germany.

INHALT

Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, Katharina Simon, Florian Telsnig und Martin Wittmann Über eine doppelte Verunsicherung Positionen zur Frage nach den Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Slavoj Žižek Von Fake News zur ›Großen Lüge‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Klaus Benesch The Art of the Lie Ein Plädoyer gegen die Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Oswald Egger Wahrmacherei Wie Gewahres und Gedachtes Und-los ineinander übergehen . . . 77 Elisabeth Bronfen Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama Eine serielle Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Carolin Amlinger und Nicola Gess Die Tücken der Wahrscheinlichkeit Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Ilja Trojanows Doppelte Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Gertrud Koch Zwischen Fakt und Fiktion: »Madagaskar, Nisko, Theresienstadt, ­Auschwitz« Zu den ›Über‹lebensbedingungen in der Vernichtung in Claude Lanzmanns Film Le dernier des injustes . . . . . . . . . . . . . . 143

Kathrin Röggla Bauernkriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Chiara Cappelletto Wer spricht? Wie öffentliches Sprechen zur Privatsache wird . . . . . . . . . . . . . . 167 Sylvia Sasse und Sandro Zanetti Was man sagt, ist man selber Hatespeech, Autoperformanz, performative Fakten . . . . . . . . . . . 189 Peter Waterhouse Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, b ­ anners, and Ponging, eh! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Thomas Schestag Geräuschkulissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jocelyn Holland Fakten sind das, was man daraus macht Zur Konstruktion von ›Faktum‹ und ›Tatsache‹ in A ­ ufklärung und Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Marc Rölli Tatsachen und ihre Konstruktion Überlegungen zu einer erkenntnistheoretischen ­Fragestellung . . . 293 Dirk Baecker Was ist noch mal Wirklichkeit?   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Marcus Steinweg Kunst und Philosophie Zwischen Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Über die Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 6 | Inhalt

Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, Katharina Simon, Florian Telsnig und Martin Wittmann

Über eine doppelte Verunsicherung Positionen zur Frage nach den Fakten

Don’t be so overly dramatic about it, Chuck. What – You’re saying it’s a falsehood. And they’re giving, Sean Spicer, our press secretary, gave alternative facts to that. But the point remains – Kellyanne Conway

Fakten stehen dieser Tage auf unsicherem Boden. Daran hat sich auch nach der Präsidentschaft Donald Trumps wenig geändert. Die Bestimmung der Beziehungen zwischen Tatsachen, Fiktion und Wahrheit in politischen, sozialen und kulturellen Kontexten erscheint mehr denn je als Herausforderung. Das Misstrauen und die Verunsicherung gegenüber medial vermittelten Inhalten, etwa in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel bzw. zur Wirkung von Impfstoffen oder auf die Hintergründe demokratischer Entscheidungsprozesse, scheinen ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht zu haben. Mit Blick darauf wäre sowohl nach den historischen und systematischen Konstruktionsbedingungen von Faktizität als auch nach politischen und sozialen Phänomenen der Destabilisierung dieser Konstruktionen zu fragen: Welches Konzept von Faktizität steht etwa im Hintergrund von juristischen ›matters of fact‹, propositionalen Wahrheiten, Technologien des Faktencheckens oder journalistischen Reportagen? Und wie werden Vorstellungen von Faktizität durch Verschwörungstheorien, Hatespeech oder Deepfakes verunsichert? Der Band liefert hierzu die Fakten.

7

»It’s all part of a plot« – ›Paranoide‹ Epistemologien in Zeiten der Verunsicherung Dass das 21. Jahrhundert spätestens mit der COVID-19-Pandemie in eine neue Blütezeit von Verschwörungstheorien und kollektiver Paranoia eingetreten ist, bestätigt einen locus communis der Forschung zum Thema Verschwörungstheorien: »Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten«1. Um die Ursprünge und Verbreitungs­ mecha­nismen des Corona-Virus und die angemessenen Strategien zu seiner Bekämpfung rankt sich ein derartiges Maß an Halb- und Unwissen, dass die WHO gar eine COVID-19-»Mythbusters«-Website einrichtete, auf welcher unter dem Motto »Let’s flatten the infodemic curve« wissenschaftliche Fakten ins Feld geführt werden, um beispielsweise die Vorstellung zu widerlegen, das Virus könne sich über das 5G-Mobilfunknetz ausbreiten.2 Verschwörungstheorien, die aktuell wie Pilze aus dem Boden zu schießen scheinen und sich insbesondere über die sozialen Medien rasant oder gar viral verbreiten – Bill Gates als Strippenzieher hinter der Pandemie, Hillary Clinton im Zentrum eines kinderbluttrinkenden satanischen Kultes, Magnetfelder, die nach der COVID-19 Impfung an der Einstichstelle am Oberarm entstehen etc. –, tragen in ihrem Kern eine Epistemologie des Verdachts. Sie stellen die von politischen oder sozialen Autoritäten und ›Mainstream‹-Medien präsentierte ›offizielle‹ Version eines Ereigniszusammenhangs und die zur Belegung dieser autorisierten Version herangezogenen Fakten in Frage und bieten alternative Erklärungsnarrative an. Ihre beispiellose aktuelle Konjunktur reflektiert die Ausbreitung immer radikalerer Zweifel an der Möglichkeit der Objektivität von Fakten und eine Vertiefung des kollektiven Misstrauens in diejenigen etablierten politischen, sozialen und medialen Institutionen, welche Fakten ›machen‹ und verbreiten – eine Entwicklung, welche sich auch in dem Aufkommen solcher Buzzwords wie ›Alternative Facts‹, ›Post-Truth‹ und ›Fake News‹ niederschlägt. Zur Charakterisierung dieser zunehmenden kollektiven Verunsicherung wird immer wieder der aus der Psychopathologie stammende Begriff der Paranoia herangezogen. So erklärten beispielsweise Daniel und Jason Freeman 2008 die Paranoia zur spezifischen »21st-century fear« und 8 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Markus Schulte von Drach fragte 2010 in der Süddeutschen Zeitung: »Werden wir alle paranoid?«3 Der in die Kulturwissenschaften importierte Paranoia-Begriff bezeichnet in seinem ursprünglichen psychopathologischen Kontext Krankheitsbilder, die sich u. a. durch Verfolgungswahn, krankhaftes Misstrauen und exzessive Ich-Bezogenheit auszeichnen.4 Er eignet sich zur Beschreibung der Verunsicherung des Faktischen, welche die aktuelle soziopolitische Situation kennzeichnet, deshalb so gut, weil es in der Paranoia – von gr. para (gegen, neben) + nous (Verstand), also wörtlich einer entgleisenden, fehlgehenden Vernunft – zu jener Verschränkung von Epistemologie und Affektivität kommt, die für politische und gesellschaftliche Diskurse der Gegenwart so kennzeichnend ist. Politische Akteur*innen wie Trump machen sich die kollektive Verunsicherung zunutze, indem sie gezielt an die negativen Emotionen ihrer Wähler*innen – meist Angst und Wut – appellieren und zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen vermeintliche ›alternative Fakten‹ verbreiten, die oft weder mit der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz noch mit so etwas wie dem ›gesunden Menschenverstand‹ vereinbar sind, jedoch bestimmte affektive Bedürfnisse befriedigen. Zwar scheint es evident, dass diejenigen, die trotz steigender Todeszahlen die Realität des Corona-Virus immer noch anzweifeln, sich in ihren Urteilen und Glaubensinhalten von den eigenen Affekten leiten lassen (vgl. dazu z. B. den Beitrag von Slavoj Žižek in diesem Band). Wie Eve Kosofsky Sedgwick in einem Aufsatz mit dem Untertitel »You are so paranoid, you probably think this essay is about you« bemerkte, neigen paranoide Epistemologien jedoch oft dazu, ihre negative affektive Grundierung in Gefühlen wie Angst und Demütigung zu verschleiern und sich als emotional unvoreingenommene, rein intellektuell motivierte Suche nach der Wahrheit, als »the stuff of truth«5 auszugeben. Einen der frühesten und einflussreichsten Importe des Paranoia­ Begriffs in den kulturwissenschaftlichen Diskurs nahm Richard Hofstadter 1964 in seinem Essay »The Paranoid Style in American Politics« vor, in dem er – »borrowing a clinical term for other purposes«6 – als jenen titelgebenden »paranoid style« eine Art von manipulativer politischer Rhetorik beschrieb, die von »heated exaggeration, suspiciousness, and conspiratorial fantasy«7 geprägt sei. Über eine doppelte Verunsicherung | 9

Dass Hofstadters Charakterisierung des paranoiden Stils unlängst herangezogen wurde, um die fragwürdige Rhetorik Trumps zu beschreiben, ist wenig überraschend.8 Die Tatsache, dass Hofstadter ausgerechnet den aus der Psychopathologie stammenden ParanoiaBegriff unverkennbar abwertend als Kampfbegriff gegen bestimmte politische und ideologische Gruppierungen ins Feld führte (insbesondere gegen das zeitgenössische rechtsgerichtete Lager innerhalb der Republican Party), ist ein Beispiel für eine Art von Exklusionsdynamik, die eine Attribuierung von Verschwörungsdenken und Paranoia – ein Krankheitsbild, das in der Psychopathologie ja nicht zuletzt mit der Vorstellung einer Errichtung von ganzen »Wahnsystemen« aus falschen Glaubensinhalten verbunden ist9 – einsetzt, um (z. B. politische) Positionen, die mit der eigenen nicht konform sind, zu pathologisieren und den eigenen Standpunkt gleichsam als ›normal‹ zu legitimieren. Aus einer kritischen wissenssoziologischen Perspektive heraus beschreibt Oliver Kuhn die »Einschätzung von Thesen über Geheimhandlungen als ›Verschwörungstheorien‹ als einen Akt […] einer Stigmatisierung von Wissen als Para-Wissen«10, an dem sich zeigt, dass »jede Wissensproduktion zugleich die Repression und Marginalisierung unlauterer Behauptungen beziehungsweise eine Markierung von Grenzfällen erfordert«11. Wer andere als paranoid ›diagnostiziert‹ – sei es auch im übertragenen, Hofstadter’schen Sinn – oder als Verschwörungstheoretiker*innen ›entlarvt‹, spricht sich selbst die Deutungshoheit über sie zu, positioniert sich ihnen gegenüber in einer vermeintlich nicht-paranoiden Beobachtungsposition und markiert damit vor der Kontrastfolie des verzerrten, paranoiden Blicks auf die Dinge die eigenen Überzeugungen als konform mit der Wahrheit und der Wirklichkeit. Eine Stigmatisierung abweichender Perspektiven als paranoid trägt jedoch oft auch selbst wiederum paranoide Züge – Paranoia, so arbeitet Sedgwick es heraus, ist »reflexiv und mimetisch«12: Um paranoides Denken zu verstehen, muss man dieses nachahmen und anfangen, selbst ­paranoid zu denken. Paranoia ist für Sedgwick in diesem Sinne »ansteckend« (contagious)13 und breitet sich lawinenartig aus – oder, um Sedgwicks eigenes eindrückliches Bild zu verwenden: sie wächst »like a crystal in a hypersaturated solution, blotting out any sense of the possibility of alternative ways to understand«14. 10 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Einer pejorativen, exkludierenden Verwendung gegenüber setzen neuere kulturwissenschaftliche Arbeiten wie Patrick O’Donnells Latent Destinies (2000) den Paranoia-Begriff in einem breiteren, analytischeren Sinn zur Diagnose eines spezifisch postmodernen epistemologischen Modus ein: Laut O’Donnell bildet sich als ›Symptom‹ der Postmoderne – im Lyotard’schen Sinne verstanden als Zeitalter, in dem eine beruhigende und absichernde Sinnstiftung durch jegliche Formen von grand récits unmöglich geworden ist – ein kollektiver paranoider Welterschließungsmechanismus aus, der identitätsstiftend wirkt und Unsicherheiten und Ängste kompensiert, indem er die als unüberschaubar und unerträglich empfundene Kontingenz der postmodernen Realität in schicksalhafte Bestimmtheit, Chaos in Ordnung umdeutet.15 »[T]he paranoid mind«, so bemerkte auch Hofstadter, »is far more coherent than the real world.«16 Im Moment dieser kontingenzverleugnenden17, im Kern narrativierenden Form der Wirklichkeitsbewältigung, die hinter der manifesten Oberfläche der Dinge eine latente Sinn­ dimen­sion aufzudecken versucht, überlappen sich Paranoia und Verschwörungsdenken. Erscheinen Verschwörungstheorien auf den ersten Blick als Momente der Verunsicherung, die die Vorstellung ­einer als stabil angenommenen gemeinsamen Realität ins Wanken bringen, erfüllen sie paradoxerweise ein Bedürfnis nach sinnstiftender Versicherung in unsicheren Zeiten: Die Attraktivität von Verschwörungstheorien liegt laut Dieter Groh gerade darin, dass sie eine Möglichkeit bieten, »dissonante Wahrnehmungen« und »Komplexität drastisch zu reduzieren« und damit »Gruppen oder Einzelne, die unter ›Stress‹ geraten, vom Druck der Realität […] zu entlasten«.18 Den Glauben an Verschwörungstheorien als harmloses Mittel zur Reduktion von kognitivem Stress einzuschätzen griffe jedoch zu kurz, denn im Hintergrund vieler scheinbar fantastischer Verschwörungsnarrative stehen allzu reale sozio-ökonomische Krisenzustände von Machtlosigkeit, Entfremdung, Ausweglosigkeit und Angst vor Deklassierung. Schon Hofstadter bemerkte, dass das paranoide Verschwörungsdenken gerade in denjenigen Bevölkerungsgruppen besonders verbreitet sei, die sich enteignet (»dispossessed«), benachteiligt und von den Machteliten ausgegrenzt fühlen.19 Dass Verschwörungstheorien das Potenzial haben, zu einer Gefährdung für die Demokratie zu werden20, liegt daran, dass sie Über eine doppelte Verunsicherung | 11

oft an einige der wirkmächtigsten menschlichen Affekte appellieren: Angst, Wut und Demütigung. Karl Popper, der den Begriff der »Verschwörungstheorie« (conspiracy theory) 1945 in The Open Society and Its Enemies prägte, beschrieb als Grundannahme einer sogenannten »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«, dass die Erklärung für ein bedeutsames politisches oder kulturelles Ereignis in »dem Aufweis der Menschen oder Gruppen besteht, die am Eintreten dieses Phänomens ein Interesse haben […] und die zum Zwecke seiner Herbeiführung Pläne gemacht und konspiriert haben«21. Der Denkfehler im Zentrum dieses dem Verschwörungsdenken verhafteten Erklärungsmodells besteht laut Popper in einer Überbewertung menschlicher Handlungsmacht: Wer glaubt, dass der Gang der Geschichte verstehbar ist als Resultat der Intentionen und Handlungen der Mächtigen, der nimmt implizit an, dass menschliches Wollen und Handeln die Welt auf logische, gut kalkulierbare Weise zu formen vermag, und verkennt damit die Komplexität und Unberechenbarkeit des sozialen Lebens, das laut Popper »Handeln in einem mehr oder weniger elastischen Rahmen von Institutionen und Traditionen ist und […] zu vielen unvorhergesehenen Rückwirkungen innerhalb dieses Rahmens führt«22. Dass im digitalen Zeitalter, in welchem Informationen oder vermeintliche Nachrichten, deren Autor*innenschaft und Ursprung oft nicht rekonstruierbar sind, viral verbreitet werden und oft schwerwiegende soziale und politische Folgen nach sich ziehen, das Maß der ›Unvorhersehbarkeit‹ von Wirkungen und ›Rückwirkungen‹ eigener und fremder Handlungen exponentiell zunimmt, liegt auf der Hand. Die wachsende Beliebtheit von Verschwörungstheorien, welche einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte liefern, lässt sich als Reaktion auf eine von der steigenden Komplexität der sozialen Realität gestiftete Verunsicherung deuten. Tat Popper Verschwörungstheorien noch als säkularisierte Form religiösen Aberglaubens23 ab, die dem Erkenntnisziel der Sozialwissenschaften diametral gegenüberstehe24, nahmen spätere philosophische Diskussionen des Themas, wie diejenige Brian Keeleys – der mit seinem Aufsatz »Of Conspiracy Theories« eine umfassende Debatte über diesen bis dahin von der Philosophie eher stiefmütterlich behandelten Gegenstand auslöste25 –, diese als Reaktionen auf bestimmte affektive und soziale Bedürfnisse ernst und stellten 12 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

sich die Frage, welche Erkenntnisse die philosophische Analyse von Verschwörungstheorien darüber liefern kann, wie Menschen sich in ihrer soziokulturellen, politischen und historischen Umwelt orientieren. Keeley zufolge steht dem ›tröstlichen‹ Verschwörungsdenken am anderen Ende des Spektrums von Weltzugangsmodi eine Sicht der Welt als so irrational, unkontrollierbar und absurd gegenüber, wie sie in den Dramen von Beckett oder Ionesco erscheint26. Timothy Melley stellt ins Zentrum seiner Analyse der »Culture of Paranoia in Postwar America« den Begriff der »agency panic«27: Die kollektive Para­noia im Amerika der Nachkriegszeit entsteht laut Melley aus dem in technisierten, kapitalistischen ›postmodernen‹ Gesellschaften um sich greifenden Verlust des Vertrauens in ein humanistisches Menschenbild, das den Menschen als selbstbestimmtes, handlungsfähiges Individuum konzipiert hatte. Statt als solches erscheint der Mensch nun als handlungsunfähiger Spielball ungreifbarer politischer, sozialer und ökonomischer Mächte: By agency panic, I mean intense anxiety about an apparent loss of auto­nomy or self-control – the conviction that one’s actions are being controlled by someone else, that one has been ›constructed‹ by powerful external agents.28

Die paranoide »agency panic«, deren Manifestationen Melley in literarischen Texten wie Joseph Hellers Catch 22 oder Don DeLillos Libra untersucht, versteht er als »an attempt to conserve the integrity of the liberal, rational self«29 in Reaktion auf den wahrgenommenen Verlust individueller menschlicher Handlungsfähigkeit (agency). Verschwörungsnarrative verwandeln undurchsichtige, entmenschlicht wirkende, kontingente Ereigniszusammenhänge in Geschichten mit menschlichen Akteur*innen zurück. Der ›Deutungswahn‹ der Paranoia ist also im Hinblick auf die menschliche Selbstversicherung als handlungsfähiges Subjekt auch ein ›Bedeutungswahn‹. Ist die Angst vor destabilisierend wirkender Kontingenz eine der treibenden affektiven Kräfte im Ursprung von Verschwörungsdenken und paranoiden Weltzugangsmodi, so ist einer der zentralen Mechanismen zu ihrer Bewältigung der Versuch der Kontingenzverweigerung durch das Ersinnen von oft intrikaten, teils absurd weit hergeholt wirkenden Erklärungsnarrativen, die das Chaos einer kontingenten Umwelt in eine sinnhafte, kohärente Struktur überÜber eine doppelte Verunsicherung | 13

führen, indem sie auch zufällig wirkende Details als Teil eines großangelegten Plans, als Element einer Geschichte offenlegen. »It’s all part of a plot« lautet die zentrale Erkenntnis in Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1965)30, einem der paradigmatischen ParanoiaRomane der Postmoderne, der nicht nur auf selbstreflexive Weise die Gemachtheit literarischer Texte ausstellt, sondern auch die Frage nach der Erkennbarkeit der Realität bzw. der Wissbarkeit von Wahrheit problematisiert und das obsessiv-paranoide Lesen von Zeichen, eine Art hyperaktiv werdende hermeneutische Aktivität – nicht zuletzt wurde die Paranoia auch als délire d’interpretation,31 also als ›Interpretationsdelirium‹ beschrieben – als Form einer postmodernen Epistemologie vorführt. An der Doppelbedeutung des plot-Begriffs als narrative Struktur eines literarischen Textes einerseits und als Verschwörung andererseits lässt sich diskutieren, wie narrative literarische Texte sich als – teils affirmative, teils kritische, teils gebrochene – Reflexionen eines anthropologischen Grundbedürfnisses nach einer ordnenden, orientierungsstiftenden Strukturierung von Welt- und Selbsterfahrung lesen lassen und wie sich umgekehrt in politisch-epistemischen Haltungen und politischer Rhetorik Strukturen erkennen lassen, die den Verfahren literarischer Textproduktion ähnlich sind. Peter Brooks, einer der einschlägigsten Theoretiker*innen des plots unter den Narratolog*innen, beschrieb den plot als etwas, das nicht nur in der sprachlichen Struktur des Textes zu verorten ist, sondern auch auf der Seite der Leser*innen, als »an activity, a structuring operation elicited in the reader trying to make sense of those meanings that develop only through textual and temporal succession«32. In Don DeLillos White Noise (1985), einem weiteren Paranoia-Roman der Postmoderne, der das Thema Todesangst anhand eines Verseuchungsszenarios durch ein »toxic airborne event« durchspielt und damit in Zeiten der Pandemie an neuer Aktualität gewonnen hat, wird die Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion der plotting-Aktivität folgendermaßen beschrieben: We start our lives in chaos, in babble. As we surge up into the world, we try to devise a shape, a plan. There is dignity in this. Your whole life is a plot, a scheme, a diagram. It is a failed scheme, but that is not the point. To plot is to affirm life, to seek shape and control. 33 14 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Der plot, der einen »sensemaking process« in uns animiert, ist für Brooks also im Kern eine Form des Begehrens (a form of desire)34 nach Bedeutung, und auch die plots im Zentrum aktueller Verschwörungstheorien, welche teils ›stranger than fiction‹ zu sein scheinen, lassen sich lesen als Ausdruck eines Begehrens nach Bedeutung in einer Atmosphäre, in der eine kollektive epistemologische Ver­unsiche­rung zum Faktum geworden ist und Fakten zunehmend zum Gegenstand von Verunsicherungen werden.

Zu diesem Band Verunsicherung tritt in der vorangegangenen Diskussion von Verschwörungstheorien in zwei Gestalten auf: einerseits als Affekt, verstanden im Sinne Brian Massumis als eine präindividuelle, kollektive ›Stimmung‹35, die sich gegenwärtig in Spielarten der Eskalation wie Wut, Verdrängung oder Paranoia ausdrücken kann, andererseits aber auch als eine Unsicherheit und Uneindeutigkeit, die Fakten und Faktizität immer schon immanent ist. Mit einer Problematisierung dieser Verunsicherung und ihrer Relation zu den Fakten stehen immer auch Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit auf dem Spiel, Begriffe, die einander überlappen, bisweilen ineinsfallen, sich sowohl opponieren als auch ergänzen können. Diese Beziehungen werden in so unterschiedlichen Feldern wie öffentlicher Rede, politischen Ausdrucksformen, medialen Repräsentationen oder künstlerischen sowie philosophischen Reflektionen bzw. Refraktionen von Realität verhandelt. Auf diese Heterogenität der Felder und Komplexität der Beziehungen reagiert der Band damit, dass er einem breiten Spektrum an Perspektiven und Zugriffen Raum gibt, wobei die Pluralität der Sachbezüge eine Pluralität der Verfahren einfordert. Während die Beiträge zum einen aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse und Ereignisse mit literarischen, kulturellen und philosophischen Problemstellungen verflechten und kurzschließen, variieren bzw. changieren sie zum anderen zwischen essayistischen, akademischen und literarischen Schreibweisen. Literatur als Form und Denkmodus wird als Produktion von Theorie verstanden, die gleichwertig neben philosophischer Reflexion und kulturwissenschaftlicher Analyse steht. Über eine doppelte Verunsicherung | 15

Um die Frage stellen zu können, worum es in der allgegenwärtigen Rede von ›Alternative Facts‹, ›Post-Truth‹ oder dem ›postfak­ tischen Zeitalter‹ eigentlich geht, ist es grundlegend, die Frage nach den Fakten neu und differenziert aufzuwerfen. Bei aller Aktualität bleibt zudem zu fragen, inwiefern es sich hierbei um ein neues gesellschaftliches Phänomen handelt, das u. a. durch die wachsende Bedeutung digitaler Technologien hervorgebracht wurde, bzw. inwiefern dieses als Fortsetzung einer sehr alten Diskussion in einem neuen medialen Kontext beschrieben werden kann. Anspruch und Aufgabe des Bandes ist es, zum Verständnis und zur Reflexion gegenwärtiger historischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Debatten und ihrer Gegenstände insoweit beizutragen, als die dort angesprochenen Fragen auch in grundlegendere Fragestellungen übersetzt werden. Am Anfang stehen Beiträge, die sich mit Diskursen der Lüge und der Produktion neuer Wahrheiten auseinandersetzen und expliziter als in den darauffolgenden Teilen des Bandes verhandeln, was mit aktuellen politischen und sozialen Fragen auf dem Spiel steht. Im Anschluss daran setzt eine Diskussion narrativer und fiktionaler Reflexionen von Wahrheit und Illusion ein, die den Kern der folgenden Beiträge bildet. Dies wird insbesondere mit einer medien- und metareflexiven Auseinandersetzung mit Bildlichkeit bzw. Darstellbarkeit zwischen Visuellem und Sprache verbunden. Die daran anschließenden Beiträge fokussieren auf Funktionsweisen von Sprache und Rede sowie die Formen der Störung, die innerhalb dieser auftreten können. Allgemeiner geht es zudem um die Abwege, auf die Sprache und Rede immer auch geraten. Während manche dieser Beiträge sich stärker auf das Diskutieren und Streiten im Kontext rhetorisch verfasster Diskurse konzentrieren, wird in anderen das Rauschen der Sprache selbst hörbar gemacht. Abschließend reflektiert der Band aus ontologischer und erkenntnistheoretischer Perspektive Konstruktionen der Wirklichkeit. Die den Beiträgen vorangestellten Reflexionen geben den Blick auf dieses Feld frei, indem sie sich konstellativ dem Thema nähern und dabei disparate Schlaglichter auf Fakten und ihre Verunsicherung im Problemkomplex von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit werfen. In Anbetracht der Debatten, die auch zum jetzigen Zeitpunkt noch unabgeschlossen sind, kann es nicht darum gehen, 16 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Begriffe systematisch zu klären und Probleme abschließend aufzuarbeiten, vielmehr sollen heterogene Positionen in den jeweiligen Unterkapiteln in einer je eigenen Stimme vorgestellt werden und als Impuls für weitere Diskussionen wirken. Die Unterkapitel zu Beginn nehmen sich jene Verunsicherung zum Ausgangspunkt, die sich in den letzten Jahren in zahlreichen Affekte hervorrufenden, irritierenden oder destabilisierenden Ereignissen (wie der ›Explosion‹ an Verschwörungstheorien, dem Sturm auf das US-Kapitol oder dem Medienskandal um Claas Relotius) manifestiert. Sie betrachten diese im Kontext größerer sozialer und politischer sowie technologischer und medialer Entwicklungen und skizzieren mit den Überlegungen zur Rolle der Fiktion Ansätze zur Diskussion einer epistemologischen Verunsicherung. Die folgenden Abschnitte reflektieren das epistemologische Pro­blem der Faktizität aus historischer und philosophischer Perspektive: die konzeptuelle Widersprüchlichkeit von Faktizität, ihre notwendige, aber notwendig prekäre Abgrenzung vom Nichtfaktischen, die Unklarheit darüber, auf welche Bezugselemente diese Konzeption überhaupt anwendbar ist. Diese Abschnitte problematisieren Modelle und Entwürfe, die versuchen, Tatsachen bzw. Fakten zu bestimmen, um in Orientierung an einem Objektivitätsanspruch ein juristisches Urteil bilden oder in sprachanalytischen Urteilen Wissenschaft betreiben zu können. Sie beleuchten die Schwierigkeiten, Kriterien zur Herstellung von Fakten zu finden, und verhandeln anhand von Theorien, die sich mit den symbolischen Dimensionen von Faktizität beschäftigen, die Differenz zwischen einer empirisch wahren und einer kulturell bedeutsamen Welt. In diesem Problemzusammenhang wird zudem der Effekt theoretischer Bewegungen der Umstellung von Begriffsordnungen im Umkreis von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit, insbesondere der Neubewertung negativ konnotierter Begriffe wie Ideologie, Irrtum und Illusion auf Vorstellungen von Wahrnehmung untersucht. Im letzten Abschnitt kehrt die Reflexion zur Frage der Medialität zurück und arbeitet anhand der Beziehung von Bildlichkeit und Literatur an der Entkoppelung der Zuordnungen eines Gefüges, das die Oppositionen von Wahrheit und Lüge sowie Fakt und Fiktion miteinander und mit unterschiedlichen Funktions­weisen der Referenzialität zur Deckung bringt. Über eine doppelte Verunsicherung | 17

Wie postfaktische Diskurse und Deepfakes die ­ Wirklichkeit verändern – Gefahren für Gesellschaft und Demokratie Noch lange nach ihrem Aufkommen mit der Amtseinführung Donald Trumps als 45. US-Präsident im Jahr 2017 nimmt die Debatte über Fakten und Fake News in den Vereinigten Statten zunehmend beunruhigendere Ausmaße an. Der Begriff der alternative facts wurde zunächst vornehmlich als ein Angriff auf Faktizität und den Journalismus betrachtet, entwickelte sich jedoch im Laufe der Zeit zum Schlagwort für einen umfassenderen Angriff auf drei wichtige Säulen der amerikanischen Gesellschaft: Wissenschaft, Diversität und Demokratie. Die spezifische Form von Performativität, die die postfaktischen Diskurse in der Politik der Gegenwart auszeichnet, ist eng an bestimmte technologische Plattformen, soziale Medien und technische Werkzeuge wie die künstliche Intelligenz gebunden. So ermöglichen Fakes sowohl komplexe als auch antagonistische Reaktionen im virtuellen und realen Raum. Der Performativitätsbegriff wird hier nicht im engeren sprechakttheoretischen Sinn, sondern in einer breiteren, kulturwissenschaftlichen Bedeutung verwendet, um die Wirksamkeit von Sprache in den außersprachlichen Raum hinein zu beschreiben, welche sich in den hier diskutierten Kontexten dahingehend manifestiert, dass sprachliche Äußerungen, die im Internet zirkulieren, handfeste Reak­tionen in der ›wirklichen Welt‹ außerhalb des Cyberspace nach sich ziehen. Die Gegenwartspolitik und das gesellschaftliche Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika sind geprägt von einer wechselseitigen Abhängigkeit und Dynamik zwischen politischen Aussagen (zum Beispiel als Teil von Wahlkampfreden) und den Reaktionen auf diese im virtuellen Raum (soziale Medien, Onlineplattformen, private Internetseiten etc.). Im Einzelfall kann diese Dynamik zu politischen und sozialen Bewegungen führen oder gar Wut auslösen und zu Gewalt anstiften. In der Post-Truth-Ära, in der wir uns angeblich befinden, sind wir dazu angehalten, kritisch zu beobachten, wie ›alternative Fakten‹ und Deepfakes im virtuellen Raum technologiebasiert funktionieren und wie sie aus dem virtuellen Raum hinaus auch in die analoge Außenwelt übertragen werden. In diesem Kontext ist es wichtig, die sozialen Bewegungen, die Fakes und Hass fördern, im 18 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Blick zu behalten und die bisherigen Strategien im Kampf gegen den Abbau von Faktizität und Offenheit zu überdenken. Die Rhetorik der Fakes fordert uns dazu auf, der Performativität politischer Aussagen und ihrem demokratiefeindlichen Potenzial wachsamer gegenüberzutreten. Die Erstürmung des US-Kapitols im Januar 2021 als Kulmination der Konsequenzen von Fakes hat deutlich gemacht, dass wirksame Maßnahmen nötig sind, um die Errungenschaften der Demokratie zu schützen. Während der Präsidentschaft Donald Trumps wurde die öffentliche Meinung polarisiert zwischen kompletter Ablehnung und uneingeschränkter Unterstützung. Wahrheit und Lügen sind nicht nur das, was die Politiker*innen ›daraus machen‹, sondern auch das, was die Wähler*innen ›daraus machen‹. Genau das verkompliziert die politische Debatte und erschwert die Bestimmung der Kriterien für ein erfolgreiches Staatsoberhaupt. In ihrem Aufsatz »Politicians Lie, so do I« untersuchen Jérémy Celse und Kirk Chang die Möglichkeit eines »prime-triggered lying«.36 Sie erklären, »dass Prime ein unbewusster und impliziter Gedächtniseffekt ist, wobei die Präsenz eines bestimmten Stimulus die Reaktion auf einen anderen beeinflusst« (CC 1312). Während frühere Studien sich darauf konzentrierten, dass Lügen ein bewusstes Verhalten sei, das auf persönlichen Interessen basiert und intentional ist, wenden Celse und Chang im Gegensatz dazu in ihrer Studie die Prime-Theorie an, um zu untersuchen, »ob Menschen, die Politiker*innen als Lügner wahrnehmen, wahrscheinlich selbst lügen«, was eine Verbindung zwischen ›Politician-Priming‹ (Prime verursacht durch Politiker*innen) und dem Lügen durch eine Reiz-Reaktions-Wirkung belegt (CC 1312). Celse und Chang argumentieren, dass Politiker*innen-Priming derzeit Anlass zur Sorge gebe, da mehrere Staatsoberhäupter unter Korruptionsverdacht stehen und des Lügens bezichtigt werden, weshalb sie auch mit einem zunehmenden Misstrauen seitens der Bevölkerung konfrontiert sind (CC 1313). Nach Celse und Chang rationalisieren lügende Politiker*innen ihr Verhalten auf Grundlage des Allgemeinwohls (z. B. mit Verweis auf die nationale Sicherheit). Dieser Rationalisierungsakt gebe einen Spielraum für die Lüge. »Poli­ticians lie so can I« (Politiker*innen lügen, also darf ich es auch), wie die Autoren es ausdrücken (CC 1314). In ihrer Analyse stellt dieser Sachverhalt eine Verbindung her, durch die Politiker*innen die MenÜber eine doppelte Verunsicherung | 19

schen aufgrund des Priming-Effekts zum Lügen bringen (CC 1314). Daher ist eine bewusste Politik notwendig, um den Auswirkungen des Politiker*innen-Primings entgegenzuwirken. Obwohl eine solche Theorie nützlich ist, hat sie auch ihre Grenzen, da sie ein nicht ausreichend komplexes Verständnis menschlichen Verhaltens und kognitiver Prozesse sowie der Sprechakttheorie reproduzieren könnte (vgl. Sasse und Zanetti in diesem Band). Es ist schwierig, einen (bewussten oder unbewussten) Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Fake News und Hatespeech und dem Aufstieg der Alt-Right- und White-Supremacy-Gruppen eindeutig zu bestätigen, auch wenn diese Entwicklungen am 6. Januar 2021 in der Erstürmung des US-Kapitols durch Trumps Unter­ stützer*innen kulminierten. Dennoch setzte dieser Angriff ein längst überfälliges Warnsignal, zumal das US-Kapitol ein Wahrzeichen der demokratischen Machtübergabe sowie der Demokratie selbst ist. Mit anderen Worten: Die Anfechtung der Wahlergebnisse und die Bezeichnung dieser als Fake durch den damaligen Präsidenten stiftete laut einiger politischer Analyst*innen extreme Rechte und Verschwörungstheoretiker*innen zu Aggressionen an.37 Politiker*innen weltweit, darunter Joe R. Biden Jr., verurteilten den Angriff auf das US-Kapitol als terroristischen Akt und als eine Bedrohung der Demokratie.38 Solche öffentlichen Aussagen, die ebenfalls über Medienkanäle verbreitet und in akademischen Kreisen diskutiert werden, könnten insofern bedeutungsvoll sein, als die bewusste Offenlegung und Verurteilung von Aggression, Lügen- und Hassdiskursen als eine bewusste Intervention wirken und damit den Priming-Effekt möglicherweise begrenzen könnte. Für Kayla Keener diente die Rhetorik der ›alternativen Fakten‹ der Alt-Right-Bewegung und Verschwörungstheoretiker*innen zur Verbreitung von Hass und Populismus im Netz via Twitter und Fake-­ News-Plattformen und in Folge auch als Zündstoff für Taten in der analogen Welt.39 Sie hält die »Legitimierung« von Fakes anstelle faktenbasierter Nachrichten, gemeinsam mit der »Mobilisierung von Affekten« durch populistische Diskurse, für verantwortlich für Eskalationen wie Pizzagate.40 Keener folgert, dass »Angst, Hass und Paranoia« extremistische Handlungen und Vorurteile auf der Grundlage einer »futurity of facticity« (einer Zukünftigkeit der Faktizität) rechtfertigen, in der die Quelle der Angst wahr geworden sein 20 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

könnte.41 Die Performativität postfaktischer Politik vermischt sich daher mit diskriminierenden Diskursen, die aus nationalistischen Gefühlen hervorgehen. Diese Vermischung rechtfertigt für viele Rechtspopulist*innen eine Politik sowie entsprechende konkrete politische Maßnahmen, die demokratischen Idealen abträglich sind. Laut Paolo Gerbaudo kündigte der Aufstieg des Rechtspopulismus einen Wendepunkt oder wenigstens einen Übergang in der Gegenwartspolitik an.42 Der Logik von Antonio Gramsci folgend, »the old is dying, and the new cannot be born«, betont Gerbaudo, dass die populistische Ära – die neue Ordnung – den Zusammenbruch der neo­liberalen Epoche markiert (G 46). Populismus kennzeichnet für Gerbaudo eine im Entstehen begriffene Epoche der zeitgenössischen Politik, in der der Ruf nach »popular sovereignty« (›Volks­souveränität‹) nicht nur bei rechtsextremen Gruppen in den USA, Großbritannien und Italien laut wird, sondern auch bei linken Gruppen während Occupy Wall Street, dem Arabischen Frühling und den spanischen Indignados (G 49). Er betont, dass der Neoliberalismus, der das System des staatlich regulierten Marktes und das der staatlich regulierten Wirtschaft ablehnte und stattdessen ein Modell von Freihandel, Unternehmertum und Wettbewerb anbot, als eine Reaktion auf den Sozialismus entstand (G 52). Außer­dem geht Gerbaudo davon aus, dass der Populismus sich der neoliberalen Modalität widersetzt, in welcher der populistischen Sicht zufolge der »Nationalstaat jeglicher substanzieller sozialer Ziele beraubt ist und sich alles nur noch um die effektive Teilnahme aller Nationen an einem wettbewerbsorientierten globalen Markt dreht« (G 52). Eine Rhetorik, die sich der Souveränität verschreibt, dient daher als populistischer Aufruf zugunsten des Nationalen und Autonomen anstatt der globalen und vernetzten Welt (G 52). Gerbaudo bemerkt: Where neoliberalism proposes the image of a globalized world, with no borders and no barriers, populism revolves around the assertion of territory and nation, and strong political communities founded within these discrete and bordered spaces. In short, populism attempts to recuperate the very principle by means of which neoliberalism initially launched its attack on socialism: popular sovereignty. (G 54)

Wie Gerbaudo beobachtet, streben tatsächlich sowohl die Linken als auch die Rechten nach mehr Selbstbestimmung, sie weichen daÜber eine doppelte Verunsicherung | 21

bei aber hinsichtlich ihrer jeweiligen Lösungsstrategien diametral voneinander ab. So hätte sich laut ihm die Linke in den neoliberalen Prinzipien verloren und müsse sich wieder stärker um die Beseitigung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten bemühen (G 54). Gleichzeitig kommen in der Erstürmung des Kapitols durch Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker*innen eine extremistische Vorstellung der »Volkssouveränität« sowie ein suprematistischer »Territorialanspruch« zum Ausdruck – Tendenzen, die weit davon entfernt sind, die soziale, nationale und wirtschaftliche Stabilität zu schützen, und stattdessen Demokratie, Diversität und die nationale Sicherheit gefährden. Gerbaudo bemerkt, dass der Exzess an offenen Systemen (Neoliberale Ökonomie, Politik und Handel) es den Rechten leichtgemacht habe, agoraphobische und fremdenfeindliche Gefühle zu fördern, die eine Vorstufe eines isolationistischen Nationalismus bilden, der »die Anderen« ablehnt (G  55  f.). Ein solcher verknüpft wirtschaftlichen und nationalen Protektionismus mit der Einziehung starrer Grenzen und dem Erlass von Verboten zum Nachteil gesellschaftlicher Minderheiten. Gerbaudo fordert die linke Souveränität als Lösung, da er diese für fortschrittlich hält, sie sich der Demokratie verschrieben habe und eher auf kapitalistische Institutionen und Korruption als auf »Ausländer*innen und Geflüchtete« reagiere (G  56). Er hält die Souveränität jedoch für eine Waffe, die vorerst in den Händen der Rechten liegt, die die zeitgenössische Politik dominieren (G 57). Gerbaudos Analyse weist auf eine Krise innerhalb der politischen Systeme selber hin. Und obwohl seiner Ansicht nach die eine Form des Populismus (die der Linken) der anderen (der der Rechten) vorzuziehen ist, kann man auch argumentieren, dass es doch von entscheidender Bedeutung ist, alle Formen von Souveränität und Populismus zu revidieren und zu verstehen, worin ihre jeweiligen Gefahren liegen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie darauf abzielen, die persönliche Freiheit, demokratische Werte, Menschenrechte und globale Beziehungen zu beeinträchtigen. Im virtuellen Spektrum können insbesondere die sozialen Medien genutzt werden, um etwa in diktatorischen Ländern (u. a. während des Arabischen Frühlings) unter Zensur stehende Informationen zu teilen und zu verbreiten. Andererseits nutzen aber beispielsweise auch US-Politiker*innen soziale Medien für sich, um persönliche 22 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Daten zu sammeln und auszuwerten und so die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Aufgrund von Onlineplattformen haben sich zeitgenössische Medien, Berichterstattung und Userinteraktion in dieser Hinsicht wechselseitig weiterentwickelt, so dass sich die eminent politische Frage stellt, ob soziale Medien wie etwa Facebook die Beiträge von Politiker*innen durch Faktenchecks überprüfen sollten, um die Verbreitung viraler Lügen zu verhindern. Doch die Überprüfung von Fakten ist ein komplexer und komplizierter Prozess, denn laut Global News nutzt Facebook dazu Drittunternehmen. So hat David Klepper betont, dass eines dieser Unternehmen, Check Your Facts, selbst nicht etwa unabhängig ist, sondern zu der konservativen Nachrichtenagentur The Daily Caller gehört.43 Schon dieser Fall deutet an, dass die Kontrolle von Social-Media-Inhalten höchst prekär ist, denn es stellt sich unweigerlich die Frage, wer kontrolliert, wer das Recht dazu hat und welche politischen oder geschäftlichen Interessen diesen Beteiligungen zugrunde liegen. Obwohl fact-checking zunächst einmal darauf abzielt, Lügen zu entdecken und zu entlarven, besteht also zugleich auch die Gefahr, dass es selbst zur Verbreitung voreingenommener Meinungen bzw. Urteile, zu Manipulationen oder gar zu einer Form von Zensur führt und dadurch den ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gefährdet. Im Oktober 201944 verteidigte Mark Zuckerberg die Vorgehensweise seines Unternehmens, Beiträge von Politiker*innen nicht zu löschen, indem er argumentierte, es sei dringender, Inhalte zu entfernen, die zu Gewalt aufrufen oder demokratische Prozesse untergraben, als politische Werbeanzeigen zu löschen, die Falschbehauptungen oder Lügen verbreiten, um so das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht zu beschränken.45 Seiner Ansicht nach sei es das Beste, Wähler*innen selbst zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu lassen.46 Vertreter*innen der Demokratischen Partei hingegen werteten diese Zurückhaltung Zuckerbergs als eine Form der Unterstützung für Trump,47 da sie befürchteten, der Verzicht auf Faktenchecks könnte Trump eine Plattform bieten, Millionen von Bürger*innen mit falschen, andere Politiker*innen angreifenden Behauptungen zu beeinflussen.48 Zwar ist diese Praxis der politischen Auseinandersetzung keinesfalls neu und war in Fernsehen und Rundfunk bereits seit Jahrzehnten üblich, wie etwa Craig Timberg in der Washington Post erinnert,49 sie Über eine doppelte Verunsicherung | 23

gewinnt allerdings durch die neuen bzw. die sozialen Medien eine neue Dimension, welche die Debatte verändert. Während Fake News im politischen Diskurs instrumentalisiert werden und auf das Verhalten der Anhänger*innen populistischer Politiker*innen Einfluss nehmen, werden sogenannte Deepfakes zu den »Superwaffen der postfaktischen Ära«, wie es Nauel Semaan ausdrückt.50 Deepfakes, also »hyper-realistische KI-generierte Videos mit Reaktionen oder Äußerungen von Personen, die diese selber niemals tätigten«, können die Demokratie und die innere Sicherheit unterminieren, indem sie es Bürger*innen und Behörden erschweren, zwischen authentischen und nicht authentischen Inhalten zu unterscheiden.51 Die Erstellung von Deepfakes beruht auf hochentwickelter Technologie, wie z. B. dem Austausch von Gesichtern (Face Swap), der Lippensynchronisation (Lip Sync) oder dem »Puppenspiel« realer Personen (Puppet Master).52 Im Fall der Puppenspieler*innen wird, wie Hany Farid und Hans-Jakob Schindler erklären, die »Zielperson […] von einem/-r Darsteller/-in, der/ die vor einer Kamera sitzt, animiert (Kopf- und Augenbewegungen, Mimik)«.53 Die Bedrohung der Deepfakes liegt laut Farid in ihrer »Einführung […] in ein Ökosystem, das bereits Fake News, Sensationsnachrichten und Verschwörungstheorien fördert«54. Farid, ­Shruti Agarwal und Schindler betonen ebenfalls die Gefährdung der Demokratie durch Deepfakes und leiten daraus die Notwendigkeit einer Modernisierung digitaler Werkzeuge ab, die zu ihrer Entlarvung dienen. Agarwal und Farid entwickeln solche Werkzeuge mit der Software OpenFace2, die es erlaubt, Fake-Videos zu ermitteln.55 Sie legten dazu eine Datenbank von mimischen Ausdrucksweisen und Kopfbewegungen von Politiker*innen an, aus denen anschließend korrelierende »soft-biometric«-Modelle ihrer idiosynkratischen Bewegungsmuster entwickelt werden.56 Beispielsweise wurden Videoaufnahmen von Hillary Clinton, Barack Obama, Bernie Sanders, Donald Trump und Elizabeth Warren durch OpenFace2 verarbeitet und bestimmte mimische Merkmale, »wie hochgezogene Augenbrauen, gerunzelte Nasen, Kieferbewegungen und zusammengepresste Lippen«, durch die Software identifiziert.57 Weitere Herausforderungen sind die ›Demokratisierung‹ von Deepfakes durch ihre freie Zugänglichkeit und durch die hohe Geschwindigkeit ihrer technologischen Verbesserung und Verfeine24 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

rung, denen gegenüber die Werkzeuge zu ihrer Aufdeckung immer im Hintertreffen sind. Ein weiterer Problemfaktor besteht laut Farid und Schindler in dem Umstand, dass der überwältigende tägliche und stündliche Strom von Uploads ins Internet unmöglich zu kon­ trol­lie­ren sei: »Facebook beispielsweise verzeichnet täglich etwa eine Milliarde Uploads und jede Minute werden auf YouTube etwa 500 Stunden Video hochgeladen.«58 Selbst die am höchsten entwickelten Werkzeuge (»High-Level-Ansätze«), die maschinelles Lernen einsetzen, um ausgeklügelte Deepfakes zu ermitteln, entpuppen sich einem solchen Übermaß an Daten gegenüber als unzureichend effizient. Deshalb empfehlen Farid und Schindler, diesem Feld der digitalen Forensik mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und weisen auf die Notwendigkeit technologischer Weiterentwicklungen in diesem Bereich hin. Dabei betonen sie jedoch, dass Beeinträchtigungen persönlicher Freiheiten verhindert werden sollten.59 Im Bereich der Kunst stellen Fakes, die von klassischen Kunstfälschungen unterschieden werden können, eine ästhetische Methode dar (vgl. Klaus Benesch in diesem Band). Deepfakes wurden zuerst in Filmen als ein Spezialeffekt für realistisch wirkende Szenen eingesetzt, so etwa in Forrest Gump aus dem Jahr 1994, wo der Protagonist in kunstvoll manipulierten Fernsehaufnahmen dem Präsidenten John F. Kennedy die Hand schüttelt.60 Die Blüte des Genres der Dokufiktion ist eine weitere Reaktion auf die Politik der ›alternativen Fakten‹ seit 2016. Der britische Film Death to 2020 ist dabei ein prominentes Beispiel; eine geistreiche Satire darüber, wie das titelgebende Jahr zu einem Symbol miteinander verstrickter Ereignisse in aller Welt, aber vor allem in den USA wurde, vom Klimawandel bis zur Pandemie, von den US-Wahlkampagnen bis zur Black-Lives-Matter-Bewegung.61 Der Film kombiniert dokumentarische Elemente (wie Augenzeug*innenberichte, Interviews, spezifische Daten und Orte, tatsächliche Ereignisse, Medienberichte, Filmmaterial und ein reportageähnliches Voice-Over) mit fiktiven Elementen und Charakteren. Er durchdringt reale Geschehnisse mit Fakes und formuliert so eine harsche Kritik der politischen und sozialen Verhältnisse im Lichte einer ›Fake-News-Kultur‹. Durch eine hyperbolische Darstellung von Desinformation und der affektgesteuerten Meinungsbildung nimmt Death to 2020 eine sarkastische Haltung zu den Ereignissen des Jahres ein. Die Auswirkungen Über eine doppelte Verunsicherung | 25

von Fake News auf Gesellschaft, Demokratie und Diversität werden so in satirischer Zuspitzung erfasst. Diese Satire des gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Lebens lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf die Sorge um die Performativität postfaktischer Diskurse, das Lügen politischer Akteur*innen, den Abbau von Fakten und den extremistischen Popu­lismus, die allesamt zu einer Unterdrückung ›der Anderen‹ führen und die Demokratie untergraben. Fake News und Deepfakes können dabei einer­seits politische Waffen oder andererseits ästhetische Kunstgriffe sein. Die ausgeklügelten Technologien, durch die sie entstehen, machen die postfaktischen Diskurse dabei nur noch komplizierter.

Fake News, ›Lügenpresse‹ und die ›Kunst‹ der Reportage – Claas Relotius und die Krise des Journalismus Eskalationen politischer Polarisierung stellen in Begleitung von Transformationen der Medienlandschaft durch neue Technologien aber nicht nur die politischen Institutionen vor neue Herausforderungen, sie bringen zudem den klassischen Journalismus – insbesondere in seiner klassischsten medialen Erscheinungsform, der Presse – als Instanz der Wahrheitsproduktion in eine prekäre Position. Diese Prekarität äußert sich einerseits in Form externer Bedrohungen, etwa durch die ökonomische Konkurrenz zu Online­medien oder durch aus politischen Bewegungen und Parteien kommende Vorwürfe ideologischer Voreingenommenheit bis hin zu Zensurbestrebungen. Sie affiziert andererseits aber auch den Journalismus in seinen internen Mechanismen der Ermittlung und Verifikation von Tatsachen. Beleg für diese innere epistemologische Krise des Journalismus ist nicht zuletzt der Grad von Erschütterung, den Fälschungsskandale, die es in der Geschichte des Journalismus eigentlich immer wieder gegeben hat, in jüngster Zeit im journalistischen Betrieb auslösen. Bereits zu Beginn des Jahrtausends sorgte die Entlarvung der gefälschten Prominenteninterviews, die Tom Kummer u. a. im SZMagazin veröffentlichte, für einiges Aufsehen und für Diskussionen über die Bedeutung postmoderner Vorstellungen von Erfindung 26 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

und Konstruktion für das journalistische Schreiben. Im Dezember 2018 schließlich wurde im deutschen Journalismus ein Fälschungsskandal aufgedeckt, der das Selbstverständnis des klassischen Journalismus als Instanz der Wahrheitsproduktion und demokratische Kontrollinstanz ebenso erschütterte, wie er seine Abgrenzung von populistischer Meinungsmache sowie übers Internet verbreiteter Scheininformation infrage stellte. Der Journalist Claas Relotius hatte zahlreiche Texte, die meisten davon im Auftrag des Spiegel geschriebene Reportagen, auf der Grundlage falscher – verzerrter, übertriebener, häufig frei erfundener – Informationen publiziert. Im Juli 2021 äußerte sich Relotius in einem langen Interview mit dem Schweizer Magazin ­Reportagen erstmals öffentlich über den von ihm verursachten Skandal. Relotius zeichnet in diesem Gespräch das Selbstporträt eines an Realitätsverlust leidenden jungen Mannes, der mit exzessivem Schreiben psychotische Krisen abzuwehren oder zu bewältigen sucht.62 Er trat damit auch der Darstellung seines ehemaligen Spiegel-Kollegen Juan Moreno, dem entscheidenden Akteur bei der Aufdeckung des Skandals und daher einer Art Gegenfigur von Relotius, entgegen. Moreno hatte Relotius in seinem Bestseller Tausend Zeilen Lüge als primär karriereorientierten Hochstapler beschrieben, der strukturelle Schwachstellen im journalistischen Betrieb strategisch ausgenutzt habe.63 Interessanter und aufschlussreicher als die Figur Relotius und die Frage nach seinen Intentionen und Motivationen ist jedoch die Diskussion darüber, wie seine Fälschungen nicht nur jahrelang unentdeckt bleiben konnten, sondern zudem geradezu sensationell erfolgreich waren.64 Diese Diskussion wurde insbesondere von politischen, medien­polit­ischen sowie genre­ stilistischen und fiktionstheoretischen Fragestellungen geprägt. Moreno verortet eine der Ursachen für die Popularität der gefälschten Reportagen in ihrer Fähigkeit, sich stereotypen Wirklichkeitsbildern der Leser*innenschaft anzuschmiegen: Relotius hat Sehnsüchte bedient, hat das Menschliche, das Verunsicherte in uns angesprochen. Viele wollten glauben, was er schrieb, denn es war, was seine Leser glaubten. Er beschützte sie vor der Wahrheit. […] Ein Relotius-Text machte einen nicht schlauer, er gab einem aber das Gefühl, bereits schlau zu sein. Hatte da doch jemand in mühevoller Arbeit genau das zusammengetragen, was man schon immer ahnte. 65 Über eine doppelte Verunsicherung | 27

Die Leser*innen, die sich derart täuschen ließen, waren dabei nicht nur Käufer*innen und Abonnent*innen eines Magazins, sondern auch die Mitglieder von Redaktionen und Preisjurys. Journalistische Professionalität und Erfahrung immunisierte diese offenbar nicht dagegen, die Bestätigung eigener (womöglich uneingestandener) Vorurteile mit Erkenntnisgewinn zu verwechseln. Morenos Beschreibung des Wirkmechanismus von Relotius’ Texten erscheint dabei fast wie ein Echo von Hannah Arendts Überlegungen zur Rolle von Lügen in der Politik, die sie 1971 anlässlich der Veröffentlichung der sog. ›Pentagon Papers‹ anstellte: »Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.«66 Während jedoch die in den ›Pentagon-Papers‹ öffentlich gemachte systematische Täuschung der Öffentlichkeit ›nur‹ einen weiteren Beleg lieferte für einen den Bevölkerungen westlicher Demokratien vollkommen bewussten Widerspruch zwischen der öffentlichen Image-Politik ihrer Regierungen und deren militärischer und geheimdienstlicher ›Realpolitik‹, liegt die Brisanz der Relotius-Affäre auch darin, dass sich mit dem Journalismus eine vermeintliche Korrekturinstanz dem Vorwurf aussetzt, selbst als Produktionsstätte politischer Lügen zu fungieren. Den Vertreter*innen politisch rechter Organisationen wurde Relotius nach Aufdeckung der Affäre zum Paradigma der ›Lügenpresse‹, die Informationen systematisch zugunsten einer vermeintlich links-liberalen Medienagenda verfälsche. Allerdings gleichen die Texte Relotius’, anstatt eine konstante politische Ausrichtung erkennen zu lassen, ihre ideologischen Akzente offenbar ihrem jeweiligen Publikationskontext an, warten sie im konservativen Cicero mit ebenso wenig Skrupeln mit fantastischen Zahlen über Blutfehden in Albanien67 auf, wie sie im Spiegel Berichte über Trump-Anhänger*innen mit den etablierten Klischeebildern schießwütiger Hinterwäldler dekorieren. Der Relotiusskandal lässt sich ebenso als ironischer Kommentar auf alle Versuche des klassischen Journalismus lesen, sein Selbstverständnis als Quelle seriöser Information von einer Abgrenzung zur vor Fake News strotzenden digitalen Sphäre abzuleiten. Denn gerade die Differenz und Distanz zwischen gedruckten und digitalen Medien nutzte Relotius aus, indem er seine Artikel aus im 28 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Internet gefundenen Versatzstücken zusammenfügte, gleichzeitig aber auf einer ausschließlichen Veröffentlichung im Print-Bereich beharrte und so eine Überprüfung mit digitalen Kontrollwerkzeugen erschwerte. Das ›Phänomen Relotius‹ lässt sich also mit gleicher Berechtigung als Symptom unzureichender Anpassung des klassischen Journalismus an das digitale Zeitalter beschreiben, wie als Symptom dieses Zeitalters selbst.68 Der 2019 veröffentlichte Abschlussbericht der vom Spiegel eingesetzten Aufklärungskommission weist schließlich darauf hin, dass die »Erzählweise« der »Reportage« sich »aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion« bediene, was das »Problem und die Grenzen dieser Methodik für Journalismus sehr deutlich« mache, denn »[s]prachliche Ausschmückung von Szenen oder die Illumination von Orten, Verhältnissen, Gedanken und Beziehungen verwischen die Grenze zur Literatur«.69 In dieser Beschreibung klingen Argumentationsmuster aus früheren Grenzkonflikten zwischen Literatur und Journalismus nach, wie etwa die inzwischen sogar als Broadway-Theaterstück inszenierte Auseinandersetzung zwischen dem Faktenchecker Jim Fingal und dem Autor John D’Agota über dessen Essay »What Happens There«, in dem der Verfasser niemals nur »Journalismus produzieren« wollte und die »ausgebreiteten Fakten […] nicht einfach nur als bloße ›Fakten‹ fungieren«, sondern vielmehr literarisch eine tiefere »Bedeutung« vermitteln sollten.70 Insofern bildete der ›Fall Relotius‹ auch Anlass zu einer spezifischeren Debatte über den epistemischen Status der journalistischen Gattung der Reportage und deren gefährliche Affinität zu den Erzählstrategien literarischer Fiktion. Dabei reichte das Meinungsspektrum der Debattenbeiträge von dezidierter Ablehnung eines Storytelling im Journalismus71 über die Verteidigung der guten Reportage gegen den Vorwurf der Literarizität72 bis zu dem Argument, dass Relotius’ Reportagen gerade Qualitäten guter literarischer Texte, wie das Zulassen von Ambiguität und das Sichtbarmachen von Erzählperspektiven, auffällig fehlten,73 sie also eher nicht literarisch genug seien. Die plausibelste Auflösung dieser Kontroverse scheint aus einer Kombination der zweiten und der dritten Position zu bestehen: (Gute) Reportagen erreichen durch ihren Wirklichkeitsbezug und ihre Orientierung an ethischen Maßstäben zu gewissenhafter journalistischer Darstellung, was (gute) Über eine doppelte Verunsicherung | 29

litera­rische Texte mit genuin literarischen Strategien auslösen. Beide geben einer Faszination an Komplexität und Uneindeutigkeit Raum, die gerade dadurch besonders fesselnd ist, dass sie sich nicht trennscharf von emotional unbefriedigenden Zuständen der Beunruhigung und Orientierungslosigkeit unterscheiden lässt.

Zur Geschichte der Tatsachen und ihrer Feststellbarkeit Stellt man all diese berechtigte Kritik einmal beiseite, so scheint die Kontroverse um Claas Relotius sowie die Problematik des Faktencheckens von Fake News oder ›Alternative Facts‹ – sei es bei Facebook, der Tagesschau oder der Washington Post – mit einem Faktenverständnis einherzugehen, das zwischen den Polen der binären Opposition von ›wahr‹ und ›falsch‹ nur wenig Spielraum lässt. Dem scheint v. a. die sich im 19. Jahrhundert gemeinsam mit der – sich zunehmend als Welt- und Wirklichkeitserklärungs­instanz definierenden – (objektiven) Naturwissenschaft durchsetzende Annahme zugrunde zu liegen, dass »rohe Facta der Sinnenwelt«74 sich unmittelbar und unbeeinflusst beobachten ließen, also mit den erfahrungsmäßig gegebenen Phänomenen in eins gesetzt werden könnten und als solche »per definitionem wahr« seien75. So konnten bspw. die englischsprachigen Herausgeber der Werke Francis Bacons im 19. Jahrhundert die ›res‹, also die Dinge (der Außenwelt), ohne Umstände als ›facts‹ übersetzen,76 und so entwickelte sich ein vulgärer – der philosophischen Strömung des Positivismus keinesfalls gerecht werdender – ›positivistischer‹ Tatsachenbegriff, der – in den kritischen Worten Friedrich Nietzsches – durch ein »Stehenbleiben-Wollen vor dem Tatsächlichen, dem factum brutum« charakterisiert sei77 und der das heutige Verständnis der ›hard facts‹ oder des ›Bodens der Tatsachen‹ vorbereitete. Wo genau dieser ›Boden‹ – wenn es denn nur einen gibt – verlassen wird und wo die Lüge, die Fake News oder die ›Alternative Facts‹ beginnen, lässt sich aber keinesfalls so sicher markieren, wie es in diesem vulgärpositivistischen Verständnis bisweilen den Anschein macht. Genaugenommen war dies zu keinem Zeitpunkt der Fall: Die nun schon mehrfach ausgemachte doppelte Verunsicherung steht nicht nur ganz zu Beginn des Diskurses der Faktizität, sondern begleitet ihn 30 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

seither auch bis heute. Es lohnt sich also, spätestens an dieser Stelle einen Schritt zurückzutreten und sich der Geschichte der Tatsachen und ihrer Feststellbarkeit zu widmen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass wir im Deutschen nicht nur von ›Fakten‹, sondern auch von ›Tatsachen‹ sprechen. Ein Blick ins Wörterbuch lehrt, dass beide weitgehend synonym verwendet wurden und werden. Während sich ›Fakt‹ aber etymologisch bis ins Lateinische – auf ›factum‹ (›Tat‹, ›Ereignis‹) – zurückführen lässt, hat »das Wörtlein Tatsache« eine deutlich jüngere Geschichte78: Gotthold Ephraim Lessing bspw. wusste sich Ende des 18. Jahrhunderts »der Zeit noch ganz wohl zu erinnern, da es noch in Niemands Munde war«, und doch hat es »in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht […], daß man in gewissen Schriften kein Blatt umschlagen kann, ohne auf eine Tatsache zu stoßen«.79 Dieses junge ›Wörtlein‹ kapert also gewissermaßen den Faktendiskurs und bestimmt dessen Stoßrichtung und fortan das, was man als ›Fakt‹ oder ›Tatsache‹ versteht. Erstmals 1756 als Übersetzung der englischen ›matters of fact‹ durch Johann Jacob Spalding ins Deutsche gelangt, meint die »Thatsache (Res facti)« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas, das »wir in der Erfahrung«, »wirklich« und »gegenwärtig[]« – und wie es im Original heißt: »independent on this or that speculation« – »wahrnehmen«.80 Sie bezeichnet so um 1800 eine »Handlung oder That«, die »als Sache für sich, als eine bestehende, fortdauernde Sache […] von allen Seiten betrachtet und beurtheilt werden kann«.81 Es geht also um eine epistemologische Kategorie der ›Wahrnehmung‹ oder ›Betrachtung‹ einer ›Handlung oder Tat‹ als ›Sache für sich‹, die aus ›Spekulationen‹, aus Kontexten, Meinungen oder Interpretationen herausgelöst ist und so einen möglichst sicheren Boden bereiten soll für eine unverfälschte und unbeeinflusste ›Beurteilung‹ dessen, was der Fall ist. Wie die Rede von der ›Beurteilung‹ andeutet, war sich auch das 18. Jahrhundert bereits darüber im Klaren, dass die ›Tatsache‹ aus dem englischsprachigen juristischen Diskurs ins Deutsche gelangt war. Genaugenommen lässt sich die Genese der ›matters of fact‹ im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert verorten und damit in einer Zeit, die einerseits geprägt war durch geographische, wissenschaftliche und philosophische Umbrüche und andererseits durch Reformation und Gegenreformation, gesellschaftliche Polarisierung Über eine doppelte Verunsicherung | 31

und kriegerische Auseinandersetzungen. Das Konzept der Tatsache entsteht so in einer Welt der tiefen sozialen, politischen, religiösen und epistemologischen Verunsicherung, in der sich – befeuert durch die medientechnologische Revolution des Buchdrucks – eine zunehmende Auflösung traditioneller Gewissheiten zu vollziehen scheint. Je weniger aber gewiss war, was als ›wahr‹ und ›wirklich‹ anerkannt werden konnte, desto größer wurde die Notwendigkeit einer Methode, mit der sich auch jenseits absoluter Gewissheiten feststellen lassen könnte, was der Fall ist. Descartes philosophischer Zweifel aus dem Discours de la méthode (1637) lässt sich vor diesem Hintergrund verstehen, zum Modellraum wird um 1600 aber vor allem der Gerichtshof, der sich von Haus aus mit dem Problem konfrontiert sieht, über ungewisse, noch nicht gesicherte Sachverhalte möglichst unbeeinflusst urteilen zu müssen82 (vgl. auch Jocelyn Holland in diesem Band). In erneuerndem Rückgriff auf die römische Rechtsregel Da mihi factum, dabo tibi ius (Gib’ mir die Fakten, ich gebe dir das Recht) entwickelte das britische Common Law dazu ein Verfahren, das in einer Strategie der strukturellen Herauslösung und personellen Trennung der Tatsachen (matters of fact) von den Rechtssachen (matters of law) bestand: Erst wenn eine mit unparteiischen Laien besetzte Geschworenen-Jury die strittigen ›Tat-Sachen‹ durch spezifische Prozeduren und unabhängig von der Urteilsbildung festgestellt hatte, wurde ein Fall der Rechtssprechung und also der juristischen Interpretation durch (professionelle) Richter übergeben. Auf diese Weise sollte die Feststellung der Tatsachen, und nichts als der Tatsachen, möglichst ›neutral‹, jenseits individueller Meinungen, Schlussfolgerungen oder Interpretationen erfolgen, um Wahrheit und Wirklichkeit am ehesten entsprechen zu können. Dieses juristische Verfahren machte in der Folge bald Schule. Die epistemologische Kategorie der Tatsache wurde nach und nach u. a. in die Historiographie und Theologie, ins Nachrichtenwesen und die Kameralistik sowie – infolge Francis Bacons – insbesondere in die zunehmend empirisch, auf ›natürliche Tatsachen‹ ausgerichtete Naturphilosophie bzw. -geschichte übertragen. Diese Disziplinen griffen nicht nur Verfahrenstechniken wie Detailbeobachtung oder (experimentelle) Überprüfung von Zeugnissen auf, sondern übernahmen in Gelehrtengesellschaften wie der Leopoldina, den Pariser Académies oder der Royal Society of London auch die kollektive 32 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Entscheidungsfindung. Sie bildeten im – engeren – Sinne Ludwik Flecks ein »Denkkollektiv« als »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«83, und nahmen so im Feld der Wissenschaft die Systemstelle der Geschworenenjury ein (zur Konstruktion wissenschaftlicher Fakten in Kollektiven siehe auch Marc Rölli in diesem Band). Dass aber selbst derart gewonnene Tatsachenwahrheiten keine Gewissheiten sind und es die Geschworenen oder Gelehrten als »Richter der Tatsache« also nur mit »Glaubwürdigkeit« und »Wahrscheinlichkeit« zu tun haben konnten, war auch den Gelehrten des 17. Jahrhunderts von Matthew Hale über Francis Bacon oder Gottfried Wilhelm Leibniz bis zu Émilie du Châtelet bewusst.84 Besonders deutlich macht dies John Locke, der das »Konzept der Tatsache« (Shapiro) verallgemeinerte und damit entscheidend dazu beitrug, dass es im 18. Jahrhundert zu allgemeiner Bekanntheit und alltagskultureller Relevanz gelangte. Eine »Tatsache« (matter of fact), so schreibt er in seinem epistemologischen Klassiker An Essay Concerning Humane Understanding (1689), sei »der Wahrnehmung zugänglich« und könne »darum auch von Menschen bezeugt werden« (L 353).85 Da »[u]nser Wissen« aber »ein sehr beschränktes« ist, sei es nur selten möglich, »sichere Wahrheiten aufzufinden«, so dass auch in Bezug auf Tatsachen »keine Gewißheit« bestünde, »sondern nur einige Anlässe, diese […] für wahr zu halten« (L  344  f.). Daher habe man es nicht mit »Wirklichkeit« oder »Wahrheit«, sondern nur mit einem »Schein der Wahrheit« zu tun, an die man sich aber annähern könne, indem möglichst viele »Gründe der Wahrscheinlichkeit« zusammenkommen (L 345). Beeinflusst von dem zeitgenössischen juridischen Diskurs bringt Locke damit die Rationalitätsform eines modernen, noch vormathematischen Wahrscheinlichkeitskonzepts ins Spiel,86 das die undifferenzierte Unterscheidung zwischen (absoluter) Gewissheit und Nicht-Wissen durch »Grade und Ursachen der Wahrscheinlichkeit« ersetzt, von denen »manche […] so nahe an Gewissheit [grenzen], daß gar kein Zweifel an ihnen in uns erregt wird« (L 344). Penibel listet er daher in den Kapiteln »Über die Wahrscheinlichkeit« (Of Probability) und »Über die Grade der Zustimmung« (Of the Degrees of Assent) die für Tatsachenfeststellungen allgemein relevanten Kriterien der »Wahrscheinlichkeit« auf: Eine »Einzelheit, die mit Über eine doppelte Verunsicherung | 33

der ständigen Beobachtung, die wir und andere in ähnlichen Fällen machen, im Einklang steht« (L 353), könne »je nach der Zahl und Glaubwürdigkeit der Erzähler, je nach ihrem geringeren Interesse an wahrheitswidrigen Aussagen auf mehr oder weniger Glauben rechnen« und so »in sich selbst mehr oder weniger wahrscheinlich« sein (L  346  f.). Eine Tatsache (matter of fact) lässt sich demnach anhand von mindestens vier Kriterien fest- und also herstellen: 1) Abgleich mit der eigenen empirischen Erfahrung, 2) intersubjektive Überprüfung durch das Kollektiv der ›Richter der Tatsache‹ sowie durch die Pluralität der Zeugnisse, 3)  extrinsische »Glaubwürdigkeit« der Zeug*innen sowie 4) intrinsische »Wahrscheinlichkeit der Sache« (L 343).87 Über Fakten als Tatsachen lässt sich mithin festhalten: Fakt ist nicht, was alternativlos der Wirklichkeit und Wahrheit entspricht. Fakt ist, was eine möglichst große Zahl bestimmter als urteilsfähig oder glaubwürdig angesehener Menschen aufgrund einer möglichst großen Zahl an bestimmten Zeugnissen für möglichst wahrscheinlich und also für wahr und wirklich hält. Die Frage nach der Wahrheit wandelt sich so in der Moderne zu einer Frage nach der Wahrscheinlichkeit, in deren Namen der Bezug auf Wirklichkeit immer neu verhandelt wird (zu Wirklichkeitskonstruktionen in diesem Zusammenhang vgl. auch Dirk Baecker in diesem Band). Unter Rückgriff auf die von Hans Blumenberg entwickelten Wirklichkeitsbegriffe ließe sich daher sagen, dass die ›Wirklichkeit‹ der Tatsachen weder ›evident‹ noch ›garantiert‹ ist, sondern »Resultat« der »Realisierung eines in sich stimmigen Kontextes« und damit »Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung«88. Sie ist wahrscheinliches Ergebnis eines empirischen und kollektiven – poten­ziell unabschließbaren – Beglaubigungsprozesses. Zu den festgestellten Fakten und der faktischen Realität kann es also durchaus Alternativen geben, wenn sich die kollektiven Spielregeln der Wahrscheinlichkeit ändern: Im Hinblick auf Lockes vier Kriterien könnte man etwa an eine unterschiedliche Gewichtung der extrinsischen (3) gegenüber der intrinsischen Wahrscheinlichkeit (4) denken, so dass bspw. das ›Image‹ oder das ›Wahr-Sprechen‹ bzw. der ›Wahr-Schein‹ von ›authentisch‹ Sprechenden wichtiger wird als der Wahrheits- und Wirklichkeitsbezug der strittigen Sache (vgl. hierzu Elisabeth Bronfen sowie Chiara Cappelletto in diesem 34 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Band). Dafür ließen sich unzählige Beispiele von Niccolò Machia­ velli als frühem Strategen der politischen Lüge und des Images bis zu den »Lügen Trumps« nennen, die man bisweilen als »›ehrlicher‹ als die ›hochgestochenen Pseudowahrheiten‹ seiner Konkurrentin Clinton« bezeichnet hat.89 Darüber hinaus hat Locke selbst darauf hingewiesen, dass bspw. der »König von Siam« etwas als unwahr(scheinlich) und also als Lüge entlarven könnte, was ­einem ihn besuchenden europäischen Gesandten als unverrückbare (wissenschaftliche) Wahrheit gilt (L  346  f.), da unterschiedliche regionale oder kulturelle Erfahrungshorizonte die Faktizität der Fakten maßgeblich beeinflussen, insofern diese an der eigenen empirischen Erfahrung ausgerichtet ist (1). Dass auch diese Erfahrung selbst zum Problem werden kann, wird im Folgenden noch eine größere Rolle spielen. Zunächst einmal ist aber wichtig, dass nicht nur die Quantität der Erfahrung, der Urteilenden, der Zeugnisse oder Zeug*innen (2), sondern auch und gerade ihre Qualität entscheidend ist. In diesem Sinne greifen u. a. soziale Inklusions- und Exklusionsverfahren bzw. politische Sichtbarkeitsregime deutlich ins Spiel der Fakten ein: Wer oder was für glaubwürdig bzw. wahrscheinlich erklärt wird – so lässt sich mit Blick auf den historischen Tatsachen-Diskurs des 17. Jahrhunderts sagen –, hängt wesentlich von sozialen Kategorien wie Geschlecht, gesellschaftlichem oder ökonomischem Status, Religion oder Bildungsgrad ab, so dass etwa Frauen ebenso wie niedere Angestellte vor Gericht als besonders unglaubwürdig galten, als Geschworene überhaupt nicht und nur selten als Akademiemitglied infrage kamen und so aus dem Prozess der Konstituierung der Tatsachen weitestgehend ausgeschlossen wurden.90 Auch dem wird im Kontext der ideologischen Dimensionen der Fakten-Produktion noch nachzugehen sein. Schließlich ist auch die intrinsische »Wahrscheinlichkeit der Sache selbst« (4) nicht unabhängig von konstruktiven – wenn man so will: poietischen – Prozessen (vgl. auch Carolin Amlinger und Nicola Gess in diesem Band). Um eine Tatsache über einen ›in sich stimmigen‹, kausalen Erklärungszusammenhang der beobachteten und bezeugten Geschehnisse als wahr(scheinlich) feststellen zu können, muss dieser erst einmal durch (Begründungs-)Narrative her­gestellt werden: Das zeigt sich bspw. in historischen Gerichtsprozessen anhand der species facti, der verkürzten, pointierten und Über eine doppelte Verunsicherung | 35

oftmals verzerrten »Erzählung, Geschichte, Historie eines vorvergangenen Handels«91; das wird als Problem der aphoristisch kurzen Faktographie der in einem naturwissenschaftlichen Experiment freigelegten natürlichen Tatsachen und ihrer Ordnung deutlich92; und das tritt auch in der Geschichtsschreibung als »emplotment« (White) bzw. »Fiktion des Faktischen« (Koselleck) zutage, wenn dort historische Tatsachen in kausallogische und plausible ›wahrscheinliche‹ Handlungszusammenhänge, Plots, Gattungs- und Erzählmuster eingeschrieben werden.93 Zwar bedeuten diese Vorgänge narrativer Form(ulier)ung – je nach Grad der Selektion, Motivierung, (Re-)Strukturierung und damit einhergehender Reduktion von Referenzialität – nicht notwendig eine Fiktionalisierung des erzählten Geschehens. Die derart über Stimmigkeit, Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit bestimmte faktische Realität der Tatsachen gerät aber zumindest in die Nähe der fiktionalen Realität der Dichtung, die ja seit der aristotelischen Poetik immer wieder ganz ähnlich bestimmt worden ist. Die »Aufgabe des Dichters«, so heißt es dort, bestehe – im Gegensatz zur (Natur-)Geschichtsschreibung – gerade nicht (zwingend) darin, »mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« (1451 a).94 Wie problematisch diese Unterscheidung aber in der Moderne geworden ist, hat bereits Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie bemerkt: Wenn geschichtliche, juristische oder wissenschaftliche Tatsachen als Feststellung dessen, was wirklich geschehen ist, ebenfalls durch »innere Wahrscheinlichkeit« und »Glaubwürdigkeit« und also nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmt werden, so würden »eine gänzlich erdichtete Fabel« und »eine wirklich geschehene Historie« fortan ununterscheidbar.95 Es sei »eins«, so heißt es noch pointierter in seinem Drama Nathan der Weise, ob man sich etwas »Nur bloß so dichtet, oder ob’s geschehn«, also »[e]in Faktum« ist.96 Ob auf dem Parkett des Gerichtssaals, im Labor der Naturwissenschaft, im Archiv der Geschichtsschreibung oder auf der Bühne des Theaters – es geht stets um Fragen der Wahrscheinlichkeit und nur durch diese lässt sich Wirklichkeit feststellen.97 Das führt gut vierzig Jahre später auch Heinrich von Kleist vor dem Hintergrund dieser diskursiven (Problem-)Geschichte der Tat36 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

sachen in begrifflich hochdifferenzierter Weise vor.98 In Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten (1811) »erzählt[]« ein »alter Offizier«, »der sich der Lüge niemals schuldig machte«, in einer »Gesellschaft« drei »abenteuerliche[] Geschichte[n], die er für wahr ausgab«, weil sie auf bezeugten ›wahren‹ Begebenheiten beruhten (K  277  f., 280). Verweist schon der Titel auf jene aristotelische Unterscheidung von Dichtung, Historie und Philosophie bzw. Wissenschaft, so macht ›die Gesellschaft‹ diesen Bezug explizit, indem ganz am Ende eines ihrer Mitglieder erkannt haben will, dass »[d]ie dritte Geschichte« im »Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der vereinigten Niederlande« stehe (K  280  f.). Darin habe »der Verfasser« sogleich »ausdrücklich« bemerkt, »daß ein Dichter von diesem Faktum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtsschreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genötigt sei, dasselbe aufzunehmen« (K 281). Unübersehbar finden sich hier also alle vier Kriterien zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und Feststellung eines ›Faktums‹ versammelt, wenn auch nicht erfüllt: Die Geschichte lasse sich durch mehrere ›übereinstimmende‹ Quellen bezeugen, welche selbst ›unverwerflich‹, also glaubwürdig, seien und so ihre Wahrheit und Wirklichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit intersubjektiv als (historische) Tatsache beglaubigen – und das, obwohl diese Geschichte intrinsisch unwahrscheinlich bzw. der empirischen Erfahrung gerade nicht glaubwürdig, also wahr erscheint und daher als Dichtung völlig unbrauchbar sei. Genau dort setzt aber Kleists Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten als literarischer Text an und stellt die klassische Konstitution der Dichtung genauso wie der Tatsache vor erhebliche Probleme: Er laufe »Gefahr«, so bekennt nämlich der niemals lügende »Erzähler« vorab, »für einen Windbeutel gehalten zu werden« (K 277), seien doch seine Geschichten »von der Art, daß man sie nicht glaubt« (K 278). Zwar forderten »die Leute« zumeist, »als erste Bedingung der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich« sei, »doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit« (K 279). Das Kriterium der empirischen Erfahrung, das der Tatsachenfeststellung zunächst entgegenstand, verlangt nun, mit anderen Worten, gerade die Unwahrscheinlichkeit zum Prinzip des Wahr(scheinlich)en zu ernennen. Genau dort habe die Dichtung ihren Ort. Denn wenn »die Geschichten« in der Über eine doppelte Verunsicherung | 37

Folge diesen »Satz belegen« (K 280), so entwirft Kleist gewissermaßen eine poetische Gerichtssituation, in der die drei Erzählungen eine beglaubigende Funktion einnehmen und ›der Gesellschaft‹ als Geschworenen- oder Gelehrtenjury zur Beurteilung übergeben werden: Die Wahrscheinlichkeit der Geschichten selbst spielt also nur insofern eine Rolle, als sie Unwahrscheinlichkeit demonstrieren. Gerade die unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit der drei darin ebenfalls ›übereinstimmenden‹ Geschichten bezeugt damit die Wahrscheinlichkeit der »unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeit«, die nur im Modus der Dichtung formuliert, dennoch am Ende durch ›die Gesellschaft‹ kollektiv als »Faktum« festgestellt werden kann (K 281).

Propositionale Wahrheit, kulturelle Faktizität Die Opposition von ›wahr‹ und ›falsch‹ erfährt im Prozess der Verwissenschaftlichung von Philosophie eine Radikalisierung in der Entgegensetzung von ›sinnvoll‹ und ›sinnlos‹. Der »Logische Empirismus« des Wiener Kreises, der in einer radikalen Abkehr von der klassischen Philosophie im Allgemeinen und von der Metaphysik im Speziellen die Philosophie als szientistische Wissenschaftstheorie erneuern wollte, baut dabei auf Tatsachentheorien auf, die von Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein angestoßen wurden. War es dem Positivismus im Sinne einer positiven Wissenschaft um »Beschreibungen« der erfahrungsmäßig gegebenen Phänomene zu tun, welche als Gesetze zu verallgemeinern wären, so geht es dem »Logischen Empirismus« oder Neopositivismus um eine Analyse der »logischen Syntax der Wissenschaftssprache«, mit der wissenschaftliche Sätze entweder als entweder wahr oder falsch bestimmt oder als Schein entlarvt werden.99 Ob Sätze »sinnvoll« oder »bedeutungsleer« sind, wie es der Programmschrift des Wiener Kreises Wissenschaftliche Weltauffassung zu entnehmen ist, lässt sich mit der antimetaphysischen »Methode der logischen Analyse« insoweit feststellen, als »sinnvolle Sätze« auf empirisch gegebene Daten rückführbar sein müssen.100 Tatsachen werden sprachanalytisch als etwas bestimmt, das als eine Art ›Wahrmacher‹ Aussagen für wahr erklärt. Tatsachen wer38 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

den also nicht als simple Gegenstände, sondern als Sachverhalte begriffen, die für die Verifikation von Propositionen verantwortlich sind. Als Tatsache wird demnach all das adressiert, was als Sachverhalt oder Entität sprachunabhängig gegeben ist. Eine so vertretene Tatsachenontologie, wie sie sich bei Bertrand Russell und beim frühen Ludwig Wittgenstein findet, hat aber erstmals grundsätzlich zu klären, wie sich diese Entitäten, die als Tatsachen etwas wahrmachen, von anderen Einzeldingen und Eigenschaften unterscheiden. Für Wittgenstein ist das, »was der Fall ist, die Tatsache«, womit »das Bestehen von Sachverhalten« gemeint ist. »Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). […] Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit.«101 Mittels elementarer Sachverhalte, die Wittgenstein als atomistisch und autonom begreift, lassen sich kontingente Propositionen als wahre bestimmen, weil die ontologische Verfasstheit der Realität mit der logischen Struktur der Sprache übereinstimmen muss, sofern diese über jene überhaupt etwas aussagen soll (vgl. Marcus Steinweg in diesem Band). Kaum anders, wenn auch mit anderen Konsequenzen, die zum Bruch zwischen ihnen führen sollten, wurde diese logisch-atomistische Auffassung zeitgleich von Bertrand Russell vertreten. Wie für Wittgenstein stellen für Russell Einzelgegenstände allein noch keine Tatsachen (states of affairs) dar, weil sich diese im Gegensatz zu Einzelgegenständen nicht benennen, sondern nur behaupten, wünschen oder verneinen lassen. »Wir drücken z. B. eine Tatsache aus«, so Russell, »wenn wir von einem bestimmten Ding sagen, daß es eine bestimmte Eigen­schaft hat oder in einer bestimmten Relation zu einem anderen steht.«102 Für die Tatsache, dass bspw. Donald Trump lebt und nicht tot ist, bedarf es konstitutiv eines Individuums (Gegenstand a) und e­ iner Qualität (Eigenschaft F). Die Tatsache a F, die bei dem Beispiel von Trump als eine singuläre oder partikulare Tatsache zu bezeichnen wäre, besteht nun in der Verhältnisbestimmung von Gegenstand a und Eigenschaft F, obgleich erst die Tatsache a F die mit ihr korrespondierende Aussage wahr oder falsch macht, dass Gegenstand a die Eigenschaft F besitzt. Den singulären Tatsachen stellt Russell allgemeine oder generelle zur Seite, die etwas aussagen, das grundsätzlich der Fall ist. Als Beispiel nennt er den Umstand, »dass alle Menschen sterblich sind«. Diese aussagenlogische Definition, wie Über eine doppelte Verunsicherung | 39

sich Tatsachen denken lassen, sagt aber noch nichts darüber aus, ob Tatsachen wahr oder falsch sind, auch wenn nach Russell falsche Propositionen, wie die, »dass sich die Sonne um die Erde dreht«, keine relationale Übereinstimmung mit der sprach- wie geistunabhängigen Tatsachenwelt besitzen. Die Kenntnis von Tatsachen unterscheidet sich von der Kenntnis der Gegenstände auch dadurch, wie Russell in seinem berühmten Wahrheitskapitel in Problems of Philosophy 1912 schreibt, dass Erstere falsch, Letztere aber nicht falsch, sondern nur nicht vorhanden sein kann: Unsere Erkenntnis von Wahrheit hat – anders als unsere Erkenntnis von Dingen – ein Gegenteil, nämlich den Irrtum. Wenn es um Dinge geht, erkennen wir sie oder wir erkennen sie nicht; aber es gibt keinen Bewußtseinszustand, den man etwa als irrtümliche Erkenntnis von Dingen bezeichnen könnte, jedenfalls nicht, solange wir uns auf Erkenntnis durch Bekanntschaft beschränken.103

Dinge werden einem Subjekt unmittelbar durch Bekanntschaft (knowledge by acquaintance) bewusst, Tatsachen nur mittels Beschreibungen (knowledge by description), für deren Verständnis die Bekanntschaft mit den jeweiligen atomistischen Einzelteilen (Gegenstände und Eigenschaften) konstitutiv ist. Eine Theorie der Wahrheit hat, sofern sie logisch begründet sein will, nach Russell drei Kriterien gerecht zu werden: Wahrheit lässt sich erstens nur als antonymische Relation denken, weshalb Falschheit vonnöten ist; zweitens haben beide, Wahrheit wie Falschheit, Eigenschaften von Meinungen, Urteilen oder Überzeugungen zu sein, obgleich drittens die Kriterien für Wahrheit oder Falschheit nicht in den Meinungen, sondern außerhalb dieser in den Tatsachen zu situieren sind. Aussagen, mit denen Meinungen kundgetan, Urteile gefällt oder Überzeugungen verlautbart werden, sind nach Russell als komplexe »Ordnungen« (orders) zu verstehen, in denen ihre »Konstituentien« (Subjekt, Objekt und Relation eines Urteils) ein relationales Ganzes bilden, das je nach Ordnung das eine oder das andere bedeuten kann. Die Konstituentien entscheiden selbst nicht, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern erst ihre Anordnung, wie Russell weiter mit Blick auf Shakespeares Othello ausführt: »Othellos Urteil, daß Cassio Desdemona liebt, ist ein anderes Urteil als 40 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

daß Desdemona C ­ assio liebt, obgleich beide dieselben Konstituentien haben«.104 Wahre Aussagen sind wahr, so sie eine relationale Übereinstimmung mit den Tatsachen aufweisen, wobei die Wahrheit unabhängig von Bewusstsein und Erkenntnis des urteilenden Subjekts gegeben ist. Wenn Cassio Desdemona, Desdemona aber nicht Cassio lieben würde, dann wäre Othellos erstes Urteil wahr und das andere falsch. Das zweite Urteil, das mit keiner Tatsache korrespondiert, sitzt einem irrtümlichen Glauben auf – oder, mit Wittgenstein gesprochen: es bezieht sich auf einen Sachverhalt, der nicht besteht und deshalb als »negative Tatsache« gefasst wird.105 Ein Subjekt, das kraft seines Bewusstseins Urteile über Objekte fällt, bezieht sich im Falle eines Irrtums nicht auf die Tatsachenwelt, sondern steht mit einer imaginierten oder fiktiven Welt in Beziehung. Problematisch wird das spätestens dann, und diesen Preis war Russell zu diesem Zeitpunkt noch gewillt zu zahlen, weil für ihn Philosophie als Wissenschaft nur in einer radikalen Zurückweisung von Wünschen, Begehren und Interessen funktionieren kann, wenn es der Philosophie um lebensweltliche, existenzielle und ethische Fragen zu tun ist. Wird Wahrheit bloß als simple Korrespondenz von Aussagen und Tatsachen gedacht, dann sind Aussagen, sofern sie richtig sind, gerade deshalb objektiv und wahr, weil das Erkenntnissubjekt am Erkenntnisprozess nur analytisch-erklärend, nicht aber als Teil des Prozesses selbst teilnimmt: Aussagen können in so einer kausalen Relation weder besser noch schlechter, sondern kraft der wahrmachenden Tatsachen nur wahr oder falsch sein. Die Fragen, was ein gutes Leben ist oder wie menschliche Vergesellschaftung funktionieren kann, unterliegen beispielsweise keiner logischen Entscheidbarkeit und können, weil sie keine tatsachenontologische Entsprechung haben, wissenschaftlich weder falsifiziert noch verifiziert werden. Der »Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit« ist aber, darauf hat Max Weber bereits 1902 hingewiesen, selbst ein »Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes«. Indem Wissenschaften »Begriffe und Urteile« formulieren, »die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen«, können sie für diejenigen, die der Kulturleistung Wissenschaft Glauben schenken, kulturell bedeutsam sein.106 Die wissenschaftlichen Ordnungen von Welt mittels Rationalität, wie auch immer man diese Form diskursiver Über eine doppelte Verunsicherung | 41

Erkenntnis verstehen mag, sind Ergebnis einer kulturellen Entscheidung, mit der gewisse weltanschauliche und theoriegeleitete Prämissen korrespondieren, die wiederum von gewissen sozialen und politischen Faktoren abhängig sind. Weber definiert auf Basis der alles andere als trennscharfen Unterscheidung von Werturteil und Materialarbeit, von Politik und Wissenschaft die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Begriffsarbeit als einen »Dienst an der Erkenntnis der Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammenhänge«, die sich aber an einem Prinzip der »Objektivität« im Sinne einer »Wert­ urteils­enthaltung« zu orientieren habe.107 Tatsachen sind ohne Bedeutung, so sie nicht für uns bedeutsam sind. Jede Rede von und jede Bezugnahme auf Tatsachen muss scheitern, wenn nicht die subjektive und fiktionale Dimension berücksichtigt wird, mit der diese überhaupt erst in den Blick kommen (vgl. Peter Waterhouse in diesem Band). »Sobald man sich interessiert«, wie Jean-Luc Godard mit Blick auf das Dokumentarische in seiner Introduction à une véritable histoire du cinéma festhält, »ist Fiktion im Spiel. Der Blick macht die Fiktion. […] Die Fiktion ist nämlich der Ausdruck des Dokuments, das Dokument ist der Eindruck. Eindruck und Ausdruck sind zwei Momente einer Sache. […] Aber die Fiktion ist genauso real wie das Dokument. Sie ist ein anderer Moment von Realität.«108 Die Fiktion exponiert, was das Dokument disponiert. Fiktionen sind aber nicht weniger real, das ist an Godards Beobachtung die Pointe, als beglaubigte Dokumente, weil unser Blick immer schon, kantisch gesprochen, die Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke ordnet. Man könnte jedoch meinen, die Beobachtungsperspektive allein trägt die Fiktion ins Dokument, dabei ist das Dokument, verstanden als kulturelle oder historische Tatsache, selbst bereits ein Produkt von Machtinteressen und Geltungsansprüchen, vor die es sich stellt. Ideologiekritisch gewendet lässt sich mit Walter Benjamin von einer Fetischisierung der Kulturgeschichte sprechen, mit der nicht nur ideologische, sondern auch diskursive und performative Dimensionen kultureller Legitimation angesprochen sind: Ein Dokument »ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.«109 Die Beantwortung der Frage, was Kultur heißen 42 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

könnte, erschöpft sich nicht in der Akkumulation von Kulturgütern, wie aktuelle Restitutionsdebatten über die Verantwortung und das Selbstverständnis nicht nur ethnologischer Museen, sondern ganzer Kulturnationen verdeutlichen.110 Gerade die Fetischisierung von Originaldokumenten, hinter denen die Umstände ihrer Aneignung und der Prozess ihrer Überlieferung schlechterdings verschwinden, informiert darüber, wie warenvermittelte Vergesellschaftung strukturell funktioniert: Der reale Schein der Ware absorbiert die ­abstrakte in einem Gebrauchswert vergegenständlichte Arbeit, mit der Wert produziert wird. »Der Prozeß erlischt im Produkt«111, wie von Karl Marx pointiert diagnostiziert wurde, wodurch nicht nur Herkunft und Produktionsbedingungen von Waren, sondern vor allem auch die bei der Produktion ausgebeutete Mehrarbeit, mit der sich überhaupt erst Profit machen lässt, unsichtbar bleiben. Ausgehend von dieser Beobachtung hat sich eine materialistisch informierte Geschichtsschreibung, um die es Benjamin in dem Zusammenhang zu tun ist, nicht nur zu fragen, inwiefern sich Aussagen über Dokumente und Dokumentationen von Aussagen legitimieren und verifizieren lassen, auch die Motive und Interessen solcher Verifizierungs- und Legitimationsstrategien gilt es in den Blick zu nehmen. Kulturelle Gegenstände sind eminent politisch, weshalb sie auch als politische Gegenstände zu akzentuieren und als derartige zu adressieren sind. Ihre Legitimation lässt sich bspw. nicht darauf reduzieren, ob sie sich als Original oder Fälschung erweisen oder erwiesen haben. Godards Einsicht in eine durch Bezugnahme im Allgemeinen bestimmte Wirklichkeitsbehauptung von Tatsachen, die einem dia­lek­tischen Begriff von Montage geschuldet ist, weist zurück auf eine von Nietzsche vorgebrachte Kritik an der Tatsachenhörigkeit des Posi­tivismus, die bis heute nur wenig an Brisanz eingebüßt hat. Nietzsche erhebt »gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt, ›es giebt nur Thatsachen‹«, geradezu apodiktisch den Einwand: »[N]ein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ›an sich‹ feststellen«.112 Ein Wissen von Tatsachen an sich, das kontextunabhängig gegeben wäre, lässt sich nicht bruchlos denken, weil Tatsachen, sofern sie vermittelt werden, ab ovo durch die Perspektive präfiguriert sind, von der aus Gegenstände oder Sachverhalte befragt werden. Nicht Über eine doppelte Verunsicherung | 43

nur die Erkenntnisse der Kulturwissenschaften sind durch eine Beobachtungs­perspek­tive und den diskursiven Kontext ihrer Befragung geprägt, auch die von gesicherten Wissenschaften als wahr bestimmten Tatsachen stellen sprachabhängige Interpretationen ­einer empirischen Datenlage dar, die so, aber auch anders ausfallen können, wie aktuelle Diskussionen über Reproduktions- und Inzidenzzahlen zeigen. Nicht zuletzt ließe sich durch eine grundsätzliche Anerkennung interpretativer Kulturleistungen, mit welcher Daten überhaupt erst lesbar werden, die Differenz zwischen einer empirisch wahren und einer kulturell bedeutsamen Welt bedingt abbauen.113 Dass diese einander entgegengesetzten Sphären zwei Seiten einer Medaille sind, die sich nicht unabhängig voneinander betrachten lassen, betont bereits Marx in der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Schrift Die Deutsche Ideologie: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden.«114 In Anbetracht der Härte der Fakten, welche die ökologische Krise immer dringlicher vor Augen führt, hat sich die Geschichte der Menschen als Teil der Geschichte der Natur neu zu erfinden. Im Gegensatz zu ›nackten Fakten‹ (facta bruta) sind Tatsachen, die sich kulturell bedeuten, nicht einfach vorsprachlich gegeben, sondern Produkte menschlicher Symbolisierungsleistung, welche diese überhaupt erst erscheinen lässt. »Bedeutsamkeit ist«, wie Ralf Konersmann in seinen »Thesen zum fait culturel« schreibt, »kein der Kulturtatsache innewohnendes Abstraktum; sie ergibt sich aus den Bezüglichkeiten des Gegenstandes in der Welt.«115 Tatsachen, sofern sie sich bedeuten, weil sie für Menschen von Bedeutung sind, können politischer, sozialer, historischer oder kultureller Natur sein, wobei sich diese Bereiche nicht trennscharf differenzieren lassen. Damit zeigt sich auch, dass ein Sachverhalt womöglich nicht schon allein durch sein Bestehen zur Tatsache wird, sondern erst insofern dieses Bestehen für mehr als eine Person von Bedeutung ist.116 Gegen eine so zugespitzte Kritik am Positivismus erheben sich aber aus geschichtsphilosophischer Perspektive einige Bedenken, die weniger Bedenken an der Kritik der facta bruta selbst als an der Nivellierung der ontologischen Modi von Tatsachen und Interpretationen formulieren. Man meint, von historischen Tatsachen 44 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

(facta historica), die auf eine kulturell bedeutsame Begebenheit in der Vergangenheit rekurrieren, wisse man nur, so diese überliefert werden. Aber damit wäre nur eine Seite der facta historica angesprochen, wie Stephan Otto mit Blick auf Imre Kertész’ Unterscheidung zwischen dem sprachunabhängigen »Tatsachen-Leben« und dem sprach­abhän­gigen »Geist-Leben« der facta historica hervorgehoben hat. Die Frage nach der Existenz eines historischen Geschehens darf nicht, wie Kertész mit Blick auf den Holocaust einfordert, der Interpretation überantwortet werden, weil die »geistige Existenzform« von Erklärungen über den Wissensstand, nicht aber über die Existenz des Geschehens selbst entscheidet.117 Das Insistieren auf die Unabschließbarkeit der Rekonstruktion von Geschichte, wie Otto an den narrativistischen Theorien von Johann Gustav Droysen, ­Arthur C. Danto und anderen moniert, vergisst die Faktizität des »Gewesen-Seins« des Vergangenen – oder, anders gesagt: Die kantische Fokussierung auf das »Bewusst-Sein« verstellt den ontologischen Status der facta historica. Die theoretische Ambivalenz zwischen ­der problematischen Wirklichkeitsbehauptung historischer Darstellung auf der einen und der textimmanent verbleibenden Konstruktion auf der anderen Seite verdeutlicht das methodische Problem der Geschichtswissenschaften. Die Aufgabe historischer Darstellung zwischen dem »Darstellbarsein« und dem »Dargestelltsein«, wie Stephan Otto hervorhebt, insistiert stets als »Faktizitätsrest« im Zusammenhang der historischen Rekonstruktion eines irreversibel in der Vergangenheit liegenden Tatsachengeschehens. Einer so verstandenen »historiologischen Ontologie« geht es um nichts Geringeres als um eine Art affirmierende Identifikation dessen, was sich als »Faktizitätsrest« entzieht, dem jedoch mittels einer Affirmation in der Darstellung zur Darstellung verholfen werden soll.118 Nicht nur die ontologischen Modi des factum-est, auch die historischen Modi der Erkennbarkeit des Vergangen-Seins gilt es zu reflektierten, insofern man der Diskontinuität und Flüchtigkeit eines historischen Datums gerecht werden will. Gegen die Vorstellung von zeitlosen Tatsachen insistiert Benjamin auf der Unwiederbringlichkeit von Vergangenem, das er als ephemeres und an eine Gegenwart der Erkennbarkeit geknüpftes »Bild der Vergangenheit« versteht, welches wiederum von einer eingreifenden und den geschlagenen Toten verpflichteten Geschichtsschreibung geradezu Über eine doppelte Verunsicherung | 45

»festgehalten« werden muss, um nicht unrettbar zu verschwinden.119 Dieser materialistische Anspruch der Geschichtsschreibung hat nichts weniger als eine Art retroaktive Umschreibung der historischen Fakten im Sinn.

Ideologie, Irrtum, Illusion Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, nimmt jedes Nachdenken über Fakten oder Wahrheit automatisch immer auch deren Gegenbegriffe wie Fiktion oder Lüge in Augenschein. Unter dem Vergrößerungsglas theoretischer Analyse treten dabei zwei entscheidende Merkmale dieser Gegenspieler hervor: Erstens erschöpft sich ihr theoretischer Wert nicht notwendig in ihrem oppositionalen und negierenden Status in der Ausrichtung auf ihre positiv konnotierten Gegenspieler. Fiktion kommt etwa, wie oben bereits beschrieben, eine konstruktive Rolle in der Konstitution von Fakten zu. Zweitens stehen sie zu anderen negativ konnotierten Begriffen nicht in einem bloßen Äquivalenzverhältnis. Fiktion etwa unterscheidet sich von Lüge oder Verschwörungstheorie und unterhält zu beiden ein je spezifisches Verhältnis. Hierin liegt die Produktivität theoretischer Ansätze begründet, die eine Umordnung gewöhnlich in einem binären oppositionalen Schema angeordneter Begriffe vornehmen. Insbesondere in der Philosophie koinzidiert eine Denkbewegung, die sich von Verfahren dualistischer Gegenüberstellung zugunsten einer Beschreibung komplexerer Beziehungsformen abwendet, oft mit einer selbstreflexiven Wende, durch die philosophisches Denken sich immer wieder neu bestimmt und von etablierten Denktraditionen losschreibt. Dieses Zusammentreffen einer Verschiebung von Begriffskonstellationen mit einer Neuverhandlung theoretischer Prämissen innerhalb der (bzw. e­ iner bestimmten) philosophischen Tradition lässt sich beispielhaft an den Begriffen von ›Ideologie‹, ›Irrtum‹ und ›Illusion‹ bei Louis Althusser, Gilles Deleuze und Ernst Cassirer aufzeigen. Das philosophische Schaffen Althussers steht unverkennbar in der marxistischen Theorietradition. Wie viele andere Denker dieser Tradition interpretiert er jedoch seine Anhängerschaft als Verpflichtung zu kritischer Auseinandersetzung, zu Erweiterung und Kor46 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

rektur. Eine Schwachstelle marxistischer Theorie sieht er in ihrem Diskurs über die Ideologie, der ausschließlich auf deren materielle und historische Entstehungsbedingungen Bezug nehme und dabei die ihr eigene immanente Realität vernachlässige. Ideologie wird dort [in Marx’ und Engels’ Deutscher Ideologie] begriffen als eine pure Illusion, als ein reiner Traum, als ein Nichts. Ihre gesamte Wirklichkeit liegt außerhalb ihrer selbst. Folglich wird die Ideologie als eine imaginäre Konstruktion gedacht, deren Status genau dem theoretischen Status des Traums bei den Autoren vor Freud entspricht.120

In Analogie zu Freuds Traumbegriff geht es Althusser darum, Ideologie nicht mehr als imaginäres Gebilde, sondern als einen existierenden Funktionszusammenhang zu begreifen. Wie sich nach Freud nicht mehr sagen lässt, dass etwas bloß Traum sei, so lässt sich nach Althusser nicht mehr sagen, dass etwas bloß Ideologie sei. Ideologie darf nicht auf ein falsches Bewusstsein, ja überhaupt nicht auf eine Bewusstseinsstruktur reduziert werden, da ihr ein durchaus materielles gesellschaftliches Sein eignet. Sie manifestiert sich in Taten, Praktiken und Ritualen121 und wird durch Institutionen des ›Ideologischen Staatsapparates‹ wie Religion, Schule, Familie, Recht, Politik, Interessenverbände, Informationsmedien und Kultur organisiert. Da die Produktionsstätten von Ideologie konkrete gesellschaftliche Institutionen sind, bildet die Frage nach deren Exklusions- und Inklusionsmechanismen sowie nach ihren internen Hierarchien und Machtverhältnissen – eine Problematisierung des zweiten und dritten Gesichtspunktes in Lockes Zusammenstellung von Kriterien zur Konstitution eines Faktums also – einen wichtigen Angriffspunkt analytischer Auseinandersetzung mit Ideologien. Alle ideologischen Staatsapparate, so Althusser, entfalten ihre ideologischen Wirkungen in Verbindung mit repressiven Dimensionen.122 Der Ausschluss etwa von Frauen oder LGBTQ+-Personen von bestimmten Funktionen religiöser Institutionen wirkt sich nicht nur auf die Leben der unmittelbar Betroffenen aus, er dient auch der Kontrolle über die von der Kirche an Gläubige vermittelten Botschaften. Die zahlreichen sozialen Sortierprozesse im Bildungswesen wiederum knüpfen das Erlernen von Wissen bereits in der Kindheit an die EinÜber eine doppelte Verunsicherung | 47

übung in ein Klassensystem.123 Die Analyse Althussers greift dabei in besonderer polemischer Schärfe den Realzustand an, wo in den Bildungsinstitutionen häufig nur vererbte Privilegien, als Leistungen und Qualifikationen getarnt, weitergegeben werden. Sie gälte allerdings immer noch für das liberale Idealszenario ­eines ›meritokratischen‹ Bildungswesens der ›Chancengleichheit‹, da auch dort die Hierarchisierungs- und Exklusionsmechanismen der Bildungseinrichtungen in erster Linie am kapitalistischen Produktionsprozess orientiert wären. Die Funktion der Ideologie gegenüber den Individuen, die mit diesen Institutionen interagieren, ist jedoch nicht ausschließlich repressiv. Vielmehr ist Ideologie notwendiger Faktor in der Ermächtigung von Individuen zu gesellschaftlichen Subjekten – und gerade das macht es andererseits so schwer ihren unterdrückerischen Aspekten zu widerstehen. In der ›Anrufung‹ der Individuen als Subjekte,124 einer sich als Feststellung tarnenden performativen Operation, die den Setzungsakten fiktionaler Literatur analog ist, setzt Ideologie die Grundstrukturen sozialer und politischer Interaktion. Aus diesen lässt sich nicht durch eine einfache theoretische Negation der Ideologie ausbrechen. Ebenso wenig wie Geschichten und Mythen ihre Wirkung dadurch verlieren, dass sie als Erfindungen enttarnt werden, lässt sich Ideologie durch Aufklärung überwinden. Wenn die Kritik der Ideologie wirksam sein möchte, darf sie nicht davon ausgehen, einem Scheingebilde entgegenzutreten, sondern muss ebenso materiell und wirklich sein wie die Ideologie selbst. Während Althussers Ideologietheorie das zweite und dritte Kriterium der Locke’schen Aufstellung betrifft, die soziologischen Dimensionen der Faktenproduktion analysiert und problematisiert, nehmen sich andere Ansätze das auf den ersten Blick so harmlos und selbstverständlich auftretende erste Kriterium, den »Abgleich mit der eigenen empirischen Erfahrung«, vor. Das Kriterium ruft die in der Geschichte des philosophischen Denkens so alte wie umkämpfte Diskussion über die Modi, in denen sich Wirklichkeit dem Bewusstsein mitteilt, auf den Plan. Ein zentrales Motiv dieser Diskussion ist die Frage nach dem Umgang mit der Erfahrung, dass Erfahrung täuschen kann. Welche Schutzmechanismen bewahren das Bewusstsein davor, sich von dem, was ihm begegnet, benebeln, 48 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

behexen, erregen, kurz: beirren zu lassen? Wie lässt sich eine ›Wahrnehmung‹ von Objekten von einer bloßen Beeinflussung durch Situationen unterscheiden? Verschiedenste philosophische Schulen haben ihr Selbstbild an ihre Fähigkeit geknüpft, Haltungen der Kontemplation zu kultivieren, die dem Erkenntnissubjekt eine neue Souveränität im Umgang mit den in seinen Erfahrungshorizont tretenden Phänomenen verleihen. Sie entwarfen Szenarien der Wahrnehmung als transzendentale Vorbedingungen dafür, dass sich eigene Erfahrungen in Wissen von der Wirklichkeit übersetzen lassen. Doch diese spezifische Variante einer philosophischen Einstellung zur Realität birgt einen Widerspruch in sich, der, zur Entfaltung gebracht, den für das Denken (scheinbar) wichtigsten Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum radikal verunsichert: In ihrer Kritik an einem ›dogmatischen Bild des Denkens‹ verweisen Gilles Deleuze125 und, im Anschluss an Deleuze, François Zourabichvili auf eine paradoxe Funktion des ›Außen‹ in der philosophischen Beschreibung des Erkenntnisvorgangs. In einer manichäischen ›Spaltung der Exteriorität‹ wird das Außen gleichzeitig zur notwendigen Bedingung der Erkenntnis wie zur Quelle des Irrtums.126 Auf der einen Seite stellt es dem Denken erst das Wahrnehmungsmaterial zur Verfügung, mit dem es sich als Erkenntnis von etwas entwerfen kann, auf der anderen Seite interveniert es als Affektauslöser störend in Gedankenprozesse. Im Versuch, die Grenze zwischen Wahr-Nehmen und Affiziert-Werden festzulegen und zu stabilisieren, fällt die Philosophie als Erkenntnistheorie immer wieder in die Philosophie als Morallehre zurück. Das Konzept des ›Guten‹ wird als eine Art deus ex machina beschworen, um dem Denken eine innere Rechtschaffenheit zuzuschreiben, die es aus quasi-natürlichem Antrieb auf die Erkenntnis des Wahren orientiert. Die Wahrheit erscheint als notwendiges Resultat, der Irrtum lediglich als akzidentieller Fehltritt des Denkens, auch wenn Letzterer ›faktisch‹ häufiger auftreten mag als sein Gegenteil.127 Doch diese Verquickung der Erkenntnis mit der Idee des ›Guten‹ lotst nicht nur die theoretische Reflexion in das gefährliche Fahrwasser soziohistorisch bedingter moralischer Normen, sie entzieht das Denken gleichzeitig einer echten Begegnung mit seiner Umwelt, da es ein Außen nur noch als Projektion seines eigenen Bildes in der Welt wieder-erkennen, nicht mehr im starken Sinne wahrnehmen kann. Über eine doppelte Verunsicherung | 49

In Deleuze’ Argumentation ist diese doppelte Tendenz des philosophischen Denkens zu Moralismus einerseits und Solipsismus andererseits Konsequenz einer keinesfalls selbstverständlichen Hervorhebung des Irrtums als des absolut Negativen des Denkens. Mit dieser Privilegierung des Irrtums werden alle anderen Bedrohungen des Denkens, »die Dummheit, die Bösartigkeit, der Wahnsinn«, auf Quellen des Irrtums und zu »Fakten einer äußeren Kausalität« reduziert.128 Der Schlüssel zum Aufbrechen dieser Konstellation liegt in einer Operation, die den Irrtum aus seiner oppositionalen Stellung zum Faktischen löst und ihn damit seines transzendentalen Status beraubt: »Der Irrtum selbst ist ein Faktum, willkürlich extrapoliert, willkürlich ins Transzendentale projiziert«.129 Einfacher formuliert: Es stimmt, dass man sich manchmal irrt – und weiter? Die eigentlichen Abenteuer und Herausforderungen des philosophischen Denkens liegen für Deleuze jenseits einer Strategie zur Vermeidung von Irrtümern und jenseits eines Paradigmas der Wahrnehmung, das sich durch Abgrenzung von der Affektion durch ein Außen ­definiert. Die Kritik an einem Szenarium der Wahrnehmung führt auch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu einer Infragestellung und Neuinterpretation der Stellung der Philosophie im Feld der Wissensformen. Dabei richtet sich Cassirers Argumentation zunächst gegen die Idee der Sprache als sekundärer Bewusstseinsfunktion, die das Material eines vorgängigen Wahrnehmungsaktes lediglich ordnet und beurteilt. Nach Cassirer existiert dieses ›reine Sehen‹ nicht, ist jede ›Präsenz‹ bereits von symbolischen Verfahren der ›Repräsentation‹ bearbeitet, die das Objekt der Wahrnehmung in das Bezugssystem eines räumlichen Neben- und zeitlichen Nacheinanders einfasst: Es gibt demnach kein »Etwas« im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein »Anderes« und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und »Präsenz« des Inhalts nennen.130

Das Verständnis der symbolischen Konstituiertheit von Wahrnehmung bricht mit der Vorstellung des unmittelbar Gegebenen, sowohl in der Gestalt unbearbeiteter Sinneseindrücke als Rohstoffe des Bewusstseins (Empirismus) als auch in der Gestalt primärer, 50 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

vorkultureller Grundstrukturen der Erfahrung (Rationalismus). Wahrnehmung ist, verstanden als Verfahren der Bildung symbolischer Komplexe, selbst eine Art Sprache, die mit den gesprochenen und geschriebenen Sprachen in Wechselwirkung steht. Auch die Schlüsselkonzepte der (natur)wissenschaftlichen Erkenntnis  – Raum, Zeit und Zahl – gehören weder als abstrakte Kategorien zur Grundausrüstung des Subjekts, noch lassen sie sich einfach aus der Erfahrungswelt ableiten. Sie entstehen vielmehr in einem komplexen semiohistorischen Prozess der gegenseitigen Bespiegelung von Sinnlichkeit und Sprache (zum komplexen Interaktionsprozess zwischen Sprache und Wahrnehmung siehe auch Oswald Egger in diesem Band). Damit verschiebt Cassirer nicht nur die Hierarchie philosophischer Reflexionsebenen – Kulturphilosophie und Zeichentheorie werden in den Rang einer neuen ›ersten Philosophie‹ erhoben –, sondern führt auch Konzepte der Konstruktion und Vermittlung in die Reflexion über Wahrnehmungsszenarien ein. Charakteristisch für die philosophische Diskussion über Wahrnehmung – hierin bildet Cassirer keine Ausnahme – ist eine Dominanz des Sehens über die anderen Formen der Sinneswahrnehmung. Wie um das Prinzip der ›gespaltenen Exteriorität‹ zu illustrieren, figuriert das Visuelle in der Philosophie sowohl als Paradigma der Evidenz wie auch als Paradigma der Täuschung, wobei Letztere häufig als eine defizitäre oder exzessive Abweichung vom ›normalen‹ Sehen, als Schatten oder Schein, Blindheit oder Blendung imaginiert wird. Für Guy Debord bereitet die »von den Kategorien des Sehens beherrschte«131 Philosophie die ideologische Grundlage für die von ihm beschriebene Gesellschaft des Spektakels. Die philosophische Ideenschau, historisch meist eine Beschäftigung derjenigen, denen in arbeitsteiligen Gesellschaften das Privileg zukommt, sich nicht tätig, sondern kontemplativ zu ihrer Umwelt verhalten zu können, begegnet in der modernen massenmedialen Show als Produkt der Entfremdung kapitalistischer Subjekte von den Produktionsprozessen ihrer zwar pervertierten, aber nicht illegitimen Nachfolgerin. Allerdings formuliert selbst Debord diese Kritik noch in Begriffen des Scheins und der Illusion, die einem Modell der Opposition von Sehen und Getäuscht-Werden verpflichtet bleiben. Gerade das Phänomen der Illusion jedoch kann nicht einfach auf die Gestalt eines Irrtums in der Sphäre der Sinnlichkeit reduziert Über eine doppelte Verunsicherung | 51

werden. Der kanadische Philosoph Brian Massumi gibt in einem unter dem Titel »Das Denken-Fühlen der Geschehnisse. Ein Schein eines Gesprächs« veröffentlichten halb-fiktiven Dialog132 seinem Erstaunen über die gewöhnliche theoretische Vernachlässigung der Illusion Ausdruck: [W]ir sehen [Dinge], die wir eigentlich gar nicht sehen. Wir wissen es alle, und doch neigen wir dazu, es einfach beiseite zu schieben, indem wir es eine Illusion nennen. So als würde etwas passieren, was gar nicht echt ist und auch gar nichts Wichtiges über die Erfahrung aussagt. Doch ist, dass etwas passiert, nicht genau die Definition des Realen?133

Trägt man dieses Verständnis für die Realität und Relevanz der Illusion in das von Cassirer entworfene Bild der Wahrnehmung ein, dann lassen sich Illusionen als Momente der Verunsicherung einer symbolischen Ordnung beschreiben, in denen sich ein Exzess des Realen gegenüber der gedanklichen Konstruktion kundtut. Es entsteht ein Eindruck, der sowohl unwirklich als auch auf irritierende Weise realer als die Wirklichkeit selbst wirkt. Selbst die trivialsten optischen Illusionen, die Brechung eines Strohhalms im Wasserglas etwa, erzeugen winzige Irritationsmomente, die nicht ohne eine kleine Anstrengung der symbolischen Ordnungstätigkeit wieder als (erkannte) Illusionen in das Gefüge der Wirklichkeit integriert werden können. Weil die Illusion das reale, materielle Sein des Wahrnehmungsaktes vor Augen führt, erinnert sie daran, dass die Realität nicht mit dem Objektfeld des Wahrgenommenen identisch ist. Die Kunst und die Literatur haben diesen paradoxen Effekt der Illusion immer wieder auszunutzen gewusst. So lösen die auf Illusionen beruhenden Sprachbilder Isaak Babels in der Reiterarmee (Konarmija), etwa die »Mondschlangen und glitzernden Mulden«134, die sein Erzähler im Wasser des Zbruč zu sehen meint, in ihrer Intensität und Konkretion eine geradezu ekstatische Erfahrung des Realen aus, ohne im konventionellen Sinne realistisch zu sein. Die Darstellung der Illusion bedient sich hier gezielt der Metapher als Verfahren der Darstellung – oder auch umgekehrt: die metaphorische Sprache entfaltet sich in der semantischen Ausrichtung auf die Illusion –, denn beide verbindet eine strukturelle Affinität. Beide nehmen den Umweg über den Realitätsverlust, den Unglauben, den 52 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Eindruck, dass etwas ›eigentlich nicht so sein‹ kann, wie man es sieht bzw. liest, um eine andere, oft übersehene Realität zu indizieren: die Realität des Lichts oder der Sprache als materielle Medien der Wahrnehmung (zur Materialität der Sprache siehe Thomas Schestag in diesem Band).

