Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus: Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft 9783110760835, 9783110760682

The position of the evangelical churches in the Third Reich is still viewed in very different ways. This three-part stud

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Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus: Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft
 9783110760835, 9783110760682

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis Band 1
Einleitung: Konzeption und Thesen
Teil 1 Grundlagen
1 Forschungsstand: Narrative der NS-Kirchengeschichtsschreibung
2 Theorie und Methodik
3 Quellen
4 Hinweise zur Lesart der numerischen Daten
5 Datenbank
Teil 2 Personale NS-Typologie
Einführung
1 Qualitative Auswertung: Zehn prototypische NSBiogramme
2 Quantitative Auswertung: Kollektive Häufigkeitsverteilungen
Teil 3 NS-Handlungstypologie
Einführung
A) NS-Konformität
A1) Praktizierte NS-Konformität
I NS-Kooperation
II NS-Engagement
Einleitung
II.1 Politisches NS-Engagement
II.2 Kirchenpolitisches NS-Engagement
II.3 Individuelles NS-Engagement im Rahmen des Pfarramtes
II.3.1 Positive NS-Bezugnahmen
II.3.2 Propagierung von NS-Ideologie part 1
II.3.2 Propagierung von NS-Ideologie part 2
II.3.3 Äußere Formen der kirchlichen NS-Konformität
III Umsetzung von kirchlichen und staatlichen NS-Vorgaben
A2) Innere NS-Konformität: NS-Zustimmung
Teil 3 NS-Handlungstypologie (Fortsetzung)
B) Innerkirchliche NS-Nonkonformität: Selbstbehauptung – Charakteristika des ,Kirchenkampfes‘
C) Politisch-ideologische NS-Nonkonformität
A–C) Positionsänderungen
D) Einschränkungen und Sanktionen
Teil 4 Verzeichnisse
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Pastorenverzeichnis

Citation preview

I

Helge-Fabien Hertz Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus

II

III

Helge-Fabien Hertz

Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus

| Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft

IV

Phil. Diss. Universität Kiel Mit freundlicher Unterstützung der Axel Springer Stiftung, der Stiftung Zeitlehren, der Alumni und Freunde der CAU e.V. sowie der Marius-Böger-Stiftung.

ISBN 978-3-11-076068-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076083-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076139-9 Library of Congress Control Number: 2021947929 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Mit freundlicher Genehmigung der Ev.-Luth. Christus-Kirchengemeinde Wandsbek. Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort

V

Vorwort Vorwort Vorwort Am 27. Januar 2015 erklärte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in seiner Rede: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes.“1 Ausdrücklich warnte der Bundespräsident davor, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu beenden. Gaucks Plädoyer, das viele auch aktuelle Entsprechungen in Politik, Kirchen und Gesellschaft findet, muss im Besonderen für jene gesellschaftlichen Bereiche gelten, die bisher nicht hinreichend ergründet wurden, bei denen noch erheblicher Forschungs- und Vermittlungsbedarf besteht. Hierzu zählen die Kirchen mit einem deutlichen Rückstand gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen:2 Nach jahrzehntelanger Etablierung und Pflege einer Erinnerungskultur, in der die Kirchen zu Widerstandsgruppierungen gegen den Nationalsozialismus stilisiert wurden, ist auch heute noch ein Dietrich Bonhoeffer viel bekannter als ein Ludwig Müller (Reichsbischof der DEK) oder – selbst in Schleswig-Holstein – ein Adalbert Paulsen (Schleswig-Holsteinischer Landesbischof 1933 bis 1945).3 Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als Beitrag zu der von Gauck angesprochenen, historischen Verantwortung der Bundesrepublik.4 Dieser nachzukommen ist gerade in der heutigen Übergangszeit besonders wichtig, die bald keine lebenden Zeitzeugen des NS-Regimes, die als Mahner von dem Grauen berichten könnten, mehr kennen wird, und in der zugleich Bestrebungen zur Revision der Geschichte des Nationalsozialismus vermehrt im öffentlichen Diskurs auftreten und sukzessive gesellschaftsfähiger werden. Vor diesem Hintergrund bedarf es anhaltender Formen der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte sowie des Wachhaltens von Erinnerungen. Schließlich gibt es keine bessere ,Schule der Demokratie‘ als die transparente Auseinandersetzung mit Negativbeispielen insbesondere der jüngeren Historie. Die Gegenwart bezieht ihre Grundorientierungen aus der Vergangenheit und in Abgrenzung zu ihr. https://doi.org/10.1515/9783110760835-202