Fakt!: Bild Faktizität und Bildlichkeit scheinen intrinsisch verbunden, zwischen ihnen produzieren sich Redundanzeffekte; womöglich schuldet die Konzeption ›Alternative Facts‹ selbst etwas ihrem Ursprung in einer photographischen Leerstelle. Zugleich haben die wesentlich durch Bildkulturen bestimmten Prozesse von sozialen und Nachrichtenmedien zur dynamischen Unübersichtlichkeit des Kampfplatzes zwischen Wahrheit und Lüge in den letzten Jahren erheblich beigetragen. Das Denken über Faktizität und Bildlichkeit, Wahrheit und Rea­ lität bewegt sich dabei nicht nur in (unhaltbaren) Oppositionen, diese oppositionellen Paarungen bilden selbst wiederum miteinander Formationen, spezifische Matrizen der Intelligibilität aus: Die Oppositionen Wahrheit – Lüge sowie Fakt – Fiktion sind darin einander fest zugeordnet und mit unterschiedlichen Funktionsweisen der Referenzialität bzw. spezifischen medialen Darstellungsmodi (Text, Bild …) zur Entsprechung gebracht. Diese Überschneidungen sind aber rein perspektivisch. Das bedeutet auch: So wenig, wie sich bspw. Fiktion oder bildliche Darstellung mit der Lüge gleichsetzen lassen, genauso wenig kann damit notwendig daraus folgen, dass sie nicht lügen können. Im Folgenden soll mit Rekurs auf (Johnsons) Baudelaire, (Mulveys) Freud, Sontag und Butler herausgearbeitet werden, wie sich diese unterschiedlichen Oppositionen gegeneinander zu verschieben beginnen, wie sich Verstrebungen zwischen ihren Zwischenräumen ausbilden und wie sich der Glaube an die Faktizität der Bilder am (ungewissen) Ort der Grenze des Glaubens wie des Bildes zu seinem und ihrem anderen, als ungewissem Grenzverlauf diegetischer Niveaus, entscheidet – als ethische Fragestellung. Oft werden und wurden in der kulturellen Wahrnehmung das photographische Bild und seine digitalen Abkömmlinge, besonders Über eine doppelte Verunsicherung | 53

dort, wo sie sich beide in scheinbare Bewegung setzen, zur Figur der Evidenz schlechthin, als Verknotung von Wahrhaftigkeit, Faktizität und Realität, zum privilegierten Zugang zur Realität erhoben. Retrospektiv scheint dann die Evidenz des photographischen Bildes auf die kompensatorische Selbstnegation des gemalten, gezeichneten, in Stein gehauenen oder in Holz geschnitzten Bildes zu antworten: Wo sich das menschengemachte Bild einer physischen Form bis zur Selbstverleugnung anschmiegen musste, da wird diese Täuschung im neuen Medium überflüssig. Das umgekehrte Argument existiert aber ebenfalls: nämlich, dass die Photographie nicht so sehr eine neue Qualität von Wahrhaftigkeit etabliert, die sie in der frühen Photographie-Theorie ihren Begründern als von der »Hand der Natur« selbst gezeichnet erscheinen lässt,135 sondern vielmehr einem Bedürfnis nach Beweisbarkeit eine buchstäblich greifbare, berührbare Form verleiht. Was auch erklärt, dass dieses populäre Verständnis von Photographie Barthes’ Präzisierung dieses Evidenzcharakters der Photographie – eine Photographie drückt nur im medientheoretischen Sinne eine Kopräsenz von Kamera und Referent aus, die sie zu beweisen imstande ist, sie sagt intrinsisch nichts weiter darüber aus, wie das Abgebildete zu interpretieren ist136 – so lange überleben konnte. Es ist, als sollte das physische Objekt des photographischen Bildes rhetorische Strategien der Verbürgung, wie sie beispielsweise Foucault anhand der Parrhesia untersucht,137 ersetzen. Das Bild soll für sich sprechen. In Baudelaires Prosagedicht »Les Fenêtres« (»Die Fenster«) erhält die Frage nach der Unterscheidung von Realität und Fiktion eben genau die Form der Frage nach der Legende und der Frage nach der diegetischen Ebene.138 Der Text beginnt programmatisch mit dem »fenêtre ouverte« (»offenes Fenster«),139 eine Übersetzung von Albertis finestra aperta aus seinem Traktat De pictura,140 mit dem in der Bildtheorie der italienischen Renaissance die Frage nach der Illusion von Welt gestellt wird, dabei geht es vor allem um die Frage der Perspektive und die Herstellung eines scheinbaren gemeinsamen Raumes zwischen Bild und Betrachtenden141 – man könnte sagen, es geht um die Überwindung einer diegetischen Grenze. Auf diese wird pointiert bestanden, wenn bei Baudelaire dem offenen das geschlossene Fenster als die reizvollere Konstellation gegenübergestellt wird, denn die beiden unterscheidet bei 54 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Baudelaire eigent­lich nur eine (in einem bestimmten Sinne) transparente Scheibe, durch die sich ins Innere blicken lässt.142 Konsequenterweise heißt es, die ›reife‹ Frau, um deren ›Legende‹ es dann im Folgenden geht, »ne sort jamais« (tritt niemals hinaus). Die Frau wird als »ridée«, ›faltig‹, ›runzelig‹, beschrieben, zieht sich in den runzeligen Apfel einer ›Ève octogénaire‹ zusammen,143 wird eine typische Vanitas, die auch vor allem ein spezifisches Bildformat ist – eine Variante der Baudelaire’schen »vers« (›Verse‹, ›Würmer‹) im Bereich der Bildenden Kunst. Haut und Stoff (»avec son visage, avec son vêtement«, »aus ihren Zügen, ihrer Kleidung«) beginnen zu changieren, werden zur farbigen Kruste des Bildes.144 Die Erzählerfigur beschreibt, wie sie aus Details des Äußeren der Frau ihre »Geschichte […] oder vielmehr ihre Legende« rekonstruiert, deren Publikum diese Erzählerfigur selbst bildet und mit der es ihr gelingt, sich selbst zu affizieren, sich zu Tränen zu rühren. Die Erzählerfigur schließt in Anspielung auf das Prosagedicht »Laquelle est la vraie?«: »Peut-être me direz-vous: ›Es-tu sûr que cette légende soit la vraie ?‹ Qu’importe ce que peut être la réalité placée hors de moi, si elle m’a aidé à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis ?« (Vielleicht sagen Sie mir: »Bist Du sicher, dass diese Legende die richtige ist?« Was bedeutet es, was die Realität sein mag, die außerhalb meiner selbst platziert ist, wenn sie mir geholfen hat zu leben, zu fühlen, dass ich bin und was ich bin?)145 Die Frage nach der Wahrheit der Legende ist hier also zugleich die Frage nach der richtigen Bildlegende, also der richtigen Bildunterschrift, in der dieses Bild der gealterten Frau eben tatsächlich als Bild interpretiert wird. Dieses Spiel basiert auf der Mehrdeutigkeit von ›légende‹, zu der aber eben auch ganz wesentlich die Bedeutung der ›Heiligenlegende‹ gehört.146 Grave rekonstruiert, wie in der venezianischen Sakralmalerei der Renaissance vor dem Hintergrund von Albertis De pictura Raumkonstellationen geschaffen werden, die Teile des Bildes zwischen diegetischen Ebenen changieren lassen, eben gerade aus dem Problem heraus, dass das Heilige eigentlich als eine der Wirklichkeit der Betrachtenden entzogene Sphäre gedacht wird.147 Bei Baudelaire scheint etwas Ähnliches zu passieren: Nicht nur verweist die Verunsicherung über den Bildstatus nach Genette auch auf eine Verunsicherung über das diegetische Niveau.148 Die Beschreibung der Frau auf der anderen Seite der Scheibe als »ridée« Über eine doppelte Verunsicherung | 55

verweist (phonetisch und etymologisch) auch auf den »rideau« und damit nicht nur auf die Topik göttlicher Verhüllung, sondern auch auf eine Ursprungslegende der Malerei: den Wettkampf zwischen Zeuxis und Parrhasios, in dem der Vorhang zum Sinnbild geglückter mimetischer Täuschung wird. Die französische Übersetzung von Littré konstatiert: [Zeuxis] apporta des raisins peints avec tant de vérité, que des oiseaux vinrent les becqueter ; l’autre apporta un rideau si naturellement représenté, que Zeuxis, tout fier de la sentence des oiseaux, demanda qu’on tirât enfin le rideau, pour faire voir le tableau.149

Was sich hinter dem Vorhang verbirgt, ist aber eben gerade ein Raum, der Raum des Bildes. Indem der Vorhang also darüber hinwegtäuscht, wo das Bild beginnt, das Bild also gewissermaßen deplatziert, teilt er auch das von Grave so zentral beschriebene Moment der Oszillation, der Unsicherheit über die diegetische Schichtung der beschriebenen Bilder, deren Bild- und Fensterelemente sich nicht mehr klar als mise en abyme definieren lassen. Verknüpft man dies noch enger mit Johnsons Thesen, profiliert sich (dies als) das Spiel zweier Partitionierungen: Die Grenzen der D ­ iegese und die Grenzen der Fiktion kommen momentan mit­einan­der zur Deckung, um sich wieder voneinander abzulösen und gegen­einan­der zu verschieben. Mit Barbara Johnsons Lektüre der »Fenêtres« lässt sich formulieren, dass sich hinter der Rede von der Nichtexistenz von objektiver Wahrheit nicht nur ein letzten Endes religiöses Argument der Unerreichbarkeit von Wahrheit verbirgt oder lediglich eine pragmatische Anschauung, der zufolge Fakten auf Prozessen der Hervorbringung, Interpretation, Selektion und Formulierung beruhen; genauso wenig erschöpft sie die modern-demokratische Antwort auf dieses Dilemma, die versucht, eine Annäherung an die Wahrheit durch an Logik und Inklusion orientierte Diskursstrukturen intersubjektiv zu erreichen. Wie Johnson es in Bezug auf die beiden Fenster formuliert, geht es auch darum, auf einer Differenz oder einer Grenze zu insistieren, deren Ort konstitutiv nicht zu ermitteln ist: Car si la différence entre légende et réalité n’est pas déterminable, le poème ne nous en empêche pas moins de les réduire au même. La réa56 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

lité ne devient pas simplement une fiction : elle demeure le lieu, sans contenu mais irréductible, qui marquerait la place de notre incertitude, si notre incertitude était certaine.150

Hier doubelt Johnson Baudelaire, denn sie arbeitet am letzten Satz des Prosagedichtes heraus, wie dort ununterscheidbar wird, ob »elle« denn Realität oder Fiktion meint,151 und so soll auch das »elle« bei ihr wiederum den Platz markieren, an dem unsere Unsicherheit zur Gewissheit würde, ob es sich eigentlich um »eine Fiktion« oder »die Realität« handelt, deren Ort so als unbestimmbar erscheint. Der Vorhang artikuliert eben gerade die Verunsicherung darüber, wo der Punkt unserer Unsicherheit eigentlich liegt, als Nichtfixierbarkeit diegetischer Niveaus. An der Stelle des Vorhanges oszillieren Haut und Stoff, Text und Leinwand, farbige Oberfläche. In einer ähnlichen Bewegung werden Bild und Nicht-Bild in der implizit textilen (›refaire‹, ›avec des vêtements‹) und damit auch textuellen Bearbeitung der Geschichte  /  Legende der Malerei wie der ›histoire‹ / ›légende‹ Baudelaires (»refait«, ›neugemacht‹, ›ausgebessert‹) ebenfalls ineinandergewoben und so die Grenze des Bildes unfokussierbar. Damit ist aber zugleich der tote Punkt des Prosa­ gedichts selbst zerniert, die Ekphrasis des geschriebenen Bildes. Das Bild durchsticht durch die ekphrastische Beschreibung eigentlich zugleich auch eine diegetische Ebene, die Oberfläche des Bildes kommt im Prinzip an der Oberfläche des Textes selbst zum Liegen. Die Frage der Ekphrasis ist eben nicht nur, warum ein Bild beschrieben wird oder beschrieben werden muss, sondern auch, warum etwas Beschriebenes als Bild beschrieben werden muss.152 Was bedeutet es, dass man so tut, als gäbe es das Bild, das man beschreibt, als wäre das, was man beschreibt, ein Bild (wie es in Kathrin Rögglas Text in diesem Band geschieht und wie die Verunsicherung über den Realitätsstatus der Bilder bereits in der Antike ihren Ausgangspunkt nimmt)? Gibt es eine besondere Wirksamkeit des Bildes, die bereits das Sprechen in Bildern evoziert? Auf was für einen Begriff von Bildlichkeit rekurrieren die geschriebenen Darstellungen? Für die Frage nach der Beglaubigungsstruktur der Evidenz ist dabei die Beziehung des Bildes zum Fetisch zentral.153 Mit Laura Mulvey ist die Faszination am weiblichen Bild zugleich der Bruch mit der ästhetischen Täuschung und der Entwicklung der Handlung, das Bildwerden des Bildes jenseits der Narration Über eine doppelte Verunsicherung | 57

fällt also hier mit einer Fetischisierung des weiblichen Körpers zusammen: Die Präsenz der Frau ist ein unverzichtbares Element der Zurschaustellung [spectacle] im normalen narrativen Film, obwohl ihre visuelle Präsenz der Entwicklung des Handlungsstrangs zuwider läuft, den Handlungsfluß in Momenten erotischer Kontemplation gefrieren läßt. Diese fremde Präsenz muß mit der Geschichte in Zusammenhang gesehen [gesetzt, d. Verf.] werden.154

Die Beglaubigungsstruktur des Fetisch (nach Freud) ist aber komplex, Mannoni hat sie sprichwörtlich formalisiert als »Je sais bien, mais quand même  …«. Der Fetisch verdeckt das Trauma (die visuelle Offenbarung eines Mangels) im selben Moment, in dem er auf dieses verweist, er wirkt nur, weil er zugleich auf dieses verweist, und wirkt aber eben gerade dadurch, dass er die Täuschung zugleich aufdeckt.155 Das bedeutet, dass sich die Frage nach der Wirksamkeit von Bildern verschiebt: Auf diesem Wege erhält das vorgebrachte Argument Plausibilität, dass die Evidenzstruktur des photographischen Bildes eben gerade diese Fetischstruktur enthält, dass diese Bilder als wahrhaftige wirken, eben gerade obwohl, weil oder indem man nicht an sie glaubt (und sie sich damit der ›suspension of disbelief‹ der Fiktion annähern). Damit lässt sich eine Kritik der Bilder aber nicht im Modus der Aufdeckung (»Du kannst Deinen eigenen Augen nicht trauen!«) denken. Mitzuadressieren ist vielmehr auch der ihnen eigene Blick der Medusa, der versteinert, fesselt, die zerstörerische Kraft des Bildes. In Baudelaires Text zeichnet sich diese paradoxale Struktur des Glaubens an Bilder deutlich ab, die immer zugleich die Frage nach den sprechenden Bildern impliziert – als ekphrastische Beschreibung, als Narrativierung, als Designierung, als Legende … Diese Frage, ob und wie Bilder (für sich) sprechen können, lügen oder die Wahrheit sagen können, ist ebenfalls zentrales Thema in der Verhandlung der Wirkung von Bildern im politischen Kontext: Zwischen Susan Sontag und Judith Butler wird dies im Kontext des Dritten Golfkrieges ab 2003 mit der sogenannten ›Operation Iraqi Freedom‹ zu einer vitalen Frage, in der es ganz wesentlich um die Beziehung zwischen Ethik und Affekt geht. Zum bedeutenden Problem wird dabei gerade wiederum die Frage nach den captions, den 58 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

Bildlegenden oder rahmenden Texten. Diese Auseinandersetzung ist auch deshalb schwer in ihrer Komplexität nachzuvollziehen, weil die captions zwischen den beiden Texten, Regarding the Pain of Others und Frames of War, ihre Bedeutung verändern. Handelt es sich bei Sontag eigentlich um Bildunterschriften, die erläutern, um welche Referenten es sich im Bild eigentlich handelt,156 geht es, wenn Butler durchaus programmatisch formuliert: »we do not have to be supplied with a caption or a narrative […]«, vielmehr darum, dass photographische Aufnahmen selbst, oftmals vor allem durch das, was sie nicht zeigen, durch ihr framing und die Produktion eines bestimmten hors-cadre157 argumentieren; captions werden der sprachlichen Rahmung des photographischen Bildes analogisiert.158 Zwischen »Was ist auf diesem Bild zu sehen, wer ist auf diesem Bild zu sehen?« und einer ideologischen Bildrhetorik, die die zerstörerischen Potentiale der Menschen entfesselt, wird die gleitende Bewegung eines Referenzierens, eines Bezuges zur Wirklichkeit erkennbar. Bereits bei Barthes ist die darin zur Erscheinung kommende Frage der Indexikalität gekoppelt an die Suche nach einer Wahrheit des Bildes, die sich aber gerade an einer Beziehung zum Referenten orientiert; bei Barthes ist es der Affekt der Verbindung, der Filiation, des filius wie des philos, der dabei im Vordergrund steht. So geht es auch bei Sontag und Butler um Referenzialität als ethische Frage: Sontag verhandelt das Verhältnis der Opfer zu und ihre Rechte an ihren Bildern.159 Butler beginnt dann die Diskussion mit Sontag ganz dezidiert vor dem Hintergrund der Bilder von Abu Ghraib, sie diskutiert Bilder, die als Instrumente von Erniedrigung und Folter geschossen und zirkuliert sind. Und gerade dort treten noch einmal die captions in Erscheinung: Sie sollen nach Butler Kontexte supplementieren, um das hors-cadre des Bildes mit in die in der Betrachtung konstituierten Bilder einzutragen.160 So werden die captions gewissermaßen aufgespannt zwischen ideologischer und counterideologischer Instrumentalisierung für und gegen das framing der Photographien, der Referenzierung von Täter*innen, Opfern und Photograph*innen, bringen Rahmungen zu den Bildern und diese Rahmungen zur Erscheinung. Sontags finale Pointe liegt aber in einer Mobilisierung diegetischer Grenzen für diese Ethik, in einem Bild, das auf Distanz zu Über eine doppelte Verunsicherung | 59

seiner eigenen Sichtbarkeit geht und sich selbst zum Gegenbild seiner eigenen Bildlichkeit macht: Man hat den Eindruck, ihre Antwort ist eine Abkehr von der Kurzschließung von photographischem und dokumentarischem Bild, denn an dieser Stelle tritt das Jeff-Wall-Photo von der Fiktion nach im vorhergehenden Afghanistankrieg gefallenen Soldaten in ihre Betrachtung ein, die von den Betrachter*innen keine Notiz nehmend weiter alltäglichen Beschäftigungen nachgehen:161 »Tote Soldaten sprechen nicht. Hier tun sie es.«162 Sie insistiert in gewisser Weise auf einer Trennung diegeti­ scher Ebenen, die hier mit der Fiktionsgrenze zusammenfallen. Doch ist es eben das Bild, das den Blick abwendet und zur Betrachtungssituation, ja zur Kommunikationssituation auf ­Distanz geht und das dabei auch dem Leiden selbst eine Absage erteilt. Beide funktionieren als Schutz vor allem gegen die zerstörerische Aneignung, die das Bild selbst gegenüber dem Dargestellten, dem Inhalt seines Rahmens ausübt. Das Bild spricht, ist aber in seinen eigenen Dialog versunken. Für beide, für Butler und für Sontag, wird also gerade die indexikalische Spur nach Barthes zum Problem. Dabei bekommt diese Spur im Kontext totaler und oftmals beinahe spurloser Vernichtung noch einmal eine neue Dimension, wird selbst schützenswert (vgl. hierzu Gertrud Koch in diesem Band). Die indexikalische Spur wird so auch zur ethischen Verantwortung, die Frage nach der Wahrheit gewinnt ihren Sinn eigentlich aus der Perspektive der Ethik. Es gibt keine neutrale Position, nicht im Bild, nicht als Bild und nicht im Sprechen über und nicht im Sprechen der Bilder – Fakt! In den Schlaglichtern, die im Verlauf der hier angestellten Reflexio­ nen auf gegenwärtige wie historische Diskurse der Faktizität und deren politische wie kulturelle oder mediale Zusammenhänge geworfen wurden, trat die – in der vorausgegangenen Betrachtung als Bildträger aufscheinende – Literatur immer wieder hervor. Auch in außerliterarischen Kontexten wie dem politischen Diskurs spielen in der Profilierung von Faktizität Literatur beziehungsweise das Literarische eine gewichtige Rolle: So zeigt sich in der Literatur paradigmatisch die notwendige Selbstimplikation der Sprechenden in dem, worüber gesprochen wird, und offenbart so die konstitutive Unmöglichkeit neutralen, nur registrierenden Sprechens. Im Spiel 60 | C. Breidenbach, I. Ghalleb, D. Pensel, K. Simon, F. Telsnig, M. Wittmann

mit konventionalisierten Erzählstrukturen und den damit verbundenen Erwartungen wird zudem das emplotment als Moment der Sinnstiftung nachvollziehbar. Zugleich lässt sich am Beispiel von Trumps öffentlichen Auftritten und Kommunikationsstrategien in den sozialen Medien ablesen, dass der öffentliche Diskurs seine Wirksamkeit nicht ausschließlich aus der narrativen Strukturierung bezieht, sondern u. a. aus der Fetischisierung von Signifikanten oder Formeln, unterstützt von ritualisierten Formen der Inter­aktion. Lite­ratur ist insofern von diesen Funktionsweisen von Sprache stark geprägt, als sie rhetorische Strukturen sowie affektive und performative Potentiale von Sprache als Signifikantensystem handhabt. Außerdem lässt sich bspw. durch die Funktionalisierung narrativer Ebenen in der Literatur Faktizität im Moment ihrer Herstellung zeigen, indem nicht nur etwas erzählt, sondern zugleich auch mit­erzählt wird, wie es erzählt wird, und so Effekte von Rahmungen, d. h. von Kontextualität ausgestellt werden. Die uneindeutige Referentialität des fiktionalen Textes erlaubt es schließlich, die artifiziellen Grenzziehungen zwischen Faktizität und ihrem Gegenteil zu unterlaufen. Literatur indiziert Realität, ohne sie auszusagen. Die Beiträge in diesem Band sind so gewählt, dass sie auch diesen Aspekten einer an der Literatur und dem Literarischen orientierten Auseinandersetzung mit Faktizität gerecht werden. *** Wir danken allen, die an diesem Buch mitgewirkt, es unterstützt und bereichert haben. Besonderer Dank gilt der Graduiertenschule Sprache & Literatur München mit ihrem Sprecher*innenteam und ihrem Geschäftsführer Markus Wiefarn für die finanzielle Unter­ stützung, Birgit Haberpeuntner, Hannes Mittermaier, Claudia Oberrauch sowie Concetta Perdichizzi für die Arbeit an und große Hilfe bei den Übersetzungen und Marcel Simon-Gadhof für das umsichtige Lektorat.

Über eine doppelte Verunsicherung | 61

Slavoj Žižek

Von Fake News zur ›Großen Lüge‹1 In Debatten um die explosionsartige Verbreitung von Fake News in (nicht nur) unseren Medien weisen liberale Kritiker*innen gerne auf drei Entwicklungen hin, die gemeinsam kontinuierlich den sogenannten »Tod der Wahrheit« (»death of truth«) herbeiführen. Die erste ist die Zunahme an religiösen und ethnischen Fundamentalismen (und deren Gegenstück: steife politische Korrektheit), die keine rationale Argumentation anerkennen und Daten skrupellos manipulieren, um ihre Botschaft unter die Leute zu bringen: Christliche Fundamentalist*innen lügen Jesus zuliebe, die politisch korrekte Linke kehrt Nachrichten unter den Teppich, welche ihre Lieblingsopfer in schlechtem Licht zeigen (oder sie verurteilen die Überbringer*innen solcher Nachrichten als »islamophobe Rassist*innen«) etc. Die zweite Entwicklung sind die neuen digitalen Medien, die es den Leuten ermöglichen, Gemeinschaften zu formen, die sich durch spezifische ideologische Interessen definieren. In diesen Gemeinschaften können Nachrichten und Meinungen außerhalb eines vereinheitlichten öffentlichen Raums ausgetauscht werden, Verschwörungen und ähnliche Theorien können uneingeschränkt wachsen und gedeihen (man braucht sich nur die florierenden neonazistischen und antisemitischen Websites anzusehen). Schließlich wird das Vermächtnis des postmodernen ›Dekonstruktionismus‹ und des historischen Relativismus angeführt, die behaupten, dass es keine allgemeingültige, objektive Wahrheit gibt; dass jede Wahrheit auf einem spezifischen Horizont beruht und in einem subjektiven Standpunkt wurzelt, der wiederum durch Machtverhältnisse bedingt ist; und dass die schärfste Ideologie genau in der Behauptung steckt, wir könnten aus unserer historischen Begrenztheit heraustreten und Dinge objektiv betrachten. Ganz im Gegensatz dazu gäbe es aber natürlich da draußen Fakten, die für einen objektiven, unvoreingenommenen Zugang offen seien. Zwischen Meinungs- und ›Faktenfreiheit‹ müsse unterschieden werden. So können Liberale bequem den privilegierten Boden der 63

Wahrheitstreue besetzen und beide Seiten, die Alt-Right und die radikale Linke, ablehnen. Die Probleme beginnen mit der letztgenannten Unterscheidung: Auf gewisse Weise gibt es tatsächlich ›alternative Fakten‹ – natürlich nicht im Sinne der Frage, ob es den Holocaust gab oder nicht. (Im Übrigen argumentieren alle mir bekannten HolocaustRevisionist*innen, beginnend mit David Irving, strikt empirisch, indem sie Daten überprüfen – niemand von ihnen beruft sich auf den postmodernen Relativismus!) ›Daten‹ sind eine gewaltige und undurchdringliche Domäne, und wir nähern uns dieser immer von einem gewissen (wie es in der Hermeneutik heißt) Verstehenshorizont aus an, privilegieren dabei manche Daten und lassen andere weg. Genau daraus besteht unsere Geschichte: Aus Geschichten, Zusammenstellungen von (ausgewählten) Daten in stimmigen Narrativen, nicht aus fotografischen Reproduktionen von Realität. Beispielsweise könnte ein*e antisemitische*r Historiker*in problemlos eine Überblicksdarstellung zur Rolle der Juden und Jüdinnen im gesellschaftlichen Leben Deutschlands in den 1920er Jahren verfassen und dabei hervorheben, dass sie ganze Berufsgruppen numerisch dominierten (Anwält*innen, Journalist*innen, der Kunstbereich) – alles (vermutlich mehr oder weniger) wahr, aber klar im Dienst ­einer Lüge. Die wirksamsten Lügen sind jene, die Wahrheit in sich tragen, Lügen, die ausschließlich faktenbasierte Daten reproduzieren. Nehmen wir die Geschichte eines Landes: Man kann sie von einem poli­tischen Standpunkt aus erzählen (mit Fokus auf die Launen politi­scher Macht) oder man konzentriert sich auf die ökonomische Entwicklung, die ideologischen Kämpfe, allgemeines Elend und Protest. Jeder dieser Zugänge kann sachlich korrekt sein, aber nicht alle sind im gleichen, emphatischen Sinne ›wahr‹. Es liegt nichts ›Relativistisches‹ in der Tatsache, dass menschliche Geschichte immer von einem bestimmten Standpunkt aus erzählt und von bestimmten ideologischen Interessen getragen wird. Das Schwierige dabei ist zu zeigen, inwiefern nicht alle diese Standpunkte, die gewisse Interessen vertreten, letztendlich gleichermaßen wahr sind – einige sind ›wahrheitsgetreuer‹ als andere. Wenn man beispielsweise die Geschichte Nazi-Deutschlands vom Standpunkt des Leidens der Unterdrückten erzählt, d. h. wenn wir in unserem Erzählen vom In64 | Slavoj Žižek

teresse an allgemeiner menschlicher Emanzipation angeleitet werden, dann ist das nicht nur eine Frage unterschiedlicher subjektiver Standpunkte: Ein solches Neuerzählen (retelling) der Geschichte ist auch immanent ›wahrer‹, weil es die Dynamiken jener gesellschaftlichen Totalität angemessener beschreibt, die den Nazismus hervorgebracht hat. Nicht alle ›subjektiven Interessen‹ sind gleich – nicht nur, weil manche ethisch zu bevorzugen sind, sondern auch weil ›subjektive Interessen‹ nicht außerhalb der gesellschaftlichen Totalität stehen. Sie sind selbst Momente davon und werden wiederum durch aktive (oder passive) Teilnehmer*innen gesellschaftlicher Prozesse gestaltet. Der Titel von Habermas’ frühem Meisterwerk, Erkenntnis und Interesse, ist vermutlich heute aktueller denn je. Es gibt ein noch größeres Problem mit der zugrunde liegenden Prämisse derer, die den »Tod der Wahrheit« verkünden: Sie sprechen, als ob sich bisher (sagen wir bis in die 1980er) die Wahrheit trotz aller Manipulation und Verzerrung irgendwie durchgesetzt hätte und der ›Tod der Wahrheit‹ erst ein relativ junges Phänomen sei. Schon ein kurzer Überblick sagt uns, dass das nicht der Fall war: Wie viele Verletzungen der Menschenrechte und humanitäre Kata­ strophen sind unsichtbar geblieben, vom Vietnamkrieg bis zur Invasion im Irak. Erinnern wir uns an die Zeiten unter Reagan, Nixon, Bush  … Der Unterschied liegt nicht darin, dass die Vergangenheit ›wahrheitsgetreuer‹ war. Vielmehr war die ideologische Hegemonie viel stärker, so dass sich im Grunde eine ›Wahrheit‹ (oder eher, eine große Lüge) statt dem heutigen Gemenge von lokalen ›Wahrheiten‹ durchsetzen konnte. Im Westen war das die liberal-demokratische Wahrheit (mit Links- oder Rechtsdrall). Heute zerfällt aber mit der populistischen Welle, die das politische Establishment erschüttert, auch die Wahrheit  /  Lüge, die diesem Establishment als ideologisches Fundament diente. Und der letztliche Grund für diesen Zerfall ist nicht der Aufstieg des postmodernen Relativismus, sondern das Versagen des herrschenden Establishments, das nicht länger in der Lage ist, seine ideologische Hegemonie aufrechtzuerhalten. Wir sehen nun also, was jene wirklich beklagen, die den ›Tod der Wahrheit‹ betrauern: den Zerfall einer von der Mehrheit weitgehend akzeptierten Großen Erzählung, die ideologische Stabilität in die Gesellschaft brachte. Wer den historischen Relativismus verflucht, vermisst insgeheim die sichere Situation, in der eine Große Von Fake News zur ›Großen Lüge‹ | 65

Wahrheit (selbst wenn sie eine Große Lüge war) das grundlegende ›cognitive mapping‹ für alles und jeden bereitstellte. Kurz gesagt sind diejenigen, die diesen Tod beklagen, die wahren und radikalsten Agent*innen des ›Todes der Wahrheit‹. Ihr Motto ist das Goethe’sche »besser Unrecht als Unordnung«, besser eine Große Lüge als die Realität als Mischung aus Lügen und Wahrheiten. Heißt das, dass die einzig ehrliche Position die des postmodernen Relativismus ist? Dass wir die Mischung aus Lügen und (kleinen) Wahrheiten als unsere Realität akzeptieren müssen? Dass jede Große Wahrheit eine Lüge ist? Definitiv nicht. Es heißt lediglich, dass es keine Rückkehr zu der alten ideologischen Hegemonie gibt – der einzige Weg, zu der Wahrheit zurückzukehren, ist, sie von einer um allgemeine Emanzipation bemühten Position aus zu rekon­ stru­ieren. Das Paradoxon, das wir akzeptieren müssen, ist, dass sich universelle Wahrheit und Parteilichkeit nicht ausschließen: In unserem gesellschaftlichen Leben ist diese universelle Wahrheit nur für jene zugänglich, die sich im Kampf um Emanzipation engagieren; nicht aber für jene, die ›objektive‹ Indifferenz zu bewahren versuchen. Um zu unserem Beispiel zurückzukehren: Antisemitismus (aber auch jede andere Form von Rassismus) ist absolut falsch, selbst wenn er sich auf parteiliche Teil-›Wahrheiten‹ (exakte Daten) stützt. Es gibt nicht nur wahre und falsche Daten, sondern auch wahre und falsche subjektive Standpunkte, da diese Standpunkte selbst Teil gesellschaftlicher Realität sind. Was uns heute begegnet, in Zeiten einer globalen Pandemie, ist eine neue Variation des alten Motivs aus »Des Kaisers neue Kleider«: Bedarf es in der Originalversion Hans Christian Andersens noch des unschuldigen Blicks eines Kindes, um öffentlich zu verkünden, dass der Kaiser nackt sei, so verkündet in Zeiten öffentlicher Obszönität der Kaiser selbst stolz, dass er keine Kleider trägt. Genau diese Offenheit aber funktioniert als verdoppelte Mystifikation. Inwiefern? Homolog zu Ernst Kantorowiczs guter, alter These bezüglich der zwei Körper des Königs besitzt der populistische Kaiser von heute Kleider in doppelter Ausführung. Er brüstet sich damit, seine privaten ›Kleider‹ der Würde abgelegt zu haben, behält aber eine zweite Garnitur: die Instrumente seiner symbolischen Investitur. Was die Obszönität Trumps daher pervers macht, ist, dass er nicht nur dreist 66 | Slavoj Žižek

und ohne jegliche Zurückhaltung lügt, sondern dass er gerade dann direkt die Wahrheit sagt, wenn man erwarten würde, dass er sich dafür schämt. Im August 2020, als er seine Absicht verkündete, dem US Postal Service die Finanzierung zu entziehen, war keine komplexe Analyse notwendig, um zu belegen, dass er damit die Briefwahl erschweren und die Demokrat*innen so um Wahlstimmen bringen wollte: Als er nach einer Begründung gefragt wurde, sagte er ganz offen, er wolle erreichen, dass weniger Menschen die Democratic Party wählen. Zu lügen bedeutet, dass man gewisse moralische Normen nach wie vor implizit anerkennt und sie nur in der Praxis missachtet. Was aber mit Trump in diesem Fall geschieht, ist schlimmer als zu lügen: Indem er sagt, was buchstäblich wahr ist, hebt er die Dimension der Wahrheit selbst auf. Man möchte meinen, dass in einer Zeit wie der unseren, in der das Virus uns alle bedroht, eine Haltung des ›Willens zum Wissen‹ vorherrschend sei, um voll zu verstehen, wie das Virus funktioniert, es erfolgreich zu kontrollieren und seine Verbreitung zu verhindern. Was wir dagegen vermehrt erleben, ist eine Art Wille zum Nicht-Wissen, da zu viel zu wissen unser Alltagsleben einschränken könnte. Wir haben es hier mit etwas zu tun, das seit Langem zur Tradition der katholischen Kirche gehört, die im Angesicht des Aufstiegs der modernen Wissenschaft darauf bestand, dass es besser für uns sei, manche Dinge nicht zu wissen. Ein Echo dieser Haltung findet sich sogar bei Immanuel Kant, dem großen Partisanen der Aufklärung, der (im Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner Kritik der reinen Vernunft) schrieb: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«2 – nur der Glaube könne unsere Freiheit und unsere moralische Autonomie sicherstellen. Die heutigen Kognitionswissenschaften werfen dieses Dilemma erneut auf: Was passiert mit unserer moralischen Autonomie, wenn uns die Gehirnforschung die Schlussfolgerung aufdrängt, dass es keinen freien Willen gibt? Sollen wir der Wissenschaft Grenzen setzen, weil ihre Ergebnisse eine Bedrohung für unsere (vorherrschende Vorstellung von) Autonomie und Freiheit darstellen? Der Preis, den wir für diese Lösung bezahlen, ist die fetischistische Spaltung zwischen Wissenschaft und Ethik (»Ich weiß ganz genau, was die Wissenschaft behauptet, entscheide mich aber, das zu ignorieren und so zu tun, als ob ich es nicht wüsste, um trotzdem den AnVon Fake News zur ›Großen Lüge‹ | 67

schein von Autonomie zu bewahren«). Es liegt höchste Ironie in der Tatsache, dass Habermas, der gegenwärtige Philosoph der Aufklärung, gemeinsam mit Kardinal Joseph Ratzinger (dem späteren konservativen Papst Benedikt XVI.) ein Buch über die Dialektik der Säkularisierung3 schrieb, in dem beide trotz ihrer Differenzen der These beipflichten, dass wir in einem »postsäkularen« Zeitalter leben, in dem deutlich wird, dass die Ansprüche der Wissenschaft eingeschränkt werden sollten, um zu vermeiden, dass sie zu einer Bedrohung für unsere Würde und Freiheit werden. Diejenigen, die das wahre Ausmaß der Pandemie ignorieren, handeln ganz ähnlich: Da detailliertes Wissen über die Pandemie zu Maßnahmen führen könnte, die unsere Vorstellung eines freien und würdevollen Lebens bedrohen, ist es besser, so zu tun, als würde nichts Ernstes vor sich gehen. Die Wissenschaftler*innen sollen ruhig nach einem Impfstoff suchen, uns aber ansonsten in Ruhe unser Leben leben lassen, und zwar so, wie wir es gewohnt sind. Einige Dinge nicht zu wissen, zu lernen, was man ignorieren kann, ist natürlich Teil der Fähigkeit, wirklich zu denken. Wenn Menschen zum Beispiel ein schlimmes Verbrechen begangen haben und dann versuchen, es zu rechtfertigen oder zu relativieren, indem sie beschreiben, wie sie selbst die Tat erfahren haben und welcher tiefere Sinn für sie dahinterstand, dann sollte man das ignorieren und sich darauf konzentrieren, was tatsächlich passiert ist. Das ist es, was Georg Wilhelm Friedrich H ­ egel als die unendliche Macht der Abstraktion bezeichnete: Der Weg zum wahren Wissen führt durch die gewaltsame Abstrahierung alles Unwesentlichen. Diese grundsätzliche Einsicht hat aber nichts mit den gegenwärtigen Bemühungen zu tun, die Wissenschaft zu diskreditieren. Das ist die Entscheidung, die wir alle zu treffen haben: Geben wir uns der Verführung durch den Willen zum Unwissen hin oder sind wir bereit, die COVID-19-Pandemie wirklich zu denken, nicht nur als biochemisches Gesundheitsproblem, sondern als etwas, das in der komplexen Totalität unseres Platzes (d. h. des Platzes der Menschheit) in der Natur und unserer sozialen und ideologischen Verhältnisse verwurzelt ist? Zu dieser Entscheidung mag gehören, dass wir uns ›unnatürlich‹ verhalten und eine neue Normalität aufbauen. Aus dem Englischen übersetzt von Birgit Haberpeuntner 68 | Slavoj Žižek

Klaus Benesch

The Art of the Lie

Ein Plädoyer gegen die Wahrheit Hätten wir nicht die Künste gutgeheißen und diese Art von Kultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Als im Jahr 1971 die auszugsweise Veröffentlichung der sogenannten »Pentagon Papers« durch die New York Times die anhaltenden Täuschungsversuche der amerikanischen Regierung über die Hintergründe des Vietnam-Krieges offenlegte, setzte sich Hannah Arendt in einem bemerkenswerten Essay mit dem Titel »Lying in Politics« mit der daraufhin einsetzenden öffentlichen Empörung auseinander. Ohne die Brisanz des Skandals schmälern zu wollen, erinnerte sie daran, dass Geheimnistuerei, Diskretion und vorsätzliche Täuschung seit jeher zum Instrumentarium politischen Handelns gehören. Ihre Begründung für die zunächst banale Einsicht, dass nämlich Politiker grundsätzlich lügen, zielt dabei jedoch gerade nicht auf eine historische, durch allgemeine Handlungskonventionen erklärbare, negative Verhaltensnorm. Vielmehr sieht Arendt die Ursache für dieses zweifelhafte Verhalten im Verständnis des Politikers von sich selbst begründet. Als wesentlich Handelnder ist der homo politicus ein Möglichkeitsmensch, er lotet Optionen der Veränderung von Wirklichkeit aus und versucht, diese in seinem Sinn zu beeinflussen. Wie Arendt hervorhebt, kann er hierbei niemals völlig frei agieren. Die Vorstellung von Wirklichkeit als tabula rasa, in die sich der handelnde Mensch jeweils von neuem einzuschreiben vermag, wäre völlig naiv. Vielmehr sieht er sich einer Wirklichkeit gegenübergestellt, die es in seinem Sinn zu verändern und damit in gewisser Weise zu negieren gilt: »In order to make room for one’s 69

own action, something that was there before must be removed or destroyed, and things as they were before are changed«.1 Diese Veränderung einer bereits gesetzten, vorgegebenen Wirklichkeit ist aber nur möglich, wenn es gelingt, uns qua der Einbildungskraft von der Faktizität des aktuellen Geschehens zu distanzieren und die Dinge in ihrer Potentialität, also so, wie sie auch sein könnten – aber eben gerade nicht oder noch nicht sind –, wahrzunehmen. Anders ausgedrückt, die absichtliche Leugnung des Faktischen und die Fähigkeit, die Welt in unserem Sinn zu gestalten, sind aufs Engste miteinander verbunden. »The deliberate denial of factual truth – the ability to lie«, um noch einmal Hannah Arendt zu zitieren, »and the capacity to change facts – the ability to act – are interconnected; they owe their existence to the same source: imagination«.2 Arendts kluge Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit von Imagination und Aktion, von Vorstellungskraft und Handlungswillen, scheint mir angesichts der in jüngster Zeit allenthalben vernehmbaren Rede von der post-faktischen Gesellschaft aufs Neue bedenkenswert. Als handlungswillige und handlungsgewillte Menschen können wir nämlich gar nicht anders, als die sich uns entgegenstellende Wirklichkeit eben gerade nicht in toto, das heißt als wesentlich unantastbare Wahrheit, zu akzeptieren. Insofern aktives Handeln immer die Veränderung des bereits Gegebenen impliziert, haftet ihm notwendig die Negation des so – und nur so – Existierenden an, ist ihm die Lüge immer schon eingeschrieben. Ohne diese trotzige Verneinung des status quo und ohne die geistige Freiheit, sich die Welt so, aber eben auch anders vorzustellen und uns dementsprechend in ihr einzurichten, sie uns – im Sinne Heideggers – anzueignen und zu ›bewohnen‹, wäre politisches Handeln schlicht nicht möglich. Folgt man Arendts Argumentation, dann macht es wenig Sinn, mit Empörung (»moral outrage«) auf die Lüge in der Politik zu rea­ gieren. Da sie gewissermaßen die Voraussetzung jedes proaktiven, neue Maßstäbe setzenden Handelns bildet, lässt sie sich – auch unter Aufbietung noch so rigider moralischer Sanktionen – schwerlich aus dem Feld des politischen Handelns eliminieren. Woran liegt es also, dass wir dennoch stets mit Empörung auf die Lüge in der Poli­tik reagieren? Woher kommt das moralische Unbehagen an der Unwahrheit, gepaart mit der Erwartung, dass wir als öffentlich han70 | Klaus Benesch

delnde wie als private Subjekte die Wahrheit sprechen, so wahr, wie wir es mit oder ohne die Hilfe Gottes eben vermögen? Eine schlüssige Erklärung für unsere vermeintlich anthropologische Vorliebe für die Wahrheit findet sich in den späten Vorlesungen Michel Foucaults, die unter dem Titel Die Regierung der Lebenden: Vorlesungen am Collège de France 1979–1980 auf Deutsch nachzulesen sind.3 Für Foucault ist das heutige Wahrheitsgebot ein Ergebnis der Säkularisation christlicher Buß- und Bekenntnispraktiken. Wer spricht, muss ›wahr‹ sprechen, egal ob im öffentlichen Raum oder im sakralen Zwiegespräch. Die Moderne hat die urchristliche Verpflichtung des Bußsakraments verweltlicht und zur Leitidee des gesellschaftlichen Diskurses erhoben. Die Schuld der Lüge öffentlich auf sich zu nehmen, die zur Schau gestellte Reue und die Bereitschaft, Buße zu tun, bilden nunmehr den Kern moderner Selbstvergewisserung. Dabei wird deutlich, dass die Gewissensfrage nach der Wahrhaftigkeit des eigenen Sprechens immer auch dem Zweck der individuellen Beschränkung und Selbstdisziplinierung geschuldet ist. In dem, was Foucault als das »Wahrheitsregime« der Moderne beschreibt, steckt also eine gehörige Portion Tyrannei: Wahr-sprechen war im abendländischen Kontext immer schon ein Akt der Unterwerfung unter das Primat von Gewissensprüfung und Geständnis. Denn es geht in diesem Diskurs nicht nur um das Aussprechen der Wahrheit, sondern ebenso – und vielleicht noch wichtiger – um das vollständige Bekenntnis des Subjekts zu dieser Wahrheit. Auch wenn Foucault in den letzten Vorlesungen vor seinem Tod 1984 den radikalen »Mut zur Wahrheit« von Kynikern wie Demetrius und Diogenes als die einzig mögliche Form des Philosophierens preist, so bleibt ihm dennoch die Unmöglichkeit des Wahr-sprechens innerhalb des dominanten Diskurses staatlicher Regulierung und Selbstdisziplinierung bewusst. Diese Einsicht, dass dem unterdrückten Subjekt – etwa dem Insassen einer Irrenanstalt oder eines Gefängnisses – letztlich die Möglichkeit der Artikulation seiner jeweils subjektiven Wahrheit verwehrt bleibt, ist nach Foucault im Wesen der Sprache selbst begründet. Diejenigen, die von der Gewalttätigkeit der Geschichte zum Schweigen gezwungen wurden, sprachen, insofern sie überhaupt sprachen, niemals in ihrer eigenen Sprache. Man hat ihnen, wie Foucault in vielen seiner bekannten Schriften ausführt, eine fremde Sprache und eine fremde The Art of the Lie | 71

Begrifflichkeit aufgezwungen. Ihr vermeintliches Sprechen war somit immer schon Ausdruck und Resultat ihrer Unterwerfung unter die Diskursmacht des Regimes. Für den Einzelnen, wie Foucault 1971 in einer berühmt gewordenen öffentlichen Diskussion mit dem amerikanischen Linguisten Noam Chomsky betont, gibt es in einem auf diskursiver Vorherrschaft angelegten System keine Möglichkeit, Normen und Positionen jenseits des dominanten Diskurses zu artikulieren oder auch nur zu denken.4 Mit anderen Worten, nicht die Verneinung eines vermeintlich objektiven Sachverhalts konstituiert die Lüge, es ist vielmehr das Festhalten am Primat des Wahr-sprechens selbst, das uns zu Leugnern der jeweils subjektiven Wahrheit des entrechteten Subjekts an den Rändern des Diskurses macht. Die Debatte darüber, ob es eine apriorische Wahrheit jenseits des Diskurses, also jenseits der jeweiligen subjektiven Bedingungen ihrer Erfahrung, Erkenntnis und Artikulation gibt, ist so alt wie die Philosophie selbst. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob und inwiefern Dinge und Zustände an sich wahr sind, also keiner weiteren ›Bewahrheitung‹ durch den Menschen bedürfen. So argumentieren Rationalisten und Anhänger der sogenannten Korrespondenztheorie (Aristoteles) häufig, dass jede Abweichung unserer Beschreibung von einem vorgegebenen Ist-Zustand außerhalb unserer selbst notwendig Un-wahrheit konstituiere. Für den Fall der bewussten, vorsätzlichen Verkennung eines angenommenen Ist-Zustandes haben wir es mit der Lüge zu tun; in allen anderen Fällen mit den ebenso folgenreichen, aber gesellschaftlich weniger sanktionierten Phänomenen der Torheit, Naivität, Träumerei oder Ähnlichem. Die epistemologische Trennung in ›wahr‹ und ›unwahr‹ scheint hier zunächst glasklar, methodisch unproblematisch und mittels eigener Sinneserfahrung für jeden nachvollziehbar zu sein. Die Frage nach der Wahrheit wird dabei in den Bereich des menschlichen Vermögens oder Wollens verlagert. Sie wird bestenfalls als ein Problem der Wissensvermittlung behandelt, im schlechtesten Fall als Niederträchtigkeit oder Dummheit. Man denke nur an die in jüngster Zeit von vielen Medien und öffentlichen Institutionen in Stellung gebrachten fact-checkers, mit denen versucht wird, den Unwahrheiten des öffentlichen Diskurses – sei es in der Politik oder in den sozialen Medien – Paroli zu bieten. Die Motive dafür sind sicherlich lobenswert, sie übersehen aber mindestens zwei wesent72 | Klaus Benesch

liche erkenntnistheoretische Probleme der Korrespondenztheorie, auf deren Basis jede Form von fact-checking zwangsläufig operiert. Da ist zum einen der immer nur eingeschränkte, situations- und subjektabhängige Zugang zur postulierten Wahrheit einer Sache oder eines Zustands; und zum anderen das Problem der Unterscheidung von konkreten und abstrakten Wahrheiten, also etwa der Wahrheit eines physikalischen Körpers von der Wahrheit einer Idee oder einer bestimmten Handlung. Es ist offensichtlich, dass etwa das Gewicht eines Kieselsteins sich exakter bestimmen lässt als das Gewicht einer symbolischen Geste, deren Schwere oder Wirkungsmacht jeweils verschieden wahrgenommen werden kann. Um diesen beiden Problemen zu entgehen, der Unzuverlässigkeit menschlicher Erkenntnisfähigkeit einerseits und der notwendigen Skalierung von Wahrheiten entsprechend den auf sie bezogenen Objekten und Handlungen andererseits, hat der amerikanische Pragmatismus einen prozess- und diskursorientierten Ansatz vorgeschlagen. Nach William James, der sich in seinen Harvard Lectures ausführlich mit der Bestimmung von Wahrheit auseinandergesetzt hat, greift die positivistische Annahme, dass Ideen, um als wahr zu gelten, einen gegebenen Ist-Zustand jeweils gedanklich kopieren oder zumindest nachahmen müssten, zu kurz. Wenn ich eine Uhr im Hörsaal als solche identifiziere, dann habe ich zwar ein Bild ihres Zifferblattes und ihrer individuellen äußeren Erscheinung vor Augen, nicht aber ihrer Mechanik und ihrer physikalischen Uhrhaftigkeit. Ich kann also nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob es sich dabei tatsächlich, wie von mir vermutet, um einen Apparat zur Zeitmessung handelt. Da jedoch die Erfahrung, mich nach ihr richten und so meinen Vortrag einteilen zu können, in der Praxis vielfach bestätigt wurde, werde ich ihre Existenz dennoch als wahr annehmen. Aus diesem scheinbar banalen, alltäglichen Beispiel entwickelt James dann eine für die Moderne folgenreiche konstruktivistische Auffassung von Wahrheit: »Truth happens to an idea. It becomes true, is made true by events. Its verity is in fact an event, a process«.5 Für James ergibt sich die Wahrheit (»verity«) eines Objekts oder Ereignisses im Wesentlichen aus dem Nutzen, den diese für den Betrachter entfalten. Anders ausgedrückt, wir nehmen Dinge und Aussagen dann als wahr an, wenn unsere Erfahrung uns lehrt, dass sie von praktischer Relevanz sind, und wenn diese Erfahrung am The Art of the Lie | 73

Ende in eine positive Gratifikation (»verification«) mündet: »True ideas would never have been singled out as such, would never have acquired a class name, least of all a name suggesting value, unless they had been useful from the outset in this way«.6 Aus diesem Grund sind wir auch geneigt, Dinge als wahr anzunehmen, deren Wahrheit sich im strengen positivistischen Sinn einer Überprüfung entzieht; ihr Nutzen ist für uns aber derart evident und nachhaltig, dass wir die Wahrheit des Objektes – etwa der ›Uhr-haftigkeit‹ der Wanduhr – nicht in Frage stellen. Realität, so James, kann demnach als das Zusammenspiel unterschiedlicher Formen von Verifikation begriffen werden: Wir haben es dabei entweder mit einem konkreten Faktum, einer abstrakten Idee eines Objekts oder den von uns intuitiv wahrgenommenen Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungsformen zu tun. Unsere Vorstellung von Realität entsteht also nicht aus der möglichst deckungsgleichen Übereinstimmung unserer Ideen mit den von uns wahrgenommenen Objekten; vielmehr werden wir durch unsere Wahrnehmung in einen fortwährenden Prozess der kulturellen Aneignung und Skalierung unterschiedlicher Formen von Wahrheit verwickelt. Um vor uns als wahr zu bestehen, müssen diese Wahrnehmungen jeweils zu Ergebnissen führen, die wir übereinstimmend als wertvoll erachten: also etwa gesellschaftliche Stabilität, Konsistenz mit eigenen früheren oder von anderen Subjekten gemachten Erfahrungen sowie die Möglichkeit des gesellschaftlichen Austausches über sie. Wahrheit in diesem pragmatischen Sinn, so James, ist immer etwas ›Gemachtes‹, ebenso wie eine robuste Gesundheit und persönlicher Reichtum nicht einfach existieren, sondern – wie uns die Erfahrung lehrt – auf unterschiedliche Weise ermöglicht werden (»truth is made, just as health, wealth and strength are made, in the course of experience«).7 Man mag gegen die pragmatische Definition von Wahrheit einwenden, dass sie hoffnungslos relativistisch und daher gefährlich sei. Sie ist Ersteres jedoch nur insofern, als sie den verschiedenen Individuen einer Gemeinschaft kollektive Vereinbarungen über den Nutzen bestimmter Wirklichkeitserfahrungen abverlangt; und sie ist Letzteres immer nur dann bzw. dort, wo der öffentliche Diskurs über eben diese Nützlichkeit behindert oder durch bewusste Falschaussagen beeinflusst wird. Wahrheit, Wahr-Sprechen und Parrhesia, 74 | Klaus Benesch

also die Redefreiheit des Einzelnen, sind auch bei James auf Engste miteinander verbunden und bilden die Voraussetzung einer zwar kaum verifizierbaren, dabei aber als stabil und konsistent empfundenen Wirklichkeit. Da reine Faktizität jenseits menschlicher Erfahrung ebenso wenig wünschenswert wäre wie die destruktive Gewalt eines absoluten Relativismus, der – um eine Formulierung James’ aufzugreifen – ins Nichts führt, bleibt die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Konsensus. Denn welche Wahrheiten wir als nützlich und zielführend empfinden (etwa im Sinne eines egalitären, fortschrittlichen Humanismus) und welche von uns als destruktiv für die Gemeinschaft eingestuft werden, ist das Ergebnis fortwährender sozialer Interaktion und kommunikativen Handelns. Insofern die Künste immer schon ein gewichtiger Akteur im Prozess der kollektiven Verständigung über die ›richtige‹ Erfahrung von Wahrheit waren, hatte auch die Lüge ihren angestammten Platz bei der Wahrheitsfindung. Möglicherweise war es ja gerade das von Oscar Wilde am Ende des 19. Jahrhunderts beklagte Aussterben der Lüge als Kunstform, das unserem vermeintlich post-faktischen Zeitalter den Weg geebnet hat. Wie für Hannah Arendt so ist auch für Wilde die Lüge eng an die Imagination gekoppelt: »The fashion of lying has almost fallen into disrepute«, wie einer der beiden Protagonisten in The Decay of Lying: An Observation bemerkt, many a young man starts in life with a natural gift for exaggeration, which if nurtured in congenial and sympathetic surroundings, or by the imitation of the best models might grow into something really great and wonderful. But as a rule he comes to nothing. He either falls into careless habits of accuracy […] or takes to frequenting the society of the aged and well-informed. 8

Für Wilde ist die Lüge, die hier der jugendlichen Einbildungskraft verwandt scheint und als charakterbildendes Korrektiv zur affirmativen Haltung des angepassten Erwachsenen entworfen wird, offensichtlich mehr als die – je nach Situation – bösartige oder naive Negation des Faktischen. Vielmehr ist sie eine Kulturtechnik, mit deren Versiegen uns auch die Möglichkeit der Verständigung über eine von allen geteilte Erfahrung von Wahrheit abhandengekommen ist. Der Bereich, in dem die Lüge als legitimes Mittel der Wahrheitsfindung schon immer kultiviert wurde, ist die Kunst. Sie operiert The Art of the Lie | 75

nicht nur entlang der oft brüchigen und verschwommenen Grenzen zwischen Fiktion und Realität; indem sie bewusst die Unwahrheit sagt, erlaubt sie oft Einsichten in komplexe Sachverhalte von äußerster Relevanz und Dringlichkeit. Weit davon entfernt, lediglich dem Zeitvertreib oder Müßiggang zu dienen, lernen wir von ihr, das Verhältnis von Schein und Sein zu hinterfragen und dem andernorts Unsagbaren eine Stimme oder ein Antlitz zu geben. Ohne sie, wie Nietzsche mit beißender Ironie an einer berühmten Stelle in Die fröhliche Wissenschaft sagt, wäre die durch die moderne Naturwissenschaft ermöglichte Einsicht in die Verlogenheit und die Irrtümer unserer Zeit überhaupt nicht auszuhalten.9 Der aus dem Süden der USA stammende Autor James Dickey hat dieses Paradox einmal anhand der folgenden Anekdote auf den Punkt gebracht. Als er als junger Journalist seinen ganzen Mut zusammengenommen und Picasso nach dem Wesen der Kunst gefragt hat, habe ihm dieser geantwortet: »Art is a lie which makes us see the truth«.10

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Oswald Egger

Wahrmacherei

Wie Gewahres und Gedachtes Und-los ineinander übergehen Caffè caffé. Wellerismus Kein Teufel bestürzt wie der Übergang zum Glück, dass es ihn gibt. Luis Molina

Ich kann wirklich nicht sagen, Wort für Wort seien leicht zu bewahrheiten. Doch die Schwierigkeit besteht darin (und verstellt sich selbst), Euklid im Sinn zu haben (statt Jean Paul zu erinnern): versucht, nach den Mustern von Figur und Grund, stets Unvordenkliches zu verursachen und dabei nur Grillen der rigideren Sprachgitter des Gewahrsams zu lustrieren, um faktisch schon-noch im Gegenwarten Schritt zu halten, um ja – und nein – nichts falsch gemacht, nichts richtig getan zu haben, als ob die Schatten der Schatten einander vorgingen, und mit jedem Schrecken ebenso auf- und davonkommen. Ich habe mich oft gefragt, warum ich so unnachgiebig an der Arealität der Rede von der Außenwelt, insbesondere von ihrer Fortdauer während der Wahrnehmungspausen festhielt, und habe jeweils versucht – als ununterredendes Gespräch dabei – mir eine überlegtere Einsicht in die Ungründe und Verfestigung dieser Überzeugung zu verschaffen: Gehörte es zum Wesen der Wörter und Sachen (zum Binnensinn des Gewahren), dass sie miteinander verbunden sind, als Verallgemeinerungsverdrehung, irgendwie verbindend Wörter und Wortgegenstand: als Schemen, Bilder und Gestalten? Nur kein Grundgedanke sei allein selbst der Fall, wortwörtlich, ganz ohne Dinge, ohne Verbundenheitszusammenhang bündelig, gefasert, faselig, und die Wörter sind tatsächlich, »wie« Tatsachen, ungleichartige Ahnungen und Annahmen, Angelgelenke 77

und Angelegenheiten, sie wirken und versachten: Sich-nicht-Festlegendes davon. Und wo immer ein Wort erörtert wird, werde ein Wort für Wort – metaschematisch – ununterschlagen permutiert darin, behautet, wiederaufgenommen. Und zwar die koexistierenden Zustände, die, in Form ihrer Foliation, Möglichkeiten kompossibel machten, unumgänglich, ataktiert, und durch zergatterte Defektgitter durchlöcherter Blätter siebläufig existierend werden, auch davon. Es mussten quasi Nichts, das ist, und das, Was nicht gesagt ist, gleichsam erst in meiner Seele1 ausgeformt und reif geworden sein, das heißt: Gewahrsam müsse das Gewahre gleich und gleich wahr geworden sein, eins zu eins und um und um eins zu sein: Die Kontingenz (und Konnexität) benachbarter und unzusammenhängender Gegenden ohne Gegenstand und Gegenwarten, die Wort für Wort durchmusterte, rumort in solchen ungeheuren Räumen des Gedächtnisses, d. h. der ganze Kreis der Erde müsse gleichsam in der Rede wiederkehren, von A bis Z, und übers Knie gebückt ­infolge – L, M, N.2 Und auch die Elemente solcher Denkvorgänge sind unbedingt ersichtlich völlig in die übrigen, fixen und verborgenen Ideen, in diese Abbänderung von Bewandtnissen und Einwänden verwebt, Figur und Grund, um in sich – und um und um – einer Vielzahl von Welten in Wirklichkeit (beständiger) und in Wahrheit (unständig) daran anzuverwandeln, gleichwie außer sich ›zu‹ gesetzt, und da wie dort in Rede, ausgeglichen, fortzusetzen. Und diese Verbundenheit erschien als das Wesen jeglicher Art von Dingen: Wort für Wort sind in den ganzen Wegzusammenhang aller weiteren und übrigen Vorvorstellungen davon, was edieren ja heißt und meint, gleichsam in ein Wort verwebt für Wort. Auch die selber unerinnerte Erfahrung, dass ein fortdauernder corpus über und über Erscheinungsverläufe in dergestalt maßgeblicher Abfolge verkörpert werden könne, ließ mich davon ausgehen, dass die Fortdauer der Wörter und Sachen zumindest soweit und so lange, als ich sie sinnlich wahrnahm, unmittelbar durch diese Sinneswahrnehmung selbst pausenlos wirkte, und erschien, unausgesetzt, persistent, als dass ich aus diesem unmittelbar wahrgenommenen Anteil dann das Ganze mittels Interpolation erhielte: Sind Wort für Wort erst einmal ausgesprochen, erscheint die intermit78 | Oswald Egger

tierende Konjektur oszillierend davon, zu offensichtlich, um überhaupt noch darauf zu beharren; und ich wundere mich, dass ich selber so wenig unterbunden habe, um die Anwendungen in Sprache als Sprung- und Grundsatz wortwörtlich zu zergliedern: Die sichin-sich wiederholende, teils-teils selbsterweiternde Variation des gegebenen Erscheinungsverlaufs bewirkt nur die Annahme, dass es bestimmte, teilweise wahrnehmbare, so und so aussehende Gebilde (die Verkörperungen der Gegenstände, ihr wechselständiges Entgegenstehen) gebe, die auf Zeit in teils mehr, teils weniger konstanter räumlicher Ordnung (deren Kontinuation), also in einem bestimmbaren raumzeitlichen Wegzusammenhang ununterbrochen (auch untereinander) fortbestehen. Nichtsdestotrotz hoffte ich hierin die ganze Umgebung ganz vor mir zu wissen, als Zustandssumme von Vorstufen der Verschmelzung von Figurenreihen, die vor dem ruhenden Auge vorüberziehen, und als innigere Verstrebung, die Welt in die Welt zu setzen, als eigene Welt der Form nach, und gleich und gleich außer mir sich nichts als zu vervielfältigen.

Jennifer Eckert, aneinander (2015)

Ich bemühte mich (mit Helmholtz), die Wortkörper zu zergliedern, d. h. diejenigen Operatoren genauer zu bestimmen, welche notwendig und hinreichend sein würden, aus einem gegebenen Intervall im Wahrmacherei | 79

Erscheinungsverlauf die Hypothesen, welche der inneren Geometrie der Begeisterung zugrunde liegen, zu isolieren in Formen ihrer Form. Doch selbst diese Bemühung führte nicht zu Ergebnissen; vor allem deshalb, weil es mir nicht gelang, die Eigengesetzlichkeiten und Bewandtnisse des Erscheinungsverlaufs, von deren Vorhandensein ich überzeugt sein wollte, weder analytisch bzw. begrifflich zu erfassen, noch Wort für Wort zu ersetzen. Ich schloss aus, dass die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit der tatsächliche Grund meines Vertrauens in meine unmittelbare Wahrnehmung sei. Denn wie konnten beispielsweise physikalische Eigenschaften und Maßverhältnisse realer Objekte mit Eigenschaften sowie Maßverhältnissen phänomenaler Objekte verglichen werden, wenn erstere der Wahrnehmung und Erkenntnis nur vermittelt zugängig sind? Genauer, was und wie wäre ihre Abbildung? Der Abbildbegriff beinhaltet ja die zweistellige Relation zwischen Urbild und dessen Repräsentation auf der Referenzfläche einer realen Welt. Wenn B das Duale von A ist, ist dabei A wieder das Duale von B. Als selbstinverse Involution wird dieser Abbildbegriff jedoch sinnleer, da Abbilder allenfalls Abbilder übereinstimmend abbilden können, areale Areale. Aber schon auf diesem Standpunkt musste ich einräumen, dass die Fortdauer der Körperwelt, so wie ich sie im gewöhnlichen Leben annahm, jedenfalls durch den sinnlichen Bestand meiner Wahrnehmungen nicht vollkommen überlagert und gedeckt wird. Wenn alles so war, wie ich dachte, dass es sei, konnte nichts so sein, wie es ist. Denn unmittelbar sinnlich bekam ich auch in der einbildungskräftig ausgebildeten Wahrnehmung nie etwas anderes zu sehen als strikt lokale Aufmerksamkeits-Zentren und Blickhöfe auf den Körperoberflächen. Dabei habe ich versucht, die Täuschungen über Zuordnungen der Geometrie der Phänomene (im Phänogramm) zu einer Geometrie des Objektiven (als Ontogramm) zu bestimmen. Aber den Zuordnungsbegriff versuchte ich demnach mit einer Abbildung der Vorlage durch das Phänomen gleichzusetzen. Die Abbildung war dabei in keiner Beziehung mit einem Abdruck von Eindrücken gleichzusetzen, sondern ließ die Möglichkeit zu, hierin einen polytopen Prozess zu vermuten, welcher nicht von der Vorlage z. B. im Sehfeld allein abhing, sondern maßgeblich, wenn auch nur mut80 | Oswald Egger

maßlich, von der dimensionsumkehrenden Dynamik des psychophysischen Organismus bzw. des Subjekts mitbestimmt wird, etwa durch die genaue Beschreibung der geometrischen Handlungen, die zu der Vorlage selbst zuvor führen; dabei galt: Das Duale des Dualen ist das Original.3 Und dasjenige, das in jedem einzelnen Moment meinem Auge entginge, das Unbedingte und die Gegend ohne Gegenstand, war mir ebenso nie gewahr: niemand könnte – in meinen Augen – mit seiner Sinneswahrnehmung allein noch einmal in den bereits abgelaufenen Pfad im Wegnetz-Kontinuum zurückkehren: Wie eine Weltlinie, die sich der Liebe nähert, loxodrom, ahndet ihm dunkel, wenn er seine eigne subjektive Vollkommenheit, in eine objektive, oder seinen Genuß, ums Ganze zu gehen, in Anschauen wird verwandelt sehen, ein Kontinuum konjugierter Punkte, to observe the obverse: ein Faden nach dem andern musste jetzt abgeschnitten werden, der sie mit den übrigen An- und Absichten, gleichsam nach einer Figurenreihe durchmustert, zusammen knüpfte: Weltlinien (ein Wellerismus) seien eine um eine stetige Kurve (bzw. Handlungsbögen) wortwörtliche, wovon zu jeder Zeit innerhalb eines Intervalls Weltpunkte zählten. Und zwar je ein genauer gesehener und genau ein nicht gesehenerer Gesichtspunkt unzusammen, Und-los. An diese schlössen plötzlich, eher: allmählich alle meine übrigen Gedanken und Fragen auf, und lösten sich-von-sich verhältnisfrei in den Zusammenhang der übrigen Vorstellungen ab und an, je mehr sie in sich anhielten, insichdicht, gezwirnt, darin: nach und nach kommt zwangsläufig – so und so – die Vorvorstellung der immer noch immer umgebenderen, auch unbedingten Umgebung daran, das Gewahre in den Gewahrsam überführend, Und-weltlich zustande, unbestimmt davon.4 Aber vermochte ich zu zeigen, inwieweit Grund und Muster des einen Gebildes (z. B. Gedichts) (d. h. im Erscheinungsverlauf) allein andere Gebilde (die fortdauernde Verkörperung schon) eindeutig zu vergegenwärtigen imstande sein können? Maß und Ziel war es ja, allenthalben Unzusammenhänge außerdem, gleichartig untereinander, ebenso als solche wiedererkennend zu empfinden, zu kennzeichnen, indem und während sie aus solchen Vorstellungsreihen ihrer (vielleicht) Ichheit irgendwie gerissen sind: Ein nirgendsdichteres Kontinuum maßloser, quasigranularer Strukturzusammenhänge; Wahrmacherei | 81

die immerzu innere Ansicht, die es füllt, die Ununterscheidung der Jetztpunkte, erscheint allein durch und durch ihre beständige Annihilation im ›nicht mehr‹ möglich, wodurch sie aber unzuzeitig in die Gleichheit gleich und gleich herunterfalle, die sie mit allen anderen Zeitpunkten, die auch nicht mehr sind, davon teilt. Ich musste zusehends die Neigung der Gedanken gegeneinander (oder die allmähliche Verwandlung der äußeren Angemessenheit der Verfestigung in die innere zu überzeigen) suchen, die Absicht, die Wort für Wort immer außerhalb des Satzgegenstandes liege, in den Gegenstand der Sache selbst zurückzuwälzen, und ihn dadurch in sich vollendet auch zu erkennen und zu empfinden? Dann sähe ich ein Ganzes, wo sonst nichts als davon abgesehenere Teile zusehends sintern, d. i. ersichtlich sind, d. h. das Ganze Um und Auf, das Wort für Wort isterte, Alles in allem, stückwärts. Zerschildert in einer Geflechtsfläche von Weltlinien – Guillochen (aus mehreren ineinander verwickelten und überlappenden Linien­ zügen schnurartige, oft asymmetrische, geschlossen durchmusterte Ellipsen und Kreisformen), als ob sie mit einer Ilias von Silben unzusammenhingen und verschwimmen im Lauf der Dinge – Ziel und Syzygie würden immer nur in Maßen außer sich sein, Spiel haben, aber mit dem symplektischen Zweck, in ihnen nie ein Ganzes ganz unversehens zu übersichten: Verflochtenes, in sich geschlossen, Anastomosen-wie-durch-einen-Tanz galliarde Zöpfe von Verbänderungen: allmählich lösen einander durch und durch Umkehrungen selbstverdeckt gebliebene Teile richtungsfrei und reigenweise wieder auf. Das A und O, die Verschlingungen der Bänder gerieten heftig und zugkräftig zur Erscheinung, als ob der Tanz voll Kraft um eine Mitte betäubte ein Achilles mir – im Zelterschritt von Zellverbänden.5 Die Absicht aller dieser Unbegebenheiten fällt in sie selbst zurück; ich vergesse ihren Unzusammenhang fast (die ganze Zeit), glaube, eine Welt in der Welt, eine ganze Unmenge von Unbegebenheiten klein-klein zu erkennen und zu empfinden, und bin unbedingt versucht, zu sagen, dass Nichts (ohne Grund) existierte, die beinahe geraume Zeit, indem und während Muster (Nichts, das ist) sich-in-sich ereigneten, so wie ein Ingenieur einmal mutmaßlich äußerte, dass die Ströme nur erschaffen worden seien, um Kanäle zu fluten und navigierbar zu machen. 82 | Oswald Egger

Denn das größere Rätsel blieb ja, wieso gerade die Annahme der fortdauernden Verkörperungen eine dergestalt persistierende, geläufige, durch nichts sonst ersetzbare gedankliche Angleichung an den faktischen Erscheinungsverlauf sein mochte, wo diese doch zugleich weit über den Hergang allein hinausgreift. Um die Lösung zu enträtseln, schneide ich aber die Fäden ab, wodurch die Begebenheiten selber einen Hang außer sich erhielten, ich lasse dasjenige weg, was in eine andere Sphäre von Begebenheiten eingriffe, sie erfüllt oder durchknotet, d. h. ich schlaufe Verursachungen und Wirkung aufeinander, eine Mannigfaltigkeit von auseinander fliehenden Fäden und Geschehnissen, die sich kaum zutragen, aufdauern, unzusammengedrängt, im Geraumen, endeln wie auch der andere, leergelassene Teil durch den erfüllten schlicht mitbestimmt bliebe, so dass die ganze Zeit aus diesem erfüllten teils-teils zu konstruieren sei – im Verbindungspunkt der Anastomose aufeinanderfolgender Wörter und im einfachen und wirklichkeitsnächsten Übergang von einem Wort zum sofortigen, wo End- und Anfangslaute gruppenhaft übereinstimmen in Syzygien phonotaktischer Konkatenation.6 War es denkbar und möglich, aufgrund eines real gegebenen Erscheinungsverlaufs, wie ihn die anhaltende Sinneswahrnehmung – und zwar schon allein die andauernde Gesichtswahrnehmung  – entwickelt, die gemeinsame körperweltliche Umgebung ihrem raumzeitlich-umrissenen Zusammenhängen nach und nach zu entfalten? Grund und Muster, zumal in den Zäsuren an den verschiedenen davon: Wortabschnitten: sie tun den gefitzten Knick, die Spitze und Falte gefalzt der Intervalle des pausenlos zugrundeliegenderen Wahrnehmungsablaufes, ununterbrochen: denn aus solchen Abläufen, welche während der gewahrten Zeit innerhalb einer gewahren, dinglichen Umgebung noch unter den Umständen kompossibel erscheinten, müsse sich ein und dieselbe Sphäre zusammenfassen lassen, füglich als Obliegenheit: Der ganze Satz-Aufbau der Wirklichkeit7 lasse sich nur insoweit zugeben, als die zwei Beziehungen »nichts ist früher als etwas« und »etwas ist früher als nichts« selbstbezüglich wirken: gleich und gleich, so dass es kaum möglich scheint, mittels der Metrik allein ein ununterscheidendes Merkmal für Bezugnahmen der (angenommenen) naheliegenden und der (ersichtlich) weiterreichenderen Umgebungen von Mal zu Mal aufzumerken.8 Wahrmacherei | 83

Damit aber die Abbänderungen von den Fakten nicht nur (und nicht zu) gewahr werden, müssen dieselben stetig und beinahe unmerklich geschehen, zusehends (schrittweise, schleppend). Zu jeder weiteren Aberration zwischen Geschehnissen und Begebenheit (»etwas startet bei Null und passiert Hier und braucht Zeit und passiert Dort«) (»Etwas das bei Null gestartet ist passiert Hier und begibt sich nach Dort und passiert Dort«), und zu jeder Ineinanderregung der Vorkommnisse davon (»Etwas das bei Null gestartet ist passiert Hier und begibt sich nach Dort und passiert Dort«), musste ich erst durch eine weniger gewagte, weniger merkliche vorbereiten, worauf ich meine Ahnungen und Annahmen nacheinander eigenlos und gleichsam stützen und ununterstellen könne: Die nach-und-nach-Erzeugungen des Sichtbaren, des fortwährenden, sichtbaren Äußerungszusammenhangs der anbelangenden Umgebungen (Wortgegenstände); das dauernde Innen der Verkörperungen wollte ich Und-bedingt infolge (nach Helmholtz) durch und durch Zerschneiden und Wiederzusammenfügen bewerkstelligen, aufheben und erhalten: Wie Abbildungsvorgänge, welche den tatsächlichen Erscheinungsverlauf, die dem Beobachter zugewandten Bewandtnisse augenscheinlich unter den Umständen um und umstellten, sich wechselständig in Betracht ziehen, von­einan­der absehen, und diese ungewahr fortdauernden, sich-in-sich zurückwälzenden, vollendet seltenen Verallgemeinerungsverdrehungen selbst. Ich wollte den Verlauf der Oberfläche veranschaulichen, indem ich mir jedes Weltlinienstück durch einen dünnen Faden ersetzt dachte, dergestalt, dass alle Fäden parallel und dichtschließend in stets derselben Ordnung nebeneinander liegen würden, wie die betreffenden Weltlinienstücke, und dass jeder Faden dabei dieselbe Farbe aufdecken werde (Holmgreen’sche Wollproben), welche der entsprechende Punkt der Oberfläche während der in Betracht gezogenen Zeit ebenso zeigen mochte, und welche früher als gedacht allenthalb zur Erscheinung gelangte.9 – Ein faktisch dreidimensio­ nales, plastisches Gebilde, eine oblonge Verkörperung, die von lauter farbigen Fäden und Strängen durchzogen ist: Die Fäden gelangen allgemein nur zerstückt zu den Vorstellungen, d. h. es gibt in Wirklichkeit nur einen gewissen Ausschnitt, welcher in Wahrheit direktive nachgemacht ist.10 84 | Oswald Egger

Ich musste mir etwas als Nichts, das ist, vorzustellen wissen, was ich an und für sich selber zu glauben nicht abgeneigt bin; dies ist aber einigermaßen ungleichgültig, weil Wort für Wort immer mehr auf die innere, inerte Wirklichkeit der Verstrebungen sehen (und verstreben, als auf äußerbare Wahrheit), und zwar: Punkt für Punkt der Wände selbst, gleichläufig und augenartig abgetastet, entspricht jedem Zeitintervall gleichsam, da jeder interim anders und nur zusehends ins Blickfeld gerückt wirkt, als Faden der Länge der Dauer des assoziierten Zeit-Intervalls proportional. Absehbar erhielt ich also vermutlich ein minuziöses graphisches Modell eines uneinheitlich wirklichen Erscheinungsverlaufs, vorausgesetzt, dass die Schnitte und Etappen sowohl in ihrer raumzeitlichen Weltlinie als in ihrer optischen Substanz und Funktion mit meinem Auge aug­ innen zusammenfallen, im Nu.11 Ich dachte mir das Auge (wie ein Auge) ersetzt durch eine gegen die Körperoberflächen bewegliche Weltlinie, welche das für gewöhnlich auf der Netzhaut auffallende Licht einfängt und eine zustandsgleiche Welt in der Welt in allen Farben herstellt. Diese Homotopie denke ich mir entwickelt wie einen Film, in Folge, in seine zig Momentaufnahmen zerschnitten, und nun diese ihrer Zeitfolge entsprechend und zu sich selbst parallel auf einander geschoben: Vorstufen der Verschmelzung von Figurenreihen, die vor dem ruhenden Auge vorüberziehen, solange, bis das Gemachte g­ ewahr wird. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte wirkt aber nur von Zeit zu Zeit abgebildet, wo die von ihnen ausgesandten Lichtfäden die Zimmerinnenoberfläche tatsächlich trifft (und wie Film belichtet) also nicht schon zuvor abgeschirmt erscheint. Dachte ich mir dagegen die Bahn der Blicke dicht (das Auge im Geraumen) im Raum beliebig gewählt, so erhielt ich die Zustandssumme aller Erscheinungsverläufe, die aus der Umgebung, während und indem ihre Wahrnehmung möglich seien, als Gewahrwerden quasi, die ganze Zeit tun.12 Umschreiben Punkt für Punkt der Oberfläche (Phänogramme) aufmerkend in der zigdimensionalen Welt einen entsprechenden Abschnitt ihrer Weltlinie? Ich musste mir so viele gerade scheinende, distrikt und indistrikt dicht an dicht aneinandergrenzende Linien (wie wenn es tausend gäbe) annehmen, als es abgesehen daWahrmacherei | 85

von direktive Wirklichkeiten gäbe: zergliedert in je eine Handlung und ein Ziel der Handlung, aktionsartig, mit viel Spiel zwischen den Zielen (stativer und lokativer Partitive). – Gleichsaum koexistierende Zustände unzusammen, dementsprechend, in einander (häufig) überlagernden, (unaufhörlich) immerzu intermittierenden und (fortdauernd) iterierenden, (währenddessen) zurückweichenden und (stimmig) wieder untereinander einholenden, sich beständig verdoppelten darin, Perioden, wie Phasen, die schwoien, und oft trollatisch wechselständigen Unruhen und Vorgängen einer Welt in der Welt, als müsse ich so viele solcher dicht an einander grenzenden Fäden an- und abnehmen, als es Zwecken mit Kopf zur Nagelprobe quasi abzutasten gebe, nach und nach, wie Gelenksmechanismen selbstverschränkt, die allein einen Konfigrationsraum teilen.13 Ich zeichnete einen Kreis: d. h. ich handelte so, dass am Ende der Handlung der Satz der Kreis ist gezeichnet wahr geworden war. Ich verband die Sätze im Intervall, dabei entstanden Wahrheitswertlücken. Denn ich zeichnete einen Kreis, erschien wahr an einem minimalen Intervall, sodass der Kreis ist gezeichnet am Beginn von der Handlung falsch gewesen sein musste und am Ende des Vorgangs selbst wahr geworden sein würde. D. h. ich handelte so, dass am Ende der Handlung der Satz der Kreis ist gezeichnet zum Ereignis geworden sein wird, also so, dass am Ende der Handlung das Faktum wahr erscheint: der Kreis ist gezeichnet. Ich sollte mir den unermesslich ausgedehnten Kreis in lauter aneinandergrenzenden Liniensegmenten denken, und in ein- und demselben jeden derselben eine krumme, ganze Linie, die im Kleinen die Teile und das Ganze des Großkreises konjugierter Punkte unausgesetzt darstellt, indem sie eine Anzahl der eigenlosen und richtigeren Linien des im Großen und Ganzen Um und Auf des Kreises und Kreisens durchschneidet. Dieser Rapport galt für die geradescheinenden, direktive aneinander grenzenderen Linien vergleichlich, die immerzu innenwändiger anscheinende Folgerungen erhalten, je mehr sie außerdem gewahre und gerade noch nachgerade angemessene verlieren, bis zuletzt ein Punkt erreicht sei, Tonin-Ton verjüngt davon. Dass Gegenstände, zuvor auch nur Grund und Folge gemeinsam, Mittel und zum Schnitt sind, zum Ansinnen selbst werden, worauf sich nunmehr die zusammengestellten 86 | Oswald Egger

Beweggründe alle wegen des allmählichen und annähernden Abschnitts ihrer äußeren Zweckfreiheit zu beziehen wissen. Wenn ich den Gesichtskreis über den Erdkreis abrollte,14 wenn ich mir die Welt als einen großen Zirkel dachte, dessen sämtliche Teile gegen sich selbst inklinieren, um miteinander ein Ganzes auszumachen, so erscheinen mir wegen des unermesslichen Umfangs des Umkreises die Krümmungen fast unmerklich, und ich glaube, allenthalben, nichts als grade Linien zu erkennen, oder bloß davon abgesehene Mittel zum Zweck zu empfinden, wo doch andauernde Absichten zum Ziel verstreben, die mir entgehen, weil ich nicht einmal einen so umfassenden Abschnitt des Weltkreises überschauen könnte, der mir eine wirkliche Rundung erschien; ich müsste jede Krümmung, den Dreh, die radiale Kehre nur ahnen, nur erraten, als gestaffelte Folge von Zirkelsystemen, gleichsam als ob ich in dem großen unermeßlichen Zirkel einen kleineren im verjüngten Maßstabe nachbilden wollte. In diese fast schon unbegrenzt zu Ende zu denkende, aufschließende Schraffur als Bildkontur hinein guillochierte ich bald eine um eine Silhouette, genauer: Die Welt in der Welt erscheint durchzogen aus und mit insichdicht disloziert gelagerten Lineaturen von dergestalt unendlich subtiler Krümmung, Windung oder Schlängelung, dass sie mir als gerade Linien erschienen. Und diese Weltlinienstücke liefen, da der fassliche Zusammenhang der Oberfläche sich ununterdessen nicht ändern wird, allesamt andauernd gleichsaum parallel nebeneinander her, ohne sich gegenseitig zu verflechten und ohne zwischen sich eine Lücke zu lassen.15 Das Linearsystem präsentiert sich somit als ein Ineinander von Zirkeln und gekrümmten, aber gerade erscheinenden Linien sowie solchen, die stärker gekrümmt sind, aber eben dadurch als anscheinend gerade erscheinen sollen.16 Ich schneide und schaue sie aus dem schraffierenderen Ununtergrund – invertiert davon – heraus. Zu diesen Lineaturen kommen Punkte hinzu, Umschlagspunkte, die einen Aspektwechsel verursachen, und eine Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten illusionistisch innenhin vollendeter Zirkel auszeichnen. Diese krummen Linien wollen wir also die Schönheitslinien, und die in dem unermeßlichen Zirkel gerade scheinenden Linien die Wahrheitslinien nennen. Die Schönheit wäre also die Wahrheit im verjüngten Maßstabe.17 Wahrmacherei | 87

Ich habe versucht, zwei parallele Reihen in Beziehung zu denken, die Anastomose der sinnlichen Erscheinungen und die Syzygien der Realität, indem ich eine Homotopie von Zwischenbildern nach und nach verschränkte. Für die Augenblickspunkte der Blicklinie existiert eine Reihe von Abblätterungen von der wirklichen Welt (diese Weltpunkte entsprachen einer Buntordnung von Empfindungen). Ich versuchte dann, durch und durch die Rede von der Realität zu verständigen, von welcher ich annahm, dass sie in einer eigenen Welt der Form nach, jenseits einer Panoramamembran liege, und erzielte eine Reihe von Wahrnehmungen. Jedes Blatt für Blatt ist offensichtlich, farbig kongruent (homotop) zu einem Teil aus Teilen jeder Oberfläche selbst. Bestand diese teils aus einem einzigen Stück, so auch mein Blatt; ist dies (infolge der Überschneidungen, die bereits stattgefunden hatten) nicht der Fall, bestand auch Blatt um Blatt aus dementsprechend vielen, voneinander ungetrennten Stücken18: Wort für Wort wird ungehörig, abgeschnitten, ein- das dasselbe; nochmals vorgebracht, folglich, sinngemäß verknüpft und nun deutlicher in sich gefasst: Alles, was nicht gesagt ist, muss immer weniger Beziehungslinien auf anderes verbinden, Worte wechseln, Welt- oder Wortgegenstände setzen; es müsse immer mehr Äußerndes zusätzlich von jeder entgegnenderen Leere abgeschnitten werden, unterredet, in sich selbst erörtert, stichhaltig erstickt.19 Schönheit, Schauen, Schein favorisieren sachtgewellte, fließende Konturen einer Homotopie: die ununterbrochene Verknüpfung im allmählichen Sowohl-als-auch-sein jeder selbstdurchsetzten Homologie von Vorgängen der angrenzenden Wahrheitslinien in Sprache und Gestalt, und ob ihrer wortwörtlichen Zerstückelung der Gegenstände, und der Sache nach, aber nie nah. Es bedarf subtiler ideenreicher Einschnitte in den Gesamtzusammenhang, damit diese Linie der Täuschung unauffällig umgebogen und doch überzeugend wirke: Der Scheincharakter dieser Schönheitslinie bleibte unüberwindbar, denn das poetische Tun könne nur machen, dass das Zusammengesetzte verfahrensweise vorgestellt werde, als ob es etwas aus einem Stück lückenlos zu bewahrheiten weiß. Im Wort für Wort stellen sich jetzt die inneren Fäden im Großen und Ganzen schräg gegen die dunkle Außenhülle und verschwin88 | Oswald Egger

den, sobald sie an diese herangerückt sind, während an der gegenüberliegenden Seite neue Fäden von der Grenze der Außenhülle aus in sie hineinlaufen, um nachher gleichfalls wieder verschwunden zu sein: Ginge die anscheinende krumme Linie zu gerade hinunter, so würde das Horazische Ungeheuer herauskommen. Ein Kopf vom Löwen, Schwanz vom Fisch, Brüste von einem Weibe; lauter Mittel, wovon die Zwecke in der Natur auf einmal, und auf völlig gleiche Art, ohne allmählige Abstufung abgeschnitten wären. Und auch die Notwendigkeit der aparten Konturen dieses in sich selbst Vollendeten, Kreisenden, dem sein Pointillismus nicht anzusehen ist, kann nicht so und so erscheinen. Unumrissenheit, die glatte Zusammensetzung müsse auf eine anscheinendere Art hervorbringen, was in Wahrheit als Sukzession, Traduktion und augen­blickliche Erschaffung einer sich in sich insichdicht vollendeten Wahrmacherei ausgesprochen nicht gewahr sein kann. Was sind das für Einwände ineinsfallender Gegensätze, die die Welt in der Welt umringen und einzingelten, aus alternierend herumgeschlungenen Bändern, welche jeweils aus Dünnem und Dichtem bestehen? Zwischen diesen und solchen sind andere Bänder vorhanden, die aus Licht und Dunkelheit geflochten wirken, so blickdicht wie die Ummantelungen jeder Bewandtnis: Die Blicklinie werde weltgewandt umherbewegt, dass jeder Teil der Hüllfläche nach und nach mindestens einmal eine gewisse zeitlang aufgefädelt werde: Ruht die Weltlinie eine zeitlang relativ zur Binnenoberfläche, auginnen, so bleibt der Erscheinungsverlauf während dieser ganzen Zeit konstant, d. h. ich erhielt beim Erkennen und Empfinden lauter einander kongruierende Momentbilder, die alle in derselben Weise von einem Rand, von der Weltlinie, gleich der Blende einer Kamera, eingeschlossen sind. Das Faktische weglassen sei hier das wahre Wesen des Gehörigen, selbst wenn ein Wort für Wort, das eins ist, mehr durch Löschen ausgesprochen als durch äußernde Losungen auszulösen ist, und zwar: Die eingebildetere ›Schönheitslinie‹ durchkreuzt eine Anzahl ›Wahrheitslinien‹, indem sie diesen allmählich engere Grenzen vorschreibt, deren Fülle eben die Bündelungen der Denklinien ausfasern lässt. Jetzt vermochte ich die Fortdauer der Fläche in ihrem inneren zweidimensionalen Eigenzusammenhang aus dem gegebenen ErWahrmacherei | 89

scheinungsverlauf in dieser Weise abzuleiten, d. i. als zweidimen­sio­ nalen Eigenzusammenhang seiner Abbänderungen: So vermochte ich von einem bestimmten Faden aus zu einem andern zu gelangen, während und indem ich lauter paarweise nächstbenachbarte, zueinander gehörende Fäden überschritte. Jedem einzelnen Faden entspricht ein bestimmter ihm gleichfarbiger Faden, und umgekehrt, so war das gleiche bei den entsprechenden Fäden Wort für Wort möglich, und umgekehrt: Sind irgend zwei Fäden einander nächstbenachbart, so bleiben auch die entsprechenden beiden Fäden während ihres ganzen Verlaufs nächstbenachbart, und umgekehrt. Von aller sonstigen Verbindung der Fäden, insbesondere von ihrem Zusammentreffen bei Überschneidungen, konnte ich absehen, ich mochte den Ausschnitt, das Zergliederte in eine Anzahl zeitlich aufeinanderfolgender Schichten zerlegt denken, und in jeder einen Jetztquerschnitt ausgewählt haben, dergestalt, dass die Querschnittfläche nahezu auf alle Fäden der Zwischenschicht trifft. Damit auch das Umgekehrte galt, musste sich der Blick wie im Vorübergehen entlang des Sehfelds bewegen: Solange die Weltlinie indistrikt ruhte, konnte es noch immer möglich sein, dass irgendzwei Punkte, die optisch dicht-an-dicht nebeneinander dringen, auf einer Linie fluchten und fliehen, oberflächlich, und der eine oder der andere, von innenher gesehen (in den Augen der Augen) beträchtlich hinter ihm liege. Diese Syzygie besteht darin, dass zwei nächstbenachbarte Punkte punktum auch stets nächstbenachbarte optische Bilder lieferten, gleichgültig, wie die perspektivische Deformation dieser Bilder ausfiele. Ich mochte daher stets charakteristische Abschnitte in Betracht ziehen, d. h. solche, worin tatsächlich innere Deformationen und Überschneidungen auftraten; nur für diejenigen Fäden, welche auch in diesen Abschnitten sich nicht voneinander trennen: Zwei Fäden, die in einem charakteristischen Abschnitt eine kurze Zeit lang nächstbenachbart nebeneinander liegen, liegen dergestalt auch während ihres ganzen Verlaufs. Der ganze Strang löst sich im Innern in Teilstränge auf, die in ihrem Verlauf nicht nur sich deformieren, sondern auch ihre Richtungen gegeneinander ändern, und sooft zwei solche Teilstränge nun schräg gegeneinanderstoßen, so verschwindet wiederum der eine von ihnen an der Grenze des andern. In diesem Abschnitt ist 90 | Oswald Egger

also das Innere von Früher-Als etwa einem gemalten Flechtmuster vergleichlich: Die einzelnen Teilstränge des Musters verhalten sich zueinander analog wie die Teilstränge der Durchmusterung, indem dieses sich aus seinem immer in sich selbst vollendeten Zusammenhang, in den äußern Zusammenhang der Dinge wiederhin verschwimmt, womit die zahllosen Verschiebungen, verpassten Stellen, Löcher und anderen Ösen sich irgendwie entsprechen und überdachten, genauer, was sich deckt mit dem, was nicht zur Deckung kommt.20 In einem betreffenden Abschnitt wird nun die Längsrichtung aller Fäden übereinstimmen mit der Längsrichtung der dunklen Außenhülle, so dass dieser ganze Abschnitt einen einzigen Strang paralleler Fäden darstellt. Sobald aber die Weltlinie sich verschiebt, zeigt die Projektion, wie sich das ganze Bild gegen den dunklen Rand ebenfalls verschob, gleichsam, wie die Erscheinungen der einzelnen Oberflächenteile sich perspektivisch deformieren davon, bald einschrumpfen, bald sich ausdehnen, und wie die Erscheinungen der vorspringenden Flächenstücke die anderen teilweise überschneiden, während der dunkle Rand das ganze innere Bild, soweit es sich an ihn heranschiebt, überschneidet.

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Ich betrachtete nicht die räumliche Konfiguration, sondern nur die sichtbare Oberfläche der Verkörperungen und der Umgebung; abstrahierte dann von ihrer raumgeometrischen Gestalt, wo sie über die Form des inneren planimetrischen zweidimensionalen Eigenzusammenhanges hinaustrat; zuletzt aber berücksichtigte ich nachdrücklich (in den gefärbten Fäden) den zeitlichen Verlauf und die anschauliche farbige Durchmusterung der Oberfläche, in Schließungsfolgen, d. h. diejenigen Bildabfolgen, bei denen sich die erzeugte Fläche in sich aufschließt. Die Konturen der verwebten Fläche verschwimmen vollends, verbrämt im Hin- und Herziehen der dunklen Fäden mehr und mehr vor den hellen. Ich fühlte mich hineingezogen, das Durcheinanderwirbeln wurde stärker; ein Ineinanderspielen der Bewegungen, welches sich anstelle meiner Person gesetzt hatte. Wie von innen beleuchtet sind die Fäden in die Länge gezogene Flammen, Fäschen, der selbandergeschlagenen Stränge nach dem Muster: Sind zu viele Wahrheitslinien aber inkludiert, so geht diese Ähnlichkeit wieder verloren: denn die Schönheitslinie weicht von ihrem Urbilde ab, und neigt sich wieder zur Wahrheitslinie. Ich mochte die Wahrheitslinie nicht selber biegen, sondern nur machen, schmieden und stanzen, dass sie sich zu falzen scheint, als ob diese etwas aus einem Stück Bestehendes schmiedete, wie Achilles’ Schilderungen.21 – Muster und Grund fließen ineinander über, fingen an zu gleiten. Schlangenbewegungen, stellenweise dösend rot, glänzend hell, darüber farbiger Dampf mit unscheinbaren Streifen hellauf, ich muss hinundhersehen, ich bedauere sehr das allmähliche Abflauen, die Durchwanderung der Aufmerksamkeit. Und weil die und die Welt in der Welt oberflächlich raumhaft, d. i. geschlossen ist, so lässt sich die Welt in der Welt, eingebettet, nie als Ganzes ergänzen. Wohl aber ist das Um und Auf, jeder hinreichend dünne Teilstrang davon, anschaulich darstellbar im Raum, auch: Ich brauchte ja nur an ein nachgerade ebenes Stück der Zimmerinnenoberfläche die entsprechend gefärbten Fäden zu ihm senkrecht anzusetzen.22 Ich orientierte mich an dem, was hier um mich war, versuche mich zu viel von der unmittelbaren Umgebung aus weiter zu tasten, mich und sich gegenseitig vorauszusetzen, nicht daran fehl zu gehen. Sowie ich aber ohne dieses Fehlen eines Einfalls Wortwörtliches 92 | Oswald Egger

erleben soll, hören die Einwände auf, und kommt das Geschiebe des Nicht-Unterschiedenen in die Billigung der Welt. Durch einfaches Durchgreifen wurde somit die Ununterscheidung zwischen Implikation und Zustimmung verbindlich, da Entgegnungen und das Aussetzen zufolge des Nichtentstehens gleich und gleich, aber durch und durch die Verursachungen zu den Handlungsräumen aneinandergekoppelt feststellend sind: Handlung allein koppelt nicht die zu zweien wahr gemachten Paare par-impar an- und ineinander, sondern sie verjocht aus beiden deren Tun und Machen, einen einzigen: Zeitsinn als Verschmelzungsvorgang innerer Annahmen und vorantastender Fakten.23

So kehren alle Probleme wieder, die ich verschwunden glaubte. Selbst das uralte Problem der Wechselwirkung von Außenwelt und Innenwelt, auf dessen Ausschaltung ich mir besonders viel zugute hielt, blieb nicht zurückgedrängt, obschon ich nur eine Welt gelten ließ: ich hatte nur kein Auge dafür. Ich unterschied zwar zwischen Empfindungen und voranspurenden, wenn auch nur in Gedanken ergänzten Sinnreizen, die allein den Eindrücken den Täuschungscharakter abnehmen, und damit für den Realitätswert der gegebenen Welt dieselbe Rolle erwirken wie Dinge an sich. Mit diesen Dingen an sich teilen sie aber die Unnahbarkeit, die Unmöglichkeit einer Erreichbarkeit, einer Vermittlung, denn wo immer ich ihnen nahekommen wollte, mussten immer erst neue, wiederum selbst nicht erkennbare Reizprozesse vermitteln, deren Resultate oder Endglieder mir immer nur gegeben sind. Ich übersetzte das herkömmliche Weltbild nur in eine andere Sprache. Wurde die Übersetzung exakt durchgeführt, so finde ich darin alles, was mir im Urtext unangenehm schien, wieder und wieder: Die einzelnen Theile in einem schönen Kunstwerke müssen alle aus der Natur genommen, und also wahr seyn, aber ihre Zusammensetzung ist die Schönheit, diese ist also nur eine einzige, dahingegen die Wahrheit mehrfach ist. Wahrmacherei | 93

Je mehrfacher die Wahrheitslinien, welche durch ihre Abstufung die Schönheitslinien bilden, bis auf einen gewissen Punkt, sind, je näher sie aneinander gränzen, desto grössere Ähnlichkeit wird diese mit der unermeßlichen wirklichen Schönheitslinie haben.

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Elisabeth Bronfen

Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama Eine serielle Kompensation

Politisches Glück als serielle Verlaufskurve Wie ein roter Faden läuft durch den Vorspann der HBO-Serie Veep eine rot gefärbte Linie, die zuerst steil nach oben steigt und dann plötzlich wieder abstürzt.1 Den Hintergrund dieser Verlaufskurve bilden eine Vielzahl an Medienbildern, welche die Wechselhaftigkeit aufzeigen, mit der die US-amerikanische Öffentlichkeit auf den politischen Machtwillen der Titelheldin reagiert: stets jeweils als Erstes ihr Portrait auf dem Cover von Time Magazine, welches den Titel »Is this Meyer’s moment?« trägt. Zu Beginn der ersten drei Staffeln tauchen die Zeitungsüberschriften »Senator’s White House run« und »Might it be ›President Meyer‹?« auf, während die rote Kurve immer höher steigt, begleitet von Bildern der strahlenden Politikerin. Zuversichtlich streckt sie ihren Wählern ihren erhobenen rechten Daumen entgegen. Beim Cover des People Magazine angekommen, welches die Anwärterin auf das Präsidentschaftsamt mit dem Attribut »Magic Meyer« versieht, setzt hinter der roten Verlaufskurve eine zweite Serie an Schlagzeilen ein. Diese dokumentiert den dramatischen Wandel eines politischen Schicksals: »Selina’s un-super Tuesday«, »Selina suspends campaign«, »Meyer’s meltdown«, »Nightmeyer« und schließlich »Selina, ›proud to be veep‹«. Bebildert wird die Berichterstattung ihrer Niederlage mit einer Ansammlung weiterer Portraits, die sie verdutzt, wehmütig und enttäuscht zeigen. Der Endpunkt der Kurve allerdings ist eine Aufnahme von Selina Meyer (Julia Louis-Dreyfus) in einem kreisförmigen, mit weißen Sternen besetzten blauen Rahmen, der auf einem gewellten rot-weiß-blauem Band ruht. Aufrecht an ihrem Schreibtisch sitzend lächelt sie uns leicht verkniffen an. Es ist das Emblem dieser TV-VP der Vereinigten Staaten von Amerika.

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Ab der vierten Staffel verändert sich dieser Vorspann leicht. Zwar steigt und fällt die rote Linie weiterhin, doch einige Medienbilder sind ausgetauscht, um nun eine weitere Verlaufskurve im Schicksal dieser ambitionierten Politikerin aufzuzeigen. Der Logik der Serie entsprechend ist der Wiederholung eine Differenz eingeschrieben – das Muster bleibt bestehen, wenngleich auch andere Ereignisse angekündigt werden. Die ersten beiden Schlagzeilen halten fest, wie es dazu gekommen ist, dass Selina Meyer zur ersten Präsidentin der USA wurde: »Hughes’ resignation: World reacts«, »Nomination race intensifies«, »Meyer polls higher«. Es ist, als würde zugleich auf einem Kardiogramm der Herzschlag der Nation festgehalten. Die dazu gehörenden Bilder geben ihre triumphierende Freude wieder. Dann sinkt die rote Linie einmal mehr und bewegt sich nun entlang Überschriften, die die prekäre Lage einer Acting President festhalten, die erst noch offiziell gewählt werden muss: »Meyer’s numbers hit new low«, »Meyer loses another primary«, »Meyer: I will survive«, »The 8-month President?«. Die serielle Wiederholung dieser Bildkette, die Selina Meyers zweiten Wahlkampf, der nun vom Oval Office aus geführt wird, aufruft, geben ihre Verwirrung, ihre Enttäuschung, aber auch ihren Trotz wieder. Im Vorspann zur fünften Staffel schließlich wird die unsichere Legitimität ihrer Präsidentschaft noch weiter in den Vordergrund gerückt. Zwar lässt, wie die Schlagzeilen verkünden, ihr running mate, Senator Tom James, die Erfolgskurve kurz aufwärtssteigen, doch bald sinkt die rote Linie wieder, begleitet von einer weiteren Serie an vernichtenden Schlagzeilen: »Too close to call: Election ends in historic deadlock«, »O’Brien  /  Meyer refuse to concede« und »Congress scrambles as tie forces House to select President«. Sind die Medienbilder, die diese fatale Wende im Schicksal Selina Meyers begleiten, sowohl dem ersten wie dem zweiten Vorspann entnommen, lassen sie sich als Rekapitulation des gesamten narrativen Verlaufs ihrer Präsidentschaftskandidatur lesen. Aufnahmen der Politikerin, die noch nicht im Weißen Haus gelandet ist, und derjenigen, die diesen Ort der Macht vorzeitig wieder verlassen muss, sind zu einer einzigen fortlaufenden Bildkette zusammengefügt, als solle damit eine zwingende Logik festgemacht werden. Dabei gilt es, am Anfang jeder Episode unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie sehr das Schicksal dieser politischen Karriere mit de96 | Elisabeth Bronfen

ren Medienpräsenz gleichgeschaltet ist. Lebt jede einzelne Episode von den partikularen Hindernissen, die VP Meyer zu überwinden hat, wie auch von der Schadensbegrenzung, welche sie und ihr ungelenkes Team nach ihren politischen Fehltritten jeweils unternehmen müssen, wird deutlich: Die Wirksamkeit ihres öffentlich verbreiteten Images und ihre politische Macht entsprechen sich. Auch wenn sich die Schlagzeilen ändern, dramaturgisch entscheidend ist die Diskrepanz zwischen dem für diese Berichterstattung zur Schau gestellten Selbstvertrauen und der Enttäuschung, die ebenfalls als Bildkette preisgegeben wird. Unverändert hingegen bleibt das rotblau-weiß umrandete Emblem ihres Überlebens als öffentlicher Figur, die uns trotz aller Schwankungen direkt von ihrem Schreibtisch aus anblickt. So lässt sich dieser seriell konzipierte Vorspann nicht nur als Vorschau und Rückblick auf die konfliktreichen Ereignisse lesen, die sich in den einzelnen Episoden entfalten, sondern auch als metafiktionaler Kommentar. Der von den ausgetauschten und neu zusammengesetzten Schlagzeilen und Bildern sowohl angekündigte wie kommentierte Aufstieg und Absturz der Titelheldin ist nicht einmalig, sondern repetitiv. Der Vorspann spricht ebenso unsere Erwartungen an das Format der TV-Serie im Allgemeinen an wie den partikularen narrativen Verlauf der Figuren, die um Selina Meyer kreisen und an ihrem wechselvollen politischen Schicksal teilhaben. Die Wiederholungsstruktur der dramatischen TV-Serie fügt das einzelne Schicksal in ein Muster ein, welches neu ansetzt und immer wieder neue Bahnen schlägt, um schlussendlich doch – wenn auch mit kleinen Veränderungen – am selben Punkt anzukommen. Emily Apter sieht darin eine adäquate ästhetische Form für das, was sie »serial politics« nennt: »a picture of politics – substantialized in random willings rather than exceptional, individual acts – that is never something ›the people‹ can have or to which universals can lay claim«.2 Der metareflexive Reiz des Vorspanns von Veep besteht demzufolge in der Gleichstellung dessen, was Apter den gewöhnlichen Aspekt einer seriellen Politik nennt, und der medialen Vermittlung einer fiktionalen Politikerin, deren Krisen deshalb keine Ausnahmen darstellen, weil sie sich stets wiederholen. Die Hindernisse, mit denen sich Selina Meyer herumschlägt, entpuppen sich dank des Serienformats als das Erwartbare. Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 97

Obgleich Veep in der Forschung, die sich zur medialen Selbstreflexion im zeitgenössischen TV-Drama äußert, immer wieder auftaucht, wird meist House of Cards als ein besonders prägnantes Beispiel für die Offenlegung politischer Manipulation durch eine mediale Fiktionalisierung von Ereignissen angeführt. Vor allem die Shakespearean asides von Frank Underwood (Kevin Spacey) greifen in die Art, wie die Medien über seine Handlungen berichten, ein. Durch seine Kommentare wird deutlich, wie er entweder eine neue politische Realität zu schaffen hofft oder vergangene Ereignisse in ein neues Licht rücken will, damit diese seinen Machtansprüchen besser entsprechen.3 Uns vertraut er seine geheimen Machenschaften an und macht uns so zu seinen Komplizen. Während wir in Veep einen Einblick in die Taktik des Täuschens erhalten, welche Selina Meyer – dank der Strategiegespräche mit ihrem Team – für uns unentwegt vorführt, setzt House of Cards die verstohlenen Monologe, die Frank Underwood direkt in die Kamera spricht, dramaturgisch ein, um diesen sowohl als Schöpfer der dargebotenen Machenschaften zu etablieren als auch zu entlarven.4 Wir werden angehalten, nicht nur hinter die Kulisse seiner medialen Manipulation zu blicken, sondern auch die Vereitelung seines unheilvollen Theaterspiels zu erkennen, werden doch die Hindernisse, die er – Selina Meyer nicht unähnlich – unentwegt zu überwinden hat, immer dramatischer, bis er schließlich am Anfang der sechsten Staffel nur noch als Toter im Weißen Haus herumgeistert.

Genealogie der ersten Präsidentin im TV-Drama Weniger beachtet in der Forschung hingegen sind die ästhetischen Ausformungen, mit denen seit der Ära von Präsident George W. Bush ebenfalls die besondere Situation der ersten Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama verhandelt worden ist. Zwar wird auch hier mit einem doppelten Blick operiert, der ihre politische Wirksamkeit schon immer als Resultat einer Fiktionalisierung von Ereignissen offenlegt. Was diese TV-Serien jedoch zugleich in den Fokus nehmen, ist der Umstand, dass die Aufspaltung in ein fabriziertes öffentliches Image und eine reale Person, die gezeigt wird, wenn sie hinter den Kulissen – vor allem im Oval Office – operiert, nochmals 98 | Elisabeth Bronfen

zu spezifizieren ist. Geht es doch bei einer auf Umfragen und mediale Wirksamkeit ausgerichteten Politik um die zusätzlichen besonderen Erwartungen, die an eine Politikerin herangetragen werden und denen sie entsprechen muss. Das Verhältnis von fabriziertem Image und der handelnden Figur stellt sich noch einmal anders dar, weil nicht nur die Übertragung des natürlichen weiblichen in den symbolischen Körper des Oberbefehlshabers der Nation thematisiert wird. Es gilt auch die Aufmerksamkeit auf jenen Zwiespalt zu lenken, der sich dadurch ergibt, dass dieser symbolische Körper nun eine männliche und eine weibliche Komponente enthält. Für letztere gibt es keine traditionellen Vorbilder, war doch eine Präsidentin von den founding fathers nicht vorgesehen, nur eine First Lady. So wird auch im Fall der ersten Präsidentin dramaturgisch der Verdacht gefüttert, dass hinter ihrem offiziellen Körper, den es der Öffentlichkeit zu verkaufen gilt, eine versteckte Wahrheit liegt, weil die Präsidentin sich zwangsläufig in der Öffentlichkeit anders gibt, als sie im Privaten ist. Die Frage dieser Diskrepanz verschärft sich durch ein weiteres Vorurteil, welches im US-amerikanischen kulturellen Imaginären ebenfalls an die Vorstellung der ersten Präsidentin geknüpft ist. Wie Maggie Astor in der New York Times festhielt, ist für eine erfolgreiche Wahlkampagne seit der Niederlage von Hillary Clinton nicht nur entscheidend, ob die betreffenden Frauen für dieses Amt qualifiziert sind. Vielmehr steht auch weiterhin die Frage der likeability im Raum.5 Wird die Ambition von Politikern, dieses Amt anzustreben, als Zeichen von Stärke, Hartnäckigkeit und Mut gedeutet, wandelt sich dieser Ehrgeiz schnell zu Skrupellosigkeit, Aggression oder Unnahbarkeit, wenn diese in der Gestalt einer weiblichen Anwärterin auf die Präsidentschaft auftritt. Dies zeigte sich mit besonderer Deutlichkeit, als sich für die 2020 Democratic Party presidential primaries gleich sechs Politikerinnen zur Wahl stellten. Noch während die primaries liefen, haben Elizabeth Warren, Amy Klobuchar und Tulsi Gabbard ihre Kandidatur zurückgezogen. Marianne Williams, Kamala Harris und Kirsten Gillibrand taten dies bereits, bevor die primaries überhaupt einsetzten. Durch die Ernennung von Kamala Harris als erste African American und South Asian American VP hat hingegen eben diese Stelle nicht nur eine neue Brisanz erlangt. Veep und House of Cards haDie erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 99

ben uns zudem auf eine mögliche Konsequenz vorbereitet, die ihre Wahl in dieses Amt haben könnte. Die Vermutung lag immer in der Luft – ob als Wunschfantasie oder als Angstszenario –, dass mit dieser VP passieren könnte, was uns eben diese TV-Serien bereits vorgeführt haben: Kamala Harris könnte, im Falle eines Todes oder einer Schwäche von Präsident Joe Biden, nachrücken und doch noch als erste Präsidentin ins Oval Office gelangen. Das von zeitgenössischen TV-Serien gespiegelte Vorurteil wirft ein dem Gender der Anwärterin auf das Präsidentschaftsamt spezifisches Schlaglicht auf die Diskrepanz zwischen Person und Image, muss sich doch die Politikerin – in der Realität wie auf dem Bildschirm – ein Narrativ zu eigen machen, welches sie nicht nur als kompetent und souverän zeigt, sondern vor allem auch als ›likeable‹. Zugleich steht jede Politikerin, die den Ehrgeiz hat, die erste Präsidentin der USA zu werden, grundsätzlich unter Verdacht, weil sich unter diesen Bestrebungen nur hemmungsloser Machthunger verbergen kann. Eben dieses anhaltende Misstrauen gegenüber jenem weiblichen Anspruch auf das Oval Office, an dem Selina Meyer so tragi-komisch scheitert und Claire Underwood so zynisch reüssiert, wird von TV-Dramen sowohl kritisch beleuchtet als auch affirmativ in Zirkulation gebracht, seit Hillary Clinton als First Lady ins Weiße Haus eingezogen ist. Der Umstand, dass es sich dabei um Fantasien und Ängste handelt, die immer wieder um die erste Präsidentin kreisen, lässt einen Wiederholungszwang vermuten; als müsse ein kulturelles Anliegen, das sich nicht verdrängen lässt, immer wieder durchgespielt und verhandelt werden. Wie sehr es sich bei der kulturellen Besorgnis, welche die Vorstellung einer Präsidentin auslöst, um einen Hillary-Clinton-Effekt handelt, lässt sich bereits in der Episode aus der Serie The Sopranos mit dem Titel »Amour Fou« auffinden. Dort trifft sich Carmella, die Gattin des Mafia-Capo Tony Soprano, mit ihren Freundinnen zum Mittagessen.6 Im Laufe ihres Gespräches darüber, dass ihre Ehegatten sie allesamt betrügen, kommen sie auch auf Hillary Clinton zu sprechen. Auf den Vorschlag Rosalies, sie könnten etwas von der Art lernen, wie die Senatorin aus New York mit der Untreue ihres Präsidentengatten in den 90er Jahren umgegangen sei, meint Carmella zuerst verächtlich: »What? To be humiliated in public and go around smiling all the time, that is so false«. Rosalie aber besteht 100 | Elisabeth Bronfen

hartnäckig darauf, ein anderes Licht auf das Nachspiel der MonicaLewinsky-Affäre zu werfen. Immerhin war es Hillary Clinton gelungen, eine eigene politische Karriere einzuschlagen, obgleich sie zu ihrem Mann gehalten hat. Langsam schwenken die Frauen in ihrer Meinung um und billigen ihr zu, sie hätte all die negative Presse ihres Gatten geschickt zu ihren Gunsten zu wenden gewusst, bis Carmella versonnen zu der Erkenntnis kommt: »She’s a role model for all of us.« Angesprochen wird damit ein Widerspruch, der im kulturellen Bildrepertoire mit der Rolle der Gattin berühmter Männer verknüpft ist: Soll diese, wie das Ehegelübde es fordert, in guten wie in schlechten Zeiten ihrem Gatten zur Seite stehen oder ist sie aus ethischen Gründen verpflichtet, mit dieser Konvention zu brechen? In der Mini-Series Political Animals blicken auch Greg Berlanti und Laurence Mark auf diesen unlösbaren Widerspruch zurück. Explizit an Hillary Clinton orientiert, muss Secretary of State Elaine Barrish (Sigourney Weaver) weiterhin gegen ein doppeltes Vorurteil antreten: Hatten einige ihrer Widersacher damals die First Lady als zu ambitioniert wahrgenommen, nehmen sie ihr nun noch immer übel, dass diese resolute feministische Rechtsanwältin sich erst von ihrem untreuen Gatten hatte scheiden lassen, nachdem seine Amtszeit vorbei war, weil es erst dann politisch opportun für sie war.7 Die Frage, ob sie nun ihrerseits als erste Frau die US-amerikanische Präsidentschaft anstreben soll, wird demzufolge begleitet von der Frage nach der Geschichte, mit der sie sich am besten ihren Wählern verkaufen kann. Es gilt, diese davon zu überzeugen, dass sie das Land nun klarsichtig zu führen weiß, obwohl sie sich, während ihr Gatte Präsident war, von ihm hat willentlich täuschen lassen. Ihre Popularität als geschickte Außenministerin allein reicht nicht. Der melodramatische Tenor von Political Animals rückt nicht nur die familiären Kollateralschäden in den Fokus, die mit dem Einzug ins Weiße Haus einhergehen. Er unterstreicht auch, dass Elaine Barrish unter dem Druck ihrer Familie gezwungen ist, ihre politische Zukunft mit einem doppelten Blick einzuschätzen. Die Serie hindurch entfaltet sie einen Seelenkampf, in dem sie immer wieder ihren Anspruch auf Gerechtigkeit als Außenministerin mit ihrem vermeintlichen Versagen als Gattin des Präsidenten verrechnet. Ihre Entscheidung, schlussendlich doch zu kandidieren, entbehrt jeglichen Frohsinns, als wäre die moralische Qual, die sie sich selbst auferlegt, fürs DrehDie erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 101

buch das einzige Narrativ, welches jeglichen Verdacht der Machtlust in Schach zu halten vermag. In der Ära Bush entstehen drei weitere TV-Serien, die sowohl auf die Hoffnungen setzen, die in eine erste Präsidentin gelegt werden, wie auch die Angstvorstellungen thematisieren, die diese Fantasie auszulösen vermag. In Commander in Chief hat Ron Lurie eine aufrichtige Politikerin entworfen, die als von beiden Parteien unabhängige Kandidatin zusammen mit dem Republikanischen Präsidenten Teddy Bridges gewählt wurde und, nachdem dieser plötzlich an einem Schlaganfall stirbt, zur ersten Präsidentin der Vereinigten Staaten wird. Mackenzie Allen (Geena Davis) lässt sich weder von den republikanischen Politikern verunsichern, die ihren Macht­anspruch in Frage stellen, noch vom Widerwillen, mit dem ihr Gatte seine neue Rolle als First Gentleman annimmt.8 Souverän meistert sie den Balanceakt zwischen ihrer Verantwortung als Mutter und als Oberbefehlshaberin der Nation, zeigt Mut und Entschlossenheit in Krisensituationen und widersteht resolut den korrupten Machenschaften, die um sie ihre Kreise ziehen. Wie wenig diese besonnene Autorität das kulturelle Anliegen der Zeit traf, lässt sich allerdings daran ablesen, dass dieses TV-Drama nach einer Staffel abgesetzt wurde. Diametral entgegengesetzt bedient die unheilvolle Vizepräsidentin Caroline Reynolds (Patricia Wettig) in dem von Paul Scheuring geschriebenen und produzierten TV-Drama Prison Break die Verschwörungsfantasie, die erste Präsidentin könne nur durch die Unterstützung der Wall Street an die Macht kommen; genauer als Handlangerin einer Company, deren ökonomische Interessen die Politik der USA steuern.9 Diese Fantasie wurde bezüglich der Unterstützung, die Kamala Harris ihrerseits sowohl von der Wall Street als auch von Silicon Valley genießt, während ihres Wahlkampfs und auch danach von den Medien aufgebracht, als wolle man sie an dieser TV-Figur messen. Denn auch in Prison Break zieht Caroline Reynolds ins Oval Office ein, weil der Präsident, an dessen Seite sie gewählt wurde, plötzlich verstirbt. Die Gattung des Politthrillers allerdings dient dazu, eine verruchte Politikerin zu zeichnen, die den Präsidenten aus eigenem Machthunger umbringen lässt, auch wenn sich im Verlauf der zweiten Staffel herausstellt, dass ihr die zwielichtigen Machenschaften, in die sie sich hat verstricken lassen, zu 102 | Elisabeth Bronfen

entgleiten drohen. In ihrem Fall wird nicht die Serie abgesetzt, sondern Caroline Reynolds muss, um ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren, ihren Rücktritt ankündigen. Um die Aufmerksamkeit auf das Doppelleben zu richten, welches die Fantasie der weiblichen Hinterlist bedient, sehen wir sie meist nur in der Fernseh­bericht­ erstattung jener geschickt inszenierten Auftritte während ihrer Wahlkampagne, deren dunkle Kehrseite geheim zu halten sie die beiden Staffeln hindurch alles zu opfern bereit ist. Während der Übergangsphase der Obama-Administration erhält die serielle Erscheinung der ersten Präsidentin im TV-Drama in der Serie 24 eine weitere Ausformung.10 Die republikanische Poli­ tikerin Allison Taylor (Cherry Jones) spielt eine ehrbare, mutige und aufrechte Präsidentin. Im Verlauf der siebten und achten Staffel, in der sie dieses Amt bekleidet, muss sie allerdings erfahren, dass die Realpolitik mitsamt der schmutzigen Geschäfte, welche diese fordert, ihren moralischen Kompass kompromittiert hat. Im kulturellen Imaginären der USA, welches einmal mehr die politische Maschine in Washington D. C. grundsätzlich unter Verdacht stellt, muss – so die Wette dieser Serie – eine Präsidentin, die heroisch beginnt, notwendigerweise immer mehr in fragwürdige Kompromisse hineingezogen werden. Ist Allison Taylor als einzige der bisher behandelten fiktionalen Darstellungen der ersten Präsidentin vom US-amerikanischen Volk gewählt, tritt auch sie – wenn auch aus ehrbaren Gründen – am Ende der letzten Staffel von 24 zurück. In ihrem Fall zwingt nicht die Angst vor der Offenbarung leidvoller Geheimnisse sie zu diesem Schritt, sondern der Eid, die Verfassung zu schützen, welchen sie als Präsidentin geschworen hat. Es bleibt somit jene Ambivalenz bestehen, mit der alle fiktionalen Entwürfe der ersten Präsidentin auf die reale politische Landschaft zurückgreifen. Im Fall von Allison Taylor wird die Vorstellung durchgespielt, eine Frau hätte die Funktion der Oberbefehlshaberin der Nation mit Intelligenz und Integrität erfüllen können. So hängt daran aber zugleich die zynische Überzeugung, sie hätte sich ebenso wenig wie der Präsident, von dem sie das Amt übernommen hat, ihre Ideale bewahren können. Zugleich wird von den drei bisher besprochenen TV-Serien jene ambivalente Haltung gegenüber einer fiktionalen Darstellung der ersten Präsidentin angelegt, die sowohl unter der Obama-Administration wie auch der Trump-AdDie erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 103

ministration nicht nur weitergeführt, sondern – der Logik der Serie entsprechend – auch mit Variationen weiterentwickelt worden ist. Auch in Homeland, welches zeitgleich mit Veep und House of Cards ausgestrahlt wurde, halten sich die nach Außen verlagerte Bedrohung der nationalen Sicherheit und die im Herzen von Washingtons politischer Maschine angesiedelte Korruption die Waage. In fast allen TV-Serien sind die Politikerinnen, die mit einer Mischung aus Charme, List und Rücksichtslosigkeit ihre Ambition, im Oval Office anzukommen, durchzusetzen vermögen, auf der republikanischen Seite des politischen Spektrums. Elizabeth Keane in Homeland bietet eine Ausnahme, weil sie nicht nur neben Allison Taylor die einzige Figur ist, die bislang in der Welt der TV-Dramen nicht als Vizepräsidentin nachgerückt, sondern in dieses Amt gewählt worden ist. Die Angst, die ihre Präsidentschaft auslöst, ist auch – wie noch genauer dargestellt werden wird – ihrem Angriff auf den Geheimdienst geschuldet. Es gilt somit festzuhalten: Mit jeder neuen TV-Serie wird die Frage nach der Wirksamkeit der mit Fiktionalisierung operierenden medialen Auftritte noch einmal anders gestellt, wird doch zugleich immer auch mit ins Blickfeld gerückt, was sich hinter den Kulissen der politischen Machtspiele abzeichnet. Gezeigt wird, wie Fakten, die sich auf Ereignisse beziehen, die tatsächlich stattgefunden haben, bearbeitet werden, um den von jeder dieser Präsidentinnen gewünschten politischen Effekt zu erzielen. Aus der Schlaufe der medialen Zubereitung kommt keine dieser Figuren heraus. Als Wiederholungszwang auf der Ebene des vom Fernsehen verbreiteten kulturellen Imaginären lässt sich diese serielle Entwicklung als eine Art ›Fort-da‹-Spiel verstehen.11 Die dramatische Ausarbeitung einer ersten Präsidentin darf, einmal aufgerufen, immer wieder verworfen werden – die Serie wird abgesetzt, die Figur muss abtreten oder verliert die Wahl. So kann sie immer wieder von neuem ihren Anspruch stellen, die erste Oberbefehlshaberin der free world zu werden. Das TV-Drama entpuppt sich als angemessene Form für jenen kuriosen Widerspruch, den Meinungsforscher, wie Maggie Astor festhält, seit 20 Jahren in ihren focus groups beobachten, und zwar wenn diese behaupten, sie würden gerne einer Frau ihre Stimme geben, allerdings keiner derer, die zur Auswahl stehen.12 Man könnte vermuten, die seriell zurückkehrende erste Präsidentin fungiert als 104 | Elisabeth Bronfen

kulturelles Symptom für eben diese Gefühlsambivalenz. So unterschiedlich die fiktionalen Politikerinnen im zeitgenössischen TVDrama auch sind, sie alle bedienen jeweils Fantasien und Ängste, welche die Konsequenzen solch einer Wahl betreffen. Der Umstand, dass es immer wieder die erste Präsidentin ist, deren Schicksal dargeboten wird, lässt zugleich mutmaßen: Selbst eine ambitionierte Politikerin, für die das Publikum durchaus Sympathie empfindet, steht unter Verdacht, noch immer nicht die zu sein, für die es eine Selbstverständlichkeit wäre, dieses Amt zu übernehmen. Dass wiederum Kamala Harris in ihrer eigenen Präsidentschaftskandidatur nicht erfolgreich war, sondern nur als VP von der Öffentlichkeit gefeiert wurde, lässt offen, wie viel sich an diesen Vorurteilen geändert hat. Während ihrer Siegesrede in Wilmington am 7. November 2020 sprach sie von der Kühnheit, die Joe Biden mit seiner Wahl einer African American und Asian American Vizepräsidentin bewiesen hat. Inwieweit der ›Priming-Effekt‹ der TV-Serien für sie – im Gegensatz zu Hillary Clinton – positiv ausfallen wird, sollte sie dieses Amt nochmals anstreben, bleibt eine offene Frage. Die fiktionalen Vorbilder könnten auch weiterhin das Gegenteil bewirken.

Zwei Fallbeispiele Auffallend an der hier gezeichneten Genealogie ist der Umstand, dass Serien, in denen Realpolitikerinnen gezeichnet werden, deren Image in keinem Widerspruch zu ihrem Verhalten zu stehen scheint, weniger erfolgreich sind. Die kulturell grassierende Verachtung für Washington, auf die die zeitgenössischen Politserien grundsätzlich reagieren, erklärt zum Teil, warum man sich im Weißen Haus lieber eine fehlbare Präsidentin vorstellen will. Sind die Heldinnen von Veep, Homeland und House of Cards bestechlich, tyrannisch und eigennützig, so spiegeln sie das Vorurteil, welches an die Vorstellung der ersten Präsidentin herangetragen wird, ebenso sehr, wie sie dieses entlarven. Symptom eines kulturellen Unbehagens sind diese dramatischen Ausformungen der ersten Präsidentin aber auch deshalb, weil sie zur Schau stellen, was wir im realen politischen Alltag nicht zu sehen bekommen. Laut Alessandra Stanley lässt sich in der Vorliebe, welche TV-Dramen für den weiblichen Bösewicht Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 105

im Weißen Haus zeigen, auch eine Aneignungsstrategie erkennen: »It allows them to create fictional versions who are as corrupt and conniving in public office as their male counterparts«.13 Es kommt allerdings eine weitere Ambivalenz hinzu. Wenn auf dem TV-Bildschirm die erste Präsidentin immer wieder ihren Machthunger so ungehemmt ausleben darf wie ihre Vorgänger, während sie nach außen das Image der um die Nation besorgten Politikerin vorträgt, bestätigt dies zugleich jenes alttradierte Bild der Zwietracht, mit der das kulturelle Imaginäre die ehrgeizige Frau spätestens seit Lady Macbeth verbindet. In ihrem Wiederaufflackern im zeitgenössischen TV-Drama schwingt der bereits angesprochene ›Hillary-Clinton-Effekt‹ nach, wirft Shakespeares Tragödie doch die Möglichkeit auf, die mörderische Ambition der Lady sei lediglich die logische Verlängerung Macbeths und somit die legitime Haltung der seinen politischen Ehrgeiz unterstützenden treuen Gattin. Dass House of Cards explizit auf dieses literarische Vorbild zurückgreift, ist demzufolge nur konsequent. Der Aufstieg von Francis (Kevin Spacey) und Claire Underwood (Robin Wright) ins Oval Office ist wie der des Königspaars bei Shakespeare ein prekärer Sieg, der von den Geistern der Ermordeten heimgesucht wird, auf dem dieser basiert. In dieser Ehe nimmt Claire eine ambivalente Position ein: Sie mag zwar ebenso machthungrig und skrupellos wie ihr Gatte sein, doch im Gegensatz zu dem eindimensional konzipierten Tyrann Frank Underwood ist sie von Selbstzweifeln geplagt. Zwar stellt sie ihren gemeinsamen politischen Ehrgeiz nie in Frage, die Szenen aber, in denen sie zögert, ob sie ein schwarzes oder ein helles Kleid anlegen soll, sprechen den Zwiespalt zwischen ihren öffentlichen Auftritten und ihrem privaten Begehren an. Einerseits erscheint sie demzufolge als tragische Kehrseite von Selina Meyer, muss doch auch Claire wiederholt dafür sorgen, dass die Art, wie sie ihr Image stets den Anliegen ihrer potentiellen Wähler anpasst, nicht offengelegt wird. Andererseits lässt Claire aber auch die skrupellose Caroline Reynolds, die in Prison Break nicht zögert, über Leichen zu gehen, wieder aufflackern. In Homeland wird mit Elizabeth Keane (Elizabeth Marvel) eine Gegenposition gezeichnet. Ihre Nähe zu Allison Taylor lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass Howard Gordon und Alex Gansa bereits für die Konzeption der Serie 24 mitverantwortlich waren.14 Die 106 | Elisabeth Bronfen

ehemalige Senatorin von New York (als Anzeichen eines weiteren ›Hillary-Clinton-Effekts‹) tritt mit einer radikalen Friedenspolitik an. Gehört die Schwächung des Geheimdienstes und des Militärs zu den ersten Schritten ihrer Übergangsphase, wird sie (wie ihre Vorgängerin in 24) sehr bald von einer Verschwörung in ihren eige­ nen Reihen eingeholt. In ihrem Fall ist die Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Gesicht allerdings genau umgekehrt, hat sie doch keine Verbrechen zu verheimlichen. Vielmehr gilt es, das US-amerikanische Volk davon zu überzeugen, dass sie nicht jener Tyrannin entspricht, die ihre Gegner in den Medien von ihr gezeichnet haben. Um herauszuarbeiten, wie beide Präsidentinnen Medienereignisse inszenieren, um ihre prekäre Macht zu sichern, werden im Folgenden zwei Szenen solch einer Image-Manipulation betrachtet. Entscheidend ist dabei jeweils auch der Umstand, dass die Mise en Scène die affektive Wirkung dieser Fabrikation mitreflektiert. Der Wendepunkt im politischen Schicksal Claire Underwoods ist ihr Aufstieg zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft während des zweiten Wahlkampfes ihres Gatten.15 Claire beginnt die Rede, die sie auf dem Nominierungsparteitag hält, mit einer Erinnerung an ihre Mutter, Elizabeth Constance Hale, die in der vorangegangenen Nacht nach einer langen Krankheit gestorben war. Während sie ihre Mutter als eine leidenschaftliche Texanerin beschreibt, zeigt uns die Kamera, wie Frank sich der Bühne von der Seite her nähert, um seiner Gattin zuzuhören. Die Brechung des visuellen Feldes ist für die Dramaturgie bezeichnend, führt diese doch in das affektive Bündnis, welches Claire mit den Delegierten im Publikum schmiedet, eine ironische Distanz ein. Dann setzt Claire mit ihrem fiktionalen Geständnis ein, erzählt vom schwierigen Verhältnis, das sie mit ihrer Mutter hatte, den Schmerzen, die sie sich gegenseitig zugefügt haben, bis sie am ersten Höhepunkt ihrer Rede angekommen ist. Auf dem Sterbebett, verkündet sie ihrem begeisterten Publikum, hat die Mutter sie gebeten, sie solle sich als Vizepräsidentin aufstellen lassen. Die Bildmontage, die diese Beichte untermalt, verbindet im Gegenschnitt die Nahaufnahme ihres Gesichtes mit einer Reihe von Nahaufnahmen der Delegierten, viele davon Afro-Amerikaner, welche von dem, was sie erzählt, sichtlich ergriffen sind; aber auch von Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 107

Tom Yates (Paul Sparks), ihrem ehemaligen Liebhaber, der diese Rede für sie geschrieben hat. Dramaturgisch wird somit eine Doppelzüngigkeit hervorgehoben, wissen wir doch aus der vorhergehenden Episode, dass das sentimentale Gespräch mit ihrer Mutter nie stattgefunden hat. Während der begeisterte Applaus den Erfolg von Claires Vortrag bezeugt, dient die Einfügung weiterer Aufnahmen von ihrem Gatten, dem Redenschreiber wie auch ihrer politischen Beraterin dazu, die politische Leidenschaft, welche diese Szene zur Schau stellt, zugleich als Fiktion zu entlarven. Auch im zweiten Teil von Claires Rede entpuppt sich die Bereitschaft, ihre Verletzlichkeit als wirksame Überzeugungsstrategie preiszugeben, bringt sie doch nun das vereitelte Attentat, welches auf den Präsidenten verübt wurde, listig ins Spiel. Einmal mehr wissen wir aus e­ iner vorangegangenen Episode, dass dieses Attentat von den Underwoods inszeniert worden war, um seiner schwindenden Popularität einen Aufschwung zu verleihen. Claire aber ruft den Umstand auf, dass sie fast ihren Gatten verloren hätte, um eine weitere Intimität preiszugeben. Hätten die Underwoods auf Grund der Spannungen in ihrer Beziehung ihre Ehe fast verloren, hat sich das Attentat als glückliche Fügung erwiesen. Die Wiederherstellung ihrer Ehe mit Frank wird von ihr zugleich auch als ultimatives Argument für ihr politisches Ansinnen eingesetzt, nun als Ehepaar über die Nation walten zu dürfen. Einmal mehr dient die Bildmontage dazu, die affektive Einheit zu hinterfragen, welche diese Rede zwischen Claire und dem von ihrer Rede hingerissenen Publikum aufbaut. Im Gegenschuss sehen wir wiederholt Frank, dessen Gesichtsausdruck offenlässt, ob er der Geschichte seiner zurückgewonnenen Gattin Glauben schenkt oder diese als clevere politische Strategie begreift. Im Gegenschuss sehen wir aber auch den White House Chief of Staff und sein Team, deren Ernst ebenfalls zweideutig wirkt. Auch hier bleibt unklar, ob diese Gefolgschaft sich von der Beschreibung von Claires persönlicher Trauer hat ergreifen lassen oder nur darum besorgt ist, dass ihre Darbietung bei den Delegierten erfolgreich ankommen wird. Der Zynismus, den Robin Wright als Regisseurin dieser Episode von House of Cards in den Fokus nimmt, besteht demzufolge in ­einer ambivalenten rhetorischen Geste, reaffirmiert sie doch die Wirkungsmacht der Fiktionalisierung von Tatsachen im gleichen Zuge, 108 | Elisabeth Bronfen

indem sie diese kritisch als Manipulation entlarvt. Eben weil wir von der Unaufrichtigkeit der öffentlichen Auftritte dieses machthungrigen Ehepaares wissen, lassen sich authentische Intimität und deren fiktionale Darbietung voneinander nicht unterscheiden. Stattdessen werden wir angehalten, uns zu fragen, warum wir vom Bündnis, welches zwischen Claire und den Delegierten kraft dieser politischen Inszenierung geschmiedet wird, eingenommen werden, obgleich – oder gerade weil – wir uns vom betörten Publikum distanzieren sollen. Es lässt sich mutmaßen: House of Cards spielt mit unserem Vertrauen in eine zynische Haltung gegenüber Washington D. C.; es setzt auf unsere Bereitschaft, nicht glauben zu wollen; auf unseren Genuss, nicht vertrauen zu wollen. Es bedient unseren Wunsch, davon überzeugt zu werden, dass Politik immer schon nur eine fabrizierte Darbietung von Macht ist. Um die psychoanalytische Formel der Verneinung zu bemühen: Wir wissen, dass die Geschichte von persönlichen Entbehrungen, welche Claire dargeboten hat, um ihren Anspruch auf das Amt der Vize-Präsidentin zu autorisieren, eine Lüge ist. Dennoch nehmen wir an dieser Lüge – als markierte Fiktion – teil. Die emotionale Haltung, über die wir auf der extradiegetischen Ebene ein affektives Bündnis zu Claire und der Darbietung ihrer politischen Ausstrahlungskraft schmieden, ist die des Zynismus. Uns wird versichert, dass die Frau, von der wir ahnen, dass sie die erste Präsidentin werden will, nicht so ist, wie sie zu sein vorgibt. Wir wollen uns darin rückversichern, dass sie im Zusammenspiel mit ihrem Gatten so wirksam ist, weil beide so korrupt sind, wie wir es annehmen. Kritisch entscheidend ist die Selbstreflexivität der Mise en Scène, die den emotionalen Konsens, der erzeugt wird – auf der diegetischen wie extradiegetischen Ebene der Filmgeschichte – als rein phatische Kommunikation enthüllt. Der ironische Kommentar, der unserer emotionalen Reaktion auf die inszenierte Politik die Waage hält, findet ihren Höhepunkt in der Beurteilung dieser Performance durch Claires politische Beraterin. Nachdem die Vizepräsidentin von der Bühne geschritten ist, wendet sie sich dem Redenschreiber zu und versichert ihm: »Jesus, you did great work!«16 Die Begeisterung, die in seinem Gesicht aufblitzt, gilt weniger der Frau, die seine Rede erfolgreich vorgetragen hat, als der Wirkung, welche diese auf das Publikum, für das sie Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 109

geschrieben wurde, auch tatsächlich gehabt hat. Zugleich bleibt in dem Charisma des Stars Robin Wright, die in dieser Episode auch selber Regie führt, eine beunruhigende Verschränkung zwischen authentischer Intimität und Fiktionalisierung bestehen. Ihre Darbietung der ultimativen Hochstaplerin füttert eben jenes Vorurteil gegenüber weiblicher politischer Souveränität, an dem sie zugleich auch Kritik übt. In der Episode »Active Measures« in Homeland wiederum nutzt die erste Präsidentin Elizabeth Keane ein Medienspektakel, um sich gegen die beiden Fronten zu verteidigen, die ihre politische Autorität angreifen: die Einmischung des russischen Geheimdienstes in ihre Administration und den Terrorismus im Innern, der vom altright TV-Host Brett O’Keefe geschürt wird.17 Während dieser sich in einem Bauernhof versteckt hält, gibt es eine Schlacht zwischen dem FBI und seinen politischen Anhängern, die in einem blutigen Gemetzel endet. Um weitere Gewalt zu verhindern, bittet Elizabeth Keane die Gattinnen der getöteten FBI-Offiziere, am Gedenkgottesdienst in Lucasville teilzunehmen, der für die Nachkommen derjenigen, die auf der Seite des Widerstandes zu Tode gekommen sind, organisiert worden ist. Auf dem Spiel bei diesem Medienereignis steht sowohl ihre Sorge um die Nation wie auch ihre Sorge um die eigene politische Autorität. Wie bei Claires Ansprache auf dem Parteitag sind auch hier der Fabrikation öffentlich geteilter Emotionen die eigenen intimen Gefühle beigemischt, reagiert sie doch sowohl als Mutter, die ihren Sohn im Krieg im Irak verloren hat, wie auch als Politikerin, die in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren droht. Auch für sie ist die Anerkennung ihrer Angreifbarkeit ein politisches Kalkül, wenngleich im Gegensatz zu House of Cards die Bedrohung ihrer Position nicht eine geheim gehaltene, sondern eine in der Öffentlichkeit ausgetragene Verletzlichkeit ist. Die Szene beginnt damit, dass Elizabeth Keane zusammen mit ihrem Chief of Staff, David Wellington, aufmerksam die Berichterstattung des Gedenkgottesdiensts auf dem Fernseher in seinem Büro mitverfolgt. In der Bildmontage sehen wir sowohl die CNBModeratorin, welche dieses Ereignis kommentiert, wie auch hinter ihr auf einem Bildschirm Bilder der Demonstranten, welche sich für eine Massenkundgebung vor der Kirche zusammengefunden haben. 110 | Elisabeth Bronfen

Die Spannung in der Luft in Lucasville findet ihre dramaturgische Entsprechung in der Spannung, welche sich sowohl bei Keane als auch bei Wellington beim Betrachten dieser Nachrichten zeigt, zeichnet es sich doch ab, dass die Witwen der FBI- Agenten nicht rechtzeitig in der Kirche erscheinen werden. Nachdem die Berichterstattung sich in die Kirche verlagert hat, bietet die Moderatorin weiterhin ihre Kommentare dessen, was wir auf dem Bildschirm sehen, während die Kamera, die zuerst die Trauergemeinde als Totale eingefangen hat, zu Nahaufnahmen der trauernden Mutter und ihren Töchtern übergeht, die in der vordersten Reihe sitzen. Um die Fabrikation dieser Szene geteilter Emotionen hervorzuheben, kehrt die Geschichte zum Gespräch zwischen der Präsidentin und ihrem Chief of Staff zurück, müssen sich die beiden doch nun sorgfältig überlegen, wie sie reagieren wollen, sollte Gewalt ausbrechen. Eliza­ beth Keanes politische Standhaftigkeit zeigt sich darin, dass sie den Einsatz von bewaffneten Polizisten entschlossen ablehnt. Plötzlich berichtet die Moderatorin von einer Erregung am Eingang der Kirche. Einmal mehr blicken Elizabeth Keane und ihr Berater angespannt auf die Nachrichtenbilder, die nun aufzeichnen, wie die Witwen der getöteten FBI-Agenten langsam das Kirchenschiff entlang schreiten. Das Erstaunen und die Erleichterung, die sich auf dem Gesicht der Präsidentin abzeichnen, legen eine zweite Interpretation dieser Szene nahe, eine, die allerdings nur an uns Zuschauer*innen gerichtet ist. Diese Szene der Versöhnung, so wird uns bedeutet, ist Ausdruck einer kühnen politischen Strategie, die durchaus hätte scheitern können. Um den affektiven Gehalt dieser Inszenierung zu steigern, kehrt die Bildmontage zwar wieder zu den Ereignissen in der Kirche zurück, diese werden nun aber nicht mehr als Berichterstattung wiedergegeben, sondern fungieren wie eine eingefügte Erzählung. Eine Kamerafahrt begleitet die drei Frauen, während wir aus deren Perspektive die Gesichter der vorwiegend weißen Trauergemeinde sehen, die ihnen vorwurfsvoll zurufen, sie seien hier nicht willkommen. Dann fängt eine Nahaufnahme die angespannte Verwirrung auf dem Gesicht von Jackie Goodman ein, der afro-amerikanischen Witwe, die mutig die anderen beiden Frauen in ihrem entschlossenen Gang zum Kirchaltar anführt. Um das Prekäre dieser Versöhnung – zwischen den trauernden Witwen auf beiden Seiten des politischen Gangs, aber auch zwischen Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 111

der Präsidentin und ihren Bürgerinnen und Bürgern – medial hervorzuheben, fängt eine Totalaufnahme diesen schwierigen Gang ein. Für einen Augenblick scheint es so, als würden die drei Frauen, von wütenden Zurufen umgeben, nicht bis nach vorne gelangen, während wir im Gegenschuss den erwartungsvollen Blick der Präsidentin zu sehen bekommen. Dann steht Mary Elkins gänzlich unerwartet von ihrem Sitz auf und läuft auf die afro-amerikanische Frau zu. Das knappe Gespräch zwischen den beiden Trauernden, dessen Inhalt wir nicht hören, wird zum Emblem eines emotionalen Bündnisses über die gegenseitige Anerkennung des Verlustes der Anderen. Um den politischen Effekt dieser Versöhnung hervorzuheben, zeigt einmal mehr eine Totalaufnahme Mary Elkins, die nun alle drei Frauen zu der Bank führt, wo ihre Töchter sitzen. Die Bildmontage bezieht zugleich die Reaktionen von Elizabeth Keane und ihrem Berater mit ein, die mit sichtlicher Entspannung am emotionalen Bündnis zwischen den trauernden Frauen teilnehmen. Der Umstand, dass sie diesen glücklichen Ausgang einer potentiellen politischen Krise als Wiedergabe auf einem Fernsehbildschirm erleben, ist für die Selbstreflexivität dieser Szene entscheidend. Enthüllt wird nämlich nicht nur der Umstand, dass die Vermeidung von Gewalt vom persönlichen Mut dieser vier Individuen abhing und somit kontingent war. Die Authentizität des von ihnen zur Schau gestellten Leids ist zugleich von einem kalkulierten Effekt gezeichnet. Die Trauernden sind sich der Anwesenheit der Nachrichtenkameras durchaus bewusst. Sie wissen, dass sie eine ihnen zugewiesene Rolle darstellen, selbst wenn das Ziel dieser Darbietung moralisch lobenswert ist. Um die melodramatische Sentimentalität hervorzuheben, von der sich die Verwischung der Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Inszenierung bis zum Schluss nährt, bewegt die Kamera sich in eine Nahaufnahme und zeigt, wie sich die schwarze Hand von Jackie Goodman und die weiße Hand von Mary Elkins gegenseitig ergreifen. Die Versöhnung, an die wir – zusammen mit der Präsidentin – unbedingt glauben wollen, wird als medial fabrizierte dargeboten. Folgerichtig gehört die letzte Aufnahme Elizabeth Keane, der Frau, die dieses Ergebnis sowohl ausgeheckt als auch vom Weißen Haus aus beobachtet hat und die sich nun als medienerfahren erweist. Tränenvoll erklärt sie ihrem Chief of Staff: »I want a live feed on all the networks tonight«. Er nickt übereinstimmend. 112 | Elisabeth Bronfen

Im Oval Office angekommen Welche Auflösung finden diese beiden Serien, House of Cards und Homeland, für die Mischung aus Faszination und Misstrauen gegenüber weiblicher politischer Souveränität, welches an der ersten Präsidentin verhandelt wird? In House of Cards gelingt es Claire endlich, die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten zu werden. Um ein Impeachment wegen eines zwiespältigen militärischen Einsatzes im Nahen Osten zu vermeiden, hat sich Frank entschlossen, zurückzutreten und so kann sie – wie einige ihrer Vorgängerinnen – als Vize-Präsidentin nachrücken. Überzeugt davon, dass es ihm auch weiterhin gelingen würde, die politische Oberhand zu behalten, hatte der entmachtete Präsident sich zudem auf die List seiner ambitionierten Lady eingelassen. Um der Öffentlichkeit jene Entfremdung der beiden Eheleute glaubwürdig vorzutäuschen, welche ihm erlauben würde, seinen Machtanspruch aufrecht zu erhalten, war er aus dem Weißen Haus ausgezogen. Im Gegenzug hatte Claire ihm versprochen, ihn zu begnadigen. An ihrem Ziel angekommen, ist sie sich aber plötzlich unsicher, ob dies wirklich ihr bester Schachzug sei. Entscheidend ist die Doppelzüngigkeit, die in der ersten Ansprache, die sie an die Nation hält, einmal mehr zum Tragen kommt. Weiß gekleidet steht Claire hinter einem Podium im West Wing.18 Der kaum ausgeleuchtete Gang im Hintergrund lässt alles Licht auf sie fallen. Um dem US-amerikanischen Volk, und der Welt, ihre politische Entschlossenheit zu beweisen, verkündet sie stolz die Hinrichtung eines islamistischen Terroristen. Zugleich verteidigt sie ihren Entschluss, gegen den Willen des Kongresses eine militärische Intervention in Syrien zu befehlen. Der Hinweis auf die Gefahren, die der Nation durch die dort angesiedelte terroristische Organisation ICO drohen, und ihre Empörung über einen politischen Führer, der tyrannisch sein Volk dominiert, machen nicht nur aus dem Gegner eine Sammelfigur, in der islamistische Terroristen und der diese stützende Präsident Syriens sich verdichtet finden. Claire öffnet auch dadurch, dass wir im Gegenschuss wiederholt ihren Gatten sehen, der diese Rede auf seinem Fernsehbildschirm verfolgt, eine zweite Front, die allerdings nur für uns ersichtlich ist. Frank beginnt zu ahnen, dass seine Lady ihn nicht begnadigen wird, und so verDie erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 113

stehen wir ihre obskure Tyrannenkritik als implizite Anklage gegen ihn: »A leader […] that would treat his people as pawns just to stay in power? Well … that leader needs to be stopped.« Frank, der uns seinerseits mit dem für ihn typischen Blick direkt in die Kamera versichert, er würde Claire umbringen, wenn sie sich nicht an ihre Abmachung hält, versucht sie wenige Minuten später anzurufen. Vom Fenster seines Hotelzimmers kann er direkt aufs Weiße Haus blicken. Claire aber wendet sich vom klingelnden Blackberry ab und berührt stattdessen zärtlich die US-amerikanische Flagge, die hinter ihrem Schreibtisch im Oval Office steht. Erst nachdem der Klingelton ein weiteres Mal einsetzt, wendet sie sich diesem zu und drückt unerschrocken auf die rote Taste. Muss sich ihr resignierter Gatte in seinem abgedunkelten Hotelzimmer damit abfinden, dass das Gespräch zwischen ihnen abgebrochen ist, kann sie nun ihrerseits entschlossen mit direktem Blick in die Kamera verkünden: »My turn!«. Die Shakespearean asides gehören nun ausschließlich ihr. Hatten wir in der ersten Staffel von House of Cards Frank immer wieder beim solitären Schachspiel beobachtet, bei dem er sogar einmal die weiße Königin quer über das Brett auf seine Seite gezogen hatte, hat Claire ihn schließlich Schachmatt gesetzt. Ihre Position im Oval Office ist allerdings weiterhin prekär, arbeitet doch ihr eigener Vize-Präsident mit den Schurken einer Organisation zusammen, die (als Wiederholung von Caroline Reynolds in Prison Break) sie zum Handlanger ihrer wirtschaftlichen Interessen machen will. Scharfsinnig stellt Jungendfreundin Anne Shepard, die in der letzten Staffel zu ihrer gerissenen Gegenspielerin geworden ist, fest, Claire schiene unschlüssig, ob sie ganz in die Rolle des skrupellosen Souveräns schlüpfen oder die in seinem Schatten waltende und von Gewissensbissen geplagte Lady bleiben will. An der Verflüssigung dieser Grenze lässt sich aber auch eine feministische Umschrift des Tragischen festmachen. Was, wenn Lady Macbeth sich nicht umgebracht hätte und wieder auf die Bühne träte, nachdem ihr Gatte, an seinem mörderischen Machthunger wahnsinnig geworden, in der Schlacht umgekommen ist? Denn im letzten Kapitel dieser düster-zynischen Politserie ist die erste Präsidentin zudem unerwartet schwanger. Sie hat sich die illegitime Macht ihres Gatten nicht nur symbolisch, sondern auch wörtlich einverleibt und wird nun seinen Nachfolger gebären. Claire, die ihren Mädchennamen 114 | Elisabeth Bronfen

Hale wieder angenommen hat, führt also den symbolischen Körper der Herrscherin in den natürlichen, mütterlichen Körper zurück. Von der Flagge im Oval Office eingerahmt, trägt sie wiederholt ihren schwangeren Bauch stolz zur Schau, als wolle sie damit eine brisante Variation in die Serie der ersten Präsidentinnen einführen. Die Fusion von Macbeth und seiner Lady findet im letzten Kapitel von House of Cards seinen Höhepunkt. Nachdem sie an ihrem Schreibtisch im Oval Office den Mörder ihres Gatten mit einem dolchartigen Brieföffner niedergestochen hat, kniet sie neben ihm auf dem blutigen Boden nieder. Dort umarmt sie ihn zärtlich mit ihrem rechten Arm, während sie ihm mit der linken Hand kaltblütig Nase und Mund zuhält bis er erstickt. Flüsternd versichert sie ihm, sie hätte ihn von seinem Schmerz endlich befreit. Der Wachmannschaft wird sie sagen, es war der Selbstmord eines reumütigen Sünders. Ihr hartnäckiges Überleben markiert auch den Umschlag des Tragischen in eine serielle Politik des Gewöhnlichen. Als Mutter der Nation erhält sie, was Frank Underwood sich immer gewünscht hatte: Im Vorspann zu »Chapter 65« ist eine Statue der schwangeren Claire Hale zu sehen, die für einen Augenblick vor einem gewittrigen Himmel durch Sonnenstrahlen erleuchtet erscheint. Homeland hingegen fällt auf die Pathosform der Abdankung zurück, um die verletzbare Position der ersten Präsidentin dramaturgisch zu unterstreichen. Zwar konnte Elizabeth Keane sich erfolgreich gegen die falschen Anschuldigungen ihrer politischen Gegner zur Wehr setzen. Im Gegensatz zu Claire Hale versteht sie ihre Rolle als Mutter der Nation aber im Sinne einer Bereitschaft, für das Gute der Gemeinschaft ein Opfer zu erbringen. Hatte sich diese erste Präsidentin, die mit jedem Mittel ihren Friedensprozess durchsetzen wollte, als fehlbare erwiesen, weil sie den Verdacht, den ihre politischen Feinde gegen sie zu schüren vermochten, nicht abschütteln kann, inszeniert sie mit ihrer letzten Ansprache an die Nation eine selbst entworfene Authentizität als dessen wirkungsmächtige Kehrseite. In »Paean to the People« besucht sie das Grab ihres im Irak gefallenen Sohnes, als würde sie sich von diesem Toten, und somit von ihrem persönlichen Verlust, die Kraft holen, die sie für ihre Apotheose benötigt.19 Die Mutter, die sie alsdann zur Schau stellt, ist nicht die als Statue verkörperte schwangere Präsidentin, sondern die mater dolorosa, die bereit ist, das Leid der Anderen Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 115

auf sich zu nehmen. Gegen den Wunsch ihres Chief of Staff hält sie ihre Ansprache nicht vor einem Podium im East Room des Weißen Hauses, sondern von ihrem Schreibtisch im Oval Office aus. Noch während die Visagistin sie schminkt, erklärt sie ihm: »I want to sit down and speak directly to the American people, from the heart, like I did after Lucasville«.20 Zudem lässt sie ihn wissen, dass sie nicht die Rede auf dem Teleprompter vorlesen wird, sondern vorhat, sich vom Geist der Situation zur freien Rede inspirieren zu lassen. Das Auftragen der Schminke unterstreicht den selbstreflexiven Gestus. Das Gesicht, mit dem sie wenige Sekunden später direkt in die Kamera blicken wird, ist keine Maske. Auch diese Rede, die wir zuerst als Berichterstattung des Senders CNB unter dem Titel »President Keane addresses the nation« sehen, hat zwei Adressaten. Auf der diegetischen Ebene geht es darum, die US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürger ins Vertrauen zu ziehen. Nicht dass der russische Geheimdienst sich erfolgreich in ihre Politik einmischen konnte, macht Elizabeth Keane Sorge, sondern der Umstand, dass sie so leicht zu dessen Zielscheibe werden konnte, weil die USA eine in sich gespaltene Demokratie geworden sind. Während sie unerschrocken zugibt, sie müsse sich selbst einen Teil der Schuld anrechnen, wird der von ihr erzeugte Authentizitätseffekt dadurch erhöht, dass wir sie nun medial gebrochen erfahren – zum einen die Präsidentin, die aufrecht an ihrem Schreibtisch sitzt, und zum anderen deren mediales Bild, das auf den Bildschirmen der sie aufnehmenden Kameras in leichter Blautönung flimmert. Beobachtet wird diese Selbstinszenierung zudem nicht nur von ihrem erstaunten Team, sondern zugleich sowohl von ihren Gegnern in Moskau wie auch dem Chef der National Security Agency (NSA), gegen den sie opponiert hatte. Die ehrliche Anerkennung ihrer Fehlbarkeit als Präsidentin nutzt sie aber zugleich auch als kalkulierten Gegenschlag. Sie konnte nur deshalb zum Teil des Problems werden, welches die Nation gespalten und somit verwundbar gemacht hat, erklärt Elizabeth Keane dem US-amerikanischen Volk, weil zu viele bereit waren, sie von vornhinein des Lügens zu verdächtigen. Somit wendet sie das Vorurteil, welches im zeitgenössischen TV-Drama immer wieder gegen eine erste Präsidentin vorgebracht wird, zu ihren Gunsten. Mit einer Spur Wehmut und zugleich mit äußerster Entschlossenheit erklärt 116 | Elisabeth Bronfen

sie: »People will say I’m stepping down  … because I’m a woman. Well, if it takes a woman to shock this country back to its senses then so be it.« Die Bildmontage bewegt sich zwischen Aufnahmen von Elizabeth Keane und deren Bild, das auf diversen Bildschirmen aufflackert, manchmal ein wenig unscharf, und schließlich in einer so extremen Nahaufnahme, dass sich ihr Gesicht fast in den farbigen Pixeln auflöst. Auf der diegetischen Ebene soll ihr Abdanken dem Appell Autorität verleihen, man solle sich gemeinsam auf die Suche nach einem politischen common ground machen. Zugleich hat dieses patriotische Pathos einen extradiegetischen Effekt, bietet er doch unzweideutig einen Kommentar zur Lage der US-amerikanischen Nation im Frühling 2018, als diese Episode ausgestrahlt wurde. So bleibt festzuhalten: House of Cards, offenkundig die zynischere Version, spielt Robin Wrights Charisma gegen die Entlarvung der öffentlichen Persona aus, welche Claire Underwood zur Schau stellt. Es spielt mit unserer Bereitschaft, der ersten Präsidentin nicht zu glauben, unserem Genuss an diesem Verdacht, unserem Wunsch, uns davon zu überzeugen, Politik sei notwendigerweise eine fabrizierte Darbietung von Macht. Homeland hingegen lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Art, wie Elizabeth Keane, obgleich viel aufrichtiger in ihren politischen Strategien, in Krisenmomenten ihrerseits öffentliche Gefühle zu manipulieren weiß. Wird die eine gezeichnet als eine Präsidentin, die um jeden Preis ihre Verletzbarkeit zu verstecken sucht, inszeniert die Andere eben diese Verwundbarkeit als tragische Apotheose ihres Machtanspruches. Im kulturellen Imaginären des zeitgenössischen TV-Dramas bleibt weibliche politische Souveränität mit Ambivalenz belastet: eine Instanz, für die wir Hoffnung hegen, die uns aber zugleich Unbehagen bereitet. Für die Logik des Seriellen bedeutet dies – es kann nicht nur, es muss eine Fortsetzung geben.

Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama | 117

Carolin Amlinger und Nicola Gess

Die Tücken der Wahrscheinlichkeit

Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Ilja Trojanows Doppelte Spur

»Alles in diesem Roman ist wahr oder wahrscheinlich«, steht als Motto über Ilija Trojanows Roman Doppelte Spur.1 Ist das »oder« als qualifizierende Ergänzung zu verstehen: wahr oder, genauer gesagt, wahrscheinlich? Ist es ausschließend zu verstehen: entweder wahr oder wahrscheinlich? Und sollte ein Roman nicht eigentlich ein fiktives Geschehen zum Inhalt haben? Die lapidaren Worte haben es also in sich, und sie werfen eine der ältesten Fragen in der Geschichte der Poetik auf, die nicht an Brisanz verloren hat: die nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion. Unser Essay untersucht die Diffusion von Fakt und Fiktion anhand von zwei gegenwärtigen Erscheinungsformen: dem sogenannten ›postfaktischen‹ politischen Diskurs2, der sich von »Tatsachenwahrheiten« nicht am Eintritt in ein Universum der Spekulation und Fiktion hindern lässt3; und grenzgängigen Romanen, die neben fiktiven auf reale Sachverhalte rekurrieren und darüber hinaus auch eine ›Wahrheit‹ der Fiktion behaupten. Dreh- und Angelpunkt unserer Überlegungen ist dabei der Begriff der Wahrscheinlichkeit. Als im Jahrhundert der Aufklärung die Frage diskutiert wurde, wie viel Freiheiten sich ein Schriftsteller in seiner Darstellung der Welt nehmen dürfe, war der Verweis auf die Wahrscheinlichkeit ein kluger Schachzug. Selbstverständlich dürfe sich der Dichter nicht in ein Universum der Chimären, Luftschlösser und Wahnvorstellungen verlieren. Aber er müsse sich auch nicht sklavisch an die Wahrheit halten. Seine Richtschnur sei vielmehr die Wahrscheinlichkeit. Sie erlaube es dem Schriftsteller, das Beste zweier Welten miteinander zu verbinden: die ersehnte Freiheit der Erfindung und die geforderte Orientierung an der Wahrheit. Doch leider hatte die Berufung auf die Wahrscheinlichkeit auch ihre Tücken. Wie der Schweizer Dichtungstheoretiker Johann Jakob Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst aus dem Jahr 1740 ausführt, 119

hielten nämlich viele Menschen Dinge für wahrscheinlich, die auf bloßen Sinnestäuschungen, starken Emotionen, Aberglauben oder anderen tief verwurzelten Überzeugungen basierten und einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten konnten: »nicht alles das, was für die Unwissenden wahrscheinlich ist, ist es auch allemahl für die belesenen Leute.«4 Die Wahrscheinlichkeit war also alles andere als die phantasievolle kleine Schwester der Wahrheit; sie war ihr in mancher Hinsicht geradezu entgegengesetzt. Es ist hier nicht der Ort, auf Breitingers widersprüchliche Versuche einzugehen, dieses Dilemma zu lösen.5 Festzuhalten ist lediglich, dass Breitinger den Schriftsteller trotz allem auf der Seite der Wahrscheinlichkeit positioniert. Der Dichter schreibe für den »grossen Haufen«, der nicht nur eher simpel gestrickt sei, sondern auch unterhalten werden wolle. Wenn er bei seinem Publikum Erfolg haben wolle, bleibe ihm darum keine andere Wahl, als sich in seiner Darstellung von Welt nicht an der (wahlweise zu unglaubwürdigen oder zu langweiligen) Wahrheit, sondern am (eingängigeren und zugleich abwechslungsreicheren) Schein von Wahrheit auszurichten – unabhängig davon, ob dieser nun mit der Wirklichkeit übereinstimme oder nicht. Breitingers Critische Dichtkunst ist meilenweit vom gegenwärtigen politischen Diskurs entfernt. Trotzdem erlauben wir uns den Anachronismus, weil der poetologisch aufgeladene Begriff der Wahrscheinlichkeit instruktiv ist, um das Funktionieren des ›postfaktischen‹ Diskurses zu verstehen. Was Breitinger den Dichtern empfiehlt, setzt dieser nämlich um – mit dem Unterschied, dass er nicht auf fiktionalem, sondern faktualem Terrain unterwegs ist. Gleichzeitig sind in der jüngsten Vergangenheit fiktionale Erzählungen zu beobachten, die an Darstellungsformen »postfaktischen Erzählens«6 partizipieren oder metafiktional auf diese reflektieren. Es sind Romane, die reale Ereignisse und fiktive Inhalte hybridisieren; die mit dem Anspruch auf ›Echtheit‹ und ›Wirklichkeit‹ auftreten, diesen aber gleichzeitig – manchmal in spielerischer, manchmal in kritischer Absicht – auch unterlaufen. Der vorliegende Essay begibt sich auf diese unsicheren Gebiete des ›Postfaktischen‹, indem er sich zunächst faktualen Erzählformen mit gleichwohl (semi-)fiktiven Inhalten und dann fiktionalen Erzählungen widmet, die mithilfe (semi-)dokumentarischer Verfahren auf reale Ereignisse anspielen. 120 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

I. Sucht man nach Aussageformen, die dem Schillern der Wahrscheinlichkeit zwischen Wahrheit und Erfindung entsprechen, fällt die Halbwahrheit ins Auge, die zu den wirkmächtigsten Instrumenten des ›postfaktischen‹ politischen Diskurses gehört7: Halbwahrheiten sind Äußerungen, die nur zu einem Teil auf tatsächlichen Ereignissen, zu einem anderen aber auf fiktiven Inhalten basieren; Äußerungen, die reale Sachverhalte übertreiben, umdeuten oder in falsche Zusammenhänge stellen; oder auch Äußerungen, die wesentliche Informationen weglassen. Halbwahrheiten setzen Spekulation und Fiktion frei, während sie sich an Tatsachen zu orientieren scheinen. Sie öffnen die Tür zu einem Universum, in dem nicht die Wahrheit, sondern die Passförmigkeit einer Aussage über deren Erfolg entscheidet. Denn Halbwahrheiten sind narrativ organisiert, was wiederum bedeutet, dass sie um eine Glaubwürdigkeit bemüht sind, die nicht von der Übereinstimmung mit Fakten, sondern von der Bestätigung bisheriger Überzeugungen, der Vermeidung kognitiver Dissonanzen, der Bestätigung einer ›gefühlten Wahrheit‹ und der Reduktion von Kontingenz und Komplexität lebt. Der Einsatz von Halbwahrheiten zur Produktion von Glaubwürdigkeit lässt sich zum Beispiel anhand von Verschwörungstheorien untersuchen, die im Kontext der Corona-Pandemie wieder an Sichtbarkeit gewonnen haben und die man als eine Konsequenz der im ›postfaktischen‹ Diskurs angelegten Einebnung der Unterscheidung von Lüge und Wahrheit begreifen könnte. Halbwahrheiten erfüllen hier zunächst einmal zwei Funktionen: sie scheinen eine lebensweltliche Evidenz für die Behauptungen der Verschwörungstheorie zu liefern; und sie schlagen zugleich die Brücke von einem Korrespondenz- zu einem Kohärenzmodell von Wahrheit, das sich letztlich ganz von der Beweispflicht entkoppelt. Der Philosoph Karl Hepfer hat als ein Hauptcharakteristikum von Verschwörungstheorien ein Modell von Wahrheit ausgemacht, nach dem als wahr gilt, was widerspruchsfrei mit anderen Behauptungen einer Theorie zusammengeht.8 Zugleich betont er, dass Verschwörungstheorien immer auch einen selektiven Erfahrungsbezug brauchen, der eher einem Modell von Wahrheit gehorcht, nach dem als wahr gilt, was mit den eigenen Erfahrungen in und mit der Welt Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 121

korrespondiert. Innerhalb von Verschwörungstheorien kommt Halbwahrheiten-Geschichten nun genau die Funktion zu, diesen selektiven Erfahrungsbezug zu liefern und zugleich zwischen Korrespondenz- und Kohärenzmodell zu vermitteln. Durch ihren faktischen Anteil (etwa in der Corona-Verschwörungstheorie: die Tatsache, dass die Gates-Stiftung die Weltgesundheitsorganisation mitfinanziert) stellen Halbwahrheiten-Geschichten eine Korrespondenz mit der Realität her. Ihr fiktiver Anteil (hier die Behauptung, Gates habe die WHO gekauft, damit diese ganz nach seinen oder den Interessen einer sinistren Führungsschicht handele) hingegen ist kohärent mit dem verschwörungstheoretischen Narrativ, in dessen Rahmen die Halbwahrheit zum Einsatz kommt (hier: bei Corona handele es ich um ein Komplott globaler »Eliten« mit dem Ziel, die Menschheit unter ihre Kontrolle zu bekommen und eine neue Weltordnung zu errichten). Zwischen beiden vermittelt ein Fehlschluss: Weil ein Teil zu stimmen scheint (und weil mit der Finanzierung von Institutionen durchaus Machtinteressen verbunden sein können), ist man auch bereit, das Ganze (d. h. die ganze Halbwahrheiten-Geschichte und das hinter ihr stehende Verschwörungsnarrativ) zu glauben. Auf diese Weise wird durch die Korrespondenz jedoch eine Aussage beglaubigt, die sich ausschließlich von ihrer Kohärenz mit dem Verschwörungsnarrativ herschreibt, insofern in dessen Rahmen nur kohärente Korrespondenzen überhaupt zugelassen beziehungsweise mögliche Erfahrungsbezüge immer schon im Hinblick darauf ausgewählt werden, wie gut sie zur Aussage passen. Das lässt sich auch als »motiviertes Denken« beschreiben: »Motivierte Wahrnehmung stellt das Prinzip auf den Kopf, wonach die eigene Haltung auf der Grundlage von Fakten gebildet wird. Wer motiviert wahrnimmt, fängt rückwärts an mit einer festgezimmerten Haltung und akzeptiert nur die Fakten, die diese stützen können.«9 Dass Verschwörungstheorien sich in dieser Weise auf Halbwahrheiten stützen, hat viel damit zu tun, dass sie zur Produktion von Glaubwürdigkeit eine Mimikry an wissenschaftlicher Theoriebildung betreiben.10 So verschaffen Verschwörungstheoretiker*innen ihren Behauptungen zum Beispiel gern Kredibilität, indem sie sich auf Personen mit Doktor- oder Professorentitel berufen; oder sie suggerieren empirische Evidenz, indem sie eine Flut vermeintlicher 122 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

Belege anführen, die jedoch extrem selektiv, d. h. immer schon auf ihre Passförmigkeit hin ausgewählt sind. Sie geben vor, ihre Hypo­ thesen zu überprüfen, stellen sich jedoch der Prüfung auf Falsifizierbarkeit gerade nicht – anders als wissenschaftliche Theorien, die zu eben diesem Zweck ihre Grundannahmen und Methoden transparent machen und sich einem Test durch die wissenschaftliche Community unterziehen. Den größten Teil ihrer Überzeugungskraft beziehen Verschwörungstheorien jedoch aus einer ganz anderen Logik, und auch diese spielt für ihren Rückgriff auf Halbwahrheiten als narrativen Kleinformen eine Rolle: Verschwörungstheorien mögen eine Mimikry an Wissenschaft betreiben, tatsächlich funktionieren sie jedoch wie Geschichten. Geschichten geben Orientierung; sie formen aus e­ iner unübersichtlichen und komplexen Welt eine lineare Erzählung, in der die Pläne und Konflikte ihrer Held*innen eine Handlung vorantreiben, die zielgerichtet auf ein versöhnliches oder auch tragisches Ende hinausläuft. Von einem gut erzählten Roman erwarten wir geradezu, dass dort nichts aus Zufall geschieht, dass alles mit allem zusammenhängt und dass auch das kleinste Detail noch Relevanz für das Ganze hat – ob nun im Sinne eines vordergründigen Ereignis- oder eines hintergründigen Bedeutungszusammenhangs. All dies aber – diese literarischen Gesetzmäßigkeiten, wenn man so will – zeichnen auch Verschwörungstheorien aus. Dabei rekurrieren sie auf eines der ältesten Basisnarrative überhaupt, den Kampf zwischen Gut und Böse, und passen darin einen Plot ein, wie man ihn zum Beispiel aus dem Detektiv- oder Spionageroman kennt: eine Gruppe von Verschwörer*innen versucht im Geheimen und mit ­bösen Absichten, die Welt unter ihre Kontrolle zu bringen, und wenige Auserwählte kämpfen todesmutig gegen diese Pläne an. Verschwörungstheorien funktionieren also wie Geschichten; und dabei beherzigen sie Breitingers Einsicht, dass der Erfolg von Geschichten nicht nur von ihrem Neuigkeitswert, sondern mindestens ebenso sehr von ihrer Glaubwürdigkeit abhängt und dass es für diese Glaubwürdigkeit häufig förderlich ist, wenn sich ihre Autor*innen nicht zu sehr an der Wahrheit, sondern vielmehr am Anschein von Wahrheit orientieren. Sie zeichnen sich also nicht durch eine logische, sondern durch eine narrative Kohärenz aus, die Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 123

auch Widersprüche aushalten kann, solange diese nur harmonisch in die Geschichte eingepasst werden. Anhänger*innen von Verschwörungstheorien glauben an diese, weil sie für sie, mit Breitinger gesprochen, wahrscheinlicher sind als eine Wahrheit, die quer zu ihren Grundüberzeugungen steht, zu komplex ist oder bestimmten Wünschen und Sehnsüchten zuwider läuft. Verschwörungstheorien lassen sich als faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten verstehen, die jedoch nicht als solche, d. h. als fiktiv, ausgewiesen werden. Angesichts der eben geschilderten Sachlage kann man sich aber auch fragen, ob die Unterscheidung von faktualer und fiktionaler Erzählung für die Anhänger*innen von Verschwörungstheorien überhaupt noch relevant ist. Dagegen spricht, dass in der verschwörungstheoretischen Szene ja auch fiktionale Texte als faktual gelesen werden, oder genauer: dass deren Fiktionalität für sie keinen Hinderungsgrund darstellt, daraus Rückschlüsse auf die Wirklichkeit abzuleiten. Ein gutes Beispiel dafür ist Jean Raspails Roman Le Camp des Saints, der 1973 erschien und das dystopische Szenario einer Massenmigration verarmter Menschenmassen nach Frankreich entwirft. Da die Ankunft der Flüchtlinge im Roman einen zivilisatorischen Bruch evoziert, stellt er für die Verschwörungstheorie vom ›Großen Austausch‹, die mit der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ im Jahr 2015 an Popularität gewann und einen intentional gesteuerten Austausch der weißen Mehrheitsbevölkerung durch muslimische Immigrant*innen behauptet, eine wichtige Grundlage dar. Ebenso ist William L. Pierces Roman The Turner Diaries zu nennen, der erstmals 1978 unter dem Pseudonym Andrew Macdonald als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde und in rechtsextremen Gruppen international zu einer mythisch aufgeladenen Begründungserzählung avancierte. Auch hier wird eine globale Dystopie entworfen, in der eine rassistische Widerstandsorganisation, die von dem Protagonisten Earl Turner angeführt wird, gegen ein jüdisch markiertes politisches ›System‹ kämpft, das nichts weniger als die ganze Welt kontrolliere. In der antisemitischen Verschwörungstheorie der »Neuen Weltordnung«, die ein gesteuertes Komplott einer globalen »Elite« mit dem Ziel der Weltherrschaft am Werk sieht, wird dieser Roman mehr als faktuale denn fiktionale Erzählung gelesen. Darum wäre es zu kurz gegriffen, diese Verschwörungsromane bloß als unterhaltende Lektüren 124 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

zu deuten. Vielmehr mobilisieren sie für politische Anliegen, indem sie diese in ein fiktionales Szenario einbetten, das vor gesellschaftlichen Entwicklungen warnt, und über drastische Bilder ein affektives Einverständnis produzieren.

II. Wie verhält sich dieser Lektüremodus zu Romanen, die von fiktiven Verschwörungen berichten, dabei aber auf reale Ereignisse und Quellen Bezug nehmen und zugleich eine höhere Wahrheit (im Sinne einer größeren »Realitätstüchtigkeit«11) der Fiktion nahelegen? In ihnen wird eine fiktionale Wahrheit behauptet, die unmittelbare Evidenz zu erzeugen vermag. Ein gutes Beispiel dafür ist Wolfgang Schorlaus Roman Die schützende Hand, der die Ereignisse um die rechtsextreme Terrorgruppe NSU in eine Verschwörungstheorie einbettet, nach der die rassistisch motivierten Morde letztlich auf das Konto des BND gehen, der wiederum als Handlanger des CIA agiert habe, dem es damit darum gegangen sei, ein Druckmittel gegen »die Kanzlerin« (z. B. S 148) zu haben, die eine amerikafreundliche Steuerpolitik umsetzen sollte. In der Tat existieren noch viele Fragezeichen rund um die NSU-Morde. Was wussten die Geheimdienste über die eingeschleusten V-Leute über die Morde des NSU? Hätten die Taten durch dieses Wissen verhindert werden können? Verschwundene Akten, blockierte und sabotierte Informationen, die Verstrickung von V-Leuten und die ungeklärte Rolle des BND – diese Leerstellen benennt Schorlau; aber – und das ist entscheidend – er lässt sie nicht als solche stehen, sondern füllt sie mit einer Geschichte, in der die NSU-Täter letztlich zu Opfern einer bis in die Nachkriegszeit zurückreichenden und Behörden, Länder und Jahrzehnte umspannenden Verschwörung umgedeutet werden. Glaubwürdigkeit produziert Schorlaus Erzählung also über ein historisches Ereignis, das in der politischen Öffentlichkeit kritisch diskutiert wurde. Die zahlreichen Untersuchungsausschüsse, die das Vorgehen der Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden rekonstruierten, hinterfragten ebenso wie journalistische Recherchen die offizielle Erzählung. An diesen Zweifel an realen Geschehnissen knüpfen die fiktiven Ermittlungen Schorlaus an. Im Nachwort Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 125

betont Schorlau einerseits, dass es sich bei seinem Buch um einen fiktionalen Text handele. Gleichzeitig verwendet er aber viel Mühe darauf, in seinem Roman seitenlang aus Originaldokumenten zu zitieren und in einem umfangreichen Fußnotenapparat zahlreiche Quellen anzugeben und seine »literarischen Ermittlungen« (S 363) so mit der Würde der Realität auszustatten. Der Taschenbuchausgabe fügt Schorlau zudem ein mehr als 30-seitiges Nachwort mit weiteren »Ermittlungen« hinzu. Fiktive und reale Welt verschwimmen ineinander. Sehr gut lässt sich dieses Verschwimmen an Schorlaus erstem Nachwort ablesen, das bezeichnenderweise mit »Finden und Erfinden« (S 363) übertitelt ist: Mal ist es der fiktive Charakter, der Privatermittler Dengler, der in diesem Buch seine Theorien entwickelt (»Dengler entwickelt in diesem Buch eine eigene Auffassung«; S 363), mal ist es der Autor selbst (»ich stütze mich bei diesem Buch auf umfangreiches Material«; S 364). Seine Fiktion, so Schorlau, käme der Realität näher als die wirklichen Ermittlungen: Er fülle die »großen Lücken« »mit Fiktion«, zugleich aber mache er sich damit auf die »Suche nach Wahrheit« (S 364); er liefere »nur eine Erzählung«, diese aber sei »deutlich realitätstüchtiger als die offiziellen Bekundungen« (S 363). In seinem Roman, in dem Schorlau »mehr oder weniger bekannte Fakten […] auf eine andere Art zusammen[legt]« (S 363), fügt sich in der Tat alles ganz wunderbar zusammen. Aber macht das seine Erzählung notwendigerweise »realitätstüchtiger«? Es gibt in dieser Geschichte Helden, Bösewichte, eine klare Agenda, und am Ende geht alles immerhin insoweit gut aus, als Dengler und mit ihm die Leser*innen nun den Durchblick haben. Das Bedürfnis nach Antworten und anschaulichen Erklärungen wird erfüllt; es gibt in dieser Geschichte keine Zufälle, alles hängt mit allem zusammen, und dazu ist es auch noch spannend, zusammen mit Dengler auf eine »detektivische Wahrheitsfindung« (S 364) zu gehen. Nur sind das alles Merkmale, die weniger auf die ›Realitätstüchtigkeit‹ als auf die ›Fiktionstüchtigkeit‹ des Romans hinweisen: Diese Welt funktioniert nach literarischen Gesetzen. Oder anders gesagt und mit Breitinger gesprochen: Es ist gerade die »Wahrscheinlichkeit« der Geschichte, die ihre Differenz zu einer ›Wahrheit‹ ausmacht, die komplex, unzusammenhängend, kontingent oder schlicht unbekannt und aus all diesen Gründen deutlich weniger befriedigend ist. 126 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

III. Diese mit Breitinger aufgeworfene Frage nach der Fiktion und ­deren Verhältnis zum Wahrscheinlichen lässt sich nun mit dem Roman Doppelte Spur von Ilija Trojanow detaillierter behandeln. Denn auch er bettet reale Personen und Ereignisse in eine fiktive Erzählung ein. Ein investigativer Journalist, der wie der Autor »Ilija Trojanow« heißt, wird im Oktober 2018 nahezu gleichzeitig von zwei Whistleblower*innen kontaktiert, einer vermeintlichen Mitarbeiterin der zentralen Sicherheitsbehörde der USA, die sich »DeepFBI« nennt, und einem russischen Informanten, dessen Herkunft ebenso unklar ist wie die seiner brisanten Informationen.12 Die geleakten Dokumente enthüllen Korruption, Machtmissbrauch und Verflechtungen zwischen dem amerikanischen Präsidenten, der in Anspielung an den Trump Tower Donald Trumps »Schiefer Turm« genannt wird, und dem russischen Präsidenten »Mikahil Iwanowitsch«, der unschwer als Wladimir Putin zu erkennen ist. Der Journalist soll aus »der Fundgrube unverbundener Einzelheiten«, der »Anhäufung disparater Details« eine »plausible Erzählung« (T 22) kon­stru­ieren, welche die Geheimnisse der »globalen Eliten« enthüllt. Die zugespielten Informationen suggerieren eine Verschwörung, in der Politik, Finanzkapital und Geheimdienste untrennbar verflochten sind mit den kriminellen Machenschaften russischer Oligarchen und einer mafiösen Unterwelt. Neben den »dramatis personae« (T 56) der Erzählung haben auch die angespielten Ereignisse eine reale Entsprechung. Es wird die Verschwörungstheorie des »Pizzagate-Skandals« (der ein Netzwerk von Pädophilen in einer Pizzeria in Washington behauptete, zu dem auch die damalige US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton gehöre) ebenso aufgegriffen wie der sexuelle Missbrauch Minderjähriger durch Jeffrey Epstein (der als fiktive Figur »Geoffrey Wasserstein« heißt; T 144) und andere Prominente in seinem Freundeskreis oder der Schmuggel bedrohter Tierarten. Er reiht sich damit ein in ein transmediales, popkulturelles Phänomen, das oft unter dem Schlagwort der »Doku­fiktionalität« oder der »Doku-Fiktion« behandelt wird13: Der Text klassifiziert Personen, Orte und Ereignisse als real, führt Techniken des Dokumentierens vor und bettet das Ganze in eine fiktionale Erzählung ein. Das umfassende Aufgreifen und AmalgieDie Tücken der Wahrscheinlichkeit | 127

ren aller möglichen Skandale der letzten Jahre (bei weitgehendem Verzicht auf klassische Romantugenden, wie z. B. die Entwicklung von Charakteren und ihren Beziehungen) wirkt für die Leser*innen allerdings schon fast satirisch; zumal sie im Unklaren darüber gelassen werden, was in diesen Erzählsträngen auf tatsächlichen Quellen beruht und was frei erfunden ist. Für die schablonenhaften Romanfiguren hingegen ist alles »wahr oder wahrscheinlich«, auch die »Zusammenhänge, die [sie] nicht endgültig beweisen können« (T 106). Der Literaturkritiker Jörg Magenau resümiert in seiner Rezension zum Buch: »Als ›Roman‹ ist ›Doppelte Spur‹ nicht der Rede wert, als Enthüllungsbuch umso mehr.«14 Kommt man nun nochmals auf Breitingers Differenzierung zwischen Wahrem und Wahrscheinlichem zurück, macht jedoch genau diese Unordnung von Fakt und Fiktion, mit der die Qualität des ­Romans von Magenau in Zweifel gezogen wird, seinen poetischen Gehalt aus. Hat doch nach Breitinger nur Literatur die Lizenz, aus dem Reich der Wahrheit in das der Wahrscheinlichkeit, d. h. der bloß möglichen, erfundenen Welten, zu treten. Dabei postuliert er, »daß die Poesie eine Kunst ist, die für den grossen Haufen gewiedmet ist, und durch eine geschickte Nachahmung auch die unsichtbaren Dinge der Einbildung vorstellig und sichtbar machen soll«15 – ob nun Gegenstände der Naturphilosophie, die sich erst mit dem Blick durch das Mikroskop erschließen und die es dem Publikum literarisch zu vermitteln galt, oder Gegenstände des Aberglaubens, die es aufgrund des Publikumsgeschmacks zwar aufzugreifen, über die es zugleich aber auch kritisch aufzuklären galt. Trojanow macht nun in einer Anlehnung an den populären Spionageroman die Imagination geheimer (und unsichtbarer) Zentren staatlicher Herrschaft zu seinem Gegenstand. Welche Art von ›Unsichtbarkeit‹ ihnen in diesem Roman zukommt, wird unten zu fragen sein. Der Spionageroman schreibt, wie Luc Boltanski in Rätsel und Komplotte ausführt, mit dem erzählten Komplott eine Fiktion des Staates, »hinter der sich eine andere, sehr viel realere Realität verborgen hat […], die von Dingen, Taten, Akteuren, Plänen, Verbindungen und vor allem Mächten bevölkert wird, deren Existenz, ja überhaupt Möglichkeit bisher niemand vermutet hatte«.16 Die Aktenberge, die der Journalist mit seinem Kollegen Boris in Trojanows Roman durchforstet, konfrontieren den Staat mit einer geheimen 128 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

Realität, die unter der »Spitze des Eisbergs« (T 180) verborgen liegt. Diese doppelte Strukturierung der Realität, die auch dem Verschwörungsdenken eigentümlich ist, geht davon aus, dass politische Entscheidungen in diskreten Räumen getroffen werden, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen. Die moderne Macht ist in konspirativen Erzählungen, wie Eva Horn in Der geheime Krieg beschreibt, auf einen Bereich angewiesen, der der öffentlichen Deliberation unzugänglich ist – und auch sein muss, wenn sie ihre Macht entfalten möchte. Sie beruht auf den »arcana imperii«, den Geheimdiensten, der Geheimpolizei oder modernen Technologien, die für die Überwachung und soziale Kontrolle der Bevölkerung nutzbar gemacht werden können.17 Dies sind also verborgene staatliche Instanzen, die sich über ihre Undurchsichtigkeit definieren. Es ist der Modus des Fiktiven, so Eva Horn weiter, der das »poli­ tische Geheimnis sichtbar [macht] als etwas, das in seinem Kern selbst fiktiv ist«.18 Insofern muss man die Einschätzung des Literaturkritikers korrigieren: Eben weil es ein Roman ist, kann Doppelte Spur auch ein Enthüllungsbuch sein. Das im »Kern« fiktive Geheimnis um die politische Macht könne nur, so Horn, in der Fiktion zur Sprache kommen. Spionageromane speisen ihre Spannung aus der Gegenüberstellung von »Offiziellem und Inoffziellem«19, sie erzählen von geheimen Hinterzimmern der Politik und überschreiten damit den Boden des öffentlich Bekannten. Zu ihren Paradoxa gehört, dass sie ihre Glaubwürdigkeit gerade aus einem Mangel an Wissen ziehen. Dass es im politischen Feld (z. B. im Bereich der Diplomatie, in der Arbeit der Geheimdienste) Geheimnisse gibt, die per definitionem nicht öffentlich gemacht werden können, macht sie möglich, oder anders gesagt: Den Wissensraum, den das vermeintliche Geheimnis leer lässt, füllen sie mit Fiktionen. Nicht selten ontologisieren sie dabei das Geheimnis zur Keimzelle staatlicher Macht, dem sie dann mit Enthüllungs- und Verschwörungsnarrativen zu Leibe rücken. In Doppelte Spur schickt der Autor Ilja Trojanow sein fiktives alter ego auf eine investigative Suche nach den politischen Geheimnissen der zwei Großmächte. »Ich […] habe mich auf die zersetzende Wirkung von Macht fokussiert«, richtet sich der Ich-Erzähler zu Beginn an die Leser*innen und führt weiter aus: »Politik ist für mich strukturelle Gewalt, die es zu entlarven gilt« (T 10). Zwar glaubt Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 129

die fiktive Figur Ilija auf der Ebene der Diegese, mit einer faktualen Erzählung (dem von ihm und seinem Kollegen Boris verfassten Enthüllungsbericht) die Wahrheit der Politik hinter staatlichen Lügen enthüllen zu können; die fiktionale Erzählung des Autors Ilja Trojanow, in der er sich bewegt, kann jedoch nicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit entscheiden – sie bewegt sich im fiktiven Terrain der Wahrscheinlichkeit. Die narrativen Tücken, mit denen der Roman dabei zu kämpfen hat, sollen jetzt genauer betrachtet werden.

IV. Auf zwei Ebenen wollen wir nun genauer untersuchen, wie der Roman, der »allen ehrlichen Whistleblowern« (T 5) gewidmet ist, eine Fiktion ›postfaktischer‹ Macht konstruiert. Auf intradiegetischer Ebene operiert er mit Mechanismen des Erzählens und Verschweigens, die das offizielle Regierungshandeln der beiden Präsidenten verdächtig werden lassen. Die Kraft der Narration, aus disparaten Elementen einen kohärenten Sinnzusammenhang zu kreieren, stiftet bei Trojanow eine andere, aus Sicht des Romans wahrscheinlichere Version dessen, was ist. Auf extra-diegetischer Ebene hin­ gegen entwickelt der Ich-Erzähler in kommentierenden Einschüben die Vorstellung einer manipulativ hergestellten Wirklichkeit, in der die Differenz zwischen Fakt und Fiktion, Wahrheit und Erfindung obsolet wird – und somit auch die Tätigkeit der beiden Enthüllungsjournalisten. Als der investigative Journalist Ilija die Leaks der amerikanischen Whistleblowerin DeepFBI erhalten hat, trifft er sich mit ihr in einer Bar in Hongkong. »Nachdem ich mir die Nacht um die Augen geschlagen habe«, fasst er gegenüber der Informantin seine Aufgabe zusammen, »ist mir die Herausforderung halbwegs klar. Ich werde aus diesem Konvolut eine plausible Erzählung formen müssen. Ich weiß allerdings nicht, wie sie aussehen wird. Es ist nicht abzusehen, für welche Darstellung der Ergebnisse ich mich entscheide« (T 25). Ganz ähnlich wie sein Erzähler operiert der Roman; auch er will eine vermeintliche Faktizität über eine fiktionale Darstellung erzeugen. Der Roman zitiert Darstellungsformen der Dokufiktionalität, ohne eine Doku-Fiktion im engeren Sinn zu sein: Er spielt 130 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

mit als real markierten Personen und Ereignissen, enthält uns aber die Quellen vor und bettet die faktualen Referenzen in eine fiktionale Erzählung ein – der Status des Romans ist dadurch für die Leser*innen ebenso unklar wie derjenige der aufgerufenen realen Sachverhalte. Es scheint vielmehr so, dass die vermeintlichen »Dokumente« mit narrativen Verfahren überblendet werden, um sich einer »verdeckten[n], aber wahre[n] [réelle] Realität« der Politik annähern zu können, die hinter einer »falsche[n] Realität« verborgen liege.20 Mit dem fiktiven alter ego des Autors reflektiert der Roman aber gleichzeitig auch metafiktional auf Praktiken des Dokumentierens und stellt diese als semidokumentarisch aus: Die fiktionale Figur Ilija formt eine »plausible Erzählung« aus einem uns unbekannten »Konvolut« (T 25). Die aufgerufenen »Faktualitätssignale«21 wie reale Personen, Orte und historische Ereignisse werden intradiegetisch durch Fiktionalitätssignale relativiert: Wir lesen eben einen Roman, kein Enthüllungsbuch. Agnes Bidmon und Christine Lubkoll sprechen in diesem Zusammenhang von einem »semi­ dokumentarischen Pakt«, der einen Text durch textinterne und textexterne Signale als »Grenzgänger« zwischen Fakt und Fiktion markiert.22 Ohne Zweifel verortet sich Trojanows Roman als eine Grenzerzählung, die auf die narrative Organisation seines Materials aufmerksam machen möchte.23 So bekommen die Leser*innen die finale Darstellung, das Buch, das er mit seinem Kollegen Boris verfassen wird und das ihn wegen seines brisanten Inhalts selbst zum gesuchten Staatsverräter werden lässt, nie zu lesen. Stattdessen beobachten sie die dem Erzählen vorgelagerte Lektüre der Leaks und die Versuche, die angeführten Personen, Ereignisse, Besitzverhältnisse, kriminellen Taten und Todesfälle in eine Dramaturgie einzufügen, die alles beinhaltet, »was eine gute Fernsehserie benötigt« (T 63). Diese Serie würde davon handeln, dass Donald Trump bereits in jungen Jahren vom russischen Geheimdienst instrumentalisiert wurde und hinter ihm, dem amerikanischen Präsidenten, die Interessen Wladimir Putins und russischer Oligarchen stehen. Nicht nur der Aufstieg Trumps beruht in dieser Serie auf kriminellen Verwicklungen, nahezu alle angeführten Personen sind in dubiose Angelegenheiten verwickelt. Dieses (von ihnen selbst konstruierte) Geheimwissen strukturiert die Position der Figuren im Roman: hier Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 131

die Wissenden (= Macht), also Trump, Putin und deren Geheimapparate, dort die Wahrheitssuchenden bzw. -schreibenden (= Öffentlichkeit), die investigativen Journalisten Ilija, Boris und die Filmemacherin Emi. Die beiden anonymen Whistleblower*innen sind Schwellenfiguren (= Verräter*innen), die geheime Dokumente in die öffentliche Sphäre transferieren. Dynamisiert wird diese Konstellation durch interne Spaltungen, unterschiedliche Schattierungen des Halbwissens, mit denen sich die Koordinaten jederzeit umkehren lassen. Ist Trump nur eine manipulierte Marionette Russlands oder verfolgt er eigene Interessen? Welche Auftraggeber*innen stehen hinter den beiden Whistleblower*innen? Sind die Journalisten tatsächlich frei in ihrer Darstellung, wenn doch die Herkunft der Leaks unklar ist? Wer kontrolliert überhaupt wen? Die Journalisten die mächtigen Strippenzieher oder umgekehrt die Unterwelt die öffentliche Berichterstattung? »Es ist, als kenne keiner der Beteiligten das gesamte Stück, nur die eigene Sprechrolle« (T 107), resümiert Ilija. Die intentionale Suche nach einem übergreifenden Muster bleibt auf der intradiegetischen Ebene erfolglos. Die fertige Enthüllungsstory, in der das politische Geheimnis ausgesprochen wird, bleibt den Leser*innen verborgen. Wie die beiden Journalisten in der Fülle der disparaten Details den Überblick verlieren, finden auch die Leser*innen keine zusammenhängende Handlung vor, die die Grundlage für eine ›gute‹, d. h. spannungsreiche Dramaturgie bilden könnte. Die Helden der Geschichte, Boris und Ilija, bleiben hinter ihrem Durchforsten der Leaks blass, auch eine Liebesgeschichte zwischen Ilija und Emi wird nur angedeutet. Stattdessen steht die Arbeit der (Re-)Konstruktion einer politischen Verschwörung im Vordergrund. Der Journalist Ilija folgt im Roman der Idee, dass die Politik den Grund ihrer Macht verschweigt, da er jenseits des öffentlichen Konsenses situiert sei. Korruption, Lügen und Kriminalität erscheinen hier als unverzichtbare Stützen politischer Macht – Stützen, die jedoch selbst instabil sind. Wer Freund, wer Feind ist, lässt sich in den unübersichtlichen, teils sich widersprechenden Dokumenten, die Ilija erhalten hat, nicht eindeutig entscheiden. Klandestine Manöver stützen Machtansprüche und können sie wenig später sogleich unterminieren. Ilija versucht, diese (mit Horn immer schon »fiktiven«) Geheimnisse der Staatsmächte in eine faktuale Erzäh132 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

lung zu überführen, um deren Konstruiertheit er gleichwohl weiß. Es liegt auf der Hand, dass sich der Grund der Macht nicht von selbst offenbart. Er muss in einer aufwendigen »Untersuchung«24, die nach der Semantik von zunächst belanglos wirkenden Zeichen fragt, durch den Erzähler konstruiert werden. Das investigare des fiktiven Journalisten ist ein Aufspüren von Informationen in Form einer genauen Prüfung. Paradoxerweise nähert sich die Enthüllung dadurch aber selbst wieder der Fiktion an – und zwar je runder, je »Fernsehserien«-artiger, desto mehr. Denn der Enthüllungstory vorgelagert ist eine mühselige narrative Konfiguration und Rekonfiguration des Materials. »Es dauerte lange (zu lange!), die jeweiligen Zusammenhänge zu durchschauen, die Punkte miteinander zu verbinden. Umständliche, mühsame Arbeit, die mir das Äußerste abverlangte« (T 54), berichtet Ilija in einem extradiegetischen Seufzer. Die Leser*innen erhalten Einblick in diese imaginative Verknüpfungsarbeit. Über mehrere Seiten werden straffällige oder verdächtige Bewohner des Trump Towers mit kurzen Steckbriefen angeführt, alle sind reale Personen. Am Rand kommentiert der Erzähler mögliche Verstrickungen, wie beispielsweise bei »Tevfik Arif (früher Arifow)«, ein russisch-türkischer Immobilieninvestor und Eigentümer der Bayrock Group, dessen Büros im Trump Tower waren: »Freund und Partner von Schiefer Turm. Laut Aussage von Schiefer Turm ›brachte Arif die Leute aus Moskau zu mir hoch  … Es lief wie am Schnürchen, wie die Massenanfertigungen von ­Autos‹« (T 56). Die »Wahrheit« liegt offenkundig nicht im Detail, sondern in der Beziehung der Details zueinander – einer Beziehung, die allerdings nur mit Hilfe von Spekulation und Imagination zu haben ist. Wie bei Schorlau ist die Suchbewegung des Findens untrennbar an das Erfinden gebunden. Anders als bei Schorlau wird dies in Trojanows Roman aber nicht nur metafiktional thematisiert, sondern führt letztlich auch dazu, dass die Leser*innen das finale »Enthüllungsbuch« nie zu sehen bekommen.

Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 133

V. Die Romanfigur Ilija sieht in den unverbundenen Elementen der Wirklichkeit kausale Determinanten. Er nähert sich über narrative Operationen von Halbwahrheiten einer möglichen Wahrheit an: er selektiert, sortiert, markiert und fügt zusammen. Seine Lektüre der Dokumente folgt einem bestimmten »Muster«: Während die »Fakten kurzzeitig sichtbar« sind, setzen bald darauf »Mechanismen der Bearbeitung, der Nacherzählung« ein (T 54). Dennoch offenbart sich das auratische Versprechen eines Geheimnisses im Zentrum der Macht an keiner Stelle des Buches vollständig. Die sinnstiftende Auflösung in ein intentionales Geflecht von Akteur*innen und Handlungen, die Leser*innen von Spionageromanen vertraut ist, bleibt hier aus. Der Roman liefert uns nicht die Antworten, die wir qua Gattungsversprechen von ihm erwarten. Wie ist das zu verstehen? Als Dekonstruktion der Hoffnung, eine chaotische Welt in eine kohärente Erzählung und Sinnleere in auratische Fülle überführen zu können? Oder als Aktivierung der Leser*innen, die sich anhand der gestreuten Informationen, Zweifel und Erzählansätze nun selbst an die Arbeit machen sollen, die Verschwörung zu enttarnen? Zumal ein ungeklärter Rest selbst in der Version bestehen bleibt, die die beiden investigativen Journalisten aus den geleakten Dokumenten herauslesen oder in sie hineinerzählen – sie ist innerhalb der fiktionalen Realität weder wahr noch wahrscheinlich. Denn durch die Komplexität und Unsicherheit der Informationen kann die gesamte Geschichte äußerst unglaubwürdig erscheinen. »Wir haben ein grundsätzliches Problem«, sagt Ilija zu seinem Kollegen Boris. »Es gibt Zusammenhänge, die wir nicht endgültig beweisen können. Und unser System ist so konstruiert, dass jeder, der Geld oder Macht hat, den kleinsten Zweifel aufbauschen kann. Mit der ganzen Verschleierungsmaschinerie, die solchen Leuten zur Verfügung steht.« (T 106) Wie also erzeugt man die Glaubwürdigkeit der eigenen Erzählung, wenn die Fakten manipuliert werden können und die Ergebnisse der eigenen Beweisführung falsifizierbar bleiben? Mit einer anderen Methode und anderen Instrumenten, mit Geschichten, Sprachfiguren und Lebensweisheiten, die Evidenz im Sinne von Anschaulichkeit erzeugen. 134 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

An dieser Stelle ist der Blick auf die autodiegetische Erzähler­ figur zu richten, mithilfe derer im Roman das Material ausgewählt und zu einer Geschichte komponiert wird. Wie der Protagonist Ilija aus den Dokumenten eine stimmige Erzählung zu konstruieren versucht, lenkt er auch als zurückblickender Erzähler die Aufmerksamkeit der Leser*innen. Er ist ein Erzähler, der sich einmischt, der kommentiert, generalisiert und auch Stellung zum Weltlauf außerhalb der erzählten Handlung bezieht. Er lädt zudem zur Identifikation mit dem Autor ein, er heißt nicht nur wie er, sondern geht darüber hinaus dem gleichen Beruf nach. Dieses Spiel mit Authentizitätssignalen wird durch die performative Inszenierung des Textes durch den Autor in Paratexten, wie Lesungen und Interviews, verstärkt. Auf einer Lesung richtet der Autor Ilija Trojanow seine Worte an die Zuschauer*innen, er spricht frei, der Roman liegt neben ihm: »Guten Abend. Eigentlich sollten wir hier zu zweit sitzen, mein Co-Autor und Ich, aber er musste untertauchen. Ich werde ihn heute Abend Boris nennen. Das ist nicht sehr einfallsreich, ich weiß, aber es geht nicht um Originalität, es geht um den Schutz eines Menschenlebens.«25 Nur wer den Roman gelesen hat, kann wissen, dass der Autor hier nicht über sich und eine reale Person spricht, sondern der Ich-Erzähler über eine Romanfigur. Als Trojanow in der anschließenden Diskussion die Frage gestellt wird, warum auch der Ich-Erzähler wie er heiße, antwortet er mit dem vorangestellten Motto des Romans: »Alles ist wahr oder wahrscheinlich«. Diese »Provokation«, die seinem Roman einen Wahrheitsgehalt zuspreche, solle bei de:r Leser*in eine »Skepsis« hervorrufen, die die intradiegetische Welt überschreite und gleichzeitig auf das »Spiel« mit der ontologischen Systematik fiktiv  /  real aufmerksam mache.26 Zuvor wurde dem Autor nach der Lesung bereits die Frage gestellt, warum er denn kein Sachbuch geschrieben habe, sondern einen Roman. Er antwortet: »Ich reagiere auf die Welt mit meiner eigenen Sprache.«27 Die Sprache des Ich-Erzählers erinnert an Männlichkeitsinszenierungen, wie man sie aus dem film noir kennt: Hier spricht ein Mann, der entfremdet ist von den Anforderungen der Gesellschaft und lediglich zynisch eine Verbindung zu seiner Umwelt herstellen kann (man habe ihm des Öfteren seinen »Zynismus und Pessimismus« vorgeworfen; T 228).28 Die kommentierenden Einschübe dieses Erzählers dienen aber nicht nur der Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 135

Charakterzeichnung, sondern sollen auch dem von den Investigativjournalisten verfolgten Erzählstrang mehr Plausibilität verleihen: Es sind anklagende Moralisierungen, die zur Parteinahme auffordern: »Im Geräuschnebel solcher Click-Ställe stirbt die Freiheit einen anonymen Tod« (T 125). Es sind Redewendungen, die eine mögliche Erklärung selbstverständlich erscheinen lässt: »Die schönsten Diamanten sind die angeschwemmten« (T 80) oder »Die Karotte sollte weiterhin vor der Nase des Esels baumeln« (T 81). Es sind aufgerufene Mythen, wie ein »abstürzende[r] Ikarus vor hellblauem Hintergrund« (T 85), die als Imago für die Wiederkehr des Immergleichen fungieren. Es ist die »Fabel von dem Hirtenjungen« (T 78), dessen Warnung vor dem Wolf nicht mehr geglaubt wird, die das globale Ausmaß der Manipulation von Informationen bildhaft darstellen und an das Moralempfinden der Leser*innen appellieren soll. Oder es sind Menschenbilder, wie der »homo neoliberalis« (T 106), die hinter einem singulären Ereignis die allgemeine Struktur von Gesellschaft erblicken wollen. Mit Pathos, Phrasen und mündlichen Erzählformen (Mythos, Fabel) werden also die Lücken gefüllt, die durch die strukturelle Unbeweisbarkeit einer wahrscheinlichen Erzählung (ob faktual, wie die angedeutete Binnenerzählung der Investigativjournalisten, oder fiktional, wie der Roman selbst) nicht geschlossen werden können. Sie überbrücken die Kluft von Wissen und Nicht-Wissen, die durch die Investigation der Journalisten nicht geschlossen werden konnte, indem sie den »binären Code von wahr oder falsch« ersetzen durch eine »Skala von mehr oder weniger« plausibel.29 Thomas Strässle betont, dass gerade das Ungereimte plausibilisiert werden muss. Der Roman operiert hier nach den Kriterien »Konsens und Konsistenz«30: Über Moralisierungen will er etwa Übereinstimmung erzeugen; und Redewendungen täuschen dort eine Stimmigkeit vor, wo eigentlich Inkonsistenz oder ein Mangel an Wissen herrscht. Gleichzeitig bindet die Verknüpfung mit einem kollektiv geteilten Imaginären, mit Mythen und Alltagsweisheiten, die lückenhafte Erzählung an Bekanntes. Sie bieten ein Identifikationspotential, das sich unmittelbar, vor-reflexiv, einstellt. Kollektive Erzählformate und kleine Formen, wie z. B. die Fabel, stiften eine Gemeinschaft der Wissenden. Der Roman, der doch die manipulative Macht der Politik skandalisieren möchte, arbeitet so selbst mit Techniken der »Suggestion«31, die uns 136 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

Leser*innen in der Meinungsbildung beeinflussen sollen. Dadurch offenbart sich das erzählte Geheimnis der politischen Macht als ein Produkt der Fiktion – und zwar nicht in Form einer schlüssigen Prüfung, sondern durch Evidenzbehauptungen. Affektive Aha-Erlebnisse, in denen sich plötzlich ein zuvor nicht erkannter Sinnzusammenhang erschließt, ersetzen die Beweiskette – Trump als Esel, der einer russischen Karotte hinterhertrabt. Gleichzeitig überschreitet der Roman seinen fiktionalen Rahmen, er kann als ein »Eingriff in das Politische«32 der unmittelbaren Gegenwart gelesen werden. Die Personen, die in ihren Verflechtungen minutiös rekonstruiert werden, waren zum Erscheinungstermin des Buches noch im Amt. Die Realität der Verschwörung kann zwar nicht bewiesen werden, sie entzieht sich einer kompletten Enthüllung. Aber ein Roman kann die politische Realität wenn schon nicht erschüttern, so doch als verdächtig erscheinen lassen. Er bearbeitet die Spannung zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem Offiziellen und Geheimen, indem er sie in eine poetische überführt, nämlich diejenige zwischen Fakt und Fiktion. Es ist gerade diese Diffusion, die der Erzählung ihre Wirkkraft verleiht. Am Ende stellen sich die Leser*innen die Frage: Was, wenn es wirklich so gewesen ist?

VI. Zugleich entwickelt der Roman jedoch auch einen zynischen Entwurf der Politik, in der Macht weniger auf Verschleierung, die an der Differenz zwischen Wahrem und Falschem festhält, sondern auf der Suspension dieser Unterscheidung beruht. In dieser Logik kann letztlich alles wahr oder wahrscheinlich sein – sofern es wahr oder wahrscheinlich gemacht wird. Die Whistleblower*innen, die doch die Störung der Macht par excellence personifizieren, sind rätselhaft. Ilija erhält nach den ersten Materialien ein großes Paket, in ihm befindet sich eine Matrjoschka mit ineinandergesteckten Puppen russischer Schriftsteller. Eine verschlüsselte Botschaft, die dekodiert werden muss und ihn zum russischen Informanten führen wird. Ihre Techniken der Maskerade und des Rollenspiels machen die Whistleblower*innen zu zweifelhaften Figuren. In ihnen Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 137

artikuliert sich ein ›postfaktisches‹ Unbehagen; so zitiert die Figur der DeepFBI in einem Gespräch mit Ilija Augustinus: »›Wenn das Ansehen der Wahrheit zusammengebrochen ist, bleiben alle Sachverhalte zweifelhaft‹.« (T 91) Die Whistleblowerin hält zwar an dem Grund ihres Handelns, der Aufklärung, fest, weiß aber gleichzeitig um dessen Wirkungslosigkeit in einer Realität, in der eine wahrscheinliche Version durch eine andere wahrscheinliche Version ersetzt wird, ohne dass es damit zu einer Modifikation der Realität kommt. Der Roman entwirft ein Szenario, in dem die Täuschung so allgegenwärtig ist, dass ihre Aufdeckung keine Effekte mehr zeitigt. Eine demokratische Öffentlichkeit, die auf Transparenz und Korrektur beruht, existiert in dieser Erzähllogik letztlich nicht. »Was, wenn öffentliche Bloßlegung nichts mehr bewegt, wenn der Beweis des Verrats und Betrugs nichts bewirkt?«, fragt Ilija DeepFBI wenig später. »Inmitten allgegenwärtiger Besudelung regt die einzelne Sauerei niemanden mehr auf.« (T 92) Die investigative Untersuchung, die doch eine Verschwörung offenlegen will, transportiert dadurch eine Verschwörungstheorie, die sich selbst abschafft. Da in ihr alles verdächtig ist, wird jede Verdächtigung sinnlos. In diesem »Ende von Gesellschaft« (T 89) tritt an die Stelle der »Information« die »Geschäftemacherei«: »Der letzte noch nicht ausgebeutete Rohstoff, die Wahrheit, wird auch verscherbelt« (T 89). DeepFBI wird sich am Ende selbst als eine Mitarbeiterin einer privaten Sicherheitsfirma herausstellen, die in Data Mining und strategische Kommunikation für Überwachungssysteme investiert. »Dass ich nicht lache. Was für eine Demokratie?« (T 225), entgegnet die unsichtbare Person hinter den Leaks, ein Oligarch namens Toby Stieber, Ilija am Ende des Romans und führt weiter aus: »Wer die Instrumente von High Tech, Datenanalyse und Profiling beherrscht, kann jedes gewünschte Ergebnis herbeiführen« (T 225). Hier sind auch die geleakten Materialien nur eine halbe Wahrheit, da sie auf einem selektiven Erfahrungsraum gründen. Sie beruhen auf einer Manipulation vorgängiger Instanzen, die eine Veränderung der Realitätssicht im Interesse des Machtsturzes herbeiführen möchten. Die Dynamik des Misstrauens wird total, in ihr wird nicht nur die offizielle Version des Erzählten verdächtig, sondern das Erzählte selbst, es wird ›postfaktisch‹. Das Fundament der Tatsachen, auf dem die Realität fußt, ist im Roman ein manipulativ hergestelltes. 138 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

Damit löst sich auch die Grundlage des Wissens, eingeschlossen des Geheimwissens, auf. Weder verfügt der Staat noch über ein abgesichertes, wenn auch klandestines Wissen noch seine Verräter*innen, die Whistleblower*innen. Darum seien Verschwörungstheorien letztlich auch ein Symptom postfaktischer Politik, wie Ilija bemerkt: »In einer Welt, in der die Wahrheit nicht mehr zugänglich ist, muss sich ein jeder seinen eigenen Reim auf die Rätselhaftigkeit der Entwicklungen machen« (T 229). Zugleich formuliert der Roman jedoch auch seine eigene Verschwörungstheorie, in der sich der letzte Rest an Kontingenz auflöst – in dieser epistemischen Krise droht der politische Kollaps. Doch der Roman endet nicht mit einer Auflösung der Wahrheit in eine nivellierende Postfaktizität, in der mithilfe computergestützter Verfahren der Datenmanipulation alles in den Status des Wahrscheinlichen transferiert werden kann. Der Roman endet mit einem heroischen Selbstentwurf des Ich-Erzählers, der sich angesichts der postfaktischen Misere als »Guerillero gegen die permanente Lüge« (T 229) inszeniert. Zwar würden einige ihre »Darstellung«, d. h. das nun fertig gestellte Enthüllungsbuch von ihm und Boris, als »Verschwörungstheorie« (T 229) abtun, doch dies liege am Gegenstand, dem unsichtbaren Grund der Politik: »Weil die entscheidenden Fäden der Macht hinter den Kulissen gezogen werden, ist jede Entlarvung zunächst eine ›Vermutung‹ (darin das Wörtchen ›Mut‹), bis sie – oft erst Jahrzehnte später – bewiesen wird« (T 229). Die Operation der Enthüllung zwingt die Journalisten – hier in der klassischen Rolle des Aufklärers der Massen – in die Klandestinität. Denn wie sich politische Macht aus der Sicht des Erzählers im Verborgenen entfaltet, ist auch der Standort der Aufklärer ein von der Gesellschaft separierter Raum. Boris und Ilija üben ihre investigative Tätigkeit »in einem mit Schaumstoff ausgepolsterten Zimmer, das [sie] vor Überwachung schützt« (T 9), aus, nach dem Erscheinen ihres Buches taucht Ilija in ein Dorf »am Rande des Urwalds« (T 233) unter. In der topologischen Struktur der Erzählung, die wesentlich auf der Isolation ihrer Protagonist*innen beruht, wird ein exklusives Modell der Wahrheitsfindung thematisch, für das die Absenz des Gesellschaftlichen (sowohl auf der phänomenalen wie auf der reflexiven Ebene) kennzeichnend ist: Die Figuren bleiben vereinzelt, das Nachdenken über soziale Strukturen weicht der Personalisierung Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 139

von Herrschaft und einem konspirativen Imaginären und ein sozialer Raum erscheint erst am Ende – dann aber als primitivistische Phantasie des Vor-Zivilisatorischen: der »Gemeinschaftsraum im Dorf« (T 234) im »Urwald« (T 233).33 Was darüber hinaus geht, wird auch hier nur medial vermittelt durch eine Nachrichtensendung im Fernsehen, die von »gewaltigen Demonstrationen« (T 235) auf der ganzen Welt berichtet: Eine Aktivistin mit dem Namen Cya ist mit den Worten »… lasst uns nicht reden über das, was ist … […] lasst uns reden über das, was sein könnte« (T 235) zu hören. Der globale Aufstand, der nach Ilijas und Boris’ Buchveröffentlichung ausbrach, transportiert eine Imagination des Zukünftigen, in der die »Ahnung« (T 233) der beiden Journalisten obsiegt. Der Roman setzt sich mit der Ununterscheidbarkeit von Wahrem und Falschem in einer ›postfaktischen‹ Gesellschaft auseinander, er operiert selbst mit der Hybridisierung von Fakt und Fiktion, um schließlich ein Plädoyer für eine Politik der Utopie zu formulieren, die messianische Züge trägt. Eine Führungsfigur stellt ein (nicht ausformuliertes) politisches Heilsversprechen im hic et nunc in Aussicht, das nicht durch Gott, sondern allein durch den Willen der Masse verwirklicht werden kann. Die Menschheit, transportiert das Romanende, kann sich selbst erlösen. Am Ende ist der Roman literarischen Gesetzen und Gattungserwartungen zutiefst verpflichtet, die Rollen sind klar verteilt: der »Aufstand« der Guten gegen die »Herrschaft der Schlechtesten« (T 233), der Traum einer besseren Zukunft gegen die Fakten einer »trüben Realität« (T 234). Und dies kann eben nur im Modus der Fiktion erzählt werden. Trojanows Roman bleibt so zutiefst ambivalent. Auf der Ebene des discours haben wir gegenläufige Darstellungsformen beobachtet; einerseits sensibilisieren metafiktionale Einschübe für die narrative Konstruktionsarbeit an der Realität und ihrer vermeintlichen ›Unverfälschtheit‹ und ›Echtheit‹, andererseits operiert der Roman selbst mit fadenscheinigen Techniken, die Lücken und Spannungen in unwiderlegbare Evidenzbehauptungen auflösen. Die ästhetische Befriedigung, die ein im klassischen Sinne gut erzählter Roman verspricht, liefert er ebenso auf der Ebene der histoire nicht. Das könnte man als Widerstand gegen den Sog der Fiktion verstehen, gegen den Drang, eine stringente Verschwörungserzählung zu liefern, wie die Leser*innen sie erwarten. Die Realität ist komplexer, 140 | Carolin Amlinger und Nicola Gess

und darum muss ein Roman, der ihr gerecht werden will, scheitern. Und doch: Am Schluss liefert der Roman ein Ende, das zu gut ist, um wahr zu sein, und das zugleich die Wunschphantasie jede:r Autor*in realisiert: ein Enthüllungsbuch, das die Welt verändert; ein Buch, das einen Aufstand im Namen der Imagination anzettelt, im Namen dessen, »was sein könnte« (T 235). So kehrt am Ende für die Leser*innen auch das Versprechen des Geheimnisses zurück, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht potenziert: Neben die arcana imperii tritt das Geheimwissen der Autoren, die manche »Wahrheit« »verheimlicht« haben, um sie vor »der Macht« (T 233) zu schützen, und schließlich das Buch selbst, das nur als Geheimbuch sein utopisches Potential entfalten kann.

Die Tücken der Wahrscheinlichkeit | 141

Gertrud Koch

Zwischen Fakt und Fiktion: »Madagaskar, Nisko, Theresienstadt, Auschwitz« Zu den ›Über‹lebensbedingungen in der Vernichtung in Claude Lanzmanns Film Le dernier des injustes1

1. Über-Leben Die Shoah ist Paradigma geworden. Paradigma für das Problem des Überlebens: der Überlebensschuld, der Ethik des Überlebens, des Nichtüberlebthabens. Da, wo es kaum noch Handlungsspielräume gab, wird deren Ausfall zum zentralen Angelpunkt. Gibt es ein ›bloßes‹ Überleben als physischer Körper oder ist ›Über‹-leben immer schon gebunden an Perspektiven auf das Leben, auf die wie auch immer unbegründete Hoffnung, dass es ein Jenseits, ein Danach, vielleicht noch einen weiteren Tag zu überstehen gibt? Die objektiven Prognosen sind dabei nicht entscheidend, denn die waren weder objektiv noch subjektiv wirklich verfügbar und im Chaos der Lagerwelt blieben sie Gerüchte. Dennoch lassen sich in den rudimentären Versuchen, Zeitperspektiven aufrechtzuerhalten, Modi erkennen, das Überleben, den ›Conatus‹ selbst, an den imaginären Entwurf eines Lebens zu binden. Der ›Conatus‹ überschreitet das bloße Überleben, insofern er zweckgerichtet erscheint, er hat ein Ziel, das unterschiedlich markiert sein kann und sich in verschiedenen Strebungen hält, die in Karl Vorländers Geschichte der Philosophie prägnant genannt sind: Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren (in suo esse perseverare), der Zerstörung zu entgehen. Dieses Streben (cona­tus) heißt, wenn es sich auf den Geist bezieht, Wille, wenn auf Geist und Körper zugleich, Trieb (appetitus), wenn es uns zum Bewußtsein kommt, Begierde. Wir begehren (wollen, erstreben) eine Sache nicht, weil wir sie für gut halten, sondern wir halten sie für gut, weil wir sie begehren. Was das Handlungsvermögen des Körpers stärkt, dessen Vorstellung stärkt auch das Denkvermögen des Geistes.2

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In der philosophischen Diskussion von Aristoteles bis Spinoza ist der ›Conatus‹ eine mehrstellig gedachte Relation, der Lebewesen und Umwelt aufeinander bezieht, als rationales Kalkül oder als Affektgeschehen, als Begehren oder als Absicht. In der Dialektik der Aufklärung schreibt Theodor W. Adorno: Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos. Sie gewahrt ihn nicht bloß in unaufgehellten Begriffen und Worten, wie die semantische Sprachkritik wähnt, sondern in jeglicher menschlichen Äußerung, wofern sie keine Stelle im Zweckzusammenhang jener Selbsterhaltung hat. Der Satz des Spinoza »Conatus sese conservandi primum et unicum virtutis est fundamentum« enthält die wahre Maxime aller westlichen Zivilisation, in der die religiösen und philosophischen Differenzen des Bürgertums zur Ruhe kommen. Das Selbst, das nach der methodischen Ausmerzung aller natürlichen Spuren als mythologischer weder Körper noch Blut noch Seele und sogar natürliches Ich mehr sein sollte, bildete zum transzendentalen oder logischen Subjekt sublimiert den Bezugspunkt der Vernunft, der gesetzgebenden Instanz des Handelns. Wer unmittelbar, ohne rationale Beziehung auf Selbsterhaltung dem Leben sich überläßt, fällt nach dem Urteil von Aufklärung wie Protestantismus ins Vorgeschichtliche zurück. Der Trieb als solcher sei mythisch wie der Aberglaube; dem Gott dienen, den das Selbst nicht postuliert, irrsinnig wie die Trunksucht. Beiden hat der Fortschritt dasselbe Schicksal bereitet: der Anbetung und dem Versinken ins unmittelbar natürliche Sein; er hat den Selbstvergessenen des Gedankens wie den der Lust mit Fluch belegt. Vermittelt durchs Prinzip des Selbst ist die gesellschaftliche Arbeit jedes Einzelnen in der bürgerlichen Wirtschaft; sie soll den einen das vermehrte Kapital, den anderen die Kraft zur Mehrarbeit zurückgeben. 3

Adornos Kritik am bürgerlichen Prinzip der Selbsterhaltung, das er in Spinozas ›Conatus‹ vorformuliert sieht, basiert auf einer Vorstellung davon, dass das ›gute‹ Leben so etwas wie Glück nur als ›selbst‹-vergessenes finden kann, dass dieses im Aussetzen des zweckrationalen Handelns liegt. ›Leben‹ im euphemistischen Sinne liegt gerade nicht im Überleben als Zweck des Lebens, sondern in seiner Freistellung von der Arbeit der Selbsterhaltung. Der komplexe Zusammenhang der bürgerlichen Ökonomie von Arbeit und Überleben wurde in den Gettos der Vernichtung als ultima ratio zur Schutzfolie, unter der die ökonomisch zweckfreie Vernichtung millionenfachen Lebens stattfand. »Arbeit macht frei« als zynische 144 | Gertrud Koch

Parole am Tor von Auschwitz, jenem Lager, in dem die Arbeit der Vernichtung auch Arbeit als Mittel der Vernichtung einsetzte. In dieser Hinsicht lassen sich jene Überlegungen lesen, die in geradezu panischer Weise die Selbstinterpretationen Benjamin Murmelsteins begleiten, wenn er in einem mehrtägigen Interview mit Claude Lanzmann die Motive seines Handelns zu erläutern und zu rechtfertigen sucht. In der Vorbereitung zu Shoah hatte Lanzmann 1976 in Rom Benjamin Murmelstein aufgesucht, der als Judenrats­ ältester im Getto Theresienstadt überlebt hatte. Murmelstein ist für seine erzwungene Rolle des Kollaborateurs, der zwischen der Lagerkommandantur und den jüdischen Häftlingen Befehle umsetzen und ausführen musste, später angeklagt worden, weil seine Handlungen den jüdischen Häftlingen in Theresienstadt großen Schaden zugefügt haben. Im Interview mit Lanzmann versucht Murmelstein, sein Handeln zu begründen. Lanzmann hat das Interview in Shoah nicht verwendet. Auch weil es in Shoah nicht um das Überleben ging, sondern um den Tod, die Tötungen und die Toten. Erst fast ein halbes Jahrhundert später montiert Lanzmann aus dem Interview einen eigenen Film über Murmelstein: Le dernier des injustes (Der Letzte der Ungerechten).4 Das gesamte Interviewmaterial hat Lanzmann dem Holocaust Museum in Washington, D. C., überlassen, auf dessen Website es zugänglich ist. Seit Lanzmann seine Interviews mit Murmelstein dem Archiv übergeben hat, wo sie der Öffentlichkeit nun zur Verfügung stehen, wurde viel über den historischen Hintergrund und seine Revisionen geschrieben und gestritten. Vor allem die implizite Umwertung der historischen Figur des Letzten der Judenratsältesten im Getto Theresienstadt ist nicht unwidersprochen geblieben.5 Der Film entfaltet ein Doppelportrait. Zuerst ist da das historische Material, das Interview, das Lanzmann in den siebziger Jahren mit Murmelstein in Rom geführt hat, und dann gibt es in der historischen Brechung eines Zeitabstands von fast einem halben Jahrhundert Lanzmanns neue Montage des Materials. Insofern entfaltet der Film ein auf der Zeitachse aufgeklapptes Selbstportrait Lanzmanns und ein zeitlich neu perspektiviertes Portrait von Murmelstein. In den historischen Aufnahmen sind oft beide zusammen zu sehen, wie sie sich gegenseitig provozieren. Murmelstein versucht, seine umstrittenen Aktionen als Judenratsältester gegen die skeptischen Fragen von Zwischen Fakt und Fiktion | 145

Lanzmann zu verteidigen. Und im Laufe des Films ändert sich das Verhältnis, die skeptische Haltung trifft nicht mehr nur den Interviewten, sondern auch den Interviewer. Die Gewissheiten, aus denen heraus Lanzmann Murmelstein mit einer spürbaren Distanz gegenübergetreten war, bröckeln. In die historischen Aufnahmen wird eine neue Perspektive eingeschrieben, die in einer rein kinematographischen Operation Stimme und Körper trennt. Nun treten die sichtbaren Gesten in den Vordergrund, aus der skeptisch-distanzierenden Ironie wird eine fast solidarische Ironie. Eine Ironie, die aus der Anerkennung der Absurdität der Handlungsparadoxien kommt, denen Murmelstein geglaubt hatte zu entkommen und in die er sich doch nur immer mehr verkeilte. Die Geste der Umarmung, mit der Lanzmann am Ende Murmelsteins Schulter umfasst, ist keine Geste des Einvernehmens, sondern vielmehr eine der Verständigung, ein Zeichen, dass man sich verstanden hat, auch wenn man nicht unbedingt zustimmen mag. Eine Geste empathischer Anerkennung, die nicht mit Identifizierung verwechselt werden sollte. Diese letzte Einstellung zeigt die beiden Männer von hinten, Lanzmann Murmelstein den Arm in einer beschützenden Geste um die Schulter legend, während sie auf den römischen Titusbogen zugehen. Eine Geste, die auf die schreckliche Äußerung Gershom Scholems reagiert, die Murmelstein ironisch ins Gespräch bringt, hatte dieser doch für ihn die Todesstrafe gefordert, während er zur gleichen Zeit befand, dass es ein Fehler war, Eichmann hinzurichten, da man ihm keinen fairen Prozess gemacht habe. Bestand zwischen Murmelstein und Lanzmann eine geteilte Leidenschaft für das Handeln, die sich im Laufe des Films manifestiert? Um diese Frage präzisieren zu können, muss man sich näher auf den Film einlassen. Die Struktur des Doppelportraits, die den Film kennzeichnet, hat eine, wenn auch schmale Basis, an der das Doppelportrait sich an der Achse in ein Spiegelverhältnis dreht. Im Zentrum beider steht die Frage nach der Möglichkeit des Handelns und seinen Gründen und Begründungen. Lanzmanns Insistieren auf möglichst genauen Beschreibungen von Handlungen, mögen sie sich auch in noch so kleinen Gesten, Wörtern, Namen und Spielräumen bewegen, stößt bei Murmelstein auf eine symmetrische, fast zwanghafte Betonung der Handlungsaspekte seines eigenen Tuns, die er von der reinen Ebene des externen Zwangs und Befehls absetzen möchte. Gera146 | Gertrud Koch

dezu gegen seine eigenen Interessen, sich gegen die Vorwürfe, unzumutbar gehandelt zu haben, verteidigen zu müssen, insistiert er darauf, seine Handlungen zwar reaktiv, aber doch als Handlungszug mit eigener Intention ausgeübt zu haben. Welche Sequenzen aus dem umfangreichen Interview sind in dem Film montiert worden? Ich möchte hier zwei Aspekte in Betracht ziehen. Der erste betrifft die Frage nach den Orten und Plätzen und die Weise, wie sie im Film erscheinen. Der zweite betrifft die Frage nach den impliziten und expliziten Oppositionen von Fiktion und Fakt, Lüge und Wahrheit, Authentizität und Maske, Zahlen und Erzählungen.

2. Orte, die wir sehen können Orte, die wir sehen können und die der Film zeigt, sind: Bohušovice, Theresienstadt, Rom, Jerusalem, Wien, Nisko, Madagaskar, Krakau, Prag. All diese Orte existieren auf den Landkarten der Geographen und können sowohl als reale Orte gesehen werden als auch als Bilder, die durch die Linse einer Kamera gesehen werden. Dennoch liegt die filmische Logik, in der diese Kette von Namen Gestalt annimmt, nicht auf derselben Ebene. Zwei sind nicht in Europa und sind nie Schauplätze der Vernichtung der europäischen Juden geworden: Jerusalem und Madagaskar. Beide spielen aber eine Rolle in der Erzählung von Theresienstadt, wie sie Murmelstein im Laufe des Films entfaltet. Zuerst ist es Lanzmann, der an einem Gleis steht und einen Text liest, unterbrochen von dem Getöse vorbeidonnernder Güterzüge. Der Text gibt eine Liste von Namen vor, die alle eine Kette bilden: »Madagaskar, Nisko, Theresienstadt, Auschwitz« – eine Kette, die immer tiefer in die Vernichtung führt. Wenn er mit dem historischen Narrativ vom sogenannten Madagaskarplan beginnt, zeigt der Film eine schöne Flusslandschaft im Sonnenuntergang, ein Bild, das wiederholt wird, wenn Murmelstein seine Erzählung vom Madagaskarplan beginnt. Was verbindet Madagaskar mit Theresienstadt, welche Logik verbindet diese beiden Orte? Beide Namen fungieren als Worte, die die Intention verhüllen, dass sie für diejenigen, denen diese Orte als Gegenorte der Vernichtung angeboten wurden, von vornherein Zwischen Fakt und Fiktion | 147

Abb. 1:  Ein Bild, das Madagaskar erscheinen lässt, ohne es zu sein

nur Stationen auf dem Weg in die Vernichtung waren. Namen, die lediglich Masken waren, hinter denen die Mörder ihre Intentionen verhüllt haben, die sie als Codeworte für die ›Endlösung‹ benutzt haben. In dem Moment, als sie gegenüber den Juden benutzt wurden, hatten sie schon ihre Bedeutung geändert: Madagaskar war nie eine reale Möglichkeit und Theresienstadt war nie der geschützte Ort, als der es ausgegeben worden war, sondern die Vorhölle zur Ermordung. Dennoch ist zwischen Madagaskar und Theresienstadt eine unaufhebbare Differenz: Madagaskar bleibt ein reines Bild und materialisiert sich niemals als konkreter Ort, während Theresienstadt der reale Ort wird, an dem sich eine Fälschung materialisiert, die versucht, aus ihm ein Bild zu machen. So wird Theresienstadt zu einem doppeldeutigen Ort, dem Ort des Sterbens und dem Ort des gespielten Lebens. Lanzmann verweist darauf, wenn er Ausschnitte aus dem Theresienstadt-Film, der heute unter dem Titel Der Führer schenkt den Juden eine Stadt firmiert, in seinem Film zeigt. Er führt diesen als einen Film vor, der ein Bild fabrizieren sollte, und zwar ein filmisches, das unabhängig vom realen Getto vorführbar wäre, um der Welt zu beweisen, dass es keine Vernichtung gäbe, also als propagandistisches Bild von Theresienstadt als Arbeits- und Auffanglager, das für ›wahr‹ gehalten werden sollte. Um dies zu erreichen, musste eine materiale Filmkulisse aufgestellt werden, die zwei Ziele zu erfüllen hatte: Sie musste vor dem Auge der Kamera genug 148 | Gertrud Koch

›Wirklichkeit‹ produzieren, um als referentiell dokumentarisches Bild eines Films überzeugen zu können, und als Kulisse herhalten, die aus der Perspektive der geplanten Besuche von Vertretern des Roten Kreuzes dieses artifizielle Bild als natürliches erscheinen lassen würde. Das Theresienstadt-Filmprojekt folgte derselben Logik, die Murmelstein beschreibt. Der Film dreht sich ständig um diese doppelte Struktur des Sehens: etwas als Bild sehen (Madagaskar als Bild eines Ortes, an dem man leben kann) einerseits und etwas zu einem Bild machen (der Theresienstadt-Film und die Kostümierung des Gettos zu einem Schaufenster dessen, was Murmelstein als Strategie der »Stadtverschönerung« bezeichnet) auf der anderen Seite. Im Zuge dieser Strategie der materiellen Kulisse als Wirklichkeitszeichen werden die noch Lebenden Teil einer Leinwand, hinter der die Wirklichkeit des Gettos und der Vernichtung verhüllt werden. Solange dieses Spiel veranstaltet wird, muss das Leben in der und als Kulisse weitergehen: Leben spielen heißt am Leben bleiben, das gestellte Bild hat einen materialen Kern, eine umgekehrte Mumifizierung. Film ist in dieser Hinsicht nie ein bloßes Dokument, sondern immer ein doppeltes System der Codierung, es macht aus konkreten Materialien ein Artefakt, sowohl in Bezug auf die Objektwelt vor der Kamera als auch als Bild. Als Bild verweist es auf das, was es zeigt, und als technisches Bild zeichnet es auf, was vor der Kamera ist, ganz unabhängig davon, ob diese vorfilmische Wirklichkeit ganz und gar künstlich ist oder ob es sich um eine gefälschte Wirklichkeit handelt. Insofern ist der Film über Theresienstadt aus der Perspektive der Nazis eine doppelte Täuschung: Die Kulissen sollten von den Besuchern des Gettos für das eigentliche Getto gehalten werden, ihre Überprüfung sollte Filmkulisse, Kostümierung und Maskierung als Wirklichkeit ersten Grades sehen. Ebenso sollten auch die Filmzuschauer den Film für ein referentielles Abbild eines Lagers halten, das es so gar nicht gab. Die Einstellung des Flusses auf Madagaskar erfüllt einen ähnlichen Zweck: Einerseits ist es ein schönes Bild, das einem Reiseprospekt entnommen sein könnte, der dazu auffordert, genau dorthin zu fahren, andererseits ist das Bild selbst kein Ort, an dem es sich leben lässt. Das Bild selbst gewinnt einen ambivalenten Status zwischen Darstellung und Vorstellung. Zwischen Fakt und Fiktion | 149

Abb. 2:  Die leere Stadt als Projektion

Theresienstadt ist in Murmelsteins Worten die Stadt des »Als-Ob«. »Wissen Sie«, sagt er, »da ist dieses philosophische Ding mit dem Als-Ob«. Offensichtlich verweist Murmelstein hier auf Die Philosophie des Als Ob, die 1911 von dem deutschen Philosophen Hans Vaihinger geschrieben wurde und noch immer eines der fundamentalen Bücher zur Logik der Fiktion darstellt.6 Vaihinger behandelt dort logische, religiöse und wissenschaftliche Fiktionen (wie z. B. in Gedankenexperimenten und hypothetischen Annahmen). Ein Buch, das zu seiner Zeit breit rezipiert worden war. Zwar zieht Murmelstein in diesem Moment keine weiteren Schlüsse aus der Philosophie des Als-Ob, sondern benutzt den Begriff im alltäglichen Sinne der Täuschung. Aber es stellt sich heraus, dass er mit dem Konzept von Theresienstadt als dem Ort des Als-Ob weit mehr als die Täuschungsabsicht der Nazis verbindet. In Murmelsteins Situationsdeutung gab es nicht nur das Täuschungsmanöver von oben, sondern auch die Subversion des Vorspielens, die dem Prinzip Sheherazades aus Tausendundeine Nacht folgt. Es ist dieses Modell des Fabulierens, um Zeit zu gewinnen und der eigenen Hinrichtung dadurch zu entgehen, dass immer neue Geschichten erzählt werden, solange bis der Retter naht, die im Zentrum von Murmelsteins Rechtfertigung und Begründung für sein eigenes Mitspielen im Täuschungsmanöver steht. Murmelstein, das betont Lanzmanns Film, denkt die Situation im Getto in 150 | Gertrud Koch

einem komplexen Modell von Wirklichkeit (und hier berührt er sich durchaus mit der Analyse, die H. G. Adler gegeben hat, auf die ich später noch eingehen werde): Hier gibt es die Realität des Faktischen, die drohende Ermordung, und dann gibt es eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, die sich über die erste legt und die die Vorstellung hervorbringt, dass es einen wie auch immer minimalen zeitlichen Horizont des Handelns gibt oder nicht mehr gibt. Dieser Horizont des Handelns wird von der Imagination bestimmt, aus der heraus Hoffnung, Verzweiflung, Illusionen auch da noch zu Agenten des Handelns werden, wo es keine Spielräume des Handelns mehr gibt. Hinzu kommt das ganze Feld sich überkreuzender Handlungsperspektiven, die von Erwartungen und Interaktionen verschiedener Gruppen und Akteure sowie von deren vermeintlichen Intentionen ausgehen – und es ist dieses Feld, auf dem sich der ›Realist‹ Murmelstein zu bewegen versucht. So adaptiert er den materiell ergiebigen Teil des Nazi-Plans der gestellten Dokumentarfilmproduktion über Theresienstadt, wo die »Stadtverschönerung« tatsächliche Arbeiten an Objekten vornehmen musste, die den Überlebensinteressen der Lagerinsassen entgegenkommen. Damit hebt Murmelstein auf eine Wirklichkeit dritten Grades ab, die sich wie ein Reißverschluss in die Manöver der Nazis einzuhaken versucht. Eine dritte Wirklichkeit, die auf dem schmalen Grat balanciert, auf dem die Verblendung des realen Gettos tatsächlich materielle Operationen der ›Verschönerung‹ erzwingt, die im Überlebensinteresse der Lagerinsassen stehen. Das Stück Brot, das einem verhungernden Kind als Requisite in die Hand gegeben wird, wird von ihm gegessen, noch bevor die Kamera aufnimmt. Die materialen Requisiten und Kulissen, die für die Nazis Wirklichkeit zweiter Ordnung sind, die nur temporär den Eindruck von Wirklichkeit erzeugen sollen, aber nicht wirklich im praktischen Sinne gemeint sind, sondern einer Täuschungsabsicht entspringen, werden zu einer dritten Wirklichkeit, in der die Zeit der Täuschungsherstellung eine Verlängerung des Überlebens bedeutet. Diese materiale Änderung von Bedingungen vor Ort wird von einem Gegenwillen zu einem Zeitfenster geöffnet: Das materielle Leben hängt nun von der Zeit ab, die es braucht, um eine narrative Fiktion aufzubauen. Murmelstein beschreibt den ständigen Versuch, Zeit als Zeit des Aufschiebens zu deuten, in der das doppelte Spiel aufführbar bleibt: Das inszenierte Zwischen Fakt und Fiktion | 151

Spiel für den Film wird zu einem Spiel um das Leben der Spieler. Insofern finden zwei Spiele auf derselben Bühne statt. Murmelstein war bei Weitem nicht der Einzige, der sich in Phantasien vom Überleben verstrickte, um in der Fiktion Aufschub vom Sterben zu erreichen. Das Spiel und das Geschichtenerzählen stehen im Zentrum von imaginären und realen Situationen des Überlebens, z. B. in Jurek Beckers Roman Jakob, der Lügner und seinen filmischen Adaptionen, aber auch neuere und ältere Filme über die Shoah bewegen sich auf dieser Gratlinie, von La vita è bella (I 1998) bis zu den älteren Hollywood-Komödien wie Ernst Lubitschs To Be or Not to Be (USA 1942) oder Charlie Chaplins The Great Dictator (USA 1945). Das berühmteste Modell des Doppelspiels, das sich als verändernder Eingriff in die Wirklichkeit versteht, ist selbstredend Shakespeares Hamlet, wo sich die Wirklichkeit im Akt der Aufführung für die Charaktere maßgeblich ändert. Dieser performative, pragmatische Aspekt des Spielens ist sowohl für Murmelstein wie für Lanzmann zentral. In Shoah wird die Wiederaufführung, das Reenactment von Gesten und Haltungen, die mit bestimmten Rollen zusammenhängen, die im Lager erzwungen wurden, zum Mittel der Fokussierung des Gedächtnisses, zu dessen sensomotorischer Aktivierung. Erinnert sei hier nur an die Sequenz in einem Frisiersalon in Israel, der zur Bühne der Wiederaufführung jener Szene wird, wenn den mit den neuen Transporten Angekommenen die Haare geschoren wurden. Murmelstein vergleicht sich selbst mit Sancho Pansa, der sich als Realitätsprinzip den Fiktionalisierungen und Selbsttäuschungen seines Herrn Don Quijote gleichzeitig adaptieren und diese unterlaufen muss, er bleibt, so Murmelstein, »am Fußboden der Tatsachen«.