_____ 1 Gauck, Joachim: Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus [Rede]. URL: https:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundes tag-Gedenken.html (15.1.2021). 2 So auch bei: Gailus 2015, S. 31; speziell zur hamburgischen Landeskirche: Hering 2008, S. 155– 158. 3 Vgl. Hertz 2018, S. 50 [URL: http://www.geschichte-s-h.de/wp-content/uploads/2018/05/Mittei lungen94.pdf]. 4 Es wird keineswegs eine gesamtdeutsche Kollektivschuld vorausgesetzt, ebenso wenig wie der Gedanke einer deutschen ,Erbsünde‘. Trotzdem resultiert aus dem Geschehenen – besser: dem Verübten – eine nicht zu überwindende historische Verantwortung, die zum historischen Erbe der BRD gehört. https://doi.org/10.1515/9783110760835-202

VI

Vorwort

Die Arbeit wurde im Sommersemester 2021 von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet. Ohne die Unterstützung vieler Personen wäre sie nicht zustande gekommen. Diesen möchte ich meinen von Herzen kommenden Dank aussprechen. Als erstes danke ich meinen Doktorvätern Herrn Prof. Dr. Manfred Hanisch und Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hering, die sich beide gleichermaßen fortwährend über die Jahre intensiv für das Projekt eingesetzt haben, die mir in vielen Gesprächen helfend zur Seite standen und mich die ganze Zeit über mit Rat und Tat begleitet und unterstützt haben. Auch danke ich Frau Prof. Dr. Ruth Albrecht (Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte, Universität Hamburg) für die intensive Begleitung der Überarbeitung des Typoskripts für die Drucklegung. Herrn Prof. Dr. Peter Graeff (Soziologie und empirische Sozialforschung, CAU zu Kiel) danke ich für seine vielen gewinnbringenden Anregungen zu den empirisch-sozialstatistischen Teilen der Arbeit in unzähligen gemeinsamen Stunden. Daneben bin ich meiner Familie für ihre fortwährende Unterstützung und ihren stets ermutigenden, tatkräftigen Zuspruch dankbar, insbesondere meiner Mutter, Dorit, für all ihre Unterstützung und ihre vielen kritischen Anmerkungen zum Typoskript, ebenso meinen Freund*innen für ihr Interesse an der Genese des Projekts, Jonas zudem für den EDV-Support. Außerdem möchte ich den vielen Archivar*innen meinen Dank aussprechen, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben im Bundesarchiv Berlin, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Staatsarchiv Hamburg, in Stadtarchiven, Gemeindearchiven, in den Kirchenkreisarchiven; insbesondere jedoch allen Mitarbeiter*innen des Landeskirchlichen Archivs der Nordkirche in Kiel, die sehr hilfsbereit und überaus entgegenkommend waren. Ebenso danke ich den Nachkommen damaliger schleswig-holsteinischer Geistlicher, die mir private Nachlässe und zusammengestellte Informationen zu ihren (Groß-)Vätern zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt ferner den vielen Pastor*innen, die mir bei Recherchen behilflich waren und mir Material zukommen ließen oder mir an Vortragsabenden die Möglichkeit gaben, meine Zwischenergebnisse in den Gemeinden zur Diskussion zu stellen. Das große Interesse, das meinem Forschungsvorhaben von verschiedenen Seiten entgegengebracht wurde, ließ mich zu keinem Zeitpunkt an dem Projekt, dem ich so viel Zeit und Einsatz gewidmet habe, zweifeln. Nicht zuletzt möchte ich der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) danken, die mir durch ein dreijähriges Promotionsstipendium die Realisierung des Projekts erst ermöglichte, ebenso der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, die die Fertigstellung der Arbeit durch eine Abschlussförderung maßgeblich unterstützt hat. Die Drucklegung wurde durch großzügige Zuschüsse der Axel Springer Stiftung, der Stiftung Zeitlehren, der Alumni und Freunde der CAU e.V. sowie der Marius-Böger-Stiftung ermöglicht. Auch dafür danke ich herzlich.