3. Gesehen werden heißt lebendig sein Murmelstein beschreibt sich selbst als einen Regisseur, der die materiellen Güter in die Hand bekommt, aus denen die Requisiten gemacht werden sollen, die dazu dienen, durch ein falsches Bild über die Wirklichkeit zu täuschen, der aber stattdessen die Fiktion wieder auf eine reale Materialität zurückholt, eine, die fühl- und sichtbar ist. Gesehen werden, sichtbar werden, war Ziel und Mittel 152 | Gertrud Koch

Abb. 3:  Das ›gespielte‹ Fußballspiel in Theresienstadt. Aus dem Propagandafilm: Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944)

des Überlebens, zumindest hat Murmelstein sich das so vorgestellt. Wie in der antiken griechischen Philosophie war Sichtbarkeit die Bestätigung sozialer Existenz, die Todesstrafe bestand darin, die Verdammten den Blicken der anderen so lange zu entziehen, bis sie starben. Tod war ein sozialer Tod, dem der physische folgte. Die tiefsitzende Überzeugung, dass, solange es gelänge, die Gefangenen von Theresienstadt sichtbar werden zu lassen, und sei es nur im Auge einer Propagandakamera, diese dem Tode entkämen, nimmt selbst Interesse am Fortdauern des Täuschungsspiels. Diese Logik, filmische Sichtbarkeit auf materielle Ursachen zu gründen, die noch der Fälschung eine physische Dimension beigeben, war für Murmelstein der Hebel, die Propagandastrategien der Nazis zu untergraben. Es ist verblüffend, wie systematisch Murmelstein seine eigenen Handlungsentscheidungen immer wieder im Rückgriff auf antike griechische und römische Mythologien und Ideen begründet. Die Mischung aus Realismus und Fiktion bildet dabei ein Geflecht, aus dem eine Sicht auf Theresienstadt entsteht, die mit dem Wunsch vollgesogen erscheint, die eigenen HandlunZwischen Fakt und Fiktion | 153

gen logisch begründen zu können, sie also als rationale Entscheidungen zur Debatte zu stellen. Es mag zynisch klingen, aber der Eindruck drängt sich auf, dass der intensive Wunsch nach einer Welt, die logisch und praktisch funktioniert, in Murmelstein die Fiktion hervorgebracht hat, dass selbst im Getto zumindest eine instrumentelle Rationalität am Wirken sei, die sich unter der dicken Schicht sadistischer Lügenspiele und grausamer Täuschungen berechnen ließe. In der Obsession, die fiktionale Welt des Als-Ob zu unterlaufen, indem er sich am »Fußboden der Tatsachen« orientierte, sah sich Murmelstein als ein Regisseur des Wirklichen in einer Stadt des Als-Ob. In Lanzmanns Film entfaltet die manische Selbstverteidigung Murmelsteins, der mit allen Mitteln auf der Rationalität seines Handels beharrt, der auf keinen Fall als jemand erscheinen möchte, der ›unverantwortlich‹ gehandelt hätte, der selbst nur ein gezwungener ›Mit-Spieler‹ gewesen sei, allerdings eine zweite Ebene. Auf dieser wird die Fiktion spürbar, die der Obsession des Faktischen zugrunde liegt – und darin wird Murmelstein in seinem Verhalten verstehbar: Es ist eine weitere Facette jener Verwischungen von Wirklichkeit und allen möglichen Fiktionen, die H. G. Adler in seiner aus Theresienstadt heraus geschriebenen Analyse der Situation so eindrücklich beschrieben hat: Für den Gefangenen in Theresienstadt bestand die Wirklichkeit des Nationalsozialismus de facto. Sie war unheimlich und widersprach allen Wirklichkeitsbildern, die dem Menschen geheuer sind. Im wahren Wortsinn war die Wirklichkeit ver-rückt. Nichts deckte sich in ihr mit dem, was gemeinhin die Wirklichkeit gewesen war und was sie nach ursprünglichen Wünschen sein sollte. Sie wurde unwahrscheinlich, gespenstisch. Sie wurde, obwohl wirklich, nicht wirklich und auch als nicht wirklich empfunden. So erfuhr man sie als Trug, Schein, Traum, Ausgeburt kranker Phantasie. In den bestimmten Grenzen […] hatte man nicht unrecht.7

Sicher, wenn wir einen Moment aus diesem Spiel zwischen Leben und Tod heraustreten, um die historische Faktizität von Theresienstadt zu betrachten, wenn wir den Kosmos Theresienstadt von außen betrachten, dann wird schnell sichtbar, dass dieses Spiel, wie geschickt auch immer es gespielt wurde, nicht zu gewinnen war, denn es hatte keine rational berechenbaren Regeln oder gar Nor154 | Gertrud Koch

men, an denen Handeln hätte ausgerichtet werden können, die Tatsachen selbst waren bodenlos geworden. Die einzige Logik war die einer Etappe zur ›Endlösung‹. Aus dem Sancho Pansa wird ein Don Quijote der utilitaristischen Rationalität, der gegen Windmühlen kämpft. Am Ende der filmischen Wiederbegegnung mit Murmelstein steht die Umarmung, sie wird als Geste lesbar, vielleicht nicht so sehr, um Murmelstein gegen seine Angreifer zu verteidigen, als vielmehr als ein Hinweis darauf, dass Murmelstein vielleicht doch nicht so viel anders war als die meisten Gefangenen in Theresienstadt: ein Gefangener einer konstruierten Wirklichkeit, die er für faktisch hielt, und die doch nur eine Facette jener Täuschungen war, die den Kosmos Theresienstadt ausmachten: Und wollte man sie als Wirklichkeit nehmen, so sah man doch wieder, daß es Täuschung war. Schließlich drehte sich alles und führte spukhafte Wirbel auf. Am Ende war es Schicksal oder, religiös ausgedrückt, Gnade, ob einer in diesem Tanze gestrauchelt ist und Asche wurde, oder ob man eines Tages mehr beklommen als befreit sich sagen durfte: ich habe es überlebt, ich lebe. 8

Die Verschränkung von Sichtbarmachung, gestischem Handeln und einem Begriff von Wirklichkeit, der unterschiedliche Abstufungen materieller und imaginierter räumlicher und zeitlicher Horizonte zusammen denken kann, bildet die Textur von Lanzmanns Filmen. Sprechen und Zeigen sind die Modi, in denen filmisches Bild und Ton in einem ständigen Verweisen aufeinander bezogen werden. Reale Orte und Erzählungen über zeitlich Abwesendes entfalten ein szenisches »Theater der Erinnerung«. Lanzmann selbst hat darin eine Doppelrolle: Er ist Zuschauer und Regisseur in einem. Als Zeuge besucht er die Orte, als Regisseur inszeniert er die Szenen in deren Kulissen, und die säuberlich renovierten Straßenzüge, die in langsamen Kamerafahrten gezeigt werden, bekommen jene gespenstische Irrealität, die sich aus dem älteren Programm der »Stadtverschönerung« eingeschrieben hat. Murmelsteins Prophezeiung, dass die Vernichtung der europäischen Juden eine enorme Leere hinterlassen werde, die in der ganzen Welt gefühlt und die Erinnerung der Welt heimsuchen werde, wird in Lanzmanns Film performativ erfüllt: In zahllosen Gängen durch leere Synagogen, Ruinen und verwaiste LandstriZwischen Fakt und Fiktion | 155

che werden die Abwesenden als Leerstelle anwesend. Und von dort aus bekommt das filmische Programm der Sichtbarmachung seine eigent­liche ästhetische Wucht. Diese verweist noch einmal auf die imaginative Seite im ›Conatus‹, die ihn nicht nur als bürgerlichen Mythos der Rationalität als Zweckrationalität ausweist, sondern sich auf das Lebenskonzept selbst zurückbiegt, das immer wieder über seine immanenten vitalistischen Kurzschlüsse stolpert. Adorno verkehrt den ›Conatus‹ dialektisch − nur, wo er nicht mehr zweckrational ausgelegt wird, ermöglicht er ›Leben‹ anstelle bloßen ›Über‹lebens. In Theresienstadt war kein Leben möglich, weil es nur ein ›Über‹-leben gab.

156 | Gertrud Koch

Kathrin Röggla

Bauernkriege Bei einer Veranstaltung im Rahmen der Schillertage des Nationaltheater Mannheim zu Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« im Juni 2019 sah der Dramatiker Wolfram Lotz dem Sinn nach gewissermaßen polemisch ein Kontinuum zwischen den vermeintlich gelungenen politischen Narrativen eines Donald Trump und dem der Schriftsteller: Der schreibende Mensch möge dem politischen Narrativ ein nur möglichst nahe an der Wahrheit befindliches Narrativ gegenüberstellen. Ich protestierte und entgegnete, das hoffte ich nicht, dass er das vorhat. Seither ist viel Zeit vergangen, der Begriff des Narrativs ist immer noch nicht »durch«, hat sich aus einem modischen Theorem in ein handfestes Werkzeug verwandelt und wird oftmals mit dem der literarischen Erzählung gleichgesetzt. Es handelt sich bei ihm um eine Art Metabegriff, der alles fassen kann: Ob im Literarischen, im Politischen oder in den PR-Abteilungen von Konzernen. In beiden letzteren kennzeichnet er die Abkehr von dem Bedürfnis, reale Probleme jenseits ihrer Fiktionalisierung zu fassen, was früher einmal Ideologie hieß, hat so sein neues vermeintlich harmloses ästhetizistisches Gewand erhalten. Ein Narrativ ist aber keine literarische Erzählung, es ist auch keine anderweitige ästhetisch organisierte Fiktion. Die Welt der poli­tischen Narrative ist kategorial etwas anderes, ja, sie stellen sogar das Gegenprogramm zu dem dar, was schriftstellerische Arbeit in ihrem Kern ausmacht. So ist ein Narrativ stets intentional, gemeinschaftsstiftend wie ausschließend gleichermaßen. Es zielt auf das Erstellen einer gewissen Homogenität und Eindeutigkeit. Eine literarische Erzählung ist öffnend, widersprüchlich, in Frage stellend. Es geht ihr eher um Ambivalenzen denn um Eindeutigkeiten. Sie möchte ihren Stoff nicht beherrschen, zumindest nicht auf diese Art wie das Narrativ, das ja lenkende Funktion hat. Und dann ist es natürlich schön abgehoben. Manchmal spricht man von Narrativen gerade dann, wenn man vermeiden möchte, über sogenannt reale Fragen zu sprechen, also Verteilungsfragen, Machtfragen, Fragen der Körperlichkeit. Sieht der 157

alte Idealismus zum Fenster rein? Das wäre beinahe schon zu hoch gegriffen. So versuchte ich an jenem Abend zu erwidern, ich weiß nicht, ob mir es deutlich genug gelang. »Fake News« ist eine der verbranntesten Wortschöpfungen, die derzeit erstaunlicherweise immer noch kursieren, heute verwendet von Diktatoren und Rechtspopulisten. Der Begriff zeigt, wie Sprache von ständiger politischer Neubesetzung betroffen sein kann. Einmal ein kritischer Begriff, ist er jetzt das Werkzeug der politischen Instru­ mentalisierung. So geht es vielen Begriffen heute, und beteiligt an diesem Prozess ist die bewusste Quantifizierung. Indem Populisten eine ihnen gegenüber kritische Begrifflichkeit möglichst oft genug reflektorisch äußern, kehren sie ihre Bedeutung ins Gegenteil. An das, was anfangs irrational wirkt, gewöhnen wir uns zu schnell. * Im Gericht finden wir eine Konstruktion der Wahrheit. Es ist unser gesellschaftliches Verfahren einer möglichst genauen Annäherung an die Wahrheit, eine Wahrheitsfindung, die dann durch das richterliche Wort im Urteil gilt. Die Wahrheit läuft im Gericht letztendlich auf eine richterliche Entscheidung hinaus. Und dann gibt es da den Gedanken der Revision, der seine Begrenzung im Abschluss des Instanzenwegs findet. Ich arbeite derzeit an einem größeren Projekt, das den Arbeitstitel »Revision« trägt und unter anderem sich mit dem NSU-Prozess beschäftigt, jenem »Jahrhundertprozess«, der nach quälenden fünf Jahren weniger die Wahrheit über die Morde und Verbrechen des NSU in über 13 Jahren gezeigt hat als die vielen Lücken und Leerstellen, die zu einem großen Teil aus der Arbeit der unterschiedlichen staatlichen Behörden resultierten. Eine Textstelle darin nimmt Bezug auf Werner Tübkes »Bauernkriegspanorama«, das man in der bei Neonazis so beliebten Kyffhäuserregion in Bad Frankenhausen besichtigen kann. Es bräuchte ein neues »Bauernkriegspanorama«, sagen jetzt alle, ein Bauernkriegspanorama, für das es allerdings keinen öffentlichen Auftrag mehr geben wird, allenfalls einen inoffiziellen oder einen Firmenauftrag für ein Ornament eines Unternehmens, das den gesellschaftlichen Frieden als Teil seines brandings sieht. Auf die158 | Kathrin Röggla

sem neuen Bauernkriegspanorama wird eine ganze Weile lang nur dieses eine Grüppchen zu sehen sein, das marodierend herumläuft und sich nachts gerne in Träumen zeigt. Sind es Reichsbürger, sind es Wutbürger, sind es diese Menschen, von Ausweichbewegungen umgeben, die man noch nicht recht zuordnen kann? Vermutlich sind es auch mehr die Ausweichbewegungen, die man wahrnehmen wird können, als dieses Grüppchen selbst, Wisch&Wegbewegungen, die immer hilfloser erscheinen. »Das sind nicht die Nachfahren Thomas Müntzers!«, müsste man allerdings auf alle Banderolen des Bildes schreiben, auf jede Bildunterschrift, die sich einem bieten könnte, doch ich bin nicht die einzige Konstrukteurin dieses Panoramas, und Bildunterschriften gibt es hier auch nicht, jene kleinen Zwischentitel, gleichermaßen verwandt den emblematischen Formen der Renaissance- oder gar Barockmalerei wie dem storytelling von Instagram. Solcherlei Bildunterschriften drückten heute sowieso nur immer aus: Das sind die anderen, niemals wir – uns gibt es ja nur noch in Einzelportraits. Aber hier zeigte sich ein marodierendes Grüppchen oder ist es gar nur wüste Landschaft, durch die man ziehen könnte, mal dahin, mal dorthin, Strandlandschaft, Unterwasserböden, nein, Meeresboden, z. B. 5000 m Kalypsotief, Gletscherreste auf Mount EU, Gewerbegebiete um Bad Hersfeld herum, große Lagerhallen, Amazon, Post, Libri. Stationen, zwischen denen etwas in der Art von Flixbussen unterwegs ist, die bekanntlich immer öfter Unfälle bauen, weil ihre Fahrer übermüdet sind, dem Sekundenschlaf ausgeliefert, der einsetzt, wenn die Zeit kommt, und sie kommt immer. Ja, der Sekundenschlaf müsste zu sehen sein auf dem Bild, das wäre das mindeste. Es zeigen sich Betonflachbauten und daneben der Neuköllner Arbeitsstrich, von Menschen plötzlich bevölkerte Bushaltestellen im städtischen Niemandsland. Es gibt nicht genügend waste land für die Erfordernisse unserer Zeit, heißt es, und so verdichtet sich auch das, schiebt sich ineinander, in Fußballfeldgröße wird da nicht mehr gemessen. Die Fußballfeldgröße überlässt man den deutschen Wäldern, der sogenannten freien Fläche als Maß ihres Verschwindens inmitten der allgemeinen Betonversiegelung. Jetzt schon vom Verschwinden zu sprechen wäre allerdings voreilig, vorauseilender Gehorsam quasi – immerhin die Gewohnheitshaltung schlechthin heutzutage –, denn vieles ist noch nicht Bauernkriege | 159

aufgetaucht in den meisten Bildausschnitten, wie man sagt, die nie ein Ganzes ergeben werden, wenn wir so weitermachen. Es wäre voreilig, allerdings wird sich manches gleich von Anfang an daraus zurückziehen, und das Bild, das am Ende einfährt in unserer permanenten 360-Grad-Bewegung wird jedenfalls ziemlich leer aussehen. Vielleicht bleiben nur Gesichter aus den Regionalzügen übrig, dem Cantus von Eisenach nach Bebra, von Rotenburg an der Fulda nach etwas wie Göttingen. Oder noch besser in Regionalzügen der Deutschen Bahn, in denen Bahnangestellte bei bestimmten Leuten nach Ausweisen fragen und von der Polizei zu sprechen beginnen, bevor noch irgendein Sachverhalt geklärt ist. Klar ist, nicht mehr wollen wir Einwohner eines Panoramas sein, nur zu gewissen Fußballspielen ändern wir schlagartig unsere Meinung, dann wollen wir aber ganz vorne stehen, in der ersten Bildreihe, bis zum Abpfiff jedenfalls, danach aber sofort wieder weg, ab in die Selfiestrecke. Das muss schon Jahre so gehen, dieses Hin und Her, es hat Spuren auf dem unteren, also vorderen Teil des Bildes hinterlassen. Was sich hier in Schlieren und verrutschten Gesten zeigt, wird andernorts als schleichende Bewegung beschrieben, raus aus den gemeinsamen Emotionen in Kinosälen, Theatersälen, vor Podien, in Schulklassen, Quartiershallen, auf Personalversammlungen, Betriebsöffentlichkeiten, Parteiveranstaltungen, die ich jetzt Nacht für Nacht wie für eine exotische Schmetterlingssammlung aus meinen Träumen zusammensuchen müsste. Zusammenfangen in der Luft nächtlicher Gewitter und merkwürdiger Stimmungen. Jene Exemplare, die mir eben nicht so einfach auf die Schulter flattern, sondern wenn, dann gleich mitten ins Gesicht fahren, sich aus der Halbdunkelheit auf mich stürzen und überhaupt nichts Buntes mehr an sich haben. Mit hilflosen Abwehrbewegungen versuche ich sie zu verscheuchen, bevor ich mich ihnen mehr pro forma zuwende – seht her, ich bin doch interessiert an so etwas wie einem gesellschaftlichen Zusammenhang! Es ist dieser wiederkehrende Alptraum, der mir sagt, dass ich langsam keinen Ort mehr habe in meiner gewohnten Welt, dass auch ich rausrutsche aus den gemeinsamen Kiezversammlungen gegen Gentrifizierung, aus den Initiativen der Schule gegen Rassismus und den Straßenkonzerten des Karnevals der Kulturen, den Prinzessinnengärten und dem Weltacker, von dem mir eine »Oma gegen rechts« erzählte, flüsternd neben der 160 | Kathrin Röggla

Bühne einer proeuropäischen Demonstration, wo Erstunterzeichner den großen Max machen. Teile des Panoramas fliegen mir also bereits um die Ohren, darauf zu sehen sind Einzelpersonen, die mir mit Rechthabermienen entgegentreten. Gesichter von den Menschen aus Siegen, aus Neuwied, aus Cottbus, aus Erfurt. Vom Land fürs Land, bloß nicht Berlin. Nichts wissen wir Städter vom Land. Die Frauenkirche in Dresden, die Büroetage in Mainz, wo es bekanntlich kaum Büroetagen gibt, wissen schon nichts vom Land. Der Fahrstuhlschacht aus Köln weiß nichts davon, eher schon die Chemnitzer Vorbahnhofsteile, jenes Vorzeigeprojekt zur Gestaltung des öffentlichen Raums nach der Abkoppelung vom Intercity-Zugverkehr. Dort, wo die ehemalige Mobilität einer Stadt noch ein wenig um den Bahnhofsvorplatz schlingert, einen Businesshafen simulierend. Ihr Refrain lautet: Parkhäuser sind redlich. Ja, plötzlich diese Unterbrechungen: Schon gibt es die bereits aus dem Bild getriebenen Einzelpersonen, schon gibt es die neuen Unsichtbarkeiten, die sich als Flecken quer über die Fläche verteilen. Stimmt es etwa, dass Leerstellen und Lücken sich mittlerweile als organisierende Bildmitte herausstellen? »Das Panorama ist in Bewegung«, wird prompt entschuldigend gesagt, »Änderungen sind jederzeit möglich, machen Sie mit!« – »Wer gegen wen?«, möchte man nachhaken, aber das ist freilich noch nicht klar, wird vielleicht nie festgestellt werden. Es sind von Anfang an verlorene Schlachten, will man uns weißmachen, in denen wir uns eingerichtet haben. Die tatsächlichen Toten geraten jedenfalls nie wirklich ins Bild, Opfer von Brandanschlägen, Schlägereien, wüsten Attacken, Bomben­attentaten und gezielter Ermordung oder durch Nachlässigkeit, Schlamperei und Vergesslichkeit. Legendenbildung wird sie ersetzen. Teile davon sind die Plakate, die man in irgendeiner Nähe der Kölner Keupstraße gefunden hat, auf denen angebliche Anwälte 5000  Euro Belohnung für ein Nebenklagemandat bieten, oder die stets erwähnte Tatsache, dass dieser Hellseher schlagartig auftauchte, quasi aus dem Nichts wie die Weiße Frau im Wald, allerdings von der Hamburger Polizei beauftragt, um die ČeskáMordserie aufzuklären. Er wird in seiner Kontaktaufnahme mit den Toten auf die gleichen rassistischen Stereotypen kommen wie die Beamten. Im Land der Hellseher gibt es eben auch nichts Neues. Bauernkriege | 161

Die übrige Heiligendarstellung wird sich immerhin in Grenzen halten, und das war schon beim Original das Problem. Helden haben sich bisher nur wenige gezeigt und wenn, dann von ihrer falschen Seite, nämlich der aufgebrauchten. Es sind verlorene Schlachten, die sich um uns zusammenziehen, will man uns weißmachen, am Ende bleibt die ganze Arbeit in jedem Fall bei den Toten hängen, die wiederkehren müssen, so gut sie können, aber vielleicht können sie auch nicht mehr. Es bräuchte wahrlich ein neues Bauernkriegspanorama, und viel fehlt dafür nicht mehr. Jede Nacht zähle ich schon die Teile, die ich gesammelt habe, ob sie noch alle vorhanden sind, und immer kommen mir welche abhanden, es ist ein Abzählreim, der nie ein Ende findet, denn die Zahlenreihe geht nie auf. Immer werden es mehr Teile sein, als Platz ist, immer wird etwas überstehen, immer kommt etwas hinzu, das eben noch nicht da war, oder aber etwas verschwindet wieder, von dem ich eben ausging, es würde bleiben. Vielleicht verzähle ich mich einfach, ich verzähle mich ja stets, wenn es um Menschen geht. Menschen in Gruppen, das habe ich noch nie können, immer hört meine korrekte Zählung bei 18 auf und wird unübersichtlich. Ich wäre eine schlechte Lehrerin. Tagsüber bin ich ja meist eher dabei, nachzusprechen. D. h. ich versuche es, denn selbst die besten Dolmetscher geraten manchmal auf Abwege und landen dort, wo sie nun wirklich nicht hinwollten. Das hier ist aber nicht die Geschichte einer Dolmetscherin, die an entscheidender Stelle die Dinge falsch übersetzt hat und so alles zum Guten wendet. Hier auf diesem Panorama wird leider alles richtig übersetzt, zu richtig, und Menschen mit Rechthabermienen stehen dafür ein. Da wie dort, auf 360 Grad ist erstaunlich viel Platz für sie. Sie wähnen sich ihrer Zeit immer voraus und warten, dass ich als Betrachterin langsam ankomme an dem Punkt, den sie bereits besetzt halten. Sie erwarten mich, wohin ich auch blicke, und bringen Unruhe in die Chronologie der Ereignisse, die ohnehin schwer zu erkennen ist. Zwar sind auch Jahreszeiten auf diesem Bild verteilt, die die Sichtbarkeit der Zeit regeln, sie geben dramaturgische Schützenhilfe, allerdings geht dieser Schuss nach hinten los – der Ablauf eines Jahres korrespondiert nicht mit den Millisekunden der Börse, den passgenauen Entscheidungen unserer technischen Geräte, von denen es heißt, sie seien tools. 162 | Kathrin Röggla

Zudem finden wir jede Menge Winter, wo man ihn niemals vermutet hätte, ein Übermaß an Winter, der sich mal als Sommer aufspielt, wo es ihm nicht zukommt, mal als Herbst, nie können wir ihm trauen. Jede Menge Jahreszeiten, heißt es, stecken hier drinnen, seien platziert in den einzelnen Szenen, nur nicht die Übergänge, nur nicht das gemäßigte Klima, das man uns versprochen hat vor dreißig Jahren, nach der Wende, das neue blockfreie Zeitalter. Das Ende der Geschichte. Die Geschichte läuft wieder, versucht man es positiv zu formulieren, nur eben rückwärts, Fragen dürfen aber wieder gestellt werden. »Wer möchte?« Das Mikro kreist durch die Menge, keiner nimmt es, es wird immer weitergereicht. Nein? Ich liege damit falsch? Das tue ich mit Sicherheit. In dieser Landschaft liegt man aller­ dings nicht. Man verlässt sie eher strikt, am besten in Richtung einer games convention, mit unausgesprochenen Wahrheiten im Gepäck, die beständig Blasen werfen, Echokammern wie Bienenwaben bauen, um hier am Bildrand unüberwindliche Gebirge zu simulieren. Insofern ein Minuspunkt für mich. In dieser Welt, die sich plötzlich rückwärts dreht, müsste man doch tatsächlich einem neuen Ernst Bloch über den Weg laufen, d. h. der müsste einem endlich vor die Füße laufen, aber niemand sieht ihm auch nur im Geringsten ähnlich. Auch niemand in diesem Provinzkongresscenter mit seiner 100-Grad-Fernsehöffentlichkeit dritten Ranges, auf das sich nun unser aller Augen richten müssen. Man wird es als das geheime Zentrum des Panoramas bezeichnen, der entscheidende Ort, der das Ende aller Schlachten bestimmen wird mit seiner Scheinwerferunwirklichkeit und dem platzierten Blumenstrauß halbmittig. Hier, ist anzunehmen, treten die Provinzheroen auf, die kleidsamen und unkleidsamen Kommunalpolitiker, die gemachten Menschen und die ungemachten. Der Ort, an dem Parteizugehörigkeiten steinhart wirken, aber deren Ideologien fadenscheinig, unwirklich, verfahren, unvorhersehbar, oder verhält es sich gerade umgekehrt? Man weiß nicht, was es bedeutet, Christdemokrat zu sein oder Sozialdemokrat, nicht einmal das freiheitliche Gespenst hat hier freie Durchfahrt, selbst ein ­AFDler ist nicht so ideologisch verschossen im Auftritt wie sonst. Es ist alles der Lage geschuldet, Baufragen, Betriebsfragen – hier am Land bleiben Allianzen zurück wie chemische Rückstände Bauernkriege | 163

nach der Fabriks­demontage. »Niemandem musste ich am Ende die Hand geben, dem ich die Hand nicht reichen wollte«, sagen sich die aus der Gegend stets abwandernden Fremden. Man hatte sich gefürchtet vor dem falschen Händedruck, den man diesen Orten hier zuschreibt, aber da will man ohnehin ganz allgemein nichts von Durchreisenden wissen, schon gar, wenn sie Städter sind und privilegiert. Fernsehstudioartige Aufbauten durchziehen den restlichen, jetzt noch verbleibenden Bildraum, das ist unstrittig. Fehlende Gesprächs­partner sind ihr entschiedenster Ausdruck, ja, ihre Art, realistisch zu sein. Schließlich heißt es, uns fehlten ganz allgemein die Gesprächspartner, die Einrichtung von Ministerien für Einsamkeit wird deswegen auch die letzte paneuropäische Initiative werden. Inzwischen hat man links von den fehlenden Gesprächspartnern bereits die Stelle angewiesen, an der sämtliche bilateralen Gespräche abgebrochen wurden, weil man nicht mehr weiß, wie man da noch einen Punkt weiterkommen soll, die Situation habe sich festgefahren und das Beichtstuhlverfahren der Europäischen Union wirft hier nichts mehr ab, aber das ist stets nur die halbe Wahrheit. Rechts von ihnen die überflüssigen Gesprächspartner, die irgendwie übriggeblieben sind, kein Wunder also, dass man diesen Bildmoment die »Passhöhe« nennt, bzw. den Abschluss des 360-Grad-Spektrums, denn zu einem Ende muss die Geschichte ja kommen. Im Grunde aber ist jedem, der mit uns gegangen ist, bereits deutlich geworden, dass das Panorama nie fertigzustellen sein wird, jede Runde wirft Neues auf. Die Menschen, die wir erst beim zweiten Rundgang darauf entdecken, sind schließlich die, die immer noch in ihren Carports festhängen, sind die, die vielleicht wirklich hinter Treckern sitzen und das Ganze nochmal durchüberlegen, obwohl der quasi alleinlaufende Stall mit 400 Kühen danebensteht und nichts mit ihnen zu tun hat. Sind das die Täter, die zur Tat schreiten wollen? Es sind Männer, die sich zurückmelden, Landeier, die sich zurückmelden in eine neue Sichtbarkeit, die die alte auszuhebeln versucht, Landjunker, Provinznasen, Alte, die sich plötzlich herausheben wollen mit ihren Geschichten, also alte Männer. Alte melden sich zurück, die Junge für sich arbeiten lassen werden, denn neue Schläger braucht das Land. Es ist ein Bild der Rückmel164 | Kathrin Röggla

dungen, kein Bild, das vorwärts will und sich deswegen andauernd ändert. Kommt man ein zweites Mal an einer Stelle vorbei, wird man entdecken, dass das Erreichte schon wieder zerstört ist, die kleinen Siege sich in Niederlagen verwandelt haben, und von Errungenschaften kann nicht die Rede sein, die Erde ist wieder eine Scheibe. Hier wird Geschichte stets neu erfunden, doch nur, wenn man genau hinsieht, wird man die am Rand befindlichen einzelnen Gruppierungen aus den Ständen sehen, nicht selten Doubles der Rückmelder, also Kopien in anderem Kostüm, die gleichen Visagen, aber sie sind so klitzeklein, mit freiem Auge kaum zu erkennen. Im Grunde immer schon uneingeschränkt verloren gegangen in den Weiten der technischen waste lands. Mehr mit sich beschäftigt als mit allen anderen. Der Klerus kümmert sich nur noch um sich, die Reichen der Welt nur noch um sich, auch die Entscheider sind angeblich nur noch mit sich beschäftigt, abgekoppelt. Das andere wird alles technisch erledigt, heißt es, und so fragt sich, wie es um die Verpixelung steht. Die Metadaten des Bildes werden nicht zu erheben sein, soviel wird jetzt schon verraten. Das immerhin. Das ist vielleicht auch seine ganze Leistung. Es wird nichts abzuleiten sein für die neuen Militärgerichte unserer Zeit. Kein Espionage Act kann mehr auf sie zugreifen, auch Urheberrechtsprobleme bleiben unbemerkt. Alles in allem kann man sagen, Hieronymus Bosch hat mit unserem neuen Panorama nichts mehr zu tun, auch Werner Tübke hat keine Karten mehr drin, keine Moral konkurriert hier mit zerstückelten Körpern um Aufmerksamkeit, überhaupt keine Körper sind am Ende zu sehen, auch keine Halbwesen aus der Unterwelt. Sie werden zurückgehalten, vielleicht für ein letztes Gericht, einen Untersuchungsausschuss oder auch ein Skandalmedium, genau weiß man es nicht. Die Körper fallen aus dem Bild heraus. Ihre Leiden haben sich chronifiziert in einem Klimaalarm, der Staublungen, Stopptasten, Asthma und allgemeine Vergiftungserscheinungen mit sich bringt. Kein Wasser mehr übrig für irgendwelche Mühlen, die zu mahlen haben. Zu erwarten ist Blut, das sich nicht zeigt, und Handlungen, die ihre Helden rückwärts ausspucken, just in den Augenblicken, in denen wir gerade nicht hinschauen, dann, wenn wir abgelenkt genug sind. Aber sie kommen, direkt auf uns zu und fackeln nicht lange. Die Überraschungen, die das Bild für Bauernkriege | 165

uns bereithält, liegen auf unserer Seite. Nichts mehr von uns wird übrigbleiben. © Kathrin Röggla 2019. Eine spätere und längere Version des Textes ist unter dem Titel Bauernkriegspanorama 2020 im Verbrecher Verlag erschienen.

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Chiara Cappelletto

Wer spricht?

Wie öffentliches Sprechen zur Privatsache wird1 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Ludwig Wittgenstein, Tractatus, 5.6 La question du savoir à l’âge de l’informatique est plus que jamais la question du gouvernement. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne If you think education is expensive, try ignorance. Abraham Lincoln

Aktuell beobachten wir weltweit einen rasanten Anstieg von allgemein relevanten Debatten, in denen die Urheberschaft von Äuße­ run­gen aber zugleich immer unklarer wird. Für diese Themen, die alle angehen, steht keiner mehr in der ersten Person ein. Somit verschärft sich die Spaltung zwischen öffentlichem Sprechakt und der Realität, die wir teilen. Die Wurzeln dieses Prozesses reichen weit zurück. Am 19. November 1914, einige Monate nach dem Beginn dessen, was später der Erste Weltkrieg genannt werden wird, zur gleichen Zeit, als Thomas Mann und Gerhard Hauptmann sich mit Nachdruck für das kriegerische Unternehmen begeisterten und Hugo von Hofmannsthal ebenso zum patriotischen Enthusiasmus beitrug – während er sich zugleich den Kampfhandlungen entzog –, las Karl Kraus im Wiener Konzerthaus einen langen und widersprüchlichen Text vor. Dieser ist uns dank der anschließenden Veröffentlichung in der Zeitschrift Die Fackel überliefert worden: In dieser großen Zeit, […] in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. […] Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück.2 167

Kraus nahm Abstand vom verfälschenden Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen, mit dem diese die Welt schön verpackten, ohne sie jedoch adäquat darzustellen. Seine Kritik am Krieg ist vor allem eine Kritik am Verlust der Fähigkeit der Rede, die Realität zu bezeugen, die sie vielmehr produziert. Das geräuschvolle Zerbrechen des Bündnisses zwischen Worten und Tatsachen, das sich in diesen Jahren ereignete, wurde als so gravierend empfunden, dass Schriftsteller und Philosophen in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Beckett bis Wittgenstein, es immer wieder zum zen­ tralen Thema ihrer Werke machten.3 2011 wurden Kraus’ Worte von Alpar Fendo, einem Bauchredner, im Rahmen von Julien Bismuths Installation The Ventriloquism After­ effect in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen vorgetragen.4 Das Bauchreden basiert auf der Assoziation eines auditiven mit einem visuellen Stimulus aus unterschiedlicher Quelle. Dieses Phänomen erfahren wir regelmäßig, wenn wir fernsehen: Wir schreiben die gehörte Stimme dem/der Redner*in zu, obwohl der Klang seiner/ ihrer Worte und das Bild seiner/ihrer Lippen zu zwei voneinander getrennten Kanälen gehören: einem auditiven und einem visuellen. Das Bauchreden als ›Nebeneffekt‹ ergibt sich aus der Verarbeitung der Sinneseindrücke, die dafür sorgt, dass Klang und Bild von den Zuschauer*innen als vereint wahrgenommen werden, obwohl sie sie nicht durch denselben Kanal erreichen. Dies ist zum Beispiel bei der Synchronisation der Stimmen von Schauspieler*innen der Fall. Der Fall Kraus  /  Fendo ist repräsentativ für die Entwicklung, die im Wahrheitsregime des öffentlichen Diskurses stattgefunden hat: Der Sprachgebrauch manipuliert nicht nur die Tatsachen, sondern ruft sie hervor, statt ihnen zu dienen, denn es ist unmöglich geworden, einem Diskurs eine*n Urheber*in zuzuordnen. Die klar erkennbare Autor­schaft des Gedankens – die laut Kraus die Grundbedingung sei, um überhaupt das Wort ergreifen zu können, sodass er bewusst sich selbst und seine eigenen Argumente unter Zensur stellte – ist fragwürdig geworden, die Beziehung zwischen Dingen und Worten ist instabil. Das Zitieren von Allgemeinplätzen und Redensarten, das der österreichische Polemiker noch als Verfahren genutzt hatte, um den intellektuellen Konformismus seiner Zeitgenossen zu entlarven, ist inzwischen zur bloßen Wiederholung des verfügbaren Vokabulars abgeflacht. Wer spricht zu uns und zu welchem Zweck? 168 | Chiara Cappelletto

Diese unsere Zeit, wenngleich sie noch klein und auf andere Weise ›laut‹ ist als vorherige, zeigt vielen Stimmen zufolge die Züge einer ähnlichen Scheidung zwischen den Fakten und ihren Beschreibungen. Davon profitieren ihnen zufolge die aufgebrachten, sogenannten populistischen Bewegungen, die von der krassen Unwissenheit der Bevölkerung und deren starker Vorliebe fürs Fabulieren leben. Auch ich teile diese Meinung. Es kommt hinzu, dass diejenigen, die sich diesen Bewegungen anschließen, ihre Unwissenheit und die daraus resultierende Schwäche valorisieren. Sie sind mit ihrem Status der Machtlosigkeit eigentlich zufrieden und stellen sich vor anderen als Opfer dar. Insofern sind, wie Daniele Giglioli geschrieben hat, die Protagonist*innen unserer Zeit diejenigen, die sich als »Opfer« inszenieren. Ungeachtet der Tatsache, dass ihnen selbst kein Schaden zugefügt worden ist, »kultivieren sie ihr Ressentiment« und »geben sich ihren Illusionen hin«.5 Die Ihrigen wollen sie dazu bringen, sich mit dem eigenen Mangel an kultureller und politischer Agency abzufinden und diesen mit Emotionen zu kompensieren. Anders als bei Unterdrückten und Ausgebeuteten, mit denen man ein Gespräch einleitet, um gegen die Ursachen der Unterdrückung vorzugehen, hört man bei denjenigen, die sich selbst für geschädigt halten, einfach deren Klage zu. Sie erhebt sich umso lauter, je weniger ihre Gründe einer historischen und die vorgebrachten Behauptungen einer kritischen Prüfung unterzogen wurden. Die Opfer unserer Epoche lassen sich von jenem intensiven, nostalgischen Gefühl übermannen, das Svetlana Boym als ein Symptom unserer Epoche beschreibt. Als Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die nicht mehr existiert und vielleicht sogar nie existiert hat, und nach einer für immer verlorenen Zukunft ist die Nostalgie hauptsächlich eine »Romanze mit der eigenen Fantasie«.6 Eine Generalprobe für die Apokalypse, welche daheim auf dem Sofa durchgespielt wird. Unsere Kritik an der aktuellen Schwächung der politischen Institutionen und ihrer Unfähigkeit, die Macht, die ihnen übertragen wurde, demokratisch auszuüben, sollte tatsächlich mit einer Kritik an den Sprachpraktiken von Frauen und Männern aus Fleisch und Blut beginnen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Bezug auf den historischen Faschismus, der immer öfter hergestellt wird, um die aktuelle Situation zu erklären, irreführend ist. Er ist ein Zeichen der epistemologischen Panik, die die Unzähligen gerechtWer spricht? | 169

fertigterweise erfasst hat, die an eine Gefährdung der Demokratie glauben. Denen, die nichts über die eigene Tradition wissen, wird damit eine Genealogie angeboten. Nicht nur ist die Idee, dass sich die Geschichte immer gleich wiederhole, naiv, es gilt auch zu bedenken, dass sich die demographischen, ökonomischen und finanziellen Bedingungen der zwei Epochen völlig unterscheiden. Neu sind aber vor allem die Medien, welche in der globalisierten Welt Diskurse produzieren und übertragen, und die Art und Weise, wie Text, Körper und Bild daran teilhaben. Neu ist die Art der Öffentlichkeit von Meinungen, auf der die repräsentative Demokratie aufbaut.

›Parafiction‹ und Rhetorik Zahlreiche künstlerische Performances der letzten zwanzig Jahre, für die Carrie Lambert-Beatty den Begriff »parafiction«7 geprägt hat, nehmen die kommerzielle, politische und wirtschaftliche Macht derer aufs Korn, die ihre nationalen und internationalen institutionellen Rollen ausnutzen, um eigene Interessen zu verteidigen. Mit diesen Performances verspotteten die Künstler*innen die Sprechakte, die diese öffentlichen Figuren an eine Masse richten, die aufgrund ihrer Kaufkraft und ihrer kulturellen Vorlieben als homogen gedacht wird, obwohl sie in Wahrheit heterogen ist. Die ›parafiction‹ ficht die Stabilität der Verbindung zwischen der Macht des/der Sprechenden, der Macht der verwendeten Wörter und der Macht des Zuhörens an. Sie stellt das Paradoxon zur Schau, das Jürgen Habermas bereits 1962 beschrieben hatte: »Nicht-öffentliche Meinungen fungieren in großer Zahl, und ›die‹ öffentliche Meinung ist in der Tat eine Fiktion.«8 Die Wirksamkeit eines Sprechaktes ist davon abhängig, ob der/die Sprecher*in ihn öffentlich verantwortet. Diese Verbindung zerbricht jedoch, wenn der Akt simuliert ist. Emblematisch dafür war die 2003 unternommene Reise der englischen Queen nach Nigeria, deren ursprüngliche Idee es war, so viele Nigerianer*innen wie möglich zu treffen. Jedoch beurteilten ihre Berater*innen dies als zu gefährlich, weshalb sie stattdessen in New Karu den Drehort einer Seifenoper der BBC besuchte, an dem ein afrikanischer Markt nachgebaut worden war. Dort verweilte die Queen und unterhielt sich mit den Schauspieler*innen, welche die 170 | Chiara Cappelletto

Marktbesucher*innen spielten, und das, während die eigentlichen Dorfbewohner*innen der Szene auf einer großen Leinwand zuschauen durften, die außerhalb der Sicherheitszone aufgestellt worden war.9 Die Königin sagt nichts Falsches, dennoch sagt sie Dinge, von denen überhaupt nicht klar ist, ob sie dafür die Verantwortung hätte tragen können: Hat sie als die 1953 gekrönte Elizabeth II geredet? Wem haben die Schauspieler*innen geantwortet? An wen wandte sie sich? Welchem Geschehen wohnte welches Publikum bei? Um die institutionalisierte Täuschung ans Licht zu bringen und ihren Jargon zu entkräften, benutzen die sogenannten ›parafictioneers‹ eine Mischform aus Ironie und Sarkasmus. Es handelt sich bei der Ironie um eine klassische rhetorische Figur, bei der der/die Sprechende einen Gedankengang zwar ausspricht, jedoch offenlässt, ob dieser wahr ist und was er/sie davon hält. Der Sarkasmus zielt direkt darauf ab, dem Objekt der Rede die Legitimität zu entziehen. Man erinnere sich an die sogenannten Yes Men, ein Künstlerkollektiv, das sich selbst als »downwardly-mobile middle-classers«10 bezeichnete und dem man die ›Para-Site‹ GWBush.com von 1999 verdankt, mit der es sich gegen Bushs Präsidentschaftskampagne wendete. Mitte des gleichen Jahres waren die Yes Men mit der Domain GATT.org dem Vorschlag gefolgt, eine Art parasitären Angriff auf die kurz danach in Seattle stattfindende WTO-Konferenz zu starten. Zu diesem Zweck wurde eine Art ›Para-Site‹ der Welthandelsorganisation eingerichtet, die durch die Verwendung des Akronyms ›GATT‹ – das bewusst auf das ›General Agreement on Tariffs and Trade‹ anspielte – gezielt Verwechslungen provozierte. Die WTO warf den Yes Men nun vor, dass diese Website tatsächlich für Verwirrung sorgte, sie verschaffte ihnen damit aber auch die notwendige publicity, weil die Presse natürlich ausführlich darüber berichtete. In einer Oktobernacht im Jahre 2003 wurde ein Infocontainer, dessen Design jenes des multinationalen Konzerns Nike nachahmte, auf der nordöstlichen Seite des Wiener Karlsplatzes aufgestellt, der ankündigte, dass der Karlsplatz bald in ›Nikeplatz‹ umbenannt werde. Diese Information wurde dann tags darauf durch PseudoNike-Handelsvertreter*innen und eine zur Aktion gehörige URL bestätigt. Die Installation der italienischen Künstler*innen Eva und Wer spricht? | 171

Franco Mattes hieß Nike Ground11 und bezog sich auf die sogenannten ›Niketowns‹, riesige Filialen des Sportartikelherstellers, in denen den Käufer*innen Laufbänder zur Verfügung gestellt werden, damit sie ihre Laufschuhe testen und während ihrer consumer experience eine körperliche Aktivität ausüben können.12 Die ›parafictioneers‹ setzen nicht nur die Unterordnung der Sprache unter ein unkritisches Denken in Szene, sondern auch die von überlegter und verbürgter Äußerung unter die bloße Kommunikation, in der Äuße­ run­gen ohne Urheber*in einem austauschbaren Sprachrohr zugeschrieben werden. Es handelt sich hierbei um eine Art ›identity correction‹, wie es die Yes Men nennen: Wenn ich eine Botschaft nicht aufhalten kann, dann schreibe ich sie einem/r anderen Sender*in zu, der/die von der Botschaft unterminiert wird, um zu zeigen, auf welche Weise die Botschaft destabilisierend wirkt. ›Parafiction‹ lässt sich nicht adäquat in die Konstellation literarischer Formen einordnen, die ›Biofiktion‹, ›Autofiktion‹ und ›Dokufiktion‹ versammelt.13 Die ›parafiction‹ ist das künstlerische Pendant der philosophischen oder allgemeiner der kulturellen Haltung, die unter dem Namen ›postmodern‹ läuft und für die die Wahrheit eine ideologische Illusion ist, welche die Gewalt abschirmt, die dem institutionellen Wort eigen ist. Unter dieser Maske der Objektivität fühlen sich die Machthabenden berechtigt, so zu handeln, wie sie wollen. Zum einen destabilisieren die ›parafictioneers‹ die offizielle Autorität, die uns überreden will, zum anderen destabilisieren sie das Ansehen der Rednerfigur und stellen so den Status derjenigen infrage, die für sich das Recht beanspruchen, Wissen zu produzieren.14 Sie zitieren in gewisser Weise die Postmoderne, die Interpretationen statt Fakten bevorzugt.15 Doch ist die Postmoderne wohlgemerkt ernsthafter und radikaler als diese relativistische Version von ihr; die Postmoderne vertritt tatsächlich die Überzeugung, dass das naturwissenschaftliche Wissen keine epistemologische Legitimierung brauche, wenn es Wahres sagt, und dass das naturwissenschaftliche Wissen wahr sei, weil es funktionierende Daten produziere. Dieses Bündnis zwischen Wahrheit und Wirksamkeit liegt begründet in der fortschreitenden Umwandlung des Wissens in Information.16 Die Art und Weise, wie diese Umwandlung aufgenommen worden ist, ist eher magisch als wissenschaftlich: Die Daten und die Fakten – welche die anthropologische Version der 172 | Chiara Cappelletto

Daten sind – werden als Subjekte, also als kognitive Agenten, aufgefasst – die Daten ›zeigen‹, die Fakten ›reden‹ –; damit sind wir inzwischen in dieser gerade erwähnten simplistischen Pop-Version der Postmoderne angekommen. Der Klimawandel wird dadurch zu einer Frage der bloßen Meinung, wenn nicht zum Gegenstand einer Verschwörung. Die Schlussfolgerung, dass die Postmoderne dem Wahrheitsbegriff selbst als Grundlage von Entscheidungen im Bereich des gesellschaftlichen Lebens abgeschworen hätte, ist jedoch irreführend. Die Wahrheit hat nie eine solche Führungsrolle innegehabt, die sie manchen zufolge bedauerlicherweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren hätte; wenn es so wäre, dann müsste man annehmen, der Polemiker Karl Kraus gehöre historisch der Postmoderne an, und diese Annahme verbietet sich für einen Autor, der so viel Wert auf die Glaubwürdigkeit der persönlichen Äußerung legte. Die Menschheit hat anhand des Wahrscheinlichkeitskriteriums einer präzisen Technik – der der Rhetorik – ihre eigene Position verhandelt. Gerade von der Rhetorik erwartet man gerechte Entscheidungen, die auch dann gerecht bleiben, wenn sie nicht auf Beweisen basieren, durch die sich die Richtigkeit einer Sache feststellen lässt. Die Überredungskunst bringt keine Interpretationen, sondern persönliche Interessen in Einklang, die, statt durch ontologische, durch der Rede intrinsische und extrinsische Beweise verteidigt werden. Diese werden vom/von der Sprecher*in regelkonform konstruiert und durch sein/ihr Ansehen mit Geltung versehen. Sein/Ihr Ansehen ist umso größer, je mehr er/sie den Erwartungen und Vorurteilen des Publikums zu entsprechen im Stande ist. Wenn man die Rhetorik als eine soziale Strategie ansieht, die die jeweiligen Bestrebungen und Positionen unterschiedlicher Individuen verteidigt, dann verteidigt sie diese auf Grundlage einer Realität, die als eine bekannte behandelt wird, insofern sie erkannt werden kann. Bekannt ist sie nicht etwa, weil sie objektiv und unzweifelhaft gegeben wäre, bekannt ist sie letztendlich, weil man sie immer und immer besser erforschen kann. Sie wird als bekannt betrachtet, weil sie es werden kann, und dadurch, dass wir über sie sprechen, lernen wir sie so gut kennen, wie es unsere Möglichkeiten eben erlauben. Es ist dieses Vertrauen in die Möglichkeit geteilten Wissens, das demokratische Verhaltensweisen charakterisiert. Aus diesem Grund ist Wer spricht? | 173

die Rhetorik eine Verbreitungsstrategie für die Idee, dass Episteme öffentlicher Natur seien und dass das geteilte Wissen die einzige Autorität sei, die sich gegen die Tyrannei der autokratischen Macht und ihrer Propaganda zu behaupten vermag.17 So führt die Rhetorik das spezifische Subjekt der Überzeugungsrede ein, und zwar die erste Person Plural: »Wir sind uns, von den Fakten und Argumenten ausgehend, darüber einig, dass …« Das sprechende Subjekt, das seine Zuhörerschaft überzeugen kann, befähigt diese, sobald sie sich seine Gedanken angeeignet hat, auch dazu, seinen Platz einzunehmen. Seine Autorität ist in der Tat an die Person gebunden, ist aber nicht privat, individuell oder exklusiv. Wenn es einen Grund gibt, Kultur als eine geisteswissenschaftliche und nicht eine naturwissenschaftliche aufzufassen, dann ist dieser nicht, dass es wichtiger sei, Dante auswendig zu kennen als die drei Gesetze der Thermodynamik, sondern dass Dante zu kennen es dem/der Bürger*in ermöglicht, Argumente zu entwickeln und zu präsentieren, die ihm/ ihr dabei helfen, vor seines-/ihresgleichen das Wort zu ergreifen und mit ihnen oder gegen sie die eigenen Interessen durchzusetzen. »Das, was mit den Erzählungen überliefert wird, ist die Gruppe pragmatischer Regeln, die das soziale Band ausmachen«18 – und das bis zu dem Punkt, dass sich in der griechisch-römischen Welt, in der die Rhetorik entstanden ist, der Bürger auch über seine rednerische Fähigkeit definierte, die Bedingung und nicht Effekt seines Charismas war. Das ist der soziale Zug des geisteswissenschaftlichen Wissens, das sich heterogener Quellen bedient, die auf eine Vielfalt von Sprachspielen referieren. Sich eines aktuellen Ausdrucks bedienend könnte man sagen, dass die Rhetorik interdisziplinär ist. An einzelnen Stellen sind Lügen möglich, aber sie sind von der Struktur der Rede vorgesehen und bringen sie nicht in Gefahr. Sie setzen den Antagonismus bekannt  /  unbekannt voraus und bestätigen ihn. Umgekehrt gesagt: Dass ein ›Faktum‹ existiert, gewährleistet nicht, dass seine Beschreibung zutreffend ist, sondern nur, dass die zutreffende Beschreibung eines Ereignisses möglich ist. Selbst wenn ein Argument schwach und die Redenden unfähig wären, wäre die Stabilität des rhetorischen Schemas in keiner Weise gefährdet. Es ist das Verstehen eines Faktums, das seine Übertragung auf die Ebene der Praxis, vor allem der politischen Praxis, und auf die der Dynamik von ›wahr‹ und ›falsch‹ erlaubt. Dieses Verstehen 174 | Chiara Cappelletto

muss die öffentliche Diskussion durchlaufen, die auf Zeugenschaft und Teilhabe basiert. Clémençeau wurde gefragt, was künftige Historiker*innen über die Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs denken werden. »Das weiß ich nicht«, antwortete er, »aber eine Sache ist sicher: Sie werden nicht sagen, Belgien fiel in Deutschland ein«.19 Beim Versuch, diese Evidenz von einem in der abendländischen Kultur relativ spät entstandenen Objektivitätsbegriff20 abhängig zu machen – in den Anfängen der experimentellen Philosophie waren die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Versuch und Spektakel noch fließend21 –, handelt es sich jedoch um einen aufwendigen und unnützen epistemologischen Akt. Denn er ruft Überprüfungskriterien auf den Plan, die für die Verhandlung menschlicher Interessen irrelevant sind, weil Letztere eher auf Basis von historisch bewährten, impliziten Bedingungen statt von logisch notwendigen und expliziten – nach der Logik des Enthymens22 und nicht nach der des Syllogismus – verteidigt werden. Nichtsdestotrotz ist das Faktum, also ein wirkliches, gebührend überprüftes Ereignis, das Kriterium, das unser Handeln legitimiert. Es handelt sich hier nicht um eine ontologische, sondern um eine pragmatische Angelegenheit, weil man sich dabei nicht fragt, was existiert, sondern wie wir unseren Überzeugungen gemäß handeln können. Hannah Arendt hat sehr richtig geschrieben: »Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.«23 Heutzutage sind nicht nur und nicht hauptsächlich die ›Parafiction‹-Strategien »oriented less toward the disappearance of the real than toward the pragmatics of trust«.24 »Simply put, with various degrees of success, for various durations, and for various purposes, these fictions are experienced as facts«25, aber diese ›erfahrenen‹ und demzufolge subjektiven Fakten ahmen die von den Medien verbreitete, politisch-ökonomische Berichterstattung nach. Es sind ›Nachrichten‹. Was eine Nachricht ausmacht, ist nicht die Information, sondern die soziale Bedeutung eines Geschehens oder einer Person, die diese nachrichtenwürdig macht oder eben nicht.26 Eine Nachrichtenmeldung ist heutzutage notwendig und hinreichend, um einen Zeugenschafts- und Teilhabeprozess zu konstituieren. In sehr reduziertem Ausmaß können wir nämlich direkt dem beiwohnen, von dem uns gesagt wird, dass es in der Welt geschieht. In den meisten Fällen werden wir in Echtzeit direkt von der Presse Wer spricht? | 175

informiert, die über Tragödien vor der Haustür und über Naturkatastrophen auf der anderen Seite des Planeten ohne die geringste Unterbrechung berichtet. Was die Kommunikation angeht, so führt die Globalisierung weniger zu einer Expansion unseres Wissens als vielmehr zur Kontraktion unserer Fähigkeit, sich die Realität vorzustellen.27 Der/Die ›Parafictioneer‹ ist demnach der/die direkte Gegenspieler*in des/der Orator*in. Sein/Ihr Motto lautet: ›Ich mache das, was ich sage  …‹. Wäre er/sie nicht vom institutionellen Rahmen der Kunst geschützt, dann würden sie dem entsprechen, was Harry Frankfurt in einem kurzen Text, der eine Art Aktualisierung von Wittgensteins Über Gewißheit für das Zeitalter der Sozialen Medien ist, als ›bullshitter‹ definiert: The bullshitter may not deceive us, or even intend to do so, either about facts or about what he takes the facts to be. What he does necessarily attempt to deceive us about is his enterprise. His only indispensably distinctive characteristic is that in a certain way he misrepresents what he is up to.28

Er/Sie pervertiert so die Natur sowohl des illokutionären als auch des perlokutionären Sprechakts selbst – also sowohl eines Sprechaktes, der selbst die Handlung ist, die er als Effekt produziert (zum Beispiel ›ich heirate dich‹, ›ich verurteile dich‹), als auch eines, der zu gewissen Folgen führt, die jedoch von denen des Sprechakts als solchem abweichen.29 Sein/Ihr Sprechakt ist nicht deshalb unwirksam, weil er/sie jemanden spielerisch auf den Arm nimmt, so tut, als ob er/sie damit die Realität verbirgt. Erstens ist der Akt unwirksam, weil der/die Redende die Grundbedingung der rhetorischen Rede nicht erfüllt – und zwar von dem Abschluss eines Paktes mit der Zuhörerschaft absieht, im Rahmen dessen Anwesende und Sprecher*in gegenseitig ihre Rolle und den Ort, von dem sie sprechen, zuhören und Einwände erheben, deutlich zum Ausdruck bringen. Bleibt diese beidseitige Standortbestimmung aus, bleibt das Gesagte nur leeres Gerede. Zweitens ist ein solcher Sprechakt unwirksam, weil der/die ›parafictioneer‹ ihn aus seinem Kontext, seinen materiellen Bedingungen und seiner historischen Verständlichkeit herausreißt, denn »ein Begriff oder eine Äußerung [kann] nicht performativ funktionieren, wenn ihre Kraft nicht geschichtlich aufgebaut und zugleich verborgen ist«.30 Man äußert sich nicht in öffentlicher Rede, 176 | Chiara Cappelletto

ohne über ein gewisses soziales und kulturelles Wissen zu verfügen, weil eine Rede – daran hat schon Jean-François Lyotard erinnert – eben nicht nur aus denotativen Äußerungen aufgebaut ist, sondern sich immer schon zugleich aus dem Wissen, wie man handelt, dem Wissen, wie man lebt, und dem Wissen, wie man zuhört, konstituiert – also Arten von Wissen, die man nicht erlernen kann, ohne mit denjenigen Gepflogenheiten in einer bestimmten Gesellschaft, welche die Rhetoriker ›ethos‹ genannt hätten, vertraut zu sein. Eine gute Rede muss »mit den entsprechenden Kriterien […] (der Gerechtigkeit, der Schönheit, der Wahrheit und der Effizienz) übereinstimmen, die in dem durch die Gesprächspartner des ›Wissenden‹ gebildeten Kreis zugelassen sind«.31 Von einer solchen Exuberanz der Sprache im Sinne der oben genannten Kriterien ausgehend, verschärft der fabulierende Nominalismus der ›parafiction‹ eben jene autoritäre Praxis des Interpellierens, an der er Kritik üben sollte, also jenen »Sprechakt, dessen ›Inhalt‹ weder wahr noch falsch ist [und dessen] Absicht […] es vielmehr [ist], ein Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen und einzusetzen sowie seine gesellschaftlichen Umrisse in Raum und Zeit hervorzubringen.«32 Mike Moore, einer der Yes Men, wurde im Jahr 2000 als Generaldirektor der WTO zu einer Konferenz in Salzburg über »International Services« eingeladen. Dort behauptete er vor einem Publikum von Anwält*innen, dass »Wahlen den Kern der Konsumdemokratie bilden«33, und plädierte deshalb dafür, dass jede*r Wähler*in die eigene Stimme versteigern solle, um die Werbekosten für die Präsidentschaftskampagne zu senken, da man sich dadurch Zahlungen an große Marketing-Agenturen sparen könnte: Niemand erhob Einspruch; vom Publikum wurden Moore lediglich ein paar Höflichkeitsfragen gestellt. Auch manche der auf dem Karlsplatz in Wien befragten Passant*innen ließen erkennen, dass sie tatsächlich an die von Eva und Franco Mattes angekündigte Umbenennung in ›Nikeplatz‹ glaubten. Die ›parafiction‹ bringt das, was Judith Butler »Versprachlichung des politischen Bereichs« nennt, ans Licht: Die sprachliche Äußerung als solche wird [scil. sowohl von den Konservativen als auch von den Progressiven, CC] einer höchst wirkungsvollen Perspektive unterworfen, in der sie nicht mehr als RepräsentaWer spricht? | 177

tion von Macht oder als deren sprachliches Epiphänomen erscheint, sondern als modus vivendi von Macht selbst. Wir könnten diese Überdeterminierung der performativen Äußerung als ›Versprachlichung‹ [linguistification] des politischen Bereichs ansehen. 34

›Post-Truth‹ und ›Alternative Facts‹ Die oben beschriebene Überdeterminierung von Sprechakten und die Verunsicherung in Bezug auf den rhetorischen Status des/der Redenden haben das hervorgerufen, was heutzutage oft als ›PostTruth‹ bezeichnet wird. Mit diesem Ausdruck bezieht man sich, wie man seit 2016 im Oxford Dictionary nachlesen kann, auf »circumstances«, »in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief«.35 Die Wahrheit der Dinge existiert also noch, ihre Erkenntnis wird aber daran gehindert oder zumindest darin gehemmt, sich in einer von persönlichen Meinungen geprägten Zuhörerschaft durchzusetzen. Vielmehr lassen sich die Zuhörenden von ihrer eigenen Emotionalität überwältigen. Obwohl heutzutage leider vor allem persönliche Vorlieben und Interessen die Meinungsbildung der Zuhörerschaft prägen, bleibt doch zu hoffen, dass wir es – wenn wir nur geduldig genug an den Fakten festhalten – auch in der Zukunft wieder schaffen werden, unser Handeln an einer objektiven Realität auszurichten, sei es die ökonomische, die soziale oder die kulturelle Realität. Auch wenn es paradox erscheinen mag, ist die umstrittene Idee des ›fact-checking‹ eine direkte Folge der ›Post-Truth‹-Idee, welche per se keine Form von Relativismus legitimiert. Ganz im Gegenteil setzt sie vielmehr einen schlichten Begriff von Wahrheit voraus: Wir alle können die Wahrheit aussprechen, weil wir alle Zugang zu ihr haben. Die Wahrheit steht uns allen zur Verfügung. Schade nur, dass das heutzutage so schwierig geworden ist  … Wir sollten unsere Hoffnungen auf das kritische Denken setzen. Zu dieser Erkenntnis ist zum Beispiel Paul Boghossian gekommen, nachdem er in einem Vortrag feststellte, dass so etwas wie ›Post-Truth‹ nicht existieren könne, weil ›Wahrheit‹ nichts anderes als eine passgenaue Korrespondenz zwischen einer sprachlichen Äußerung und einem Sachverhalt sei, dann jedoch schlussfolgerte, dass die schwierige aktuelle 178 | Chiara Cappelletto

Situation nur durch Bildung überwunden werden könne.36 Durch die Verwendung des Begriffes ›Post-Truth‹ bringen wir zum Ausdruck, dass Zuhörer*innen heutzutage oft nicht mehr in der Lage sind, die Redebeiträge im öffentlichen Diskurs adäquat zu verstehen, und bekunden unser Unbehagen darüber, dass korrekten Aussagen zu Fragen von allgemeinem Interesse inzwischen nur noch wenig Glauben geschenkt werde. Jedoch beschreibt man damit kein neues epistemologisches Paradigma, sondern vielmehr das allgemeine Misstrauen, das man bei denjenigen heraushört, die auf die eine oder andere Weise, aus unterschiedlichen Gründen und von unterschiedlichen Positionen zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen. Die sehr naive Vorstellung, dass so etwas wie eine ›Wissenspolizei‹ existieren könne, wird als selbstverständlich angesehen.37 Die kanonische Definition von ›Post-Truth‹ legt also nahe, dass das Problem auf der Seite der Bürger*innen liege, denen es nicht nur an Medienkompetenz mangele, sondern bei denen unfundierte Behauptungen auch auf fruchtbaren Boden fielen. Diese Vorstellung ist jedoch nicht nur paternalistisch, sondern auch ihrerseits wenig fundiert. Sie ist ein Ausdruck der Bequemlichkeit mancher Intellektueller, die sich wünschen, dass die Welt sich nicht verändern solle, damit man sie weiterhin so betrachten kann, wie man es gewohnt ist. Das charakteristische Element des aktuellen öffentlichen Diskurses ist aber nicht seine verzerrte Wahrnehmung durch die Zuhörer*innen, sondern der veränderte Status sowohl des/der institutionellen als auch des/ der gewöhnlichen Sprecher*in. Heutzutage kommt beiden nämlich gleiches Gewicht zu, denn der Filter, mit dem öffentliche und private Institutionen gewöhnlich die in einem bestimmten Diskurs als unangebracht geltenden Zusammenhänge herausfilterten – beispielsweise konnten ein*e Premierminister*in, ein*e Mediziner*in und ein*e Ehefrau/Ehemann nicht zu jedem Thema gleichermaßen Stellung beziehen –, ist inzwischen weggefallen. Der Verlust der Kontrolle über den öffentlichen Diskurs auf Seiten der Bürger*innen liegt in der Atomisierung der Gesellschaft, im Versagen der Organe für die politische Bildung – des Staates, der Schule – und in der Schwächung der Organe der Vermittlung sozialer Kompetenzen – der Familie und Freundeskreise – begründet. Diese aktuelle Entwicklung beschreibt Peter Sloterdijk folgendermaßen: Wer spricht? | 179

Kennzeichen der Situation ist […] der Funktionsverlust der symbolischen Institute, denen während zweier konfliktreicher Jahrhunderte die politische Sammlung und Transformierung der dissidenten Energien oblag. Damit stellt sich die Frage, wie unsere Zeit die Formel ira quaerens intellectum interpretiert – ja, ob man heute überhaupt noch einen Weg finden kann, um die seit zweihundert Jahren Politik begründende, zumindest mitbegründende Liaison zwischen Empörung und Lernfähigkeit zu revitalisieren?38

Wenn das Opfer im oben entwickelten Sinne der/die post-ideologische politische Akteur*in ist, dann scheint die Antwort auf Sloterdijks Frage negativ ausfallen zu müssen. Das Opfer hat keinen Grund zur Annahme, dass ihm/ihr eine aktive Rolle im Weltgeschehen zuteil werden könnte, und verwandelt daher den eigenen Willen nicht »in eine ratio […], die sich in der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das allgemeine Interesse praktisch Notwendige herstellt«.39 Es ist also nicht imstande, eine neue Debatte im Sinne einer produktiven Dialektik zu initiieren, in der es seine eigenen Interessen und Bedürfnisse innerhalb des öffentlichen Diskurses vertreten kann. In Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Jürgen Habermas gezeigt, wie stark die Entwicklung des öffentlichen Diskurses von historischen Kontexten geprägt wurde. Die öffentliche Verbreitung von Waren und Gedanken ist das Ergebnis der Verschränkung dreier Faktoren im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts: erstens des Güter- und Informationsverkehrs in der bürgerlichen Gesellschaft; zweitens der Herausbildung einer öffentlichen Autorität, die die Gründung des Nationalstaates begleitet – in diesem tritt die Zivilgesellschaft, die sich in privaten Institutionen wie Familie und Unternehmen organisiert, als Entsprechung einer entpersonalisierten, staatlichen Autorität hervor –; und drittens des täglichen Erscheinens der Zeitungen. Die Avantgarde des Bürgertums lernte die Kunst des kritischen Diskutierens vom Adel, mit dem sie verkehrte, und übte sich darin an besonderen Orten der Stadt, wie in den Salons, in den Clubs und in den Tischgesellschaften, wo Fragen von allgemeinem Interesse diskutiert wurden. In der bürgerlichen Zivilgesellschaft, wie sie sich später definierte – ganz anders als in der polis und in der res publica –, begannen einzelne Individuen abhängig von ihrer Nationalität auf je verschiedene Weise, sich selbst 180 | Chiara Cappelletto

als Menschen unter Menschen, als pares inter pares zu verstehen. Diese Individuen gehörten nämlich einer Bevölkerungsschicht an, die sich vielmehr durch ihr Eigentum und ihre Bildung konstituiert hatte.40 Der Begriff der ›öffentlichen Meinung‹ (›opinion publique‹, ›public opinion‹) tauchte erst spät auf, nämlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, und nahm dann langsam die Bedeutung einer Durchsetzung der Mehrheit an, Habermas nennt sie »eine[] Meinung […], die durch kritische Diskussion in der Öffentlichkeit zur wahren Meinung geläutert ist«.41 Zur selben Zeit entsteht ein demokratisches Wahlsystem. Von da an ist die Geschichte der öffentlichen Meinung zu großen Teilen die Geschichte der Presse. Der Schritt von einer aktiven, kritischen Diskussionskultur zum bloßen Konsum der für alle verfügbaren Informationen kennzeichnet das Ende des Bürgertums als alleiniger dominierender Klasse und das Aufkommen einer sozialen Organisation, die aus einer Mehrheit besteht, die sich in Abgrenzung zu einer Minderheit konstituiert. Was wir heutzutage beobachten, ist ein ökonomischer, sozialer und institutioneller Wandel, der analog zur Beschreibung von Habermas verläuft. In der Folge dieses Wandels werden die Kriterien für eine demokratische Teilhabe für ungültig erklärt, die die Presse bis vor zwanzig Jahren vorgab. Die Bürger*innen, denen eine gemeinsame Grundlage für den öffentlichen Diskurs fehlt, werden durch die Sozialen Medien vereinnahmt. Das Verfassen und Verbreiten von Posts und Tweets auf Facebook und Twitter redefiniert den Status des sprechenden Subjekts, welches in linguistische Praktiken involviert ist, die seine Entscheidungen bestimmen. In der Scheinwelt des Internets finden wir eine Vielzahl von heterogenen und nicht in ein Kollektiv integrierbaren Individuen, deren verschiedene ›Ichs‹ normative Aussagen über die Welt machen, an welche sie sich direkt wenden. Jede*r von ihnen spricht urbi et orbi und hat den Eindruck, dass er/sie einen Beitrag zu Angelegenheiten der Allgemeinheit leistet, und zwar mit Argumenten, die er/sie nicht etwa für wahr hält, weil sie durch Fakten gestützt sind, sondern weil er/sie sie öffentlich ausspricht. Jede*r Nutzer*in geht mit seinen/ihren persönlichen Überzeugungen um, als ob es sich dabei um zu verbreitendes Wissen handle. Das heißt jedoch nicht, dass er/sie bewusst lügt: Im Gegenteil kann er/sie durchaus der Überzeugung sein, dass er/sie aufrichtig ist. Aufrichtigkeit kann daher Wer spricht? | 181

paradoxerweise eine asoziale Qualität darstellen. Der Showman Stephen Colbert, einer der größten Polit-Satiriker unserer Zeit, hat als Erster den egoistischen aufrichtigen Glauben an gefühltes Wissen als ausschlaggebenden Teil des aktuellen politischen Handelns erkannt und dafür den Begriff ›truthiness‹ geprägt. Er verwendete ihn im Programm The Colbert Report, um die ›Wahrheit‹ zu bezeichnen, mit der der ehemalige amerikanische Präsident George W. Bush den Zweiten Irakkrieg gerechtfertigt hatte: ›Was ich sage, ist wahr und nichts Anderes, was jemand anderer sagt, könnte jemals wahr sein.‹ Es geht nicht nur darum, dass ich spüre, dass es wahr ist, sondern dass ich spüre, dass es wahr ist. Es gibt nicht nur eine emotionale Komponente, sondern auch eine egoistische.42

Bushs sprachliche Performance führte tatsächlich zum Krieg, trotz des Mangels an Beweisen dafür, dass es im Irak tatsächlich chemische Massenvernichtungswaffen gab. Eine der Auswirkungen der von den Sozialen Medien verstärkten sprachlichen Überdeterminierung ist nämlich, dass der-/diejenige, der/die redet, nicht dazu verpflichtet ist, die Verantwortung für das, was er/sie sagt, zu übernehmen. Die ›truthiness‹ ist nicht relativ. Sie ist privat.43 Auf die Spitze getrieben wurde dieses Verfahrens vom 45. amerikanischen Präsidenten, dessen Sprechakte nicht performativ sind. Es ist nicht relevant, wer redet und was er/sie sagt: Es reicht, dass er/sie redet. Der/ Die Sprecher*in ist eine Monade, Träger*in einer exklusiven und exkludierenden Wahrheit. Er/Sie ist das Gegenteil des Parrhesiastes, der mit Offenherzigkeit die Wahrheit sagt und bereit ist, sein Leben zu opfern, um öffentlich die Verantwortung auf sich zu nehmen, ein für alle geltendes Wissen auszusprechen.44 Der/die Verfasser*in von Posts und Tweets ist Sprachrohr einer paradoxen ›singulären Wahrheit‹, die die communis opinio ersetzt. Dieses Sprachrohr ist jedoch letztlich ebenso ›konformistisch‹, da es immer nur seine eigenen Gedanken bestätigt, wenn es spricht. Die 140 Zeichen eines Tweets an die Menschheit erschaffen eine radikalisierte und singuläre Welt, die nicht mehr zur Debatte steht: eine subjektiv objektivierte Welt. Warum sollten die Followers also an das glauben, was das Sprachrohr ihnen sagt? Auch wenn es befremdlich klingen mag, lautet die Antwort darauf: »Gar nicht!« Es geht nicht darum, uns zu überzeugen. Jedes ›Ich‹ spricht nämlich letztlich mit sich selber, wendet sich 182 | Chiara Cappelletto

zwar an alle, doch spricht nicht für alle. Es ist unfähig, andere zu repräsentieren. Es ist Teil einer Mehrheit von Menschen, mit denen es jedoch durch keinerlei Gemeinschaftsgefühl verbunden ist. Die Nutzer*innen für sich genommen sind nicht in der Lage, als Klasse oder als Mehrheit Macht auszuüben. Sie bilden zwar zahlenmäßig eine Mehrheit, aber diese teilt keine kollektive, politische Vision. Was »in dieser großen Zeit« auf dem Spiel steht, ist weder die Realität der Fakten noch ihr volles Verständnis, sondern das Vorhandensein irgendeiner Realität als Ausgangspunkt, gerade wenn man unterschiedliche Meinungen und Interessen hat. Wenn wir auf der visuellen Ebene vom esse est percipi zum Selfie übergegangen sind, haben wir auf der sprachlichen Ebene die Dialektik für die Seifenblase der Echolalie verlassen. In den Sozialen Medien erfahren wir nicht jenen »Geschmack der Anderen«, der der Motor des gesellschaftlichen Lebens ist. Man darf demnach nicht behaupten, dass das Internet der global marketplace sei, wie es eine verbreitete Redeweise besagt, oder dass es als das Erbe der bürgerlichen öffentlichen Meinung zu verstehen ist. Facebook ahmt nämlich einfach ein College-Year-Book nach, das Mark Zuckerberg als Inspiration diente. Hatte sich historisch die kritische Debatte zunächst in der aus einer homogenen Klasse bestehenden öffentlichen Sphäre und erst dann vor einer Versammlung abgespielt, in der das eigene Ansehen zur Geltung kam, ist jetzt jede*r Redende eine vox clamans in einer virtuellen Wüste. Somit löst sich die traditionelle rhetorische Unterscheidung zwischen universeller Zuhörerschaft (es handelt sich um eine Art sprachliche Fiktion, die bei metaphysischen Abhandlungen oder formalen Betrachtungen strategisch mitgedacht wird) und partikularer, also historisch determinierter Zuhörerschaft auf. Anders als im persönlichen Gespräch entkräften im Internet die Antworten anderer nicht meine Äußerungen, die wiederholt (durch Teilen), angegriffen (durch eine Antwort) oder einfach ignoriert werden können. Mein Beitrag zur Masse von sprachlichen Äußerungen wird nicht durch die Argumente anderer vermittelt. Während früher sowohl aufrichtige als auch lügnerische Reden direkt von dem/der Sprecher*in an die Zuhörerschaft gerichtet waren, ist die Kommunikation in den heutigen Sozialen Medien viral. Sie verbreitet sich horizontal. Der/Die neue Sprachakteur*in ist Redner*in und erste*r Zuhörer*in zugleich. Somit ersetzt die Zuhörerschaft Wer spricht? | 183

zwar den/die Redner*in, aber ohne seine/ihre Meisterschaft und ihr/sein Kompetenzniveau zu erreichen; es werden lediglich die Positionen getauscht. Das Fehlen eines gemeinsamen Ausgangspunkts produziert ›Alternative Facts‹. Bekanntlich verwendete Kellyanne Conway, ­Donald Trumps Beraterin, diesen Ausdruck 2016 in der Fernsehsendung Meet the Press, um eine offensichtlich nicht wahrheitsgetreue Äuße­rung von Sean Spicer, dem Sprecher des Weißen Hauses, über die Größe des Publikums bei Trumps Inauguration zu verteidigen: »No one had numbers. […] This was the largest audience to ever witness an inauguration – period – both in person and around the globe.«45 Conway meinte nicht etwa, dass das Publikum wirklich das größte gewesen sei, das bei einer ähnlichen Veranstaltung je anwesend war, sondern dass man, wenn man daran glauben wolle, dies ruhig tun dürfe. Die ›Alternative Facts‹ sind die Argumente eines/r anonymen Redenden ohne Zuhörerschaft, der/die die herrschende Doktrin des ›Sei, wer Du bist‹ bis zum Äußersten treibt. Selbst im Ausdruck ›Alternative Facts‹ fehlt nämlich ein erkennbares, sprechendes Subjekt: Es gibt alternative Fakten, genauso wie es Sterne am Himmel gibt. Weit davon entfernt, eine These in Bezug auf die Realität aufzustellen oder ein Gedankenexperiment durchzuführen, wollen die alternativen Fakten nicht nachgewiesen werden, und sie haben auch keine Angst davor, dementiert zu werden. Das erklärt Spicers Gleichgültigkeit der Logik gegenüber: Wenn man die Zahlen nicht zur Hand hat, wie kann man irgendeine Äußerung über die Größe des Publikums machen? Die ›Alternative Facts‹ befragen niemanden nach seiner Meinung. Weder unterwerfen sie ihn/ sie dem Willen der Gesprächspartner*in, noch konstituieren sie ihn/sie. Sie brauchen kein Vertrauen zum Anderen. Sie sind Ausdruck einer Präferenz. Die ›Alternative Facts‹ genügen dem-/derjenigen, der/die sie ausspricht. Ihr Ziel ist nicht Betrug, sondern die Emanzipation vom Komplexitätszwang. Sie bieten somit eine Möglichkeit, sich der Verpflichtung zur ›hohen‹ Kultiviertheit und den unerträglichen Bildungseliten zu widersetzen, wenn man Gewissenhaftigkeit als eine Form von Philisterei und Genauigkeit als eine von Pedanterie betrachtet. Der Kampf gegen die Bildungseliten ist kein Kampf für eine einfache, verständliche Ausdrucksweise (im Gegensatz zum komplexen, verschachtelten bildungsbürgerlichen 184 | Chiara Cappelletto

Jargon), sondern für die Künstlichkeit einer Äußerung, die reiner Selbstzweck ist. Die Rhetorik des öffentlichen Diskurses als politische Strategie wird durch die Radikalisierung des monologisierenden Individuums ersetzt. Dies hat eine subversive Wirkung im Bereich des sozialen Lebens und seiner demokratischen Organisation. Der Ausdruck ›Alternative Facts‹ ist nicht nur deshalb weltweit bekannt geworden, weil er im Fernsehen, auf CNN, von einer prominenten Person ausgesprochen worden ist, sondern weil diese eine institutionelle Rolle innehat, in ihrer offiziellen Funktion zur Presse gesprochen hat und dabei eine Form von souveräner Macht ausübte. Dabei bezog sie sich auf eine zweite institutionelle Figur, nämlich auf den Sprecher des Präsidenten, der wiederum selbst eine souveräne Macht repräsentiert. Gleichzeitig entkräftet der Ausdruck ›Alternative Facts‹ die Autorität der Souveränität und bestätigt die Trennung zwischen denen, die die Verantwortung tragen, und denen, die die Macht haben. Für eine Gesellschaft, in der Posts im Internet das Nachdenken ersetzen, ist es verhängnisvoll, dass ein*e Sprecher*in glaubt, die Verbindung zwischen persönlicher Meinung und sozialem Kontext rechtmäßig aufheben zu dürfen. Dem Gefühl folgend, dass Institutionen die Interessen des Volkes nicht mehr adäquat repräsentieren können, werden die Sozialen Medien so genutzt, als ob sie parlamentarische Versammlungen ersetzen könnten, und funktionieren als Sammel- und Verbreitungsstellen von Wut. Das wird auch durch typische Phänomene emotional entgleisender Kommunikation bestätigt: Shitstorms, plötzliche Entladungen von Aggressivität in Posts, ›flaming‹, Nachrichten, welche nicht nur Wut zum Ausdruck bringen, sondern diese auch mehr oder weniger absichtlich hervorrufen. Die Kommunikation im Internet ist nicht anti-sozial, sondern a-sozial, situiert sich außerhalb der Moral und schert sich nicht um Umgangsformen. Von der versprengten Sozialität der Sozialen Medien ausgehend wird also eine neue Form der Beteiligung an Entscheidungen definiert, die zwangsläufig Konsequenzen für Gruppen und Gemeinschaften haben. Es kann zu jener neuen Form von Beteiligung kommen, weil der Rückzug der Regierungen zugunsten privater Konzerne auf globaler Ebene nicht verhindert, dass neue demokratische Formen von Gemeinschaft entstehen. Das Kommunikationsschema »allein, an Wer spricht? | 185

alle, aber nicht für alle« ist durch das ›targeted advertising‹ – durch welches unterschiedliche Personen der gleichen Familie oder des gleichen Haushalts per E-Mail oder durch Meldungen auf den von ihnen besuchten Websites unterschiedliche Informationen über die gleiche Sache bekommen – neu aufgegriffen und verstärkt worden. Die gesellschaftliche Zersplitterung ist nicht etwa ein Risiko dieser Werbestrategie, sondern ihr Ziel.46 Die Sozialen Medien bieten eine ideale Verkaufsplattform, weil sie den Prozess der Umwandlung des Wissens in Informationen mit ökonomischem Wert vollenden. Besonders das 2004 gegründete Facebook bestätigt die hellsichtige Erkenntnis Lyotards, der bereits 1979 schrieb: Man kann sich vorstellen, daß die Erkenntnisse […] wie Geld in Umlauf gebracht werden und daß die diesbezügliche pertinente Unterscheidung aufhört, Wissen  /  Nichtwissen zu sein, um wie für das Geld ›Zahlungserkenntnisse  /  Investitionserkenntnisse‹ zu lauten, daß heißt Erkenntnisse, die im Rahmen der Erhaltung des täglichen Lebens […] ausgetauscht werden versus Erkenntniskredite hinsichtlich der Leistungsoptimierung eines Programms.47

Während wir Waren kaufen und über nachverfolgbare Suchanfragen Informationen einholen, produzieren wir Aussagen über uns selbst, die nicht wir selbst, sondern private Konzerne nutzen, deren Interessen von regelmäßig gewählten Stellvertreterfiguren repräsentiert werden können. Die höchste dieser Stellvertreterfiguren in den USA ist Donald Trump geworden, dessen Präsidentschaftskampagne von Steve Bannon konzipiert worden ist, welcher paradoxerweise glaubt, ein Intellektueller zu sein. Christopher Wylie, ein Data Scientist für die von ihm selbst als »full service propaganda machine« bezeichnete Cambridge Analytica berichtete, dass Bannon – als er sich wegen der Entwicklung einer »dog whistle politics« an Wylie wandte – davon überzeugt war, dass »if you want to change politics, you first have to change people to change the culture«.48 Diesem Zweck dienen die auf Big Data basierenden Persönlichkeitsanalysen, die Cambridge Analytica mithilfe des OCEAN-Modells49 durchführt. Der/Die Nutzer*in entspricht also dem neuen neoliberalen politischen Subjekt, das sich wie folgt beschreiben lässt: »Er reagiert nur passiv auf die Politik, indem er nörgelt, sich beschwert, genauso wie der Konsument gegenüber den Waren oder Dienstleistungen, 186 | Chiara Cappelletto

die ihm nicht gefallen.«50 Sloterdijk fragte sich 2016, ob die Wut ein Verbrauchskapital sein kann.51 Inzwischen lässt sich diese Frage mit »ja« beantworten – eine nachtragende Wut. Nicht der-/diejenige, der/die einen sprachlichen Akt ausführt, hat die Macht des Wortes, sondern der-/diejenige, der/die daraus Informationen und potentiellen Profit auf globaler Ebene gewinnen kann. Die Verwandlung des/der politischen Gesprächspartner*in in einen psycho-ökonomischen Kontakt richtet den Sinn der partizipativen Demokratie zugrunde und stellt ihre Legitimität in Frage. Wahrscheinlich ist dies eines der Ziele der neuen politischen Akteur*innen. Sicher ist, dass sich den Institutionen wie auch den Einzelnen die notwendige und dringliche Aufgabe stellt, die Kultur als Form von gesellschaftlicher Teilhabe und als Garantie für ein freies Leben in einer komplexen Welt zu verbreiten und zu fördern. Übersetzt aus dem Italienischen von Concetta Perdichizzi, Hannes Mittermaier und Claudia Oberrauch 52

Wer spricht? | 187

Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

Was man sagt, ist man selber

Hatespeech, Autoperformanz, performative Fakten

Ein altes Kindergartenmantra lautet: »Was man sagt, ist man selber«. Wer ein Schimpfwort an den Kopf geworfen bekommt, kann mit diesem Spruch das Schimpfwort – ohne es selbst in den Mund zu nehmen – augenzwinkernd ablehnen. Das Schimpfwort bleibt dann regelrecht am Absender kleben. Mit dem Spruch soll so schon bei Vorschulkindern das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass Beleidigungen primär ein Ausweis desjenigen sind, der sie losschickt, nicht desjenigen, an den sie sich richten. So können Beleidigungen wie ein Bumerang zum Absender zurückkehren. Auch wenn das nicht immer klappt – und auch wenn der Spruch angesichts des organisierten Hasses in den sozialen Netzwerken naiv erscheinen mag: die Blickrichtung stimmt.1

Hatespeech, Sprechakttheorie, Autoperformanz Auch im Umgang mit der Ausbreitung von Hatespeech wird in den letzten Jahren der Fokus nicht mehr nur auf die Adressaten, sondern mehr und mehr auf die Absender gelenkt. Dieser Blickwechsel ist nicht nur aus politischen Gründen wichtig. Er macht auch deutlich, was im Feld der Theorie, der Sprechakttheorie, bislang zu wenig Beachtung gefunden hat: die autoperformative Dimension eines jeden Sprach- und Sprechaktes. Wir werden diese Dimension im Folgenden näher erläutern und zugleich zu zeigen versuchen, dass die aktuelle, auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit der Sprechakttheorie oder der Hatespeech-Debatte verbundene Diskussion rund um alternative facts, um Vermischungen von Fakt und Fiktion sowie um den alten Streit zwischen Rhetorik und Philosophie gut daran täte, die Frage nach der Autoperformanz politischer und anderer Rede oder Kommunikation zu stellen und zu klären: grundsätzlich, aber auch in konkreten Analysen. 189

Doch kehren wir zuerst zurück zur Adressierung, wie sie in Hatespeech-Akten stattfindet: Hatespeech zielt auf eine besonders gewaltsame Art von Eindeutigkeit in der Disqualifizierung von Adressatinnen und Adressaten – oftmals einer einzelnen Person. Ebenso oft findet Hatespeech aus dem (vermeintlichen) Schutzraum der Anonymität heraus statt. Hatespeech ist Hassrede, auch schriftlicher Art, die auf die Disqualifizierung oder gar Vernichtung eines Gegenübers zielt. Damit Hatespeech ›funktioniert‹, ist es unerheblich, ob die vorgebrachten Verunglimpfungen stimmen oder nicht (was nicht heißt, dass die Frage danach irrelevant wäre). Hate­ speech ›wirkt‹ in der Regel einschüchternd, verletzend und macht somit auf eine besonders krasse Weise deutlich, inwiefern von einer Wirksamkeit von Sprache durch konkrete Sprechhandlungen die Rede sein kann. Was aber heißt Wirkung? In welche Richtung(en) verläuft diese? Ausgedient haben dürfte in diesem Zusammenhang das Modell einer Einbahnstraße, in der die Wirkung bloß vom Absender und seiner Sprache her in Richtung eines Adressaten verliefe. Auszugehen ist vielmehr von einem Modell der Multidirektionalität. Darin mitzudenken ist an erster Stelle die autoperformative Rückbetroffenheit der Absender selbst. Diese Rückbetroffenheit wird in den Medien selbst immer mehr zum Thema, denn immer öfter werden die sich dort tummelnden Hater aus der Anonymität der Kommentarspalten geholt und sichtbar gemacht. Dafür sorgen juristische Vereine wie z. B. Netzcourage, aber auch der journalistische Blick wird inzwischen stärker auf die Absender gerichtet. Das passierte u. a. in der Reportage »Lösch Dich!«2 über den organisierten rechten Hass oder in einem Bericht der Tageswoche3 über einen einzelnen notorischen Schweizer Hater, Martin Widmer. Ein journalistischer Meilenstein war 2016 bereits das Interview4 der beiden WOZ-Journalisten Daniel Ryser und Carlos Hanimann mit einem Facebook-Hasskommentator: Das Interview, eine unfreiwillige Selbstdemontage, führte die Fiktionen, das Begehren, aber auch die argumentativen Nöte, mit denen in diesem Fall Frauen (»hässliche Feministinnen«) und Migranten beschimpft worden waren, vor ­Augen. Haben die Hater einen Namen, wird deutlich, dass es sich (aktuell zumindest – und in den hier genannten Beispielen) nicht um 190 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

ein Massenphänomen handelt. Da spricht nicht das hassende Volk gegen die Elite oder gegen Linke, gegen Frauen oder gegen Schwule. Sondern da sprechen einige Einzelne oder in Gruppen organisierte Trolle, rechte, meist männliche Aktivisten, politische Profiteure sowie Menschen, die damit Geld verdienen. Und es sprechen immer dieselben, wie eine Studie von Philip Kreißel in Kooperation mit dem Institute for Strategic Dialogue in London zeigte.5 Weil sich die Minderheit als Mehrheit inszeniert, hat Jan Böhmermann im April 2018 dazu aufgerufen, die Antitroll-Trollarmee »Onanista Germanica« zu gründen.6 »Onanista Germanica« parodiert den Namen der rechten »Jugendzimmer-Faschos« (Böhmermann) »Reconquista Germanica«. Mit der Antitroll-Trollarmee sollte die tatsächliche Mehrheit die Accounts der Wut verbreitenden Trolle fluten. Damit das klappt, hat Böhmermann auch gleich zwei Listen mit Trollen mitgeliefert, die man »blocken, melden oder mit Liebe überschütten« kann – eine solidarische Dienstleistung, denn Solidarität muss ja nicht bedeuten, die Betroffenen einfach zu bedauern, sondern den Blick umzulenken auf diejenigen, von denen der Hass ausgeht. Vielleicht ist es noch etwas früh, von einem Bumerangeffekt zu sprechen, wenn es um die Realität der Hassrede geht. Aber der gezielte Blick in die andere Richtung ist doch ein Zeichen dafür, dass der Hass an den Absendern selbst haften bleibt. Eine solche Richtungsänderung ist nun aber wie angedeutet auch in der Theorie nötig. Denn diese greift in der Regel, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von Hatespeech zu erklären, auf Sprechakttheorien zurück, die meist nur in eine Rederichtung denken. Sprechakte verlaufen allerdings stets in mindestens zwei Richtungen: Etwaige Adressaten und Absender sind in ihnen nicht als feststehende Einheiten zu begreifen, sondern als Positionen, die durch den Akt selbst mitgeschaffen werden. Dieses Mitschaffen steht der Kritik offen, und dies, sobald ein Sprechakt manifest wird, sobald er nachgewiesen und zitiert werden kann.

Was man sagt, ist man selber | 191

Wann ist eine Beleidigung wirksam? Beleidigungen sind nicht an und für sich wirksam. Das hat schon der Philosoph John L. Austin 1962 in seiner grundlegenden Studie zum Tun der Sprache (How to do Things with Words) bemerkt.7 Er unterschied damals zwischen zwei verschiedenen performativen Sprechakten: die einen tun genau das, was sie aussagen (›illokutionäre Sprechakte‹ wie der Taufakt), die anderen ziehen im Nach­ hinein bestimmte Effekte und Wirkungen nach sich (›perlokutionäre Sprechakte‹).8 In keinem der Fälle erfolgt die Wirkung jedoch durch das bloße Sprechen. Sprache ist nicht ontologisch oder gottgegeben performativ. Vielmehr hängt die Wirksamkeit von Sprache von Faktoren ab, die unter sich ganz heterogen sind, u. a. von der Machtposition des Sprechenden, medialer Aufbereitung und Vervielfältigung – und nicht zuletzt von gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Vorstellungen von einer solchen Wirksamkeit. Die gewollte Beleidigung dürfte wirkungslos bleiben, wenn es für den Machtanspruch, den Sprecher sich meist gezielt herausnehmen, keine offenen Ohren gibt. Nur dann, wenn eine Gesellschaft die Position des Sprechers als letztlich wirkmächtig wertet oder gar akzeptiert, kann die versuchte Beleidigung zu einer wirksamen Beleidigung werden. Es gibt Gesellschaften, Religionen oder politische Systeme, die Sprache als unmittelbar wirksam denken, die z. B. davon ausgehen, dass ein Fluch direkt wirkt oder eine Beleidigung die gesamte Familienehre irreparabel verletzt. In solchen Gesellschaften ist Sprache nicht wirksamer als anderswo, sie wird nur auf eine bestimmte Weise als wirksam konzipiert und gesellschaftlich als solche akzeptiert. Das geht so weit, dass die diskursive Performativität von Sprache in politischen Systemen als eine ontologische inszeniert wird. Die totalitäre Kultur der Sowjetunion in den 1930er-Jahren ist dafür ein Beispiel. Dort wurde das Wort der Tat gleichgesetzt mit dem Ziel, die Kontrolle über das Sprechen bzw. das Wort zu legitimieren. Zugleich nutzte das sowjetische Rechtssystem die so von ihm selbst mit Macht ausgestattete Sprache, um – wie bei den Moskauer Schauprozessen – die Beweiskraft des Wortes höher zu gewichten (Geständnisse, Zeugenaussagen) als ein Indiz bzw. als die Tat.9 Für die Frage, wie Gruppierungen oder ganze Gesellschaften Sprachwirkung inszenieren, interessierte sich Austin allerdings so 192 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

wenig wie für die Frage, was beim Wunsch, mit Sprache zu handeln, mit dem Sprecher passiert, also dem Absender. Austin konzipierte Performativität – Handeln durch Sprache – unidirektional. Judith Butler hat in ihrer einflussreichen Studie Excitable Speech von 1997 (auf Deutsch: Hass spricht) Austins Theorie weitergedacht und zugleich an eine Überlegung des französischen Strukturalisten und Marxisten Louis Althusser angeknüpft10, die den Blick auf den Adres­saten allerdings nochmals verstärkt: In seiner Schrift »Idéologie et appareils idéologiques d’État. (Notes pour une recherche)« – auf Deutsch: »Ideologie und ideologische Staatsapparate. (Notizen für eine Forschung)« – von 1970 geht Althusser davon aus, dass in der ›christlich-abendländischen‹ Kultur das einzelne Individuum als Subjekt grundsätzlich durch ›Anrufung‹ (frz. interpellation) konstituiert wird. Damit legte Althusser auch den Grund zu einer Theorie und Kritik des Subjekts, wie sie später von Michel Foucault (und wiederum von Judith Butler) mit dem Begriff der ›Subjektivation‹ weiterentwickelt wurde. Die Unterwerfung unter eine Macht (assujettissement) und die Subjektwerdung (subjectivation) bilden in dieser Konzeption zwei Seiten derselben Medaille.11 Entsprechend relevant wird demnach die Frage nach den Möglichkeiten einer ›Entunterwerfung‹ (désassujettissement) bzw. einer ›Desubjektivierung‹ (désubjectivation).12

Exkurs zur Anrufung Althussers zentrale These lautet, dass »jede Ideologie die konkreten Individuen als konkrete Subjekte an[ruft]«.13 Tatsächlich unterscheidet Althusser »zwischen konkreten Individuen einerseits und konkreten Subjekten andererseits«. Zugleich hält er fest, dass es »kein konkretes Subjekt gibt, das nicht ein konkretes Individuum zum Träger hätte«. Durch Anrufung, und zwar vonseiten einer entsprechenden »Ideologie«, werden Althusser zufolge Individuen zu Subjekten. Genauer: Individuen werden zu Subjekten über die Art, wie  – und zunächst über die Tatsache, dass – sie nicht nur bei einem (ihrem) Namen gerufen, sondern überhaupt immer wieder von Neuem aufgerufen und durch Sprechakte geprägt werden. Das Subjekt ist in diesem Verständnis ein ›subjectum‹ im lateinisch-wörtlichen Was man sagt, ist man selber | 193

Sinne: Es ›unterliegt‹ etwas anderem, in diesem Fall der Gewalt der Sprache, konkretisiert in Sprechakten anderer Sprecherinnen und Sprecher im Rahmen einer bestimmten Ideologie. Eine jede »Ideologie« zeichnet sich Althusser zufolge dadurch aus, dass sie »durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle)«.14 Hierauf folgt der berühmt gewordene Vergleich mit dem Polizisten, der jemandem auf der Straße zuruft – in der Absicht, die betreffende Person als Subjekt zur Rede zu stellen oder festzunehmen: »Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ›He, Sie da!‹« Weiter heißt es bei Althusser: Wenn wir einmal annehmen, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfach physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf »genau« ihm galt und dass es »gerade es war, das angerufen wurde« (und niemand anderes). Wie die Erfahrung zeigt, verfehlen die praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann: Ob durch mündlichen Zuruf oder durch ein Pfeifen, der Angerufene erkennt immer genau, dass gerade er es war, der gerufen wurde. Dies ist jedenfalls ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein »Schuldgefühl« erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die »sich etwas vorzuwerfen haben«.   Natürlich mussten wir der Einfachheit halber und um der größeren Klarheit willen bei der Darstellung unseres kleinen theoretischen Schauspiels die Dinge in Form einer Sequenz präsentieren, mit einem Vorher und einem Nachher, d. h. in Form einer zeitlichen Abfolge. Es gibt Individuen, die spazieren gehen. Irgendwo (gewöhnlich hinter ihrem Rücken) ist der Anruf zu hören: »He, Sie da!« Ein Individuum (in 90 % der Fälle ist es der Gemeinte) wendet sich um in dem Glauben, der Ahnung, dem Wissen, es sei gemeint, und erkennt damit an, dass es »gerade es ist«, an den sich der Anruf richtet. Aber in Wirklichkeit gehen die Dinge ohne jede zeitliche Abfolge vor sich. Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ist ein und dasselbe.

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Eine gelingende Anrufung setzt demnach voraus, dass der oder die Gemeinte sich selbst als Angerufene(r) und qua Anrufung Gemeinte(r) anerkennt. Das geschieht in dem Moment, in dem sich der oder die Angerufene umdreht und die Adressierung damit bestätigt. Gut möglich, dass sich auf den Ruf »He, Sie da!« hin auch jemand umdreht, der vom Absender (bei Althusser: vom Polizisten) gar nicht gemeint war. Gut möglich ebenso, dass das »He, Sie da!« von jemandem gerufen wird, der kein Polizist ist – und trotzdem werden sich Leute umdrehen, die sich als »genau« Gemeinte adres­ siert gefühlt haben werden. Das Modell weist so gesehen einige Unschärfen auf, die Althusser zwar in Ansätzen sieht, aber nicht weiter bedenkt, vor allem in der Hinsicht nicht, dass die Anrufung in seinem Modell ein Verständnis von Sprache impliziert, das durch die Figur des Polizisten sowie durch die damit aufgerufene Staatsgewalt im Grunde immer schon als institutionalisierte Form von Kommunikation und Macht sowie, damit einhergehend, von Subjektivität definiert ist (mit allen Vor- und Nachteilen, die sich hieraus für eine Kritik des Verhältnisses von Institution, Macht und Subjekt ergeben). Allerdings hatte Althusser durchaus bereits im Blick, dass es bei der Anrufung immer um die Konstitution von (mindestens) zwei Subjekten geht. Es gibt nie bloß das angerufene Subjekt, sondern immer auch so etwas wie ein anrufendes (und seinerseits angerufenes oder sich anrufendes) Übersubjekt (in den monotheistischen Religionen: Gott). Außerdem gibt es diejenigen Subjekte, die sich darum bemühen, im Namen jenes machtvollen Übersubjektes zu sprechen (wodurch sie dieses – und sich selbst als machtvolle Agenten – erst konstituieren).15 Althusser vertieft diesen Punkt nicht. Was die Frage nach dem verletzenden Sprechen angeht, so ist jedoch gerade der Umstand der Inanspruchnahme von Macht durchs Sprechen entscheidend. Wer oder was legitimiert einen, im Namen einer Macht – welcher auch immer, so wäre im Anschluss an Althusser zu ergänzen – zu sprechen? Und mit welchen Folgen? Wenn ich den anderen anrufe, indem ich ihn verletze, rufe ich bewusst oder unbewusst zugleich die Position der Macht an, die meine Rede mit Wirkung ausstatten soll: ›So ist es!‹ oder ›So soll es sein‹!16 Wird diese Position aber als grundsätzlich leer anerWas man sagt, ist man selber | 195

kannt, dann ist auch niemand und nichts da, der oder das einen mit der Macht der anrufenden ›Konstitution‹ – oder, im Falle von Hatespeech: ›Dekonstitution‹ – des anderen versehen könnte.17 Was dann übrigbleibt, ist nur noch das banale Begehren nach persönlicher Selbsterhöhung und Selbstermächtigung. Übrig bleibt dann allerdings auch die Frage, inwiefern ein solches Begehren überhaupt Anklang finden und Wirkungen zeitigen kann. Oder konkreter: Wer ist (oder welche Gruppen sind) bereit, dieses Begehren zu fördern – oder zu unterbrechen, zur Kenntlichkeit zu entstellen? Welche Medien, Netzwerke, Techniken und Kommunikationskanäle werden dazu – und wie? – genutzt? Welche ökonomischen, politischen und juristischen Rahmenvorgaben und Interessen bestimmen diese Prozesse mit? Und wie lassen sich diese Vorgaben und Interessen allenfalls ihrerseits nutzen oder ändern?

Nach Althusser, Foucault, Butler Im Anschluss an Althusser stellt sich tatsächlich die Frage, wie monolithisch Ideologie zu denken ist, zumal wenn davon auszugehen ist, dass ideologische Macht im (nicht vorhandenen) Kern leer und ihrerseits überhaupt nur als Effekt entsprechender sozialer, politischer, ökonomischer und sprachlicher Handlungen und ihrer diskursiven, medialen und institutionellen Korrelate zu bestimmen ist. Die zweite Frage, die sich hier anschließt, ist erneut die nach der Richtung und Konstitutionslogik von Sprechakten oder, überhaupt, von Sprachhandlungen. Auf die zweite Frage geht Butler in ihrer Auseinandersetzung mit Althusser nicht (oder nur indirekt) ein, auf die erste hingegen schon. Mit erkennbarem Bezug auf Foucault (und implizit auf Derrida) kritisiert sie am Modell der »theoretischen Szene« mit dem Polizisten bei Althusser die Konzentration auf die Stimme und fordert – zu Recht – eine Ausweitung des Modells auf schriftliche und andere Formen machtvoller Kommunikation, kurzum auf Diskurse und Praktiken.18 Außerdem interessiert sich Butler für Formen des Zurücksprechens, der Widerrede, des Einspruchs sowie darüber hinaus und grundlegender noch für die Möglichkeit des Misslingens von Sprechakten. Butler hebt mit Blick auf Hatespeech eigens her196 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

vor, dass das ›Funktionieren‹ einer verletzenden Anrufung schiefgehen kann, da jedes Sprechen grundsätzlich »verwundbar, anfällig für ein Misslingen« sei.19 Auf dieses Misslingen der Verletzung konzentrieren sich auch zahlreiche subversive Praktiken gegen Hatespeech. Sie versuchen die Schimpfwörter für die Abwertung unbrauchbar zu machen, sich auf das Spiel des verbalen Krieges gar nicht einzulassen. Es wird nicht zurückgefeuert, sondern das Wort wird im Gegenteil mit ­einem Schick oder einer Coolness ausgestattet. So erfolgte zum Beispiel die Enteignung und Umwertung der Hassvokabeln ›nigger‹, ›bitch‹, ›Kanake‹, ›Spaghetti‹, ›queer‹ in ganz unterschiedlichen Subkulturen. Die ironische ›Selbstorientalisierung‹ oder ›Selbstbalkanisierung‹ verfährt ähnlich. Da werden jene Begriffe, mit denen in der Regel Europäer oder Nordamerikaner ›fremde‹ Kulturen bezeichnen – wild, unzivilisiert etc. – zur liebevollen Selbstbezeichnung umbenutzt und dadurch zumindest in bestimmten Milieus entmachtet. Eine der interessantesten neueren Antworten auf die Hasssprecher ist das von der Journalistin Ebru Taşdemir ins Leben gerufene Showformat der ›Hate Poetry‹: Journalistinnen und Journalisten lesen – sich vor Lachen krümmend – die gegen sie gerichteten Schimpftiraden vor Publikum vor und verteilen Preise für die krasseste Beleidigung.20 Die Idee ist nicht so sehr auf die Enteignung der Schimpfwörter gerichtet, auch nicht auf die zumeist anonyme Person des Hassschreibers, sondern auf das Auslachen und das Entwerten der Überlegenheitserzählungen: Ich finde, Sie müssten demütiger sein. Wenn wir Deutschen Ihre Großeltern nicht reingelassen hätten, dann würden Sie jetzt wahrscheinlich ein Kopftuch tragen, sechs Kinder haben und bestimmt nicht für den Spiegel schreiben – wenn Sie überhaupt schreiben könnten.21

So lautet die sich selbst entlarvende Logik einer deutschen Kommentarschreiberin. Eine andere Möglichkeit besteht wie eingangs erwähnt darin, die Hater aus ihrer Anonymität zu holen und den Hass in ein Argument zu zwingen. In all diesen Beispielen und ihren theoretischen Verankerungen oder Erweiterungen bleibt allerdings ein Sprachmodell leitend, das – noch und gerade im Zurücksprechen (im Sinne einer Umkehrung) Was man sagt, ist man selber | 197

und selbst im Zustand des Misslingens – Sprachwirkung jeweils eindimensional von einem Absender oder von entsprechenden Diskursen und Praktiken hin zu einem Empfänger- oder Adressatensubjekt denkt. Dieses Modell ist nicht falsch, aber es neigt dazu, die autoperformativen Rückkopplungseffekte auf Absenderseite – sowie auch die möglichen Solidarisierungseffekte auf Empfängerseite, die zu einer Verstärkung der Rückkopplungseffekte führen können – unterbelichtet zu lassen. Wichtig dabei bleibt, dass auch diese Rückkopplungseffekte misslingen können. Dies wird aber wiederum nur kohärent beschreibbar, wenn man von einem multidirektionalen Verständnis von Sprache und Sprachwirksamkeit ausgeht und innerhalb dieses Verständnisses ein besonderes Augenmerk auf die Qualität der Autoperformanz von Sprech- und überhaupt von Sprachakten und ihren jeweiligen Absendern legt.22 Versucht man, den Absender ins Geschehen einzubeziehen, dann stellt sich jedenfalls die Frage, warum dieser von seinen ›eige­ nen‹ Sprechakten nicht ebenfalls betroffen sein soll – d. h. warum die Sprechakttheorien ihn als denjenigen, auf den auch seine eigene Rede (direkt oder indirekt) wirken dürfte, ausblenden? Mit der Umkehrung der Blickrichtung wäre auch und gerade die ›abendländische‹ Tradition der Anrufung (und ihrer Sprachrohre) zu hinterfragen. Mit Blick auf die biblische Tradition, der zufolge Gott die Menschen bei ihrem Namen ruft23, wäre zu fragen, welche kommunikativen Vorkehrungen zuallererst nötig sind, damit ein solches Modell von Sprache überhaupt Plausibilität entfalten kann. Und mit Blick auf den Polizisten bei Althusser wäre zu fragen, wie sich dieser im Akt der Anrufung als Polizist bzw. als jemand konstituiert, der das durch Anrufung aufgerufene Modell von Macht und Sprachwirksamkeit in Szene setzt.

Bumerang Eine weiterführende Arbeitshypothese könnte lauten: Es gibt im Bereich der Sprache keine (positive oder negative) Konstruktion des anderen, ohne dass zugleich eine Selbstqualifikation des Absenders geschieht. Diese passiert durch das eigene Sprechen (oder Schreiben, Mitteilen überhaupt). Mit Blick auf Hatespeech heißt dies: Die An198 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

maßung, die sich in Hatespeech artikuliert, richtet sich immer auch performativ auf den Sprecher/die Sprecherin oder den Schreiber/ die Schreiberin selbst. Diese ›Selbstkonstitution‹ des Absenders müsste für die sprachphilosophische und gesellschaftliche Debatte um Hatespeech ein zentraler Punkt sein. Dann ›ist‹ das Sprechen nicht einfach performativ in dem Sinne, dass es den anderen beleidigt, auch wenn dies die Absicht sein mag. Sondern es wird deutlich, dass das Sprechen – autoperformativ – vor allem den Sprecher oder die Sprecherin selbst charakterisiert24 (was nicht heißt, dass es für den anderen folgenlos bleibt). Butler interessiert sich für den Absender vor allem dann, wenn es darum geht, Hatespeech aktiv misslingen zu lassen. In den Fällen spricht sie von einem »Zurücksenden der Drohung«, von einem »Zurücksprechen« oder »Gegensprechen«. Das ›Zurück‹ oder ›Gegen‹ zielt darauf ab, die losgeschickte Drohung selbst umzuwerten und dadurch gar nicht erst ankommen zu lassen. Wie bereits angedeutet, ist in dieser Logik allerdings das Misslingen erneut vom Empfänger her gedacht – nur dass dieser sich dann selbst in die Position des Sprechers bringt. Im Modell des Bumerangs hingegen wird der Akt der Selbstqualifikation oder der Selbstcharakterisierung des Sprechers von Anfang an mitberücksichtigt. Eine derartige ›Selbstbeleidigung‹ hat die deutsche Komikerin İdil Baydar in ihrer Rolle als Jilet Ayşe – einer 18-jährigen Kreuzberger Türkin – künstlerisch auf den Punkt gebracht. Unter dem Motto »Wir sagen uns heute alles in die Fresse«, »gleich direkt drauf«, »jetzt können wir uns alles sagen, ich bin dabei«, karikiert sie in ›Kanak Sprak‹ die Obszönität aller, die gerade gegen die angebliche Political-Correctness-Diktatur ihre persönlichen Ressentiments als »endlich mal Tacheles reden« verkaufen. Baydar lenkt die Aufmerksamkeit auf die Hassredner: Wenn ich zu dir ›Fotze‹ sage – ja: Was sagt das über mich aus? Mal drüber nachdenken: Was sagt das eigentlich über mich aus, wenn ich Dich so betitle? Was heißt das eigentlich? Wer bin ich? Ist mein Niveau höher? […] Wer ist verantwortlich, wenn ich dich ›Fotze‹ nenne, du oder ich? Du, weil du eine Fotze bist, oder ich, weil ich dich so bewerte? […] Man hat das alles selbst in der Hand. So, wie ich dich sehe – habe ich selbst in der Hand.25

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Baydar macht deutlich: Hatespeech gibt zuallererst Auskunft über den Rassismus, den Sexismus, den Nationalismus, das Ressentiment und also das Problem des Absenders. Sucht man nach Beispielen, kann man in letzter Zeit aus dem Vollen schöpfen: Wenn die Schweizerische Volkspartei (SVP) auf einem Plakat gegen »Masseneinwanderung« den Satz »Kosovaren schlitzen Schweizer auf!« anbringt26, dann sagt dies nichts über Kosovaren aus, sondern darüber, wie man sich durch einen Sprechakt als Rassist konstituieren kann. Oder: Wenn man in ostdeutschen Städten das Wort ›Fidschi‹ hört, dann sagt das nichts über jene Vietnamesen aus, die damit absurderweise gemeint sein sollen, sondern etwas über den Rassismus und die Dummheit des Absenders, der noch nicht einmal den Unterschied zwischen den Fidschi-Inseln und Vietnam kennt. Und nicht zuletzt: Wenn männliche Fußballfans die Moderatorin Claudia Neumann, die im Jahr 2016 (!) als erste Frau bei einer Fußballeuropameisterschaft ein Spiel der Männer im öffentlich-rechtlichen Fernsehen moderierte, als »Kampflesbe« oder »Schlampe ohne Pimmel« bezeichnen, dann führt das nicht zur ›Subjektkonstitution‹ von Claudia Neumann, sondern die Hasslawinen führen auf erschreckend banale Weise den Frauenhass einiger Fußballfans sowie den enthemmten Sexismus in Onlinekommentaren vor.

Abwertung und Selbstaufwertung Man könnte die Reihe endlos fortsetzen und dabei immer beobachten: Die angestrebte Abwertung des anderen entspringt stets dem Wunsch nach Selbstaufwertung und Selbstermächtigung. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Hassredner, sondern auch für ganze Gruppen, wobei man es in diesem Fall mit dem Versuch einer kollektiven Selbstaufwertung zu tun hat. Auf diese kollektive Selbstaufwertung spielt Baydar in ihrem Beitrag zum Ich und Du der Beleidigung an, wenn sie kurz auf Jan Böhmermanns Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu sprechen kommt. Das als »Ziegenficker-Hate« bekannt gewordene Schmähgedicht, von dem Böhmermann einleitend gesagt hatte, dass man so etwas im deutschen Fernsehen nicht sagen dürfe, wertet sie nicht einfach als eine von Böhmermann provozierte Beleidi200 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

gung, sondern als ein Zitat des kollektiven deutschen Ressentiments gegenüber Türken. Böhmermanns Schmähgedicht führte – so gedacht – vor allem die deutsche Hassrede gegenüber Türken auf und war somit weniger an Erdoğan als an das deutsche Publikum adressiert.27 Daraus lässt sich schlussfolgern: Jedes Publikum hat es – wie jedes Individuum – selbst »in der Hand«, nicht nur den Akt der Hassrede zu unterlassen, sondern deren Entblößung selbst als Akt zu begreifen: als einen Akt der Ermächtigung. Es ist gut möglich, dass Baydar Butlers Buch gelesen hat, zumindest erinnert der Satz »Man hat das alles selbst in der Hand« stark an jenen, den Butler in ihren Ausführungen zu Hatespeech aus Toni Morrisons Nobelpreisrede von 1993 zitiert: »Es liegt in eurer Hand.« Morrison beschloss mit diesem Satz ihre Parabel über die Macht der Rede. Sie meinte damit ebenfalls die Hände derer, die sprechen, und nicht die Hände derer, die angesprochen werden. Die Parabel erzählt von zwei Kindern, die eine blinde Frau auffordern zu raten, ob der Vogel in ihrer Hand tot oder lebendig sei. Die blinde Frau weist die Frage an die Kinder zurück, indem sie sagt. »Es liegt in eurer Hand.«28 Damit sagt die blinde Frau etwas ganz Ähnliches wie der vermeintlich naive Kindergartenspruch: Das ›Zurücksprechen‹ der blinden Frau gibt nicht nur die Beleidigung zurück, es besagt zugleich, dass der Absender es in der Hand hat, wie er spricht, wie er handelt, wie er Gewalt unterlassen kann und wie er (auch) dadurch sich selbst als Subjekt, und zwar als ein bestimmtes Subjekt, konstituiert. Wenn die Wirksamkeit von Sprache nicht in der Sprache selbst liegt, sondern in der Art und Weise, wie eine (größere oder kleinere) Gesellschaft Sprache verwendet, dann ist die Wirkung von Sprache auch veränderbar. Das ist im Übrigen auch eine der zentralen Thesen aus Butlers Buch. Dieser Gedanke lässt sich aber noch weiterführen, wenn man berücksichtigt, dass auch das Sprachdenken von Gesellschaften – u. a. die Fixierung auf den Adressaten bzw. den Glauben an die Wirksamkeit der Rede – veränderbar ist: In einer Gesellschaft zu sprechen, die davon ausgeht, dass es primär der Absender ist, der sich durch Hatespeech charakterisiert, wäre Hassrede vor allem ein persönliches Risiko für denjenigen, der sie von sich gibt.29

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Performative Fakten Die in den vergangenen Jahren verstärkt geführten Diskussionen um das Verhältnis von Fakt und Fiktion vor allem in der politischen Rede, aber auch im Journalismus (wie im ›Fall‹ Relotius30), neigen dazu, einen Begriff von Wahrheit einzufordern, der begleitet wird vom Wunsch einer strikten Unterscheidbarkeit von Rhetorik und Logik31 oder von Bullshit und Richtigkeit.32 Der im Zweifelsfall juristisch zu klärende und zu sanktionierende Wahrheitsgehalt einer Aussage, der ebenso auf der Bühne der Politik mit Argumenten und Gegenargumenten zu ermitteln ist, kennzeichnet allerdings nie von sich aus einen Wert. Einen solchen kann er – in der Politik, im Alltag oder in der Wissenschaft – nur im Diskurs gewinnen. Deshalb ist es zwar gut, wenn richtige Aussagen von Falschaussagen unterschieden werden. Aber in den seltensten Fällen dürfte damit bereits etwas erreicht oder auch nur schon die Aufmerksamkeit auf die relevanten Fragen gelenkt sein. Denn diese liegen oftmals gar nicht auf der Ebene der Richtigkeit oder Falschheit einer Aussage, sondern auf der Ebene der Praktiken und Handlungen, die mit Sprache vollzogen werden: mitsamt den Implikationen und Folgen, wie sie vorhin im Feld von Hatespeech diskutiert worden sind. Auf den Sprechakt ›Du Schlampe!‹, der zugleich eine Aussage impliziert (›Du bist eine Schlampe‹), lässt sich zwar antworten: ›Nein, das stimmt nicht!‹ (oder gar: ›Das stimmt aus den Gründen a, b und c nicht!‹). Aber eine solche Reaktion nähme den Akt zugleich auf einer Ebene (eines mutmaßlich akzeptablen Aussagegehalts) ernst, die für seine Funktion, die der bloßen Disqualifizierung dient, gar keine Angriffsfläche bietet (und zwar schon aufgrund des in sich fragwürdigen Begriffs ›Schlampe‹ nicht). An dem Beispiel lässt sich nicht nur zeigen, wie hilflos oder gar grotesk die Strategie einer argumentativen Widerlegung auf der Ebene des Aussage- oder gar Wahrheitsgehaltes ausfallen kann. Es lässt sich auch zeigen, inwiefern eine Konzentration auf die Frage nach richtig oder falsch – oder weiter – Fakt und Fiktion – schlicht den Einsatz verfehlen kann, um den es in diesen Akten oft primär geht, selbst wenn diese Anteile von Aussagen in sich tragen oder von Aussagen begleitet werden.33 Viel wichtiger ist es zu sehen, dass diese Akte selbst eine Tatsache sind: Es gibt sie, sie finden statt, und sie provozieren Reaktionen 202 | Sylvia Sasse und Sandro Zanetti

schlicht dadurch, dass es sie gibt, und zwar unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Wenn beispielsweise der ehemalige US-amerikanische Präsident Donald Trump Analysen seiner Gegner grundsätzlich als ›Fake News‹ disqualifiziert, dann handelt es sich bei diesem Akt der Inversion nicht einfach um ›Bullshit‹ in dem Sinne, dass Trump sich um die Unterscheidbarkeit von ›wahr‹ und ›falsch‹ nicht kümmern würde. Sondern es handelt sich um einen Akt der Auto­ performanz, der von Anfang an mit dem Effekt rechnet, dass der Akt der prinzipiellen Disqualifikation des Gegners eine Selbstnobilitierung zur Folge hat. Diese Rechnung geht aber nur dann nicht auf, wenn das gesamte Zusammenspiel von Autoperformanz und  – in diesem Fall – Selbstermächtigung durchschaut und als solches kenntlich gemacht wird. Akte sprachlicher Selbstermächtigung sind in dem Maße, wie es sie gibt und wie sie unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt Wirkungen zeitigen, performative Fakten, die eine entsprechende theoretische Einstellung erfordern, damit sie überhaupt lesbar und begreifbar werden. Die wirklichkeitsschaffende oder, mit Althussers neophänomenologischer Formulierung gesprochen, ›konstituierende‹ Funktion von Sprache ist – ebenso wie die Möglichkeit ihres Misslingens – ihrerseits eine Tatsache, die man mit richtigen (oder falschen) Aussagen sowie mit entsprechenden Argumenten nicht nur nicht aus der Welt schaffen kann. Es stellt sich auch, und zwar primär, die Frage, an welchen Stellen Argumente überhaupt greifen – und an welchen nicht. Deshalb ist es auch mit Blick auf die Frage nach Fakt und Fiktion in der Politik und anderswo wichtig und vielversprechend, die noch weitgehend unausgeschöpften Potenziale der Sprechakttheorie – oder einer erneuerten (umfassenderen) Sprachakt- oder Performativitätstheorie – zu erkennen, um mit ihnen analytisch arbeiten zu können. Die Frage nach der wie auch immer gelingenden oder misslingenden Selbstkonstitution (›Autoperformanz‹) und Fremdkonstitution (›Heteroperformanz‹) entsprechender Subjekte oder Akteure in diesem Feld ist umso wichtiger, je mehr mit den entsprechenden Akten und etwaigen Gegenakten der Eindruck erweckt werden soll, bloß von Fakten und nicht auch von Fiktionen, Paradigmen, Rhetoriken, Modellen, Diskursen, Medien, Begehrensstrukturen sowie diesbezüglichen Machtansprüchen zu sprechen.

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Peter Waterhouse

Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, ­banners, and Ponging, eh! Gravity makes things come down, wings make them rise: what wings raised to the second power can make things come down without weight? Simone Weil, Gravity and Grace (geschrieben vor 1942; erschienen 1947 unter dem Titel La Pesanteur et la grâce, übersetzt ins Englische von E. Crawford) und während sie den Menschen lehrt, seiner ›Eigentlichkeit‹ hinterherzulaufen, überlässt sie ihn denen, die daran interessiert sind, ihn gleichzuschalten, und bringt ihn um seine Freiheit. Günther Anders, Pathologie der Freiheit. Versuch über die Nicht-Identifikation (erschienen 1936 unter dem Titel Pathologie de la liberté. Essai sur la non-identification, deutsches Original verschollen, von P.  A. Stéphanopouli übersetzt ins Französische, rückübersetzt von W. Reimann) A plausible future requires a factual present. Timothy Snyder, The Road to Unfreedom (2018)

Now, what I want is, Facts. Mit diesen Worten beginnen die HARD TIMES von Charles Dickens, ein Roman, dessen Schauplatz die mittelenglische Industriemetropole Coketown ist (vielleicht Manchester). Der Schuldirektor spricht, er steht vor einer Schulklasse, ohne daß er sie unterrichtete. Teach these boys and girls nothing but Facts. Facts alone are wanted in life. Plant nothing else, and root out everything else. You can only form the minds of reasoning animals upon Facts. Stick to Facts, sir. Das Wort Facts, wie man sieht, schreibt der Erzähler oder der Autor in jedem Fall mit einem großen Anfangsbuchstaben, ob das Wort am Satzanfang steht oder im Satz. Facts wird groß geschrie205

ben, wie man in englischen Sätzen Namen schreibt. Ist Facts ein Name? Ein Name im Sinne dessen, der da spricht, im Sinne des Herrn Schuldirektors? Ist es sein Name? Sein als Name erkennbarer Name wird im ersten Kapitel der HARD TIMES nicht ausgesprochen. Heißt er de facto Facts? Der Schuldirektor hat im ersten Kapitel keinen Namen, aber das Wort Facts sieht aus wie ein Name – klingt nicht wie einer, sieht aber wie einer aus. Er sagt: Now, what I want is, Facts. Sagt er damit, daß ihm der Name fehle? To want, fehlen? Es fehlt mir der Name Facts; ich heiße anders; aber so sollte ich heißen: Facts? Auf Deutsch (oder Lat.-Dt.) zum Beispiel: Fekt. Das Gegenteil von Defekt. Thomas Fekt. Oder Thomas Fizit. Gegenteil von Thomas Defizit. Defectus: das Fehlende, Schwindende, Schwache. Arma deficiunt, die Waffen versagen. Munimenti deficiunt, die Bauten werden baufällig. Wie schön, daß das Wort defectus es geschafft hat ins Englische und Deutsche, doch gibt es weit und breit kein fectus. Der Motor hat einen Defekt, wie schön. Aber er hat keinen Fekt, auch das ist schön. Wir lernen die Fakten, lernen wir auch die Defakten? Wir lernen, daß de facto faktisch bedeutet und nicht defaktisch. When we speak about facts, should we bear in mind that they are faces? Facies, ­faciei, Gestalten, Figuren, Formen, Anblick, Schein und Anmut und Schönheit der Gesichter. Direktor De Facto wird beschrieben als Bau. Sein Zeigefinger ist quadratisch und könnte ein Industrieprodukt sein. Er dürfte sehr breit und sehr kurz sein. Er könnte produziert worden sein oder gefaktet, in einer der vielen Fabriken, ein Fabrikat. Aber das lateinische fabre-factus ist doch das Kunstwerk? Was fehlt Direktor Faktor, um ein Kunstwerk zu werden? * Mit bürgerlichem Namen heißt er Thomas Gradgrind, so nämlich gleich zu Beginn des zweiten Kapitels. Ist Gradgrind ein Name oder ein Faktum, ein Industrieprodukt? Sein Familienname könnte ein Werkzeug sein, eine Maschine bezeichnen, einen Klassenquäler. Genau genommen heißt er nicht so, sondern stellt sich zu Beginn des zweiten Kapitels so dar: Thomas Gradgrind, sir. Einen 206 | Peter Waterhouse

Augenblick später sagt er: Thomas Gradgrind, sir – peremptorily Thomas – Thomas Gradgrind. Was sagt er über seinen Vornamen, seinen vielleicht einzigen wirklichen Namen, denn Gradgrind ist vielleicht weniger ein Name als ein Faktum? Was sagt er hier über seinen defaktischen, defekten Namen? Er nennt seine Herstellung: peremptorily. Er macht den Namen damit zu etwas, das man nicht nennt, er bezeichnet ihn. Und zwar bezeichnet er ihn als schlüssig und absolut, als ein Faktum, das keinen Widerspruch und kein Zögern duldet. Wörtlich bedeutet das Wort sogar: zerstörerisch, tödlich. Thomas ist nicht Thomas’ Name, sondern drückt Faktisches aus. Stellt er sich vor, am Beginn des zweiten Kapitels, indem er sagt: Thomas Gradgrind, sir? Warum sagt er sir? Zu wem sagt er sir? Jener Sir hat jedenfalls keinen Namen. Er stellt sich als Thomas Gradgrind – unwiderlegbar Thomas – jemandem vor, der keinen Namen hat. Er stellt sich diesem namenlos Faktischen vor als seinerseits namenloses Faktum oder Produkt, als ein Klassenquäler. Er stellt, so könnte man fast meinen, sich sich selbst vor, sich als Namenloser einem Namelosem. Er spricht mit namenlosen Worten. Von seinen namenlosen Worten berichtet an dieser Stelle auch der Erzähler und sagt: In such terms Mr. Gradgrind always mentally introduced himself, whether to his private circle of acquaintance, or to the public in general. Er spricht keinen öffentlichen Kreis an und im privaten Kreis nicht seine Bekannten: sondern immer sich selbst. Er spricht zu sich selbst sich selbst an und scheint damit seine Faktizität zu erhärten (mentally oder metallically). Den schwachen Vornamen spricht er in diesem Selbst- oder Nichtgespräch nur aus, weil er weiß, daß er gehärtet worden ist und unzweifelhaft gemacht. In seinem an Tatsachen orientierten Sprechen spricht etwas Absprechendes und Unduldsames. Seine Ansprache an die Schulklasse sieht so aus: In such terms, no doubt, substituting the words ›boys and girls‹ for ›sir‹, Thomas Gradgrind now presented Thomas Gradgrind to the little pitchers before him, who were to be filled so full of facts. Gewöhnlich spricht er in seiner namenlosen Sprache sich selbst an und sagt in Gedanken immer sir zu sich – ohne in Gedanken lange nachzudenken. Vor der Schulklasse ersetzt er das Faktum (oder Monstrum) sir, durch boys and girls – das Faktum TG durch das Faktum BG. Er stellt Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, b­ anners, and Ponging, eh! | 207

der Klasse einen Klassenquäler vor oder zeigt ihn: zeigt nicht sich, sondern ihn. Zeigt ihn den kleinen Kindern, to the little pitchers (den kleinen leeren Krügen, die gefüllt werden müssen). Er zeigt den Kindern offenbar eine Sache, ein Ding. Sich selbst de facto. Thomas Factory Gradgrind stellt Sir Fact vor. Der Fertige steht vor den Unfertigen – und wie schön sind diese vielen kleinen Unfertigen, mit schönen Gesichtern, welche immer unfertig sind; darunter das schöne Gesicht von Sissy Jupe, das ich nicht sehen kann. * Gradgrind prüft Sissy Jupe. Er verlangt von ihr, daß sie definiere, was ein Pferd ist. Er erwartet von ihr die Aufzählung einiger Fakten, er erwartet wahrscheinlich, daß sie Pferde als Vierbeiner bezeichne. Die Prüfungsfrage stellt er, weil Sissy Jupe zuvor gesagt hat, auf die Frage nach seinem Beruf, daß ihr Vater zur Pferdereiterei gehöre. Gradgrind weiß also, daß Sissy Jupe mit Pferden vertraut ist. Warum fragt er sie, was Pferde sind, was sie faktisch sind? Als Gradgrind erfährt, daß Jupe senior zur Pferdereiterei gehört, winkt er ab, wirft einen verärgerten Blick auf Sissy. Er hält ihre Antwort für inakzeptabel, objectionable, ihre Wortwahl beanstandet er, er hält sie für fraglich oder falsch, sogar widerlich, anstößig, vielleicht sogar böse. Er sagt: Wir wollen nichts darüber erfahren, hier, in der Schule. Du sollst darüber nicht sprechen, hier. Auf die Frage: Was ist dein Vater?, sagt Sissy Jupe nicht: Er ist (das oder das). Sie antwortet: Er gehört zur Pferdereiterei, wenn es Ihnen beliebt, Sir. Sie sagt nicht, was er ist. Also übernimmt es Gradgrind zu sagen, was er ist. ›Your father breaks horses, don’t he? He doctors sick horses, I dare say?‹ In Sissys Antwort gibt es mehr Widerrufung als Behauptung. Ihr Vater ist selbst nichts, aber er gehört einer Sache an. Seine Angehörigkeit macht ihn zu nichts Bestimmtem, zu nichts Definierbarem. Er ist kein Pferd, er ist kein Reiter. Wenn es Ihnen beliebt: In Sissys Satz gibt es eine Einschränkung, auch ein Zögern. Einen etwas anderen Zeitverlauf also. Der Satz hofft auf das Wohlwollen des Anderen und anerkennt den Anderen. Er erlangt seine Gültigkeit durch das Wohlwollen; durch das Willkommensein. Er appelliert an das Wohlwollen, vielleicht so wie die Zirkusleute mit ihrem Tun an das Wohlwollen des Publikums appellieren. Mit 208 | Peter Waterhouse

ihrem Tun? Mit ihren Tatsachen? Oder mit ihren Theatersachen? Gradgrind ahnt und fürchtet, daß im Zirkusrund Dinge geschehen – dort alles geschieht und dabei nichts ist. Er ahnt es oder spürt, daß dort Pferde nicht recht, nicht tatsächlich Pferde sind. Die Prüfungsfrage, die er Sissy Jupe stellt – Give me your definition of a horse –, soll Sissy und die Pferde aus dem Zirkus hinausführen. Er ahnt es schon: Die Pferde und alle anderen im Zirkus können fliegen. Ohne sich vom Erdboden zu lösen und ohne Flügel können sie fliegen. Unbeschwingt können sie beschwingt sein. Er spürt, daß dort alle leichter werden können, luftiger. Daß die, die schwer sind und ein beschwerliches Leben führen, auch unbeschwert sind (wie heute die Bewohner des großen Zirkus Izmir am Ägäischen Meer). Daß sie fast nichts sind und dem Zirkus angehören. Er spürt, wie schwer es ist, dieses Nichts zu beschreiben. Wie leicht die Beschreibung werden müsste. Spürt er auch, wie leicht das Leichte zu erlernen ist? Sieht er seine Schule in Frage gestellt? Er reitet Pferde zu oder unterrichtet sie. Er verarztet sie auch. Also ist er ein Arzt. Er ist, resümiert Gradgrind, ein Tierarzt, ein Hufschmied und ein Zureiter. Gradgrind bringt Sissys Vater zurück auf den Boden der Tatsachen. Und jetzt definiere mir, in diesem Sinn, ein Pferd. (Sissy Jupe thrown into the greatest alarm by this demand.) Sissy Jupe fühlt sich aufs Höchste bedroht von der Forderung, dem Befehl. Gewiß spürt sie, gewiß spüren wir immer noch und kaum mehr, daß to give und to demand einmal eins waren, im Lateinischen das Wort demandare anvertrauen und geben bedeutet (Mandat, das in die Hand Gegebene). Give me your definition. ­Manus, die Hand, in einer frühen Schicht des Deutschen der munt (ahd. munt, Hand, siehe Mündel und Vormund). To demand, wie ermuntern. Fühlt Sissy Jupe sich bedroht und verletzt von der Vertrauenslosigkeit des Befehls? Fliegen bei ihr zuhause in der Reitbahn und Manege alle, alle Dinge, voller Vertrauen? Geht das Publikum in den Zirkus, nicht um das Risiko zu erleben, sondern das Vertrauen und die vielen Hände und Mandate? *

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Wenn keiner etwas ist, auf der Reitbahn, im Zirkusrund, was tun oder werden sie dort? Das Leichte, das schwer zu sagen ist, das nur leicht zu sagen ist? Zunächst befolgt ein Mitschüler den Befehl Gradgrinds. Bitzer. Your definition of a horse. Er antwortet: Vierbeiner. Pflanzenfresser. Vierzig Zähne, nämlich vierundzwanzig Kauzähne (grinders), vier obere Eckzähne und zwölf Schneidezähne. Genau genommen sagt er: Quadrupede, Gramineenfresser. Ob er weiß, was er sagt? Wie wird aus Fakten Wissen? Und wie werden sie wirksam im Denken? Bitzer sagt auch: Wirft im Frühling das Fell ab, wirft in sumpfigen Gegenden auch die Hufe ab. Hufe hart, müssen aber mit Hufeisen beschlagen werden. Alter erkennbar an Spuren im Mund. Das sagt er und das sagt er auch wieder nicht. Der Erzähler und der Autor hören ihm zu (und ich aus der Ferne) und wir hören und bemerken, daß Bitzer, so der nicht sehr namentliche Name des Schülers, etwas tut, was vielleicht auch die Zirkusleute tun. Oder tut es nicht wirklich er, sondern tut es die Sprache; und er spricht, ohne ihr zuzuhören oder anzugehören? Er sagt auf Englisch in Klassenquälers Schulinstitut: Sheds coat in the spring; in marshy countries, sheds hoofs, too. Hoofs hard, but requiring to be shod with iron. Erzähler und Autor und ich hören Bitzer zu, vielleicht aufmerksamer als der Schuldirektor, der mit der Auskunft und den Fakten zufrieden ist. Er hält die Antwort einfach für richtig. Wir drei Anderen hören in den Worten etwas, was nicht einzuteilen ist in richtig oder falsch. Hören: sheds coat, sheds hoofs, shod with iron. Wir hören und fragen uns, ob shed und shod verwandte Wörter sind, ob shod das Imperfektum von to shed bildet. A horse sheds its coat; the horse shod its coat? Wenn dem so ist, was bedeutet dann: shod with iron? Abgeworfen mit Hufeisen? Oder ist das Wort shod die Vergangenheitsform eines ganz anderen Worts? Und die Vergangenheitsform von shed? Nicht shod, sondern? Und shod, welcher Infinitiv ist abgewandelt und gebeugt worden, wenn nicht to shed? Wer Deutsch spricht, kann mit einer gewissen Sicherheit sagen: beschuhen. Shod ist wie beschuht. Die Nennform ist: to shoe. Bleibt eine Unentschiedenheit? Der manege-, pferd- und zirkusunerfahrene Klassenlehrer Mr. M’Choakumchild (Herr R. Würgeskind) beginnt mit dem Unterricht. R. Würgeskind hat gerade alle Schritte zum Grundschul210 | Peter Waterhouse

lehrer hinter sich, eine fünfjährige Ausbildung, die 1846 in England verpflichtend eingeführt wurde und ein höheres Bildungsniveau gewährleisten sollte. Der Erzähler zählt auf: Orthography, etymology, syntax, and prosody, biography, astronomy, geography, and general cosmography, the sciences of compound proportion, algebra, landsurveying and leveling, vocal music, and drawing from models, were all at the ends of his ten chilled fingers. He had worked his stony way into Her Majesty’s most Honourable Privy Council’s Schedule B, and had taken the bloom off the higher branches of mathematics and physical science, French, German, Latin, and Greek. He knew all about all the Water Sheds of all the world, and all the histories of all the peoples, and all the names of all the rivers and mountains, and all the productions, manners, and customs of all the countries undsofort. Nein, nicht bei der Kombination Landvermessung und Vokalmusik, nicht bei der Aufzählung aller Geschichten aller Völker unterbrechen Erzähler und Autor die Aufzählung des Wissens – mehr Wissenschatz als Wissenschaft – des Grundschullehrers M’Choa­ kumchild, sondern bei den Worten all about all the Water Sheds of all the world, denn sie erinnern sich vielleicht an sheds coat und sheds hoofs und an die hoofs shod. Nach der Behauptung: He knew all about all the Water Sheds of all the world, sagen Erzähler und ­Autor in Klammern: (whatever they are). Was auch immer diese sind. Was sind Water Sheds? They are … They belong to … He belongs to the horse riding, if you please. Ließe sich Sissy Jupes damalige Antwort (auf die Frage: What is your father?) übersetzen in: Es verlangt ihn nach der Pferde-Reiterei? What they are – what water is – was Water Sheds sind, wird ebensowenig beantwortet wie die Frage, was Sissy Jupes Vater ist. * Was und what Water Sheds sind und are, wie könnte man die Frage falsch beantworten? Könnte eine falsche Antwort lauten: ohne den Buchstaben o sind sie nicht beschreibbar? Warum und wieso? Sheds coat in the spring; in marshy countries, sheds hoofs, too. Hoofs hard, but requiring to be shod with iron. Das Wort shed ist umgeben oder umschrieben mit vielen Kreisen oder Reifen oder loops oder runNine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, ­banners, and Ponging, eh! | 211

den Buchstaben. Sheds hoofs too, hoofs hard, an dieser Stelle werden sechs kreisrunde Buchstaben geschrieben und man könnte meinen, daß diese vielen Loops und Kreise helfen, das Wort shed zu erklären. Die vielen Rundungen und Kreise und Loops seem to belong to the sheds. Warum ich nach der falschen Antwort suche? Sissy Jupe hat es nicht gewagt, Schuldirektor Gradgrinds Frage zu beantworten. Er will nur richtige Antworten hören. Sissy Jupe fürchtet sich vor der falschen Antwort und gibt gar keine. Ihr Mitschüler gibt dann die richtige Antwort. Es fehlt also noch die falsche Antwort. Ist die falsche Antwort eine kleine kreisrunde Öffnung an unerwarteter Stelle oder irgendwo auf einer Rückseite, zum Beispiel der Rückseite einer shed, einer Überdachung. Haben Dickens’ HARD TIMES selber Hufe, nämlich hoofs; jongliert die Sprache? Sehe ich einen Jongleur, einen Spielmann? Sind die Leser von Dickens, die Leser von hoofs, loopholes und hoops, Zuschauer im Zirkus Dickens? A Water Shed ist also keine Wasserscheide. M’Choakumchild weiß, was sie ist, und er könnte die Schulklasse im Fach Geographie darüber unterrichten. Allerdings weiß er nicht, daß die Water Shed nicht ist. Schade, er sagt im Unterricht sehr wahrscheinlich nicht: it belongs. Nicht, daß sie belangt. Nicht, daß die Water Shed die shed coats belangt, die shed hoofs in den Sumpflandschaften und das Beschuhen mit Hufeisen. Den Buchstaben o belangt. Die shed und die Schutzhütte belangt. Vielleicht sogar shade, shadow (absence of complete illumination) und die Schote. Warum zögern Erzähler und Dickens bei der Aufzählung des Wissens des Grundschullehrers M’Choakumchild bei dem Faktum Water Shed? Dieser weiß alles über und um Wasserscheiden in aller Welt. Und der Erzähler, der vielleicht den Zusammenhang hört, den Umkreis der Wasserhütten und Wasserhäuser, der Hufeisen, des Beschuhens, des Fellverlierens, Hufeverlierens, der Schatten, Schoten und Scheitel und Wasserscheiden und der Abwesenheit von voller Helligkeit und der Schattierung, der winzigen unterscheidenden Eigenschaften in einer und derselben Farbe, was weiß der nicht-wissende Erzähler? Indem er nicht weiß, gehört er dem Zirkus an? Tut er, was die Zirkusleute tun? *

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Auf dem Zirkusplakat war angekündigt: He was also to exhibit his astounding feat (fact) of throwing seventy-five of hundred-weight in rapid succession backhanded over his head, thus forming a fountain of solid iron in mid-air, a feat (fact) never before attempted in this or any other country. Was tun die Zirkusleute, auf der Reitbahn oder in der Manege? Jeden Tag etwas Anderes? Also immer wieder etwas, für was es keine uniformen Wörter gibt? Fliegen, ohne zu fliegen? Fliegen zu ebener Erde? Beschwingt sein ohne Schwingen? Die allerersten Spuren von ihrem Treiben in den HARD TIMES finden sich in Kapitel 3, A Loophole. Besser gesagt, die allerersten Spuren finden sich im loophole, einem Guckloch. Vielleicht einem Schlupfloch, einem Ausweg, einer Hintertüre, einer Gesetzeslücke. Am Stadtrand von Manchester – dort wo ich viel später ins bodenlose Moor lief die Brown Hills hinauf und hinab und mich duckte unter die riesengroßen Bögen des Viadukts von Uppermill, auf welchem von Spitze zu Spitze der Brown Hills die Lokomotiven die Waggons zogen und Dampfwolken, Dampfgebräu hinaufbliesen in den Himmel, so daß ich junger Wanderer und Moorling dachte, das Wetter entstehe siedend oder brauend dort in den Kesseln der Lokomotiven, die in dem wüsten Nicht-dies-und-nicht-Das vor der Industriestadt fuhren, which was neither town nor country, weder Stadt war noch Land, and yet was either spoiled, beide geplündert, das Schlachtfeld verwüstet –, am Stadtrand von Manchester hört unkind Gradgrind Direktor Klassenquäler noch immer die Militärmusik – the clashing and banging band was in full bray. Der Krach kommt aus dem Innern des Schlupflochs, aus der Lücke, aus dem Zirkus. Da drinnen klescht es und knallt, in einem Holzverschlag oder einer Bude. Vielleicht ein Zelt. A shed? Es sind die allerersten Anzeichen des Tuns der Zirkusleute, Gradgrind erfährt das Blasen der Blasmusik als Invasion, er hört eigentlich nicht, er hört nicht zu, so fühlt er sich angegriffen und fast wie auf einem Schlachtfeld, er ist konfrontiert mit Lärm und einem Feind. Die Zirkusmusiker oder -musikanten konfrontieren ihn. Er ist im Krieg. Sie nicht. Warum ich noch die Militärmusik höre? Das Kleschen, den Zusammenprall? Die Invasion? Was ist los mit meinen Ohren? Warum weiß ich von einem Schlachtfeld, der ich mich erinnere an die Brown Hills und bodenlose Wege ins Moor und die über die Spitzen Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, ­banners, and Ponging, eh! | 213

der Berge ziehenden Dämpfe und Dampfzüge? Ich erinnere mich ans Moor und das Viadukt und die Wetterbildung. Warum höre ich noch Militärmusik und Märsche und Krach? Gleich klescht es wieder. Any moment they will clash. So gehe ich mit Gradgrind mit auf die Ränder der Stadt Richtung Uppermill und Dobcross und Staley Bridge und höre die allerersten Anzeichen, Gradgrinds allererste Anzeichen vom Schlachtfeld her oder die letzten von den letzten Schlachten, doch auch die allerersten Anzeichen des Zirkus, des Zirkus Schlupfloch. Eine Fahne weht über dem Zeltspitz, ein letztes Zeichen und allererstes. Was weiß der nicht-wissende Erzähler – all the Water Sheds of all the world (whatever they are)? Weiß und tut er, was die Zirkusleute von Sleary’s Horseriding am Stadtrand von Manchester tun im Industriegebiet Preston-Bolton-Salford-Manchester-Oldham? Was tun sie dort auf der Reitbahn, im Zirkusrund? Die Blasmusik spielt manchmal kleschend und knallend in voller Lautstärke. Der Lärm beschießt Gradgrinds Ohren. Gradgrind, der Wissende, der Schuldirektor geht an dem Etablissement vorbei. Er sieht Direktor Sleary sitzen an der Kassa, fast wie sich selbst. Erschrickt der Erzähler vor dem Namen? Erschrecke ich, ohne es zu wissen? Sleary, das Wort gibt es nicht im Englischen. Doch slear gibt es, die Variante von slayer, einer der tötet, schlägt, schlachtet. Ist es Schlachtenlärm, den Gradgrind lärmen hört hinter Sleary im Zelt? Gradgrind kann nicht hineinsehen, kann nicht sehen, was diese lärmenden Leute drinnen im Zirkus tun. Der Erzähler, er weiß zwar nicht, was Water Sheds sind, doch er scheint zu wissen, was auf den vielen langen und sehr schmalen Plakaten – also was für Plakaten: geradlinigen Plakaten? – angekündigt wird, scheint zu wissen, was mit graceful equestrian Tyrolean flower-acts gemeint ist. Was in anmutigen Tirolerischen Reiter-Blumen-Vorführungen vorgeführt wird, welche Josephine Sleary zeigen wird am Beginn des Unterhaltungsprogramms. Der Erzähler scheint hineinsehen zu können ins Zirkusrund und dort unbekannte Dinge zu sehen. Er zitiert oder sieht, was auf den Plakaten geschrieben steht. Signor Jupe was that afternoon to »elucidate the diverting accomplishments of his highly trained performing dog Merrylegs« Das unterhaltsame Können, die Unterhaltungskunst seines Zirkushunds wird Signor Jupe in der Nachmittagsvorstellung erhellen, elucidate, aufklären. Die Sprache 214 | Peter Waterhouse

des Plakats übertreibt, spricht plakativ, ist hier marktschreierischer als das Marktgeschrei. Elucidate – Licht werfen auf die Unterhaltungskunst seines gelehrigen Hunds. Wieviel Licht mag er werfen? Wird da drinnen im Zirkus wirklich Licht geworfen werden, nicht auf etwas, sondern im Kreis, werden die geradlinigen Strahlen dort gerundet werden, into loopholes, zu Zirkussen aus ungeradem Licht? Wird da drinnen die wirkliche runde Sonne leuchten, der ungerade Planet? Wird das ungerade Faktum leuchten und das Feat, vor welchem der grade Gradgrind seine Augen und loopholes verschließt? Sissys Vater, so ist es angekündigt, wird in der Zirkusvorstellung seventy-five hundred-weight in rapid succession backhanded over his head thus forming a fountain of solid iron in mid-air in die Luft werfen; fünfundsiebzig Gewichte, jedes etwa 50 Kilogramm schwer, in schneller Folge, mit der Rückhand über seinen Kopf werfen und so einen Springbrunnen aus massivem Eisen bilden. Er wird 3750 Kilogramm durch die Luft fliegen lassen. Er wird also was tun? Etwas, was noch kein Mensch zuvor versucht hat, weder in diesem Land, noch in einem anderen, etwas, für das er so viel Zustimmung bekommen hat, daß er es wiederholen muß? 3750 Kilogramm herumschleudern auf nicht-geraden Bahnen? Einen neuen Planeten kreisen lassen? Einen Springbrunnen in die Höhe heben, ihn zum Springen zu bringen? Die Gewichte zum Fliegen bringen, mit den eigenen Händen, die fast wie Flügel schlagen, doch nicht ihn, Jupe, in die Luft heben, sondern das viel Schwerere und Flügellahme? Die verschiedenen anderen Zirkusnummern wird er unterbrechen mit treffenden Bemerkungen und treffenden Entgegnungen, und zwar nur mit nicht anzüglichen, unschuldigen, anspielungsarmen aus den Dramen Shakespeares. Also mit welchen? Welches Treiben treibt im Zirkusrund? Wie geht es dort rund? Lastly, he was to wind the performance up by appearing in his favourite character of Mr William Button, of Tooley Street, in »the highly novel and laughable hippocomedietta of The Tailor’s Journey to Brentford«. Zuletzt beschließt er die Nummern, indem er als seine Lieblingsfigur auftritt; läßt die Nummern bewenden, dreht und wendet und windet das Programm, indem er William Button spielt (einen runden Knopf?) in dem Pferdedrama Des Schneiders Reise nach Brentford, eine Reise, auf der der Schneider sich wendet Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, b­ anners, and Ponging, eh! | 215

und rückwärts reitet – der das warum tut? Um als Schneider, Tailor, den Pferdeschweif vor sich zu sehen, the tail? So that the tailor could see the tail? By turning around turning himself into his other self, tailor into tail? (Siehe Zagel und zageln.) Eine berühmte Zirkusnummer seit 1768, die mit der Zeit immer beliebter wurde, 1853 als Weihnachtsspiel aufgeführt wurde, die Dickens mit seinem Freund Lemon im Februar 1854 angekündigt sah als Billy Button’s Journey to Brentford, or Harlequin and the Ladies’ Favourite und nicht zu besuchen brauchte, denn durch loophole und Schlupfloch sah er sie bereits, die kreisrunde, ungerade Sonne. * Das sind die ersten kreisrunden Spuren der Zirkusleute und ihres Tuns. Gradgrind schenkt ihnen weder Beachtung, noch nimmt er ihre Geschenke entgegen. Er geht schnurstracks auf der Straße am Zirkus vorbei und verscheucht die Lockungen wie lärmende Insekten, also wie Bremsen, Wespen oder Fliegen, bürstet sie aus seinen Gedanken. Aber dann tut die Straße etwas für Gradgrind. Er möchte die lästigen Gedanken abbürsten oder abputzen, of course, auf Kurs, auf seinem Kurs und seiner geraden Straße, heimwärts von der Schule. Er strebt stracks nach Hause, in den geraden, kerzengeraden Sonnenstrahlen straight home. Wahrscheinlich ist auch sein Zuhause ein straight home, ein gerader Strich. Kein Tirol unterwegs und kein tailor. Doch die Straße am Stadtrand von Manchester tut etwas Anderes, sie tut fast das, was im Innern der Reitschule und des Reittheaters geschieht, sie geht im Kreis, beschreibt einen Kreis. Schreibt sie? Der Erzähler hat aufmerksam gemacht auf Josephine Slearys equestrian Tyrolean flower-act; er hat darauf aufmerksam gemacht, daß Josephines Nummer angekündigt wird auf very long and very narrow strips of printed bill, auf langen geraden Streifen gedruckten Papiers. Die Worte und Werbesprüche, die Josephine Sleary ankündigen, sind als gerade Linien gedruckt, die Papiere oder Plakate sind sehr lang und sehr schmal – gerade Linien kündigen ein Geschehen an, kündigen eine Zirkusnummer an, die im Inneren des Zirkus aus Kreisen bestehen wird, aus loops, Kurven, Wendungen, Drehungen, Löchern, Öffnungen, in einer runden Manege, die eine Art rundes 216 | Peter Waterhouse

Papier ist. Macht der Erzähler darauf aufmerksam, daß die Plakate Linien zeigen, die Zirkusnummern aber eine Schrift zeigen, eine Art zu schreiben, also die Linien zu wenden, zu drehen und zu schlingen? Ist die Schrift ein Zirkus? Wer ist mein Bleistift? Ist mit riding school eine writing school gemeint? Schreiben die Pferde vierfach, viermal soviel oder schnell wie ich? Philip Astley, der von 1742 bis 1814 gelebt hat, kann er als Erfinder der Zirkusschrift gelten? Er nannte seine Sache nicht Zirkus, sondern Zirkel oder Kreisel. Waren Dickens und sein Freund Lemon so sehr an dem Zirkus Astleys interessiert, weil dort geschrieben wurde und weil überhaupt Astely als der Shakespeare des 18. Jahrhunderts angesehen wurde? It has until recently been thought that Astley invented the idea of the circus ring by being the first trick-rider to ride in a circle. Some trick-riders at that time still rode in a straight line, as do rodeo riders and writers in America even now. Astley rode in a circle, but in doing so was following the practice of an older rider ›Old Sampran‹ to whom he apprenticed himself after leaving the army. Im Alter von 17 Jahren wurde Philip Astley Soldat, er schloß sich Oberst Elliotts Fifteenth Light Dragoons Regiment an und wurde schließlich Feldwebel. Er nahm teil am Siebenjährigen Krieg, auf Seiten Friedrichs des Zweiten von Preußen (und rettete den Herzog von Braunschweig, der hinter feindliche Linien geraten war; behind enemy lines). Astley nannte seine vielen Zirkusse, einige davon in Paris, nicht Zirkus, sondern Ride, manchmal geschrieben Write, glaube ich. Zunächst entwarf und baute er Ringe mit 65 Fuß Durchmesser, 19 Meter. Später baute er kleinere Ringe, 42 Fuß im Durchmesser, 13 Meter. Das 42 Fuß Zirkusmaß ist bis heute das Standardmaß. Darin entsteht die ideale Fliehkraft und die Artisten beschreiben die stabilsten Figuren auf den Pferderücken. Dickens und Lemon saßen in der Schreibschule, die von Philip Astelys Sohn John Philip Conway weitergeführt wurde. Sahen nicht die enemy lines, sondern sahen die loops und loopholes? Lernten lesen und schreiben? Drehte sich ihnen alles vor den Augen? *

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Direktor Thomas Grandgrind schenkt den Anzeichen und Trivialitäten des Zirkus auf seinem Weg nach Hause of course und konsequent keine Beachtung. Aber die Straße am Stadtrand, unweit vom Geburtsort meiner Familie, unweit vom Haus meines Großvaters, der in Dickens’ Todesjahr zur Welt kam – und meine nicht so enge, so unmittelbare Verbindung mit dem Haus, meine tiefe Verbundenheit mit dem Haus, vulgo Brown Hill, riß ab, als die Mutter meiner Kinder starb, schon als sie erkrankte, für krank erklärt wurde am Tag unserer lange vorbereiteten Reise hinauf nach Brown Hill und wir die Reise aufgaben, aufschoben, aufgaben, die Kinder und ich die Reise dann aufgaben zuletzt, not reaching the neutral ground upon the outskirts of the town, which was neither town nor country, and yet was either spoiled –, aber die Straße am Stadtrand dreht sich und ihn um. Sie dreht sich wie ein Buchstabe, sie dreht ihn wie zu einem Buchstaben. But, the turning of the road took him by the back of the booth (Booth-Stabe), and at the back of the booth a number of children were congregated in a number of stealthy attitudes, striving to peep in at the hidden glories of the place. Doch die Straße machte eine Kurve und führte ihn die Rückseite des Baus entlang (the booth, des Buchs), und an der Rückseite des Baus war eine Anzahl Kinder oder eine Kindernummer versammelt in einer Anzahl oder Nummer heimlicher, verstohlener … attitudes und lugte angestrengt hinein zu den verborgenen Wundern im Innern. Gradgrind geht auf seinem Weg nach Hause an Schrift entlang und er liest geradewegs of course die Ankündigung der Blumen-Nummer, er liest die Erleuchtungen des Hundes Merrylegs, er liest mit geradem Blick die fünfundsiebzig Zentner, die wie eine Fontäne in die Höhe steigen, von unsichtbaren Händen hinter dem Rücken hochgehoben, er liest Reden und Widerreden Shakespeares und er liest die Pferdekomödie von William Button. Er wendet seinen kerzen- und schnurgeraden Blick ab von diesem Buch. Aber die Straße wendet sich nicht ab, sie wendet sich dem Buch zu und bringt den geraden Gradgrind zurück zum Buch – und da sieht er eine Schar von Leserinnen und Lesern, die durch einen bauchigen Buchstaben, ein loophole, schauen, einen Buchstaben lesen und dabei durch die runde Öffnung im Buchstaben schauen. Gradgrind liest hippocomedietta und sieht nicht die zahlreichen kleinen Schleifen und Schlupflöcher und überhaupt den ungeraden, verschlungenen 218 | Peter Waterhouse

Weg des Worts, sieht nicht die Ab- oder Aufzweigung im h und den geringen Fortschritt dieses Buchstabens, er sieht nicht das VomWeg-Abkommen oder Abspringen des Buchstabens i, das Plumpsen und zweite Plumpsen von p und p, nicht den Zirkus-O, nicht die c-Kurve, nicht den Umweg oder M-Weg des m, nicht das Getänzel des e, das nicht weitergeht, das geht und nicht geht, nicht die Komplikationen und Hindernisse auf dem Weg, die das d schafft, nicht den Zaun tt quer über die Straße gestellt. Hippocomedietta, Hindernisse wohin das Auge schaut. Und er sieht die vielen Schlupf- und Schlüssellöcher nicht, p, p, o, c, o, e, d, e, a. Zeigen die Buchstaben, wie man nach Brentford kommt? Ist das Wort hippocomedietta eine Landkarte, sogar eine Straßenkarte, die die Ungeraden zeigt, die nach Brentford nicht führen, sondern nach Brentford abweichen und abwenden, eigentlich von Brentford abweichen und den anderen Weg zeigen? Sieht Gradgrind nicht, daß die Kinder angestrengt lesen, angestrengt durch einen runden Buchstaben schauen? Viel genauer lesen als in der Schule? Genau lesen, statt Brentford oder irgendetwas Anderes am Ende des Wegs zu finden? Sie schauen durch einen Buchstaben oder ein Loch hindurch und sehen etwas Rundes und in diesem Runden sehen sie Rundungen, Drehungen, Schlingen, Sprünge, kein Ende und Ziel. Das sind die Zeichen und Buchstaben des Zirkus. Man sieht, daß Gradgrind nicht lesen kann. Er geht gradgrindwegs nach Hause wie zu einem House of Correction, Korrekturhaus und Gefängnis, aber die Straße ist buchstäblicher, buchstabengenauer und biegsamer und geht nicht nach Hause, sondern geht zum Zirkus. * Die jungen Lesenden, wie stehen sie dort an der Rückseite des Theaters? In a number of stealthy attitudes. Was sind stealthy attitudes – verstohlene … verstohlene Drehungen, Biegungen, loops, Schleifen, Arabesken, Hälse, Beine, ausgestreckte Arme, Bücken, Knien, Stehen auf Zehenspitzen, Striche, Linien, Staben? Sieht Gradgrind heimliche Buchstaben? Und die Kinder schauen durch buchstabenrunde Löcher? Und sie sehen da im Theater … ? Eine Viertelstunde oder halbe Stunde später ist Gradgrind zuhause, mit zweien der Theaterzuschauer, seinen beiden Kindern Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, b­ anners, and Ponging, eh! | 219

Louisa und Thomas, die er beim Zirkus auf frischer Tat ertappt hat. Er sagt zu seiner Ehefrau, daß er erwartet hätte, seine Kinder beim Lesen von Gedichten anzutreffen. Hat er sie nicht beim Lesen von Gedichten erwischt? Sehen wir Gedichte immer nur durch kleine Öffnungen und loops – und nicht den ganzen Zirkus, den sie aufführen? Was ist Poesie? Warum, sagt Mrs Gradgrind, habt ihr euch nicht hier zuhause beschäftigt mit eurer Muschelsammlung, eurer Mineraliensammlung, mit der Metallesammlung? Aber wir haben hier zuhause keine Zirkussammlung und in der Schule wird nicht Zirkus unterrichtet. Ihr sollt euch mit den Muscheln, Mineralien und Metallen befassen, soviele Namen und Fakten, mehr als genug. Darum, sagt Louisa. Darum schauen wir in den Zirkus, der keine Fenster hat, aber winzige Löcher. Was ist es also, was sie und die anderen Schulkinder im Theater oder Zirkus oder in der Tiroler Blumennummer sehen oder lesen? Was ist da im Rund zu lesen? Etwa dieses? Billy Button bought a buttered Biscuit: Did Billy Button buy a butter’d Biscuit? If Billy Button bought a buttered Biscuit, Where’s the buttered Biscuit Billy Button bought?

Oder: Davy Dolldrum dream’d he drove a Dragon: Did Davy Dolldrum dream he drove a Dragon? If Davy Dolldrum dream’d he drove a Dragon, Where’s the Dragon Davy Dolldrum dream’d he drove? Enoch Elkrig ate an empty eggshell: Did Enoch Elkrig eat an empty eggshell? If Enoch Elkrig ate an empty eggshell, Where’s the empty eggshell Enoch Elkrig ate? Gaffer Gilpin got a Goose and Gander: Did Gaffer Gilpin get a Goose and Gander? If Gaffer Gilpin got a Goose and Gander, Where’s the Goose and Gander Gaffer Gilpin got?

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Lankey Lawrence lost his lass and lobster: Did Lankey Lawrence lose his lass and lobster? If Lankey Lawrence lost his lass and lobster, Where’s the lass and lobster Lankey Lawrence lost? Peter Piper picked a peck of pickled peppers: Did Peter Piper pick a peck of pickled peppers? If Peter Piper picked a peck of pickled peppers, Where’s the peck of pickled peppers Peter Piper picked? Quixote Quicksight quiz’d a queerish quidbox: Did Quixote Quicksight quiz a queerish quidbox? If Quixote Quicksight quiz’d a queerish quidbox, Where’s the queerish quidbox Quixote Quicksight quiz’d?

Gedichte aus John Harris’ zu Beginn des 19. Jahrhunderts publiziertem Lehr- und Kinderbuch PETER PIPER’S PRACTICAL PRINCIPLES OF PLAIN & PERFECT PRONUNCIATION . Lesen Louisa und Thomas solche Gedichte im Rund? Der Erzähler erzählt, daß die Legende von Peter Piper, da sie müßig war, nicht der Rede wert, von nichts erzählte und von nichts berichtete, nicht den Weg gefunden hatte in ihre Kinderzimmer. Die Legende war nur Sprache, sonst nichts. Kein Inhalt. Gradgrinds Meinung nach nicht geeignet für die Kinder. Lesen Louisa und Thomas im Loch: nur Sprache, sonst nichts? Ist da kein Inhalt im Zirkus? Oder ist da nur sprachlicher Inhalt, der springt, sich dreht, balanciert, läuft, stolpert, fällt, lehnt, hüpft, schaukelt, fliegt, galoppiert, schwadroniert, dröhnt, lacht, schreit, liegt, sitzt, Dragon, Dolldrum, dream’d, schlüpft, kriecht, steigt, kreist, schlingt, reitet, biegt, kurvt, Goose, Gander, Lippen, Zähne, attitudes, Zunge, Darsteller, Quixote, Lieder? Doch lesen sie nicht nur, sind sie nicht auch congregated in a number of stealthy attitudes? Sind sie da zusammengeschart in einer Nummer, einer Zirkusnummer, die weniger aus verstohlenen, als gestohlenen Nach­ ahmun­gen besteht? Lesen sie nicht nur, sondern spielen sie, was sie im Loch sehen? Ist, vielleicht nur andeutungsweise, zu erkennen, daß auch sie springen, sich drehen, balancieren, laufen, stolpern, fallen, lehnen, hüpfen, schaukeln, fliegen und galoppieren? Lesen sie und spielen sie? Wer liest (oder schreibt), spielt die Buchstaben? Nine-oils, Merrylegs, missing tips, garters, ­banners, and Ponging, eh! | 221

Sind diese kindlichen Zuschauer sehr bewegliche Bleistifte? Und mein Bleistift Akrobat geht auf seiner Zehenspitze? * John Harris’ PETER PIPER’S PRACTICAL PRINCIPLES OF PLAIN & PERFECT PRONUNCIATION waren eines der Kinderbücher meines Großvaters und meiner Großmutter William und Maria, eines der Kinderbücher meines Vaters, aus dem ihm seine Mutter vorlas im Haus auf dem Brown Hill, welche er plötzlich verlor; da war er 13 und wusste nicht, was geschehen war. Und die Peter Piper Worte waren die merkwürdigsten Worte, die mir mein Vater sagte, wenn er fröhlich war oder eine Zeit lang mutig und ohne Angst, ohne Vorsicht, ohne Wachsamkeit. Die Worte von Peter ­Piper merkte ich mir leicht und ich behielt sie immer als das Leichteste, das mein Vater gesagt hatte, und sprach sie schnell und leicht. Harris hatte das Buch vorgesehen als Lehrbuch. Es lehrte die Aussprache. Er lehrte mit dem Buch, daß im Mund ein Zirkus ist. Ich lernte mit dem Peter Piper, welcher Satz meines Vaters der leichteste ist, vielleicht der schönste ist und zu mir spricht von nichts. Spricht und nichts spricht. Einen verschlungenen Weg pfeift, auf dem es kaum voran geht mit dem Peter, der am Ende so wenig Pfeffer hat wie am Anfang. War der Vater ein Schlangenbeschwörer, wenn er picked a peck of pickled peppers sagte. Ich dachte, daß er tanzte, zu einer Buchstabenmusik. Ich dachte, daß er zum Zirkus gehörte. Ich kann die Verse bis heute fehlerlos aussprechen, vielleicht weil sie voller Fehler sind. Ich bin unterrichtet worden im Fach Zirkus, wie in einer anderen Richtung. Aus dem Peter Piper sprach und artikulierte sich der Kindermut und Kinderübermut des Vaters, als er schon nicht mehr kindermütig war. Wenn ein Zirkus in die Stadt gekommen war, in die Städte, in welchen wir zuhause waren, dann gingen wir zu zweit in den Zirkus. Hörte er in dem Peter Piper, dem picked und peck und in den pickled peppers die Akrobaten? Die, die auf den Spitzen gehen, die Worte, die auf den Wortspitzen und ersten Buchstaben gehen? Hörte er im Peter Piper die Zirkusartisten? Gingen die p-Buchstaben auf Zehenspitzen? Wer am Schönsten sprach, sprach auf Zehenspitzen, akronymisch? Flüsterte er mir ins Ohr, ohne daß ich es bemerkte – 222 | Peter Waterhouse

bloß den Peter Piper merkte ich mir –, flüsterte er: schreib? Schreib so? Schreib wie der Anonyme im Buch von John Harris? Schreib und pfeif? Pfeif und pfeif darauf? Pfiff er mir nämlich etwas vor, wenn er mutig und übermütig war? Pfiff er mir lauter Fehler vor, die ich erlernen konnte? Das Pfeifen und der Pfeffer, im Lateinischen waren sie fast noch eins: umgangssprachlich pippare, hochsprachlich pipare (so habe ich es gelernt im Fach Latein in verschiedenen Städten), und piper. So wären piepen, pfeifen und Pfeffer eins. Peter Piper war also der falsche Peter Pfeffer? War das englische piper gleich dem lateinischen piper und war das falsch? Wenn dieser Piper also Pfeffer pflückte, was tat er da? Und wenn er pflückte – picked – und die peppers und Pfeffer oder Paprika waren pickled, waren dann pick und pickle gleich und war die Gleichung falsch? Pickle, laut Wörterbuch, bedeutet unter anderem dasselbe wie pick. To pick pickled peppers, es konnte also bedeuten, gepflückte Pfeffer pflücken. Aber to pickle bedeutet auch pökeln. Aber pickle ist auch eine Mengenangabe wie peck. Und peck kann im Deutschen pecken bedeuten. Ich schaute dann meinen Vater an und sagte zu ihm: Paprika, mein Paprika. Das Vorbild zu Peter Piper, war das, laut Dickens-Forschung, nicht der französische Botaniker und Kräuterschmuggler aus Malaysien namens Pierre Poivre? Könnte Peter Piper also ein Übersetzungsfehler sein, könnte Peter ebensogut Peter Pepper heißen? Der Erzähler der HARD TIMES nennt die vier Verse aus John Harris’ Buch eine idle legend of Peter Piper. Sind die vier Verse eine Legende, eine Wundererzählung, die Geschichte des Lebens eines Heiligen, eine überlieferte unhistorische Geschichte? Was erzählen die Verse von Peter Piper? Sagt diese Legende bloß, daß man sie lesen soll, lateinisch legenda, das zu Lesende; daß sie aus Lauten besteht oder lauter Noten, p p p p p p? Flüsterte er mir zu (mein Vater): schreib so, daß man es lesen kann; hören kann? Und ich, ich hörte meinen Urgroßvater flüstern ins Ohr meines Großvaters? Ich hörte jemanden flüstern, der dem Urgroßvater ins Ohr flüsterte, dem 1832 Geborenen? Geflüster und Gepfeif der Familie? Peter Piper, Peter Piper. Bei mir piept es. *

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Gradgrind und Bounderby wird endlich erzählt, was im Zirkus los ist. In den Zirkus gehen sie nicht, also erfahren sie vom Zirkus im Gasthaus, dem Pegasus’s Arms, in welchem die Zirkusleute Quartier genommen haben. Sie, unter denen viele Reiter sind, wohnen wohl besonders gerne in einem nach einem Pferd benannten Gasthaus. Der Erzähler macht gleich zu Beginn des Kapitels einen schönen Fehler. Er sagt: The Pegasus’s legs might have been more to the purpose. Legs im Gegensatz zu den Armen, besser Beine als Arme. Doch die Arms des Pegasus sind nicht seine Arme, sondern die Wappen oder die Waffen. Und noch ein kleiner Fehler: Der Pegasus hat ja keine Arme, er ist ein geflügeltes Pferd. Er kann fliegen. Sind Fehler: Versuche zu fliegen? Kann der Zirkus fehlerhaft fliegen? Spricht er die Sprache der Fehler aus, is the circus piping and picking and pecking and pickling and peppering? Stehen Gradgrind und Bounderby im Gasthaus neben der Hippokrene? Es ist zuletzt vieles schief gelaufen im Zirkus, Signor Jupe sind immer wieder Fehler unterlaufen. Jupe missed his tip, dann auch offered at the Garters. Dann auch missed his tip at the banners. Schließlich was loose in his ponging. Bounderby fasst zusammen, was er alles nicht versteht (dazu zählt auch eine Heilsalbe mit dem Namen nine-oils und der Name des Zirkushunds): Nine-oils, Merry­ legs, missing tips, garters, banners, and Ponging, eh! Was also ist los im Zirkus? Gradgrind und Bounderby scheinen kein Wort zu verstehen. Dabei ist es doch ein Zirkus der Worte. Dickens dürfte einige der Worte erfunden haben, die Zirkussprache zum Teil erdichtet haben, er schreibt Worte, wie sie noch in keinem Zirkus gesprochen worden sind. Missed his tips. Sind das die Zehenspitzen, auf denen er nicht hat stehen und fliegen können? Oder sind die tips Worte, Stichworte nämlich, die er überhört hat, die ihm das Zeichen geben sollten, seine Nummer vorzuführen? Missed his tip – hat sein Wort versäumt? Missed his tip at the banners, too. Hat auch dort das leise zugerufene Stichwort überhört? Was loose in his ponging. Was bedeutet ponging? Ist es ein Wort, das vor allem aus Aussprache besteht? Nicht in der Bühnensprache, sondern im theatrical slang bedeutet es, to amplify the text of a part. If the actor expands the text, he is said to pong. Wörter, die nicht im schriftlichen Text stehen, die der Schauspieler … pongt. Erdichtet? Dichten und pongen die Darsteller im Zirkus? Doch nicht nur die tips, die Stichworte, die pon224 | Peter Waterhouse

gings sind Sprache, auch alle akrobatischen Nummern. Ist das Zirkusrund de facto ein Mund? Balancieren auf den Rücken der Pferde, auf Hochseilen und Schaukeln Buchstaben? Wird gesprochen und geschrieben? Ist der Zirkus ein Buchstabenschriftsteller? Sind die garters und Reifen: a, o, e? Sind die banners und Bänder schriftlich? Doch Gradgrind geht nicht in den Zirkus. Er fragt Sissy Jupe nach dem Faktum Pferd, er geht aber nicht zu der Pferde-Reiterei, er sieht die Pferdenummern nicht, die viel eher Pferdebuchstaben sind. Er geht nicht zur Sprache. Stick to Facts, sir!, sagt Thomas Gradgrind am Anfang der HARD TIMES . – And me? I’m not a sir. – Maybe I’m a circus.

Wien, April  /  Mai 2019

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Thomas Schestag

Geräuschkulissen Es fällt nicht leicht, herauszufinden, was Geräuschkulissen sind. Nicht zuletzt der Risse wegen, die durch die vernähten, wie zum Vorhang verwahrten Wörter -kulissen und Geräusch- gehn. Kulissen für Geräusche, als drängten die ins Rampenlicht, während im Hintergrund Stimmgewirr anschwillt oder verebbt; Kulissen aus Geräusch, Geräusche als Kulissen, die den indistinkten Fond für Stimmen im Vordergrund der Bühne, auf Haupt- und Lautsprecher verteilt, abgeben; Kulissen gegen Geräusche, die störenden vom Eindringen ins Bühnen- oder Weltgeschehen abzuhalten, wo nicht auszuschalten? Geräusche – ins Gespräch gezogen. Seit alters stoßen Überlegungen zur Herkunft des Sprechens – in Worten –, unter Menschen, auf Stimmen im Gespräch verteilt, getragen vom Willen zum Austausch von Inhalten wie zum Austausch über solche Inhalte, auf Schichten, Unterschichten, aus denen Stimmen, unter Schwierigkeiten, sich erst abzuzeichnen anfangen, und vom Sprechen seines Orts, des ein oder andern Sprechers, wie vom Kommen zu Wort des ein oder andern Worts keine Rede sein kann: wo der Vorsatz, in Stimmen zu sprechen und Stimmen sprechen zu hören, ja die Bestimmung des Menschen im (Hören aufs) Sprechen in Stimmen gelegen (und verortet) zu sehn, von Lärm (auch leisem) und Geräuschen (und Stille) heimgesucht wird, deren Herkunft und Verhältnis zur Stimme (nicht nur des Menschen) offen bleibt. Im (ausfransenden) Saum des Fragens nach dem Ursprung von Stimmen, verwickelt in die Suche nach Aufschluß über die Bestimmung des Menschen, insofern dessen Inbegriff ans Gefallen, ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben, im Gespräch zu sein, sich sprechen zu hören und zu hören voneinander, gebunden erscheint, gehen Totenstille, Kinderlärm und Singsang, Wispern und Geplapper, das Klappern von Tellern und Messern bei offenem Fenster, klirrendes Glas in der Ferne, Blätterrascheln und Gebell, Gelächter, Radebrechen, Lallen 227

durcheinander. In solch bewegliches Niemandsland, vage zwischen Stille, Stimme und Gesumm (und Krächzen), tastet eine Stelle in Varros De lingua latina vor1. Varro untersucht dort die etymologische Herkunft lateinischer Sprech-Wörter, unter ihnen narrare (Erzählen), fari (Sprechen), nominare (Nennen), dicere (Sagen) und loqui (Sprechen). Die Synonyme fari und loqui setzt Varro dadurch voneinander ab, daß das erstgenannte Sprechen einem Menschen zugesprochen wird, der zuerst ein Wort so ausspricht, daß das ausgesprochene etwas bedeuten mag: daß ihm die Möglichkeit zu bedeuten nicht abgesprochen werden kann2. Entsprechend heißen Kinder, die noch nicht so tun – Sprechen nennt Varro ein Tun –, deren Sprechen auf der Schwelle zum Aussprechen von Worten spielt, infantes: Die-nicht-(in Worten)-sprechen3. Alles aussprechende, Worte emittierende Sprechen – fari – taucht auf aus einem Nicht-, dem nicht als Negativ des Sprechens Kontur verliehen werden kann, weil Sprechen überhaupt erst solchem Nicht- entspringt. Sprechen  – fari – mag demnach allenfalls Nicht-nicht-sprechen heißen. Das in fari verkapselte bloß mögliche Bedeuten eines ausgesprochnen, ausgestoßnen Wortes nennt Varro im Fall des Wortes loqui durch Gewißheit abgelöst: wer spricht – loqui –, teilt (einem Wort und teilt durchs Wort) Bedeutung in der Tat mit. Die Annahme solcher Gewißheit rührt daher, daß das Sprechen – loqui –, Wort für Wort, verortet heißt. Wer spricht – loqui –, spricht ein Wort seines Ortes – suo loco – aus, weil das Wort Sprechen – loqui –, so Varro, dem Wort Ort – locus – entspringt: Loqui ab loco dictum, quod qui primo dicitur iam fari et vocabula et reliqua verba dicit, antequam suo quidque loco ea dicere potest. Hunc Chrysippus negat loqui, sed ut loqui; quare, ut imago hominis non sit homo, sic in corvis, cornicibus, pueris primitus incipientibus fari verba non esse verba, quod non locentur. Igitur is loquitur qui suo loco quodque verbum sciens ponit et is tum prolocutus, cum in animo quod habuit extulit loquendo. [Loqui – Sprechen – hat seinen Namen vom Ort – locus –, weil jemand, von dem man sagt, daß er zum erstenmal spricht – fari –, Namen und andere Wörter sagt – dicit –, noch ohne jedes einzelne Wort seines Ortes – suo loco – sagen zu können. Einem solchen spricht Chrysipp das Sprechen – loqui – ab, weil er nur spricht, als ob er spräche – ut loqui –; deshalb sind, wie das Standbild eines Menschen nicht der Mensch ist, wenn Raben, Krähen, Kinder erste Sprechversuche unternehmen – fari –, deren Wörter 228 | Thomas Schestag

nicht Wörter, weil sie nicht sprechen – non loquantur –. Jemand also spricht – loquitur –, wenn er ein Wort bewußt an seinem Ort – suo loco – setzt, und hat aus- und herausgesprochen – prolocutus – dann, wenn er, was er im Sinn hatte, sprechend – loquendo – ausgedrückt hat.] (L. L. 6,56)

Wer spricht – loquitur –, sucht jedes Wort, von jedem andern Wort distinkt, an seinem Ort auf; aus-, nämlich heraus- und zu Ende gesprochen – prolocutus – hat, wer sprechend – loquendo – vorgebracht, was er im Sinn – in animo – hatte. In Worten sprechen heißt, einem Wort den Ort anweisen, an dem es der Erfüllung seiner Aufgabe, Bedeutung auszudrücken und mitzuteilen, genügt. Wie aber kommt dies Weisen eines Worts an seinen Ort zustand? Dadurch, daß auf das an seinen Ort zu verweisende Wort (genau dort seiner Verweispflicht nachzukommen) hingewiesen wird. Jedes Wort muß, um als Wort seines Orts aus der Erinnerung an seinen Wortort wiederzukehren, an diesen Ort verbracht werden. Andernfalls bleibt es der Verbrachung überlassen. Erst das an seinen Ort verbrachte Wort ist Wort-seines-Orts. Kein Wort aber ist ursprünglich dort. Sondern fort-von-dort. Nicht weniger als fort-vom-Wort. Varros Verortungsversuch des Sprechens suo loco legt im Aufriß des Sprechens – loqui – dessen Herkunft aus Ort- und Wortlosigkeit frei. Genau aus diesem Ungrund kann von einer Herkunft des Sprechens keine Rede sein. Wer, so sucht Varro diesen Sach- und Sprachverhalt zu klären; wer, wie man sagt – dicitur –, ein beliebiges Wort zum erstenmal ausspricht – fari –, ohne es an seinem Ort – suo loco –, ohne es verorten, seiner Funktion als Bedeutungsträger eingelassen, sagen zu können – dicere potest –, spricht nicht, sondern Chrysippus, den Varro an dieser Stelle sprechen läßt (als spräche er an Varros Stelle), spricht ihm das Sprechen ab – negat loqui –, weil er bloß spricht, als ob (er spräche): ut loqui. Ein beliebiges Wort zu beliebiger Zeit an beliebigem Ort gesagt, läßt nicht nur Zweifel darüber, ob es als Wort seines Orts, sondern – zuvorkommender – überhaupt als Wort zu Wort, zu Ohren kommt. Bevor wir sprechen – loqui –, sprechen wir, als ob wir sprächen – ut loqui –. Dies subliminale Sprechen, auf dem Sprung zum Sprechen suo loco, auf der Schwelle abzubrechen, schreibt Varro, indem er zur Veranschaulichung einen Vergleich heranzieht, der wieder die Partikel ut (diesmal aber in leicht abweichender Verwendung, im Verein Geräuschkulissen | 229

mit sic: wie … so) bemüht, Raben, Krähen und Kindern zu, die im Weichbild des Menschen dessen festumrissene Gestalt umreißen: jeder Beschreibung spotten: quare ut imago hominis non sit homo, sic in corvis, cornicibus, pueris primitus incipientibus fari verba non esse verba, quod non loquantur [deshalb sind, wie das Standbild eines Menschen nicht der Mensch ist, wenn Raben, Krähen, Kinder erste Sprechversuche unternehmen, deren Wörter nicht Wörter, weil sie nicht sprechen]. Der Vergleich von Kindern, Raben, Krähen mit dem Standbild eines Menschen, nicht mit dem (lebendigen) Menschen selbst, bringt, was er veranschaulichen soll, den Inbegriff des Sprechens, als Aussprechen eines Wortes seines Orts durch den Menschensprecher, wie den Inbegriff des Menschen, der durch das Sprechen dergestalt selber erst als Mensch verortet sein, nicht länger mit Raben, Kindern, Krähen verwechselt werden soll, ins Wanken. Die festumrissne (stumme) steinerne Gestalt als Imago, bloßes Abbild des Menschen, wird zwar abgewehrt, zugleich aber der Mensch seines Ortes – einer (sprechenden) Statue nicht ungleich – gegen die Überbeweglichkeit eines Sprechens, das spricht, als ob es spräche, in Kindern, Krähen, Raben weniger verkörpert als flatternd und lose huschend, aufgeboten. Es ist die schwer zu verortende Partikel ut, die den Vergleich aufreibt. Nicht nur läßt die Partikel ut sich schwer verorten, sondern als Partikel der Unverortbarkeit des Sprechens suo loco, ohne die kein Sprechen seines Orts zustandekommt, hält sie das Zustandekommen eines Sprechens in verorteten Worten, das sie anbahnt, auf: ohne ut kein loqui, mit ut aber noch weniger. Noch dort, wo das initiale (weniger anfangende als tastende, trödelnde) grundlose Sprechen als ob vom Sprechen in der Tat abgelöst, ut von loqui abgespalten scheint, bleibt sprachliches Handeln defekt, weil loqui das ins Sprechen suo loco verschluckte ut zu überspielen außerstande bleibt. Ut, ins Sprechen verschluckt, mag, seiner Unverortbarkeit wegen, buchstäblich Illokut heißen. Genau aus diesem Grund, Ungrund präzisiert ut den Fall des Aussprechens von Worten ihres Orts, zum Aus(einander)fall: Illokut. Wer spricht, spricht in der (unverortbaren) Ungewißheit darüber, ob er nicht eher nicht- : spricht, als spräch er: als hingen oder flatterten Wortfetzen in der Luft und wäre, was die Stimme teilt, weniger Sprechen – fari – als Larifari: illoquent und illokut. Nicht ahmt das radebrechendere Sprechen, das nicht einfach nicht 230 | Thomas Schestag

spricht, der Raben, Kinder, Krähen das Sprechen der Sprechenden (Menschen am Leben) nach, sondern das Sprechen-als-ob – nichts Geringeres als Ursprung des Sprechens überhaupt – greift (oder ahmt) dem Sprechen seines Ortes so vor, daß ut, ins Sprechen – loqui – eingezogen und verkapselt, aus dem Sprechen suo loco jeden Augenblick aufbricht und vor die Distinktion in wirklichkeitsnahes und wirklichkeitsfernes, faktisches und fiktives, Sprechen als ob und Sprechen seines Orts, lokalisiertes und illokutes Sprechen, die Erinnerung an eine Gabelung erneuert, die im Aufriß zeigenden Sprechens unausrichtbare Verzweigungen freilegt. Am Ort anfangender Rubrizierung des Sprech- und Sprachgeschehens in Faktum und Fiktion: nichts als Friktionen und Frakturen. Wer ein Wort seines Ortes auszusprechen sucht, am ausgesprochenen als am verorteten festzuhalten – befugt, Welten (auch aus Worten) zu verorten, zu verworten, und alles dergestalt Sistierte zu verwerten –, spricht ahnungslos: versucht, Spuren von Kratz- und Krähgeräuschen, die aus der Stimme wiederkehren, zu verwischen. Die Wischgeräusche vergrößern aber, was aus der Stimme wie aus dem Sprechen suo loco ins anfangende Sprechen von Raben, Krähen, Kindern abgeschoben schien. In denen spielen (wie leise immer) (unter anderm auch) ohrenbetäubendes Lärmen, ohrenbetäubende Stille der Toten. Das elfte Buch der Odyssee, Gesang vom Abstieg des Odysseus zur Totenwelt – Nékyia –, Ort ohne Wiederkehr, die Seele des Sehers Teiresias um Auskunft über Ob und Wie seiner Heim- und Wiederkehr nach Ithaka zu bitten, spielt auf einer Schwelle, wo Lebende und Tote, Lebende wie Tote – sprechen. Aber weder im Namen der Toten noch der Lebenden. Wo Worte zwischen dem Ort ohne Wiederkehr der Toten und den dorthin gelockten Lebenden, vom Vorsatz bewegt, um- und wiederzukehren, hin und wieder gehn, durchzogen von Spuren eines Lärmens, das die Worte, unverortbar, zwischen aus- und unaussprechlich aussetzt. Kirkes Anwei­ sungen folgend, wirft Odysseus auf der Schwelle zum Hades, am Ort der Konfluenz zweier Flüsse – Pyriphlegethon und Kokytos – in einen dritten – Acheron –, eine Grube aus, um die er ein Gemisch aus Honigseim, und Wein und Wasser, von Weißmehl überstreut, vergießt; in die Grube aber Schafblut, die Toten an die Schwelle zu locken, vom Blut kosten zu lassen und ins Gespräch zu ziehn. Die Wiederkehr der verlockten Toten an die Schwelle einer Welt, die Geräuschkulissen | 231

ohne Wiederkehr heißt, dort mit den dorthin verlockten Lebenden, die dorthin kamen, um von dort fortzugehn oder -zukommen, in ein Gespräch gezogen, das weder Toten noch Lebenden eignet, weder am Ort der Toten noch der Lebenden wohnt, weder tot noch lebendig heißen mag, mischt Um- und Unumkehrbarkeit, nicht zuletzt der Worte, die in Versen gehn, also nicht bloß hin- und her-, sondern an den Zeilenenden Fühlung mit dem Abbruch des Fühlens, von Kehr und Umkehr nehmen, so, daß die Erdung der Rede und Ortung des Ortes gebricht. Das Kommen der Toten zur Grube geht nicht in aller Stille, nicht geräuschlos vor sich. Das Kommen und Drängen der Seelen, aller von allen Seiten (immer anderswoher), um die Grube, heißt thespesíe iachê (Od. 11,43); in der Übersetzung Wolfgang Schadewaldts: mit unaussprechlichem Geschrei4. Das zerreißende Geschrei – iaché – mischt Schlachtenlärm (Gebrüll von Attackierenden und Fliehenden), Klagerufe, Freudenschreie, deren Unterschiede ineinanderüber-, -untergehn. Das Beiwort thespesíe sucht, dem Überall im Nirgendwo dieses Ineinander-, aller Schreie aller Toten, anders von anderswoher, um die Grube verworren, zu entsprechen. Im Handwörterbuch der griechischen Sprache legt Franz Passow das Beiwort in seine Herkunft aus theós – Gott – und eipeîn – sprechen – auseinander und faßt seine Bedeutung, der Herleitung des einen Worts aus zwein entsprechend, so zusammen: »so dass nur ein Gott es aussprechen könnte, nur für einen Gott sagbar, also unaussprechlich«5. Die Übersetzung der ins Beiwort thespésios geklammerten Wendung »von (einem) Gott gesprochen« durch das Wort unaussprechlich, wie die entsprechende Kennzeichnung des Lärmens der Toten als unaussprechliches Geschrei nimmt nicht einfach dem Glauben an einen Gott – seines Orts –, der, anders als Menschen, die nur Aussprechliches aussprechen, unaussprechlich spricht und Unaussprechliches ausspricht, den Grund. Sondern sie streift Spuren einer Ort- und Wortlosigkeit, die Aus- und Unaussprechliches teilen. Denn wann, und wo genau, liegt das Wort unaussprechlich ausgesprochen vor? Wann überhaupt ein beliebiges Wort – aus- und herausgesprochen? Die Frage, in der Odyssee auf die Schwelle des Gesprächs zwischen Lebenden und Toten verbracht, kehrt an jener Stelle im sechsten Buch von Varros De lingua latina wieder, die das Partizip prolocutus, seine Bedeutung zu verorten, so umschreibt: et is 232 | Thomas Schestag

tum prolocutus, cum in animo quod habuit extulit loquendo [und jemand hat ausgesprochen – prolocutus – dann, wenn er, was er im Sinn hatte, sprechend – loquendo – ausgedrückt hat]. Die Partikel tum – dann – tritt um die stumme Frage quando – Wann? – auseinander. Diese Erklärung bleibt erklärungsbedürftig, denn sie gleicht einer Tautologie: das Definiendum – prolocutus [ausgesprochen] – kehrt aus dem Definiens – extulit loquens [sprechend ausgedrückt hat] –, einem Synonym von prolocutus, wieder. Von Tautologie kann an dieser Stelle aber keine Rede sein, weil an ihr nichts Geringeres als die Selbigkeit, Sichselbstgleichheit – to autós – des logos – oder Wortes – suo loco, dessen Inbegriff seiner Ausgesprochenheit entspringen, durchs wiederholte Zustandekommen seiner Ausgesprochenheit bestätigt worden sein soll, auf dem Spiel steht. Der Satz bringt nichts zur Sprache als die Bankrotterklärung, das Sprechen seines Orts auf den Begriff gebracht zu haben, denn er besagt: einer hat ausgesprochen genau dann, wenn einer ausgesprochen hat. Der Satz spricht das Sprechen selbst nicht aus. Wer spricht, spricht in der Ungewißheit darüber, zu sprechen oder nicht. Leisem Entsetzen näher als verbindlicher Auskunft, reißt der Satz am Ort des Sprechens – loqui – eine Lücke. Er vertieft die Grube, die Odysseus auf der Schwelle zum Hades aushebt, die Seelen der Toten zu locken, ins Bodenlose. Außerstande zu sagen, nämlich ausgesagt zu haben, ob Ausgesprochenheit des Wortes überhaupt zustandekommt: ob das Ziel des Sprechens in der Ausgesprochenheit des Wortes als Bedeutungsträger liegt. Der Satz läßt den Versuch einer Bestimmung des Sprechens (zur Mitte im Überkreuz aus griechischem lógos und lateinischem locus) ins Ungesprochene aus-; unausgesprochen, offen. Er trennt, also, den Saum, der das Sprechen suo loco, der Lebenden, vom unaussprechlichen Lärmen der Toten, von Totenstille, nicht weniger als vom Sprechen als ob – der Raben, Kinder, Krähen – absetzen sollte, auf. Der Vorsatz des Satzes, das Ziel des Sprechens  – loqui – in den (sit venia verbo) Prolokut, in Ausgesprochenheit zu legen, öffnet, wider Willen, jedes sprechende Wort dem ins Vorsprachliche verdrängten Illokut: ausgelassenem Sprechen als ob. Das Lebende und Tote, Kinder, Raben, Krähen teilen. Alles Sprechen spricht – unaussprechlich – aus dem her.

Geräuschkulissen | 233

Mit eigener Stimme sprechen, gewiß. Das Gesprochene (vom Ausgesprochenen zu schweigen) ist (kaum anders als das Geschriebene oder Gedruckte, der so genannte Text – einem Geflecht oder Geweb oder Gespinst verglichen) nicht gegeben (geschweige denn seines Orts), sondern wird aus dem Hören aufs Sprechen, der einen oder andern, eignen oder fremden Stimme, aus Blicken zur Seite, aufs Blatt oder den Bildschirm, immer bloß vorübergehend, weder anfangend noch abschließend, erschlossen. Aus dem Hören aufs Sprechen der eigenen Stimme, war eben gesagt worden (oder geschrieben, gleichviel). Wie aber, und wo genau, soll die eine oder andre, sollen eigene und fremde Stimmen ihres Orts, als angestammte oder angelernte aufgespürt, eingekreist und dingfest gemacht, bestimmt werden können? Einer der sogenannten Frühdialoge Platons, unter dem Namen Protagoras überliefert, dessen Mitte ein Streitgespräch zwischen Sokrates und Protagoras (dem berühmtesten Sophisten seiner Zeit) inszeniert, das vordergründig einer Bestimmung der höchsten Tugend – areté – gewidmet ist, in dessen Kulissen aber der Streit zwischen sokratischer und sophistischer Gesprächsführung – Worte wie Waffen zu führen, den Gesprächsgegner zum Sprechen zu zwingen, ihn mundtot zu machen6 – eskaliert, wird von zwei Pausen unterbrochen, die das Gespräch aufs Sprechen in Gesprächen lenken. Eine erste Unterbrechung, die Inszenierung des drohenden Gesprächsabbruchs zwischen Protagoras und Sokrates, wird dadurch überspielt, daß Protagoras ein Gedicht von Simonides und seine Deutung ins Gespräch zieht. Die zweite Unterbrechung zieht die Frage der Stimme und Fragwürdigkeit des Sprechens mit eigner oder fremder Stimme, ein agonal-diagonales Stimmen­ineinan­ der – ins Selbstgespräch. Denn dies Interludium der zweiten Pause bestreitet Sokrates, als Fürsprech des Sprechens mit eigener Stimme, allein. Schon in der Rahmenhandlung, ins Morgengrauen auf die Schwelle seines Hauses versetzt, läßt Sokrates an der Bestimmbarkeit der eignen Stimme (an dieser Stelle der eignen Stimme eines andern) keinen Zweifel: Diese vergangene Nacht, noch am ersten grauen Morgen, pochte Hippokrates, der Sohn des Apollodoros, des Phason Bruder, gewaltig mit dem Stock [baktería] bei mir an die Tür, und als ihm einer geöffnet 234 | Thomas Schestag

hatte, stürmte er sogleich herein und rief mit lauter Stimme [kaì tê phonê méga légon]: Sokrates, wachst oder schläfst du? Ich, ihn an der Stimme erkennend [Kaì egò tèn phonèn gnoùs autoû], entgegnete: Das ist ja Hippokrates! Du bringst doch nichts Neues? (310 a–b)

Die Szene und ihre Beschreibung durch Sokrates stellt tragikomische Züge einer rhetorischen Figur, des Hysteron proteron, aus. Denn daß Hippokrates, den Sokrates in Begleitung zweier Namen aus der jüngsten Verzweigung im Stammbuch oder -baum seiner Familie auftauchen läßt – »der Sohn des Apollodoros, des Phason Bruder« –, um der Verwechslung dieses Hippokrates mit einem anderen Hippokrates den Riegel vorzuschieben, am frühen Morgen mit einem Stock an die Tür zum Haus des Sokrates pocht, wird erst im Nachhinein erschlossen: im Augenblick, wo sich Sokrates beim Namen aufgerufen fühlt und hört – O Sókrates –, und den Rufer, noch ohne ihn zu sehn, daran, wie der Ruf des Namens Sókrates Sokrates trifft, aus der Erinnerung ans Hören auf den Ruf des Namens Sókrates zuvor die Stimme des Rufenden, im Namen des Rufenden – Hippokrates – vergegenwärtigt, wiedererkennt. Bestätigt wiederum nur dadurch, daß Sokrates im nächsten Augenblick die Gestalt des Rufenden – Hippokrates – in der Tür erscheinen sieht. Das (laute) Pochen mit einem (stummen) Stecken, der aus niemands Mund tönt, an das Tor, läßt daraus, wie gepocht wird, keinen Rückschluß auf einen Pochenden in seinem Namen zu. Das Pochen pocht nicht unverwechselbar genug. Verwechselbarkeit aber wandert auch ins Hören aufs Rufen eines Namens, O Sókrates, auch in die Anagnorisis einer Stimme (versiegelt in den Namen ihres Trägers), die lauthals den Namen eines andern aus- und aufruft, ein. Wie eine Stimme tönt, taub dafür, was sie singt, ruft, flüstert oder spricht, darin soll ihre unverwechselbare Unaustauschbarkeit beschlossen liegen. Dies Wie der Stimme, ihr Timbre, die eine Stimme selbst, abgespalten von allem (eingefaltet in alles), was sie sagt, aber läßt sich nicht in Worte fassen. Über die Schwelle zum Haus des Sokrates gehn bloß fassungslose Rufe des ein und andern Namens über Kreuz (… O Sókrates … Hippokrátes …). Kein Name ruft in seinem Namen, weil dessen Unverwechselbarkeit nur durch Verweis auf andre Namen (die ihrerseits den Verweis auf andre Namen brauchen) beschworen, nie bestätigt werden kann. Kein Name ruft Geräuschkulissen | 235

im Namen seiner Stimme. Stimmen haben keine Namen, Namen haften nicht für –; haften nicht an –; Stimmen. So sehr das Rufen von Namen, nicht nur an dieser Stelle – im Proszenium des Streitgesprächs zwischen Protagoras und Sokrates –; so sehr das Hören auf Stimmen, nicht nur an dieser Stelle – auf der Schwelle zum Haus des Sokrates – darauf pocht, mit eigener Stimme den Namen eines anderen zu rufen, die eigene Stimme des andern aus dem Horchen aufs Rufen meines Namens (aus der Fernennähe) zu entziffern, so sehr setzen solche Ortungsversuche ins namenlose Pochen (wie von Holz auf Holz, das die Szene provoziert); das Pochen aber, mit dem Stock gegen die Tür, dem Schweigen (und Horchen) zwischen den Schlägen –; der Stille, die das Pochen zäsuriert –; aus. Kurz vor der zweiten Unterbrechung, die Platons Inszenierung des Streitgesprächs zwischen Protagoras und Sokrates in das Gespräch legt; kurz bevor Sokrates – in der Pause – aufs Sprechen im Gespräch zu sprechen kommt und eine Apologie des Sprechens mit eigener Stimme versucht; kurz vor dieser Zäsur zeigt das Gespräch Sokrates und Protagoras in die Auslegung eines Gedichtes – poíesis – von Simonides, sein Enkomion oder Loblied auf (den thessalischen Fürsten) Skopas vertieft7. Kurz nachdem Sokrates – das war die erste Unterbrechung des Streitgesprächs – gedroht hat, fortzugehn, lenkt Protagoras ein und schlägt vor, das Gedicht des Simonides, weil es Aufschluß über die genauere Bestimmung der höchsten Tugend – areté – verspricht, ins Gespräch zu ziehn. Der Streit darüber, was das Lied (um das gesungene Wort erleichtert) sagt, wird um die Bedeutung und Verortung eines einzigen Worts in seiner ersten Zeile zusammengezogen. Es ist das Adverb alathéos, dem Sokrates, in Schleiermachers Übersetzung, durch die Wendungen wahrhaftig und in Wahrheit entspricht. Der erste Vers des Liedes – in Schleiermachers Übersetzung: »Ein trefflicher [agathòn] Mann zu werden [genésthai] schon wahrhaftig [alathéos] / ist schwer« – ist gegen einen berühmten Spruch des Pittakos gerichtet, den Simonides im ersten Vers der zweiten Strophe zitiert. Er besagt: »schwer ist es […], tugendlich zu sein [esthlòn émmenai]«. Gegen Protagoras, der behauptet, beide Sentenzen sagten ein und dasselbe, betont Sokrates die Differenz von Sein und Werden: tugendlich sein sei bloß Göttern eigen, Menschen bleibe der Versuch, tugendlich zu werden. Im Rahmen dieser Deutung sucht Sokrates das Adverb alathéos, syn236 | Thomas Schestag

taktisch auf agathón (vortrefflich) zu beziehen, weil Vortrefflichkeit des redundanten Zusatzes wahrhaftig nicht bedürfe, ans Ende der ersten Zeile des Gedichts als einen (auch schon) an Pittakos (kaum mehr) gerichteten Ruf (jetzt nicht mehr nur seiner Gesungenheit, sondern auch seiner Gesagtheit ledig), auf der Schwelle zur Interjektion, ins Bedeutungslose (dem Vergessen überlassen) abzuschieben: [Sokrates:] Was nämlich Pittakos sagt, schwer ist es, tugendlich zu sein, dieses bestreitend, sagt Simonides: Nein, sondern schon ein trefflicher Mann zu werden ist schwer, o Pittakos, wahrhaftig [o Pittaké, hos alethôs]. Nicht etwa ein in Wahrheit trefflicher; denn dieses »wahrhaftig« sagt er nicht in Beziehung, als ob es einige gäbe, die wahrhaft trefflich sind, und wieder andere, die zwar trefflich sind, aber nicht in Wahrheit trefflich, denn das wäre ja offenbar einfältig [eúêthes] und nicht vom Simonides; sondern man muß annehmen, dieses »wahrhaftig« sei an eine andere Stelle gesetzt [all’ huperbatòn deî theînai] in dem Liede, und so ungefähr der Spruch des Pittakos hinzuzudenken, als wenn wir den Fall setzten, Pittakos selbst redete [autòs légonta tòn Pittakòn] und Simonides antwortete, und jener sagte: O ihr Leute, schwer ist es, tugendlich zu sein; und dieser antwortete: O Pittakos, du redest nicht richtig; denn nicht zu sein, sondern schon zu werden ein trefflicher Mann […], ist wahrhaftig schwer [chalepòn alathéos] (343 d–344 a).

Sokrates wendet an dieser Stelle, indem er das Wort Hyperbaton – als Versetzung eines Worts von einer Stelle fort an eine andere – aufbietet, die Inversion der rhetorischen Figur des Hyperbaton, die gewöhnlich auf Betonung und Hervorhebung des versetzten Wortes pocht, an. Das Adverb alathéos wird aus der syntaktisch verbindlichen Nähe zu dem Adjektiv agathòn abgespalten und an eine Stelle, gleichsam in die Geräuschkulissen des Gedichts verbracht, wo es, seiner Gesagtheit ledig, auch seine Gesungenheit ablegt: in unerinnerbares, abklingendes Rauschen spielt. Die eigentümliche semantische Erleichterung des Lieds um das Wort alathéos geht einher mit der Annahme des Sokrates, in seinen ersten Zeilen seien zwei Stimmen, auf Simonides und Pittakos verteilt, ins Streitgespräch vertieft, am Werk. Seine Deutung, wie um eine Entscheidung über den Widerstreit zwischen Dichtung und Philosophie zu erzwingen, legt das Gedicht (poíesis) – aus dem einen (undurchsichtigen) Grund, das Wort alathéos abzuschieben – zum (philosophischen) Streitgespräch zwischen zwei distinkten Stimmen aus. Wie um zu sagen: in WahrGeräuschkulissen | 237

heit ist, inszeniert, das Gedicht des Simonides (auf der Suche nach der Abkehr vom Gedicht) ein Gespräch. Das Adverb alathéos erlaubt aber eine von der sokratischen (aus einem platonischen Souffleurkasten gelenkten) Annahme abweichende Deutung, die das Wort alathéos, buchstäblicher genommen, in die Mitte nicht nur der Poetik des Simonides, sondern der Aufgabe des Dichters (nach Simonides, Pindar und Bakchylides) überhaupt rückt8. Das Adverb a-lathéos nennt weniger die von Sokrates gemutmaßte wahre Vortrefflichkeit (wie gegen eine falsche abgesetzt), als – eingedenk seiner Nähe zu dem Nomen a-látheia – unvergessene (weil vom Dichter im Lied besungene) Vortrefflichkeit. Es ist das Lied des Dichters, genau diesen Anspruch verkapselt hier das Wort alathéos, das die besungenen (vortrefflichen) Taten, im Namen ihres Trägers, vor dem Vergessen – látha – schützt. Erst das Gedicht verwandelt die vortreffliche Tat zur un-vergessen vortrefflichen Tat9. Nicht nur dem Lied des Simonides, sondern der Dichtung überhaupt dieses Vermögen – alátheia – streitig zu machen, nämlich abzusprechen, verdrängt Sokrates das Wort alathéos in die Kulissen der Szene, um im Augenblick der Unterbrechung des Streitgesprächs mit Protagoras, abgesetzt gegen das Gedicht als Ort der Wortumstellungen und Stimmenimitationen, das Loblied aufs Sprechen mit eigener Stimme zu singen. Überraschenderweise im Namen der alétheia. Im guten Gespräch, so Sokrates, ist kein Platz für Lieder und Gedichte – asmáton te kaì epôn –. Denn das Sprechen über Gedichte gleicht – tò perì poiéseos dialégesthai homoiótaton eînai – den Symposien, Gastmählern und Zusammenkünften ungebildeter, gemeiner Menschen. Nicht selbst, nämlich weder mit eigener Stimme noch mit eigenen Worten – medé dià tês heautôn phonês kaì tôn lógon –, sind solche imstande, einander Gesellschaft zu leisten, zusammenzusein – mè dúnasthai allélois di’ heautôn suneînai –, sondern sie mieten, und treiben so die Preise für Flötenspielerinnen in die Höhe, die fremde Stimme der Flöte – allotríân phonèn tèn tôn aulôn –. Nur deren Stimme stiftet das Zusammensein der Stummen. Das Hören der stimm- und wortlosen Zecher auf die fremde Stimme – allotríân phonèn –, keines Menschen, sondern Holzblasinstruments, präzisiert jeden Teilnehmer an schlechten Symposien zum Hallodri. Und die Tänzerinnen, Aulos- und Lautenspielerin238 | Thomas Schestag

nen zur beweglichen Geräuschkulisse, die das stumme Zusammensein der Versammelten überspielt. Dagegen sind Zusammenkünfte guter, edler und erzogener (pepaideuménoi: nämlich aus dem losen beweglichen Untergrund schwatzender Kinder heraus- und aufgezogener, deren Geplapper überhobener, erwachsener) Zecher auf die Possen und Kindereien – lénon te kaì paidiôn – tanzender, musizierender Frauen (die, unter dem Wort paidiá – Kinderspiel – in die Nähe von Kindern gerückt, selber stumm, ihren Körpern bloß flüchtige Gesten und ihren Instrumenten, Aulos und Laute, bloß fremde, menschenferne Stimmen, wortlose Töne entlocken) nicht angewiesen, weil sie an ihrer eigenen Stimme – heautôn phonês –, bald sprechend, bald hörend – légontás te kaì akoúontas –, also immer am Hören aufs Sprechen eigener Stimmen (und sei das die eigne Stimme eines anderen), Genüge finden (347 b–d). Wie aber finden die Teilnehmer guter Symposien zur eigenen Stimme, ihres Orts, dieselbe vor Einflußnahme, Einflüsterungen und Entstellungen durch fremde Stimmen, wie vor den Dichtern und ihren Gedich­ ten, in Schutz zu nehmen? Welche Gefahr genau geht vom Gedicht (etwa dem Lied des Simonides, weiter oben von Protagoras ins Gespräch gezogen) fürs Pochen aufs Sprechen mit eigener Stimme, fürs Pochen aufs Hören eigener Stimmen (auch anderer) aus? Bevor Sokrates aufs Finden der eigenen Stimme zu sprechen kommt, präzisiert er, mit dem wiederholten Ausschluß einer fremden Stimme – allotrías phonês – aus dem Gespräch mit eigener Stimme und eigenen Stimmen anderer, den Grund für die Verbannung der Dichter – poietôn – aus guten Gesprächen (er räumt stillschweigend ein, das gute Streitgespräch zwischen Protagoras und Sokrates habe durch Einbeziehung eines Lieds von Simonides ins Gespräch, der ins Gedicht verkappten fremden Stimmen wegen, die im Gespräch zur Sprache kommen, weil Protagoras und Sokrates, indem sie aus dem Lied zitieren, ihre eigenen Stimmen fremden leihen und so das Sprechen mit eigener Stimme über fremde Stimmen trüben, gelitten). In guten Gesprächen haben Gedichte nichts zu suchen, weil man die Dichter, so Sokrates, nicht einmal befragen kann über das, was sie sagen – peri hón légousin –, so daß auch die meisten, welche ihrer in ihren eigenen Reden  – autoús […] lógois – erwähnen, teils sagen, dies habe der Dichter geGeräuschkulissen | 239

meint – tòn poietèn noeîn –, teils wieder etwas anderes, indem sie von einer Sache reden – perì prágmatos dialegómenoi –, welche sie nicht zu klären [exelégxai: weder zu bestätigen noch zu widerlegen] vermögen (347 e).

Der Einbau der eigenen Rede eines andern in die eigene, mit eigner Stimme vorgetragen, stellt die (unaustauschbare, unwiderrufliche) Eigentümlichkeit der eigenen (nicht nur des anderen) infrage. Im Fall des Dichters aber bleibt, was das Gedicht sagt, was Sache  – prágmata – seines Sagens sein soll, offen. Das Gedicht taucht im Gespräch nicht aus dem Mund des Simonides auf, Simonides nicht in Begleitung seines Liedes, ihm – nämlich der Gesagtheit seines Sagens – auf die Sprünge zu helfen, sondern aus der Fremde der Auswendigkeit: aus dem Gedächtnis der Streitenden, Protagoras und Sokrates. Was ausgesprochen und als Ausgesprochenes erinnert, nicht anders als was aufgeschrieben vorliegt, um als Aufgeschriebenes zu dauern, liegt im Zweifel über seine Ausgesagt- und Aufgeschriebenheit vor. Einer Viel-, wo nicht Unzahl voneinander abweichender, einander ins Wort fallender, Worte spaltender Deutungen offen. Denn die Gedichte, aus dem Gedächtnis (wie aus ­einer Schriftrolle) rezitiert, schweigen über die Gesagtheit ihres Sagens. Sokrates vergleicht sie an dieser Stelle (stillschweigend) den Volksrednern. Weiter oben hatte er ausdrücklich (in polemischer Absicht, um Protagoras zum Weiterreden anzustacheln) seinen Gesprächspartner den Volksrednern verglichen, weil der, nachdem er zu sprechen aufgehört hatte, für Nachfragen über das Gesagte taub geblieben war: wenn sich jemand über eben dieses (von Protagoras eben Gesagte) mit einem von unseren Volksrednern – demegóron – bespräche, könnte er solche Reden vom Perikles oder einem von den anderen Meistern im Reden auch wohl hören; aber wenn einer etwas weiter fragt, so wissen sie wie die Bücher – hósper biblía – nichts weiter weder zu antworten noch selbst zu fragen (328 e–329 a).

Demagogen fangen an zu sprechen, um zu sprechen aufgehört zu haben. Sie erlauben kein Gespräch über das Gesagte ihres Sagens, sondern schneiden, indem sie (sprechend) verstummen, sich wie den Lauschenden die eigene Stimme ab. Sie verstümmeln sie. Ihre 240 | Thomas Schestag

Reden sind, so Sokrates, nichts als Zurschaustellungen mählich einschneidenden Verstummens der eigenen Stimme (unter Einschluß der eigenen Stimmen anderer). Gedichte, das ist der dieser Stelle eingeschriebene Vorwurf, verkörpern, wie Schriftrollen – bíblia –, wie Aulos und Laute (und Tanz), wie Türen aus Holz, verstummte (und wiederverstummende) Stimmen, keines Orts. Die Divagation über gute und schlechte Gespräche aber, die den Ort der Herkunft des Sprechens mit eigener Stimme in der Gesprächspause visiert, bleibt außerstande, verbindliche Auskunft nicht nur über Herkunft und Ausrichtung des Gesagten, sondern der eigenen Stimme zu geben: Sokrates verlegt ihre Herkunft – ortlos genug – in die Mímesis. Er entziffert ihren Umriß aus dem Hören anderer Stimmen, und dem im Hören entspringenden Wunsch, andre Stimmen nachzuahmen. Die eigene Stimme ist die dem Hören auf eine andere, sie nachzuahmen, abgelauschte. Wie aber spricht diese andre, von anderswoher, anderswohin sprechende, deren Nachahmung dem Lauschenden erst eine, seine eigene verschaffen soll? So: in guten Unterhaltungen, die Unterhaltungen – sunousíai – von Männern – àndres – sind (Kinder, Musiker- und Tänzerinnen, Dichter, Demagogen und Rhapsoden, sämtlich Verkörperungen fremder Stimmen, bleiben ausgeschlossen), unterhalten [Männer] sich selbst durch sich selbst – autoì ho heautoîs súneisin –, indem sie sich in eignen Reden – heautôn lógois – einander versuchen (lambánontes: die eigene Rede des andern angreifen) und versuchen lassen (didóntes: die eigene Rede der kritischen Infragestellung durch andre überlassen). Solche, dünkt mich, sollten ich und du lieber nachahmen – mimeîsthai – und, die Dichter beiseite setzend – katatheménous toùs poietàs –, selbst aus uns selbst miteinander reden  – lógous poieîsthai –, um die Wahrheit – aletheías – und uns selbst zu erforschen – lambánontas – (348 a).

Die eigene Rede (des ein oder andern) ist – diesen Worten nach – weniger die selbstgewisse als die selbstungewisse. Sie stellt sich (und steht, dergestalt, zur Disposition): für Antworten und Fragen offen. Nicht weniger als die eigene Stimme. Sie trägt, was sie – aussagend oder fragend – sagt, nicht bloß im Zweifel über ihre Herkunft, sondern auf der Suche nach ihr vor. An dieser Stelle zieht Sokrates das Wort alétheia, das er weiter oben unter der Wendung Geräuschkulissen | 241

alathéos dem Gedicht des Simonides als Quintessenz seiner poetischen Verfahrensweise abgesprochen und in die Geräuschkulissen des im Gedicht vorgeblich inszenierten Zwiegesprächs zwischen Simonides und Pittakos abgeschoben hatte, dem Vergessen überlassen, von dort wieder vor und erhebt die Erforschung der Wahrheit – a­ létheia –, die Wahrheit nämlich über nichts als über Herkunft und Ausrichtung guter Gespräche wie über den Ursprung und Ort des Sprechens mit eigener Stimme zu sagen, zum Telos guter Gespräche. Das Ziel guter Gespräche ist die Freilegung des Ursprungs guter Gespräche (in der eigenen Stimme). Das gute Gespräch geht zwischen fragendem und antwortendem Sprechen hin und her. Die Aneignung der eigenen Stimme geht demnach so vor sich, daß der dem Gespräch als Zwiegespräch – dialégesthai – Lauschende das Sprechen als fragendes wie als antwortendes ablauscht und selber zwischen fragendem und antwortendem Sagen hin und her zu gehen lernt. Die Einschränkung – durch Nachahmung – des Sprechens mit eigener Stimme auf den Wechsel zwischen fragendem und antwortendem Sagen nötigt die Wahrheitssucher, sich – horchend – in den Aufriß der einen, eignen Stimme zu vertiefen, die auf nichts als auf den Wechsel zweier Töne gestimmt sein soll. Die Wahrheit, die das Gehn zum Grund der eignen Stimme freizulegen und ins Wort zu fassen sucht, ist das, was fragendes und antwortendes Sprechen teilen: das Sprechen in Stimmen – unbestimmt genug –, die weder bloß fragen noch bloß antworten. Denn die Herkunft des Sprechens mit eigener Stimme spricht dem fragenden Sprechen nach, als ob es fragte; spricht dem antwortenden Sprechen nach, als ob es Antwort gäbe. Das fragende Sprechen stellt sowenig Fragen wie das antwortende Antwort gibt. Das Als-ob seiner Herkunft sucht un-vergessen (weil unerinnerbar) das Sprechen mit eigener Stimme (fast verschwiegen) in jedem Wort der eignen Rede heim. Warum aber zieht Sokrates den Konflikt zwischen Gedicht – poíesis – und Gespräch – dialégesthai – in das Wort alathéos, das er dem Gedicht (des Simonides) als Inbegriff seiner Verfahrensweise abspricht, und in das Wort alétheia, das er dem Gespräch als Inbegriff seiner Aufgabe zuspricht, zusammen? Die Vortrefflichkeit (aufgrund seiner Taten), die den Träger des Namens zu Lebzeiten auszeichnet, geht mit dem Träger zugrund. Das Gedicht beansprucht, die Taten in un-vergessene dadurch zu verwandeln, daß 242 | Thomas Schestag

es den Namen vom Träger des Namens trennt. Der Träger fällt als Täter seiner Taten dem Vergessen anheim, während der Name, weder mehr seiner Auslegung zum Zeichen hörig noch zum Wort, ­anders – nämlich unerinnerbarer – übrigbleibt und wiederkehrt aus dem Gedicht. (Aus der Erinnerung an das Gedicht.) Nicht bleibt der Name, weil das Gedicht ihn vor Vergessen schützt, sondern der Name bleibt von Vergessenem durchsetzt: weder ganz Wort noch ganz Zeichen. Seine Wiederkehr aus dem Gedicht erinnert an genau das, was das Nachahmen von Worten und Zeichen im Gespräch, zwischen fragendes und antwortendes Sagen, den ein oder andern Ton zu treffen (ohne sich im Ton zu vergreifen) aufgespalten, zu vergessen sucht. Die Wiederkehr des Namens – aller anerzogenen und angestammten, ein- und ausgeübter Verweiszusammenhänge ledig – aus dem Gedicht, erinnert Un-vergessenes, das unaufhebbar bleibt in die Erinnerung an Worte, Zeichen, Sprachen, Stimmen, ihres Orts. Un-vergessen, wie der Name, bleibt das Gedicht, das weder (bloß) antwortet noch (bloß) fragt, das keine Fragen stellt und weder Rede noch Antwort steht. Fast umgekehrt sucht das Gespräch aus der Vergessenheit zu ziehen und in Worte, Antworten – im Satz – zu fassen, die wieder Fragen, gefaßt in Fragesätze, provozieren, was den Wechsel zwischen fragendem und antwortendem Sprechen (denn dem Sprechen und Hören aufs Sprechen mit eigener Stimme soll nichts als dieser Wechsel eignen) unterhält. Doch keine abschließende Frage fragt, keine abschließende Antwort sagt, was fragendes und antwortendes Sprechen teilen. Im Revers des guten Gesprächs, das die Sprechenden mit eigener Stimme zu führen suchen, der Herkunft des Sprechens mit eigener Stimme auf der Spur, stoßen sie, ausgesetzt zwischen Frage und Antwort, unterwegs zwischen dem ein und andern Ton (ihn zu treffen), auf andre Töne, Halb- und Zwischentöne, von Tonlosigkeit durchsetzt: sie stoßen am Ort der Worte, die sie im Munde führen wollen, auf dieselben – kaum anders –: beim Namen aufgerufen. Namen, die auf der Schwelle zwischen Stille und Stimme, einander passieren, doch weder im Namen des einen noch des andern Worts. Im Namen (keines Namens), weder auf (bloß) fragende noch (bloß) antwortende Töne gestimmt, begegnet das Gespräch, im Untergrund des Willens, Gespräche zu führen, um die Herkunft des Sprechens mit eigener Stimme dem Vergessen entrissen zu haben, dem Gedicht (in Geräuschkulissen | 243

ihm), das aus ihm unversehens – un-vergessen – wiederkehrt und das Gespräch (das über nichts als über die Herkunft der Gespräche aus dem Un-gespräch spricht), für Augenblicke, unterbricht. Im Gedicht, das den Namen weniger sagt als singt, weniger singt als zersingt, stößt das Gespräch, das die Wahrheit – alétheia  – über das Gespräch in Worten (mit eigener Stimme), zwischen fragendem und antwortendem Sagen – im Satz – wechselnd, sucht, auf ein Un-vergessen – a­ lathéos –: die unerinnerbare Unvergeßlichkeit des ­Namens (unerinnerbar, weil unverläßlich), an dem das Wort als Wort im Gespräch trägt: daß Worte erst beim Namen aufgerufen – ihres Wortcharakters, ihrer Sprachlichkeit und Eignung für Gespräche ledig –, lose, Fühlung mit der Schwelle zum Gespräch – als Worte das Gespräch (von Satz zu Satz) zu führen oder durchs Gespräch (in Worten über Worte) geführt zu werden – nehmen. Auf eine solche Schwelle, im Augenblick, wo Sokrates den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen sucht, findet sich Protagoras verbracht. Denn auf die Frage, ob er das Gespräch mit Sokrates als Fragender oder Antwortender fortsetzen wolle, weiß Protagoras nichts zu sagen: »Hierauf […] erklärte sich Protagoras nicht, welches von beiden er tun wolle – toiaûta álla oudèn apesáphei –« (348 b). Die Frage, ob einer fragen wolle oder Antwort geben, hat im Rahmen des (guten) Gesprächs keinen Ort. Denn indem sie fragt, ob einer fragen wolle, greift sie aufs Fragen nicht als auf eine fraglos vorliegende Gesprächstechnik zurück, sie anzuwenden, sondern fragt dem Fragen nach. Was heißt fragen? Der Ton der Frage, die dem Fragen (seiner Herkunft, seinem Ziel) nachfragt, intensiviert den Frageton: in den fragenden (den sie befragt) läßt sie fragile, fragendere Töne ragen, von Fraglosigkeit durchsetzt, die den einen fragenden, vermeintlich eins mit sich, sichselbstgleich, weniger beredt als stumm infragestellen. Sie stellt, indem sie den Schein der Gegebenheit, seines Orts, fragenden Sagens entstellt, das Infragestellen infrage. Zwischen fragendem und antwortendem Sagen (im Gespräch), den Aufriß beider Enden spaltend, greift das Ineinander unhaltbarer Töne, versandendes Rauschen, Stille Raum. Die eigene bleibt gesuchte Stimme. Das eigene, Wort seines Ortes – aus. Das inszenierte Stimmenineinander der platonischen Gespräche läßt offen, ob sie im Namen der Wahrheit – alétheia – die Wahrheit über das Gespräch nicht nur ins Gespräch zu ziehn und zu erörtern, son244 | Thomas Schestag

dern aus dem Gespräch, Gesprächen über das Gespräch überhoben, herauszuziehn unsd auszusagen suchen (gegen Gegenfragen abgeschottet), oder ob das unter dem Namen Protagoras überlieferte Gespräch dem Un-Vergessen – alathéos – eines Namens (aller Namen, die in Protagoras einander kreuzen), kaum anders als ein Lied des Simonides, auf der Spur bleibt. Das Gespräch, auf solche Neigungswinkel, die den Aufriß eines jeden Worts in ihm durchlaufen, angesprochen (und befragt), bleibt stumm. Es verkörpert weder Antworten noch Fragen. Shannon, Weaver, Noise. 1949 publizieren Claude E. Shannon und Warren Weaver unter dem Titel The Mathematical Theory of Communication zwei Aufsätze zur mathematischen Kommunikationstheorie, im Hinblick auf deren Erweiterung um Aspekte einer allgemeinen Kommunikations- und Informationstheorie (der Sprache)10. Genau in der Mitte des aus fünf Teilen zusammengesetzten schematischen Diagramms eines allgemeinen Kommunikationssystems situiert Shannon in der Einleitung seines Beitrags, von der linearen Kette zwischen Informationsquelle und Bestimmungsort der Nachricht abgesetzt, in ein Kästchen getan, wie um die Lokalisierbarkeit seines Ursprungs zu beschwören, das Geräusch – noise – als Geräuschquelle. Die -quelle aber als gefaßte. Dies Geräusch seines Orts emittiert aber ungefaßt (nicht unter allen Umständen von dort): ortlos; imstande, jeden der vier übrigen Bestandteile des Informationssystems zu stören, also das ganze System in jedem seiner Teile heimzusuchen und den Informationsfluß (vorübergehend) stocken, versiegen zu lassen: Verwirrung zu stiften; Information und Kommunikation, nämlich die Kommunikation von Information, kurz, Sprache schlechthin (zum Medium der Informationskommunikation verengt) brachzulegen. Die Aufgabe einer verallgemeinerten mathematischen Kommunikationstheorie liegt demnach darin, noise zu definieren und Informationen über die Bedrohung der Sprache als Kommunikations- und Informationssystem durch Geräusche, im Hinblick auf deren Eindämmung, zu streun. Die von Shannon propagierte allgemeine Kommunikationstheorie (die seit ihrem ersten Erscheinen jedes Gespräch über Sprache als Schauplatz der Informationskommunikation – stillschweigend oder ausdrücklich – unterhält, ubiquitär wie das Geräusch in ihrer – unverGeräuschkulissen | 245

ortbaren – Mitte, gegen dessen Streuung ihr Entwurf angeht) wird in der Einleitung schematisch so veranschaulicht: information source transmitter

receiver signal

received signal

message

destination

message

noise source

Fig. 1 – Schematic diagram of a general communication system.

Sie zerfällt in vier Bestandteile, allenthalben einem Fünften (oder Vorersten), eindringendem Geräusch von außen ausgesetzt, das nicht nur den Bestand der Teile, sondern deren systematischen Zusammenstand erschüttert. Die beiden Enden der Informationskette, Informationsquelle – information source – und Bestimmungsort – destination –, nennt Shannon auch terminals: Endstationen oder, den Termini ähnlich, die, ein Feld als festumrissenes Gelände abzustecken, aufgerichtet stehn, das bestellte Innerhalb vom unbestellten Außerhalb zu scheiden, -steine. Diese Enden aber ragen zweischneidig: weder ganz innen noch ganz außerhalb, weder bloß Teil des Feldes noch auch einfach nicht. Die Zweischneidigkeit der Enden, Orte der Informationsproduktion und -rezeption, wird dadurch unterstrichen, daß Shannon ihre Anfälligkeit für Geräusche betont: »During transmission, or at one of the terminals, the signal may be perturbed by noise«11. Die Informationsquelle produziert eine der empfangenden -station zu kommunizierende Nachricht – message –; ein transmitter verwandelt die produzierte Nachricht, wiederum durch Produktion, in ein übertragbares Signal – signal –, bestimmt, den Weg durch einen Kanal – channel –, »merely the medium used to transmit the signal from transmitter to receiver«12, zurückzulegen und den Empfänger – receiver – zu erreichen, der gewöhnlich die umgekehrte Operation durchführt: durch Entzifferung aus dem Signal die Nachricht rekonstruiert, dieselbe am Bestimmungsort einer Person oder einem Ding, denen die Nachricht bestimmt war, 246 | Thomas Schestag

auszuliefern. Das Diagramm und seine Beschreibung (oder Deutung) – ohne außer acht zu lassen, daß schon das Diagramm, durch die Wahl zum Beispiel, die auf die sechs Kästchen fällt, eine unterschwellige Situation auslegt – stiften, an mehr als einer Stelle, Verwirrung. Denn wo genau die terminals gelegen, zu verorten sind, bleibt offen. Am anfälligsten für Geräusche, Geräuschbeflüsterung und -beeinflussung, heißt das Signal oder Zeichen während der Übertragung, also unterwegs durch den Kanal, oder an einem seiner Enden, also im Übertragungs- oder Empfangskasten, die jetzt den beiden andern, äußern Enden oder Kästchen eingefaltet oder eingelagert vorzustellen sind. Die Endstationen zerfallen bei genauerem Hinsehn, der Evidenz des Diagramms zum Trotz, in je zwei ineinander verschachtelte Kästchen, denen Produktion und Verwandlung der Nachricht zum Signal, dann die Rückverwandlung des Signals zur Nachricht und deren Auslieferung am Bestimmungsort obliegt. Zwischen transmitter (der die Nachricht zum Signal verwandelt) und receiver (der die Rückverwandlung des Signals zur Nachricht durchführt) situiert Shannon den Kanal – channel –, den er durch die Wendung, er sei bloß das Medium, das gebraucht wird, um das Signal vom Übermittler (transmitter) zum Empfänger (receiver) zu übermitteln – to transmit –, zu neutralisieren sucht. Auch hier greift eine eigentümliche Verdopplung oder Spaltung Raum: das Übermittlerkästchen lokalisiert bloß den Ort der Verwandlung der Nachricht zum übermittelbaren Signal, doch ohne das Signal zu übermitteln. Nicht der Übermittler – dem Wort transmitter zum Trotz – übermittelt das Signal, sondern der Kanal. Der transmitter unterbricht den Vorgang der Übermittelung, den zu bedeuten und mitzuteilen seine einzige Mission scheint: er überläßt (durch Transmissionsaufgaben überfordert) das Zeichen dem Kanal (der durch kein siebtes Kästchen veranschaulicht wird, sondern dessen Verortung und Veranschaulichung im Diagramm ausfällt) zur Übermittelung. Zwischen Transmitterkästchen und Transmissionskanal klafft eine Lücke, die kein Transmissionstransmitter überbrückt. Der Wahl des Wortes Kanal aber (das eine künstlich gefaßte, gegen Ausuferung und Einflußnahmen gefeite vorgezeichnete Bahn suggeriert) liegt bloßes Wunschdenken zugrund. Die Rede vom Kanal legt ein gebahntes Innen oder Innerhalb, dem Verlauf des Zeichens vorgezeichnet, nah: als wäre (auch hier ist Spaltung oder Doppelung Geräuschkulissen | 247

im Spiel) der Kanal das Zeichen des Zeichens: dem (zu kanalisierenden) Zeichen das (kanalisierende) Zeichen. Der Kanal signalisiert dem zu übermittelnden, von der Nachricht zum Zeichen kanalisierten Signal den Weg. Die von Shannon erweitert genannte mathematische Kommunikationstheorie, im Hinblick auf eine allgemeine Kommunikationstheorie, gilt der Inklusion einer Reihe von Faktoren, insbesondre aber dem »effect of noise in the channel«13: im Kanal. Noise stößt von außen auf den Kanal, trennt die Kanalwand auf, dringt in den Kanal und – im Kanal – in das kanalisierte Zeichen ein, wie Weaver an einer Stelle seines Beitrags betont: »All of these changes in the transmitted signal are called noise«14. Das Zeichen im Kanal (oder Kanalzeichen), unterwegs durch ein Zeichen (den Zeichenkanal), ist im Kanal der Beeinflußung durch noise am ungeschütztesten ausgesetzt. Das Pochen, unter Aufgebot des Wortes channel, auf ein verortbares Innerhalb des Transmissionsvorgangs vergrößert bloß das Fehlen eines Dammes oder einer Wand gegen Geräusch von außen: »During transmission, or at one of the terminals, the signal may be perturbed by noise. This is indicated schematically in Fig. 1 by the noise source acting on the transmitted signal to produce the received signal«15. Im Transmissionskanal ist das übermittelte (nämlich zu übermittelnde) Signal nicht nur unterwegs, um empfangen zu werden, sondern um ein anderes Signal, das zu empfangende Signal zu produzieren: wiederum Verdopplung, oder Spaltung, des Signals unterwegs durch den Kanal, weniger in zwei, als entzwei oder zwie-: das transmittierte Zeichen (das es genau genommen an keiner Stelle des Übermittlungsvorgangs je war) nicht mehr, das empfangene Zeichen (das es genau genommen an keiner Stelle des Übermittlungsvorgangs je gewesen sein wird) noch nicht; weder übermittelt noch empfangen, sondern ausgesetzt, zeigt das Zeichen im Kanal, auf dem Sprung vom zu übermittelnden zum zu empfangenden, nichts als Empfänglichkeit für das, was Shannon und Weaver noise nennen. Dies Rauschen durchläuft aber schon die Wahl, die auf das Wort Kanal fällt. Eine Stelle in Weavers Beitrag, die Transmission von Information durch mündliche Rede ins Auge fasst, vergrößert (wider Willen) die Unfaßbarkeit und Unumreißbarkeit des Kanals, oder Mediums:

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In oral speech, the information source is the brain, the transmitter is the voice mechanism producing the varying sound pressure (the signal) which is transmitted through the air (the channel). In radio, the channel is simply space (or the aether, if any one still prefers that antiquated and misleading word), and the signal is the electromagnetic wave which is transmitted.16

Kanal ist hier das Leitwort, doch das Wort führt in die Irre, denn die Atemsphäre Luft kanalisiert die emittierten Töne oder Tonfolgen nicht, sondern streut sie. Im Fall des Radios (als Kanalanlage, die zwischen verschiedenen Kanälen zu wählen erlaubt) wird das Irreführende der Rede vom Kanal noch deutlicher, denn die Sendung wird, dem lateinischen Verb radiare entsprechend, ausgestrahlt: das Ausgestrahlte aber macht nicht, wie das Wort Rundfunk suggeriert, die Runde, den einen Radius (des ausgestrahlten Worts) um den andern (des – durchs Ohr – empfangenen Worts) zu ergänzen und den Kreis der Informationskommunikation zu schließen, sondern strahlt – uneinsammelbar – auseinander: verfliegt. Den Kanal, im Fall der Radioübertragung, nennt Weaver simply space, wobei das Adverb simply das leise Unbehagen über Inadäquation zwischen space und channel, grenzenlosem Raum und einer durch Begrenzung ausgezeichneten Wanne oder Rinne, weniger kaschiert als ausstellt (oder -strahlt), und öffnet eine Klammer, die ins Bodenlose führt: welches Wort ist in der Lage oder imstand (ist das Wort Lage oder das Wort Stand hier angemessen?), die Informationsübertragung in Worten, durch mündliche Rede oder durchs Radio zum Beispiel, gegen Irreführungen und Mißverständnisse gefeit, beim Namen zu nennen, also nicht bloß über beliebige Sach- und Sprachverhalte zu informieren, sondern das Informieren selbst, die eine, eigentliche Informationsinformation bereitzustellen; nicht bloß zu übertragen, sondern Übertragungsübertragung zu gewährleisten: das Übertragen selbst, denn das Wort transmission soll die Quintessenz der Informationskommunikation bedeuten, zu übertragen: Übertragung anzutragen? Warum die Wahl von Shannon und Weaver auf die Worte information und transmission fällt, ob andre Worte oder ob Wortlosigkeit den Weg zur Selektion der Worte information und transmission bahnen, darüber wird keine Information bereitgestellt, geschweige denn übertragen. Genau dort – doch dies Dort hat keinen festumrissnen Ort –, wo Informationsinformation Geräuschkulissen | 249

und Übertragungsübertragung beiden, der Informationsübertragung den Boden bereiten sollen, klafft Bodenlosigkeit. Genau dort greift – bloßem Rauschen nah – Stille Raum. Diese unerhörte, ins Herz der mathematischen Kommunikationstheorie zielende Frage der Wortwahl und möglicher An- oder Unangemessenheit der selegierten Worte (die zumeist stillschweigende Verwerfung und Ausklammerung andrer Worte impliziert) an die Darstellung der skizzierten Theorie streift Weaver in der Klammer. Sie bietet in dem Wort aether eine von Weaver antiquiert und irreführend genannte Alternative, also ein Scheinsynonym zu dem Wort space an. Ohne Antwort darüber, wie ein Wort als Führer vom Wort als Verführer, das (schlechte) alte vom (guten) neuen unterschieden werden kann. Die der Klammer eingebaute Warnung vor Worten, die nur so tun, als übertrügen sie Information über Genese und Struktur der Informationsübertagung, zuletzt aber – also zu spät – vor die Einsicht führen, daß sie nicht tragen, sondern trügen, stellt kein Kriterium bereit, das wegweisende, zum Ziel führende Worte (deren Führung man sich blindlings anvertrauen darf, ja – ohne Widerrede – muß) von irreführenden Worten (die nur so tun, als führten sie zum avisierten Ziel, in Wirklichkeit aber ablenken, fehlgehn, irreleiten, in Fallen locken oder einen Hinterhalt) zu sondern erlaubt. Die Klammer stiftet genau jene Verwirrung, in und zwischen Worten, die sie ein- oder auszuklammern sucht. Und lenkt, wider Willen, den Blick auf Irritationen, wo nicht Irreführung, die das Wort Kanal verbreitet, dem Shannon und Weaver weniger vertrauen als verfallen, verführt von Führungsqualitäten, die das Wort channel ausstrahlt. Ein Versprechen: den Informationsfluß durch eine gegen Einflußnahme (Geräusch) von außen künstlich abgedichtete, isolierte Röhre hindurch – unabgelenkt – auszurichten. Die Rede vom Signalkanal unterstreicht bloß die Anfälligkeit, allenthalben, eines jeden Kästchens in der Kette, die sie im Rahmen des schematisch dargestellten allgemeinen Kommunikationssystems bilden –; eines jeden Worts (an syntaktischen Ketten) in jedem der Sätze, die das Diagramm veranschaulichen –; für das, was Shannon und Weaver noise nennen, wiederum in ein Kästchen getan – vom Willen zur Verortung getragen –, das noise source heißt, und an dem die zwischen information source und destination gespannte Kästchenkette wie an einer rätselhaften Brosche hängt. Beide Texte übergehn mit 250 | Thomas Schestag

Schweigen nicht nur die Wahl, die auf die Kästchen fällt, sondern auch die Auswahl eines jeden Worts, dem sie, aufgrund der verwirrenden Vorannahme führender und irreführender Worte, den Vorrang (vor andern) geben. Diese Verwirrung, zwischen -führung, Verführung und Irre-, treibt das Wort channel auf eine Spitze, die bricht: es kanalisiert sie nicht, sondern verdichtet – undicht – ihre Unumreißbarkeit. Dem Schweigen über das Motiv der Wort- und Kästchenwahl im Text, der die Grundbestandteile einer allgemeinen Kommunikationstheorie darzustellen und mitzuteilen sucht, entspricht der Umstand, daß Shannon und Weaver ausdrücklich Selektion ins Zentrum der skizzierten Theorie rücken, obwohl ihr im Diagramm kein Ort, kein Kästchen zugewiesen wird. Sie glänzt dort durch Abwesenheit. Denn die Zusammensetzung des Systems aus einer Reihe von Bestandteilen resultiert aus Selektionsvorgängen, deren Begründung ausfällt. Auch das Wort selection trägt an dem Zwiespalt, daß der Vorgang, der zur Selektion des Selektionsvorgangs und seiner Verortung – ortlos genug – im Aufriß dieser Theorie führt, unterschlagen wird. An einer Stelle in Shannons Beitrag kommt dieser Zwiespalt so zur Sprache: »Frequently the messages have meaning […]. These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem. The significant aspect is that the actual message is one selected from a set of possible messages«17. Mitteilungen – messages – sind im Rahmen dieser mathematischen Kommunikationstheorie nicht dadurch definiert, daß sie Bedeutung übertragen. Bedeutungsfülle oder -leere der Botschaft, so Shannons Botschaft an dieser Stelle, hat unterm technischen Gesichtspunkt der Zusammensetzung des Kommunikationssystems oder für das, was Shannon auch Design nennt, dem Ingenium oder generativen Genie des Ingenieurs überlassen (offen zwischen List und Erfindungsreichtum), keine Bedeutung. Die Bedeutung der message für den Ingenieur, innerhalb des Kommunikationssystems, das er entwirft, das ist die message des Ingenieurs an die Leser hier – wobei das Blattbuch offenbar als Kommunikationskanal gilt –, liegt (von außen betrachtet) darin, daß sie keine hat. Unter der Wendung significant aspect kehren aber die semantischen Aspekte, die innerhalb des Kommunikationssystems für den Ingenieur des ganzen Systems keine Rolle spielen sollen, im Hinblick auf Betrachtung des KomGeräuschkulissen | 251

munikationssystems von außen, unter informationstechnischen Gesichtspunkten wieder. (Shannon, der von semantic aspects zum significant aspect wechselt, verliert kein Wort darüber, welche Bedeutung fürs Bedeuten in der Ersetzung oder Übersetzung des griechischen Verbs semaínein durch das lateinische significare liegen könnte.) Denn von Bedeutung für den Ingenieur ist, gleichgültig ob die zu kommunizierende Botschaft, einer insgeheim vorausgesetzten, von Shannon aber unterschlagenen, stillschweigend übergangenen Bedeutungsbedeutung zufolge, bedeutungsvoll oder -leer heißt, dies: daß die wirklich zu übertragende Botschaft aus einem Set möglicher Botschaften ausgewählt oder selegiert, als Botschaft identifiziert und zum Signal, im Hinblick auf dessen Decodierung, verschlüsselt wird. Die Bedeutung der message für den Ingenieur liegt in ihrer Selegierbarkeit aus einem endlichen Satz – in einen Satz- oder Setzkasten situiert (ein Kästchen mehr, das aus dem Diagramm ausfällt) – gegebener, festgesetzter, typisierter Botschaften. Im Fundus dieser Messagerie liegt jede mögliche Botschaft designiert vor. Alles, was dieser mathematischen Kommunikationstheorie nach – auf dem Sprung zur allgemeinen, allumfassenden – überhaupt kommuniziert werden kann, ist schon gesagt, situiert: verortet. Ungesagt aber bleibt, daß der Selektion einer (wirklichen) aus dem Set aller (möglichen) messages eine Selektion vorausgegangen sein muß, die alles Mitteilbare vom Unmittel- und Unmitteilbaren sondert. Ungesagt, welches Kriterium die verbindliche Separation alles Un- vom Mitteilbaren bewerkstelligt haben soll. Die impliziten Kriterien für die semantische Fassung dessen, was Shannon message nennt, sind Situierbarkeit, Identifizierbarkeit, Satz- und Signalcharakter, verdichtet in das Leitwort Selektion. Warum Shannons Wahl, auf der Suche nach dem semantischen Inbegriff von message, nicht aufs Bedeuten, sondern auf Selektion oder, genauer, Selegierbarkeit einer beliebigen Nachricht in actu aus dem Set – oder Kästchen – aller in potentia gegebenen Nachrichten überhaupt fällt; warum der Ingenieur an dieser Stelle auf die durch scholastische Terminologie – potentia und actus – vermittelte aristotelische Distinktion von dúnamis und enérgeia zurückgreift, oder ob hier die dem Ingenieur vertrauten Begriffe energy und dynamics irreführend dazwischenkamen und Rückbesinnung auf enérgeia und dúnamis wie auf deren Übersetzung durch actus und potentia verhinderten; ob Shannon in 252 | Thomas Schestag

dem Wort selection das Ideal der freien Wahl vorschwebte, ob dabei Führung, Verführung oder Irreführung im Spiel war, ob Wahlmöglichkeit bestand, oder ob Shannon keine andere Wahl blieb, die Wahl aufs Wählen als Inbegriff der message fallen mußte, von einer (freien) Wahl, die zur Wahl der Wahl führte, demnach keine Rede sein kann, sondern Zwang zur Selektion der Selektion nötigte, folglich im Aufriß dieser Kommunikationstheorie allenthalben Selektionszwang herrscht; kurz, welches Motiv – zwischen Freiheit und Notwendigkeit – die Selektionselektion veranlaßte, wird wieder mit Schweigen übergangen. In seinem Beitrag, »Some Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communications«, kommt Warren Weaver auf die um Selektion verhaltene Passage in der Einleitung von Shannons Beitrag zurück, indem er über die Bedeutung des Wortes information im Rahmen dieser Theorie informiert und zweimal nachdrücklich vor Verwirrung (oder Irreführung), die das Wort information kennzeichnet, warnt: The word information, in this theory, is used in a special sense that must not be confused with its ordinary usage. In particular, information must not be confused with meaning. / In fact, two messages, one of which is heavily loaded with meaning and the other of which is pure nonsense, can be exactly equivalent, from the present viewpoint, as regards information. It is this, undoubtedly, that Shannon means when he says that »the semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering aspects.« But this does not mean that the engineering aspects are necessarily irrelevant to the semantic aspects.18

Die Wiederholung der Wendung must not be confused unterstreicht, daß jedes beliebige Wort, gleichgültig ob gesagt oder aufgeschrieben, Verwirrung stiftet, weil zwischen Wort und Bedeutung (oszillierend zwischen -fülle und -leere) eine – asemantische, asignifikative, zeichenlose, weder bedeutungsvolle noch bedeutungsleere – Lücke klafft. Diese Kluft, aus der Varros Distinktion zwischen ut loqui und loqui, Sprechen als ob (Bedeutung mitgeteilt würde) und Aussprechen eines Wortes seines Orts (intendierte semantische Gehalte mitzuteilen) wiederkehrt, begegnet Weaver in der von ihm gestreiften Distinktion zwischen to say und to mean. Für das Innerhalb der skizzierten Theorie, angelegt auf Informationskommunikation, Geräuschkulissen | 253

geht der Unterschied zwischen einer Nachricht, deren Bedeutung darin liegt, etwas zu bedeuten, und einer Nachricht, deren Bedeutung darin liegt, nichts zu bedeuten, zwischen einer Nachricht, die Weaver loaded with meaning, und einer Nachricht, die Weaver pure nonsense nennt, gegen Null. Doch von außerhalb, im Hinblick nicht nur auf das bedeutungsneutrale Innerhalb, sondern im Hinblick auf Informationsinformation, also auf bedeutsame Mitteilung über die Bedeutung der intendierten Bedeutungsneutralität von information insbesondere, wie im Hinblick auf Mitteilung über die Genese der Struktur einer mathematischen Kommunikationstheorie – auf dem Sprung zur allgemeingültigen – überhaupt, wäre die Einebnung des Unterschieds zwischen to say und to mean desaströs. Verwirrend genug, wo nicht bereits verheerend, ist die von Weaver angeschnittene – aber stillschweigend übergangene – Einsicht, daß das Sagen eines Worts seine Bedeutung nicht mitsagt oder -teilt, sondern daß die Suche nach der Bedeutung eines Worts auf Deutung angewiesen bleibt. Weaver verkapselt die (leisen) Zweifel an der Bedeutung des von Shannon Gesagten in das Wort undoubtedly, wenn er schreibt: »It is this, undoubtedly, that Shannon means when he says […]«. Erst der Zusatz des Worts zweifellos streut die Zweifel, die das Wort zerstreuen soll: Zweifel an der beschworenen Verbindlichkeit zwischen to say und to mean; Zweifel an der Annahme, dem Gesagten sei das Gemeinte (und läge seine Bedeutung darin, nichts bedeuten zu wollen) immer anzusehn, es abzulesen. Die Ungewißheit darüber, das von Shannon Gemeinte getroffen oder verfehlt zu haben, rührt daher, daß der deutenden Suche nach der Bedeutung des Gesagten der Rückgriff – oder Vorgriff – auf Selektion einer aktualisierten Bedeutung aus einem festumrissnen Set gegebner möglicher Bedeutungen versagt bleibt. Das von Weaver angeführte Beispiel für eine nicht schon situierte, aus dem Selektionspool aller möglichen Informationen überhaupt ausfallende, also Risse durch den Glauben an ein vollständiges Universalset potentieller Informationsvorgaben legende Information, ist seine Informationsinformation über das Wort information, von dem es heißt, es werde in dieser Theorie »used in a special sense that must not be confused with its ordinary usage«. Dieser unerhörte, ungebräuchliche, zuvor unbekannte, also erstmalige, innovative Gebrauch des Wortes information liegt insbesondre darin: »In particular, information must not be confused 254 | Thomas Schestag

with meaning«. Die verwirrende Bedeutung des Wortes information im Rahmen dieser Kommunikationstheorie liegt in der Forderung, information nicht mit Bedeutung zu verwechseln. Der Hinweis darauf, die Bedeutung des ungewöhnlichen Gebrauchs von information nicht mit Bedeutung zu verwechseln, schließt aber das Bedeuten aus der Information nicht aus, sondern läßt die Bandbreite dessen, was information heißt, zwischen Bedeutungsfülle und -leere oszillieren. Die Wendung pure nonsense bedeutet, non- habe die Bedeutung, keine Bedeutung zu haben: sie deutet, durch Beistellung des Beiworts pure, das unausrichtbare, indefinite non- in -sense zum Negativ der Bedeutungsfülle, Nicht- zu Nichts (als Gegenteil von Etwas) um, um im Rahmen der skizzierten Kommunikationstheorie, die nichts als Information kommuniziert, nicht Fühlung mit Asemie, also Zeichenlosigkeit (im Aufriß des Zeichens) zu nehmen, die den Signalcharakter von Informationsen- und -decodierung ruinierte. Doch diese Vorkehrungen kommen zu spät. Weavers Zusatz zu Shannons Wendung »that ›the semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering aspect‹«: »But this does not mean that the engineering aspects are necessarily irelevant to the semantic aspects«, verweist auf den anschließenden Satz, in dem Shannon Selektion als Inbegriff der Informationskommunikation einführt: »The significant aspect is that the actual message is one selected from a set of possible messages«. Dem intendierten Ausschluß semantischer Aspekte im Hinblick auf information innerhalb des Kommunikationssystems entspricht das Pochen auf signifikante Aspekte im Hinblick auf information von außerhalb, aus der Ingenieursperspektive: die Bedeutung von information soll in deren Selegierbarkeit, in Selektion aus einem Set gegebener und typisierter, gearteter Zeichen liegen. In dieser zur Selektionstheorie verengten Kommunikationstheorie steht das Wort selection unter Druck: bekanntlich entspringen selection und election den lateinischen Verben seligere – sondern, auswählen, -lesen – und eligere – auslesen, -wählen –, die auf das lateinische Verb legere – lesen – zurückgehn, seinerseits dem griechischen Verb légein entlehnt. Die auf den Auslesevorgang fallende Wahl als Inbegriff von information wählt selection – oder election, gleichviel – nicht ihrerseits aus einem endlichen Set gegebener möglicher Bedeutungen des Lesens, als läge, was Lesen heißt, als ein Assortiment gegebener Lesarten vor, sondern gibt dem L ­ esen Geräuschkulissen | 255

als Auslese oder Selektion den Vorzug, ohne der unterliegenden, wahllosen Frage nachzugeben oder nachzugehn, was Lesen – legere, légein – heißt. In dieser zur Selektionstheorie verengten Kommunikationstheorie, nichts als Information zu kommunizieren, steht aber auch das Wort information unter Druck: denn Bedeutungsexklusion innerhalb und Bedeutungsinklusion außerhalb des Kommunikationssystems überlappen einander so, daß der zum selegierenden oder auslesenden verengte -lesende Blick (der Ungewißheit darüber ausgesetzt, was Lesen heißt), der eine vereinzelte Information aus dem Fundus aller möglichen Informationen überhaupt herauszugreifen und zu aktualisieren, nämlich zu kommunizieren sucht, ins Leere greift, weil im Augenblick des Zugriffs zwei Deutungsansätze von information einander vor den Kopf stoßen: information als zur Selektion designierte, bedeutungsneutrale (zwischen Bedeutungsfülle und -leere schwankende) Zeichenvorgabe begegnet der Informationsinformation – einem Imperativ –, die Bedeutung von information in nichts als in deren Selegierbarkeit gelegen zu sehn; in ihr aber der unterschlagnen, unterschwelligen (unerinnerbaren) Erinnerung daran, daß außer der einen, durch Selektion charakterisierten Deutung von information andere Deutungsansätze, aber nicht im Sinn der Selektion oder Auslese anderer Informationsarten, übrig bleiben, weil die unterliegende Ungewißheit über das Lesen andere als bloß deutende oder hermeneutische (an Bedeutungsverschlüsselung und -freilegung orientierte) Operationen, sie mögen -errationen, Irren heißen, übrig läßt. Dies Innewerden maßloser Übrigkeit in der Wahrnehmung eines beliebigen Zeichens oder Worts, die immer auch anders denn als Zeichen und als Worte übrigbleiben, fassen Shannon und Weaver in das andre Leitwort ihrer Theorie, dem sie alles, was an Verwirrendem und Irreführendem das Zustandekommen systematischer Informationskommunikation aufhält und erschüttert, zuschreiben, zusammen: noise. Noise bedeutet, der Annahme entsprechend, information sei auf einer Skala zwischen Bedeutungsfülle und -leere anzusiedeln, weder bedeutungsleer noch -voll, kein zum Signal verschlüssel- oder aus Signalen entschlüsselbares Zeichen, sondern Eskalation unmittelbar – an unbestimmtem Ort, zu unbestimmter Zeit –, von Asemie im Aufriß des Zeichens, allenthalben: am Ort der Informations­ selektion, im Transmitterkästchen oder im Kanal, im Empfänger­ 256 | Thomas Schestag

kästchen oder am Bestimmungsort. Dem unberechenbaren Auftauchen von noise an jeder beliebigen Stelle der Informationskommunikation zum Trotz verortet das schematische Diagramm des allgemeinen Kommunikationssystems das Geräusch in eine Quelle, der es entspringt, und präzisiert die Quelle, durch ein Kästchen dargestellt, zur gefaßten. Von einer Geräuschquelle als Quelle des Geräuschs ist gleichwohl nirgendwo die Rede, sondern immer nur vom Geräusch als Quelle: Noise quillt allenthalben: illokut. Dies Motiv der Kästchenwahl, nicht als Wahl zwischen Kästchen, sondern der Umstand, daß im Hinblick aufs Design des Diagramms die Wahl auf die Verwendung eines Kästchens fällt – case im Englischen –, entspringt nicht nur dem Vorsatz der Veranschaulichung eines Tatbestandes, sondern einem Wunsch: das entfesselte Geräusch auf eine Geräuschquelle zurückverfolgen zu können, um die Quelle zu versiegeln oder versiegen zu lassen. Jedes Kästchen verkapselt einen Wunsch: die Informationsquelle soll vor Einflußnahme durch Geräusch in Schutz genommen, die Geräuschquelle aber ausgeschaltet werden. Das Motiv der Kästchenwahl oszilliert in seinem Ursprung zwischen Angriff (oder Anklage) und Verteidigung, Protektion und Aggression, Informationserhalt(ung) und Geräuschvernichtung. In Shannons Beschreibung der Intervention von noise in die Informationsübertragung begegnet das Wort case, aber nicht als Kästchen, sondern unter der Bedeutung (Vor)Fall und (Rechts)Fall: »We now consider the case where the signal is perturbed by noise during transmission or at one or the other of the terminals. […] Two cases […] The case of interest here is that […]. In this case […]«19. Die Rede vom Fall der durch Geräusch gestörten Signaltransmission bringt, aus der Nähe des Vorfalls zur Verhandlung eines Rechtsfalls vor Gericht, wieder das Kästchen ins Spiel: als gälte es, den Fall der Geräuschintervention in die Informationsübertragung zum Delikt zu fassen, den Fall vor Gericht zu ziehn, ihn im Hinblick auf ein abschließendes Urteil zu verhandeln, den offenen Fall – wie ein offenes Kästchen – zu schließen und den abgeschlossenen (als potentielle Information für kommende Geräuschverfahren) ad acta zu legen. Doch die Verwirrung zwischen case – Kästchen – und case – Vor- und Rechtsfall –, die aus dem Klang- und Schriftbild case ununterbindbar vorbricht, verlegt die Wiederkehr ungefaßten Rauschens in den Auf- und Auseinanderriß Geräuschkulissen | 257

des Wortes case. Überhand aber nimmt, im Verlauf der Geräuschdiskussion bei Shannon und Weaver, eine Wortwahl, die an Krieg erinnert. »There are […] ways«, schreibt Shannon, »of transmitting the information which are optimal in combating noise«20. Und: »if the source already has a certain redundancy and no attempt is made to eliminate it in matching to the channel, this redundancy will help combat noise«21. Geräuschbekämpfung ist die erklärte Absicht dieser Theorie. Ihr Ziel: »freedom from noise«22. Die von Shannon entworfene, auf eine allgemeine Theorie und Praxis sprachlichen Handelns zielende Kommunikations- und Informationstheorie ist nicht nur eine Selektions- und Protektionstheorie im Hinblick auf information, sondern eine Aggressions- und Eliminationstheorie im Hinblick auf noise. Sie erklärt, indem sie noise den Krieg erklärt, den Kriegszustand zum Normalfall einer allgemeinen Theorie und Praxis kommunikativen Handelns23. Das Design, die Designation eines überglobal orientierten (auch das Weltall nicht aussparenden) Systems der Informationskommunikation, im Kampf gegen noise, liegt in der Ausbildung der Sprache zum engin, zur Waffe, zu Kriegsgerät; ihrer Sprecher aber zu Funktionären, die solche (Wort)Waffensysteme bedienen. Ein irritierendes Beispiel in Warren Weavers Beitrag hilft, diesen Kriegszustand zu präzisieren. Der erste, einleitende Abschnitt gilt der semantischen Füllung des Worts communication, sehr weit gefaßt: »The word communication will be used here in a very broad sense to include all of the procedures by which one mind may affect another. This, of course, involves not only written and oral speech, but also music, the pictorial arts, the theatre, the ballet, and in fact all human behavior«24. In mancherlei Hinsicht aber, so Weaver, mag es wünschenswert erscheinen, diesen sehr weit gefaßten Bedeutungsradius von Kommunikation noch weiter zu fassen, und nicht nur Menschen, sondern auch Maschinen – oder Mechanismen – einzuschließen: In some connections it may be desirable to use a still broader definition of communication, namely, one which would include the procedures by means of which one mechanism (say automatic equipment to track an airplane and to compute its probable future positions) affects another mechanism (say a guided missile chasing this airplane).25

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Kommunikation in dieser allerweitesten Bedeutung schließt Vorgehensweisen und Verfahren ein, mit deren Hilfe – es handelt sich demnach um Mittel oder Medien – ein Mechanismus auf einen andern Mechanismus einwirkt, den andern affiziert. Das Aufgebot des Verbs to affect an dieser Stelle, die nichts als (kühle) Berechenbarkeit im Hinblick auf zwei Maschinen (oder Triebwerke) ins Auge faßt, streift (ohne sie zu erörtern) die verwirrende Komplizität zwischen Affekt und máthesis, Affekt und mechané. In zwei Klammern geht Weaver zur Veranschaulichung des Wortes mechanism über. Beide Klammern eröffnet das Wort say, das die Qual (oder Lust, doch offen bleibt, ob zwischen Qual und Lust Zeit zu wählen bleibt) der Wahl im Augenblick der Selektion (zwischen Freiheit der Wahl und Selektionszwang) unterstreicht: sagen wir (doch say durchlaufen auch unausrichtbare Anzeichen einer Forderung: Sag! oder: Na, sag schon!), um aus der Fülle aller Beispiele eines (bestimmt oder beliebig, gleichviel) herauszugreifen (doch kein Wort darüber, ob ein Ziel vor Augen oder Blindheit die umsichtig wählende oder wahllos greifende Hand führt oder irreführt). Sagen wir (mal), doch wir tun nur so, als meinten wir auch, was wir sagen, wenn wir sagen, was wir gleich sagen, denn wir könnten auch was andres sagen (ohne es zu meinen): als sollte say, zuvorkommend, die aggressive, letale Ausrichtung des Beispiels zurücknehmen, entschärfen und neutralisieren (zumindest so tun, als ob …). Ein Mechanismus (sagen wir, automatische Ausrüstung, um ein Flugzeug aufzuspüren und kommende Punkte im Verlauf seiner Flugbahn zu berechnen – to compute –) affiziert einen andern Mechanismus (sagen wir, ein ferngelenktes Geschoß auf der Jagd nach diesem Flugzeug). Kommunikation, so legt das Beispiel nah, in ihrer allerweitesten, umfassendsten Bedeutung (die ans Fassungslose rührt), zielt darauf, ein (Informations)Geschoß so zu lenken, fernzulenken, daß es seinen Bestimmungsort (und wäre der ein bewegliches Ziel) erreicht, und vernichtet. Der (unerklärte) Kriegszustand, sein Terror, den dieses Beispiel auf Kommunikation in ihrer allerweitesten Bedeutung appliziert und (insgeheim) zur Norm faßt, präzisiert den andern Krieg, den die verallgemeinerte Kommunikationstheorie dem Rauschen, bloßem Geräusch – noise – erklärt. Um Informationskommunikation im Kriegszustand, um den globalen Informationskrieg aller (Informationen) gegen alle (Informationen) durchzusetzen und Geräuschkulissen | 259

aufrechtzuerhalten, den (totalen) Kriegszustand zum Normalfall (sprachlichen Handelns) erklären zu können, muß dem Rauschen der Krieg erklärt, noise ausgelöscht werden. Da noise aber, unzurückführbar auf eine Geräuschquelle, jedes Kästchen, jeden Posten in der Kommunikationskette affiziert, nicht auf der Strecke, sondern übrig bleibt, muß die (unerklärte) Absicht einer allgemeinen Kommunikationstheorie und -praxis (sie umfaßt Menschen und Maschinen) auf Selbstvernichtung, restlose Auslöschung, Autoextermination des überglobalen Informationssystems wie aller teilhabenden Gesellschaften und Gesellschafter zielen. Die (verschwiegene) Explosion beider Mechanismen oder Geschosse, die Weavers Beispiel bietet, im Augenblick ihres Aufeinandertreffens, von Flugzeug und ferngelenkter Waffe, von Information(squelle) und Bestimmungsort, den Enden oder Terminals im schematischen Diagramm eines allgemeinen Kommunikationssystems, läßt nichts übrig als das, was nicht übrig bleiben soll: noise. Der Rest ist Rauschen (oder Stille). Noise nennt, was den erklärten Krieg aller (Information) gegen alle (Information) aufhält, und brachlegt: einen irritierenden Informationswaffenstillstand. Noise wäre (wenn noise – seines Orts gegeben – wäre, doch noise bleibt illokut) der (unerklärte, weil unerklärliche; unbegriffliche, weil unbegreifliche) Inbegriff einer Theorie und Praxis sprachlichen Tuns und Nicht- oder Untuns, einer eigentümlichen Nichtsnützigkeit, in Frieden. Gelassen. Ausgelassen. Ihm ginge keine Friedenserklärung, kein -abkommen, keine Absicht, kein -beschluß voraus. Mißverstand. Im Frühjahr und Frühsommer 1807 schreibt Johann Peter Hebel seine Beiträge für den ersten Jahrgang – auf das Schaltjahr 1808 – des von ihm allein redigierten badischen Landkalenders, der unter dem grenzgängerischen Namen Der Rheinländische Hausfreund (auch über die Grenzen des Großherzogtums Baden hinaus) Verbreitung finden wird. Genau in die Mitte des Calenders rückt Hebel ein Prosastück zur gegenwärtigen weltpolitischen Lage unter dem Titel »Der Preussische Krieg«26. Der Kriegsberichterstattung voraus schickt der rheinische Hausfreund die Hoffnung, dem Leser das nächstemal viel Erfreuliches vom Frieden sagen zu können. Die Hoffnung auf Frieden aber nötigt zur Rede vom Krieg:

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Weil ich hoffe, dem Leser des rheinischen Hausfreundes das nächstemal viel Erfreuliches vom Frieden zu sagen, so müssen wir dießmal auch etwas vom leidigen Krieg erwähnen. Denn ohne Krieg wird in der ganzen Welt kein Frieden geschlossen, und ein wohlgezogener Kalender soll seyn ein Spiegel der Welt.27

Daß ohne Krieg in der ganzen Welt kein Frieden geschlossen wird, leuchtet jedem Leser ein. Der Krieg, so könnte man schließen, ist Bedingung – conditio sine qua non – der Möglichkeit, Frieden zu schließen: ohne Krieg kein Frieden. Die Hoffnung auf Frieden muß vor dem Krieg bedingungslos kapitulieren. Denn der Weg zum Frieden führt über den Krieg, der erklärt und geführt wird. Das rückt den Krieg fast in die Rolle eines Friedensstifters. Der Krieg in actu sei, so ließe sich, dem Schlußverfahren treu, fortfolgern, weil nur er die Hoffnung auf Frieden weckt und nährt, der potentielle Friedenszustand: mit seinem Ende erlischt auch die Hoffnung auf Frieden. Anders wiederholt: wer gegen den Krieg polemisiert, gefährdet den Frieden. Doch diesem Schluß kommt die Wendung ohne Krieg in die Quere. Denn eine Welt ohne Krieg ist nicht die Welt im Frieden, sondern eine Welt, die ohne Krieg, folglich auch ohne Frieden, den immer kriegführende Mächte schließen, auskommt. Was in dem Satz »Denn ohne Krieg wird in der ganzen Welt kein Frieden geschlossen« für Unruhe sorgt, ist das Wort ohne. Einerseits erklärt der Satz den Krieg zum Vater aller Dinge (Friedensabkommen und -verträge, die, nur weil sie geschlossen, auch gebrochen werden, eingeschlossen). Kurz: ohne Krieg – kein Frieden. Doch dem Einerseits entspricht kein Andererseits, sondern entspringt – zwiespältig – und spaltet den Glauben an den Zusammenhalt der einen Seite, auch dies: ohne Krieg – kein Frieden. Eine Welt ohne Krieg braucht keinen (geschlossenen) Frieden. Sie lebt, weil ohne Krieg, auch ohne Friedensschluß und -bruch. Die Wendung ohne Krieg zerbricht den Spiegel, nicht zuletzt auch den Satzspiegel des Kalenders, der ein wohlgezogenes Bild der Welt werfen soll. Der Satz, aus dem Der Rheinländische Hausfreund sie auftauchen läßt, erschüttert – unterschwellig – die Wohlgezogen-, Wohlgeratenheit einer Welt, die ohne Krieg keinen Frieden, den Frieden ohne Krieg nicht kennt. Die Wendung ohne Krieg streift (fast stillschweigend) eine Welt, in der weder Krieg noch Frieden herrschen. Von beiden unbehelligt: in Frieden gelassen. Die Kurzberichterstattung – denn: Geräuschkulissen | 261

»wir wollens kurz machen, und hoffen, die kriegführenden Mächte machen es auch so« – von der Welt als Kriegsschauplatz zettelt Hebel (hier in Auszügen) so an: »In der ganzen Welt ist jetzt, so viel wir wissen, nur ein einziger Krieg. Aber was für einer? Einer, woraus man zwölf machen könnte. […] Kurz, ganz Europa ist im Krieg begriffen. Nur Östreich nicht, die Schweiz nicht, Dänemark und Portugall nicht, der Pabst nicht. Die andern alle«. Die Nachricht über das Weltgeschehen, in Worten ein Spiegelbild der ganzen Welt im Kriegszustand zu werfen, geht aus den Fugen. Mit ihr aber der Glaube an die ganze Welt, an ihre Katholizität, das Bild von ihr, zu Bruch. Auf das, was wir (den berichterstattenden Kalendermann und seine Leser inbegriffen) über den derzeitigen (Ausnahme- oder Normal-)Zustand der Welt wissen, ist kein Verlaß, denn die Wendung so viel wir wissen läßt ohne Auskunft darüber, wie viel, wenn so viel  … Wenig genug. Doch auch die Nachricht (oder das Gerücht, denn auch, woher wirs wissen, bleibt offen), daß in der ganzen Welt jetzt nur ein einziger Krieg ist, schreibt der Gewißheit, die sie verbreitet, leise Zweifel ein. Nur ein Krieg, ein einziger (vereinzelter) in der ganzen (weiten) Welt, erklärt den einen Krieg einerseits – Unruhe stiftet diesmal das Wort nur – zur Ausnahme vom Zustand einer Welt im Frieden: lediglich ein Krieg (eine Nachricht, die Erleichterung verschafft); andererseits – fast umgekehrt – zeichnet der Satz das Bild der ganzen Welt, ausnahmslos, im Krieg: allerorten nurmehr Krieg. Dieser andern Deutung (einer Nachricht, die Entsetzen auslöst) gibt der Berichterstatter nach: »Aber was für einer? Einer, woraus man zwölf machen könnte«. Der eine ist nicht einig, eins mit sich, sondern ein Krieg im Krieg mit der Vorstellung, ein einziger zu sein. Die kriegführenden Mächte, im Krieg miteinander wie im Krieg mit dem Krieg (insofern Krieg auf Nötigung der unterliegenden durch eine siegreiche Macht zum Friedensschluß zielt), bleiben außerstande, Einigkeit darüber zu erzielen, nur einen Krieg zu führen und den geführten zu hegen. Von Kriegführung wie von Mächten (geschweige denn von Staaten – ihres Orts –) kann unter solchen Umständen keine Rede sein. Die Führung spielt in Irreführung, Macht in Ohnmacht, der Staat in Staatenlosigkeit. Die ein und andre Seite, zwei Seiten, den einen Krieg, dort, wo die Seiten (sei’s frontal, sei’s von der ein oder andern Seite, oder Flanke) aufeinanderprallen, zu stiften, zerfallen – genau dort – in viele, die das 262 | Thomas Schestag

Bild eines von zwei wohlgezogenen Seiten begrenzten Kriegs zum Schüttel bild erschüttern: Auf der einen Seite stehen die Preussen, die Russen, und so viel man jetzt noch weiß, die Schweden. England ist auch auf dieser Seite und hilft mit Geld aus. / Auf der andern Seite stehen die Franzosen, die Deutschen vom rheinischen Bund, Italien, Holland, Spanien, der Türk. Alle diese Staaten und Mächte von beyden Seiten […].28

Jede der vereinzelten Mächte, Staaten, Staatenbünde, bleibt nicht nur auf dem Sprung, die Seite zu wechseln, sondern verbindliche Allianzen aufzulösen, andre einzugehn (wo eine Seite vorzuliegen schien, andre aufzuschlagen oder -zublättern), den Umriß der ein und andern Seite, die nur einen Krieg auslösen, zu zerschlagen; den gehegten zu entfesseln: den keine Macht (auch keine, die Staat macht) mehr führt. Der Glaube an das, was eine Seite heißt und die Einheit der einen Seite stiftet, nicht zuletzt auch die Einheit (den Blocksatz) der ein und andern unter allen andern Seiten, aus vielen Wörtern (und noch mehr Lettern) zusammengesetzt (vom Rest – diakritischen Zeichen, weißen Rändern und Lücken, Druckfehlern, etc. pp. – zu schweigen), die den ganzen Kalender bilden, geht (unter den Augen des geneigten Lesers) verloren. Als seien die Leser des Stücks »Der Preussische Krieg«, anstatt sich auf die ein oder andere Seite zu schlagen (und Stellung zu beziehn), gehalten – darin liegt die eigentümliche Verschlagenheit des Rheinländischen Hausfreunds –, sich mit Wörtern (aus Lettern) und deren Unfeststellbarkeit herumzuschlagen. »Kurz«, so setzt der Kalendermann die Kriegsberichterstattung fort, »ganz Europa ist im Krieg begriffen. Nur Östreich nicht, die Schweiz nicht, Dänemark und Portugall nicht, der Pabst nicht. Die andern alle«. Wieder stiftet nur Verwirrung und hemmt den Vorsatz, der Kurzfassung – über kurz oder lang – Vertrauen zu schenken. Die Auskunft, ganz Europa, alle euro­päischen Mächte, Staaten, -bünde, seien ausnahmslos im Krieg begriffen, wird durch den Zusatz – Nur […] nicht […] nicht […] nicht […] nicht. – zerschlagen. Der verstümmelte Fortsatz – auch er kein ganzer Satz – Die andern alle verdeutlicht bloß, daß nicht alle, sondern alle anderen im Krieg begriffen sind. Nur schwankt zwischen denen, die nur noch nicht (oder schon nicht mehr) und nur denen, nämlich allen andern, die – schon oder immer noch – im Geräuschkulissen | 263

Krieg begriffen sind. Kurz, nicht ganz Europa ist im Krieg begriffen. Die Kurznachricht Ganz Europa im Krieg wird zur Ausnahme von der Ausnahme, nicht ganz Europa sei im Krieg begriffen, präzisiert. Die Wendung nicht-im-Krieg (begriffen) gleicht in ihrer unausrichtbaren Negativität der irritierenden Wendung ohne-Krieg (kein Frieden). Sie legt Indifferenz nicht nur dem Krieg, sondern dem durch die kriegführenden Mächte diktierten Frieden an den Tag. Als traute sie dem Frieden (den der Krieg verspricht) nicht. Die Partikel nicht (im Krieg) geht weder in der Auslegung zum Nichtmehr noch in der Auslegung zum Noch-nicht (ohne beider Möglichkeit zu unterbinden) auf. Ihre Unfeststellbarkeit greift auch in den vermeinten Kriegszustand aller andern Mächte über und entstellt die Feststellung im Krieg zur unbegreiflichen: nicht-nicht-im-Krieg. Alle (anderen) im Krieg begriffnen Mächte führen Krieg nicht nur in der Hoffnung auf kommenden Frieden (in der Hoffnung nämlich, die Bedingungen des Friedens oder Waffenstillstands zu diktieren), sondern Krieg um das, was Krieg heißt, das Kriegen zu begreifen. Denn im Krieg begriffen bedeutet nicht nur, sich im Kriegszustand befinden, sondern im Begriff – nämlich auf dem Sprung – zu sein, den Kriegszustand herbeizuführen: in den Krieg zu ziehn. Die Wendung im Krieg begriffen verbreitet alles andere als Wohlgezogenheit. Daß auch der Pabst nicht im Krieg begriffen ist, respondiert, nicht ohne Ironie, der Rede von der ganzen Welt und ganz Europa, denn der Papst verkörpert, katholischem Glauben nach, den alle Christen in der ganzen Welt, die an seine Statthalterschaft glauben, teilen, den Statthalter Christi auf Erden. Die in der Rede vom Pabst (stillschweigend) angeschnittene Spaltung der Christenheit ganz Europas in eine katholische und protestantische Seite (von andern Abspaltungen, Splittergruppen, Sektenbildungen zu schweigen), wie der Umstand, daß der Pabst mit dem Türk auf der andern Seite der kriegführenden Mächte in eine Reihe rückt und eine dritte Seite – die Verzeichnung der Spaltung des abrahamitischen Monotheismus in Judentum, Islam und Christentum – aufschlägt, spielt unter der Hand darauf an, die meisten, wo nicht alle, Kriege in ganz Europa (wo nicht in der ganzen Welt) seien Religions- und Glaubenskriege: Kriege um die Deutung der ein oder andern (heiligen oder profanen) Schrift, Auseinandersetzungen ums Wort (Gottes oder eines Menschen) – seines Orts –: WortKriege. Kriege in Worten, Kriege 264 | Thomas Schestag

aus Worten, Kriege ums Wort, Worte im Krieg, Wort gegen Wort. In dieses unverwahrte, um einen Riß zwischen Wort und Kriege offene Wort, faßt Johann Peter Hebel im September 1808, in einem Brief an Sophie Haufe, was ihm die meisten (wo nicht alle) Kriege sind, zusammen: »Ein großer Theil unsers Lebens ist ein angenehmer oder unangenehmer Irrgang durch Worte und unsre meisten Kriege […] sind WortKriege«29. Wie solche Irrgänge durch Worte, im WortKrieg, die der ein oder andern Sprache der ein oder andern Seite anzugehören scheinen, aus der Fassung zu -gängen gehn, weil die Fassung der Worte zu Worten gebricht, und die Irrenden Fühlung mit dem, was ohne Krieg (und ohne Frieden), nicht im Krieg (und nicht im Frieden) heißen mag, nehmen; wie der Waffenstillstand, den eine der kriegwie das Wort -führenden Mächte unter dem Deckwort Frieden diktiert, an eine entwaffnende Situation rührt, die in und zwischen Worten Raum greift, für die weder Freund noch Feind, weder Sieger noch Besiegte, weder Krieg noch Frieden verantwortlich zeichnen; schreibt Johann Peter Hebel einem andern Stück in demselben Calen­der auf das Schaltjahr 1808 ein: Mißverstand. Im 90ger Krieg, als der Rhein auf jener Seite von französischen Schildwachen, auf dieser Seite von schwäbischen Kreis-Soldaten besezt war, rief ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache herüber: Filu! Filu! Das heißt auf gut deutsch: Spitzbube. Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts so Arges, sondern meynte, der Franzose frage: Wie viel Uhr? und gab gutmüthig zur Antwort: halber vieri. 30

Der 90ger Krieg nennt den Ersten Koalitionskrieg (1792–97), insbesondere Preußens und Österreichs, gegen die französischen Revolutionsarmeen. Seit 1792 hatten Baden und Württemberg der antirevolutionären Koalition Hilfstruppen zur Verfügung gestellt. Die Wendung als der Rhein […] besezt war täuscht darüber hinweg, daß nicht der Rhein besetzt war – wie sollte sich ein Fluß besetzen, in Besitz nehmen lassen? –, sondern auf der linksrheinischen – oder jener – Seite französische Schildwachen, auf der rechtsrheinischen – oder dieser – Seite schwäbische Kreis-Soldaten postiert waren und Wache schoben. Der Rhein, ein Grenzfluß, gehört weder dieser noch jener Seite an, er nennt kein Territorium, sondern fließt Geräuschkulissen | 265

von Landgewinn und Landverlust unbehelligt. Aus dem Namen des Kalenders, Der Rheinländische Hausfreund, taucht eine Landschaft auf, die nicht im Schatten links- und rechtsrheinischer Gebietsansprüche (in wechselnden Sprachen erhoben) steht, sondern die unbekümmert um geopolitische Verortungsversuche in Dies- und Jenseitigkeit, den Namen eines Flußes – Rhein –, den Fluß- und Fließnamen par excellence, der aus dem griechischen Verb rhéein – fließen – fließt, verflößt: rheinländisch. Eine Gegend ohne Geländer, die der Hausfreund, immer in Bewegung, nirgendwo zuhaus, halb sicht-, halb unsichtbar, stromauf und -ab besucht, einer Stelle in der Vorrede zum Calender auf das Jahr 1809 entsprechend: der rheinländische Hausfreund geht fleißig am Rheinstrom auf und ab, schaut zu manchem Fenster hinein, man sieht ihn nicht; sitzt in manchem Wirtshaus, und man kennt ihn nicht; geht mit manchem braven Mann einen Sabbatherweg oder zwey, wie es trift, und läßt nicht merken, daß ers ist 31.

Der Rheinstrom, geschweige denn sein Rauschen, läßt sich nicht besetzen, erlaubt lediglich – vorübergehende – Okkupation der Ufer und Versuche, überzusetzen. Einen solchen Übersetzungsversuch  – und seine Abdrift – bringt Mißverstand zur Sprache. Die Soldaten halten Wache, um Übersetzungsversuche des Feindes – über den Rhein – als Grenzverletzungen zu melden. Die Grenzverletzung aber, die Mißverstand in Szene setzt, betrifft den Sprach- und Wortgrenzverlauf, hier zwischen dem (nicht weniger als im) Französischen und Deutschen. Aus Langeweile ruft, um eine verbale Spitze zu setzen, ein Franzos, zum Zeitvertreib, als agent provocateur aus freien Stücken, ein Schimpfwort – gleich zweimal – über den Fluß: »Filu! Filu!«. Der Hausfreund, mit den Sprachen beiderseits des Flusses auf vertrautem Fuß, in beiden bewandert, übersetzt, als ein versierter Dolmetscher, für den Leser auf dieser Seite (des Flusses), wie dieser Seite (im Kalender): »Das heißt auf gut deutsch: Spitzbube«. Der rheinländische Hausfreund geht am Rheinstrom nicht nur auf und ab, sondern über den Strom hin und her (wechselt die Seiten nach Belieben). Er kreuzt unversehens (undurchsichtig, unsichtbar fast) auf, und streut Zweifel an seiner Sprachzugehörigkeit, wie am Zusammenhang und -halt einer Sprache mit sich. Denn der Übersetzung von filou durch Spitzbube findet der Leser, 266 | Thomas Schestag

der sich mit dem deutschen Wort abzufinden, zufriedenzugeben, Frieden zu schließen sucht, eine Schikane eingebaut. Was genau heißt auf gut deutsch? Gut mag, im Vorgriff auf die Auskunft, der ehrliche Schwabe habe an nichts so Arges gedacht, soviel heißen wie Schlecht. Das gute deutsche Wort Spitzbube ist ein Schimpfwort, das gebraucht wird, um eines andern, derselben Sprache Mächtigen, Ohr zu sticheln, zu piesacken, einen (verbalen) Schlagabtausch, dessen Grenzen zur (wortlosen) Schlägerei, deren Grenzen zu Mord und Totschlag fließend sind, zu provozieren, über einen andern in derselben Sprache (wo nicht mit Heeren, doch mit Worten) herzuziehen, herzufallen: einen WortKrieg anzuzetteln. Als besagte die Wendung auf gut deutsch: besser wär es, das Wort – im Deutschen – außer Gebrauch zu setzen. Unter diesem maskenhaften Merke! aber – der Hausfreund als Moralapostel –, nicht mehr als eine Maskerade (denn der Hausfreund läßt nicht merken, daß ers ist), wartet ein Wink, der auf ein befremdliches Verhältnis zwischen Krieg und Frieden im Aufriß der fremden wie der eignen, einen oder andern Sprache weist: daß Worte – auf dieser oder jener Seite, gleichviel – wie Waffen in Gebrauch genommen werden können, einen Streit vom Zaun zu brechen so gut wie einen Streit zu schlichten. Daß in Worten so gut Kriege geführt wie Friedensverträge diktiert, geschlossen und gebrochen werden. Mißverstand aber legt, quer zum Sprechen in Worten, eine irritierende Entwaffnung, kein entwaffnendes Wort, sondern die Entwaffnung der Wortsprache vor Augen. Daß ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache ein Wort auf gut französisch herüberrief, nimmt dem Affront, den das Wort filou zu stiften sucht, die Spitze. Was beide Wachen, die als Soldaten – also im Sold einer der kriegführenden Mächte – das ein und andre Ufer vor Grenzverletzung schützen sollen, teilen, ist Langeweile. Beide Wachen warten auf Wachablösung. Die gutmütige Antwort des arglosen Schwaben – halber vieri – auf die Frage, die durchs Rauschen des Rheinstroms hindurch an sein Ohr schlägt, Wie viel Uhr?, unterstreicht das. Die Zeit, die der Franzose (sich) zu vertreiben sucht, indem er – halb unmutig, halb müßig – versuchsweise das Wort filou über den Fluß treibt, kehrt aus der Antwort des Schwaben wieder; doch nur für Leser des Kalenders, sie mögen dies- oder jenseits des Rheinstroms lesen, die des Schwäbischen halbwegs mächtig sind. Wie die Antwort – halber vieri –, Geräuschkulissen | 267

dem Rauschen des Flusses überlassen, ans Ohr des Franzosen schlagen wird, bleibt offen. Unter der Rede vom Mißverstand schimmert eine Solidarität, die beide Wachen an den Rand der Desertion rückt: im Augenblick der Wachablösung Auszeit aus dem Stehn im Sold und Stehn im Krieg zu nehmen, das Soldatenleben sein zu lassen: abzuhauen (stiften gehn). Doch quer zur leisen Solidarität, die der Hausfreund dem Franzosen unter der Wendung zum Zeitvertreib, dem ehrlichen Schwaben mit der Antwort halber vieri einräumt, die beide Wachen überhören mögen, nur dem geneigten Leser dieser Seite im Kalender, Solidarität mit beiden zu üben, vielleicht dämmert, greift ein anderes Geschehen, Ungeschehn, Vergehen an der (Uhr)Zeit (wie an der Kalenderzeit), Raum. Es ist der Rhein, genauer – nämlich ungenauer – das Rauschen des Flusses, als Quelle  – unverortbar –, das die Auszeit vorwegnimmt, und Kurz- und Langeweile synkopiert. Der rauschende Strom nimmt die Auszeit aus dem (Ver) Stehn (und Mißverstand) im WortKrieg vorweg. Das griechische Zeitwort rhéein, dem der Flußname – Rhein – zuweilen entsprungen heißt, nennt im Griechischen nicht nur das Fließen, sondern auch Sprechen, das verlautende Wort als Redefluß. Und zwar geht die Verbindlichkeit zwischen Fluß und Rede im Griechischen so weit, daß die Rede überhaupt rhema heißt, rhéein nicht nur eines unter andern Verben nennt, sondern alle Zeitwörter, in grammatischer Terminologie, rhemata heißen, der Redner par exellence Rhetor, und die Redekunst Rhetorik. Doch der Rhein läßt sich an dieser Stelle nicht zum Fluß, einer griechischen Quelle (die Worte fließend nennt) entsprungen, kanalisieren. Denn die Worte, am ein oder andern Ufer ausgesetzt, vom Vorsatz getragen, überzusetzen, queren den Fluß, einem entwaffnenden Rauschen überlassen, das Sprach- und Wortgrenzen auftrennt und anstelle des Worts, das aus der Fassung zum Wort der ein oder andern stehenden Sprache (wie man von stehenden Heeren spricht) geht, einen unerhörten, unerörterbaren, unausrichtbaren Überfluß, Überflüssigkeiten, Überflüchtigkeiten freilegt. Dies Rauschen implantiert dem Wortort – unumrissen, rissig – Übererfülltheit: die Parodie der Supererogation wie der Erfüllung – pléroma – des Gesetzes. Solchem Rauschen schenkt das Sprechen im WortKrieg, im Sold des Willens zur Kriegs- wie Gesprächsführung – im Rahmen der Informationskommunikation – Gehör nur, um dem Geräusch den Garaus zu machen. Überhört 268 | Thomas Schestag

aber, daß das vor Einflußnahme, Einflüsterungen in Schutz(haft) zu nehmende Wort aus nichts als Rauschen (nichts als Stille) –; und, so sehr das Wort die Stille (wie das Rauschen) -bricht, vom Rauschen (von Stille) durchworfen auftaucht: unerinnerbar und unverwahrbar aus(einander)strahlt. Spuren der Vorerinnerung an solche Aspektralität verzeichnet James Joyce an einer Stelle, wie aus der Erinnerung an Mißverstand, von Finnegans Wake. In keiner Sprache, ihres Orts, die – in jedem Wort – nicht weniger als alle andern, alles andre als bloß alle andern streift: Well, you know or don’t you kennet or haven’t I told you every telling has a taling and that’s the he and the she of it. Look, look, the dusk is growing. My branches lofty are taking root. And my cold cher’s gone ashley. Fieluhr? Filou! What age is at? It saon is late. 32

Ein Filou, wer unter solchen Umständen, vom WortKrieg in Frieden gelassen, fragen wollte, was die Stunde geschlagen hat: wieviel Uhr? Fiel die Uhr, Standuhr, Sand im Ohr, nicht um? So wenig wie die Uhr läßt die Frage sich mehr stellen. Sie kommt – wo sie auf Antwort setzt – zu früh. Mit einem andern Wort: zu spät. Sonderbarer Appell. Am Rand eines andern Krieges, Welt- und WortKriegs, später, schreibt Karl Valentin, im Frühherbst 1940, die Sprechvorlage für einen Polylog, der am 9. 10. 1940 mit Liesl Karlstadt (wie Karl Valentin ein Pseudonym) und andern, anonymen Sprechern in München für die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft aufgenommen wird. In mehreren maschineschriftlichen Fassungen überliefert, trägt die Sprechvorlage zuerst den Titel oder Namen Aufruf. Auf einem der Typoskripte ändert Valentin ihn handschriftlich in Sonderbarer Appell33. Die Sprechvorlage wird den Sprechern (wovon die erhaltenen Tonbänder zeugen) nicht einfach vorgesetzt, sie zuerst stumm abzulesen, dann mit erhobener Stimme, Wort für Wort, abzurufen, sondern sie lädt als eine – vorbuchstäblich – lädierte, sonderbare Partitur zu Abweichungen und Improvisationen ein. Und genauer: die auszustrahlende Szene inszeniert Verwirrungen, die das kommentierte, aufrufende Ablesen einer Reihe von Namen durch einen Vorgesetzten (den Karl Valentin spricht) von einer Liste stiftet. Die Szene vergrößert Irritationen auf der Schwelle Geräuschkulissen | 269

zwischen Wort und Geräusch in der sogenannten Homophonie. Ein anderes Stück fürs Radio aus demselben Jahr 1940, Sprachforscher34, verwickelt einen Linguisten (gesprochen von Karl Valentin) ins Gespräch mit Frl.  D (gesprochen von Liesl Karlstadt): »[Frl.  D.]: […] nur was Sie unter Illobrasekolidation verstehen, verstehe ich nicht. [Valentin]: Das heisst Gleichlaut! […] So ganz unrecht kann man denen nicht geben, die die deutsche Sprache als verzwickt bezeichnen. […] Zum Beispiel: Das Vieh weidet am Acker, folglich ist das ein Viehacker, ein Fiaker ist aber auch ein Pferdefuhrwerk«. Für Frl.  D. lautet das Wort Illobrasekolidation keinem andern gleich. Daß es Gleichlaut heißt, unterstreicht die vertrackte Lage des Linguisten. Der Neologismus soll verhindern, daß der Begriff Illobrasekolidation einem andern Wort, gleich welcher Sprache, gleichlautet und an der Verwirrung teilnimmt, die es bloß bedeuten soll. Der Begriff Illobrasekolidation darf unter keinen Umständen auch nur mit sich (sich selber zum Verwechseln ähnlich) gleichlauten; aber muß unter allen Umständen (um ihn als solchen, den unverwechselbaren, wiederzuerkennen) gleichlauten mit sich. Homophonie aber, wie Homologie, beschreibt keinen Sprach- und Hörtatbestand, sondern gibt ein Versprechen (das griechische Nomen homología bedeutet, unter anderm, auch Versprechen), das – auf dem Sprung zur Einlösung – zerbricht. Die metasprachlich intendierte Vorsichtsmaßnahme, eine Sprache über Sprache, Übersprache ihres Orts zu stiften, schlägt fehl. Denn daß Frl.  D. das Wort Illo- nicht verorten kann, wirft das Echo einer fast gleichlautenden Schwierigkeit, mit der Varro kämpft: Illo(kution). In der ausufernden Auflistung von Beispielen, eines listenreicher als das andre, die Frl.  D. und dem Sprachforscher nun einfallen, tauchen – (kaum) entstellt, aber entwaffnend genug – (aus dem Mund des Linguisten) auch Armee und Wehrmacht auf: »[Valentin]: Oder – wer macht für die Wehrmacht die Uniformen? […] klingt es nicht eigenartig, wenn ich sage: ein Armer mit 2 Armen dient bei der Armee«. Sonderbarer Appell erweitert die vom Sprachforscher verzwickt genannte Lage – zwischen Zweck und zwecklos offen –, nicht nur der deutschen, sondern aller Sprachen (überhaupt), um Unverortbarkeiten – Illo-… – zwischen Wort und Name. Die Situation spielt auf der Schwelle zur Einberufung von Rekruten, die einem Gestellungsbefehl nachgekommen sind, zum Militär: Wehrmacht, Armee. 270 | Thomas Schestag

Das Hörstück eröffnet leiser Lärm: eine Geräuschkulisse aus Stimmengewirr, die vom Aufruf des Vorgesetzten (der Einberufungskommission) zerrissen wird. Ein Aufruf zu den Waffen: à l’arme im Französischen, der in die deutsche Sprache, verzwickt genug, als ein Lehnwort eingewandert ist: Lärm. Der Aufruf zu den Waffen aber nimmt den Umweg über den Aufruf der Namen derer, die sie tragen (und anwenden) sollen: Sonderbarer Appell Von Karl Valentin (1940) VORGE SETZ T ER : Also Achtung! – Jeder, der nun von mir aufgeru-

fen wird, hat laut und deutlich »hier« zu rufen! – / Adler Josef ––– hier! […] Meier Josef ––– hier! – hier! – VORGE SETZ T ER : Sapprament, da san wieder zwei Meier Josef dabei! Das ist schon saudumm! ––– hier! VORGE SETZ T ER : Was hier!? Was schrei’n Sie denn hier? Wie heissen denn Sie? [–––] Peter Hindelang! VORGE SETZ T ER : Ja, wer hat denn von einem Peter Hindelang g’redt!? I hab g’sagt, dös is saudumm, dass wir zwei Meier Josef dabei haben. ––– H I N DEL A NG : Und i hab’ verstanden, Sie hab’n g’sagt: Peter Hindelang. VORGE SETZ T ER : Saudumm’s Zeug, wir können uns doch net aufhalten mit so was! Also weiter! ––– hier! VORGE SETZ T ER : Ja Herrgott Sapprament, was is denn dös heut! Wie heissen denn Sie? ––– Weider Max! VORGE SETZ T ER : So, also es soll nur derjenige »hier« schrei’n, den ich ruf! ––– hier! VORGE SETZ T ER : Ja Kruzitürken nocheinmal, jetzt werd i do schon bald fuchti! Jetzt schreit der in der Mitt drin wieder hier! Lassen’s ­Ihnen doch Zeit, bis ich sie ruf! ––– hier! VORGE SETZ T ER : Warten solln’s!!! Bis ich Sie ruf!!! RU F : I hoass ja Ruf! VORGE SETZ T ER : So, Sie hoassen Ruf!? RU F : Jawohl, – Ruf Daniel! VORGE SETZ T ER : A so, Sie hoassen Ruf! Dös is a Zufall! – Dass ma fei koaner jetzt »hier« schreit, denn »Zufall« werd doch koaner hoassen! ––– Ofenberger Emil ––– hier! […] und als Letzter: Zimmermann Bernhard ––– hier! ––– Ist noch Jemand da, den ich nicht aufgerufen habe? ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Geräuschkulissen | 271

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Niemand mehr? ––––––––––––– –––––––––––––––––– Stillgestanden! – Abtreten! ––– (Hierauf Stiefelgetrampel, welches allmählich verschwindet).

Aus dem zusammengewürfelten anonymen Haufen der zu Rekrutierenden soll, im Augenblick des Übergangs, jeder Einzelne beim Eigennamen, der als unverwechselbar gilt, dem Träger des Namens eigen, gerufen werden, ihn zu identifizieren, sein Hiersein dort mit dem Namen auf der Liste hier abzugleichen, die Übereinstimmung beider Hier zu hören, bevor der Aufgerufne stillsteht, abtritt, und in die uniforme anonyme Masse der Rekruten, Nachwuchs für die Armee im Krieg, ein- und untergeht. Zwischen dem ersten Namen der Sprechvorlage – Aufruf – und ihrer Umbenennung zu Sonderbarer Appell geht eine Verwandlung im Hören auf das Rufen vor sich. Der Ruf als Aufruf, dem Vorgesetzten in den Mund gelegt – »Jeder, der nun von mir aufgerufen wird« –, wird, unter dem Wort Appell, zum Anruf modifiziert: Appell an den unsichtbaren Namensträger, sich mit dem Rückruf Hier als solcher, Träger dieses einen – eignen –, keines andern Namens, auszuweisen. In der Szene steht die Identität jedes Einzelnen auf dem Spiel, sich selbst, beim Namen aufgerufen, wiederzuerkennen, aber auch der gute Ruf des Vorgesetzten, verantwortlich dafür, die Übereinstimmung von Namen und Träger zu bestätigen und abzuhaken. Im Anruf aber klingt, anders als im Aufruf – doch es fällt schwer, An- und Auf- im Ruf zu unterscheiden –, die ins Flehen, in Verzweiflung spielende Bitte, den ins Blaue gerufenen Namen als Namen durch den Widerruf Hier mit seinem Träger überein zu finden. Das Beiwort sonderbar wirft den Vorsatz des Vorgesetzten, die Namensträger abgesondert voneinander, im Namen erfaßt vor Ort zu finden, über den Haufen: es vergrößert Sonderbarkeiten im Aufriß des Aufrufs der Namen, die den beschworenen, erwarteten, ersehnten Zusammenhalt des Rufs wie des -gerufenen Namens mit sich, wie sein Eintreffen am Bestimmungsort, Bestimmungsohr – in eins aber das verbindlich angenommene Verhältnis von Name, Ruf und Träger – spalten, splittern, streun. Das mechanische Ablesen und -haken der Namen in der alphabetisch angelegten Liste, durch ein hier! bestätigt, stockt ein erstesmal, stiftet Aufruhr im Aufruf, über dem zwiefachen hier! – hier! – beim 272 | Thomas Schestag

Ruf des einen Namens Meier Josef. Das durch den Rückruf hier! ratifizierte, gegengezeichnete Da des einen Namensträgers wird hier zum Dabeisein kompliziert: »da san wieder zwei Meier Josef dabei!« Nicht zum erstenmal, zum wiederholten Mal. Saudumm ist das, weil das Dabei-Da(sein), ein splitterndes Doppel da, Da und Da, DaDa, kein Miteinander oder Mitsein stiftet, sondern verwirrendes Zu-gleich. Para-Da: unberechenbares Beinah, Nahbei zweier Träger eines Namens, zwischen Spaltung und Verdopplung suspendiert. Nicht nur, mit dem Wort des Sprachforschers, ein Fall von Illobrasekolidation, Gleichlautung, ohne Aussicht auf Kollation oder Koalition, sondern Kollusion eines Namens mit zwei Trägern: Zerfall des Glaubens an die unverwechselbare Einzigkeit des einen Namens, denn der ausgerufene mag an zahllos viele Ohren stoßen, ein jedes auf dem Sprung, ihn als eignen – ernsthaft oder spaßeshalber – in Anspruch zu nehmen. Im Augenblick der Annahme des Namens spielen Unannehmlichkeiten, spielt Fühlungnahme mit – ersehnter oder befürchteter – Anonymität; im Augenblick der (wiederholten) Aneignung: (unwiderrufliche) Ent(an)eignung. Nicht der Zufall führt zwei Träger ein und desselben Namens zusammen, sondern weil der eine, um als einer zum erstenmal wiederzukehren und erkannt, wiedererkannt zu werden, mehr als einmal wiederkehren muß (aber nicht wiederkehren darf), kommt kein Name – von Malen, Abermalen abweichender Wiederkehr durchsetzt – ein für alle Mal, seines Orts, zustand. Die Unverortbarkeit und Unannehmbarkeit der Eigennamen, sie mit ihren Trägern vernäht oder verwachsen zu sehn, legt Spuren zur Illokution im Aufriß eines jeden Wortes als Bedeutungsträger. Daß jedes beliebige Wort unversehens die syntaktische Kette, an der es liegt, deren Verbindlichkeit stiften und aufrechterhalten zu helfen, zerreißt, weil es Erinnerung an einen Namen weckt, diesmal nicht als Gleichlaut, sondern am Rand der Synonymie, offen zwischen Assoziationszwang und freier Assoziation, veranschaulicht die prompte Replik hier! auf den Satz Das ist schon saudumm! aus dem Mund des Vorgesetzten. VORGE SETZ T ER : Was hier!? Was schrei’n Sie denn hier? Wie heis-

sen denn Sie? [–––] Peter Hindelang!

Geräuschkulissen | 273

VORGE SETZ T ER : Ja, wer hat denn von einem Peter Hindelang

g’redt!? I hab g’sagt, dös is saudumm, dass wir zwei Meier Josef dabei haben. ––– H I N DEL A NG : Und i hab’ verstanden, Sie hab’n g’sagt: Peter Hindelang.

Möglich, daß der Ruf des Wortes saudumm in Peter Hindelang Erinnerungen an den Eigennamen weckt, weil er das Wort immer wieder auf sich, den namenlosen Träger des Namens, gemünzt hat hören müssen, bis er die Gewohnheit angenommen hatte, die Verwandlung des Wortes saudumm, zwischen Kosewort und Schimpfund Übernamen – Saudumm – offen, anstelle des Namens, als Überschreibung oder Überschreitung, Übertreibung und idiosynkratisches Pronomen an- und hinzunehmen, über sich ergehn zu lassen (oder zu begrüßen: auf seine Wiederkehr zu warten). Doch dies Mag sein schließt die Möglichkeit – offen zwischen Un- und Ununmöglichkeit –, andere Wege, Weglosigkeiten, Unwägbarkeiten zwischen dem Satz Das ist schon saudumm! und dem Namen Peter Hindelang aufzuspüren oder außer Acht zu lassen, nicht aus. Anders wiederholt: nicht ein. Zwei weitere Rufanstrengungen riskieren die Eskalation der Gestellsituation. Sie bringen den Vorgesetzten fast um den Verstand. Es ist der Umschlag der Rufworte weiter! und ruf! zu Namen – Weider Max! […] I hoass ja Ruf […] Ruf Daniel! –. Ein Witz – »Dös is a Zufall! – Dass ma fei koaner jetzt ›hier‹ schreit, denn ›Zufall‹ werd doch koaner hoassen!« –, auf der Schwelle zur Unmöglichkeit, den Zufall auszuschließen, einer unter allen möge nicht doch Zufall heißen, gerissen, hilft nicht, das leise Entsetzen (oder Entzücken), durch jedes Wort wie über dünnes Eis zu tasten, einzubrechen, auszusetzen jeden Augenblick, zu überspielen. Es begleitet die Szene über den Aufruf des Letzten – »und als Letzter: Zimmermann Bernhard! ––– hier!« – hinaus, in unerhörte Stille. Sonderbarer Appell wird für den Rundfunk aufgenommen, übers Radio ausgestrahlt. Mit der wiederholten Frage »Ist noch Jemand da, den ich nicht aufgerufen habe? –––– Ist noch Jemand da, den ich nicht aufgerufen habe? ––––––––––––––––––––––––––––« fällt der Sprecher, der den Vorgesetzten spielt, aus der Rolle und verwandelt den sonderbaren zum sonderbarsten, absonderlichen Appell. Die Frage spaltet die (aristotelische) Illusion der Einheit von Sprech274 | Thomas Schestag

Hör-Handlung, Ort (und Ohr) und Zeit(raum), nicht weniger als die Posten- oder Kästchenkette in Shannons kommentiertem Diagramm einer allgemeinen Kommunikationstheorie. Der Vorgesetzte spricht nicht mehr nur im Rahmen des inszenierten Appells an unsichtbare Rekruten, sondern abgesetzter: die wiederholte Frage öffnet eine Pause, die nicht schließt: horchend in die uneinsammelbare, unauslotbare, echolose Stille einer unhörbaren Hörerschaft am sogenannten Volksempfänger, und über sie hinaus (durch sie hindurch). Die ausgestrahlte Frage – und keine, die nicht ausstrahlt – läßt sich nicht stellen (geschweige denn zustellen). In manchen Hörern des 1940 ausgestrahlten Sonderbaren Appells mag, weil sie sich durch die Frage, ob noch Jemand da sei, den ich nicht aufgerufen habe, angesprochen und betroffen, irgendwie ertappt fühlen, der Chock Raum greifen, über kurz oder lang auch, beim Namen aufgerufen, gemustert zu werden, für kriegstauglich befunden, zur Wehrmacht eingezogen, in den Krieg zu ziehen, zu krepieren. Hin- und hergerissen zwischen Gedanken an Verweigerung, Boykott, Desertion. Doch den Eindruck der Betroffenheit und Angesprochenheit, beim Namen, den ich trage, unterlaufen Erinnerungsfetzen an den Sonderbaren Appell, unverwahrbar zu Erinnerungsstücken. Sie zerfetzen die Erinnerung an beide – den Eigen­ namen, den namenlosen Träger, beider verbindlich angenommenen Zusammenhalt –, treiben das Erinnerungsvermögen aus der Fassung zum Speicher. Weder die ausgerufnen Worte – die in Namen spielen –, noch die aufgerufnen Namen – die in Worte spielen –, nehmen (und beziehn) Stellung, sie zu halten. Stillzustehn, die Stille durchzustehen, bis auf Widerruf. Funkstille durchsetzt jedes Wort, beim Namen aufgerufen, weder fort noch da, wo es gefallen scheint (und aufgeschrieben steht). Die letzte Geräuschkulisse, als Regieanweisung in Klammern dem untern Saum der Sprechvorlage eingetragen – »(Hierauf Stiefel­ getrampel, welches allmählich verschwindet).« – wie um den Vorhang über allmählich verschwindendem Stiefelgetrampel, schon ohne die Zertrampelten, die sie nicht mehr tragen, zuzuziehn, zerreißt. (Rissige Stille).

Geräuschkulissen | 275

Jocelyn Holland

Fakten sind das, was man daraus macht

Zur Konstruktion von ›Faktum‹ und ›Tatsache‹ in ­Aufklärung und Frühromantik In Christoph Martin Wielands Roman Die Geschichte des Philosophen Danischmende (1775) gibt es eine Szene, in der Danischmende den Kalender einlädt, seinen Ansichten über die Menschheit Ausdruck zu verleihen. Der Kalender, ein Wandermönch, der sein Leben lang in den Metropolen der Welt gebettelt hat, nutzt diese Gelegenheit dazu, sich auf unschmeichelhafte Weise über das menschliche Verhalten zu äußern – Ansichten, die Danischmende jedoch für inakzeptabel hält. Als der Kalender darauf hinweist, dass es nicht darum gehe, »wie wir wünschen, hoffen, träumen, daß [die Sache, J. H.] seyn sollte und möchte«, sondern vielmehr »Facta […] hier den Ausschlag geben« müssten, erwidert Danischmende: Facta sind alles, was man daraus machen will […]: jedem neuen Augen­punkte scheinen sie etwas anders; und in zehn Fällen gegen einen ist das vermeynte Factum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meynung gestüzt hatte, im Grund eine bloße Hypothese. »Dies mag seyn, erwiederte der Kalender. Aber die Facta, wovon ich rede, sind von der Art derjenigen, die, aus allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, immer die nemliche Gestalt zeigen, und immer einerley Resultat geben«1

Danischmende und der Kalender reden aneinander vorbei. Sie beschreiben zwei Facetten von Fakten, die sich zwar nicht gegenseitig ausschließen, aber doch verschieden sind: die einem Faktum zugrundeliegenden Daten einerseits und seine Produktivmachung innerhalb eines größeren Argumentationszusammenhangs andererseits. Dem Kalender geht es demnach um das, was seiner Ansicht nach ein ›Factum‹ überhaupt erst ausmacht: nämlich überprüfbare Beobachtungen, die zu objektiven empirischen Daten führen. Wenn dann das Beweismaterial, das er auf seinen Reisen gesammelt hat, nun einmal ein wenig schmeichelhaftes Bild der Menschheit zeich277

net, dann müsse man dies eben so hinnehmen. Danischmende stellt überhaupt nicht in Frage, was der Kalender offenbar mit eigenen Augen beobachtet hat. Er wendet allerdings ein, dass Fakten keinesfalls stabile Einheiten sind und nur allzu leicht subjektiven Manipulationen zum Opfer fallen. So könnten sie jederzeit individuellen Zwecken dienen oder gar als bloße Meinungen entlarvt werden. Fakten, so wird deutlich, haben also ein produktives Potenzial. Was genau ein Faktum sein könnte oder sein sollte, war und ist Teil einer anhaltenden Diskussion, die sich bis in die Gegenwart erstreckt. So hat Mary Poovey in ihren Studien vielfach darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine ganze Reihe von konkurrierenden Geschichten der Fakten erzählen lässt.2 Auch heute gestaltet sich die Lage nicht weniger kompliziert: Das breite Spektrum von verschiedenen Betrachtungsweisen der Fakten reicht von der Gewissheit des Positivismus bis zum Relativismus der Postmoderne. Man denke nur an die vielfältigen Definitionen und Appropriationen von Fakten in Epistemologie, Kritischer Theorie, Politik und Ökonomie sowie auf den Schlachtfeldern der öffentlichen Debatte (wie z. B. auf der mit dem Pulitzer-Preis gekrönten Website politifact.com). Hinzu kommen freilich noch die alles andere als konsistenten umgangssprachlichen Verwendungen des Begriffs, was sich etwa in der Fülle der manchmal widersprüchlichen idiomatischen Ausdrücke zeigt: Ob im Deutschen etwas tatsächlich erfolgt oder man bei den Tatsachen bleibt oder ob man im Englischen von in fact, after the fact oder a matter of fact spricht, schon ein flüchtiger Blick auf solche Redeweisen zeigt, dass Fakten sowohl als Ereignisse betrachtet (und damit in Geschichtschroniken oder narrative Zusammenhänge eingeordnet) als auch dazu verwendet werden können, die Kategorien von ›Wahrheit‹ und ›Realität‹ aufzurufen. Jede Auseinandersetzung mit Fakten – das zeigt auch schon der anfängliche Streit zwischen Danischmende und dem Kalender darüber, was ›Facta‹ seien und was man daraus machen kann – sieht sich zwangsläufig mit einem gewissen Maß an terminologischer Verwirrung konfrontiert. Es ist also keinesfalls eine leichte Aufgabe, die vielfältigen Verzweigungen einer Genealogie und Geschichte der Fakten nachzuzeichnen oder auch nur eine ihrer vielen Geschichten zu erzählen, wie es der vorliegende Essay versucht, indem er sich dem historischen Verständnis von Fakten im deutschsprachigen Kontext insbe278 | Jocelyn Holland

sondere in der Frühromantik widmet. Dabei geht es jedoch primär weder um die Frage einer ›wahren Welt‹ noch um ihre Abschaffung im Sinne der Rede von ›Post Truth‹ oder ›Alternative Facts‹. Vielmehr versucht dieser Beitrag dezidiert eine historische Perspektive zu wählen, um deutlich zu machen, dass – lange vor dem 21. Jahrhundert – Fakten sowohl über eine subjektive Konstruktivität als auch eine spezifische Zeitlichkeit bestimmt wurden. Bevor man sich diesen konkreten Fragen widmen kann, sieht man sich aber auf viel basalerer Ebene mit der Herausforderung konfrontiert, dass es um 1800 mehr als ein deutsches Wort für das gibt, was man im Englischen schlicht als »fact« bezeichnet. Dazu gehören neben ›Faktum‹ bzw. ›Factum‹ – einem aus dem Lateinischen importierten Begriff, der seit dem sechzehnten Jahrhundert verwendet wurde – auch ›Tatsache‹ und in bestimmten Fällen auch ›Tathandlung‹, die beide als mehr oder weniger direkte Übersetzungen von ›Factum‹ verstanden wurden. Um den Beitrag, den die deutsche Frühromantik zur Diskussion des Faktums leistete, zu kontextualisieren, nimmt dieser Aufsatz seinen Ausgang in einer kurzen Beschreibung des Verhältnisses von ›Factum‹, ›Tatsache‹ und ›Tathandlung‹ am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, bevor er dann zwei spezifische Aspekte des romantischen Verständnisses des Faktums näher untersucht: Dabei geht es erstens mit Blick auf das Werk Johann Gottlieb Fichtes und dessen Rezeption durch Novalis darum, dass die deutsche Frühromantik nicht nur auf bereits verbreitete Faktizitätskonzepte zurückgreift, sondern auch ganz neue ins Spiel bringt und dadurch das zeitgenössische Verständnis von Fakten erheblich verkompliziert. Anhand exemplarischer Texte von Novalis und Friedrich Schlegel soll dann zweitens den frühromantischen Vorstellungen davon nachgegangen werden, was man mit Fakten machen kann, ja sogar, was Fakten selbst tun können. Insbesondere Friedrich Schlegel wirft dabei die Frage auf, inwieweit Fakten entweder als produktiv oder aber als epistemologische Sackgassen angesehen werden können, und erschließt dabei die Eigentümlichkeit von Fakten, sowohl als Medium als auch als Erzeuger für neue Fakten dienen zu können.

Fakten sind das, was man daraus macht | 279

I. ›Faktum‹ / ›Tatsache‹ / ›Tathandlung‹ Betrachtet man die verschiedenen Entwicklungslinien, denen die Bedeutungen der Begriffe ›Faktum‹, ›Tatsache‹ und ›Tathandlung‹ in der deutschen Sprache folgen, fällt auf, dass sie alle in der e­ inen oder anderen Weise dem Rechtsdiskurs verpflichtet sind. Das ›Faktum‹ erscheint zunächst als »Factum« im juristischen Kontext und dort bspw. bereits 1559 in Georg Lauterbecks Regentenbuch: In einem längeren Abschnitt über das richtige Regieren von Städten und in einem Kapitel darüber, wie wichtig gute Gastfreundschaft ist, liest man vom Fall eines armen Soldaten, der beschuldigt wird, auf dem Weg nach Hause aus dem Krieg Geld von einem Gastwirt gestohlen zu haben. Als der Prozess beginnt, leugnet der Soldat, der so ehrlich wie der Gastwirt unaufrichtig ist, das »Factum« des Diebstahls, d. h. das, was angeblich vom verlogenen Gastwirt beobachtet, aber noch nicht vor Gericht bewiesen wurde.3 Im Rahmen der Gerichtsverhandlung wird der Status des ›Factums‹ als Ereignis, das ›tatsächlich‹ stattgefunden hat, bestritten. Der Soldat hat dem Protokoll gemäß einen Anwalt gewählt, der seinen Fall vertreten soll: Es ist, zugegebenermaßen eine ungewöhnliche Wahl für einen so ehrlichen Mann, der Teufel, der sich hier entweder einmal ganz unüblich pro bono publico engagiert oder, was wahrscheinlicher ist, sich mit der Aussicht darauf begnügt, den boshaften Wirt nach Abschluss des Prozesses in die Hölle geleiten zu dürfen. Während der Verhandlung wird das angebliche ›Factum‹ widerlegt und sowohl der Soldat als auch sein Anwalt sind mit dem Ergebnis zufrieden. Auch andere Vorkommnisse des ›Factums‹ im deutschsprachigen Kontext des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts stehen in einem rechtlichen Kontext: Dabei wird das ›Factum‹ in der Regel als ›Tat‹, die vor Gericht verhandelt wird, also als ›Streitsache‹, oder als die in der Zeugenaussage vor Gericht beschriebenen Umstände definiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Zedlers Universal-Lexicon, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, hatte sich die Definition des ›Factums‹ jedoch bereits erweitert, so dass es dort als »[e] ine That, das geschehene Ding, oder eine Geschichte, das Werck, die Verrichtung, der Verlauff eines ergangenen Handels« bestimmt wird.4 Zedlers Definition des ›Factums‹ ist daher allgemein genug, um entsprechend seiner Ableitung aus dem lateinischen Verb ›fa280 | Jocelyn Holland

cere‹ die Doppelbedeutung von »That« und »Verrichtung«, also von ›Tun‹ und ›Machen‹, zu umfassen. Damit kommt eine spezifische Zeitlichkeit ins Spiel: Denn das ›Factum‹ kann nicht nur als Zeitpunkt etwa in einen historischen oder narrativen Ereigniszusammenhang eingeordnet werden, sondern hat auch eine eigene Dauer. Auch wenn man das ›Factum‹ um 1800 – seinem grammatikalischen Status als Partizip von ›facere‹ entsprechend – in der Regel in der Vergangenheit und nicht in einer hypothetischen Zukunft ansiedelt, so kann es also dennoch eine zeitliche Ausdehnung – als momenthafter Vorfall oder als Verlauf eines Ereignisses – haben. Es ist genau diese spezifische Zeitlichkeit der Fakten, die dann in den Texten von Schlegel und Novalis eine neue Bedeutung erhalten wird. Im Gegensatz zum ›Factum‹ tritt die ›Thatsache‹ erstmals in einer Übersetzung eines englischsprachigen Texts auf: nämlich in Joseph Butlers erstmals 1736 veröffentlichter Schrift Analogy of Religion, Natural and Revealed, to the Constitution and Course of Nature.5 In dessen deutscher Übersetzung gibt Johann Joachim Spalding den Ausdruck »matter of fact« als »Thatsache« wieder.6 Doch wie das ›Factum‹ hat auch die ›Thatsache‹ ihren Ursprung weniger in einem theologischen als in einem juristischen Kontext und findet sich bereits im 16. Jahrhundert als englischer Rechtsbegriff.7 Denn Butlers Text überträgt seinerseits die »matter of fact« aus dem rechtlichen Kontext in einen theologischen und sieht es zum Beispiel als einen »Matter of Fact« an, dass Gott »governs the World by the Method of Rewards and Punishments«.8 Im Einklang mit seinem übergeordneten Vorhaben, eine Parallelgeschichte von Göttlichem und Natürlichem zu entwickeln, macht Butler außerdem klar, dass diese »matters of fact« auch »things of experience« sind.9 In dieser Hinsicht ist er nicht der Einzige: Insofern der englische Begriff fact mit einer Handlung korreliert, werden matters of fact, in der deutschen Übersetzung als ›Thatsachen‹, im Sinne von ›göttlichen Taten‹, verstanden, so dass bspw. auch Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder die ›Thatsache‹ auch mit der Offenbarung Gottes in Naturphänomenen gleichsetzen können.10 Doch der Neologismus ›Thatsache‹, der sowohl als Übersetzung von ›matter of fact‹ als auch als deutsches Äquivalent des ›Factums‹ dienen sollte, traf nicht überall auf Gefallen: So steht etwa Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch von 1811 der »Thatsache« wie der »Thathandlung« gleiFakten sind das, was man daraus macht | 281

chermaßen kritisch gegenüber, da »[b]eyde Wörter […] nicht nur unschicklich und wider die Analogie zusammen gesetzt [sind], sondern auch der Mißdeutung unterworfen, indem ein Oberdeutscher sich bey Thathandlung und Thatsache bey dem ersten Anblicke vermuthlich nichts anders als eine Gewaltthätigkeit, eine Thätlichkeit gedenken« und, mit anderen Worten, die »That« der »Thatsache« als Straftat bzw. als Delikt verstehen würde.11 Auch wenn man in englischen Fichte-Übersetzungen lesen kann, dass ›Thathandlung‹ »a term of Fichte’s own coinage« sei und also ihm die Begriffsprägung zugeschrieben wird12, so gibt es dennoch bereits in der ReichsFama von 1727 Beispiele, die auf eine »mörderische That-Handlung« verweisen.13 Ganz allgemein ist jedenfalls festzuhalten, dass die Verwendung der Begriffe bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts davon geprägt war, dass ›Thatsache‹ und ›Thathandlung‹ eine kriminelle Tat ebenso wie eine religiöse Offenbarung oder einfach eine geschehene Sache meinen konnten und dass angesichts dieser Bandbreite an Möglichkeiten die jeweilige konkrete Bedeutung nur durch den Kontext bestimmt werden konnte.

II. Fichtes ›Thatsachen‹ / Romantische Fakten Bis ins späte 18. Jahrhundert, als Friedrich Schlegel und Novalis sich für das ›Factum‹ und die umstrittene ›Thatsache‹ zu interessieren beginnen, breitet sich die Verwendung der Begriffe ›Faktum‹, ›Thatsache‹ und ›Thathandlung‹ weiter aus, so dass die damit verbundene terminologische Verwirrung immer weiter zunimmt. Zugleich wird das ›Faktum‹ jedoch in seinen vielfältigen Bedeutungen – ebenfalls als Folge seines Imports aus dem Rechtsdiskurs – zu einem Schlüsselbegriff der Philosophie14: Kant, Fichte und die Philosophen in ihrer Nachfolge machen sich das Konzept des ›Faktums‹ (sowie der ›Tatsache‹ und ›Tathandlung‹) in ihren philosophischen Projekten jeweils auf unterschiedliche Weise und in sehr verschiedenem Ausmaß zu Nutze. Die folgenden Überlegungen werden sich der Einfachheit halber zunächst auf das Verständnis des ›Faktums‹ bei und in Folge von Fichte konzentrieren, um zu beleuchten, was Fakten in der Romantik sein und tun können, bevor dann auch die Begriffe der ›Thatsache‹ und der ›Thathandlung‹ miteinbezogen werden. 282 | Jocelyn Holland

In Novalis’ Fichte-Studien – die aus seiner Lektüre von Fichtes Wissenschaftslehre und anderer Texte in den Jahren 1795 bis 1796 hervorgegangen sind, jedoch tatsächlich weit über eine bloße Auseinandersetzung mit Fichte hinausgehen – findet man zusätzlich zu den Exzerpten eine Reihe von originellen Überlegungen über Fakten, ja an einer Stelle charakterisiert Novalis sogar die gesamte Philosophie Fichtes als »Faktum«: »Fichtes Philosophie ist ein Denkerzeugungsprozeß oder Organisationsprozeß – ein Phänomen selbst oder ein Faktum«.15 In seinem Aufbau als Kette von Assoziationen, die durch Wiederholung und Akkumulation miteinander verbunden sind, offenbart dieser Satz ebenso viel über frühromantische Techniken der Definitionsbildung wie über Fichtes Philosophie – und beide Aspekte sind hier gleichermaßen relevant. Fichtes Philosophie wird definiert als ein Prozess der Produktion von Gedanken (»Denkerzeugungsprozeß«) oder als ein Prozess der Organisation (»Organisationsprozeß«), ein Begriffspaar, das sogleich ersetzt wird durch »Phänomen« oder »Faktum« und damit eher auf eine Logik der Akkumulation als eine der Abgrenzung hindeutet: Alle diese Begriffe stehen sowohl in einer Beziehung zu Fichtes Denken als auch zueinander. Nun gilt es im Hinblick auf das ›Faktum‹ in diesem Zusammenhang mindestens zwei Dinge zu beachten: Insofern es hier als prozessuales Geschehen gedacht wird, wird das ›Faktum‹ aus der zeitlichen Beschränktheit einer Sache herausgelöst, welche bereits gemacht oder getan wurde und dann eindeutig in die Vergangenheit verwiesen wird.16 Indem Novalis dann das ›Faktum‹ als ›Phänomen‹ bezeichnet und damit als etwas, das existiert und wahrnehmbar ist, kann er den Prozess-Charakter von Fakten (oder der gesamten Philosophie Fichtes) als eine Einheit zusammenfassen. Hier gilt es freilich stets zu beachten, dass wir es nicht mit einer aus der umgangssprachlichen Verwendung abgeleiteten Definition von Fakten im Allgemeinen zu tun haben, sondern mit einem Begriff, der in Fichtes – wie etwa auch in Kants – Werk den Status eines philosophischen terminus technicus hat. An der Stelle, an der Novalis sich in den Fichte-Studien das erste Mal auf das ›Faktum‹ bei Fichte bezieht, geht es ihm darum, die Gültigkeit einer Philosophie des Subjekts zu behaupten: »Allgemein gültige Filosofie würde die Fixirung der sogenannten Subjektivitaet, also ein freyes Factum, oder die Annahme eines hypothetischen, Fakten sind das, was man daraus macht | 283

freyen Satzes voraussetzen«.17 Diese Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Tendenzen (d. h. zwischen der ›Fixierung‹ der ›Subjektivität‹ einerseits und der fortgesetzten Dauer eines ›freien Factums‹ andererseits) verdeutlicht sein Verständnis der Fakten als etwas, das nicht unbedingt der Vergangenheit zugeschrieben werden kann. Das ›Factum‹ ist vielmehr im Wesentlichen dasjenige, das wir selbst sind und das durch die ursprüngliche Aktivität des Subjekts bzw. des Ich gesetzt wird. In Fichtes Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre (1795), wovon Novalis einige Exzerpte angefertigt hat18, taucht der Begriff des ›Subjekts‹ genau genommen nur flüchtig auf. Auch Novalis selbst beschäftigt sich in diesem Teil der Fichte-Studien eher mit der Tätigkeit des ›Ich‹ als mit dem Subjektbegriff. So findet man dort zum Beispiel die Bemerkung, dass das gemeinsame Produkt des ›Ich‹ und des ›Nicht-Ich‹ als Synthese eines »reale[n]« und eines »ideale[n] Faktum[s]« entsteht.19 Ein aus dem Grundriss exzerpierter und kommentierter Abschnitt, der in Novalis’ Notizen gefunden wurde, drückt diesen Gedanken noch deutlicher aus und erklärt auch, inwieweit wir auf das ursprüngliche ›Faktum‹ zugreifen können: Das Faktum sollte sich sowohl betrachten lassen, als auch seiner Bestimmung nach schlechthin gesetzt durch das Ich – und auch seinem Seyn nach, als gesezt durch das N[icht]I[ch]. Es läßt sich, als Produkt des Ich und des N[icht]I[ch] betrachten, beydes unabhängig vom andern. Es ist ein Anschauen.20

Zwar hat Novalis’ Auseinandersetzung mit der Fichte’schen Konzeption des ›Faktums‹ bislang noch nicht viel Beachtung gefunden, innerhalb der Fichte-Forschung handelt es sich hierbei aber um bereits gut erforschtes Terrain.21 Im Prozess der Selbstreflexion hat man laut Fichte unmittelbaren Zugang zu der erzeugten »Anschauung« oder zum ›Faktum‹, nicht aber zur ursprünglichen »Thätigkeit« der Setzung des Ich.22 Wie Novalis bemerkt, stellt sich die Erkenntnis des Subjekts, dass die Anschauung das Produkt eines Prozesses ist, der seinen Ursprung in einem undifferenzierten, dem Bewusstsein vorausgehenden Zustand hat – der an verschiedenen Stellen als »Grund« oder »Gefühl« bezeichnet wird –, erst nachträglich ein.23 Manfred Frank hat diesen Aspekt von Novalis’ FichteLektüre in seiner Studie Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Ro284 | Jocelyn Holland

mantik (1972) ausführlich dokumentiert.24 Für den Moment genügt es daher, festzuhalten, dass das ›Faktum‹ durchaus ›gemacht‹ wird und – als Anschauung – sinnlich erfahren werden kann. Genau darum geht es bei dem bereits beschriebenen Zusammenhang zwischen dem Phänomen- und dem Prozesscharakter des Faktums.25 In der zweiten Einleitung der Wissenschaftslehre verbindet Fichte ›Faktum‹, ›Thatsache‹ und ›Thathandlung‹ auf folgende Weise: Während »der Philosoph diese intellectuelle Anschauung als Factum des Bewusstseyns« versteht, also als »Thatsache« (d. i. Factum als Datum), erscheint es dem »ursprüngliche[n] Ich« als »Thathandlung«, also als »Tätigkeit«.26 In diesem Sinn bemerkt schließlich auch Robert Richards, »Fichte’s genius was to see that a fact of consciousness might better be conceived as an act of consciousness – unification would be achieved not by a logical supposition but by an underlying action«.27 Um ein genaueres Verständnis der Konzeption des ›Factums‹ in der deutschen Frühromantik zu bekommen, brauchen wir nun aber noch ein weiteres Beispiel aus den Fichte-Studien: Jeder Gegenstand sezt – jeder Gegensatz stellt – wenn wir die besondre Art des Factums dem Leiter zuschreiben – Gegenstand und Gegensatz sind Leiter – weder activ noch passiv. Man schreibt ihnen aber Activitaet zu – weil man doch dieselbe, gedrungen vom Naturgesetze der Reflexion, wohin setzen muß; und da nimmt man am bequemsten mit dem Leiter vorlieb und schreibt sie diesem zu – Alle Activitaet gehört dem Factum […].28

Blickt man in die englische Übersetzung der Werke von Novalis, dann fällt einem Erstaunliches auf: Die Übersetzerin der Fichte-Studien hat sich dafür entschieden, hier ›Leiter‹ als »ladder« zu übersetzen29, obwohl im deutschen Original ganz offensichtlich nicht das feminine Substantiv ›Leiter‹, sondern ›der Leiter‹ im Sinne eines leitfähigen Mediums gemeint ist. Dieses Übersetzungsproblem lenkt damit aber unfreiwillig den Fokus auf das hier heraufbeschworene zentrale Bild eines ›Leiters‹ von elektrischem Strom. Dies erlaubt es uns, Novalis’ Gedanken über das ›Faktum‹ mit seinen wissenschaftlichen Studien über Elektrizität zu verknüpfen und das ›Faktum‹ als einen ›Leiter‹ der Reflexion und potenziellen ›Überträger‹ intellektueller Aktivität zu lesen. Wie auch in anderen Texten, so bleibt Fakten sind das, was man daraus macht | 285

Novalis auch hier dem ›Naturgesetz der Reflexion‹ verpflichtet: Wenn wir Reflexionen über ein Objekt anstellen, wenn wir es in unser Bewusstsein setzen, dann tritt es nach Fichte in eine komplexe Reaktionskette ein, die es uns schließlich ermöglicht, eine unmittelbare Anschauung von jenem Objekt zu bilden. Wie bereits erwähnt, haben wir letztlich keinen Zugang zum Objekt selbst, sondern nur zu einem bloßen ›Schein‹, einem Bild von ihm.30 Innerhalb dieses Netzwerks von Vorgängen ist das ›Factum‹ eng an die Reflexion gebunden, aber durch den Bezug auf den elektrischen ›Leiter‹ rückt auch seine prozessuale Qualität noch stärker in den Vordergrund. Im Rahmen der Fichte-Studien richtet Novalis seine Aufmerksamkeit noch auf das ›Factum‹ im Allgemeinen, welches er in seinen späteren Arbeiten näher bestimmt: So ist bspw. im Allgemeinen Brouillon (1798/1799) von den »Thatsachen«31 und in den Teplitzer Fragmenten (1798) von einem »spezifische[n] Factum« die Rede, die »Quell einer bes[onderen] Wissenschaft« seien.32 Diese beiden Stellen zeugen davon, dass Novalis versuchte, seine Überlegungen zu Fakten über den unmittelbaren Kontext der fichteanischen Philosophie hinaus zu erweitern, ohne dabei den Bereich der Wissenschaftstheorie zu verlassen. Freilich gelangt die romantische Auseinandersetzung mit Fakten dabei noch nicht zu jenem modernen Verständnis, in Einklang mit dem etwa Husserl die »Tatsache« schließlich als ein »objektives Korrelat eines wahren Satzes« definieren wird.33 Was Novalis insbesondere interessiert, ist die Möglichkeit, durch Verallgemeinerung von dem Fakt (im Singular) zu den Fakten (im Plural) zu gelangen, indem man sich ihr produktives Potential zu Nutze macht – die Vorstellung nämlich, dass man mit Fakten etwas machen kann. Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass dies bereits in den Fichte-Studien und ihrer Idee, dass man mit Fakten experimentieren kann, begründet liegt: Zu denken wäre hier bspw. an die Stellen, an denen Novalis bemerkt, dass Fichte uns »das Geheimniß des Experimentirens« lehre, indem er uns anweist, »Thatsachen und Thathandlungen, oder wirkliche Sachen und Handlungen in Experimente und Begriffe [zu] verwandeln«.34 Auch Friedrich Schlegel verbindet das ›Faktum‹ mit der Idee des Experiments, wenn er sich mit Fakten auseinandersetzt, geht aber dabei noch einen Schritt über Novalis sowie die fichteanische Phi286 | Jocelyn Holland

losophie hinaus. Im Athenäum-Fragment Nr. 427 verweist Schlegel im Kontext von historischen Untersuchungen auf das ›Faktum‹: »Eine sogenannte Recherche ist ein historisches Experiment. Der Gegenstand und das Resultat desselben ist ein Faktum. Was ein Faktum seyn soll, muss strenge Individualität haben, zugleich ein Geheimniss und ein Experiment seyn, nämlich ein Experiment der bildenden Natur.«35 Zwar haben wir es hier nicht mehr mit dem in einen Reflexionsprozess eingebundenen ›Faktum‹ im Sinne Fichtes zu tun, wir sind aber auch weit entfernt vom heutigen landläufigen Verständnis der banalen Fakten des alltäglichen Lebens. Schlegels Verständnis des ›Faktums‹ als Ausgangs- und Endpunkt der ›Recherche‹ deutet darauf hin, dass dieses sowohl etwas ist, das uns von der Außenwelt eingegeben wird und sich dabei vom Hintergrundrauschen bloßer Sinneseindrücke abhebt, als auch etwas ›Gemachtes‹, das seine ›Individualität‹ auch durch Transformationsprozesse hindurch bewahrt. Wenn sich gegenüber Fichte und Novalis ein neues Denken von Fakten abzeichnet, dann ist es vielleicht am ehesten die Tendenz, ein breites Spektrum an Phänomenen mit dem Fakten-Begriff zu durchmessen. So sind Schlegels über seine zahllosen Aphorismen verstreuten Bemerkungen zum ›Faktum‹ so vielfältig und unterschiedlich, dass sie sowohl die Schönheit als auch das Christentum als jeweils eigenständige ›Fakten‹ bezeichnen.36 Am einen Ende des Spektrums liegt für Schlegel die »Erscheinung«, als »ein noch rohes nicht vollständig historisirtes Factum«37, am anderen Ende »[d]as Experiment«, das »darauf aus[geht], d[as] Phänomen zu isoliren d. h. es in seiner classischen Reinheit zu bekommen«, so dass »[d]as wahre Phänomen […] Repräsentant d[es] Unendlichen [ist], also Allegorie, Hieroglyphe – also weit mehr als ein Factum«.38 Wir brauchen Fakten also, aber, wie Schlegel betont, müssen wir auch über sie hinauskommen. Für ihn scheint das ›Factum‹ demnach als eine Art ›Durchgangsstation‹ für das philosophische und geschichtliche Denken, ja, man könnte gar sagen, für jede Art von kritischem Denken zu dienen. Marcus in Schlegels fiktivem Gespräch über die Poesie (1800) macht genau diesen Punkt deutlich: Ein Wahres Kunsturtheil, werden Sie mir eingestehen, eine ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werkes ist immer ein kritisches Factum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Factum, und eben Fakten sind das, was man daraus macht | 287

darum ists leere Arbeit, es motiviren zu wollen, es müsste dann das Motiv selbst ein neues Factum oder eine nähere Bestimmung des ersten enthalten. 39

Das Zitat steht im Kontext einer Diskussion über die Subjektivität ästhetischer Urteile sowie deren epistemologischem Status. Ein ästhetisches Urteil über ein Kunstwerk ›existiert‹ genauso wie alles andere, das sich ereignet hat, ganz im Sinne von Zedlers weitgefasstem Verständnis des ›Factums‹ als einem »geschehenen Ding«. So dient das ›kritische Factum‹ im größeren Zusammenhang des Gesprächs über die Poesie dann auch dazu, die Auffassung eines nur begrenzten, subjektiven Werts ästhetischer Aussagen dahingehend zu korrigieren, dass sie trotz ihrer subjektiven Herkunft zur Erweiterung des allgemeinen Wissens beitragen können. Marcus’ Aussage ist aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Denn sie beschreibt sowohl die Grenzen des ›kritischen Factums‹ als auch sein Potenzial. Freilich kann ein ›kritisches Factum‹ durchaus auch »nur ein Factum« und also sozusagen eine Sackgasse sein. Doch Marcus macht überdies auch deutlich, dass Fakten und die Art und Weise, wie wir mit ihnen arbeiten können, das Potenzial haben, ein ganz »neues Factum oder eine nähere Bestimmung des ersten« zu generieren. Dies erinnert sowohl an Novalis’ Überlegung, dass Fakten den Ausgangspunkt einer neuen Wissenschaft bilden, als auch an die schon im Hinblick auf Fichte diskutierte Vorstellung, dass sie als ›Leiter‹ von intellektueller Aktivität fungieren können. Demgegenüber ist Schlegels Verständnis des produktiven Potenzials der Fakten etwas verhaltener: Einerseits könnte dessen Mobilisierung in nichts als »leere Arbeit« münden, so dass sein produktiver Wert praktisch gegen Null ginge. Verwendet man ein Faktum hingegen im Namen eines Motivs, das bereits ein neues Factum enthält (oder, wie Schlegel schreibt, eine »nähere Bestimmung« der vorliegenden Fakten), dann geht der Prozess der kritischen ästhetischen Arbeit weiter, wenn auch in einer etwas zirkulären Weise, denn es ist das Motiv und nicht das Instrument, das etwas Neues hervorgebracht hat. Die Besonderheiten des frühromantischen Diskurses über Fakten treten noch deutlicher hervor, wenn man ein Fallbeispiel aus der naturwissenschaftlichen Debatte um 1800 hinzuzieht. Zwar 288 | Jocelyn Holland

ließen sich an dieser Stelle auch eine ganze Reihe weiterer naturwissenschaftlicher Beispiele aus dem Umfeld der Frühromantiker anführen. Ganz bewusst soll hier aber mit dem Wissenschaftler Paul Ludwig Simon ein anderer – besonders eindrücklicher – Fall herausgegriffen werden, der auf den ersten Blick keinesfalls naheliegend erscheint. Denn Simon, Professor für Physik an der Bauakademie Berlin, hatte keinerlei bekannte Verbindungen zum frühromantischen Kreis40, er beteiligte sich aber an einer der meistdiskutierten wissenschaftlichen Kontroversen seiner Zeit: nämlich der Frage nach der Zusammensetzung von Wasser. Dabei standen auf der einen Seite der Debatte diejenigen, die behaupteten, man könne experimentell beweisen, dass Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzt sei, auf der anderen hingegen diejenigen, für die Wasser ein reines Element im aristotelischen Sinne war. Diese zweite Gruppe bediente sich der Erfindung der Volta’schen Säule, einer Vorform der Batterie, die elektrische Ladung erzeugt und so Elektrolyseprozesse ermöglicht. In der Einleitung eines Artikels, den er 1802 in den Annalen der Physik veröffentlichte, zeigt sich Simon dazu entschlossen, auch vor dem Hintergrund der laufenden Debatte weitestgehend wissenschaftliche Neutralität zu wahren: Die Erscheinungen, welche das Wasser in den geschlossenen Ketten Voltaischer Säulen darbietet, sind bis jetzt noch nicht erklärt. Alles, was man darüber geäußert hat, stützt sich bloß auf Muthmassung, und die hierüber aufgestellten Theorien sind bis jetzt weder evident bewiesen, noch mit gegründeten Thatsachen unterstützt worden.41

Beide Ansätze – der erste, demzufolge Wasser eine chemische Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist, und der zweite, wonach Wasser ein »einfaches« Element ist und sich »durch die Einwirkung der entgegengesetzten Pole einer Voltaischen Säule in Oxygen und Hydrogen verändert« – akzeptieren es jeweils als »Thatsache«, dass bei der Elektrolyse von Wasser Wasserstoff und Sauerstoff als experimentelle »Facta« entstehen, aber keine der konkurrierenden Gruppen kann ihre Erklärung dafür anfangs hinreichend begründen.42 So lasse der erste Ansatz die Frage unbeantwortet, »[w]arum […] jeder der beiden Enddrähte der Säule nur Einen Bestandtheil des Wassers, in zwei ganz verschiednen, getrennten, und oft sehr weit von einander liegenden Schichten dieser Flüssigkeit« liefert.43 Fakten sind das, was man daraus macht | 289

»Alles, was man hierüber gesagt hat«, so bemerkt Simon, »sind nur Worte, ist bloß Hypothese, und läßt sich noch nicht auf sinnlich zu erweisende Thatsachen zurückführen.«44 Die andere Partei hingegen habe ihrerseits auch noch keine stichhaltige Erklärung dafür abgegeben, woher der Sauerstoff und der Wasserstoff denn kommen sollen, wenn nicht aus dem Wasser, weshalb auch ihr Ansatz »nicht minder, wie die Gründe der erstern Meinung, nur Hypothese« sein könne und »sich noch weniger unumschränkt behaupten« lasse.45 Im Gesamtzusammenhang dieses Beitrags könnte man sich nun fragen, welche Rolle einige der bislang erarbeiteten ›Elemente‹ von Fakten in einem Text um 1800 spielen, welcher der naturwissenschaftlichen Methode verpflichtet ist. Der zitierte Abschnitt aus den Annalen der Physik ruft nicht nur – wie das Regentenbuch oder andere rechtliche Kontexte – Aspekte des ›Factums‹ als ›Streitsache‹ in einer Gerichtsverhandlung auf. Er führt uns auch zu dem Kalender, Danischmende und zu ihrer Diskussion zurück, ob ›Tatsachen‹ – wie etwa, dass Wasserstoff und Sauerstoff die Produkte der Elektrolyse von Wasser sind – das sind, was wir daraus machen oder nicht. Nicht zuletzt lassen sich Simons Überlegungen darüber, welche Version der Fakten zur Bildung einer adäquaten wissenschaftlichen Theorie des Wassers am ehesten geeignet ist, auch als Echo sowohl auf Novalis’ Metapher des »Leiters« lesen (die im Kontext der Volta’schen Säule ja durchaus gut aufgehoben ist) als auch auf Schlegels Frage nach den Motiven, welche nicht in eine Sackgasse, sondern zur Produktion brauchbarer Fakten führen. Ein gemeinsamer roter Faden, der sich durch die bisher genannten Beispiele zieht, ist die spezifische Zeitlichkeit von Fakten. Man könnte hier an Zedlers Definition des ›Factums‹ als Prozess denken, an Novalis’ Metapher des elektrischen Leiters, Fichtes Verständnis der ›Thatsache‹ als Prozess und Schlegels Vorstellung von Fakten, die – wenn auch in etwas zirkulärer Weise – andere Fakten erzeugen. Versteht man Fakten vor dem Hintergrund dieser philosophischtheoretischen Interpretationen auch als Handlungen und Ereignisse, so wird deutlich, dass es seit dem späten achtzehnten Jahrhundert verschiedene Zeitlichkeiten des Faktums gibt: Einerseits ereignen sich Fakten im Verlauf der Zeit, können daher vergangene Geschehnisse bezeichnen und folglich in historische und narrative Ereigniszusammenhänge eingeordnet werden, andererseits sind 290 | Jocelyn Holland

sie aber ebenso Ereignisse mit einer ganz eigenen Dauer. Die Arten von Fakten, die Schlegel und Novalis im Sinn hatten, scheinen auf den ersten Blick sehr wenig mit den ›Fakten‹ zu tun zu haben, die heutzutage im politischen und kulturellen Diskurs so erbittert umkämpft werden. Doch gerade dieser Aspekt einer spezifischen Zeitlichkeit der Fakten bildet auch für heutige Auseinandersetzungen einen Schlüsselaspekt – insbesondere wenn Fakten, obwohl sie zeitlich begrenzte Ereignisse bezeichnen können, selbst sozusagen als ›zeitlos‹ oder ›überzeitlich‹ aufgefasst werden: »daß jeder Bezug auf Tatsachen zwar ein Bezug auf zeitliche Begebenheiten ist […], daß Tatsachen selbst gleichwohl nicht als zeitliche Begebenheiten charakterisiert werden können: Sie ereignen sich nicht und sind nie vergangen«.46 Am Ende dieses Beitrags zeigt sich nun, dass in der Frühromantik derartige enge Definitionen von Fakten in Frage gestellt werden. Romantische Fakten sind konstruierte Entitäten, die ein produktives Potenzial für theoretisch-philosophisches Denken entfalten können. Fakten sind das, was man daraus macht  … In dem von Paul Ludwig Simon kommentierten naturwissenschaftlichen Streit um die Zusammensetzung des Wassers haben wir ein Echo auf die Worte Danischmendes vernommen und konnten auch das Potenzial der Fakten, neue Verbindungen zu schaffen, am Werk sehen. Jedes Faktum, so hat sich immer wieder gezeigt, sollte entweder zu näheren Bestimmungen der bestehenden Fakten führen oder ganz neue Fakten generieren – ansonsten wäre jede »Arbeit« an ihm »leere Arbeit«, die in der Sackgasse einer unproduktiven Hypothese steckenbleibt. Was folgt daraus? Zum einen können wir festhalten, dass das Verständnis von Fakten in der Frühromantik ebenso in ein philosophisches System wie in einen sprachlichen Kontext eingebunden ist. Zum anderen lässt sich im frühromantischen Denken ein besonderes Interesse an der spezifischen Zeitlichkeit der Fakten erkennen, indem diese in einen (Reflexions-)Prozess mit offenem Ende eingebunden werden, der im Idealfall das Entstehen von neuen Fakten ermöglicht. Versteht man Fakten in diesem theoretischen Sinne, so haben sie also eine konzeptionelle Geschichtlichkeit – so, als ob sie Ereignisse wären.47 Sicherlich stellt sich der frühromantische Diskurs über Fakten Fragen und erörtert Probleme, welche die Wissenschaftsforschung Fakten sind das, was man daraus macht | 291

noch weit länger als hundert Jahre beschäftigen wird und welche die intrikaten Konstruktionsprozesse von Fakten und Faktizität deutlich machen – auch wenn die Wissenschaftsforschung diese Verwandtschaft nicht unbedingt anerkennt. Zugleich aber lässt sich das frühromantische Nachdenken über Fakten keinesfalls bequem in die Kategorien einordnen, an denen sich der moderne Diskurs über Fakten in den letzten Jahrzehnten abgearbeitet hat. Das frühromantische Verständnis von Fakten fügt sich weder in positivistische Deutungen noch in die radikalen Kontingenzen der Postmoderne und auch ein konzeptioneller Rahmen mit Begriffen wie ›objektive Gültigkeit‹ oder ›Realität‹ greift zu kurz. Am ehesten stehen Fakten, wie sie die Frühromantik denkt, auf der Schwelle zwischen theoretischem System und Ereignis sowie zwischen Prozessen der Rezeption und der Produktion – und gerade diese Ambivalenz verleiht ihnen ihren unverwechselbaren Charakter. Aus dem Englischen übersetzt von Carina Breidenbach und Dominik Pensel48

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Marc Rölli

Tatsachen und ihre Konstruktion

Überlegungen zu einer erkenntnistheoretischen ­Fragestellung

In der neuzeitlichen Geschichte der Philosophie sind Tatsachen zumeist als faktische Gegebenheiten aufgefasst worden, die nichts sind, was so oder auch anders sein könnte. Tatsachen sind Sachen, die sind, was sie sind. Sie stehen fest und lassen sich nicht verändern. Nach ihrem logischen Status sind Tatsachen Sachverhalte, die tatsächlich bestehen. Sie werden durch Aussagen beschrieben, die wahr sind. Als basale Tatsachen sind sie logisch unabhängig: Sie lassen sich nicht von anderen ableiten. Warum aber spricht man von ihnen als von ›Tat-Sachen‹? Sind sie denn gemacht? Oder sind Tatsachen ›Dinge‹, die man tut? Und würde nicht ihrem Gemachtoder Getansein ihre eigentümliche Faktizität widersprechen? Müssen nicht Tatsachen nicht-manipulierte oder sogar nicht-manipulierbare Sachen sein, damit sie sein können, was sie sind, und nichts anderes? In der Reaktion auf die Amtseinführung Donald Trumps kochte die Rede von den ›alternativen Fakten‹ hoch. Ein kurioser Ausdruck, der auf die Existenz anderer Fakten anspielt, die, weil anders, keine Fakten sein können, auch wenn sie so tun, als ob. Es scheint ganz einfach zu sein. Während die einen lügen und betrügen, stützen sich die andern auf eine Branchenethik oder gleich auf den ethischen Kodex ›guter wissenschaftlicher Praxis‹. Populistischer Demagogie und Propaganda steht eine faktenbasierte Berichterstattung gegenüber. Die ›Lügenpresse‹ wäre keine, wenn sie sich alternativlos an Fakten hielte. Und ›postfaktische‹ Politik, die sich von fake news ernährt, gefährdet das moderne und liberale Selbstverständnis der westlichen Welt und die sie prägende Wissenschaftskultur. Daher auch die Initiative March for Science. In dieser Auseinandersetzung wird eine Menge weggelassen. Nietzsche hat gegen übersteigerte Formen des Wissenschaftsglaubens, aber auch gegen die philosophische Tradition – also glei293

chermaßen gegen Positivismus und Idealismus – eine intellektuelle »Redlichkeit« eingefordert, die darin besteht, die Konstruktionsbedingungen von Tatsachen oder Fakten zu thematisieren und nicht auszublenden.1 Dann geht es um das Problem einer Wahrheitsproduktion, die nicht einfach manipulativ, sondern insofern konstruktiv verfährt, als sie einen nach bestimmten ausgehandelten Regeln nachprüfbaren Sachverhalt ermittelt und präsentiert. Auf dem Spiel stehen dabei auch journalistische, medientechnisch versierte Darstellungen, die nach reinen Effizienzkriterien funktionieren. Aber es geht um mehr. Im Hintergrund steht die Frage, wie sich innerhalb der Wissenschaften demokratische Strukturen durchsetzen – und wie sie genauer beschaffen sind. Kurz gesagt macht es einen Unterschied, in welchem Deutungsrahmen sich Wissen kultiviert: im Verbund mit einem ungebrochen elitären Selbstverständnis, das die realen Konsequenzen seines Erwerbs (etwa die Reproduktion bestehender Demokratiedefizite) schon methodisch ignoriert, oder im Sinne einer experimentell situierten Praxis, die sich an Fragen und Problemen orientiert, die nicht nur für sie selbst und ihresgleichen – im scheinbar endlosen Raum objektiver Wahrheiten – einen Wert und eine Bedeutung haben. Im Folgenden wird durch eine Verschiebung der Blickrichtung auf eine Wissenschaftspraxis reflektiert, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Tatsachen konstruiert. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen – eine durchaus naheliegende Annahme, sofern Tatsachen ihrem üblichen Begriff entsprechend gerade nicht konstruiert sind. Aber genau darauf kommt es an: Wissenschaftliche Tatsachen rekurrieren auf Erkenntnisprozesse, die weder positivistisch auf eine rein vorhandene Natur noch konstruktivistisch rein auf sich selbst bezogen sind. Dabei werde ich in drei Schritten vorgehen. Zunächst wird an einige Thesen des Wissenschaftsforschers und Soziologen Bruno Latour erinnert, die in den letzten Jahren breit diskutiert worden sind. In Reassembling the Social unterscheidet er unbestreitbare und umstrittene Tatsachen (matters of fact und matters of concern) – und bezieht eine Position, die gegen den Tatsachenpositivismus gerichtet ist. Er plädiert dafür, die künstlich getrennten natürlichen und sozialen Aspekte der in zwei Welten operierenden Wissenschaft in einer primären Verbindung zusammenzuführen, die in neuerer Zeit mit der Vermehrung hy294 | Marc Rölli

brider Objekte (im Sinne von Kollektiven menschlicher und nichtmenschlicher Akteure) speziell in der Wissenschaftsforschung unübersehbar geworden sei. (I.) Im Anschluss daran wird eine philosophische Tradition des Tatsachenglaubens skizziert, die mit der Aufwertung des Prinzips der Erfahrung und der empirischen Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert in Europa entsteht – und aus der Sicht Latours die ›moderne‹ Verfassung des Wissens repräsentiert. Inmitten dieser Traditionslinie findet sich das Problem der Konstruktion von Tatsachen als Wissensobjekten wieder, insofern als die gegenständliche Stabilisierung der empirischen Daten einen gewissen Aufwand erforderlich macht. (II.) Zuletzt werden einige der Kritikpunkte erläutert, die der amerikanische Pragmatismus an den Theoriegrundlagen des klassischen Empirismus herausgearbeitet hat. Das kritische Verhältnis des Pragmatismus zur empiristischen Auszeichnung von Erfahrungstatsachen verdeutlicht den Zusammenhang, der zwischen einer stets komplexen Ausgangs­ situa­tion der Forschung und der in ihr hervorgebrachten Relevanz eines methodisch isolierten Faktums besteht. (III.)

I. Eine Schwierigkeit, die Latour im Hinblick auf die moderne Wissenschaftstheorie immer wieder diskutiert, lässt sich in einer Frage zusammenfassen: ›Sind wissenschaftliche Tatsachen wirklich, oder sind sie konstruiert?‹ In der zwangsläufigen Alternative, die von ihr angeboten wird, erinnert sie an ein wenngleich verkehrtes Bett des Prokrustes: Stets zu lang oder zu kurz, werden die Fakten entweder zu unbestreitbaren Tatsachen oder aber zu Konstruktionen gemacht, die per definitionem nicht wirklich und objektiv sein können.2 Gegen diese Zumutung, gestutzt oder gedehnt werden zu müssen, richtet sich das Unternehmen Latours, die Wirklichkeit der Wissenschaft zu erkunden. Seine Lösung des in der Frage aufgeworfenen Problems liegt nun nicht darin, wie es dem sogenannten ›Postmodernismus‹ vorgeworfen wird, auch die wissenschaftliche Realität als bloße Konstruktion, d. h. als Illusion, Erzählung oder Trugbild, zu fassen. Im Gegenteil: Gerade im Konstruiertwerden erlangen wissenschaftliche Tatsachen außerordentliche WirklichTatsachen und ihre Konstruktion | 295

keit, Autonomie und Unabhängigkeit »von unserem Zutun«.3 Wie ist das möglich? Naheliegend wäre hier ein Rekurs auf Kant, der die wissenschaftliche Objektivität auf eine bestimmte konstruktive Verstandestätigkeit zurückführt. Aber für Latour bleibt die kantische Herangehensweise ganz dem (aus seiner Sicht: modernen) SubjektObjekt-Dualismus verhaftet, sofern die Konstruktion einerseits objektive und andererseits subjektive Quellen voraussetzt: Sinnesdaten und Urteilsformen. Eine handlungstheoretische Revision des Konstruktionsbegriffs im Auge, die sich an Beschreibungen der laborwissenschaftlichen Praxis orientiert, zielt Latour dagegen darauf ab, dass Forscher*innen von ihren eigenen Handlungen überrascht werden. Sie machen zwar Fakten, aber diese sind insofern autonom, als sie nicht von der Forschungspraxis beherrschbar sind. Das Paradox des Konstruktivismus liegt also darin, daß er ein Vokabular der Beherrschung verwendet, das kein Architekt, Maurer, Stadtplaner oder Zimmermann je gebrauchen würde. […] Man möge mir einen Romancier, eine Malerin, Architektin oder Köchin zeigen, die nicht, wie Gott, überrascht, überholt, mitgerissen wurde von dem, was nicht länger sie tat, sondern sie [alle im Netzwerk verbundenen Aktanten; MR] taten.4

Das Problem der Modernen liegt nach Latour darin, dass sie die Fakten einer Außenwelt dem freien Spiel der Gedanken und der Phantasie, das sich in einer geistigen Innenwelt abspielt, entgegensetzen. Für sie ist die Unterscheidung zwischen dem von Menschen hergestellten Produkt »und dem, was ein von niemandem gemachter Fakt dort draußen ist«, von zentraler Bedeutung.5 Schließlich kommt eine objektive Erkenntnis nur dort zustande, wo sie nicht von subjektiven Vorlieben, Überzeugungen etc. beeinträchtigt wird. In diesem Sinne stehen sich Fakten und Fetische gegenüber: hier nur ein lebloser Stein, dort die Manifestation einer Gottheit, die aus der religionskritischen Perspektive der Aufklärungsphilosophie auch nichts ist als ein Stein, auf den Vorstellungen, Wünsche und Ängste projiziert werden. Entscheidend ist dabei, dass die moderne philosophische Kritik, Entzauberung und Entlarvungstechnik, onto­ logische Voraussetzungen macht, indem sie eine Außenwelt postuliert, die von einer psychischen Innenwelt zu trennen ist. Diese Voraussetzungen ermöglichen erst die Rede von Fetischen – und 296 | Marc Rölli

ebenso von Tatsachen im Sinne von matters of fact. Diese können in keiner Weise konstruiert sein, wenn sie nicht ihre objektive Gültigkeit verlieren wollen. Schließlich heißt dann ›konstruiert‹: ›von Menschen hervorgebracht‹ – und nicht: entdeckt, gefunden, entgegengenommen, bewährt. Gegen dieses Verständnis mobilisiert Latour eine Schöpfungstheorie, die pragmatistisch inspiriert ist – und die sich bei William James ebenso findet wie bei Henri Bergson oder Alfred N. Whitehead. Danach ist die Schöpfung per se unvollendet – und Gott ist keineswegs ihr Herr. Sie entgleitet vielmehr seiner Herrschaft und ist nicht nach einem seit Urzeiten bestehenden Plan hervorgebracht (oder konstruiert). Ebenso wie Gott werden auch wir, wenn wir handeln (und glauben, unser Handeln vollkommen zu beherrschen), von unserem Tun überrascht. An diesem Punkt ist es daher auch keineswegs zwingend, auf ein Entfremdungsgeschehen und auf Herrschaftsverhältnisse zu spekulieren. Mehr als eine pragmatische Handlungssouveränität lässt sich grundsätzlich nicht erreichen – und die liegt dort, wo getrost auf stabile Regelmäßigkeiten handelnder Akteure gesetzt werden darf, mit Klugheit und Humor. Nehmen wir als ein Beispiel Louis Pasteurs ›Entdeckung‹ des Milchsäureferments. Latours inzwischen berühmt gewordene Interpretation dieser ›Entdeckung‹ zielt darauf ab, ihre konstruktivistischen wie auch realistischen Aspekte gleichermaßen anzuerkennen. Sie orientiert sich an einem Forschungsbericht, den Pasteur 1858 unter dem Titel Mémoire sur la fermentation appelée lactique publiziert hat. In einem ersten Schritt wird rekonstruiert, wie Pasteur dem Milchsäureferment »von einem ontologischen Status zum nächsten« substantiellen Gehalt verleiht: »Sagen wir, daß Pasteur in seinem Laboratorium in Lille einen Akteur ›designt‹.«6 Dies geschieht entlang einer Reihe von Laborversuchen: Anfangs handelt es sich um das »nahezu unsichtbare Nebenprodukt eines rein chemischen Gärungsvorgangs« – »kaum zu unterscheiden von Kasein, zersetztem Gluten usw., so daß er [dieser Stoff] dem Anschein nach kein besonderer Stoff ist« – und am Ende des Berichts ist die Hefe eine klar definierte Substanz. Von »Flecken eines grauen Stoffes« ist die Rede, »die manchmal auf der Oberfläche des Bodensatzes eine Schicht bilden« – oder auch von »kleinen Kügelchen«, die sich zu »unregelmäßigen Flocken« vereinigen, die »denen mancher Tatsachen und ihre Konstruktion | 297

amorpher Niederschläge gleichen«: »ein wenig schleimig und von grauer Farbe«. Diese kaum fassbaren, chaotischen Sinnesdaten, die sich nicht gegenständlich machen lassen, werden zunächst etwas bestimmter gefasst, indem genau beobachtet wird, was sie tun. Latour spricht an dieser Stelle von »Performanzen«, welche der »Kompetenz« vorausgehen.7 Die Kompetenz wird dann als Ursache oder Ursprung der Performanzen bzw. Aktionen gefasst: In Analogie zur Bierhefe erhält das Milchferment eine Substanzbezeichnung und kann in die Taxonomien der Wissenschaft eingeordnet werden: »Zunächst besteht die Entität aus flottierenden Sinnesdaten, dann wird sie als Aktionsname verstanden und schließlich in ein organisches, pflanzenähnliches Lebewesen verwandelt […].«8 Zweitens begreift Latour die experimentelle Definition des »neuen Stoffs« in einem pragmatistischen Sinne. Ein Akteur kann nur »durch seine Aktion« – und eine Aktion wiederum nur durch die Frage bestimmt werden, »wie die jeweils interessierende Figur andere Akteure verändert, transformiert, stört oder hervorbringt«.9 »Pasteur ist ein guter Pragmatist: Für ihn besteht das Wesen in der Existenz, und Existenz ist Handeln. Wozu ist dieser mysteriöse Kandidat, das Ferment, in der Lage? Die Erfindungsgabe eines Experimentators erweist sich zum größten Teil im Entwerfen verzwickter Plots und ausgeklügelter Inszenierungen, durch die ein Aktant zur Mitwirkung in neuen und unerwarteten Situationen gebracht wird, die ihn in Aktion definieren werden.«10 Der Laborbericht erzählt aber nicht nur eine Geschichte, nämlich die Geschichte des experimentell motivierten Verhaltens einer durch dieses Verhalten bestimmbaren Substanz. Vielmehr ist diese Geschichte mehr als nur eine Geschichte, sofern die im Experiment erzielten Vorkommnisse auf der Kompetenz des beteiligten Stoffs (der Milchsäurehefe) beruhen – und jederzeit von Fachkolleg*innen wiederholt werden können. Zwar ist die Versuchsanordnung im Labor und damit die aus nichtsprachlichen Bestandteilen bestehende Laborsituation eine künstlich hergerichtete, nicht aber die Nachprüfbarkeit des Berichts und damit die pragmatische Definition des Stoff-Akteurs. »Ein Experiment ist ein Text über eine nichttextuelle Situation, der später von anderen getestet wird, um zu entscheiden, ob es bloß ein Text war oder mehr ist.«11 Im Falle der von Pasteur ins Auge gefassten und für den Gärungsprozess maßgeblichen organischen Substanz 298 | Marc Rölli

heißt das, dass die wissenschaftliche Überzeugungskraft seines Experiments darauf beruht, dass zusätzlich zur experimentellen Anordnung etwas Neues auftaucht – ein Stoff, der vor der Durchführung des Experiments noch nicht auf der Liste stand. Bleibt noch drittens übrig, den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen der Autonomie der produzierten Tatsachen und ihrer künstlichen Hervorbringung besteht. Wie verbindet Pasteur Empirismus und Konstruktivismus? Die Lösung des Rätsels lautet: mit Hilfe einer Ebenendifferenz: »[A]uf der einen ist der Erzähler aktiv, und auf der zweiten wird die Aktion an eine andere Figur, und zwar eine nicht-menschliche, delegiert.«12 »Pasteur handelt, damit die Hefe von sich aus handelt.«13 Das Experiment ist ein Forschungsakt, durch den natürliche Entitäten dazu gebracht werden, von sich aus bestimmte Dinge zu tun. Während eine naiv realistische Position nicht imstande ist, die eigentümliche Arbeit Pasteurs – und damit auch ihre theoretischen und historischen Bedingungen – zu berücksichtigen, verliert eine naiv konstruktivistische Sicht die autonome Aktivität der ›Natur‹ bzw. genauer: der nicht-menschlichen Handlungsträger aus den Augen. Es ist für Pasteur gleichermaßen unverzichtbar, einerseits auf theoriegesättigte Hypothesen und erreichte Forschungsstandards (z. B. die Gärung der Milchsäure nach Scheele) zurückzugreifen und andererseits auf die Eigenaktivität der Milchsäure zu setzen, die aus lebenden Organismen und nicht aus toter Chemie besteht. Rückblickend erzählt Latour in Reassembling the Social (die deutschsprachige Übersetzung erschien unter dem Titel Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft) die Geschichte der AkteurNetzwerk-Theorie (ANT), indem er auf die Anfänge der Feldstudien im Laboratorium zu sprechen kommt, die gezeigt hätten, dass Tatsachen konstruiert werden: »Mit großem Enthusiasmus begannen wir […], den Ausdruck ›Konstruktion von Tatsachen‹ zu verwenden, um das auffallende Phänomen von im Gleichschritt marschierender Artifizialität und Realität zu beschreiben.«14 Auf diese Weise setzte sich diese Forschungsrichtung unbemerkt – und zunächst auch ganz unabsichtlich – zwischen die Stühle. Zwar wollte sie durchaus behaupten, dass Tatsachen Tatsachen sind, d. h. echte oder exakte (objektive) Tatsachen, gerade weil sie konstruiert sind, und dies in dafür vorgesehenen Räumen, Laboratorien Tatsachen und ihre Konstruktion | 299

und anderen Forschungseinrichtungen: »Jeder Wissenschaftler, dessen Arbeit wir untersuchten, war stolz auf diese Verbindung zwischen der Qualität seiner Konstruktion und der Qualität seiner Daten.«15 Doch die Epistemolog*innen beharrten darauf, dass Tatsachen »selbstverständlich nicht konstruiert« wären – und die Wissenschaftssoziolog*innen verbanden mit der Konstruktion von Tatsachen ihren Fetischcharakter. »Uns wurde allmählich klar, daß nicht nur an der vorherrschenden Wissenschaftsphilosophie etwas grundsätzlich fehlerhaft war, sondern auch an den Sozialtheorien, die üblicherweise verwendet wurden, um andere Bereiche als die Wissenschaft zu erklären.«16 Denn der von ANT-Forscher*innen verwendete Begriff ›Sozialkonstruktivismus‹ erregte den Zorn der Wissenschaftler*innen nur deshalb, weil sie glaubten, dass mit der Betonung des konstruierten Charakters von Tatsachen dieselben sozial erklärt und das heißt quasi wegerklärt, durch das Soziale ersetzt werden sollten. Stattdessen aber schlägt Latour vor, die Sozialtheorie grundsätzlich zu transformieren – und auf diese Weise »aus dem Scheitern einer überzeugenden sozialen Erklärung von harten wissenschaftlichen Tatsachen« zu lernen.17 Und er meint: »Damit sind wir an der wahren Geburtsstätte der ANT angelangt.«18 Objektive Tatsachen können nicht Wirkungen sozialer Kräfte sein. Das einfache Kausalschema wird daher von einer Logik der Übersetzung abgelöst, die die Richtung der Kausalität auch umzukehren erlaubt, z. B. mit der Fragestellung, inwiefern Lord Kelvins Telegraphendrähte das Britische Empire konsolidiert haben. Assoziationen können als Netzwerke kartographiert werden, in die auch nicht-menschliche Entitäten verstrickt sind. »Um dies zu ermöglichen, müssen wir die Tatsachen ebenso von ihrer Reduktion durch ›Natur‹ befreien wie die Objekte und Dinge von ihrer ›Erklärung‹ durch Gesellschaft.«19 Die zitierten Textpassagen stammen aus dem Buchkapitel »Unbestreitbare Tatsachen versus umstrittene Tatsachen«.20 Es sind die unbestreitbaren Tatsachen (oder matters of fact), die im Zuge der Entstehung des modernen wissenschaftlichen Empirismus auf den Plan treten. Bei ihnen handelt es sich um theoretische Konstruktionen basaler, nicht-konstruierter Erfahrungsgegebenheiten – wobei gilt, dass einerseits die wirkliche empirische Mannigfaltigkeit die schmale Bandbreite unbestreitbarer Tatsachen überflutet und an300 | Marc Rölli

dererseits unbestreitbare Tatsachen nicht durch einen rigorosen Reduktionismus, sondern nur dann erfasst werden können, wenn sie als komplexe, elaborierte und kollektive Konstruktionen begriffen werden. Der Empirismus kann daher – seinem eigenen Anspruch entgegen – »ganz gewiß nicht beanspruchen, eine vollständige Beschreibung dessen zu sein, was in der Erfahrung gegeben ist«.21 »Der Empirismus erscheint nicht länger als das solide Grundgestein, auf das sich alles andere gründen ließe, sondern als eine sehr dürftige Interpretation von Erfahrung.«22 Und: Die Positivisten waren nicht sehr inspiriert, als sie die Tatsachen als die elementaren Bausteine auswählten, um ihre Kathedrale der Gewißheit zu errichten. Sie glaubten, dies sei das primitivste, solideste, unbestrittenste, unbestreitbarste Material, und alles Übrige ließe sich darauf reduzieren. […] Schon die Etymologie hätte sie erschaudern lassen müssen: Wie konnte eine Tatsache so solide sein, wo sie doch Tat-Sache ist und also dem Tun entstammt und verfertigt ist?23

Von erster Bedeutung sind daher nicht länger die unbestreitbaren, sondern die umstrittenen Tatsachen (matters of concern). Während mit unbestreitbaren Tatsachen das empirische Studium voreilig beendet und abgeschlossen wird, korrespondieren umstrittene Tatsachen mit einer pragmatistisch inspirierten Radikalisierung des Empirismus. Beides wird im Folgenden kurz zum Thema gemacht: ein Standardmodell des ersten (klassischen) Empirismus der Sinnesdaten – und eine mögliche Version des ›zweiten Empirismus‹, der einer pragmatistischen Revision unterzogen wurde.24 Latour bezieht sich wiederholt auf Autoren wie James, Dewey oder Whitehead, um diese Revision zu erläutern. Dabei insistiert er auf der pluralistischen Ausrichtung des Pragmatismus, sofern ihm keine strikte Trennung zwischen der Realität auf der einen und Interpretationen auf der anderen Seite sinnvoll erscheint. Gerade die Beschreibung der im Labor erfolgenden Tatsachenkonstitution kann die »vielen Faltungen der Objektivität sichtbar« machen, weil man »sich ein wenig näher dorthin bewegt, wo Agenzien dazu gebracht werden, sich zu manifestieren«.25 Und wie immer, so gilt auch im Falle von Tatsachen, dass sie nicht als pure (quasi ›inkompetente‹) Informanten vorab rein theoretisch bestimmt, sondern als Akteure ernst genommen werden sollen: »Die Kartographierung wissenschaftlicher Tatsachen und ihre Konstruktion | 301

Kontroversen über umstrittene Tatsachen sollte es uns erlauben, den Schauplatz des Empirismus von Grund auf zu erneuern.«26

II. Wie aber lässt sich die Position des klassischen Empirismus im Hinblick auf die Tatsachenproblematik bestimmen? Eine Möglichkeit besteht darin, die Grundlagen der Wahrnehmungstheorie zu rekapitulieren, die David Hume seinem Empirismus voranstellt. Mit ihr lässt sich das Programm der Begründung und Überprüfung allen Wissens im Rekurs auf die unmittelbare Erfahrung realisieren. Als Oberbegriff der Erfahrungsgegebenheiten führt Hume den Begriff der ›Wahrnehmung‹ (perception) ein und unterscheidet zwei Wahrnehmungsarten nach dem Grad ihrer Intensität: ›Eindrücke‹ (impressions) und ›Vorstellungen‹ (ideas).27 Die Eindrücke zerfallen in solche der ›Sinneswahrnehmung‹ (impressions of sensation) und in solche der ›Selbstwahrnehmung‹ (impressions of reflexion).28 Zusätzlich betont Hume, dass es nicht nur einfache, sondern auch zusammengesetzte Eindrücke und Vorstellungen gibt.29 Humes empiristische ›Grundregel‹ (copy-principle) besagt, »daß alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben«.30 Das Urbild-Abbild-Verhältnis kann nur auf dem Niveau einfacher Perzeptionen etabliert werden. Seine Bedeutung ist grundlegend, weil die empiristische Analyse abstrakter Vorstellungen darauf angewiesen ist, Vorstellungen auf Eindrücke zurückzuführen, um ihren Wahrheitsgehalt zu ermitteln.31 Komplementär gilt das Differenz-Prinzip, dass »Gegenstände, die verschieden sind, unterscheidbar, und daß Gegenstände, die unterscheidbar sind, durch das Denken und die Einbildungskraft trennbar sind«.32 Assoziationen von Vorstellungen verbinden diese keineswegs so, dass sie miteinander verschmelzen bzw. untrennbar gemacht werden. Ihre ›singuläre Selbständigkeit‹ macht ihre empirische Rechtfertigung erst möglich. Diese atomistischen Prämissen der empiristischen Erfahrungstheorie werden im Pragmatismus einer Kritik unterzogen.33 Hier kommt es zunächst darauf an, zwischen Erfahrungstatsachen und 302 | Marc Rölli

Dingen zu unterscheiden, sofern Erstere einen prärelationalen Status haben und der Referenz auf identische Objekte voraus liegen. Damit verbindet sich die Schwierigkeit des epistemischen bzw. nicht-epistemischen Status der Sinnesdaten, die erst im Prozess ­ihrer Assoziation objektiv stabilisiert werden können.34 In der Absicht, das Theorem von der ›unendlichen Teilbarkeit‹ von Raum und Zeit zurückzuweisen, bezieht sich Hume auf die unteilbaren extensionslosen Perzeptionen, die seiner Meinung nach allen Raum- und Zeitvorstellungen zugrunde liegen. Mit dem ›Tintenfleck-Experiment‹ wird von Hume anschaulich dargelegt, was er unter ›einfachen Eindrücken‹ bzw. minima sensibilia versteht: »Man mache einen Fleck Tinte auf Papier, fixiere diesen Fleck mit den Augen und begebe sich in eine solche Entfernung von ihm, daß man ihn zuletzt aus dem Gesicht verliert; es ist klar, daß im Augenblick, ehe er verschwand, das Bild oder der Eindruck vollkommen unteilbar war.«35 Aus diesem Experiment soll hervorgehen, dass sinnliche Eindrücke eine Mindestgröße haben, die nicht weiter vermindert werden kann und deshalb unteilbar ist. In der Hume-Forschung spricht man von ›extensionslosen Punkten‹, weil jede extensive Größe aus gleichartigen einfachen Elementen zusammengesetzt ist. Die Versuchsanordnung ist darauf ausgelegt, eine Grenze der Sichtbarkeit zu bestimmen, wo die kleinen und gerade noch sichtbaren Phänomene ihre irreduzible atomare und diskrete Eigenart beweisen. Mit der Berufung auf die unmittelbare Erfahrung und ihre Fixierung auf die primordialen Strukturen des Erfahrungsmaterials, d. h. auf »klare und scharfe« Perzeptionen, die allen höherstufigen Vorstellungen zugrunde liegen, wird Hume dazu gebracht, die einzelnen ›sinnlichen Qualitäten‹ als unteilbare homogene Einheiten aufzufassen, die sich im Sinne diskreter extensiver Größen zusammensetzen lassen.36 Seine Absicht, nach dem Vorbild Newtons eine Wissenschaft vom Menschen zu begründen, schlägt sich direkt in seinem Begriff der Erfahrung nieder, sofern der Wahrnehmungsvorgang »lediglich in der passiven Aufnahme der Eindrücke durch die Organe der Sinnesempfindung« bestehen soll und ohne jede mentale synthetische Aktivität auskommt.37 Diese reinen, passiv empfangenen und unverbundenen Eindrücke sind ebenso wie die ihnen nachgebildeten Vorstellungen vollständig individualisiert und deutlich bestimmt, so »daß nur durch unsere Schuld jener ChaTatsachen und ihre Konstruktion | 303

rakter des Dunklen und Verwickelten in sie hineinkommen kann«.38 Die szientistische Intention setzt sich über den empirischen Befund hinweg, dass sehr kleine Wahrnehmungsgegebenheiten nur wahrnehmbar sind, wenn sie in irgendeiner Weise bemerkt werden – wie z. B. in einer künstlich präparierten Umgebung. Ein kleiner Tintenfleck wird normalerweise überhaupt nicht bemerkt; das heißt aber, dass die kleinsten Wahrnehmungen im Regelfall weder gegeben noch von den Vorstellungen repräsentiert werden. Das erkenntnistheoretische Dilemma der Verifikations- und Konstitutionstheorie reflektiert sich in einer Zweideutigkeit des Hume’schen Empirismus, der zwischen einer fundamentalphilosophischen und einer skeptischen Ausrichtung schwankt. Mit Kant und seiner Fassung des Problems der Objektreferenz kann der Entscheidungsdruck zur eindeutigen Positionierung forciert werden. In der Tat präsentiert Hume häufig einfache Wahrnehmungen als Wahrnehmungen von Gegenständen: Das Sinnkriterium und die Assoziation setzen nach Hume – in der Praxis vieler seiner Argumentationen – bereits konstituierte Gegenstände als Ausgangsphänomene voraus. Gleichwohl übersieht er nicht, dass die reinen Erfahrungsvorkommnisse eigentlich ›präobjektiver‹ Natur sind: Der Anblick des Tisches vor mir ist für sich allein genügend, mir eine Vorstellung der Ausdehnung zu verschaffen. Die Vorstellung der Ausdehnung ist hier einem Eindruck entlehnt und nachgebildet, welcher in diesem Augenblick meinen Sinnen sich darstellt. Meine Sinne führen mir aber nur die Eindrücke farbiger Punkte zu, die in einer bestimmten Weise angeordnet sind. Wenn das Auge noch irgend etwas Weiteres empfindet, so wünsche ich darauf hingewiesen zu werden. Ist es aber unmöglich, etwas Weiteres aufzuzeigen, so können wir mit Sicherheit sagen, daß die Vorstellung der Ausdehnung nichts ist als ein Abbild dieser farbigen Punkte und der Art, wie sie sich vereint der Wahrnehmung darstellen. 39

Unterschieden werden einzelne visuelle und taktile Eindrücke von der zusammengesetzten Gesamtwahrnehmung eines ausgedehnten Objekts. Bei der intentional auf einen Gegenstand ausgerichteten Wahrnehmung scheint es sich um eine spezifisch organisierte Assoziation von Sinnesdaten zu handeln. Unklar bleibt an diesem Punkt die Relevanz des Gegenstandsbezugs, sofern Hume aus dem nicht-objekthaften Status der Sinnesdaten keine systematischen 304 | Marc Rölli

Konsequenzen zieht. Im Unterschied zu Kant marginalisiert er die Bedeutung der konstitutiven Synthesen für die ›Identitätsrelation‹ und verliert die Differenz zwischen den nicht klar lokalisierten Sinnesdaten und den extensiven Qualitäten von Wahrnehmungsgegenständen aus den Augen. Und dies auch dort, wo es ihm gelingt, die Genese des Glaubens an beharrliche und abgesonderte Dinge minutiös nachzuzeichnen. Die skeptische Lesart der Philosophie Humes schließt eine Zurückweisung ihrer fundamentalphilosophischen sinnesdatentheoretischen Grundlagen ein. Zum Beispiel behandelt Hume die Vorstellungen der Dingkonstanz oder der Ich-Identität als natürliche Illusionen, die sich mit bestimmten Erfahrungsregelmäßigkeiten herausbilden. Die Kausalbeziehungen können zwar nicht auf eine stabile empirische Basis reduziert werden, aber diese Unmöglichkeit muss nicht das Scheitern der skeptischen Einstellung, sondern kann auch die Illegitimität der erkenntnistheoretischen Geltungsansprüche bedeuten. Wollte Hume die realistischen Annahmen des common sense begründen, dann scheiterte seine Philosophie an ihren skeptizistischen Konsequenzen. Wenn stattdessen seine Kritik dieser Annahmen akzeptiert und bejaht wird, dann ist es möglich, einen vertretbaren pragmatischen Skeptizismus zu entwickeln. Ebenso scheitert der Versuch, die Gravitationsgesetze der Seelenlandschaft zu entdecken, sofern eben keine absolut gesicherten Erkenntnisse empirischer Kausalverbindungen möglich sind.40 Dieses Ergebnis ist desaströs, solange an der epistemischen Grundlagenfunktion des Bewusstseins festgehalten wird. Dagegen eröffnet es neue Möglichkeiten, wenn auf die pragmatischen Aspekte der Erkenntnispraxis aufmerksam gemacht wird, z. B. auf den experimentellen Vorgang, flüchtige empirische Daten mit theoretischem und praktischem Aufwand zu stabilisieren.

III. Auf exemplarische Weise unterzieht der amerikanische Philosoph John Dewey den Erfahrungsbegriff der empiristischen Tradition ­einer pragmatistisch angelegten Revision. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen einer »primären« und einer »sekunTatsachen und ihre Konstruktion | 305

dären« Erfahrung.41 Im Anschluss an William James und die Essays in Radical Empiricism (1912) begreift er die primäre Erfahrung als ›doppelläufig‹ (double-barrelled), sofern sie einschließt, was und wie erfahren wird.42 Ihre methodische Bedeutung liegt nicht zuletzt in ihrer Funktion, der Reflexion ein ›kontextuelles Ganzes‹ vorauszusetzen – und somit für die theoretische Abstraktionsleistung ein empirisches Korrektiv bereitzustellen. Dabei ist zu beachten, dass die Reflexionsbegriffe – »die geläuterten Objekte« der Sekundär­ erfahrung – durch ihren von Rechts wegen unverlierbaren Bezug auf eine primäre Erfahrungssituation daran gehindert werden, sich zu verselbständigen.43 ›Intellektualistisch‹ gerät die Philosophie in die Irre, wenn sie mit Begriffen arbeitet, die vorgeben, ursprüngliche Wesenheiten zu sein, die sich die Erfahrung im Ganzen zuordnen und daher den Anschein erwecken, nicht von einer (voraus liegenden) primären Erfahrung abstrahiert zu sein.44 Dies gilt in einem allgemeinen Sinne auch für solche Begriffe, die – wie ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹ – der Erfahrung insgesamt reflexionslogische Vor­annah­men unterlegen.45 Das heißt aber nicht, dass Dewey die primäre Erfahrung mit einer epistemologischen Funktion versieht, indem er diskursive Urteile einer empirischen Prüfung unterzieht. Im Gegenteil: Es sind gerade die Grundlagen des Repräsentationalismus, die im Zuge der Kritik reflexionslogischer Abstraktionen adressiert und zurückgewiesen werden.46 Die »rohen« Stoffe der primären Erfahrung sind keine »reinen« Sinnesdaten, sondern »Prozesse des Erfahrens«, die in ungeordneter Weise Bericht und Interpretation vereinen.47 Die nicht-empirische Methode beginnt mit einem reflexiven Produkt, als ob es primär wäre, als ob es das ursprünglich ›Gegebene‹ wäre. Für die nicht-empirische Methode sind deshalb Objekt und Subjekt, Geist und Materie (oder welche Wörter und Ideen sonst gebraucht werden mögen) getrennt und unabhängig voneinander. Deshalb hat sie das Problem, wie es möglich ist, überhaupt etwas zu erkennen […]. Der eine Denker wird zum metaphysischen Materialisten […]; der andere wird zum psychologischen Idealisten.48

›Nicht-empirisch‹ wäre selbst die Methode der klassischen Empiristen, sofern sie mit den sogenannten ›einfachen Vorstellungen‹ ein Resultat der Erfahrungsanalyse zum eigentlich Gegebenen stilisie306 | Marc Rölli

ren.49 Sie stehen in der Tradition des cartesianischen Dualismus. Laut Dewey ist das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis durch die Abstraktion der subjektiven Erfahrungsqualitäten von den Gegenständen der Natur bestimmt.50 Das hat einerseits einen emanzipatorischen Effekt, sofern auf die subjektiven (und traditionsgebundenen) Bedingungen der Erfahrung reflektiert werden kann.51 Andererseits wird aber die dualistische Unterscheidung zwischen psychischen Seinsweisen und physikalischen Objekten fest etabliert. Schließlich gilt in der Theorie nach wie vor die überlieferte Ansicht, »daß das Objekt der Erkenntnis die Wirklichkeit par excellence sei«.52 In diesem Sinne lassen sich die von ihrem empirischen Ursprung getrennten Gegenstände der psychologischen Forschung so auffassen, »als bildeten sie eine gesonderte und isolierte geistige Welt an und für sich, selbstgenügsam und in sich selbst eingeschlossen«.53 Den sinnlichen Qualitäten, die den Akt des Sehens definieren, können Wahrnehmungsgegenstände entgegensetzt werden. Vor dem Hintergrund der intellektualistischen Gemeinsamkeiten macht es dann keinen großen Unterschied, ob das ursprünglich Reale in einem Komplex von geistigen Zuständen oder in einem physikalischen Naturverständnis verortet wird. In beiden Fällen geht die Beziehung auf die primäre Erfahrung (situationsbezogener Probleme) verloren. Unterscheiden sich Philosophie und Wissenschaft in der Art und Weise ihres Erfahrungsbezugs – »denn die Naturwissenschaften ziehen nicht nur ihr Material aus der Primärerfahrung, sondern überprüfen es auch wieder an dieser«54 –, dann ist ein (aus Deweys Sicht: modernes) Wissenschaftsverständnis im Spiel, das mit den traditionellen Vorstellungen bricht.55 Keineswegs zielt die moderne wissenschaftliche Naturerkenntnis auf eine Realität schlechthin – ihre Forschungspraxis stimmt mit den geläufigen (d. h. ›nicht-empirischen‹) philosophischen Annahmen der Wissenschaftstheorie nicht überein.56 Im Unterschied zu bestimmten lebensweltphilosophischen und anderen Vorstellungen, die den instrumentellen Charakter des Erkennens mit einer vorgängigen Alltagspraxis kontrastieren, insistiert Dewey darauf, dass sich stets nur in Beziehung auf die primäre Erfahrung die konkrete Situiertheit des Wissens, z. B. die Verflechtung mit technischen Entwicklungen oder Machtverhältnissen, herausstellen lässt – und zwar sofern die Lebenswelt selbst eine von Wissenschaft und Technik durchdrungene und strukturierte ist.57 Tatsachen und ihre Konstruktion | 307

Wissenschaftliche Erkenntnis beginnt Dewey zufolge dort, wo Objekte nicht länger als selbstgenügsame und in sich vollständige Entitäten angesehen werden, sondern als Zeichen für anderes – für andere Dinge, Handlungen oder Ereignisse, die mit ihnen verknüpft werden können. Sie werden zu Dingen, die einen Sinn haben, weil sie in einem Interaktionszusammenhang stehen.58 »Sie sind mehr als bloße Vorkommnisse; sie haben Implikationen.«59 Diese SinnDimension geht verloren, wenn Dinge als höhere (oder teleologisch in sich ruhende) Erkenntnisgegenstände gefasst werden. Seit Galilei zeichnet sich die wissenschaftliche Methode dadurch aus, nicht länger die natürlichen Phänomene in Begriffen von sinnlichen Qualitäten zu erklären, sondern in Bezug auf mathematische und mechanische Relationen.60 Dieser Schritt bedeutet einen Fortschritt, sofern die empirischen (finalen, ästhetischen) Qualitäten als Probleme und nicht länger als Lösungen behandelt werden. Gleichzeitig bedeutet er auch einen Rückschritt, sofern die neuen physikalischen Objekte weiterhin den überlieferten Anspruch erheben, die wahre und vollkommene Realität zu sein. Mit diesem Anspruch verbindet sich, dass alle Erfahrungen, die nicht in der Natur als mathematisch-mechanisches Objekt lokalisiert und erklärt werden können, den Erfordernissen wissenschaftlicher Objektivität nicht entsprechen. Was folgt hieraus? Zunächst wird die primäre Qualität der Erfahrung verkannt, wenn empirische Dinge als physikalische – oder auch genereller: als wissenschaftliche – Erkenntnisgegenstände angesehen werden. Dann wird in einem zweiten Schritt ein typisch neuzeitliches Dilemma produziert, das sich in der metaphysischen Doktrin einer Zwei-Welten-Lehre artikuliert. Eine Reihe zusammenhängender Probleme ist ihr Resultat. Erstens der Wertkonservatismus, sofern die physikalische Wirklichkeit die »moralischen, ästhetischen und religiösen Objekte in Mitleidenschaft zu ziehen« scheint.61 Philosophie erscheint dann als ein »Mittel, die geistigen Werte des Universums […] zu retten«.62 Zwischen Faktizität und Geltung entsteht eine Kluft, wenn die Gegenstände der Wertschätzung nicht (mit Kant gesprochen) in der Natur als »Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung«63 vorkommen, die »nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«.64 Ein zweites Problem entsteht mit der strikten Unterscheidung 308 | Marc Rölli

zwischen dem Psychischen und Physischen. Die Unmöglichkeit der physikalischen Reduktion sämtlicher Erfahrungen korrespondiert mit dem Aufbau eines Bereichs der ›inneren Erfahrung‹, der wiederum wissenschaftliche Objektivitätsforderungen zu erfüllen hat. Übrig bleiben isolierte Bilder und Gefühle als psychologische Daten, mit denen statistisch verfahren werden kann – oder aber ›Erlebnisse‹ einer deskriptiven Psychologie, die in ihrer ideographischen Ausrichtung auf Verstehen statt Vermessen einen methodischen Dualismus herbeiführen. »Also wird ein erneutes Transformationsblendwerk inszeniert. Weil die ursprünglichen ›physischen‹ Dinge gewöhnliche empirische Objekte, nicht die Objekte der Physik sind, sind sie überhaupt nicht physisch, sondern geistig.«65 Auf beiden Seiten der ›zwei Kulturen‹ verhindert das wissenschaftliche Methodenbewusstsein eine Anerkennung der primären Erfahrung der sozial vielfältig verknüpften »natürlichen Ereignisse« – und führt zu einer Privilegierung entweder der inneren, geistigen, rationalen oder der äußeren, natürlichen, sinnlichen Erkenntnisform als Grundlage jeder möglichen Erkenntnis.66 Die Lösung dieser Probleme liegt Dewey zufolge in einer instru­ mentalistischen Sicht der Dinge. Es ist zwar berechtigt zu sagen, dass gerade die Wissenschaften, die eine »Vorliebe für elementare Einheiten« haben – z. B. Logik, Biologie, Psychologie, Physik und Chemie –, die »Eliminierung der Individualität«, d. h. die »Unterordnung von Individuen […] unter Gesetze der Gleichförmigkeit« bewirken.67 Aber es ist genau diese zentrale Stellung von Gesetzen und Relationen, welche die instrumentelle Natur der Erkenntnisobjekte erklärt: Die Möglichkeit, die Dinge, die unmittelbar und als Erscheinungen gehabt werden, mit Hilfe dessen, was nicht unmittelbar erscheint, miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise neue historische Abläufe mit neuen Anfängen und neuen Abschlüssen zu schaffen, hängt ihrerseits von dem System mathematisch-mechanischer Systeme ab, die die eigentlichen Objekte der Wissenschaft als solcher bilden. 68

Die singulären empirischen Ereignisse – »das direkte Sehen, Hören, Berühren, Mögen, Genießen«, aber auch »Objekte, die attraktiv und abstoßend, aufregend, gleichgültig und deprimierend sind« – sind Teil komplexer ›natürlicher‹ und irreversibler Prozesse, die in manTatsachen und ihre Konstruktion | 309

chen Fällen durch wissenschaftliche Verfahren kontrolliert oder gesteuert werden können.69 Zwar existieren individualisierte, singuläre empirische Dinge – sie sind »einzigartig […], flüchtig und instabil« –, aber sie evozieren Kulturtechniken, die auf abstrakte Gemeinsamkeiten und Wiederholungen reflektieren, mit deren Hilfe die empirischen Gegebenheiten transformiert werden können. Die wissenschaftlichen Elemente – das Atom ebenso wie die Zelle oder das Gen, aber auch ein sensorisches Datum – sind nicht Ausgangspunkte, sondern »Produkte der Analyse«, weil sie von empirischen Dingen abhängen.70 Sie sind »Elemente von«, wie Dewey sagt, d. h. Elemente von Dingen, die in soziale Praxiszusammenhänge eingebettet sind.71 Unlösbare erkenntnistheoretische Probleme entstehen erst dann, wenn diese Elemente (quasi metaphysisch) als »Letzt­ bestandteile« aufgefasst werden, weil ihre impliziten Konstruktionsprozesse keine Beachtung finden.72 Im Rückblick auf die dargestellten Positionen werden im Umgang mit dem klassischen Empirismus Gemeinsamkeiten zwischen Latour und Dewey sichtbar, die mit dem Ausdruck ›pragmatistisch‹ bezeichnet werden können. Dass Hume bereits selbst im Kern eine pragmatische Skepsis vertritt, spielt dagegen weder bei Dewey noch bei Latour eine Rolle.73 Die Bezugnahme auf einen ›anderen Hume‹ ist aber insofern sinnvoll, als zwischen der Kritik abstrakter Vorstellungen – auch im Sinne der Behauptung einer Faktenlage – und einem Begriff nicht-epistemischer Ausgangserfahrungen eine Verbindung hergestellt werden kann. Gerade die methodische Auszeichnung einer experimentellen Situation zwingt dazu, zwischen der primären Erfahrung Deweys und den nicht klar und deutlich identifizierten, diffusen empirischen Prozessen auch der naturwissenschaftlichen Forschung eine epistemische Analogie herzustellen. In beiden Fällen gelingt es nicht, die möglichen Erkenntnisse auf eine solide erkenntnistheoretische Grundlage zu stellen. Es gelingt nicht – und das wäre auch nicht wünschenswert. Wünschenswert wäre dagegen, die klar und deutlich identifizierten Tatsachen als experimentelle Resultate zu begreifen, deren Tatsächlichkeit tatsächlich hervorgebracht wurde. Diese Leistung beruht auf einem Abstraktionsprozess, der den eigentümlichen Reduktionismus der Naturwissenschaften bestimmt, sofern er die primäre Erfahrung 310 | Marc Rölli

methodisch ausblenden muss. Während Latour dazu neigt zu behaupten, dass wir nie modern gewesen sind, und dies deshalb nicht, weil wir niemals im modernen Sinne praktisch tätig sind – modern sind aus seiner Sicht allein die verdrehten Vorstellungen, die wir uns von unserem Handeln machen –, macht Dewey auf die zutiefst moderne experimentelle Methode aufmerksam. Ihre moderne Beschaffenheit besteht darin, die sinnlich vermittelte Erfahrung einzuklammern – und auf die mathematisierbaren Daten der ausgedehnten Dinge zu fokussieren. Problematisch ist diese Ausrichtung nicht grundsätzlich, sondern nur dann, wenn die operative Verbindung mit der Primärerfahrung abreißt oder verloren geht. In den neuzeitlichen Philosophien spiegelt sich dieser Wirklichkeitsverlust in der Auszeichnung einer eigentlichen oder vernünftigen Wirklichkeit, die alle Erfahrungen diskreditiert, die nicht in einem wissenschaftlichen Sinn zu rechtfertigen und im Rahmen einer Objektivität unter­zubringen sind. Werfen wir zum Schluss noch einmal einen Blick auf die Debatte um die ›alternativen Fakten‹, dann könnten wir sagen, dass sie eher verbirgt als aufschlüsselt, was eigentlich in Frage steht. In ihrer populismuskritischen Ausrichtung bleibt die Debatte selbst insofern tatsachenorientiert und etwas einfältig faktengläubig, als sie lediglich die Frage aufwirft, ob es sich bei beliebigen Nachrichten um faktenbasierte Informationen handelt oder nicht. Damit verliert sie die deutlich zunehmende politische Relevanz der öffentlichen Meinung mitsamt ihrer strategischen Lenkung in wissenschaftsbezüglichen Fragen aus den Augen. Und für die Verfechter*innen einer postfaktischen Ära sind ›alternative Fakten‹ diejenigen Fakten, die zwar nicht mit wissenschaftlicher Expertise, dafür aber mit ihren je eigenen Weltanschauungen übereinstimmen.74 Nicht weniger als der Universalismus im Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit wird so in Zweifel gezogen – und den Expert*innen der gesunde Menschenverstand entgegengesetzt. In Zeiten von Google und Wikipedia scheint jede*r denselben Zugang zu Wissen zu haben. Dennoch kommt es auf die Blasen oder genauer: auf die Selektionsmechanismen und die innere demokratische Plausibilität ihrer Rechtfertigungsprozesse an. Schließlich leuchtet es problemlos ein, dass wissenschaftliche Diskurse und in ihnen verfertigte Wahrheiten manchmal eine Machtposition erobern und manchmal Tatsachen und ihre Konstruktion | 311

nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig und lassen sich nicht auf die wissenschaftliche Dignität von Tatsachen oder ihre ideologische Zerstreuung reduzieren. Ein Verständnis dieser Situation lässt sich nur erreichen, indem auf die mit gesellschaftspolitischen Strukturen und Technologien auf die eine oder andere Art vermengte kollektive Praxis wissenschaftlicher Tatsachenkonstruktion selbst Bezug genommen wird. Die modernetypische Komplexität des naturwissenschaftlichen Reduktionismus verlangt es geradezu, die theoretische Verfestigung des Tatsachenglaubens mitsamt der ihn tragenden philosophischen (kapitalistischen, patriarchalen, kolonialen  …) Orientierungen durch die Erforschung seiner Konstruktionsbedingungen aufzulösen. Die Auszeichnung purer Realitäten ist problematisch, wenn die Zusammenhänge marginalisiert werden, der sie ihre Entstehung und Reproduktion verdanken. Und der Ruf nach Expert*innen und Autoritäten ist ein in der Regel undemokratischer Reflex.75 Es könnte sein, dass hier die Aufmerksamkeit gleichmäßiger verteilt werden muss, weg von den Ergebnissen und hin zu den Prozessen, die sie hervorbringen. Damit ist gesagt, dass sich mit der Zeit womöglich auch die Ergebnisse selbst verändern, wenn sie durchlässiger werden auf das, was hinter ihnen steht.

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Dirk Baecker

Was ist noch mal Wirklichkeit? 1 Im Zeitalter der elektronischen Verbreitung massenmedialer Kommunikation, der Verschwörungstheorien und der Kulturkriege um wissenschaftliche Erkenntnisse stellen sich alte Fragen neu: Was ist Wirklichkeit? Wie überzeugt man sich von ihr? Wie überzeugt man andere von ihr? Wessen kann man gewiss sein? Was ist unbezweifelbar? Während die Philosophie des sogenannten ›Neuen Realismus‹ glaubt, gegen den Konstruktivismus darauf bestehen zu müssen, dass es die Wirklichkeit wirklich gibt, wenn auch im Plural der verschiedenen Wirklichkeiten, fragen sich alle anderen, wie sie denn nun konstruiert ist, diese Wirklichkeit der Wirklichkeiten. Offenbar erschöpft sie sich nicht in der Tautologie der Wirklichkeit der Wirklichkeit, denn dann müssten wir nicht über sie reden. Ebenso wenig erschöpft sie sich in der Paradoxie der Unwirklichkeit der Wirklichkeit, denn dann gäbe es nichts, worüber wir reden können, und es gäbe uns nicht, die immerhin reden. Wie schon bei Wittgenstein spielt sich alles Entscheidende zwischen diesen beiden Polen der Tautologie und der Paradoxie ab, die die Extreme eines Denkens markieren, das sich der Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit ­jeder Aussage bewusst ist. Wir kommen ein Stück weiter, wenn wir die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit im Singular von der Frage nach der Differenz der Wirklichkeiten im Plural unterscheiden. Denn die Einheit entzieht sich, während die Differenz greifbar ist. Einige Hinweise aus der Philosophie der Antike, der Philosophie der Moderne und den Kognitionswissenschaften können dabei helfen, diesen Gedanken deutlich werden zu lassen. Für die Philosophie der Antike bestand die Wirklichkeit im Singular aus der Substanz der Dinge. Die Substanz der Dinge ist für Platon das hypokeímenon, das allem Zugrundeliegende, das allerdings ideal ist, das heißt, in jeder Wirklichkeit immer nur unvollkommen zum Vorschein kommt.2 Aristoteles streicht die Idee und spricht stattdessen vom ›Wesen der Dinge‹, zu unterscheiden vom 313

Unwesentlichen, dem Akzidentellen, dem, was ihm nur beifällt.3 Überdies ist das Wesentliche, die Form, zu unterscheiden von der Materie, aus der es mehr oder minder wandelbar besteht. Man sieht, worauf das hinausläuft. Das antike Verständnis von Wirklichkeit entzieht diese dem direkten Zugriff. Die Wirklichkeit ist das, was man auf den ersten Blick nicht erkennt. Sie liegt hinter den Dingen, sie liegt ihnen zugrunde, ja sie wird letztlich durch sie nur verstellt. Die christliche Religion wird diesen Gedanken gerne aufnehmen, wie jede antike Weisheitslehre, auch die östliche, in dieser Figur des Entzugs ihre Pointe hat. Entscheidend an diesem antiken Wirklichkeitsverständnis ist nicht die Beschreibung der Wirklichkeit als Wirklichkeit, sondern das Aufwerfen der Frage nach der Wirklichkeit. Nicht die Evidenz der Wirklichkeit hilft uns, uns in der Wirklichkeit zu orientieren, sondern die Ungewissheit, womit wir es zu tun haben. Die Evidenz würde uns festnageln im Oh und Ah des jeweiligen Moments. Die Ungewissheit gibt uns den Raum, uns hierhin und dorthin zu wenden, uns hierfür und dafür zu interessieren und immer wieder neu Aspekte der Wirklichkeit zu erforschen, zu erproben und zu gestalten. Damit das niemand so schnell vergisst, hat die antike Kosmologie drei mögliche Wirklichkeitszustände unterschieden, nämlich die Perfektion, nie zu erreichen, aber immer anzustreben, die Korruption, die Verhältnisse, wie sie fast immer sind, und das Mon­ ströse, das, was sich zeigt, ohne dass man wüsste, ob und wie es in den tendenziell perfekten, aber meist korrupten Kosmos passt. Über das Perfekte, das Korrupte und das Monströse konnte man philosophieren, reden und streiten. Man konnte es einbetten in den Glauben an einen teleologisch geordneten Kosmos, in dem alles den Platz (télos) hat, den es verdient, auch das Korrupte und Monströse. Man konnte politische und pädagogische Maßnahmen ergreifen, um das Monströse auszugrenzen, das Korrupte zu korrigieren und das Perfekte anzustreben. Und man konnte in jedem einzelnen Fall darüber streiten, was in welcher Form auf welchen Platz gehört. Die Wirklichkeit erscheint hier als Möglichkeit der Frage. Erst der Moderne fiel auf, dass dieses antike Wirklichkeitsverständnis an eine hierarchische Ordnung gebunden war, an das, was Arthur O. Lovejoy als ›Große Kette der Wesen‹ bezeichnete,4 in der 314 | Dirk Baecker

nicht nur das Allgemeinste oder Gott ganz oben und das Besondere, der Wurm und der Stein, ganz unten zu finden war, sondern alle anderen Wesen (abgestuft nach der Menge der Attribute, die sie auf sich vereinen) ihren Platz fanden. Auch darüber konnte man, insbesondere in der Scholastik, ganz wunderbar streiten. Auch hier war es nicht wichtig, zu wissen, welchen Rang verschiedene Ideen, verschiedene Lebewesen oder auch verschiedene Wissenschaften in dieser Rangordnung haben, denn wie hätte man das ein für alle Mal festlegen können. Sondern es war wichtig, dass man einen bestimmten Rang bezweifeln konnte, also Argumente entwickeln musste, um ihn zu bezweifeln oder zu rechtfertigen. Es war wichtig, dass Lücken auffallen konnten, die dann zu füllen waren, wie es noch Goethes Suche nach der Urpflanze bezeugt. Es war wichtig, dass man immer wieder auf sich selbst stieß und die Frage stellen konnte, sich mal überschätzend, mal unterschätzend, welchen Rang man selbst in dieser großen Kette der Wesen einnahm, Wurm ebenso wie Geschöpf nach dem Bilde Gottes. Nicht zuletzt ermöglichte die Hierarchie Mobilität. Man konnte sich durch Alter, Bildung und Weisheit unter den Menschen verbessern. Und man konnte durch Alchemie den Stoffen Attribute hinzufügen, um sie wertvoller zu machen. Die Wirklichkeit war geordnet, aber relativ. Sie war gegeben, aber nicht unveränderlich. Dennoch hat sich dieses Spiel irgendwann erschöpft. Immer wieder stieß man auf zirkuläre Anomalien des Typs A > B und B > C, aber C > A, und immer wieder erwies sich das Akzidentelle als substantiell und umgekehrt. Die Philosophie der Moderne hat daher ein neues Spiel mit einem neuen Wirklichkeitsverständnis eröffnet. René Descartes ist hier der Stichwortgeber. Für ihn war nicht mehr die Differenz von Oben und Unten entscheidend, sondern die Differenz von Innen und Außen.5 Er unterschied die res cogitans oder res intensa von der res extensa, die Welt des innerlichen Bewusstseins von der Welt der äußerlichen Dinge. Das hatte zunächst den Vorteil, dass Gott weder in dem einen noch dem anderen unterzubringen war und somit einen ›absoluten‹ (von allem abgelösten) Platz einnehmen konnte. Und es hatte zweitens den Vorteil, dass man die Frage nach der Wirklichkeit als Frage nach der Abhängigkeit der inneren von der äußeren oder der äußeren von der inneren Welt stellen – und nicht beantworten konnte. Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 315

Mit der Frage nach der Abhängigkeit des einen vom anderen kam ein Gedanke ins Spiel, der die Moderne nicht mehr loslassen sollte. Ab jetzt dreht sich das Wirklichkeitsverständnis um die Idee der Funktion und damit um die Idee der Variablen. Kann es sein, dass die innere Welt eine Funktion der äußeren und umgekehrt die äußere zugleich eine Funktion der inneren ist? Ist die Wirklichkeit eine Variable in Abhängigkeit von anderen Variablen? Kann die Wirklichkeit, wie dies Willard Van Orman Quine für die Wissenschaft behauptet hat,6 nur insgesamt, aber nie in ihren Details als bestätigt gelten? Ernst Cassirer hat das Drama des Wechsels vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff in einem Buch gleichen Titels ausführlich beschrieben.7 Wenn man so will, haben wir uns von der mit diesem Wechsel einhergehenden Auflösung des Essenzenkosmos der Antike bis heute nicht erholt. Allenfalls der Gedanke, dass Gott tot sein könnte, ist so erschütternd wie der Gedanke, dass nichts wesentlich ist, sondern alles mehr oder minder akzidentell in funktionalen Abhängigkeiten von anderem steht. Zu selten, obwohl man es bei Lukrez schon hätte nachlesen können, kommt man auf die Idee, dass unter diesen Umständen nicht nichts, sondern alles, noch das Kleinste, die geringfügige Abweichung, Epikurs und ­Lukrez’ clinamen,8 wesentlich ist. Descartes’ berüchtigter Leib-Seele-Dualismus mit der Frage danach, in welchem Verhältnis der Leib zur Seele und die Seele zum Leib steht, ist nur ein Fall unter vielen. Aussichtslos ist der Versuch, das eine als wirklicher, als wesentlicher und dann auch ranghöher zu beschreiben als das andere. Die tatsächliche (das heißt Tatsachen schaffende, wirkende) Wirklichkeit steckt weder in der Seele noch im Leib, sondern in deren Verhältnis. Sie steckt darin, dass das eine eine Funktion des anderen ist. Unsere Seele braucht einen Leib, um sich von ihm unterscheiden zu können, begrifflich ebenso wie praktisch. Und unser Leib braucht eine Seele, weil bereits das, was wir Leiblichkeit nennen, der lebendige Bezug des Körpers auf sich selbst, in reiner Materialität nicht aufgeht. Nicht nur die Erfahrung des Für-sich-sein-Könnens, sondern auch die Erfahrung des Außersich-sein-Könnens braucht, wenn man so will, einen Ort, der jedoch, wenn er manifeste Evidenz besäße, dem für jede Wirklichkeit entscheidenden Wechselspiel im Wege stünde.

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Man sieht, worauf es ankommt. Erneut ist die Wirklichkeit genau das, was sich entzieht. Prägnant ist die Frage nach ihr, während jede Antwort weitere Fragen aufwirft. Prägnant ist die Entdeckung der Variabilität der Variablen, denn damit eröffnen sich unendliche Fragen danach, in welchen funktionalen Abhängigkeiten jede Variable steht. Wenn x = f (y), können immer auch gelten y = f (x) und f = x (y) sowie f = y (x). Was für die Variablen gilt, gilt auch für die Funktion. Auch sie kann sich als Variable erweisen, die eine Funktion dessen ist, was sie funktional verknüpft. Hat die Mathematik nicht deswegen die Kategorientheorie erfunden? Um allgemeine Fragen der Formbildung untersuchen zu können, wie etwas aus etwas entsteht, weil sich etwas auf etwas abbilden lässt?9 Als Wissenschaftler muss ich die Frage entscheiden, welche Abhängigkeit ich untersuchen will. Philosophisch heißt das jedoch, dass ich die Frage auch entscheiden kann. Und das wiederum bedeutet, dass sie umstritten sein darf, vielleicht sogar muss. Ist die Außenwelt abhängig von dem, was mein Bewusstsein in ihr und von ihr zu erkennen vermag? Oder ist umgekehrt mein Bewusstsein abhängig von dem, was sich in der Außenwelt überhaupt zu erkennen gibt, ganz zu schweigen davon, dass mein Bewusstsein mein für dieses Bewusstsein unerkennbare Gehirn voraussetzt, um eine Vorstellung fassen zu können? Nicht die Antwort auf diese Fragen hält uns lebendig, sondern die Möglichkeit, die Frage immer wieder erneut stellen zu können. Kann ich ausschließen, dass die Frage selbst eine Rolle dabei spielt, vom Bewusstsein, einer Außenwelt und der Wirklichkeit der Wirklichkeit reden zu können? Von ›Perfektion‹, ›Korruption‹ und ›Monströsem‹ im antiken Sinne ist in der Moderne nicht mehr die Rede. Es gibt keine perfekten Variablen. Allenfalls könnte man davon sprechen, dass alles korrupt ist im Sinne von ›beeinflussbar‹ und ›änderbar‹. Aber ohne den Gegenbegriff der ›Perfektion‹ macht die Rede von der ›Korruption‹ keinen Sinn mehr. Der Begriff wird frei für andere Verwendungen. Und das ›Monströse‹ markiert nicht mehr die Abweichung, in der sich, das ist nicht auszuschließen, ein Fingerzeig der Götter verbergen kann, sondern alles ist jetzt ›monströs‹ im Sinne von ›auffällig‹ und ›sonderbar‹. Jedes Detail ist aufschlussreich, ohne je restlos erschlossen werden zu können. Monströs ist die Außenwelt ebenso wie unser Bewusstsein von ihr. Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 317

Aber das heißt nicht, dass wir ab sofort auf jeden Eingriff in die Wirklichkeit verzichten und uns nur noch im Sinne der Antike der Kontemplation hingeben. Im Gegenteil. Philosophen wie Francis Bacon und Giambattista Vico entwickeln die Idee, dass wir nur das als wirklich oder auch als wahr erkennen können, was wir selbst herstellen können: verum quia factum, und nicht mehr, wie noch in der Scholastik: verum est ens. Das aber bedeutet, dass die Menschen ihr Handeln und Denken mit jeweils höchst begrenzten Reichweiten als ebenso wirklich, Wirkungen schaffend, wie alles andere in der Welt der Wirklichkeit begreifen können. Die Wirklichkeit ist nicht mehr perfekt, korrupt oder monströs, sondern perfektibel, korrumpierbar und, anstelle des Monströsen, idiosynkratisch.10 Man hat den Eindruck, dass nur noch dort überzeugend von der Wirklichkeit die Rede sein kann, wo sie entweder verbessert oder gegen schlechte Einflüsse verteidigt werden kann, mit einer winzigen Reserve für den Schutz des Eigensinnigen, das man so nur auf sich beruhen lassen kann. Um den Preis, die Wirklichkeit nur noch als optimierbare zu kennen (Goethe spricht vom ›Verlust des Schönen‹), behauptet sich die Wirklichkeit derer, die die Sache in die Hand zu nehmen bereit sind. Zunächst die Aufklärung, dann die Revolutionäre und die Wissenschaft (immerhin verdanken wir diesem Optimismus die Formulierung der Soziologie durch Auguste Comte), schließlich die Betriebswirtschaftslehre und neuerdings die Künstliche-Intelligenz-Forschung sind nur noch an der Wirklichkeit interessiert, die verbessert werden kann. Dass dieser Grundgedanke etwas mit Blasphemie zu tun haben könnte, tritt erst mit der ökologischen Katastrophe der Gegenwart wieder ins Bewusstsein. Die Wirklichkeitsauffassung der Moderne ließ sich in Descartes’ allzu abstrakter Unterscheidung von res cogitans und res extensa nicht fixieren. Irgendwann merkte man, dass man der Wirklichkeit der res cogitans nur gerecht wird, wenn man sie individualisiert. Etliche Jahrzehnte vor Descartes hatte Montaigne in seinen Essais darauf schon aufmerksam gemacht. Das Unbeständige ist die Zuflucht des Individuums.11 Das Begriffsmanöver erinnert an Nikolaus von Kues, der Gott die Unendlichkeit zugewiesen hatte, um den irdischen Blick umso vorurteilsfreier auf jenen Einzeldingen ruhen lassen zu können, die zwar am Einen teilhaben, aber ebenfalls nur in der Unbeständigkeit ihre Beständigkeit und in der Andersheit 318 | Dirk Baecker

ihre Einheit finden.12 Noch Ludwig von Bertalanffy wird dies aufgreifen, um seine Systemtheorie auf jene Wirklichkeit einzustellen, die das Einzelne nicht aus sich, sondern aus den Relationen bezieht, in denen es steht.13 Damit bekommt die Rede von der Wirklichkeit einen neuen Auftrag. Jetzt geht es nicht mehr nur darum, wie noch in der Antike, mögliche Irrtümer zu korrigieren – was, soziologisch gesehen, immer auch heißt, sie zur Kenntnis zu nehmen, wenn nicht sogar in einem gewissen Sinne zu ihnen zu ermutigen. Sondern jetzt geht es zusätzlich darum, den vielen Individuen, die ihren jetzt ›subjektiv‹ genannten Wirklichkeiten nachhängen, eine gemeinsame, als ›objektiv‹ zu beschreibende Wirklichkeit nahezubringen. Jetzt werden Dinge wie ›Natur‹, ›Geschichte‹ und ›Gesellschaft‹ erfunden, um eines Allgemeinen habhaft zu werden. Und schnell wird substantialisiert und mit einer ›eigenen‹ Wirklichkeit ausgestattet, was funktional doch nur als Vergewisserung einer bezweifel- und variierbaren Relation gebraucht würde. Am vorsichtigsten agiert da noch die Ästhetik. Immanuel Kant verlässt sich im Anschluss an Alexander Gottlieb Baumgarten darauf, dass es der Ästhetik des Schönen und Erhabenen gelingt, die höchst differenten, um nicht zu sagen: ›peinlichen‹, Geschmäcker der Einzelnen in die Disziplin der mitteilbaren Geschmacksurteile einzubinden.14 Diese Mitteilbarkeit jedoch erweist sich als Trojanisches Pferd. Die Geschmacksurteile kommen nicht zur Ruhe, sondern sie werden herausgefordert. Das Individuum verbündet sich mit jenen Eindrücken, die nur ihm, ausschließlich ihm zugerechnet werden können. Das heißt nicht, dass die Wirklichkeit zur Geschmackssache wird, wie man es so schnell, zu schnell, der subjektiven Einstellung zu den Künsten zumutet. Sondern es heißt, dass das Individuum immer und zwingend etwas in der Hinterhand hat. Das, was es in Reserve hält, ist es selbst, insofern es urteilt, und nicht es selbst, insofern es beurteilt. Die alten Griechen sprachen von stérēsis, von einem Mangel, der Abstand und damit neue Beweglichkeit schafft.15 Möglicherweise geht es jedoch weniger um die Fähigkeit zur Negation mit ihrer Bewegung aus der Wirklichkeit in die Wirklichkeit als vielmehr um die Entdeckung der Latenz, jener Wirklichkeit, die mitspielt, obwohl, weil und indem sie nicht zu fassen ist.16 Sicher ist nur, wie Vico unter Verweis auf »ein gutes Latein« festhält, dass das Einzelne als Individuiertes Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 319

(individuatum) gewiss (certum) und das Allgemeine (commune) genau deswegen ungewiss ist.17 Das gute Latein, das hier gemeint ist, ist das der Juristen, vielleicht auch der Theologen.18 Die Unterstellung, dass sich deren Wirklichkeitsbewusstsein in der Kunstfertigkeit der Subsumtion eines Falls unter eine bereits gefundene Regel, sei es die des Gesetzes oder die des göttlichen Willens, erschöpft, führt auf ein falsches Gleis. Vielmehr gilt die Gewissheit des Einzelfalles deswegen, weil das Gesetz ebenso wie der göttliche Wille immer erst noch auszulegen sind. Dass etwas der Fall ist, ist gewiss, aber was der Fall ist, muss ungewiss sein, denn andernfalls bräuchte es das Urteil nicht. Das Urteil stellt Gewissheit her, doch nur jene, die unter fehlbaren Menschen gilt. Die Wirklichkeit, auf die man sich hier bezieht, ist jene, auf die man immer wieder und immer wieder aus einem neuen Blickwinkel zurückkommen kann. Fast könnte man sagen, dass sie als das, was sie ist, im infiniten Regress, also nur abgründig, abgesichert wird. In jedem Einzelfall gelten dann wieder situative Regeln, die es entweder nahelegen, den Fall abzuschließen oder neu zu öffnen. Nicht in der Entdeckung des Bewusstseins und nicht in der Entdeckung des Individuums kulminiert die Wirklichkeit der Moderne, sondern in der generischen Unterscheidung von Innen und Außen. Sie tritt an die Stelle einer Ordnungsvorstellung, in der ein Oben über ein Unten herrscht. Nach wie vor hat man es mit dem Allgemeinen und dem Besonderen zu tun, aber das Allgemeine ist eine horizontale Verknüpfungsregel, keine Konstruktion von Dominanz. In der Verknüpfung hat man die Wahl, die man in der Dominanz nicht hätte. Daraus entstehen die für die Moderne so typischen Laviermaximen, von denen man hofft, dass sie sich nicht herumsprechen, sondern Bestandteil eines professionellen Wissens bleiben, dessen Rationalität umso mehr beeindruckt, je weniger man es durchschaut. Rasch entdeckt man eine Vielzahl weiterer Kandidaten für ein eigensinniges, vielleicht nicht denkendes, aber doch kognitionsfähiges Innen. Vorreiter hierfür sind die Biolog*innen, deren ›Orga­nis­ mus‹-Begriff seit Platon und Aristoteles mit dem Rätsel der wechselseitig konstituierenden Beziehung von Innen und Außen befasst ist.19 Hat nicht auch der Organismus, verstanden als Körper, nicht als Leib, haben nicht auch die Zellen dieses Organismus, das Im320 | Dirk Baecker

munsystem, das Nervensystem, das Gehirn ein Innen? Ein Innen, das wir schon deswegen kaum mehr als erahnen können, weil es uns bewusst ebenso wie sprachlich unmöglich ist, die Perspektive dieses Innen auf ihr jeweiliges Außen einzunehmen? Deswegen unter­ scheidet man ja das Gehirn in vitro vom Gehirn in vivo. Bald folgen Historiker*innen (seit Vico) und Soziolog*innen (seit Auguste Comte) dieser Idee und sprechen vom Geist einer Epoche, von Gesellschaften, Institutionen und Familien in diesem Sinne als ›eigensinnig‹. Die große Kette der Wesen bricht endgültig auseinander und macht einer Ökologie der Nachbarschaftsverhältnisse Platz, in der die verschiedensten ›Systeme‹ ihre Nischen finden und zueinander in ein mehr oder minder konfliktreiches Verhältnis treten. Wenn die Kognitionswissenschaften dank ihrer fachlichen und universitären Bindungen nicht überwiegend dazu neigen würden, nur bis Eins zu zählen – die Neurowissenschaft untersucht das Gehirn, die Psychologie das Bewusstsein, die Soziologie die Gesellschaft und die Informatik die Maschine –, könnte man von einer Explosion der Innenverhältnisse sprechen, durch die die Wirklichkeit prinzipiell nur noch als Divergenz der Perspektiven zu fassen ist. Bei dieser Divergenz der Perspektiven geht es nicht nur um die Meinungen des einen im Verhältnis zu den Meinungen eines anderen. Sondern es geht gleichzeitig um die Fragen, was mein Magen von dem Stress hält, dem ich mich aussetze, wie mein Gehirn damit fertig wird, dass mein Bewusstsein keine Ruhe gibt, wie meine Familie beobachtet, mit welchem Ehrgeiz oder, auch nicht viel besser, welcher Resignation ich meine Karriere verfolge, welche Schlussfolgerungen die Pädagogik aus der Beobachtung der Kinder zieht, die ich in die Schule schicke, und die Politik aus der Beobachtung der Massenmedien, die ich noch zur Kenntnis nehme. Die Wirklichkeit ist in schönster Konfusion und radikal komplex zugleich organisch, neuronal, psychisch, sozial und technisch konstituiert und nur für Momente kommt das eine oder andere darin mit sich zur Deckung. ›Komplex‹ (vielfältig) heißt ja nur, dass bei jeder Falte, in der ich mich je aktuell bewege, die Existenz anderer Falten, mehr oder minder leicht erreichbar, zur Kenntnis zu nehmen ist.20 Die Wirklichkeit steckt in den funktionalen, manifesten ebenso wie latenten Beziehungen zwischen diesen Falten, und ich darf wissen, dass diese Beziehungen physischer, chemischer, zellulärer, neuronaler, mentaler, Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 321

sozialer und technischer ›Natur‹ sind, die mir allesamt in jeder einzelnen Hinsicht ein Rätsel sind.21 Gegenüber dieser modernen Wirklichkeit kann man sich nach wie vor auf den Standpunkt der Antike stellen und nach dem Wesen der Dinge fragen. Philosophie und Theologie sind darauf trainiert, auf diese Frage Antworten zu geben, die zumindest nicht dazu zwingen, den Sinn der Frage zu bezweifeln. Darauf, die Frage wach zu halten, kommt es ja an. Die Wissenschaft jedoch winkt ab. Sie fragt nach der Funktion der Frage und unterstreicht so den gleichsam kritischen Charakter unseres Wirklichkeitsverständnisses: Ich frage nur dann nach der Wirklichkeit der Wirklichkeit, wenn ich Anlass zu haben glaube, abweichende Wirklichkeiten zur Kenntnis zu nehmen, die mich entweder stören oder reizen. Und sie werden darauf hinweisen, dass jede Wirklichkeit die Funktion einer anderen Wirklichkeit ist, so dass ich mich fragend und beschreibend, feststellend und weiterfragend in der Wirklichkeit bewegen kann, solange meine Neugier und meine Unruhe es mir erlauben. Die Einsicht in die perspektivische Relativität jeder Wirklichkeitsauffassung hat nichts mit einem Relativismus der Beliebigkeit zu tun, geschweige denn mit der Behauptung, alle Wirklichkeitsauffassungen seien gleichwertig. Es gibt herrschende und verdrängte Wirklichkeiten. Es gibt Perspektiven, die viele andere Perspektiven integrieren können, man denke nur an die Perspektive einer liberalen Gesellschaft. Und es gibt Perspektiven, die von vorneherein den Ausschluss praktizieren, man denke nur an identitäre Ideologien. Man kommt nicht darum herum, jede dieser Perspektiven, sobald sie sich ihre eigene Wirklichkeit schaffen, als gelungene Konstruktionen zu würdigen. Aber das erspart es einem nicht, den funktionalen Ort dieser Perspektiven zu benennen, seien es nun Verschwörungstheorien, Wahrheitskriege, mediale Erregungen oder Einladungen zu einer pluralen Offenheit. Zuweilen wird gegen eine wissenschaftliche Auffassung von der Pluralität der Perspektiven, aus denen Wirklichkeiten betrachtet, konstruiert und bestritten werden können, der Einwand erhoben, damit würde man abwiegeln, wie wichtig dieser Streit ist und wie gefährlich manche Wirklichkeitsauffassung werden kann. Nach meinem Eindruck ist das Gegenteil der Fall. Der Hinweis auf Komplexität ist keine Einladung zur Gleichgültigkeit, sondern zur 322 | Dirk Baecker

Wachsamkeit und zur Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Dass niemand mehr die Keule der Objektivität schwingen kann, mag ängstlichen Gemütern Furcht einflößen. In Wirklichkeit ist es nur ein Hinweis darauf, dass man sich dem Streit stellen muss, wenn man ihn sucht. Natürlich kann man sich nach all dem fragen, was mit der Umstellung auf ein funktionales Denken aus den antiken Substanzen wird. Man wird nicht einfach annehmen wollen, dass Platon, Aristoteles und alle, die ihnen folgen, falsch lagen. Was wird, redundant formuliert (denn griech. »idea« = lat. »forma«), aus Platons idealen Formen? In einem ersten Schritt werden sie transzendental reformuliert als Dinge an sich, die mit Kant Erkenntnis ermöglichen, indem ihre Unerreichbarkeit verhindert, dass diese je zur Ruhe kommt. Und sie werden in einem zweiten Schritt, bei Fritz Heider,22 zu Medien. Auf Medien verweist Aristoteles bereits in seiner Seelenlehre.23 Medien sind lose gekoppelte Elementmengen wie zum Beispiel Sand oder Photonen oder Schall, in die sich die Dinge so, wie wir Menschen sie erkennen, durch feste Kopplung einprägen. Wir hören ein Wort im Medium des Schalls. Wir sehen einen Satz im Medium von Worten und Worte im Medium von Buchstaben. Und wir verstehen einen Satz, eine Geste, eine Einladung im Medium des Sinns. Im Medium wird die Substanz zum Substrat. Und nicht das Substrat ist das Wesentliche, sondern der Vorgang der Einprägung. Damit Erkenntnis möglich ist, so Niklas Luhmann, muss die Welt »körnig« sein.24 Formuliert ist damit die Minimalforderung an die Wirklichkeit, dass sie Anhaltspunkte, Kontraste, Variabilitäten liefern muss für die Unterscheidungen, die wir in ihr erproben. Erst dann können die Codes der Systeme greifen, seien sie organisch, psychisch, sozial oder technisch.25 Die entscheidende Denkfigur bereits der Antike war daher die Figur der Wirklichkeit als Entzug. Dieser Entzug, die mangelnde Eindeutigkeit, mangelnde Anschaulichkeit und mangelnde Griffigkeit der Wirklichkeit, ist nicht nur der Anlass für unseren Versuch der Suche nach Unterscheidungen, die sich bewähren, sondern auch die Voraussetzung dafür, dass wir diese Unterscheidungen wechseln können. Nicht zuletzt können wir dann auch die Fiktion von der Wirklichkeit unterscheiden und beides ausbauen, ohne je endgültig entscheiden zu müssen, auf welcher Seite wir uns bewegen. Es Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 323

ist interes­sant, dass kaum jemand für sich damit ein Problem hat. Es sind die Fiktionen, in denen die anderen sich bewegen, die uns Sorgen machen. Doch hier mag es helfen, sich der Funktionen zu vergewissern, die die Fiktionen haben. Selbst der Verzicht darauf, jemanden einer Fiktion zu überführen, wie immer man das macht, hat eine Funktion, die traditionell unter dem Stichwort des ›Latenzschutzes‹ diskutiert wird. Eine Fiktion sollte man nur aufklären, wenn das Problem, das sie löst, anders besser gelöst werden kann und wenn das nicht nur aus der Sicht dessen gilt, der die Fiktion aufklärt, sondern auch dessen, der sie hat. Dies in Rechnung zu stellen und im Umgang mit anderen zu berücksichtigen, verdient den Namen einer ›soziologischen Aufklärung‹.26 Alternative Wirklichkeiten sind unter diesen Bedingungen Lügen, mit deren Hilfe bestimmte Menschen, Gruppen von Menschen und Milieus ihre Wirklichkeit gegen eine andere Wirklichkeit setzen. Im Stichwort des ›Alternativen‹ ist die Falschheit dieser Wirklichkeit auch dann eingestanden, wenn es schwer fällt, die wirkliche Wirklichkeit zu benennen. »Ich hätt’s gerne so« ist die Aussage dessen, der alternative Fakten in die Welt setzt und davon ausgeht, dass andere dem wider besseres Wissen, doch auf der Grundlage ihrer eigenen Wahrheit zustimmen. Die wirkliche Wirklichkeit ist die herrschende Wirklichkeit, der mit Ressentiment begegnet wird, weil sie andere Wahrheiten und deren Wirklichkeit ausblendet. Man hält die wirkliche Wirklichkeit nicht aus; und noch weniger hält man jene aus, die auf ihr bestehen. Denn man sieht ja, wie sehr diese wirkliche Wirklichkeit ihrerseits nur eine partielle Wirklichkeit ist, die nicht wahrhaben will, was für andere wichtig ist. In alternativen Wirklichkeiten wird die Wirklichkeit wieder so polemisch, wie sie es in der Behauptung von Wahrheit immer schon war.27 Sie sucht den Streit. In dieser Situation macht es wenig Sinn, auf einer wie immer partiellen Wirklichkeit zu bestehen. Stattdessen muss man sich auf den Streit einlassen und die Perspektiven klären, unter denen er geführt wird. Wenn sich die Wirklichkeit entzieht, ist die entscheidende und weiterführende Frage, welche Konstruktionen sich mit welchen Anhaltspunkten, aus welchen Perspektiven und mit welchen Zeithorizonten an ihre Stelle setzen. Dass hier komplexe Kalküle erforderlich werden, um diese Konstruktionen entziffern zu können, kann 324 | Dirk Baecker

durch den frommen Wunsch, es möge nur eine Wirklichkeit geben und sie möge clare et distincte erkannt werden können, nicht aus der Welt geschafft werden. Descartes’ Zweifel ist bereits kritisch im Sinne von Kant. Er stößt nicht auf Garanten der Wirklichkeit, sondern auf Leistungen der Erkenntnis. Diese Leistungen sind ebenso relativ wie reflexiv. Sie sind Beobachtungen zuzurechnen, die sich so in ein Verhältnis zueinander setzen. Ein realistischer Begriff von Wirklichkeit nimmt diesen wörtlich: als Konstruktion der Wirkung von Beobachtungen für Beobachtungen. Wenn man auch der Wirklichkeit der Beobachtungen Rechnung trägt, das heißt, die kognitiven Leistungen von Organismus, Psyche und Kommunikation zur Kenntnis nimmt, ist an diesem realistischen Begriff nichts Geheimnisvolles. Die Einheit allerdings, die der Singular von Wirklichkeit versprochen hat, ist die Einheit einer Auseinandersetzung zwischen Beobachtungen, die durch ein ultimatives Wort nur erschwert wird. Sobald eine dieser Beobachtungen, und sei es das sprichwörtliche Magengeschwür, Nein sagt, öffnet sich die Einsicht in eine weitere Wirklichkeit.

Was ist noch mal Wirklichkeit?  | 325

Marcus Steinweg

Kunst und Philosophie

Zwischen Immanenz und Transzendenz Was man – wie berechtigt, wie überhastet immer – den Kartesianismus Paul Valérys nennt, den Jacques Derrida mit demjenigen Edmund Husserls assoziiert, definiert Denken als auf Klarheit zielende Differenzierungsintelligenz, die sich vor allem eines nicht erlaubt: Unterkomplexität, die mit Obskurantismus koaliert. * Am Horizont aller Bemühungen um Gewissheit leuchtet wie ein dunkler Stern das Wahrheit genannte Unding, auf das kaum eine Wissensarchitektur verzichten kann. * Wissensarchitekturen sind Sinnkonstrukte, die funktionieren, bis jemand ihnen Wahrheit abverlangt. Die Differenz von Sinn und Wahrheit entspricht derjenigen zwischen dem, was funktioniert, und dem, was jedes Funktionieren unterbricht. Nicht erst Alain Badiou bringt gegen den Ludwig Wittgenstein des Tractatus eine Ereigniswahrheit in Stellung, die sämtliche Tatsachen- und Aussagengrammatik sprengt. Der Signifikant ›Wahrheit‹ fungiert als Sprengkörper, indem er reines Signifikat zu sein beansprucht: Sinnzusammenhängen entzogener Sinn, der mit reinem Nichtsinn koinzidiert. * Jedenfalls ist der Rekurs auf die Wahrheitskategorie ein nahezu theologischer, insofern er das Denken aus seiner Sinnverklammerung löst, um es einer Ordnung zu öffnen, die Dimension reinen Nichtsinns = Dimension des Absoluten heißen kann. Deshalb nennt Valéry die »politische Wahrheit« nicht nur einen »sinnlosen Ausdruck«, sondern vor allem eine »schreckliche Waffe – die zu tiefen Einschnitten in die Komplexität der Situationen taugt, deren Ausmaß man nicht vorhersehen und nicht begrenzen kann.«1 327

* Es gilt dieser Waffe mit Sinnbehauptungen zu opponieren, die kaum weniger Waffen sind. Valéry ist davon überzeugt, dass die »Idee der ›Wahrheit‹ um jeden Preis« in »Köpfen« entstand, »die sich in der Regel durch vermindertes Denken und gesteigerte Geschwätzigkeit hervortaten«.2 Sein Kartesianismus koinzidiert mit einem Ethos des Wissens, das aus der Ahnung um die Wucht der Wahrheit, besonders dann, wenn sie als politische auftritt, ihre Ächtung deduziert, weshalb man sein Denken das einer Aufklärung ohne Wahrheit (ohne Gott, ohne Absolutes, auch ohne Gerechtigkeit wohlgemerkt!) nennen kann. * Dennoch wird klar, dass Valérys Schreiben, indem es die Grenze des Wissbaren abläuft, dem Unwissbaren und nur Halbsagbarem genug Raum gibt, um sich jederzeit selbst zu sprengen. * Es gibt keinen Grund, dem Logos genannten Grund zu misstrauen, da hinter ihn zurückzugehen einer Art Wahnsinn gleichkommt oder einer an Irrsinn grenzenden Unbekümmertheit, vor der Wittgenstein warnte und sich hütete. Und doch stand auch er in Kontakt mit der Wahnsinnszone, in die jede Lebensform und jedes Sprachspiel eingelassen bleiben, während sie kaum mehr als Vernebelungen dieser als Tatsachenwahrheit unausweisbaren Wahrheit darstellen. * Die Frage nach der Grenze von Wittgensteins Denken lässt sich vereinfacht so beantworten: Es ist die Metaphysik, der er »Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«3 vorhält, die loszuwerden ihm durch ihre Aussperrung aus dem Feld der Tatsachenaussagen nicht gelingt. Die Metaphysik ist die Grenze oder markiert sie. In Wittgensteins Überlegungen persistiert sie in Gestalt religiöser Fragestellungen oder ethischer Perspektiven. Alles dreht sich darum, ihr einen Platz im Denken zuzuweisen, ohne das Denken dadurch zu remetaphysieren. Logifizierung ohne Metaphysierung unter Beibehaltung des Bewusstseins, dass es kein Denken ohne metaphysischen Vektor gibt, im Wissen also darum, dass Wis328 | Marcus Steinweg

sen nicht alles ist – so in etwa stellt sich das Problem auch des späten Wittgenstein dar. * Den Obskurantismus füttern die Positivismen mit ihrem Glauben, fest im Wirklichen zu stehen. Dagegen richtet sich Metaphysik auf. Nicht gegen’s empirisch Fassbare, sondern gegen die Mystik der kleinen Evidenzen, die zum Nichtdenken ermutigt, indem sie ­einen Obskurantismus des Sichtbaren installiert. Als Metaphysik der Leere bricht Denken wie ein verbotenes Licht ins Evidenzspektrum ein. Es markiert Helligkeiten, die zu gleißend sind, um im Evidenztheater erscheinen zu können. Im Tatsachenlicht kommt dessen Ermöglichungsgrund, die Sonne, nicht vor. * Im Traum kommt nicht die Wahrheit des Subjekts zu ihm. Die Bilderflut, die es überschwemmt, macht es mit deren Inexistenz bekannt. Die Wahrheit des Subjekts besteht darin, über keine zu verfügen. Es irrt wie ein Gespenst in dem, was es sein Ich nennt, umher. Das Traumerleben intensiviert die auch im Wachzustand erfahrene Tatsache, dass an ein konsistentes Selbst zu glauben Irrglaube bleibt; was nicht bedeutet, dass da nichts ist. Nur ist Selbstheit der Name für ein Seinstheater, auf dessen Bühne sich eine Mehrzahl konfligierender Phantome kreuzen, die nicht schlüssig zu entscheiden wissen, wer sie sind. * Emanuele Coccia hat recht damit, zu konstatieren, dass im Traum unser »Wesen zerbröckelt« und »sich in einer vielstimmigen Liturgie von Personen, Figuren und Geschichten«4 auflöst. Dingwelt und Selbstwelt verschwimmen miteinander. Allein, dass da etwas geschieht, ist gewiss. Über seine Bedeutung lässt sich streiten, auch darüber, ob sinnvoll von ihr gesprochen werden kann. Das Traumgeschehen spannt einen nicht immer übersichtlichen Bühnenraum auf, der zu den befremdlichsten Begegnungen und Erlebnissen einlädt. Raum und Zeit büßen ihre Autorität ein. Das Traumsubjekt überfliegt und durchlöchert sie mühelos. * Kunst und Philosophie | 329

Auch wenn der Traum fürs Subjekt keine Tiefenwahrheit bereithält, interveniert er in dessen Existenz, konfiguriert er sie neu. Man kann Träume als unbedeutend abtun, oder man erkennt sie als Existenzmodi des Sinnenlebens der Subjekte an. Jedenfalls ist der Konnex von Traum und Einbildungskraft unbestreitbar. Die Fantasie ist dem Subjekt nichts Beiläufiges. Sie ist ihm konstitutiv, ob es nun wach ist oder schläft und träumt. * Die Traumbühne kann zum Schauplatz einer Selbstbegegnung werden, die in der Einsicht in die originäre Absenz eines konstitutiven Selbst mündet, um das Wachbewusstsein mit dem Appell zu intersubjektiver oder politischer wie philosophischer und ästhetischer Sensibilität heimzusuchen, die von ihm fordert, die Frage, was der Mensch sei, nie unter Umgehung seines Phantomcharakters zu diskutieren. * Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie kommt wiederholt auf die Formfrage zurück. Kunst ohne Form ist keine. Zugleich birgt das Formparadigma sämtliche Risiken der Totalisierung, Monumentalisierung und Selbstabschließung des Kunstwerks in sich. Es impliziert die Versuchung, sich vom Formlosen – das die sozio-politische Welt ist, die fragmentarische Welt der Tatsachen und Meinungen, ökonomischen Verhältnisse und kulturellen Beliebigkeiten – abzukehren, sich gewissermaßen im Verhältnis zu ihm ästhetisch zu anästhesieren. Worauf Adornos Überlegungen abheben, ist klar: Das Kunstwerk ist der Schauplatz der Vermittlung von Form und Formlosigkeit im Medium wenn auch brüchiger Form. * Brüchig heißt nicht: gänzlich zerrissen, ohne jegliche Einheit und Kohärenz. Ein Minimum an Einheit und Kohärenz behalten noch die Kunstwerke bei, die deren Infragestellung intendieren. Dem Formlosen Form zu geben, heißt nach einem »Formprinzip«5 zu schielen, das der Zweifelhaftigkeit wie der Notwendigkeit von Form im Feld des Ästhetischen Rechnung trägt. * 330 | Marcus Steinweg

Es geht ums Ineinander und Miteinander beider Register. So wie das rein Fragmentarische nur lesbar wäre auf der Folie zumindest vergangener Formerwartung, wäre reine Ganzheit aufgrund ihrer Komplizenschaft mit dem Phantasma differenzloser Einheit Ausdruck des Falschen oder Unwahren, wie Adorno sagt. * Identität und Nichtidentität kooperieren im Kunstwerk, im Zeichen einer ihnen übergeordneten Nichtidentität. Transzendenz lockert Immanenz auf, während Immanenz Transzendenz im emphatischmetaphysischen Sinn zur Unmöglichkeit erklärt. * Zur künstlerischen Praxis gehört Selbsttranszendenz, d. h. Überstieg auf ein Kunstaußen, das man Natur nennen kann oder Gesellschaft, historische Sphäre und ökonomischer Raum, politische Zone und kulturelle Textur. Kunst findet nicht im Vakuum statt, nicht isoliert vom Kunstaußen, zugleich trägt sie bei faktischem Affiziertsein durch dieses Außen ihm einen Widerstand ein. Erst so konstituiert sie sich als Kunst: in der Öffnung wie in der Verschließung ihm gegenüber. * Es ist vor allem Friedrich Nietzsche, der die Kunst mit dem Auftrag versah, während sie sich apollinisch zu runden beginnt, den Kontakt zum dionysischen Ungrund zu halten, zu allem, was ihre Affirmation des Nichtidentischen fordert, statt nur erlaubt. * Die Selbsttranszendenz des Kunstwerks zielt auf die Dialektik des Apollinischen und Dionysischen, der Immanenz und der Transzendenz, der Identität und der Nichtidentität. Nur die Kunstwerke zählen, die sich als Schauplatz solcher Dialektik konstituieren, als Kräftefeld, innerhalb dessen die in ihm hochschießenden Energien zu keinem (finalen) Ausgleich kommen. Das Kunstwerk arbeitet keinerlei Beruhigungsmetaphysik zu. Es setzt im Gegenteil einer solchen ihre Grenzen, indem es dem irreduziblen Konflikt von Evidenz und Inevidenz, Ruhe und Unruhe, Schönem und Erhabenem differenzoffene Form zu geben versucht. Kunst und Philosophie | 331

* 1950 notiert Adorno zu Walter Benjamin: »Er ist dem Zwang einer unvergleichlichen Anlage gefolgt und hat keinen Unterschlupf im Bestehenden, bei philosophischen Schulen und anerkannten Denkgewohnheiten gefunden.«6 * Jedem, der Benjamin zu lesen begonnen hat – fertig wird man nicht mit ihm –, leuchtet Adornos Statement ein. Benjamin ist ein Solitär. Er steht isoliert in der Welt. Seine Höflichkeit und Unnahbarkeit sind legendär. Ein Unberührbarer ist er von Anfang an. Unberührbarkeit ist seinem Begriff der Aura koextensiv. Es geht ums Unzerstörbare unter den Bedingungen seiner faktischen Zerstörung. Der Impuls von Benjamins Denken liegt in der Weigerung, sich mit dem Unvermeidbaren zu arrangieren. * Kein Arrangement, aber ein Hinsehen auf das, was sich der Idealisierung oder Sublimierung sperrt. Wenn Benjamin von »Prostitution« spricht, sucht er das Heilige in ihr. Es geht um die Kompossibilität des Wirklichen mit dem Unwirklichen. Benjamin weigert sich, gegenüber dem Faktischen einzuknicken. Weder den Realitäten noch den Idealitäten unterwirft er sich. Sein Denken nimmt ihre Kompossibilität in den Blick. * Daher die Weigerung, sich einer Scholastik anzuschließen. Wie jeder bedeutende Denker definiert Benjamin das Denken neu. Vor ihm war Philosophie etwas anderes als nach ihm. Kaum jemand hat das klarer gesehen als Adorno, der ihm intellektuelle Unbestechlichkeit attestiert. Benjamin habe darauf bestanden, »alle Gegenstände so nah anzusehen, bis sie fremd wurden und als fremde ihr Geheimnis hergaben«.7 Die Fremdheit wird gezeigt und gewahrt. * Benjamin insistiert auf dem Geheimnis der Dinge, noch wenn er sie den schärfsten Analysen preisgibt. Solange ihr Raum im Denken gewährt wird, bleibt der Kompromiss mit der Vulgarität des 332 | Marcus Steinweg

Wirklichen ausgeschlossen. Die Obdachlosigkeit seines Denkens ist evident. Es streunt in der Unvertrautheitszone Realität umher. Seine Syntax drückt die Ruhelosigkeit einer Bewegung aus, die ohne Garantie auf Seriosität und Konsistenz auskommt. * Adorno spricht von einem »Mangel an Einverständnis«, um Benjamins Singularität zu explizieren. Er betont den Resistenzcharakter seines Denkens. Ohne Rückhalt im Offiziellen und Legitimen, bewegt sich Benjamin auf den Rätselcharakter seiner Gegenstände zu. Ohne Rettung ins Akademische, ohne Schönfärberei = ohne sich in einen Immanentismus zu flüchten, während er billiger Esoterik wie warenförmiger Transzendenz opponiert.

Kunst und Philosophie | 333

ÜBER DIE AU TOR*INNEN Carolin Amlinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SNFProjekt »Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ›postfaktischen Zeitalter‹« an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Postmoderne und Postfaktizität, Ideologietheorien und Literatursoziologie. Wichtige Publikationen: Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin: Suhrkamp 2021; Die verkehrte Wahrheit, Hamburg: Laika, 2014. Dirk Baecker ist Seniorprofessor für Soziologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Jüngste Buchpublikationen: 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt, Leipzig: Merve 2018; Intelligenz, künstlich und komplex, Leipzig: Merve 2019; Wozu Wirtschaft, Marburg: Metropolis 2020. Klaus Benesch ist Professor für Amerikastudien an der LudwigMaximilians-Universität München. Sein gerade erschienenes Buch, Mythos Lesen. Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter, ist eine selbstkritische Neubestimmung der Geisteswissenschaften angesichts ihres rasanten Bedeutungsverlusts im digitalen Zeitalter. Carina Breidenbach studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie in München, London, Berkeley und New York. Seit 2017 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der LMU München tätig und stellt ihr Promotionsprojekt zu »Poetiken der Angst im 20. und 21. Jahrhundert« an der Graduiertenschule für Sprache und Literatur der LMU fertig. Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Koordinatorin der DFG-Forschungsgruppe »Philologie des Abenteuers«. Mitherausgeberin des Sammelbandes Narrating and Constructing the Beach (De Gruyter 2020). 335

Elisabeth Bronfen ist Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich und Global Distinguished Professor an der New York University. Sie promovierte an der LMU München und habilitierte sich mit ihrer Studie Over Her Dead Body über Darstellungen von Weiblichkeit und Tod. Jüngst sind erschienen: Angesteckt. Zeitgemässes über Pandemie und Kultur, Basel: Echtzeit Verlag 2020; Serial Shakespeare. An Infinite Variety of Appropriations in American TV Drama, Manchester: Manchester UP 2020. Chiara Cappelletto ist seit 2016 Associate Professor für Ästhetik am Department für Philosophie an der Università degli Studi di Milano. Zu ihren Publikationen zählen Dynamis of the Image. Moving Images in a Global World, hg. v. Chiara Cappelletto und Emmanuel Alloa, Berlin  /  Boston: De Gruyter 2021; Alfred Gell: Arte e agency. Una teoria antropologica, hg. v. Chiara Cappelletto, Mailand: Cortina 2021; Embodying Art: How we See, Think, Feel, and Create, New York: Columbia University Press 2022. Oswald Egger ist Schriftsteller und lehrt als Professor für »Sprache und Gestalt« an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Aktuelle Publikationen: Harlekinsmäntel und andere Bewandtnisse, Berlin: Matthes & Seitz 2018; Triumph der Farben, Düsseldorf: Lilienfeld 2018; Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt, Berlin: Suhrkamp 2021. Nicola Gess ist Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel, wo sie seit 2019 das SNF-Projekt »Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ›postfaktischen Zeitalter‹« leitet. Wichtige Publikationen: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin: Matthes & Seitz 2021; Staunen. Eine Poetik, Göttingen: Wallstein 2019; Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne, Paderborn: Fink 2013; Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800, Freiburg: Rombach 22011. Jocelyn Holland ist Professorin für Comparative Literature am California Institute for Technology (Caltech). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Schnittstelle von literarischem, philo336 | Über die Autor*innen

sophischem und wissenschaftlichem Denken besonders im 18. und 19. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf der Philosophie und Literatur der Romantik. Wichtige Veröffentlichungen: German Romanticism and Science: the Procreative Poetics of Goethe, Novalis and Ritter, Routledge 2009; The Lever as Instrument of Reason. Technological Constructions of Knowledge around 1800, Bloomsbury Publishing 2019; On Anomalies (mit Joel Lande, in: German MLN 134.3 [2019]). Ines Ghalleb wurde im Jahr 2021 an der LMU München in Amerikanistik promoviert (Dr. phil). Sie erhielt verschiedene Auszeichnungen, u. a. das DAAD Graduate School Scholarship 2016–2020 und die Publikationsförderung »Open Publishing in the Humanities« der LMU München. Sie nahm 2018 mit einer Förderung durch die Bayerische Amerika-Akademie am »The Futures of American Studies Institute« am Dartmouth College teil und war 2014 mit dem »US CEMAT Grant« Gastwissenschaftlerin an der UC Berkeley. Ihre wichtigen Publikationen sind The Interdisciplinary Mind: Modes of Evolution in Richard Powers’ Novels, UB LMU OPH / ­Georg Olms 2021; »Homelessness: A Search for Habitable Planets in Outer Space in Interstellar and The Martian«, in: Perspectives on Home­less­ ness (Hg. Anna Flügge und Giorgia Tommasi), Universitätsverlag Winter 2022. Gertrud Koch ist Professorin a. D. für Filmwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Ästhetische Theorie, Film- und Bildtheorie sowie Politische und historische Repräsentation, zu ihren Publikationen zählen Die Wiederkehr der Illusion. Film und die Künste der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2016, Inszenierungen der Politik (Hg. zusammen mit Paula Diehl), München: Fink 2007, und »Es ist als ob.« Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft (Hg.  zusammen mit Christiane Voss), München: Fink 2009. Dominik Pensel war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München beschäftigt, als Gast an der New York University und ist nun an der Hochschule für Musik und Theater München sowie der Über die Autor*innen | 337

Bayerischen Akademie der Wissenschaften tätig. Seine Forschungsinteressen liegen an der Grenze zwischen Literatur, Anthropologie und Psychologie sowie zwischen Literatur und Musik. Publikationen u. a. zur künstlerischen Selbstreflexion ästhetischer Produktion in Literatur und Musik, zur Musik der New York School sowie zum Unbewussten in der Literatur der Romantik und des deutschsprachigen Realismus. Mitherausgeber des Sammelbandes Narrating and Constructing the Beach. Kathrin Röggla (*1971) ist Schriftstellerin und arbeitet als Prosaund Theaterautorin, auch entwickelt sie Radiostücke. Zuletzt erschien von ihr »Ausreden« (2022) und »Bauernkriegspanorama« (2020), sowie die Theatertexte »Verfahren« (2022) und »Das Wasser« (2022). Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Preise, zuletzt den Else-Lasker-Schüler-Preis (2022) und den österreichischen Kunstpreis für Literatur (2020). Sie ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin und Professorin an der KHM in Köln. www.kathrin-roeggla.de. Marc Rölli ist seit 2015 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Zuletzt publiziert hat er die Bücher Anthropologie dekolonisieren. Eine philosophische Kritik am Begriff des Menschen, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2021 und Macht der Wiederholung. Deleuze – Kant – Nietzsche, Wien: Turia + Kant 2019. Sylvia Sasse ist Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Letzte Publikationen: Michail Bachtin zur Einführung, Hamburg: Junius 2018 (2. Auflage); (Hg. mit Kata Krasz­nahorkai) Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste, Leipzig: spector books 2019. Thomas Schestag ist Professor am Department of German Studies, Brown University, Providence, Rhode Island (USA). Jüngste Buchpublikationen: Namenlose, Berlin: Matthes & Seitz 2020; erlaubt, entlaubt, Schupfart: Urs Engeler 2021; und als Hg.: Francis Ponge, Le Soleil / Die Sonne, Berlin: Matthes & Seitz 2020.

338 | Über die Autor*innen

Katharina Simon studierte Kunstgeschichte, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in München und Paris, nach einer Abschlussarbeit zum zeitgenössischen Kriegsfilm promovierte sie zur Verräumlichung affektiver Beziehungen zur Vergangenheit bei Baudelaire, Duras und Carter (»Die Häuser der Toten. Räumlichkeit im Zeichen des Vergehens bei Duras, Baudelaire und Carter«). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Philologie der LMU. Publikationen u. a. zu Keun und Baudelaire im Kontext Freud’scher Fetischismustheorien, zur textuellen Räumlichkeit bei Verne und zu Leseszenen bei Perec. Mitherausgeberin des Sammelbandes Narrating and Con­ structing the Beach. Marcus Steinweg ist Philosoph sowie Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Er lebt in Berlin. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen: Subjekt und Wahrheit, Berlin: Matthes & Seitz 2018; Proflexionen, Berlin: Matthes & Seitz 2019; (mit Frank Witzel) Humor und Gnade, Berlin: Matthes & Seitz 2019; Metaphysik der Leere, Berlin: Matthes & Seitz 2020; Quantenphilosophie, Berlin: Matthes & Seitz 2021; (mit Marie Rotkopf) Fetzen. Für eine Philosophie der Entschleierung, Berlin: Matthes & Seitz 2022. Die englischsprachige Fassung einiger seiner Bücher erscheint seit 2017 bei The MIT Press; Cambr.  /  Mass.  /  USA. Florian Telsnig ist nach Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München und an der Universität Wien aktuell als Projektmitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Universität Wien beschäftigt. Publikationen u. a. zum Verhältnis von Literatur und Politik, zur Kritischen Theorie und besonders zur Sprach- und Medienphilosophie; Mitherausgeber des Sammelbandes Narrating and Constructing the Beach. Peter Waterhouse lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik promovierte er 1984 mit einer Arbeit über Paul Celan. Als Autor verfasst er Gedichte, Essays, Prosa und Theaterstücke und ist zudem als Übersetzer aus dem Englischen und Italienischen tätig. Jüngste Buchpublikationen: Der Fink. Einführung in das Federlesen, Berlin: Matthes & Über die Autor*innen | 339

Seitz 2016; (mit Nanne Meyer) Die Auswandernden, Wien: starfruit publications 2016; Equus. Wie Kleist nicht heißt, Berlin: Matthes & Seitz 2018. Martin Wittmann studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in München. 2015 erhielt er seinen Mastertitel mit einer Abschlussarbeit zu Konzeptionen des Gesichts bei Deleuze  /  Guattari und Paul de Man. Seit 2016 promoviert er an der Graduiertenschule für Sprache und Literatur München, u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Mitherausgeber des Sammelbandes Narrating and Constructing the Beach. Sandro Zanetti ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Letzte Publikationen: Celans Lanzen. Entwürfe, Spitzen, Wortkörper, Zürich: Diaphanes 2020; Literarisches Schreiben. Grundlagen und Möglichkeiten, Ditzingen: Reclam 2022. Slavoj Žižek ist Professor für Philosophie und Psychoanalyse an der European Graduate School  /  EGS, Direktor des Birkbeck Institute for Humanities und Senior Researcher am Department für Philosophie der Universität Ljubljana. Seine zahlreichen Publikationen wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen: Pandemie! ­COVID-19 erschüttert die Welt, Wien: Passagen Verlag 2020; Pan­ demie! 2: Chroniken einer verlorenen Zeit, Wien: Passagen Verlag 2021; Heaven in Disorder, New York: OR Books 2021.

340 | Über die Autor*innen

ANMERKUNG EN Carina Breidenbach, Ines Ghalleb, Dominik Pensel, Katharina Simon, Florian Telsnig und Martin Wittmann: Über eine doppelte Verunsicherung Wolfgang Wippermann: Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin: be.bra Verlag 2007, S.  160. Wippermann zeichnet in seinem Band die Geschichte von Verschwörungstheorien nach und hebt im Wesentlichen fünf ›Epochen‹ der Hochkonjunktur von Verschwörungsdenken hervor: das ausgehende Mittelalter, die Aufklärung, die bolschewistische Revolution, den kalten Krieg und die Gegenwart seit dem 11. September 2001. Vgl. zur ›Krisenthese‹ auch Carl F. Graumann: »Conspiracy: History and Social Psychology. A Synopsis«, in: Changing Conceptions of Conspiracy, hg. v. Carl F. Graumann und Serge Moscovici, New York u. a.: Springer 1987, S.  245– 252, hier S.  247  f.: »The situation in which typically the allegation of conspiracy is made is a state of crisis affecting those who propose their ›theory‹ and those who are willing to adopt it. The crisis may be economic (e. g. unemployment, inflation), political (e. g. repression, instability, threat of war) or religious (e. g. reformation, schism, spreading heresy).« 2  World Health Organizaton: »Coronavirus Disease (COVID-19) Advice for the Public: Mythbusters«: https://www.who.int/emergencies/diseases/no vel-coronavirus-2019/advice-for-public/myth-busters#5g (letzter Zugriff am 28. Februar 2021). 3  Daniel Freeman und Jason Freeman: Paranoia. The 21 st Century Fear, New York: Oxford UP 2008; Markus C. Schulte Drach: »Werden wir alle para­ noid?«, Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2010: https://www.sueddeutsche.de/wis sen/frage-der-woche-werden-wir-alle-paranoid-1.570897 (letzter Zugriff am 4. Januar 2021). 4  Vgl. die Diagnosen F.22.0 (»Wahnhafte Störung«), F.20.0 (»Paranoide Schizophrenie«) und F.60 (»Paranoide Persönlichkeitsstörung«) im ICD 10. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10 Revision. German Modification (ICD-10-GM Version 2020): https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kodesuche/htmlgm2020/ (letzter Zugriff am 4. Januar 2021). 5  Eve Kosofsky Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or: You’re so Paranoid, You Probably Think this Essay is About You«, in: dies.: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, hg. v. Jonathan Goldberg und Michael Moon, Durham: Duke UP 2002, S.123–151, hier S.  138. 1 

341

6 Richard

Hofstadter: »The Paranoid Style in American Politics«, in: Harper’s Magazine, November 1964, S.  7 7–86, hier S.  7 7. 7 Ebd. 8  Vgl. z. B. James Zirin: »Donald Trump’s Paranoid Style«, in: Prospect Magazine, 6. Dezember 2019: https://www.prospectmagazine.co.uk/politics/ donald-trump-paranoid-impeachment-james-zirin (letzter Zugriff am 21. Ok­ tober 2021). 9 Siehe die einflussreiche Definition der Paranoia in Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Achte, vollständig überarbeitete Auflage, Bd.  I V, III. Teil, Leipzig: Barth 1915, S.  1713. 10 Oliver Kuhn: »Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung – am Beispiel von Verschwörungstheorien. Ein Beitrag zur Soziologie des Nichtwissens«, in: Zeitschrift für Soziologie 39.2 (2010), S.  106–123, hier S.  107. 11  Ebd., S.  106. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien siehe auch den Sammelband Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, hg. v. Andreas Anton, Michael Schetsche und Michael K. Walter, Wiesbaden: Springer 2014. 12  Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading«, S.  131. 13  Ebd., S.  126. 14  Ebd., S.  131. 15  Vgl. Patrick O’Donnell: Latent Destinies: Cultural Paranoia and Contemporary U.S. Narrative, Durham und London: Duke UP 2000, Kap.  1: »Postmodernity and the Symptom of Paranoia«, S.  11–44, bes. S.  16  f. 16  Hofstadter: »The Paranoid Style«, S.  86. 17  Manfred Schneider beschreibt in Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft (Berlin 2010, S.  5–28) die »Kontingenzleugnung« als zentralen Mechanismus paranoiden Denkens (S.  11). 18  Dieter Groh: »Verschwörungen und kein Ende«, in: Kursbuch 124 (1996), S.  12–34, hier S.  15. 19  Hofstadter: »The Paranoid Style«, S.  81. 20 Als demokratiegefährdend schätzte z. B. Monika Betzler Verschwörungstheorien in ihrem Vortrag »Fake News und Verschwörungstheorien in Zeiten von COVID-19« ein, den sie im Januar 2021 im Rahmen der ›Corona Lectures‹ an der Ludwig-Maximilians-Universität München hielt: YouTube, 15. Januar 2021: www.youtube.com/watch?v=CegHufLtWrc (letzter Zugriff am 15. Oktober 2021). 21  Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.  2 , München: Francke 1975, S.  119. 22  Ebd., S.  121. 23 Ebd. 24  Ebd., S.  112. 25  Keeleys Aufsatz und eine Reihe von Reaktionen darauf versammelt der 342 | Anmerkungen

Band Conspiracy Theories: The Philosophical Debate, hg. v. David Coady, Aldershot: Ashgate 2006. 26  Brian Keeley: »Of Conspiracy Theories«, in: Journal of Philosophy 96.3 (1999), S.  109–126, hier S.  124. 27  Timothy Melley: Empire of Conspiracy. The Culture of Paranoia in Postwar America, Ithaca: Cornell UP 2016, S.  12. 28 Ebd. 29  Ebd., S.  37. 30  Thomas Pynchon: The Crying of Lot 49, New York u. a.: Harper Perennial 1999, S.  20. 31  So im Beitrag von Paul Sérieux und Jean Capgras zur psychiatrischen Paranoia-Debatte im frühen 20. Jh.: Les Folies raisonnantes. Le Délire d’interprétation, Paris: J.-F. Alcan 1909. 32  Peter Brooks: Reading for the Plot: Desire and Intention in Narrative, Cambridge und London: Harvard UP 1992, S.  37. 33  Don DeLillo: White Noise, London: Picador 2012, S.  334. 34 Brooks: Reading for the Plot, S.  37. 35  Brian Massumi: »Angst (sagte die Farbskala)«, in: ders.: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, übers. v. Claudia Weigl, Berlin: Merve 2010, S.  105–130. Massumi beschreibt das von der US-Regierung nach dem 11. September eingeführte, nach Farben abgestufte Warnsystem als ein System der »Affektmodulation«, durch das die gesamte Bevölkerung auf die ›Angst vor dem Terror‹ eingestimmt wurde. Das Beispiel führt die Wirkungskraft kollektiver Affekte vor Augen, zu denen sich individuelle Einstellungen und Reaktionen immer erst nachträglich in Relation setzen. 36  Jérémy Celse und Kirk Chang: »Politicians Lie, So Do I«, in: Psychological Research 83 (2017), S.  1311–1325, hier S.  1312: https://doi.org/10.1007/s00426 -017-0954-7/ (letzter Zugriff am 30. Oktober 2019). Eigene Übersetzung. Im Folgenden im Text mit der Sigle CC zitiert. 37  Ines Pohl: »Opinion: Donald Trump’s Mob Rule«, in: Americas: North and South American News Impacting on Europe, DW, Januar 2021, S.  1–3: ­https://www.dw.com/en/opinion-donald-trumps-mob-rule/a-56153086/ (letzter Zugriff am 11. Februar 2021). 38  Alistair Walsh und Wesley Rahn: »Congress Confirms Biden Win After Day of Violence – as it Happened«, in: DW, Januar 2021, S.  1–92: https://www. dw.com/en/congress-confirms-biden-win-after-day-of-violence-as-it-happe ned/a-56149833/ (letzter Zugriff am 11. Februar 2021). 39  Kayla Keener: »Alternative Facts and Fake News: Digital Mediation and the Affective Spread of Hate in the Era of Trump«, in: Journal of Hate Studies 14 (2017–2018), S.  137–151, hier S.  140  f. u. 143  f.: Http://doi.org/10.33972/jhs.128/ (letzter Zugriff am 30. Oktober 2019). 40  Ebd., S.  143. 41  Ebd., S.  145  f. Eigene Übersetzung. Anmerkungen | 343

Gerbaudo: »The Populist Era«, in: Soundings: A Journal of Politics and Culture 65 (2017), S.  46–58: https://www.muse.jhu.edu/article/658841/ (letzter Zugriff am 30. Oktober 2019). Im Folgenden im Text mit der Sigle G zitiert. Jeweils eigene Übersetzungen. 43  David Klepper: »Facebook Defends Policy of Not Fact Checking Ads from Politicians«, in: Global News, 24. Oktober 2019, S.  4: https://globalnews. ca/news/6079226/facebook-false-political-ads-policy/ (letzter Zugriff am 29. Oktober 2019). 44  Bei der Anhörung auf dem Capitol Hill am 23. Oktober 2019, bei der Mark Zuckerberg für seinen Plan zur Einführung der Kryptowährung Libra werben wollte, wurde er stattdessen »stundenlang von Gesetzgebern« verhört und für »die Bilanz des Unternehmens bezüglich Hatespeech, Datenschutz und irreführender politischer Werbung« scharf kritisiert (David Klepper: »Face­book Clarifies Zuckerberg Remarks on False Political Ads«, in: abc News, The Associated Press, 25. Oktober 2019: https://abcnews.go.com/Technology/ wireStory/facebook-defends-policy-allowing-false-political-ads-66511943/ [letzter Zugriff am 12. Oktober 2021]; eigene Übersetzung). 45  Tony Romm: »Zuckerberg: Standing for Voice and Free Expression«, in: The Washington Post, 17. Oktober 2019, S.  7  f. u. 11: https://www.washingtonpost.com/technology/2019/10/17/zuckerberg-standing-voice-free-expression/ (letzter Zugriff am 29. Oktober 2019); sowie Klepper: »Facebook Defends«, S.  2. 46  Romm: »Zuckerberg«, S.  1 2. 47  Craig Timberg u. a.: »A Facebook Policy Lets Politicians Lie in Ads, Leaving Democrats Fearing What Trump Will Do«, in: The Washington Post, 10. Oktober 2019: https://www.washingtonpost.com/technology/2019/10/10/ facebook-policy-political-speech-lets-politicians-lie-ads/ (letzter Zugriff am 29. Oktober 2019). 48 Ebd. 49 Ebd. 50  Nauel Semaan: »Die Demokratisierung von Deepfakes. Wie technologische Entwicklung unseren gesellschaftlichen Konsens beeinflussen kann. Ein Gespräch mit Dr. Hans-Jakob Schindler«, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Auslandsinformationen, 16. März 2020, S.  65: https://www.kas.de/de/web/ auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/die-demokratisierung-vondeepfakes (letzter Zugriff am 8. Dezember 2020). 51  Kara Manke: »Researchers Use Facial Quirks to Unmask ›Deepfakes‹«, in: Politics & Society, Research, Technology & Engineering, 18. Juni 2019: https:// news.berkeley.edu/2019/06/18/researchers-use-facial-quirks-to-unmaskdeepfakes/ (letzter Zugriff am 25. Januar 2021). Eigene Übersetzung. Vgl. auch Semaan, S.  65. 52  Hany Farid und Hans-Jakob Schindler: »Deepfakes. Eine Bedrohung für Demokratie und Gesellschaft«, in: Counter Extremism Project, übers. v. Marie Liedtke, hg. v. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Berlin 2020, S.  16: https://www. 42  Paolo

344 | Anmerkungen

kas.de/documents/252038/7995358/Deepfakes+-+Eine+Bedrohung+f%C3%BC r+Demokratie+und+Gesellschaft.pdf/c4c7bc69-a5b6-8141-dca1-bb1f6869f806 ?version=1.3&t=1597323975005/ (letzter Zugriff am 08. Dezember 2020). 53  Ebd., S.  16. 54  Zitiert in: Manke: »Researchers Use Facial Quirks«. Eigene Übersetzung. 55  Manke: »Researchers Use Facial Quirks«. 56 Ebd. 57 Ebd. 58  Farid und Schindler: »Deepfakes«, S.  20. 59  Ebd., S.  21. 60  Semaan und Schindler: »Demokratisierung von Deepfakes«, S.  65; sowie Jim Geraghty: »The Deepfake of Nancy Pelosi«, in: National Review, 24. Mai 2019: https://www.nationalreview.com/the-morning-jolt/the-deepfake-ofnancy-pelosi/ (letzter Zugriff am 12. Oktober 2021). 61  Death to 2020, Al Campbell und Alice Mathias (Regie), Broke and Bones, Netflix, USA/UK 2020. 62  Claas Relotius: »›Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten‹«, Interview von Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet, in: Reportagen 59 (2021): https://reportagen.com/content/erfundene-wirklichkeit (letzter Zugriff am 22. Juli 2021). 63  Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin: Rowohlt 2019. Moreno selbst wurden nach der Veröffentlichung seines Buches immer wieder Ungenauigkeiten und Übertreibungen bei der Schilderung der Aufdeckung des Fälschungsskandals vorgeworfen. Am 29. September 2022, wenige Wochen vor dem Erscheinen des vorliegenden Buches, läuft die Verfilmung Tausend Zeilen von Michael ›Bully‹ Herbig in den deutschen Kinos an. 64  Relotius wurde, neben einer langen Reihe weiterer Auszeichnungen, allein viermal der Deutsche Reporterpreis verliehen. Zudem kürte ihn der amerikanische Sender CNN im Jahr 2014 zum Journalist of the Year. Der Abschlussbericht der Spiegel-Aufklärungskommission zum Fall Relotius geht explizit auf die hohe Relevanz von Auszeichnungen für die Karriereperspektiven im Journalismus als Problem ein: »Der Fall Relotius. Abschlussbericht der Aufklärungskommission«, Spiegel 52/2018, S.  130–146. 65 Moreno: Tausend Zeilen Lüge, S.  283  f. Eigene Hervorhebung. 66  Hannah Arendt: »Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon-Papieren«, in: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München: Piper 2013, S.  7–43, hier S.  10. 67 Moreno: Tausend Zeilen Lüge, S.  142. 68  Vgl. Georg Fischer: »Was die Fälschungen von Claas Relotius über die digitale Transformation des Journalismus lehren«: https://irights.info/artikel/ was-die-faelschungen-von-claas-relotius-ueber-die-digitale-transformationdes-journalismus-lehren/30061 (letzter Zugriff am 2. Mai 2021). Anmerkungen | 345

69 

»Der Fall Relotius«, S.  138  f. John D’Agata und Jim Fingal: Das kurze Leben der Fakten, übers. v. Andreas Wirthensohn, München: Hanser 2013, S.  20 u. 17. 71  Beispielhaft: Götz Aly: »Kolumne: Wer überhäufte Spiegel-Redakteur Claas Relotius mit Preisen«, Berliner Zeitung, 8. Januar 2019: https://www. berliner-zeitung.de/mensch-metropole/kolumne-wer-ueberhaeufte-spiegelredakteur-claas-relotius-mit-preisen-li.27351 (letzter Zugriff am 2. Mai 2021) 72 Moreno: Tausend Zeilen Lüge, S.  262  f. 73  Felix Stephan: »Was man nicht sieht«, Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 2019: https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-was-man-nicht-sieht-1.4 282180 (letzter Zugriff am 2. Mai 2021); sowie Sandro Zanetti: »Reportage als Kolportage: Storytelling im Journalismus«, 24. März 2019: https://geschichtedergegenwart.ch/reportage-als-kolportage/(letzter Zugriff am 2. Mai 2021). 74  Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, hg. v. Johannes J. Braakenburg, Niemeyer: Tübingen 1976, S.  31. 75  Vgl. Lorraine Daston: »Baconsche Tatsachen«, in: Rechtsgeschichte 1.1 (2002), S.  36–55, hier S.  40. 76  Ebd., S.  47. 77  Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd.  5, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: DTV 1999, S.  245–412, hier S.  399. 78  Vgl. Wilhelm Halbfass und Peter Simons: »Tatsache«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd.  10, Basel: Schwabe 1998, Sp. 910–916. 79  Gotthold Ephraim Lessing: »Über das Wörtlein Tatsache«, in: ders.: Werke und Briefe, Bd.  10, hg. v. Arno Schilson und Axel Schmitt, Frankfurt a. M.: DKV 2001, S.  320  f., hier S.  320. 80  D. Joseph Butlers, Bischofs zu Durham, Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion, übers. v. Johann Jacob Spalding, Leipzig: Weidemanische Handlung 1756, hier S.  51. [Joseph Butler: The Analogy of Religion, Natural and Revealed, to the Constitution and Course of Nature, London: Knapton 1740, hier S.  167.] 81  »Facta, Thatsachen«, in: Johann Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Bd.  2, Braunschweig: Schulbuchhandlung 1801, Sp.  355  f., hier Sp.  355. 82  Vgl. dazu und zum Folgenden v. a. Barbara J. Shapiro: A Culture of Fact. England, 1550–1720, Ithaca und London: Cornell University Press; Daston: »Baconsche Tatsachen«; Mary Poovey: A History of the Modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago und London: University of Chicago Press 1988. Wie Cornelia Vismann (Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a. M.: S.  Fischer 2011, hier S.  103) gezeigt hat, war es der Justiz sogar noch in den Aktenprozessen des 18. Jahrhunderts kaum möglich, zu prüfen, 70 

346 | Anmerkungen

ob die »in den Akten« – zumeist keinesfalls unparteiisch – verzeichnete »Version eines Geschehens« bzw. die »Tatsachen der Wahrheit entsprechen«: »Die Wahrheit erweist sich im Akt des Zu-den-Akten-Genommen-Worden-Seins.« 83  Vgl. Ludwik Fleck: Entdeckung und Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S.  53  f. Der Begriff des ›Denkkollektivs‹ umfasst freilich auch weitere soziale Einheiten und ist nicht nur auf konkrete Gemeinschaften beschränkt. 84  Die »judges of the fact«, so schreibt bspw. Hale in der History of the Pleas of the Crown (1736), seien Richter »of the probability or improbability, credibility or incredibility« (zit. n. Shapiro: Culture of Fact, S.  14; vgl. auch Reinhart Staats: »Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffs ›Tatsache‹«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 70.3 [1973], S.  316–345, hier S.  325  f.). 85  Vgl. John Locke: Versuch über den Menschlichen Verstand. In vier Büchern, Bd.  2, übers. v. Carl Winckler, Hamburg: Meiner 1988, S.  343–362. [An Essay Concerning Humane Understanding. In Four Books, London: Ballet 1690, S.  332–340.] Im Folgenden im Text mit der Sigle L zitiert. 86  Zu Konzept und Geschichte der Wahrscheinlichkeit vgl. Barbara J. Shapiro: Beyond »Reasonable Doubt« and »Probable Cause«. Historical Perspectives on the Anglo-American Law of Evidence, Berkeley: University of California Press 1991, hier u. a. S.  8  f.; Lorraine Daston: Classical Probability in the En­ lighten­ment, Princeton  /  NJ: Princeton UP, hier u. a. S.  45; und allg. Ian Hacking: The Emergence of Probability. A Philosophical Study of the Early Ideas About Probability, New York und London: Cambridge UP 1975. 87  Die »Wahrscheinlichkeit der Sache selbst« lässt sich sowohl als zusätzliches Kriterium im Sinne des inneren kausalen Zusammenhangs der (berichteten) Sache als auch als übergeordnete Metakategorie beschreiben. 88  Hans Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S.  47–73, hier S.  52. 89  In Bezug auf den Schweizer Journalisten Roger Köppel vgl. dazu Lorenz Engell und Bernhard Siegert: »Editorial: Alternative Fakten«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 9.2 (2018), S.  5–11, hier S.  6. Zu Machiavelli in diesem Zusammenhang vgl. Eva Horn: »Schweigen, Lügen, Schwätzen. Eine kurze Geschichte der politischen Unwahrheit«, in: Tumult 34 (2008), S.  112– 122, hier S.  114  f. 90  Vgl. in diesem Zusammenhang Shapiro, Culture of Fact, S.  16  f. 91  »Factum«, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges UniversalLexicon, Bd.  9, Halle und Leipzig: Zedler 1735, Sp.  65  f., hier Sp.  66. Vgl. dazu auch Vismann: Medien der Rechtsprechung, S.  101. 92  Vgl. dazu Juliane Vogel: »Die Kürze des Faktums: Textökonomien des Wirklichen um 1800«, in: Auf die Wirklichkeit zeigen? Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, hg. v. Helmut Lethen, Ludwig Jäger und Anmerkungen | 347

Albrecht Koschorke, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2015, S.  137–152; sowie Lorraine Daston: »Warum sind Tatsachen kurz?«, in: cut and paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften, hg. v. Anke te Heesen u. a., Zürich: diaphanes 2002, S.  132–144. 93  Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, übers. v. Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann, Stuttgart: Klett-Cotta 1986. 94 Aristoteles: Poetik, Griechisch  /  Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, S.  29. 95  Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe, Bd.  6, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt a. M.: DKV 1985, S.  181–694, hier S.  275. 96  Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, in: ders.: Werke und Briefe, Bd.  9, hg. v. Klaus Bohnen und Arno Schilson, Frankfurt a. M.: DKV 1993, S.  483–627, hier S.  577. 97  Zur näheren Differenzierung – auch mit Blick auf Kleist – vgl. die den Zusammenhang von Literatur und neuer mathematischer Wahrscheinlichkeit auslotende Studie von Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Wallstein: Göttingen 2002. 98  Vgl. Heinrich von Kleist: Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd.  2, hg. v. Helmut Sembner, München: DTV 2001, S.  277–281. Im Folgenden im Text mit der Sigle K zitiert. Vgl. dazu auch Sandro Zanetti: »Geschichtengläubigkeit. Was Literatur zum Storytelling zu sagen hat«, Geschichte der Gegenwart, 14. Juli 2019: https://geschichteder gegenwart.ch/geschichtenglaeubigkeit-was-literatur-zum-storytelling-zusagen-hat/ (letzter Zugriff am 27. Juni 2021). 99  In einer programmatischen und an Radikalität nicht zu überbietenden Absage an die Metaphysik, die implizit gegen Martin Heidegger gerichtet ist, charakterisiert Rudolf Carnap alle Sätze der »Metaphysik (einschließlich aller Wertphilosophie und Normwissenschaft)« als »gänzlich sinnlos«: Rudolf Carnap: »Überwindung der Metaphysik«, in: Erkenntnis 2 (1931), S.  219–241, hier S.  220. 100  Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien: Artur Wolf 1929, S.  16. Vgl. dazu KurtWalter Zeidler: Prolegomena zur Wissenschaftstheorie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S.  13–62. 101  Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe, Bd.  1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, hier S.  11 u. 14; 2., 2.01. u. 2.06. 102  Bertrand Russell: »Philosophie des logischen Atomismus«, in: ders.: Die Philosophie des Logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie 1908–1918, übers. v. Johannes Sinnreich, München: DTV 1979, S.  178–277, hier S.  183. Obwohl sowohl Wittgenstein als auch Russell eine Philosophie des logischen Atomismus verfolgten, waren ihre jeweiligen Auffassungen weit 348 | Anmerkungen

voneinander entfernt, wie Raymond Bradley zeigt: Raymond Bradley: The Nature of All Being. A Study of Wittgenstein’s Modal Atomism, New York und Oxford: Oxford UP 1992. Frank Hofmann hat unlängst eine Tatsachen­ ontologie entwickelt, die ebenfalls auf einer Wahrmachertheorie gründet: Frank Hofmann: Die Metaphysik der Tatsachen, Paderborn: mentis 2008. Systematisch wurde die Wahrmachertheorie entwickelt von Kevin Mulligan, Peter Simons und Barry Smith: »Wahrmacher«, in: Der Wahrheitsbegriff. Neue Explikationsversuche, hg. v. L. Bruno Puntel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 1987, S.  210–255. 103  Bertrand Russell: Probleme der Philosophie, übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S.  106. 104  Ebd., S.  112. 105 Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, S.  1 4; 2.06. 106  Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 1988, S.  146–214, hier S.  213. 107  Ebd., S.  214. 108  Jean-Luc Godard: Einführung in die wahre Geschichte des Kinos, übers. v. Frieda Grafe und Enno Patalas, München: Hanser 1981, S.  127  f. 109  Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd.  1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S.  691–704, hier S.  696  f. 110  Vgl. Felwine Sarr und Bénédicte Savoy: Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, übers. v. Daniel Fastner, Berlin: Matthes & Seitz 2019; Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte ­einer postkolonialen Niederlage, München: C. H. Beck 2021; Isabelle Dolezalek, Bénédicte Savoy und Robert Skwirblies (Hg.): Beute – Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe, Berlin: Matthes & Seitz 2021. 111  Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: ders. / Friedrich Engels: Marx Engels Werke, Bd.  23, Berlin: Dietz 1962, S.  195. 112  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd.  12, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: DTV 1999, S.  315. 113  Vgl. Nikolai Mähl: »Tatsache, kulturelle«, in: Handbuch Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 2012, S.  375–383. 114  Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: dies.: Marx Engels Werke, Bd.  3, Berlin: Dietz 1978, S.  18. Dazu hält Johann Kreuzer fest: »Die ›zweite‹ Natur der Geschichte ist vielmehr die erste des menschlichen Geistes. […] Geist ist nicht das Andere der Natur, sondern sich zu sich selbst verhaltende Natur. Der Inbegriff dieser Einheit von Geist und Natur ist Kultur, ihre Erscheinungsweise Geschichte.« (Johann Kreuzer: »Ästhetik der Kultur: Vicos Neue Wissenschaft«, in: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Anmerkungen | 349

Erfahrungen zwischen Asien und Europa, hg. v. Rolf Elberfeld und Günter Wohlfart, Köln: edition chōra 2000, S.  339–356, hier S.  340  f.). 115  Ralf Konersmann: »Thesen zum fait culturel«, in: ders.: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S.  13–69, hier S.  43. 116  Vgl. dazu grundlegend die vorzügliche Studie von Dirk Westerkamp, der in Diskussion mit propositionalen Tatsachentheorien und aus der Perspektive eines alethischen Pragmatismus eine Wahrheitstheorie kultureller Tatsachen formuliert: Dirk Westerkamp: Sachen und Sätze, Hamburg: Meiner 2014; vgl. ders.: »Kulturelle Faktizität«, in: Geschichte, Gesellschaft, Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie, hg. v. Michael Quante, Hamburg: Meiner 2016, S.  759–772. 117  Vgl. Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, übers. v. György Buda und Kristin Schwamm, Berlin: Rowohlt 1992. 118  Vgl. Stephan Otto: »Können Tatsachen sprechen? Das Janusantlitz der ›facta historica‹ im Spiegel von Geschichtstheorie und reflektierender Vernunft«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 1 (2002), S.  231–257, hier S.  255: Die historiologische Ontologie »überschreitet damit die Grenzen der immer nur gegenständlichkeitsbestimmenden Geschichtstheorie historischer ›Erscheinungen‹, insofern sie das Wie-sein des ›factum est‹ weder in dem Konstrukt eines ›Tatsächlichkeitsaggregats‹ zum Verschwinden bringt noch das nackte ›Daß‹ der historischen Tatsache zum bloßen ›Substrat‹ eines erzählenden oder transzendentalen ›Auffassens‹ von Geschichte degradiert.« 119  Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, S.  695. 120  Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, übers. v. Frieder Otto Wolf, Hamburg: VSA Verlag 2016, S.  72  f. 121  Ebd., S.  82. 122  Ebd., S.  57. 123  Ebd., S.  67  f. 124  Ebd., S.  84. 125  Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag 1992. 126  François Zourabichvili: Deleuze. Une philosophie de l’événement, Paris: Presses Universitaires de France 1994, S.  10. 127  Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S.  172; Zourabichvili: Deleuze, S.  10  f. 128 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S.  194. 129 Ebd. 130  Ernst Cassirer: Die Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Hamburg: Meiner 2010, S.  30  f. 131  Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, übers. v. Wolfgang Kukulies und Jean-Jacques Raspaud, Berlin: Edition Tiamat, 1996, S.  9. 132  Brian Massumi: »Das Denken-Fühlen Der Geschehnisse. Ein Schein ­eines Gesprächs«, übers. v. Claudia Weigel, in: ders.: Ontomacht. Kunst, Affekt 350 | Anmerkungen

und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve 2010. 131–189. Massumi gibt in einer Fußnote zu Beginn des Textes an, die zweite Hälfte der Fragen und Repliken seines Gesprächspartners Arjen Mulder erfunden zu haben. 133  Ebd, S.  134. 134  Isaak Babel: »Die Reiterarmee«, übers. v. Peter Urban, in: ders., Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. München: Hanser 2014, S.  195–364, hier S.  197. 135  Vgl. William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur, in: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, hg. v. Wilfried Wiegand, Frankfurt a. M.: Fischer 1981, S.  45–89, hier S.  45 mit Titel. 136  Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S.  86  f. 137  Siehe Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, übers. v. Mira Köller, hg. v. Joseph Pearson, Berlin: Merve 1996. 138  Diese Interpretation versteht sich in weiten Teilen als argumentative Ausfaltung von Johnsons Überlegungen aus Barbara Johnson: Défigurations du langage poétique. La seconde révolution baudelairienne, Paris: Flammarion 1979, S.  68  f., ergänzt durch die Diskussion der Malereidiskurse in den »Fenêtres«. Siehe Marit Grøtta: »Reading  /  Developing Images. Baudelaire, Benjamin, and the Advent of Photography«, in: Nineteenth-Century French Studies 41.1/2 (2012–2013), S.  80–90, für eine Umlegung auf das photographische Medium. 139 Text und Übersetzungen in Anführungszeichen aus der Ausgabe: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke  /  Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd.  8: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, München: Hanser 1985; dort auf S.  256 (französisch) und 257 (deutsch). Alle Übersetzungen ohne Anführungszeichen sind eigene Übersetzungen. 140  Vgl. für den Verweis auf Albertis De pictura Andrea Del Lungo: »Sens du regard et construction identitaire. Sur ›Les Fenêtres‹«, in: L’Année Baudelaire 17 (2003), S.  115–128, hier S.  115. 141  Vgl. Johannes Grave: »Reframing the ›finestra aperta‹. Venetian Varia­ tions on the Comparison of Picture and Window«, in: Zeitschrift für Kunst­ geschichte 72 (2009), S.  49–68, hier S.  50. 142  So hält es auch Johnson fest, vgl. Défigurations, S.  68. 143  Für die Verbindung zu den Frauen aus den »Petites Vieilles« vgl. bereits Jean Starobinski: »Windows. From Rousseau to Baudelaire«, übers. v. Richard Pevear, in: The Hudson Review 40.4 (1988), S.  551–560, hier S.  557. 144  Während die ›plis‹ für die Falten im Stoff stehen, bezeichnen die ›rides‹ die kräuselnde Kerbung, Reliefierung einer Oberfläche, eines Geländes, auch einer Frucht oder einer Leinwand. Vgl. »rider« und »ridé« im TLFi: https:// www.cnrtl.fr/definition/rider und https://www.cnrtl.fr/definition/rid%C3%A9 [letzter Zugriff am 26. November 2021]. Anmerkungen | 351

145 

Kemp übersetzt: »›Bist du so sicher, daß diese Legende auch wahr ist?‹« Zur Mehrdeutigkeit der ›légende‹ vgl. u. a. Del Lungo: »Sens du regard«, S.  124  f. Auch bei ihm wird die Frau so zum Bild, vgl. S.  125. Baudelaire kennt die ›légende‹ auch aus der Karikatur (vgl. Sima Godfrey: »Baudelaire’s Windows«, in: L’Esprit Créateur 22.4 (1982), S.  83–100, hier S.  93). Für die Nähe zur Allegorie siehe Grøtta: »Reading  /  Developing Images«, S.  88  f. 147  Vgl. Grave: »Reframing the ›finestra aperta‹«, besonders S.  50 und 67  f. 148  Gerard Genette: »Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch«, in: ders.: Die Erzählung, übers. v. Andreas Knop, Paderborn: Fink und UTB 2010, S.  7–174, hier S.  150: »Schließlich kann die Rolle der zweiten Erzählung [der metadiegetischen Erzählung, d. Verf.] auch von einer nonverbalen (und zumeist visuellen) Darstellung übernommen werden, die der Erzähler dann narrativisiert, indem er dieses ikonographische Dokument entweder selbst beschreibt […] oder, seltener, von einer Figur beschreiben lässt […].« 149 Pline: Histoire naturelle, übers. v. Émile Littré, Bd.  2 , Paris: Firmin Didot Frères 1850, S.  473. ([Zeuxis] trug gemalte Trauben von solcher Wahrhaftigkeit bei, dass die Vögel herbeikamen, um an ihnen zu picken, der andere aber einen Vorhang, der so natürlich repräsentiert war, dass Zeuxis, ganz stolz ob des Urteils der Vögel, verlangte, dass man endlich den Vorhang aufziehe, um das Bild sichtbar zu machen.) 150 Johnson: Défigurations, S.  69. (Denn auch wenn der Unterschied zwischen Legende und Realität nicht bestimmbar ist, hindert uns das Gedicht dennoch daran, die beiden auf dasselbe zu reduzieren. Die Realität wird nicht einfach zu einer Fiktion: Sie bleibt derjenige Ort, leer, aber irreduzibel, der den Platz unserer Unsicherheit markierte, wenn diese Unsicherheit Gewissheit wäre.) 151  Vgl. ebd., direkt darüber. 152  Zur Geschichte der Ekphrasis siehe Fritz Graf: »Ekphrasis. Die Entstehung der Gattung in der Antike«, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, München: Fink 1995, S.  143–155. 153  Für eine einführende Übersicht zur Frage des Fetischs in seinen unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen siehe Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. 154  Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, übers. v. Karola Gramann, in: Weiblichkeit als Maskerade, hg. v. Liliane Weissberg, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S.  48–65, hier S.  55. 155  Vgl. Sigmund Freud: »Fetischismus« [1927], in: ders.: Studienausgabe, Bd.  3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S.  379–388, bes. S.  386–388. 156  Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, übers. v. Reinhard Kaiser, München: Hanser 2003, S.  16  f. 146 

352 | Anmerkungen

›cadre‹ bei Baudelaire siehe Pierre Laforgue: Ut pictura poesis. Baudelaire, la peinture et le romantisme, Lyon: P U de Lyon 2000, S.  107–120 sowie Daichi Hirota: »La poétique de la fenêtre chez Baudelaire«, in: L’Année Baudelaire 13/14 (2009/2010), S.  195–210. Hirota verfolgt Murphys Gedanken einer Verdoppelung der Rahmung im Blick durch zwei Fenster (vgl. ebd., S.  206, mit Verweis auf Steve Murphy: Logiques du dernier Baudelaire. Lectures du »Spleen de Paris«, Paris: Champion 2003, S.  206). 158  Vgl. Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, übers. v. Reiner Ansén, Frankfurt a. M. und New York: Campus 2010, S.  7 1–73. Für das englische Zitat: Judith Butler: Frames of War, When is life grievable?, London und New York: Verso 2009, S.  7 1. 159  Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, z. B. S.  130  f. 160  Vgl. Butler: Raster des Krieges, S.  91–93. 161  Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S.  143–147. 162  Ebd., S.  144. 157  Zum

Slavoj Žižek: Von Fake News zur ›Großen Lüge‹ 1 

Der Begriff ›große Lüge‹ (›Big Lie‹) hat eine komplizierte Geschichte hinter sich. Er wird Adolf Hitler zugeschrieben, der damit in Mein Kampf eine Propagandastrategie bezeichnet, die darauf basiert, dass große Lügen von der breiten Öffentlichkeit eher angenommen würden als kleine. Eine solche ›große Lüge‹ wurde, laut Hitler, ›vom Judentum‹ verbreitet, um Deutschland die Schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg zuzuschreiben. In der englischen Übersetzung von Mein Kampf wird an dieser Stelle der Ausdruck ›big lie‹ verwendet, der schließlich im angloamerikanischen Sprachraum weite Verbreitung fand. Der Begriff findet sich beispielsweise im Titel eines antikommunistischen Propagandafilms aus dem Jahr 1951, The Big Lie (USA), und in einem Buch des kontroversen konservativen politischen Kommentators Dinesh D’Souza, der in The Big Lie: Exposing the Nazi Roots of the American Left (2017) die ›Propagandastrategie‹ der US-amerikanischen Demokratischen Partei, Konservative mit Faschismus in Verbindung zu bringen, als ›große Lüge‹ bezeichnet. Seit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wird schließlich Donald Trumps Weigerung, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl anzuerkennen, gemeinhin als ›big lie‹ bezeichnet (u. a. von Timothy Snyder in seinem Essay »The American Abyss«). [Anm. d. Ü.] 2  Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd.  3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S.  33. 3  Vgl. Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg. v. Florian Schuller, Freiburg i. Br.: Herder 2005.

Anmerkungen | 353

Klaus Benesch: The Art of the Lie Hannah Arendt: »Lying in Politics«, in: dies.: Crises of the Republic, New York: Harvest Books 1971, S.  1–48, hier S.  5. 2  Ebd., S.  5. 3  Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden: Vorlesungen am Collège de France 1979–1980, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014. 4  Michel Foucault, Noam Chomsky und Fons Elders: Macht und Gerechtigkeit: Ein Streitgespräch zwischen Michel Foucault und Noam Chomsky, Berlin: Orange Press 2008. 5  William James: »Lecture IV. Pragmatism’s Concept of Truth«, in: ders.: Pragmatism, Boston: Harvard University Press 1975, S.  95–113, hier S.  97. 6  Ebd., S.  98. 7  Ebd., S.  104. 8  Oscar Wilde: »The Decay of Lying«, in: ders.: Intentions, New York: Brentano’s 1905, S.  1–57, hier S.  9  f. 9  Im Aphorismus 107, der mit »Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst« überschrieben ist, schreibt Nietzsche: »Hätten wir nicht die Künste gutgeheißen und diese Art von Kultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Konsequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine«. Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd.  2, hg. v. Karl Schlechta, München: Hanser 1954. S.  113–115. 10  James Dickey als Gast in The Dick Cavett Show, 22. Juli 1970, siehe: Hart Henry: The World as a Lie: James Dickey, New York: St. Martin’s Press 2001. 1 

Oswald Egger: Wahrmacherei Seele des Seils und seine Teile sind durch und durch miteinander unverbunden, eingefädelt, aber keine der Fasern, woraus das Stück (am Stück, ganz fuselig davon) zerfasert, läuft durch von einem Ende zum andern, wie ein Sparrenwerk verzäunter Fingerchen: ich habe immer nur die nächsten gegenseitigen Nachbarschaftsbeziehungen der Fäden bunt umgeordnet, also alle jene Verbindungen zwischen ihnen außer Betracht gelassen, die infolge der Überschneidung der Erscheinungen zustande gekommen waren: Nämlich, dass ich vor der Ausführung der Deformation »zergliedern«, d. i. die Überschneidungsverbindungen durchschneiden muß: Etwas läuft den ganzen Faden lang – das lückenlose Übergreifen der Fasern  … Vgl. Oswald Egger: »Nach 1 Die

354 | Anmerkungen

dem Muster – Vom innigen Band der Begriffe symplektischer Wortgeflechte«, in: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, hg. v. Andrea Sakoparnig, Berlin und Boston: De Gruyter 2014, S.  285–308. 2  Etwas weicht zurück, einem Andern Raum gebend, dem es weicht, um von dort aus, da es nicht bleiben kann, Ort und Stelle zu verlassen und beginnt, zögernd zunächst, mit dem Fadenschein des Faktischen die Bewandtnisse des Gewahren in den Gewahrsam des Ungewahren zu garnen. Dieser wird geraum, füllt sich-in-sich aus, indem alle Wände voll verzeichnet, ausgemalt sind, guillochiert, da es nicht gehen werde, nicht fort und fort, und hört auf, ein Mal zu sein und wird sich Zeichen, zeichengleich und verwindet und bewendet sich in sich – gedreht. 3  Vgl. Karl Gerhards: »Der mathematische Kern der Außenweltshypothese«, in: Die Naturwissenschaften 17 (1922), S.  423–430; sowie ders.: »Nichteuklidische Kinematographie«, in: Die Naturwissenschaften 20 (1932), S.  925– 928. 4  Um zu verstehen, wie sich eine Figur bewahrheiten sollte, suchte ich die Beobachtungen der Konfigurationen more geometrico mit der Beobachtung des Allsehenden zu vergleichen, die Nicolaus Cusanus in De visione Dei anstellt: Es musste, wie dieser von einer Figur zu einer anderen mit bestimmten Proportionen zu wechseln weiß, das eine Gebilde aus dem andern konstruierbar sein – und zwar gerade soweit, dass sich auf Grund der Vorgänge einer solchen inneren, entsprechenden Verschränkung sinnlicher Anschauungen die Verschmelzung der vielen perspektivischen Ansichten eines Gegenstands verkörpert. Was bedeutet eine Figur verkörpern? Es ist unmöglich, die Entstehung einer Figur in der Natur anders als vorstellbar zu beobachten. Selbst bisher noch nicht wahrgenommene Ansichten, wie sie kreuz und quer nach bestimmten Richtungen gewonnen werden könnten, sind als Folgerungen solcher, jeder Vorstellung, die durch Zerschneiden entstehen könnten, davon ableitbar. 5  Ich schneide sie gleichsam aus ihrem geläufigen Zusammenhang heraus, und gebe den Begebenheiten eine Neigung gegen sich selber unter einander, die sie in Wirklichkeit bestimmt nicht haben, nur in Wahrheit, i. e. ungewahr, unbestimmt, zwangsläufig. 6  Ohne Syzygie ist Wort für Wort genauso wenig Vers, wie Reißwolle Kleider ist: sie ist es, die bei der Versiertheit Fasern und Textur gibt und die das Prinzip von allgemein vermengenden Kontingenten erklärte, Sprichwörter und schlagfertige Antworten. Ton in Ton muss normalerweise in das Versgewebe eingeführt und beredt wieder ausgeführt werden: aufgehängt, vorbereitet, zurückgerufen, spielerisch bearbeitet, um jenen wie diesen schließlich ziehen zu lassen, müssen sie konzentriert, zerstäubt, gekreuzt, verblüfft und verflochten sein. 7  Dazu der Klassiker der kategorialen Syntax, Kazimierz Ajdukiewicz: »Die syntaktische Konnexität«, in: Studia Philosophica 1 (1935), S.  1–28; und Rudolf Anmerkungen | 355

Freundlich: Sprachtheorie. Grundbegriffe und Methoden zur Untersuchung der Sprachstruktur, Wien und New York: Springer 1970. 8  Zum Beispiel ließ sich zeigen, dass eine Kugel dergestalt in Stücke zerschlitzt werden könne, dass die Teile – gedreht und anders zusammengesetzt – zwei volle Kugeln der gleichen Größe ergeben, jede gleich groß wie die ursprüngliche (das vielleicht verblüffendste Ergebnis des auf der modernen Mengenlehre basierende mathematische Paradoxon von Banach-Tarski): Der scheinbare Widerspruch zur Tatsache, dass durch Bewegungen keine Volumina verändert werden können, löst sich auf, wenn man die Konsequenz zieht, dass die Teile in der Zerlegung so kompliziert sind, dass ihnen gar kein Volumen zugeordnet werden kann. 9  Was ich verlange, kann es nicht gut geben: Individualbegriffe (diese Augen­blicksgötter und Eintagsseelen abblätternder Farbnamen, die nichts Ähnliches außer sich tun, nur Identisches davon. Gleich und gleich. Und das sind sie selbst  …). Habe ich Begriffe, dann kein Individuum; habe ich aber Individuen, dann keinen Begriff. Das war das Problem der Augenblicksgötter, und das ist das Problem der Farbennamen. Wie die Augenblicksgötter auftraten als Schwarm, als Fußtupferspuren pointilliert sporadische Gruppen von Buntordnungen. Inwieweit die Beziehungen von Farbe auf Farbe ebenso sicher vollziehbar sind, wie die Beziehung von Farbe auf Wort oder von Wort auf Farbe unvollziehbar erscheint (Farbnamensamnesie und Namen der Götter als Farbenhaufen), will ich noch untersuchen. Siehe Oswald Egger: Triumph der Farben, Düsseldorf: Lilienfeld 2018. 10  Wort für Wort gelingt oft eine »früher als«-Spanne dergestalt zu entfalten, dass aus ihr in faßlicher Weise eine Beziehungs-Metrik aufgeht, welche von der anschaulichen Maßvorschrift definiert nur lückenhaft für »sehr sehr kleine« Intervalle merklich abweicht. Diese Reduktion der Metrik auf das »Früher als« wird nur dadurch ermöglicht, dass die letzte Beziehung einem schablonenartigen Anspruch unterworfen wird, welche einen metaschematischen Maßstab ansetzt und sich-von-sich erstreckt. 11  Diejenigen Abbildungsbeziehungen vermeide ich zu untersuchen, welche zwischen Grund und Muster auch dann noch bestehen würden, wenn ich Punkt-um den zweidimensionalen Nachbarschaftszusammenhang einzelner Fäden miteinander in Betracht ziehe und mir die Aufgabe stellte, allein diesen Nachbarschaftszusammenhang aus dem einen ins andere abzuleiten. 12  Vgl. hierzu Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg: Meiner 1974, S.  166–167; § 126.: »Es gibt eine ausgezeichnete Reihe von Weltpunkten, die wir eine einwertige, stetige die ›Ausblickpunkte‹ nennen. […] Die Zuschreibung der Farben zu den Weltpunkten und die weiteren damit verknüpften Konstitutionen, die Wahl der Lage dieser Punkte auf ihren Blicklinien geschehen so, dass die folgenden Forderungen möglichst weitgehend erfüllt werden. […] Die Farbe der Gesichtsempfindung wird einem Weltpunkt der entsprechenden Blicklinie zugeschrieben. Die so besetzten Punkte heißen 356 | Anmerkungen

›von dem betreffenden Ausblickpunkt gesehene Weltpunkte‹ oder kurz ›gesehene Farbpunkte‹. […] Eine genaue Erfüllung wird verhindert durch […] Halluzinationen, Störungen des Auges und des Zwischenmediums, Deformationen und Zerreißungen der Körper und dergleichen. Die empirischen Sachverhalte, in denen die Begründung für diese einzelnen Forderungen oder Konstitutionsbestimmungen liegt, werden in der realistischen Sachverhaltssprache angegeben. […] Außerdem wird gewissen anderen Weltpunkten […] je eine Farbe zugeschrieben. Diese Weltpunkte heißen ›nichtgesehene Farbpunkte‹. Sie bilden innerhalb der Punkte eines jeden Blicklinienbüschels […] höchstens zweidimensionale Gebiete, meist zusammenhängende Flächen. Ein nichtgesehener Farbpunkt darf nicht auf der Strecke einer Blicklinie zwischen Ausblickpunkt und einem gesehenen Farbpunkt liegen. Die Zuschreibung zu nichtgesehenen Farbpunkten […] wird so vorgenommen, dass möglichst jeder gesehene Farbpunkt einer ›Weltlinie‹ angehört.« 13  Vgl. Oswald Egger: nihilum album. Lieder und Gedichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 14  Vgl. Oswald Egger: Der Rede Poemanderm Schlaf (Der Rede Dreh), ­Zürich: Edition Howeg 1999. 15  Die einzelnen Weltpunkte des Raum-Zeit-Gefüges Minkowskis stehen ursprünglich nicht für zeitliche Teile von Partikeln, sondern für zeitliche Momente solcher Partikeln. »Die Weltlinien des Raum-Zeit-Systems stellen gleichsam die Pfade oder die Wege dar, die die einzelnen Partikeln – wie klein sie auch immer sein mögen – in der Zeit zurücklegen. Sie geben ihre jeweilige räumliche Position in der Zeit an. Eine Weltlinie stellt im System gleichsam das ›ewige Schicksal‹ einer einzelnen Partikel dar. Die Weltpunkte zu einem bestimmten Zeitpunkt stellen dabei den Weltzustand zu genau diesem Zeitpunkt dar, d. h. die räumliche Verteilung der Partikeln; die Weitlinien hingegen den Verlauf der Veränderungen der Zustände von Zeitpunkt zu Zeitpunkt. Die einzelnen Punkte einer Weltlinie repräsentieren daher nicht verschiedene Elemente und somit numerisch verschiedene Beziehungsweisen, die auf eine bestimmte Art miteinander verknüpft wären. Vor diesem Hintergrund ist die Ineinssetzung eines materiellen Gegenstandes mit der Summe seiner zeitlichen Teile äußerst problematisch. Die zeitlichen Teile im vierdimensionalen Raum-Zeit-System sind nämlich Teile der Geschichten oder der Schicksale eines Gegenstandes durch die Zeit, aber nicht des Gegenstandes selbst. Was summiert werden kann, sind die verschiedenen Abschnitte des Lebens oder der Geschichte einer Person, aber nicht die angeblichen zeitlichen Teile der Person selbst.« (Edmund Runggaldier: »Referenz und ›zeitliche Teile‹«, in: Perspektiven der Analytischen Philosophie / Perspectives in Analytical Philosophy, hg. v. Georg Meggle und Julian Nida-Rümelin, Bd. 1, Berlin und New York: De Gruyter 1994, S.  544–549, hier S.  456  f.). 16  Als sollte etwas davon – nach dem Muster – Abzusehendes hervorgebracht oder die implizite Durchmusterung verjüngt und maßgeblich hergeAnmerkungen | 357

stellt werden, so musste das gleichsam inverse negativ oder wie durch Schatten und Fußpunktspuren geschehen sein; indem ich von der ersten Direktive geradewegs einen regellosen, distrikten Abschnitt, von der angrenzenden schon einen etwas stärkern und von der folgenden noch einen etwas stärkern Abschnitt tue, so dass diese Abschnitts-Fitzchen der gerade scheinenden dicht an einander grenzenden Linien, Alinea, wiederum eine anahmende krumme Linie bilden, die aber im Grunde nur aus lauter Bruchstückchen besteht und nicht – nicht augenfällig – in einem fortging. 17  »So wie nun hier die an einander gränzenden grossen Linien durch ihren allmäligen Mangel oder durch ihre stufenweisen Abschnitte, eine krumme Linie bilden, wodurch sie selbst durchkreuzt werden, diese krumme Linie aber nur etwas Anscheinendes und Negatives ist; so bekommen auch in den schönen Kunstwerken die abzweckenden Mittel, die wir mit den geradescheinenden aneinander gränzenden Linien verglichen haben, immermehr innre anscheinende Zweckmäßigkeit, jemehr sie äußere wahre Zweckmäßigkeit verlieren, und zuletzt kömmt ein Punkt, wo die äußere Zweckmäßigkeit gänzlich ausgeschlossen, und irgend ein Gegenstand, der in der Natur auch nur Mittel war, selbst zum Zweck gemacht wird, auf welchen sich nun alle die zusammengestellten Mittel wegen des allmäligen Abschnitts ihrer äußern Zweckmäßigkeit zu beziehen scheinen.« Zu den Moritz-Zitaten im Text vgl. insgesamt Karl Philipp Moritz: »Die metaphysische Schönheitslinie«, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und ­Poetik, hg. v. Hans Joachim Schrimpf, Tübingen: Niemeyer 1962, S.  151–157. 18  Sprache besteht so wenig aus diskreten wie aus kontinuierlichen Tönen. Wort für Wort hat seine Kontinuität in der Diskretion der Laute und Töne, die man nicht hat. Hierin versilben immer diskrete Atemzüge die jeweilige Kontinuität des Diskreten und verstetigen. Ich spreche ausatmend, und ich schweige, wenn ich spreche, da (dass) ich einatme. Exakt das redlich hervorgebrachte Wort für Wort ist jetzt, niemals akkurat. Die Syzygie aber werde es sein (Sprache ist auch Sprache). Man denkt sogar schon von ›Partitionen des Denkens‹ im Sprechen. 19  Die Möglichkeit hierzu bietet die farbige Homotopie, welche die einander überdeckenden Teile der Blätter zu von ihnen gemeinsam überdeckten vollständigen Überlagerungen aus Foliationen davon mitunter zueinander aufblättern müssen, dadurch auch, dass man ihre farbig homotopen Teile identifiziert. 20  Ich sehe auf dieses und jenes aufgrund der Korrelation von Formen, auf die Wörter wegen ihres Klirrens, Quietschens, Schnalzens; aber es ist das Wort für Wort, und beider Vergabelung, die Syzygie daran, um die ich mich bemühen müsse, damit die Kohärenz koexistierender Zustände kompakt bleibe, das bisschen Sprache, wie gewahrt. Stets beschäftigt mit der Verbindung der Worte, der Anordnung derselben ordnungsgemäß im Nebeneinanderher (wie Drainagepumpen, die mit den Enden aufeinander gesetzt werden, oder die Kapillare der Venen und Arterien), um für die leichte Übertragung 358 | Anmerkungen

und den Fluss des Atems zu sorgen. Der hüpfende Punkt, verklammert ›in Syzygie‹, hat etwas gemein mit jedem dieser springenden Prinzipien. Nach Gepflogenheit stimmt etwas mit sich überein, und grenzt in Formen, was zur Anwendung kommt (in Bezug auf den Umgang mit verschiedenen Referenzen für die Kontinuität des Eindrucks): war demgemäß stetig an sich ein Ding, wenn die Grenze eines jeden zweier nächstfolgenden Teile, an welcher sich diese Teile berühren, eine und dieselbe wird? 21  Kann eine Theorie, die mit solch einem dezenten Gegenstand dieser Art befasst ist, unter den Hut kommen: Aber die Antwort ist leicht, da, die Elemente, die sie behandelt, ihr Gegenstand, diskontinuierlich ist, nicht aber das Objekt, zu dem es tendiert (in seiner Form); als wäre es, zum Beispiel, wie mit einem eisernen Schild geschildert oder vor dem Vorhang gleich einem Probelauf, wobei Bolzen, Schrauben und Nieten separat sind, aber doch dazu dienen zu konsolidieren und die Bleche zur Verbindung bringen und der Struktur Bindkraft (und Einheit) und Exzenter. 22  Die in der Welt liegende geschlossene Linie beschreibt in ihrem zeitlichen Verlauf offenbar eine Art Röhre; der konstante Momentanquerschnitt dieser Röhre ist die Linie selbst, aufgefasst als räumlicher Zusammenhang ihrer Punkte. Ein räumliches Modell dieser Röhre ließ sich nicht als Ganzes in die Weltebene hineinlegen; aber ich vermochte jeden hinreichend schmalen Längsstreifen der Röhre innerhalb davon darzustellen: und dachte mir das zugehörige Linienelement der Welt (als Universum) zur Grundlinie eines Rechtecks, dessen Maß und Ziel exakt jener Röhre (in Höhe und Länge) entsprechen sollte: Das war mein innenwendiger, zweidimensionaler Zusammenhang, d. h. der Nachbarschafts-Zusammenhang der kleinen Flächenstücke miteinander, das gemeinsame fehlen von Grund und Folge: unverändert, wenn die Fläche selbst sich maßgerecht deformierte, denn die einzelnen Flächenstückchen ändern sich ja über solche Deformationen nicht wesentlich, und insofern die Fläche sich nur deformiert hat, also nicht zerrisse, grenzten auch die einzelnen Stückchen nach der Deformation in genau derselben Weise aneinander wie zuvor: im Beweg- und Entstehungsgrund. 23  »Diese drei« Denkräume sind topologisch äquivalent, aber nicht einer von ihnen kann offenbar in stetiger Deformation in die andere überführt werden. Jeder Denkraum zeigt ein Inneres und eine Außenseite; das Innere des ersten ist dem Inneren des zweiten, nicht aber dem Inneren des dritten äquivalent. Und selbst wenn ich irgendwie drin bin, könnte ich nicht den Unterschied zwischen dem Inneren der ersten Welt in der Welt und dem Inneren der zweiten Sphäre erkennen und empfinden. Jedoch ist die Außenseite der ersten Sphäre wirklich wie die Welt-Außenseite der dritten (eine rundum runde Sache), aber nicht der Außenseite der zweiten vergleichlich: Keine zwei der beiden drei Innenräume haben äquivalente Komplemente, sie sind ohnegleichen unvergleichlich. Vgl. Oswald Egger: »Selbanderm Schlag: Die Und-Gestalt der Sprache«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1 (2017), S.  27–42. Anmerkungen | 359

Elisabeth Bronfen: Die erste US-amerikanische Präsidentin im zeitgenössischen TV-Drama Veep, Staffel 1–3, HBO und Dundee Productions, USA 2012–2014. 2  Emily Apter: Unexceptional Politics. On Obstruction, Impasse, and the Impolitic. London: Verso 2018, S.  253. 3  Vgl. Joe Conway: »After Politics / After Television. Veep, Digimodernism, and the Running Gag of Government«, in: Studies in American Humor 2.2 (2016), S.  182–207. 4  Vgl. Mario Klarer: »Putting Television ›Aside‹: Novel Narration in House of Cards«, in: New Review of Film and Televison Studies 12.2 (2014), S.  203– 220; sowie James R. Keller: »The Vice in Vice President: House of Cards and the Morality Tradition«, in: Journal of Popular Film and Television 43.3 (2015), S.  111–120. 5  Maggie Astor: »›A Woman, Just Not That Woman‹: How Sexism Plays Out on the Campaign Trail«, in: The New York Times, 11. Februar 2019: https:// www.nytimes.com/2019/02/11/us/politics/sexism-double-standard-2020.html (letzter Zugriff am 14. April 2021). 6  The Sopranos, Staffel 3, Episode 12 (»Amour fou«), Tim Van Patten (Regie), David Chase (Drehbuch), HBO, USA 2001. 7  Die Serie Political Animals lief auf ABC vom Herbst 2005 bis in den Frühling 2006. Margaret Tally hält fest, dass die Vorstellung von Hillary Clinton als möglicher Präsidentin und etwaige Folgen für die USA in den letzten Jahrzehnten die Einbildungskraft des amerikanischen Fernsehens heimgesucht hätten (vgl. »›Call it the Hillary Effect‹: Charting the Imaginary of ›Hillaryesque‹ Fictional Narratives«, in: Politics and Politicians in Contemporary US Television. Washington as Fiction, hg. v. Betty Kaklamanidou und Margaret J. Tally, London und New York: Routledge 2017, S.  121–138). 8  Judith B. Walzer (»Yes, Ms. President?«, in: Dissent 56.1 [2009], S.  101–104) billigt Lurie zu, er hätte mit Commander in Chief auf die Besorgnis reagiert, welche der Aufstieg Hillary Clintons im Senat und die daran geknüpfte Aufmerksamkeit in der politischen Arena hervorgerufen hat. Der Umstand, dass diese Serie eine Präsidentin ernst nimmt, wäre bereits als Fortschritt zu verbuchen, auch wenn die dieser Position entsprechende fiktionale Gestalt oft auf den komödienhaften Streit zwischen ihr und ihren Familienangehörigen enggeführt wird. 9  Prison Break wurde von der 20th Century Fox Broadcasting Company von August 2005 bis Mai 2017 ausgestrahlt. 10  Die siebte Staffel, »Day 7«, der Serie 24 wurde im Frühjahr 2009 von der 20th Century Fox Broadcasting Company ausgestrahlt, »Day 8«, in der mit der Präsidentin auch die Serie abgesetzt wurde, ein Jahr später. 11  Vgl. das zweite Kapitel in Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, 1 

360 | Anmerkungen

in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u. a., Bd.  13, London: Fischer 1940, S.  9–15. 12  Vgl. Astor: »How sexism plays out on the campaign trail«. 13  Alessandra Stanley: »Where Mean Girls Rule«, in: The New York Times International Edition, 2. Mai 2014, S.  10–11. 14  Vgl. Emily Nussbaum: »›Homeland‹: The Antidote for ›24‹«, The New Yorker, 29. November 2011: https://www.newyorker.com/culture/culturedesk/homeland-the-antidote-for-24/ (letzter Zugriff am 15. Juni 2019). 15  House of Cards, Season 4, Episode 10 (»Chapter 49«), Robin Wright (Regie), Melissa James Gibson und Kenneth Lin (Drehbuch), Netflix, USA 2016. 16  House of Cards, »Chapter 49«, 51:57–51:58. 17  Homeland, Staffel 7, Episode 5 (»Active Measures«), Charlotte Sieling (Regie), Debora Cahn (Drehbuch), Fox 21, USA 2018. 18  House of Cards. Staffel 5. Episode 13 (»Chapter 65«), Robin Wright (Regie), Melissa James Gibson und Frank Publiese (Drehbuch), Netflix USA 2017. 19  Homeland, Staffel 7, Episode 12 (»Paean to the People«), Lesli Linka Glatter (Regie), Alex Gansa (Drehbuch), Fox 21, USA 2018. 20  Homeland, »Paean to the People«, 50:30.

Carolin Amlinger und Nicola Gess: Die Tücken der Wahrscheinlichkeit 1  Wir

bedanken uns bei den Teilnehmer*innen des Kolloquiums »DokuFiktion«, das im Frühjahrssemester 2021 an der Universität Basel stattgefunden hat, für die hilfreichen Anregungen. 2  Vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Postfaktischen: Nicola Gess: »Versuch über die Halbwahrheit«, in: Postfaktisches Erzählen? Post-Truth − Fake News – Narration, hg v. Antonius Weixler u. a., Berlin und Boston: De Gruyter, 2021, S.  23–46, hier S.  26–29. 3  Den Begriff ›Tatsachenwahrheit‹ übernehmen wir von Hannah Arendt (»Wahrheit und Politik«, in: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München: Piper 2013, S.  4 4–92). Er kann beispielsweise ein vergangenes Ereignis meinen, das durch »Augenzeugen […] oder Dokumente, Aufzeichnungen, Denkmäler aller Art« verbrieft wurde (ebd., S.  65) oder auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen, die in einem »durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community« (Philipp Sarasin: »#Fakten. Was wir in der Postmoderne über sie wissen können«, Geschichte der Gegenwart, 9. Oktober 2016: https://geschichtedergegenwart.ch/fakten-was-wir-in-der-postmoderne-ueber-sie-wissenkoennen/ [letzter Zugriff am 14. April 2021]) etabliert wird (vgl. Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin: Matthes & Seitz 2021, S.  7  f.).

Anmerkungen | 361

Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, in: ders. und Johann Jakob Bodmer: Schriften zur Literatur, hg. v. Volker Meid, Stuttgart: Reclam 1980, S.  28–204, hier S.  142. 5  Vgl. zu diesen Fragen bei Breitinger u. a.: Nicola Gess: »Die Optik des Wunderbaren. Fernrohr, Prisma und Spiegel als Metaphern poetologischer Selbstreflexion«, in: SenseAbility. Mediale Praktiken des Sehens und Hörens, hg. v. Beate Ochsner und Robert Stock, Bielefeld: Transcript 2016, S.  19–44. 6  Vgl. dazu Antonius Weixler u. a. (Hg.): Postfaktisches Erzählen? PostTruth − Fake News – Narration, Berlin und Boston: De Gruyter 2021. 7  Die Ausführungen in diesem und den folgenden drei Absätzen sind, leicht modifiziert, übernommen aus: Gess: Halbwahrheiten, S.  31–48. 8  Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld: Transcript 2015, S.  57. 9 Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard: Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien, München: Blessing 2018, S.  130. 10  Vgl. hierzu und im Folgenden: Nicola Gess: »Wie funktionieren Verschwörungstheorien?«, YouTube, 14. Januar 2021: https://www.youtube.com/ watch?v=H0Wm953fFX0 (letzter Zugriff am 25. Februar 2021). 11  Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Denglers achter Fall, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015, S.  363. Im Folgenden im Text unter der Sigle S zitiert. 12  Ilija Trojanow: Doppelte Spur. Roman, Frankfurt a. M.: Fischer 2020, S.  22. Im Folgenden im Text unter der Sigle T zitiert. 13  Wegen seiner strukturellen Vagheit schlagen Agnes Bidmon und Christine Lubkoll (»Dokufiktionalität in Literatur und Medien – Einleitung«, in: Dokufiktionalität in Literatur und Medien. Erzählen an den Schnittstellen von Fakt und Fiktion, hg. v. dens., Berlin und Boston: de Gruyter 2021 [im Erscheinen]) für den Begriff der »Dokufiktionalität« eine »Minimaldefinition« vor, die besagt, »dass sich dokufiktional verfahrende Medienformate auf der Ebene der histoire mit durch verschiedene Quellen verbürgten und damit als real geltenden zeitgeschichtlichen oder zeitgenössischen Ereignissen, Kon­ stel­lationen oder Personen auseinandersetzen und hierfür auf der Ebene des discours Darstellungsweisen, die sowohl den traditionellen Praktiken des Dokumentierens als auch des Fingierens entsprechen, mithilfe intramedialer, intermedialer oder transmedialer Verfahren verknüpfen«. 14  Jörg Magenau: »Ein Enthüllungsbuch als Roman verpackt«, Deutschlandfunk Kultur, 1. August 2020: https://www.deutschlandfunkkultur. de/ilija-trojanow-doppelte-spur-ein-enthuellungsbuch-als-roman.950. de.html?dram:article_id=481434 (letzter Zugriff am 16. Februar 2021). 15  Breitinger: »Critische Dichtkunst«, S.  157. 16  Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2013, S.  43. 4 

362 | Anmerkungen

Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S.  29. 18  Ebd., S.  33. 19 Boltanski: Rätsel und Komplotte, S.  56. 20 Boltanski: Rätsel und Komplotte, S.  43. Boltanski bezeichnet diese doppelte Strukturierung der Realität als »Komplottform«, die eine »Enthüllung« einer verborgenen Realität zum Ziel hat (ebd.). Die sozialen Ordnungsstrukturen, Abläufe und Gesetzmäßigkeiten werden im Komplott in ihrer »Fiktionalität« entlarvt; hinter ihnen befindet sich die »realere« Realität der Akteure, Pläne und Verbindungen (ebd.). Im Roman soll sich aber genau diese ontologische Zuschreibung umkehren: Hinter den als real markierten Personen eröffnet sich eine fiktive Welt, die von korrupten Netzwerken und Seilschaften bevölkert wird. 21 Vgl. Monika Fludernik: »Narratologische Probleme des faktualen Erzählens«, in: Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. v. Monika Fludernik, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner, Würzburg: Ergon 2015, S.  115–137. 22  Bidmon und Lubkoll: »Dokufiktionalität in Literatur und Medien – Einleitung«. 23  Die intermediale Montage von Dokumenten in ein Narrativ, das mithilfe von Musik, Interviews, Bildern oder Videoaufnahmen erzählt wird, ist auch im Roman metafiktional thematisch. Die Beschreibung des »Films«, den Emi über den sexuellen Missbrauch minderjähriger Mädchen durch den Investmentbanker »Geoffrey Wasserstein« (dessen reale Vorlage Jeffrey Epstein war) drehte, macht auf die dokufiktionalen Konstruktionsformen von Evidenz aufmerksam. Detailliert werden hier bspw. die Kamerafahrt, die Montage von Fotographien mit Zeitungsschlagzeilen oder die Montage von Interviews in ein übergreifendes Narrativ erzählt (T 144–154). 24 Boltanski: Rätsel und Komplotte, S.  44. 25  »Krimi oder reale Polit-Geschichte? Ilija Trojanow präsentiert ›Doppelte Spur‹«, YouTube, 18. September 2020: https://www.youtube.com/watch?v=2_ AOKVKdL3M (letzter Zugriff am 17. März 2021), 04:35. 26  Ebd., 51:00. 27  Ebd., 47:20. 28  Zur Männlichkeit im film noir vgl. Frank Krutnik: In a Lonely Street. Film Noir, Genre, Masculinity, London und New York: Routledge 1991. 29  Thomas Strässle: Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit, München: Hanser 2019, S.  42. 30  Ebd., S.  43. 31  Ebd., S.  45 32 Horn: Der geheime Krieg, S.  35. 33  Zum Primitivismus-Diskurs vgl. Nicola Gess: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München: Fink 2013. 17  Eva

Anmerkungen | 363

Gertrud Koch: Zwischen Fakt und Fiktion Wiederabdruck eines Beitrags, der zuerst erschienen ist in Conatus und Lebensnot. Schlüsselbegriffe der Medienanthropologie, hg. v. Astrid DeuberMankowsky und Anna Tuschling, Wien und Berlin: Turia + Kant 2017, S.  35–48. 2  Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie, Bd.  5, Leipzig: Dürr 1908, S.  50. 3  Theodor W. Adorno: »Dialektik der Aufklärung: Begriff der Aufklärung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.  3, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S.  46. 4  Le dernier des injustes, Claude Lanzmann (Regie), Frankreich und Österreich, 2013. 5  Vgl. Sylvie Lindeperg, die Lanzmanns Film für seine mangelnde Distanz zu seiner Quelle Murmelstein kritisiert hat: Sylvie Lindeperg: »Entretien avec Sylvie Lindeperg«, in: Le Monde, 12. November 2013. 6  Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit aufgrund eines idealistischen Positivismus, Leipzig: Meiner 1911. 7  Hans Günther Adler: Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen: Mohr 1955, S.  666. 8  Ebd., S.  668. 1 

Chiara Cappelletto: Wer spricht? 1  Dieser

Aufsatz konnte mit Unterstützung des Piero-Martinetti-Departments für Philosophie an der Università degli Studi di Milano im Rahmen des vom Ministerium für Bildung, Universität und Forschung (MIUR) geförderten Projekts »Departments of Excellence 2018–2022« fertiggestellt werden. 2  Karl Kraus: »In dieser großen Zeit«, in: Die Fackel 16.404 (1914), S.  1–20, hier S.  1. Die Herausgeberin der italienischen Ausgabe des Textes, Irene Fantappié (»Una voce dall’alto. Karl Kraus e il disvelamento della Grande Guerra«, in: Karl Kraus: In questa grande epoca, hg. v. Irene Fantappié, Venedig: Marsilio 2018, S.  9–36, hier S.  13) kommentiert den Text folgendermaßen: »Indem sie die Art und Weise, in welcher man über die Welt spricht, standardisieren, verweigern die Massenmedien den einzelnen Individuen den echten Zugang zur Komplexität der Realität. […] Wenn die Sprache keinen Zugang mehr zur Welt gewährleistet, dann kippt das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion.« 3  Vgl. zum allgemeinen Kontext Kapitel 2, »The Broken Contract«, in: George Steiner: Real Presences, London: Faber & Faber 1989. Zu Beckett und Wittgenstein siehe meinen Aufsatz »Beckett e Wittgenstein: Vedere le parole«, in: Quaderni di Acme 97: Tra le lingue e i linguaggi. Cent’anni di Samuel ­Beckett (2007), S.  219–233. 364 | Anmerkungen

Alpar Fendo trug Fragmente aus zwei Texten von Karl Kraus vor, In dieser großen Zeit (1914) und Man frage nicht (1933), und projizierte die Aufnahme in einem zehn Minuten langen Video in Dauerschleife. In diesem Video wurde jeder Schnitt im Original von einem Schnitt im Video und einer Änderung des Kamerawinkels markiert. 5  Daniele Giglioli: Critica della vittima. Un esperimento con l’etica, Mailand: Nottetempo 2014, S.  107 (eigene Übersetzung). 6  Svetlana Boym: The Future of Nostalgia, New York: Basic Books 2001, S.  XIII. 7  Carrie Lambert-Beatty: »Make-Believe: Parafiction and Plausibility«, in: October 129 (2009), S.  51–84. 8  Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S.  353. 9  Vgl. dazu: Naomi Klein: »The year of the fake«, in: The Nation, 26. Januar 2004: https://www.thenation.com/article/year-fake/ (letzter Zugriff am 29. Oktober 2019). 10  The Yes Men [Andy Bichlbaum, Mike Bonanno und Bob Spunkmeyer]: The Yes Men: The True Story of the End of the World Trade Organization, New York: The Disinformation Company 2004, S.  7. 11  Siehe http://0100101110101101.org/nike-ground/ (letzter Zugriff am 29. Ok­ tober 2019). 12  »In brandscapes we produce use-value through our somatic absorption or trying on of the brand.« (Vgl. Maurya Wickstrom: Performing Consumers: Global Capacity and its Theatrical Seductions, New York und London: Routledge 2006, S.  27.) 13  Siehe Roberto Bolaños La Literatura Nazi in América (1996), worin apokryphe Biographien nicht existierender Schrifsteller*innen versammelt sind, oder Sophie Calles Double Game (1999), worin die französische Künstlerin die Photographin Maria Turner nachahmt. Maria Turner ist die Protagonistin des Romans Leviathan von Paul Auster (1992), für den der amerikanische Schriftsteller die Biographie Sophie Calles als Vorlage nahm: »In his 1992 novel Leviathan, Paul Auster thanks me for having authorized him to mingle fact with fiction. And indeed, on pages 60 to 67 of his book, he uses a number of episodes from my life to create a fictive character named Maria, who then leaves me to live out her own story. Intrigued by this double, I decided to turn Paul Auster’s novel into a game and to make my own particular mixture of reality and fiction.« (Sophie Calle: Double Game, London: Violette 1999, S.  1.) 14  Vgl. Vered Maimon: »The Third Citizen: On Models of Criticality in Contemporary Artistic Practices«, in: October 129 (2009), S.  85–112, hier S.  97. Ein solcher Kurzschluss zwischen öffentlicher Funktion, privater Person und kollektivem Interesse ist möglich, denn – wie Habermas schon 1962 schrieb –: »Die durch Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach […]. […] Öffentlichkeit selber [privatisiert sich] im Bewußt4 

Anmerkungen | 365

sein des konsumierenden Publikums […]; ja, Öffentlichkeit wird zur Sphäre der Veröffentlichung privater Lebensgeschichten, sei es, daß die zufälligen Schicksale des sogenannten kleinen Mannes oder die planmäßig aufgebauter Stars Publizität Erlangen, sei es, daß die öffentlich relevanten Entwicklungen und Entscheidungen ins private Kostüm gekleidet und durch Personalisierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Sentimentalität gegenüber Personen und der entsprechende Zynismus gegenüber Institutionen, die sich mit sozialpsychologischer Zwangsläufigkeit daraus ergeben, schränken dann natürlich die Fähigkeit kritischen Räsonnements gegenüber der öffentlichen Gewalt, wo es objektiv noch möglich wäre, subjektiv ein.« (Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt: Suhrkamp, 1990, S.  261  f.) 15  Siehe dazu das mea culpa des Autors von Wir sind nie modern gewesen (frz. Original 1991, auf Deutsch zuerst 2008), Bruno Latour, der zwar selbst kein Repräsentant der historischen Postmoderne ist, aber einer ihrer wichtigsten gegenwärtigen Interpreten. Siehe dazu auch Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, übers. v. Heinz Jatho, Zürich und Berlin: Diaphanes 2007. 16  Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Otto Pfersmann, Graz und Wien: Passagen 1986, besonders Kap.  1. 17  Zur Stützung dieser These vgl. Lucie Olbrechts-Tyteca und Chaim Perelman: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren [Traité de l’argumentation (1958)], hg. v. Joseph Koppermann, übers. v. Freyr R. Warwig in Zusammenarbeit mit Joseph Koppermann, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2004. Dieses kritische Verständnis von Wissen liegt der Idee zugrunde, dass das Wissen den Bürger*innen dient und sie sich wiederum dessen bedienen. Es stellt eine der epistemischen Konzeptionen dar, die für das Abendland charakteristisch gewesen sind. Beispiele dafür sind die Einrichtung des Collège und des Baccalauréat in Frankreich gemäß dem Ziel Napoleons, gute Staatsdiener für die Administrationen und die Professionen auszubilden, sowie die Idee der Frankfurter Schule, der zufolge die Wissenschaft die Emanzipation des Proletariats ermöglichen soll. In die gegenteilige Richtung gingen Humboldt, der die Universität in Berlin auf der Basis des Prinzips gründete, dass das Subjekt des Wissens der Geist sei, und Heidegger in seiner Rektoratsrede an der Universität Freiburg am 27. Mai 1933. 18 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S.  72. 19  Bei Hannah Arendt: »Wahrheit und Politik« (1971), in: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München und Zürich: Piper 1987, S.  4 4– 92, hier S.  58. 20  Siehe Lorraine Daston und Peter Galison: Objectivity, New York: Zone Books, 2010. 21  Siehe Simon Schaffer: »Self Evidence«, in: Critical Inquiry 18.2 (1992), S.  327–362, hier S.  334: »A reliable experiment depended on a competent per366 | Anmerkungen

formance.« Die Evidenz war nämlich konzipiert sowohl »as the result of certain theatrical rituals through which the person of the experimenter was integrated into public performances, and also as the result of the accreditation of experimenters’ stories by the public community of natural philosophy.« (Ebd., S.  329.) 22  Mit ›Enthymem‹ meint man jenen Gedankengang, der auf impliziten, allgemeinen und wahrscheinlichen Prämissen basiert, z. B.: »Er könnte sich irren, weil er ein Mensch ist.« 23  Arendt: »Wahrheit und Politik«, S.  58. 24  Lambert-Beatty: »Make-Believe«, S.  54. 25 Ebd. 26  Robert Brustein: »News Theater«, in: The New York Times Magazine, 16. Juni 1974, S.  7  ff. 27  Ein treffendes Beispiel dafür ist das sogenannte ›Paris-Syndrom‹, mit dem man pathologische Verhaltensstörungen und Formen von Angstzuständen beschreibt, die bei Tourist*innen auftreten, welche Paris besuchen, und das insbesondere bei japanischen Reisenden beobachtet worden ist. Da diese Paris nur von Fotos kennen, fällt es Ihnen schwer, ihre Erwartungshaltung gegenüber der Stadt mit der Realität in Einklang zu bringen. Die Institution, die sich gemeinsam mit der japanischen Botschaft in Paris um sie kümmert, ist die psychiatrische Klinik Sainte Anne, an welcher auch der Psychiater Hiroaki Ota arbeitete, der dem ›Paris-Syndrom‹ in den 1980er Jahren seinen Namen gab. 28  Harry Frankfurt: On Bullshit, Princeton: Princeton UP 2005, S.  54. 29  Dies bezieht sich natürlich auf die Sprechakttheorie John Austins. 30  Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Kathrina Menke und Markus Krist, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S.  84. 31 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S.  65. 32 Butler: Haß spricht, S.  59. 33  The Yes Men: The Yes Men, S.  38. 34 Butler: Haß spricht, S.  118. 35  »post-truth«, in: Oxford English Dictionary, 3. Aufl., Oxford: Oxford UP 2017: oed.com. (letzter Zugriff am 30. Juli 2021) 36  Mit der Parole »Let’s put our hope in education« beendete Paul Boghossian, ein wichtiger Sprachphilosoph analytischer Prägung, den bei der Tagung »Post-truth, Web, Democracy« an der EHESS am 24. Mai 2017 gehaltenen Vortrag »Truth and Authoritarianism«. Die Tagung wurde von Maurizio Ferraris im Rahmen der Initiative Documedialité organisiert, für die er beim Collège d’Etudes Mondiales verantwortlich ist. 37  Für eine Diskussion der Beziehung zwischen Geschichte und Rhetorik siehe: Hayden White: »The Fictions of Factual Representation«, in: ders.: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore: Johns Hopkins UP 1978, S.  121–134. Anmerkungen | 367

Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frank­f urt a. M.: Suhrkamp 2006, S.  293. 39 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.  153. 40  Ebd., S.  159: »Das Klasseninteresse ist die Basis der öffentlichen Meinung.« 41  Vgl. ebd., S.  168. 42  Stephen Colbert im Interview mit A. V. Club: https://tv.avclub.com/stephen-colbert-1798208958 (letzter Zugriff am 07. November 2020). 43  Die Privatisierung der Wahrheit wäre ohne die nach Maurizio Ferraris benannte ›Doku-Medialität‹ undenkbar. Diese ist viral und ihre Charakteristika sind die Insistenz, die Mystifizierung, die Fragmentierung und die Uneindeutigkeit der Informationen, die im Internet kursieren. Vgl. Maurizio Ferraris: Postverità e altri enigmi, Bologna: Mulino 2017, S.  76–78. 44  Siehe Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit: Die Problematisierung der Parrhesia. Sechs Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität von Berkeley  /  Kalifornien, hg. v. James Pearson, übers. v. Mira Köller, Berlin: Merve 1996. 45  Mangels einer besseren Erklärung für ihre Formulierung verteidigte Conway diese, indem sie sie als Krasis aus »additional facts« und »alternative information« beschrieb. Siehe dazu: Olivia Nuzzi: »Kellyanne Conway Is a Star«, Intelligencer 3 (2017): http://nymag.com/daily/intelligencer/2017/03/kellyanne-conway-trumps-first-lady.html (letzter Zugriff am 29. Oktober 2019). 46  Christopher Wylie in: »Cambridge Analytica whistleblower: ›We spent $1m harvesting millions of Facebook profiles‹«, The Guardian, 17. März 2018: https://www.theguardian.com/uk-news/video/2018/mar/17/cambridge-analytica-whistleblower-we-spent-1m-harvesting-millions-of-facebook-profilesvideo (letzter Zugriff am 30. Juli 2021). 47 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S.  29. 48  Christopher Wylie in: »Cambridge Analytica whistleblower«. 49 Siehe dazu Alexander Nix, Chief Executive Officer von Cambridge Analytica, bei der Präsentation des Unternehmens 2016 beim Annual Summit in New York: https://www.youtube.com/watch?v=n8Dd5aVXLCc&ab_ channel=Concordia (letzter Zugriff am 8. Januar 2021). OCEAN ist Akronym für ›openness to experience‹, ›conscientiousness‹, ›extraversion‹, ›agreeableness‹ und ›neuroticism‹. 50  Han Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a. M.: Fischer 2015, S.  21. 51  Diese Frage diskutiert Sloterdijk in Zorn und Zeit. 52  Unter Mitarbeit von Carina Breidenbach und Katharina Simon. 38 Peter

368 | Anmerkungen

Sylvia Sasse und Sandro Zanetti: Was man sagt, ist man selber 1  Eine

kürzere erste Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel »Hate speech: Der Bumerangeffekt« am 22. Mai 2018 auf der Online-Plattform Geschichte der Gegenwart: https://geschichtedergegenwart.ch/hate-speechder-bumerangeffekt/. Da uns das Thema nicht loslässt, bereiten wir zurzeit eine Publikation zum Phänomen der Autoperformanz vor. 2  »Lösch Dich! So organisiert ist der Hate im Netz. Doku über Hater und Trolle«, YouTube, 26. April 2018: https://youtube.com/watch?v=zvKjfWSPI7s (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 3  Renato Beck und Daniel Brönnimann: »Der grösste Internet-Hetzer der Schweiz wohnt in einer Villa in Riehen«, TagesWoche, 10. März 2018: tageswoche.ch/gesellschaft/der-groesste-internet-hetzer-der-schweiz-wohnt-in-einervilla-in-riehen/ (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 4  Patrick Zürcher: »Der Hass im Netz. ›Wenn ein Schiff mit Migranten im Mittelmeer versinkt, dann finde ich das eine gute Nachricht‹«, Interview von Daniel Ryser und Carlos Hanimann, in: WOZ. Die Wochenzeitung 27 (2016): https://woz.ch/-6f26 (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 5  »Studie: Minderheit steuert Hass-Kampagnen im Netz«, DW, 20. Februar 2018: https://dw.com/de/studie-minderheit-steuert-hass-kampagnen-imnetz/a-42667114 (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 6 »Jan Böhmermann gründet seine eigene Troll-Armee gegen Rechts«, VICE, 27. April 2018: https://www.vice.com/de/article/59jvj3/jan-bohmermann-grundet-seine-eigene-troll-armee-gegen-rechts (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 7  Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte [How to do things with Words (1955)], deutsche Bearb. v. Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 21979, S.  150–151. 8  Vgl. ebd., S.  118–125. 9  Vgl. Sylvia Sasse: Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München: Fink 2009. 10  Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Katharina Menke und Markus Krist, Berlin: Berlin Verlag 1998. [Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York: Routledge 1997.] 11 Vgl. zusammenfassend: Michel Foucault: »Subjekt und Macht«, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S.  81–104; sowie Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (1997), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Butler rekapituliert: »›Subjektivation‹ bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht« Anmerkungen | 369

(ebd., S.  8). In Excitable Speech vertieft Butler ihre Auseinandersetzung mit und auch ihre Kritik an Althusser (vgl. Butler: Hass spricht, S.  47–61). 12  Vgl. Michel Foucault: »Qu’est-ce que la critique? [Critique et Aufklärung]«, in: Bulletin de la Société française de Philosophie 84.2 (1990), S.  35–63. 13  Hier und im Folgenden: Louis Althusser: »Ideologie und ideologische Staatsapparate« (1970), in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg und Berlin: VSA 1977, S.  108– 153, hier S.  1 42–143. [»Idéologie et appareils idéologiques d’État (Notes pour une recherche)« (1970), in: ders.: Positions. 1964–1975, Paris: Éditions Sociales 1976, S.  67–125.] 14  ›Interpellation‹ heißt im Französischen nicht nur ›Anrufung‹, sondern auch ›vorübergehende Festnahme‹, insbesondere die polizeiliche Festnahme, die der Feststellung der Personalien dient. 15  Vgl. Althusser: »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, S.  139  f., 146  f. 16  Die Sätze »Das ist evident! Genau so ist es! Das ist wahr!« (ebd., S.  1 41) sind für Althusser untrügliche Kennzeichen dafür, dass Ideologie in einem sehr allgemeinen Sinne am Werk ist. Dabei geht es ihm nicht um konkrete Ideologien, sondern um Ideologie im Singular, verstanden als (notwendige) Repräsentation des imaginären Verhältnisses eines jeden Individuums zu seinen realen Existenzbedingungen (vgl. ebd., S.  133). 17  Althusser zufolge ist ein ideologiefreier Zustand unter Menschen undenkbar. Dabei anerkennt auch Althusser den Umstand, dass die Ideologie (im Singular) leer ist und nur eine »Struktur und Funktionsweise« (ebd., S.  132) kennzeichnet. Struktur und Funktionsweise sind in ihrer Leere allerdings für Althusser gerade die Voraussetzung dafür, dass die Leere strukturell und funktional gefüllt wird durch konkrete Ideologien (im Plural). Hier bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass die Frage, wie die konkreten Ideologien (im Plural) sich realisieren oder gegenseitig bekämpfen, von Althusser nicht diskutiert wird. 18  Vgl. Butler: Hass spricht, S.  51–53. 19  Ebd., S.  23. Das Misslingen des Sprechakts – der ›unglückliche‹ Sprechakt – ist bereits bei Austin permanent Thema. Nur interessierte sich Austin nicht für das subversive Potential misslingender Sprechakte. Ebenso fern lag es Austin, Sprechakte überhaupt – wie Althusser und nach ihm Foucault und Butler – in ihrer subjektprägenden (oder wie im Falle von Hatespeech zersetzenden) Dimension auch nur zu erwägen. Das von Austin gerne erwähnte ›Ja‹ bei der Hochzeit liegt auf einer viel konventionelleren Ebene. 20  Vgl. die Webseite der Gruppe ›Hate Poetry‹: https://hatepoetrydotcom. wordpress.com/eine-seite/ (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 21  Simone O.: Leserbrief zum Spiegel-Artikel »Türkisiert. Warum ich nie zu einer richtigen Deutschen wurde« von Özlem Gezer (4. November 2013), zit. n. der Leserbriefsammlung »Kritiker«, Spiegel, 31. Januar 2017: https://spiegel.de/ spiegel/print/d-149011633.html (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 370 | Anmerkungen

22 

Entscheidend ist selbstverständlich auch hier die Frage nach den involvierten Medien, den Verbreitungskanälen und Zensurmechanismen sowie nach den daran gekoppelten politischen und ökonomischen Interessen, was gesondert zu diskutieren wäre. 23  Jesaja 43,1: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.« 24  Die Selbstcharakterisierung findet bereits statt, bevor eine Beleidigung auf der anderen Seite Folgen zeitigen kann. Abhängig von den involvierten Medien, ihrer Distribution sowie den damit verbundenen Graden an Öffentlichkeit ist die Selbstcharakterisierung mit unterschiedlichen Risiken behaftet. Kaum denkbar aber wäre, dass die Selbstcharakterisierung als solche nicht stattfindet. Die Frage nach dem Wie und seinen Folgen schließt hier an. 25  »Der große radioeins Satire-Show-Talk« zum Thema »Freiheit für Böhmermann« (17. April 2016) mit İdil Baydar als Jilet Ayşe, YouTube, 18. April 2016: https://www.youtube.com/watch?v=LaJdowSYcwo&t=116s (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 26  Vgl. hierzu Katharina Fontana: »SVP-Kader wegen Rassendiskriminierung verurteilt«, NZZ, 15. März 2016: https://www.nzz.ch/schweiz/rassendiskriminierung-urteil-im-fall-des-kosovaren-plakats-ld.7732 (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 27  Vgl. dazu Sylvia Sasse: »›Erniedrigte und Beleidigte‹. Wie sich Täter zu Opfern machen«, Geschichte der Gegenwart, 20. April 2016: https://geschichtedergegenwart.ch/erniedrigte-und-beleidigte-wie-sich-taeter-zu-opfern-machen/ (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 28 Butler: Hass spricht, S.  16. 29  Dass Risiko sich für Hassredner auch als attraktiv erweisen kann, ist bei Entgegnungen auf Hatespeech mit zu berücksichtigen. Die Frage, die sich dann stellt, ist die nach den möglichen Minderungen dieser Attraktivität. 30  Vgl. dazu Sandro Zanetti: »Reportage als Kolportage: Storytelling im Journalismus«, Geschichte der Gegenwart, 24. März 2019: https://geschichtedergegenwart.ch/reportage-als-kolportage/ (letzter Zugriff am 2. Juli 2019). 31  Vgl. Daniel-Pascal Zorn: Logik für Demokraten. Eine Anleitung, Stuttgart: Klett-Cotta 2017. 32  Vgl. Harry Frankfurt: On Bullshit, Princeton: Princeton UP 2005; sowie Philipp Hübl: Bullshit-Resistenz, Berlin: NP&I 2018. 33  Erinnert sei hier daran, dass die Sprechakttheorie geradezu damit angetreten ist, solche Fehlschlüsse – Verwechslung von Sprechakten mit verifizierbaren oder falsifizierbaren Aussagen – offenzulegen und zu vermeiden. Austin hält diesbezüglich trocken fest, »dass viele traditionelle philosophische Schwierigkeiten aus einem Fehler entstanden sind: man hat Äußerungen, die entweder (aus interessanten nicht-grammatischen Gründen) sinnlos sind oder aber etwas ganz anderes als Aussagen oder Feststellungen darstellen sollen, einfach als Feststellungen über Tatsachen aufgefasst« (Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S.  27.). Anmerkungen | 371

Thomas Schestag: Geräuschkulissen Marcus Terentius Varro: De lingua latina / La langue Latine, Livre VI, hg. v. Pierre Flobert, Paris: Les Belles Lettres 1985. Im Folgenden im Text als L. L. zitiert, gefolgt von Buch und Abschnitt (Übersetzung T. S.). 2  »Fatur is qui primum homo significabilem ore mittit vocem« [Wer zum erstenmal aus seinem Mund ein Wort ausstößt, das etwas bedeuten mag, der spricht – fatur –] (L. L. 6,52). –– Die Übersetzung von vox durch Wort, an dieser Stelle, läßt außer acht, daß vox, vors Wort zurück, auch die Stimme (die nicht ausschließlich Worte ausstößt, singt, sagt, wispert) nennt und, offen zum Stimmuntergrund, auch (unbestimmtes) Stimmendurcheinander, Lärm. 3  »Ab eo, antequam ita faciant, pueri dicuntur infantes« [Deshalb heißen Kinder, bevor sie so tun (nämlich solches Sprechen auszuführn imstande sind), infantes] (L. L. 6,52). 4 Homer: Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Hamburg: Rowohlt 1958, S.  140. Anton Weiher übersetzt (1955): Lärmten als sprächen Verzückte; und Johann Heinrich Voß (1781): Mit graunvollem Geschrei. –– Siehe auch Thomas Schestag, Namenlose, Berlin: Matthes & Seitz 2020, S.  148–155. 5  Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache, Band 1/2, Leipzig: F. C. W. Vogel 51857, S.  1403. 6  In der ersten Gesprächspause sieht Protagoras das Ziel der Streitgespräche nicht nur darin, als Sieger aus dem Wortgefecht hervorzugehn, sondern darin, sich einen Namen zu machen: »O Sokrates, sagte er, schon mit vielen Menschen habe ich den Kampf des Redens – agôna lógon – bestanden, hätte ich aber das getan, was du von mir verlangst, nämlich immer auf die Art das Gespräch geführt, wie mein Gegner – antilégon – es mich führen hieß, so würde ich gewiß keinen einzigen überwunden haben und Protagoras würde keinen Namen – ónoma – haben unter den Hellenen« (335 a). Zitate nach Platon: Protagoras, in: ders.: Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977. 7  Protagoras nennt das Gedicht auch Lied: tò âsma (339 b): Gesungenes, Gesang; abgeleitet von dem Verb aeídein: ein Singen, das Menschen und Vögeln, aber auch dem Krähen des Hahns und Sirren der Bogensehne zugesprochen wird. 8  Diese Deutung, hier aufgenommen, legt Jesper Svenbro im dritten Kapitel – »La Poétique de Simonide« – seiner Dissertation La parole et le marbre. Aux origines de la poétique grecque (Lund: Studentlitteratur 1976, S.  141–172, 219–220) vor. Inzwischen ist eine erweiterte Neuauflage dieses Buchs erschienen (Paris: Les Belles Lettres 2021, S.  135–164, 207–208). 9  Svenbro faßt den ins Adverb alathéos verdichteten Anspruch, den Simonides für das Gedicht (nicht nur als Enkomion) erhebt, so zusammen (S.  148 [142]): »le poète est indispensable: sans lui, il est pratiquement impossible de 1 

372 | Anmerkungen

devenir un ›homme exemplaire‹, car il est maître du ›non-oubli‹. Par contre, si l’on est reconnu comme un ›homme exemplaire‹ par la parole du poète, on le devient – alathéos [Unverzichtbarkeit des Dichters: ohne ihn ist es praktisch unmöglich, ein »vortrefflicher Mensch« zu werden, denn er ist Meister des »Nicht-Vergessens«. Erst der durchs Wort des Dichters als »vortrefflich« gepriesene Mensch wird – alathéos]. –– Indem sie zwei tragende, aus der mündlichen Überlieferung homerischer Epen stammende (para-poetologische) Wendungen entlehnen, die Auszeichnung der Sprache zum unsterblichen Gedächtnis – athánatos mnéme –, um unverwelklichen Ruhm – kléos áphthiton – (des Namens) der Besungenen zu singen, fertigen Simonides, Pindar und andere Gedichte zum erstenmal nicht nur gegen materielles Entgelt, sondern zum erstenmal in ihren Namen: Lob- und Siegeslieder – Enkomia und Epinikia –. Das Nomen a-lathéia – Un-vergessen(heit) – aber nennt nicht den Vorgang, durch (verunsterblichendes) An- und Eingedenken ein Gedächtnis – mnéme – zu machen. Das Gedicht bleibt weder als Erinnerungsstück noch -speicher übrig. Un-vergessen bietet nicht, gegen drohendes Vergessen, die Erinnerung an etwas auf, weil alles, was als etwas ins Erinnern eingeht, aus der Erinnerung wiederzukehren, den Willen zur Verortung, Ersetzung, Vernichtung provoziert. Unvergessen bleibt, was an Vergessenes, an Un-erinnerbares im Erinnern rührt. Fühlung mit der Unvergeßlichkeit des Namens nimmt das Gedicht dadurch, wie es den Vorsatz, Namen im Gedicht als Platzhalter ihrer (toten) Träger zu verorten, auflöst; wie Worte im Gedicht ihrer Aufgabe – Auslieferung semantischer Gehalte (im Hinblick auf deren Speicherung, die ihre Vernichtung in Kauf nimmt) – nicht nachkommen. Nur so – anders als so oder so aufgefaßt – fangen sie an, un-vergessen, weil un-erinnerbar, zurück-, übrig zu bleiben. 10  Claude E. Shannon und Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication [1949], Urbana: University of Illinois Press 1963. 11  Claude E. Shannon: »The Mathematical Theory of Communication«, in: The Mathematical Theory of Communication, hg. v. ders. und Warren Weaver, Urbana: University of Illinois Press 1963, S.  3–91, hier S.  5. 12 Ebd. 13  Ebd., S.  3. 14  Warren Weaver: »Some Recent Contributions in the Mathematical Theory of Communication«, in: The Mathematical Theory of Communication, Urbana: University of Illinois Press 1963, S.  93–117, hier S.  99. 15  Shannon: »The Mathematical Theory of Communication«, S.  5. 16  Weaver: »Some Recent Contributions«, S.  98. 17  Shannon: »The Mathematical Theory of Communication«, S.  3. 18  Weaver: »Some Recent Contributions«, S.  99–100. 19  Shannon: »The Mathematical Theory of Communication«, S.  34. 20  Ebd., S.  35. 21  Ebd., S.  43. 22  Ebd., S.  45. Anmerkungen | 373

23  In

seinem Essay »Quelle. Rauschen und Senke der Poesie. Roman Jakobsons Umschrift der Shannonschen Kommunikation«, in: Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften, hg. v. Georg Stanitzek und Wilhelm Voßkamp, Köln: DuMont 2001, S.  187–206, erinnert Erhard Schüttpelz an die Herkunft der mathematischen Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver, die auf eine allgemeine Kommunikations- und Informationstheorie zielt, aus kryptographischen Modellen für Geheimkommunikation »im 2. Weltkrieg und kurz danach«, und analysiert – und diskutiert – die Schwierigkeiten in Roman Jakobsons Versuchen, seit spätestens 1958, die Transkription des linguistischen in ein poetisches Kommunikationsmodell durchzusetzen. Im Zuge dieser Transkriptionsversuche stößt Jakobson nicht nur auf das Gedicht als Krypta – ein sprachliches Gebilde, das auf Überdeterminierung seines semantischen Gehalts durch Einschluß dessen, was Weaver in seiner Schrift The Mathematics of Communication (1949) »semantic noise« nennt, zielt –, sondern durchstößt das Kalkül intendierter semantischer Überdeterminierung in der Verwandlung eines jeden Worts zum zitierten, mit einem andern Wort zum Namen – nämlich Niemandsnamen, der nichts als regellose Teilbarkeit des sprachlichen Segments, das er verkörpert, verdichtet und das Modell poetischer Kommunikation, an dem Jakobson festzuhalten strebt, sprengt. 24  Weaver: »Some Recent Contributions«, S.  93. 25  Ebd., S.  95. 26  Johann Peter Hebel: »Der Preussische Krieg«, in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. v. Adrian Braunbehrens, Gustav Adolf Benrath und Peter Pfaff, Bd.  2: Erzählungen und Aufsätze. Erster Teil, Karlsruhe: C.  F. Müller 1990, S.  90–93. 27  Ebd., S.  90. 28  Ebd., S.  90–91. 29  Johann Peter Hebel: Briefe (der Jahre 1784–1809), hg. v. Wilhelm Zentner, Karlsruhe: C.  F. Müller 1957, S.  397. –– Das Wort WortKrieg hat Hebel in Luthers Übersetzung der Ersten Epistel an Thimotheum (6,3–5) des Paulus finden können. Es übersetzt dort das griechische Nomen logomachía: »So jemand anders leret / vnd bleibet nicht bey den heilsamen worten [hugiaínousi lógois / sanis sermonibus / wholesome words] vnsers HErrn Jhesu Christi / vnd bey der lere von der Gottseligkeit / Der ist verdüstert / vnd weis nichts / Sondern ist seuchtig in Fragen vnd Wortkriegen [logomachías / pugnas verborum / strifes of words] / aus welchen entspringet / Neid / Hadder / Lesterung / böse Argwahn / Schulgezencke / solcher Menschen / die zurütte sinne haben / vnd der warheit beraubt sind / Die da meinen / Gottseligkeit sey ein Gewerbe. Thue dich von solchen«. Eine Stelle in Montaignes Apologie de Raimond Sebond wirft das Echo dieser Warnung. Sie erinnert an die Komplizität zwischen den heilsamen Worten des Messias und dem Wortkrieg, den sie entfachen: »Nostre parler a ses foiblesses et ses defauts, comme tout le reste. La plus part des occasions des troubles du monde sont Grammairiennes. Nos procez ne naissent 374 | Anmerkungen

que du debat de l’interpretation des loix; et la plus part des guerres, de cette impuissance de n’avoir sçeu clairement exprimer les conventions et traictez d’accord des princes. Combien de querelles et combien importantes a produit au monde le doubte du sens de ce syllabe: hoc!« [Unser Sprechen hat, wie alles andere, seine Schwächen und Mängel. Die meisten Anlässe für Wirren in der Welt sind grammatisch. Nur Streit um die Deutung der Gesetze gebiert unsre Gerichtsverhandlungen; und die meisten Kriege rühren von der Unfähigkeit, Vetragsvereinbarungen und -beschlüsse der Prinzen unmißverständlich auszudrücken. Wieviel Streitigkeiten, und von welchem Gewicht, hat in der Welt der Zweifel über die Bedeutung einer einzigen Silbe ausgelöst: hoc!] (Michel de Montaigne: Œuvres complètes, hg. v. Albert Thibaudet und Maurice Rat, Paris: Gallimard 1962, S.  508.) Der Hokuspokus um die Silbe hoc verweist auf Debatten zwischen Katholiken und Protestanten um die Lehre von der Trans­ substantiation, verdichtet in Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Satzes Hoc est corpus meum [Dies ist mein Leib]. 30 Hebel: Sämtliche Schriften, Bd.  2, S.  75. 31 Hebel: Sämtliche Schriften, Bd.  2 , S.  1 25. –– Der Sabbatherweg – techum schabbes – nennt die 2000 Ellen, die ein frommer Jude am Sabbath von zu Hause fortgehn darf. 32  James Joyce: Finnegans Wake [1939], London: Penguin 1999, S.  213. 33  Karl Valentin: »Sonderbarer Appell«, in: ders.: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4 [Dialoge], hg. v. Helmut Bachmaier und Manfred Faust, München: Piper 2007, S.  81–83 und 372. 34  Karl Valentin: »Sprachforscher«, in: ders.: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4 [Dialoge], hg. v. Helmut Bachmaier und Manfred Faust, München: Piper 2007, S.  74–75 und 364–369.

Jocelyn Holland: Fakten sind das, was man daraus macht Zitate aus: Christoph Martin Wieland: Wielands Werke, Bd.  12.1, hg. v. Peter-Henning Haischer und Tina Hartmann, Berlin und New York: de Gruyter 2009, S.  71  f. 2 In A History of the Modern Fact beschäftigt sich Poovey u. a. mit der Verwendung statistischer Tabellen in Großbritannien im 19. Jahrhundert (vgl. Mary Poovey: A History of the Modern Fact: Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago: University of Chicago Press 1998). 3  Vgl. Georg Lauterbeck: Regentenbuch, Wittenberg: Hans Kraffts Erben 1581, S.  1 41: »Da der Trabant das Factum [des Diebstahls; J. H.] leugnet wird er dem gebrauch nach geheissen einen aus den umbstendern zu erwehlen der von seinet wegen die Defension und was seine notturfft des Diebstals halben fürbringen möchte«. 4  »Factum«, in: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaf1  Alle

Anmerkungen | 375

ten und Künste, hg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd.  9, Halle und Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1735, Sp. 65. 5  Einen guten historischen Überblick geben Wilhelm Halbfass und Peter Simons im Artikel »Tatsache«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd.  10, Basel: Schwabe & Co. 1998, Sp. 910–916. 6  Ein Vergleich der beiden Textstellen ist erhellend: Bei Butler heißt es: »For though [unbelievers] may say […] the historical Evidence of Miracles wrought in Attestation of Christianity, is not sufficient to convince them, that such Miracles were really wrought: they cannot deny, that there is such historical Evidence, it being a known matter of Fact, that there is« (Joseph Butler: The Analogy of Religion, Natural and Revealed, London: John and Paul Knapton 1740, S.  398). Die entsprechende Stelle lautet in Spaldings Übersetzung: »Denn wenn sie gleich sagen mögen, der historische Beweis von den Wundern, die zur Bestätigung des Christenthums geschehen seyn sollen, sey nicht zureichend, sie zu überzeugen, daß diese Wunder wirklich geschehen wären, so können sie doch nicht läugnen, daß es einen solchen historischen Beweis giebt, da es eine bekannte Thatsache ist, daß es dergleichen giebt« (Joseph Butler: Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion, übers. v. Johann Joachim Spalding, Leipzig: Weidmann 1756, S.  378). 7 Im Oxford English Dictionary findet man im Eintrag zu matter of fact die folgenden historischen Beispiele: »1583: A. Nowell & W. Day True Rep. Disput. with E. Campion sig. M1v, ›He speaketh of a matter of fact‹; 1605: Bacon Of Advancemen. Learning i. sig. F2v, ›It is either a beleefe of Historie, (as the Lawyers speake, matter of fact:) or else of matter of art and opinion.‹« (Vgl. den Artikel »Matter of fact«, in: The Oxford English Dictionary, Oxford: Oxford University Press 21992.) 8 Butler: Analogy of Religion, S.  167. 9 Butler: Analogy of Religion, S.  169. 10  »Diese Ereignisse«, so schreibt bspw. Herder in »Von der Auferstehung als Glaube«, dem zweiten Teil der ersten Sammlung der Christlichen Schriften (1794), »gehören also in den Gang der Geschichte; ihre Wirkung Theils durch den Eindruck, den sie auf die Gemüther machten, Theils durch das, was als Thatsache aus ihnen folgte, liegt in der gestifteten Religion als Factum aller Welt vor Augen« (Johann Gottfried Herder: »Von der Auferstehung als Glaube, Geschichte und Lehre«, in: Christliche Schriften, Erste Sammlung, Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1794, S.  264). 11  Vgl. den Artikel »Thatsache«, in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 4. Tl., Wien: Bauer 1811, Sp. 567. 12  Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Introductions to the Wissenschaftslehre and Other Writings, 1797–1800, hg. und übers. v. Daniel Breazeale, Indianapolis und Cambridge: Hackett 1994, S.  48  f. 376 | Anmerkungen

Johann Jacob Moser: Reichs-Fama, welche das Merckwürdigste von demjenigen so sich ganz kürtzlich auf dem Reichs-Convent, an dem Kayserlichen und anderen Höfen, auch mit denen übrigen Ständen des heiligen Römischen Reichs zugetragen, Bd.  1, Frankfurt und Leipzig: o. V. 1727, S.  3. 14  Wenn z. B. Pauline Kleingeld das Faktum als »a technical term that designates a particular moment in Kant’s proof structure« beschreibt, stützt sie sich auf ein Argument von Dieter Henrich, das sich seinerseits auf die rechtliche Tradition bezieht (Pauline Kleingeld: »Moral Consciousness and the ›fact of reason‹«, in: Kant’s Critique of Practical Reason: A Critical Guide, hg. v. Andrews Reath und Jens Timmermann, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S.  55–72, hier S.  61). 15 Novalis: Schriften, Bd.  3, hg. v. Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1968. S.  447. 16  Dies entspräche eher der Definition bei Zedler, der das ›Factum‹ als Verlauf einer Handlung versteht. 17 Novalis: Schriften, Bd.  2 , hg. v. Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1981, S.  177. 18  Ebd., S.  345  f. 19  Vgl. Novalis: Schriften, Bd.  3, S.  349. 20 Novalis: Schriften, Bd.  2 , S.  3 45; vgl. auch die entsprechende Stelle in Johann Gottlieb Fichte: »Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre«, in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd.  1, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin: Verlag von Veit und Comp. 1845/1846, S.  329–411, hier S.  342. 21  Vgl. z. B. Owen Ware: »Fichte’s method of moral justification«, in: British Journal for the History of Philosophy 27.6 (2019), S.  1173–1193. 22  Nach Fichte (»Grundriss«, S.  344) ist die »ursprüngliche reine Thätigkeit des Ich« durch die »Anschauung« gesetzt. 23  Novalis schreibt dazu: »Das dem Gefühl Gegebne scheint mir die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu seyn« (Novalis: Schriften, Bd.  1, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S.  114). 24  Vgl. Manfred Frank: Das Problem ›Zeit‹, Paderborn: Schöningh 1990, S.  148; sowie ders. und Gerhard Kurz: »Ordo Inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka«, in: Geist und Zeichen, hg. v. Herbert Anton, Bernhard Gajek und Peter Pfaff, Heidelberg: Winter 1977, S.  75–97. 25  Dass das beobachtete Faktum als Produkt von zwei Aktivitäten (des Setzens und des Negierens) zu verstehen ist, entspricht einer weiteren Definition des Faktums aus dem 18. Jahrhundert, in der dieses als mathematisches Produkt bestimmt wird: »In der Rechenkunst ist das Product, diejenige Zahl, welche entstehet, wenn eine Zahl mit der andern multiplicirt wird, und welche auch das Factum heißt.« (»Product«, in: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch, 3. Tl., Wien: Bauer 1811, Sp. 844). 26  Johann Gottlieb Fichte: »Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre«, in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd.  1, S.  451–518, hier S.  465. Man könnte weiter 13 

Anmerkungen | 377

präzisieren: Die »intellectuelle Anschauung als Factum« ist »nicht unmittelbar, als isolirtes Factum [d]es Bewusstseyns« gegeben, sondern muß ausdifferenziert werden, indem man »unterscheidet was in dem gemeinen Bewusstseyn vereinigt vorkommt, und das Ganze in seine Bestandtheile auflöst« (ebd.). 27  Robert Richards: The Romantic Conception of Life: Science and Philosophy in the Age of Goethe. Chicago: Chicago UP 2002, S.  75. 28 Novalis: Schriften, Bd.  2 , S.  197. Vgl. dazu auch den Artikel »Leiter der Elektricität« in Gehlers Physicalischem Wörterbuch: »Ein vollkommner Leiter würde derjenige seyn, der der Elektricität beym Durchgange durch seine Substanz gar keinen Widerstand entgegensetzte.« (Johann Samuel Traugott Gehler: »Leiter der Elektricität«, in: ders.: Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre, 2. Tl., Leipzig: Schwickert 1789, S.  874–876, hier S.  874.) 29 Novalis: Fichte Studies, übers. u. hg. v. Jane Kneller, Cambridge, MA: Cambridge UP 2003, S.  95. 30  Novalis wählt einen kreativen Zugang zu dem schon von Fichte formulierten Problem, dass das Produkt der Selbstreflexion eine Falsifizierung darstellt, die den Zugang zum ursprünglichen Ich verhindert. Während Fichte dieses Problem vermittels eines Gesetzes der Reflexion verhandelt, das die Erkenntnis eines Sachverhalts durch die gleichzeitige Anerkennung seines Gegenteils bestimmt, vollzieht Novalis eine zweite Negation der Reflexion. Durch eine doppelte Umkehrung, die zunächst die Falschheit oder den ›Scheins‹ der Reflexion anerkennt, sie dann jedoch auf den Kopf stellt, glaubt Novalis, wie Manfred Frank in Das Problem ›Zeit‹ zeigt, dass man sich einem prä-reflexiven Ursprungszustand durchaus annähern könne. Daher fordert er zu einer kontinuierlichen philosophischen Aktivität auf, die, wenn sie den prä-reflexiven Zustand auch nie völlig erreichen kann, zumindest eine Bewegung in Richtung dieses Ziels zulässt. Vgl. Frank: Das Problem ›Zeit‹, S.  130–232. 31  »Alle W[issenschaften] die von Thatsachen etc. ausgehn«, so schreibt Novalis, »gehören zu den Gemischten Wissenschaften – den individuellen W[issenschaften]. Jede Thatsache ist synthetisch – Substantiell« (Novalis: Schriften, Bd.  2, S.  372 [Nr. 600]). 32  »Jedes specifische Factum ist Quell einer bes[onderen] Wissenschaft« (Novalis: Schriften, Bd.  1, S.  597 [Nr. 330]). 33  Vgl. Halbfass  /  Simons: »Tatsache«, Sp. 912. 34 Novalis: Schriften, Bd.  3, S.  391 [Nr. 657]. 35  Friedrich Schlegel: »Fragmente«, in: Athenaeum 1/1 (1798), S.  3–146, hier S.  135 (Nr. 427). 36  Im zweiten Teil des 1798 von August Wilhelm und Friedrich Schlegel veröffentlichten Athenaeum finden sich mehrere – von Friedrich Schlegel verfasste und in dessen späteren Schriften wiederabgedruckte – Aphorismen über das Faktum, u. a. »Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber 378 | Anmerkungen

ein erst angefangenes Faktum, das also nicht in einem System historisch dargestellt, sondern nur durch divinatorische Kritik charakterisirt werden kann« sowie Schlegels Behauptung, die Schönheit sei »nicht bloss eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, nämlich ein ewiges transcendentales« (Friedrich Schlegel: »Fragmente«, S.  7 1 [Nr. 256] u. S.  59–60 [Nr. 221]). 37  Im Ganzen lautet das ›Fragment‹: »Erscheinung ein noch rohes nicht vollständig historisirtes Factum, gehört in die Hist[orische] Φ[Philosophie] nicht in die Tr[anszendental]φ[philosophie].« (Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd.  18, S.  55 [Nr. 452]). 38  Ebd., S.  155 (Nr. 380). 39  Friedrich Schlegel: »Gespräch über die Poesie«, in: Athenaeum 3 (1800), S.  58–128 u. S.  169–187, hier S.  183  f. 40  Wollte man es ganz genau nehmen, so müsste man an dieser Stelle freilich anmerken, dass ihm der Minister Karl August von Hardenberg, ein entfernter Verwandter von Novalis, finanziell unter die Arme griff. 41  Paul Ludwig Simon: »Beschreibung einiger Versuche über das quantitative Verhältniß, worin Volta’s Säule das Oxygen- und Hydrogen-Gas aus dem Wasser darstellt«, in: Annalen der Physik 10 (1802), S.  282. 42  Ebd., S.  282  f. 43  Ebd., S.  283. 44 Ebd. 45 Ebd. 46  Halbfass  /  Simons: »Tatsache«, Sp. 912. 47  Schlegels Behauptung, dass das Christentum ein angefangenes, aber noch nicht abgeschlossenes »Faktum« sei, wäre hierfür ein zusätzliches Beispiel (vgl. Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd.  2, S.  59  f.). 48  Ich danke Sini Elvington für die erste Übersetzung dieses Textes und Edgar Landgraf für seine Korrekturen.

Marc Rölli: Tatsachen und ihre Konstruktion Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd.  5, Berlin und München: De Gruyter und dtv 1993, S.  9–243, hier S.  162  f. 2 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 [1999], S.  337, 345. 3  Vgl. ebd., S.  338. 4  Ebd., S.  345 und 348. 5  Vgl. ebd., S.  346. »Allein Modernisten glauben, daß es nur die Alternative zwischen einem Sartre’schen Agenten und einem trägen Ding dort draußen gibt, etwa einer Wurzel, auf die man sich erbricht.« (Ebd., S.  347.) 1  Vgl.

Anmerkungen | 379

6 

Vgl. ebd., S.  147. ebd., S.  1 44. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der Stoff nur eine Liste von Einträgen im Laborprotokollbuch, besteht in membra disjecta, die noch nicht zu einer Entität gehören – Eigenschaften auf der Suche nach der Substanz, deren Eigenschaften sie sind.« (Ebd.) Vergleiche Louis Pasteur: »Mémoire sur la fermentation appelée lactique«, in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Sciences 45 (1857), S.  913–916. 8 Latour: Hoffnung der Pandora, S.  147. 9  Vgl. ebd., S.  1 48. 10 Ebd. 11  Ebd., S.  150. 12  Ebd., S.  156. 13  Ebd., S.  157. 14  Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft [2005], übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S.  154. 15  Ebd., S.  156. 16  Vgl. ebd., S.  160. 17  Vgl. ebd., S.  166. »Das Soziale kann nicht an die Stelle des winzigsten Polypeptids, des kleinsten Steins, des harmlosesten Elektrons, des zahmsten Pavians treten.« (Ebd., S.  171.) 18  Ebd., S.  183. 19  Ebd., S.  190. 20  Vgl. ebd., S.  150. 21  Vgl. ebd., S.  192. 22  Ebd., S.  194. 23  Ebd., S.  195. 24  Vgl. ebd., S.  198, 200, 203. 25  Vgl. ebd., S.  195. 26  Ebd., S.  199  f. 27  Vgl. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, 2 Bde. [1739– 40], übers. v. Theodor Lipps, hg. v. Reinhard Brandt, Hamburg: Meiner 1989 [im Folgenden als Traktat I, II], hier Traktat I, S.  9. 28  Vgl. ebd., S.  17. 29  Vgl. ebd., S.  11. 30  Vgl. ebd., S.  13 [kursiv im Original]. Wenngleich auch Vorstellungen Reflexionseindrücke hervorrufen können, so ist das kausale Abhängigkeitsverhältnis zwischen einfachen Sinneseindrücken und ähnlichen Vorstellungen, die sie repräsentieren, stets so beschaffen, dass die Eindrücke die entsprechenden Vorstellungen bewirken und nicht umgekehrt. »Um zu erkennen, welcher Art das Abhängigkeitsverhältnis ist, fasse ich die Aufeinanderfolge bei ihrem erstmaligen Vorkommen ins Auge; dabei zeigt mir übereinstimmende Erfahrung, daß immer die einfachen Eindrücke den ihnen entsprechenden Vorstellungen vorangehen, daß niemals beide in umgekehrter Folge auftreten.« (Ebd., S.  14.) 7  Vgl.

380 | Anmerkungen

Vgl. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand [1748], übers. v. Raoul Richter, hg. v. Jens Kulenkampff, Hamburg: Meiner 1993, hier S.  34, 37. 32  Vgl. Hume: Traktat I, S.  31. 33  Siehe dazu weiter unten Abschnitt III. 34  Analoge Schwierigkeiten diskutiert im Hinblick auf einige Grundannahmen des sogenannten logischen Empirismus Willard V.  O. Quine: »Two Dogmas of Empiricism« [1951], in: ders.: From a Logical Point of View, Cambridge / M A: Harvard UP 1953, S.  20–46. 35 Hume: Traktat I, S.  42. 36  Vgl. ebd., S.  98. 37  Vgl. ebd., S.  99. 38  Vgl. ebd., S.  98. 39  Ebd., S.  50  f. (Hervorh. v. Vf.). 40  Hume erläutert an unzähligen Stellen, dass alle Erfahrungsschlüsse Folgen der Gewohnheit und nicht der Vernunft sind. Vgl. Hume: Untersuchung, S.  59  ff. »Kann ein stärkerer Beweis für die erstaunliche Unwissenheit und Schwäche des Verstandes erbracht werden als dieser?« (Ebd., S.  101.) 41  Vgl. John Dewey: Erfahrung und Natur [1925], übers. v. Martin Suhr, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2007, S.  21  ff. 42  Vgl. ebd., S.  25. 43  Vgl. ebd., S.  2 4. 44 Vgl. Marc Rölli: »›Theoretizismus‹ – eine Kritik aus pragmatischer Sicht«, in: Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen, hg. v. Ulrich Bröckling u. a., Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, S.  53–71. 45  »Erfahrung ist ›doppelläufig‹ in dem Sinne, daß sie in ihrer primären Ganzheit keine Trennung zwischen Akt und Material, zwischen Subjekt und Objekt kennt, sondern sie beide in einer unanalysierten Totalität enthält. ›Ding‹ und ›Denken‹, wie James im selben Zusammenhang sagt, sind ein-läufig; sie beziehen sich auf Produkte, die durch Reflexion aus der Primärerfahrung herausgefiltert worden sind.« Dewey: Erfahrung und Natur, S.  25. 46  Vgl. zum Begriff des ›Anti-Representationalism‹: Richard Rorty: Objectivity, Relativism, and Truth. Philosophical Papers, Bd.  1, Cambridge: Cambridge UP 1991, S.  151  ff. 47  Vgl. Dewey: Erfahrung und Natur, S.  25  f. 48  Ebd., S.  26  f. 49  Vgl. ebd., S.  1 47  f. Siehe bereits William James: »A World of Pure Experience« [1904], in: ders.: The Works of William James. Essays in Radical Empiricism, Cambridge / M A und London: Harvard UP 1976, S.  21–44. 50  Das belegt die Vorzugsstellung der geometrischen Methode in der Philosophie des 17. Jahrhunderts. Während die klassische griechische »Wissenschaft […] mit Begriffen von Eigenschaften [operierte], die schon an qualitative Phänomene des Sinns und des Brauches gebunden waren«, »begann die 31 

Anmerkungen | 381

fruchtbare Naturwissenschaft in dem Augenblick, als die Forscher« »die neue Dialektik […] der mathematischen Gleichungen und Funktionen« entwickelten. (Vgl. Dewey: Erfahrung und Natur, S.  253 und 254) 51  Vgl. ebd., S.  31. 52  Vgl. ebd., S.  254. 53  Vgl. ebd., S.  32. 54  Vgl. ebd., S.  21. 55  Vgl. Michael Hampe: »Szientistische und naturalistische Tendenzen im Pragmatismus«, in: Pragmatismus. Philosophie der Zukunft?, hg. v. Andreas Hetzel u. a., Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, S.  121–129. 56  Vgl. Dewey: Erfahrung und Natur, S.  139  f. 57  Vgl. den Schwerpunkt im Journal Phänomenologie 32 (2009): Phänomenologie und Pragmatismus, S.  4–70. 58  Vgl. ebd., S.  167  ff. 59  Ebd., S.  174. 60  Vgl. ebd., S.  136  f., 144. Während die empirischen Dinge laut Dewey Alltagsgegenstände ebenso sind wie Gefühle, Affekte oder Leidenschaften – z. B. werden in der vorneuzeitlichen Physik die Sinnesqualitäten den Objekten selbst zugeschrieben: »Der Körper, in dem der Geschmack ist, das Schmeckbare, findet sich im Feuchten als seinem Stoff […]« (Aristoteles, De Anima, 422 a, in: ders.: Schriften, Bd.  6, übers. v. W. Theiler, bearb. v. H. Seidel, Hamburg 1995) –, sind die Objekte der neuzeitlichen Physik nicht länger ›subjektiv‹ qualifizierte Erfahrungsgegenstände, sondern mathematische Abstraktionen. Die neuzeitliche Position bringt Hobbes zum Ausdruck: »Unter rationeller Erkenntnis vielmehr verstehe ich Berechnung.« Thomas Hobbes: Vom Körper [1655], übers. v. Max Frischeisen-Köhler, Hamburg: Meiner 1967, S.  6. 61  Vgl. Dewey: Erfahrung und Natur, S.  136. 62  Vgl. ebd. 63 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [1783], Hamburg: Meiner 1993, S.  51. 64  Ebd., S.  49. Vgl. Dewey: Erfahrung und Natur, S.  138  f. »Wenn das eigentliche Objekt der Wissenschaft eine mathematisch-mechanische Welt ist (wie die Wissenschaften tatsächlich gezeigt haben) und wenn das Objekt der Wissenschaft die wahre und vollkommene Realität definiert (wie die fortwirkende klassische Tradition behauptete), wie können dann die Objekte der Liebe, der Wertschätzung – ob sensorisch oder ideal – und Hingabe in der wahren Realität enthalten sein?« (Ebd., S.  139.) 65  Ebd., S.  144  f. 66  Vgl. ebd., S.  160. Weitere Probleme der Zurückführung der Erfahrung insgesamt auf Erkenntnis – und zwar auf eine Erkenntnisart, die sekundäre oder abstrakte Momente als ursprüngliche begreift, die die Empirie transzendieren – liegen darin, dass der Realität als solcher die zeitlichen Qualitäten abgesprochen werden (z. B. durch die Verwandlung von Ursachen in nicht382 | Anmerkungen

temporale, rationale Formen), oder auch darin, dass nicht berücksichtigt wird, »daß Denken und Erkennen Geschichten sind«. (Vgl. ebd., S.  152.) 67  Vgl. ebd., S.  1 49. 68  Ebd., S.  142. 69  Vgl. ebd., S.  145  f. 70  Vgl. ebd., S.  1 47. 71  Vgl. ebd., S.  1 48. 72  Vgl. ebd., S.  1 47. 73  Vgl. aber Gilles Deleuze: David Hume [1953], übers. v. Peter Geble und Martin Weinmann, Frankfurt a. M.: Campus 1997, und auch Peter Strawson: Skepticism and Naturalism. Some Varieties, Bristol: Methuen 1985. 74  Vgl. Lee McIntyre: Post-Truth, Cambridge / M A: MIT Press 2018. 75  Vgl. Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S.  140–143.

Dirk Baecker: Was ist noch mal Wirklichkeit? Überarbeiter Wiederabdruck eines zuerst im Merkur 820 (2017), S.  5–12, erschienen Beitrags. Siehe außerdem Dirk Baecker: »Was ist Wirklichkeit?«, in: Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater, hg. v. Boris Nikitin, Carena Schlewitt und Tobias Brenk, Berlin: Theater der Zeit 2014, S.  22–38. 2  Siehe etwa Platon: Phaidon, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd.  2 , hg. v. Ursula Wolf, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994, 99 e  ff. 3 Aristoteles: Die Kategorien. Griechisch / D eutsch, hg. und übers. v. Ingo W. Rath, Stuttgart: Reclam 1998, Kap.  2. 4  Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea, Cambridge, MA: Harvard UP 1936. 5  Dass auch das Verhältnis von Außen und Innen als eine Hierarchie, als eine Rangordnung mit der Konsequenz der Benennung autonomer Teile zu denken sei, ist die These von Herbert A. Simon: »The Architecture of Complexity« in: ders.: The Sciences of the Artificial, Cambridge, MA: MIT Press 31996, S.  183–216. 6  Willard Van Orman Quine: »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders.: Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt a. M.: Ullstein 1979, S.  27–50. 7  Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. 8 Lukrez: Von der Natur. Lateinisch – deutsch, hg. und übers. v. Hermann Diels, Düsseldorf: Artemis & Winkler 1994, Vers 292; und vgl. Serge Pauhaut, 1 

Anmerkungen | 383

Ilya Prigogine, Isabelle Stengers und Michel Serres: Anfänge, übers. v. Heinz Wittenbrink, Berlin: Merve 1991, S.  56  f. 9  Siehe Ernst Kleinert: »Vom Vorrang der Morphismen über die Objekte«, in: ders.: Beiträge zu einer Philosophie der Mathematik, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002, S.  68–86. 10  Siehe zu dieser Begriffsgeschichte Niklas Luhmann: »Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.  1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S.  162–234. 11  Michel de Montaigne: »Apologie für Raymond Sebond«, in: ders.: Essais, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S.  217–300. 12  Nikolaus von Kues: »De coniecturis / Die Mut-Massungen«, in: ders.: Philosophisch-Theologische Schriften, Bd.  2, hg. v. Leo Gabriel, übers. v. Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien: Herder 1982, S.  1–209. 13  Ludwig von Bertalanffy: »Einleitung«, in: Nikolaus von Kues, hg. v. Ludwig von Bertalanffy, München: Georg Müller 1928, S.  5–28; und vgl. Dirk Baecker: »A Note on Ludwig von Bertalanffy and the Form Problem of Life«, in: Systems Research and Behavioral Science 36.1 (2019), S.  322–331. 14  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, B 17; und Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58), Hamburg: Meiner 1983. 15 Aristoteles: Physik. Bücher I(A)–IV(Δ). Griechisch   –   D eutsch, hg. und übers. v. Hans Günter Zekl, Hamburg: Meiner 1987, 191 a; vgl. Johannes Fritsche: »Privation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd.  7, Basel: Schwabe & Co. 1989, S.  1378–1383. 16  Vgl. Anselm Haverkamp: Latenz. Zur Genese des Ästhetischen als historischer Kategorie, Göttingen: Wallstein 2021. 17  Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers. v. Erich Auerbach, Berlin: de Gruyter 2000, S.  121. Dass dies kein Grund für Übermut sei, betont Vico mit dem Hinweis darauf, dass der Wille des Menschen zwar frei sei, aber schwach (S.  78). 18  Ich danke Anselm Haverkamp, E-Mail vom 20. März 2021, für diesen Hinweis. 19  Siehe Tobias Cheung: Organismen: Agenten zwischen Innen- und Außenwelten. 1780–1860, Bielefeld: transcript 2014. 20  Vgl. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, übers. v. Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Nicht zufällig erinnert die Falte an eine mathematische Kategorie. Vgl. auch Simon Duffy: »Deleuze and Mathematics«, in: Virtual Mathematics. The Logic of Difference, hg. v. Simon Duffy, Bolton: Clinamen Press 2006, S.  1–11. 21  Vgl. Dirk Baecker: Intelligenz, künstlich und komplex, Leipzig: Merve, 2019. Mit George Spencer-Brown: »An Introduction to Reductors« (unveröf384 | Anmerkungen

fentlichtes Manuskript, 1992), ist jeder Kalkül manifester Formen zugleich ein Kalkül latenter Drohungen (threats). Nicht umsonst stellt ein reflektierter Naturbegriff auf die Fähigkeit zur Spontaneität ab. 22  Fritz Heider: Ding und Medium, Nachdruck, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005. 23  So zumindest in der lateinischen Übersetzung von Thomas von Aquin. Vgl. Wolfgang Hagen: »Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff«, in: Was ist ein Medium?, hg. v. Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S.  13–29. 24  Niklas Luhmann: »Erkenntnis als Konstruktion«, in: ders.: Die Kontrolle von Intransparenz, Berlin: Suhrkamp 2017, S.  9–29, hier S.  22. 25  Siehe zum »coarse-graining« durch Sprache, Logik und Computer David Krakauer: »The Computational Systems of the World«, in: Bioscience 64.4 (2014), S.  351–354. 26  Niklas Luhmann: »Soziologische Aufklärung«, in: Soziale Welt 18 (1967), S.  1–25 (und anschließend 5 Bände unter diesem Sammeltitel, Opladen: Westdeutscher Verlag 1970, 1975, 1981, 1987, 1990, 1995). 27  Siehe Martin Heidegger: Parmenides, in: ders.: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944, Bd.  54, Frankfurt a. M.: Klostermann 21992, S.  25  f.

Marcus Steinweg: Kunst und Philosophie Paul Valéry: Prinzipien aufgeklärter An-archie, übers. v. Jürgen SchmidtRadefeldt, Berlin: Matthes & Seitz 2019, S.  100. 2 Ebd. 3  Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, § 109, S.  66. 4  Emanuele Coccia: Sinnenleben. Eine Philosophie, übers. v. Caroline Gutberlet, München: Hanser 2020, S.  93. 5  Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Bd.  7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S.  279. 6  Theodor W. Adorno: »Zu Benjamins Gedächtnis«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Vermischte Schriften I, Bd.  20.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S.  169  f. 7  Ebd., S.  169. 1 

Anmerkungen | 385