Inhaltsübersicht

VII

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht https://doi.org/10.1515/9783110760835-203 Vorwort | V Band 1: Thesen, Grundlagen und Pastoren EINLEITUNG: KONZEPTION UND THESEN | 1 TEIL 1 GRUNDLAGEN | 37 1 Forschungsstand: Narrative der NS-Kirchengeschichtsschreibung | 39 2 Theorie und Methodik | 61 3 Quellen | 171 4 Hinweise zur Lesart der numerischen Daten | 193 5 Datenbank | 211 TEIL 2 PERSONALE NS-TYPOLOGIE | 213 1 Qualitative Auswertung: Zehn prototypische NS-Biogramme | 219 2 Quantitative Auswertung: Kollektive Häufigkeitsverteilungen | 313 Band 2: NS-Konformität TEIL 3 NS-HANDLUNGSTYPOLOGIE | 393 A) NS-Konformität | 403 A1) Praktizierte NS-Konformität | 404 A2) Innere NS-Konformität: NS-Zustimmung | 1111 Band 3: NS-Nonkonformität B)

Innerkirchliche NS-Nonkonformität: Selbstbehauptung – Charakteristika des ,Kirchenkampfes‘ | 1321 C) Politisch-ideologische NS-Nonkonformität | 1443 C1) Praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität | 1453 C2) Innere politisch-ideologische NS-Nonkonformität: NS-Ablehnung | 1536 A–C) Positionsänderungen | 1631 D) Einschränkungen und Sanktionen | 1645 D1) (Kirchen-)Politisch motivierte Einschränkungen und Sanktionen | 1655 D2) Rassenideologisch motivierte Einschränkungen und Sanktionen | 1692 TEIL 4 VERZEICHNISSE | 1699 Abkürzungsverzeichnis | 1701 Abbildungsverzeichnis | 1705 Quellen- und Literaturverzeichnis | 1723 Pastorenverzeichnis | 1767

VIII

Inhaltsübersicht

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Band 1 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110760835-204 Vorwort | V Inhaltsübersicht | VII Einleitung: Konzeption und Thesen | 1

Teil 1 Grundlagen | 37 1 2

3 4 5

Forschungsstand: Narrative der NS-Kirchengeschichtsschreibung | 39 Theorie und Methodik | 61 2.1 Theorie: Grundannahmen | 63 2.1.1 Sozialtheorie: Individuen vs. Strukturen und Überzeugung vs. Handlungen | 63 2.1.2 Gesellschaftstheorie: Individuen vs. Institutionen und Kollektive | 74 2.1.3 Erkenntnistheorie: Kollektivgeschichte und Handlungstheorie | 81 2.1.4 Geschichtsverständnis und Vermittlungsansatz | 88 2.2 Methodik: Studiendesign | 91 2.2.1 Kollektivbiografie | 92 2.2.2 Typologisierungen | 93 2.2.2.1 Erstellung der personalen NS-Typologie und Klassifikationspraxis | 93 2.2.2.2 Erstellung der NS-Handlungstypologie | 106 2.2.3 Untersuchung der NS-Überzeugung | 111 2.2.3.1 Generierung und Validierung von NS-ÜberzeugungsIndikatoren | 116 2.2.3.2 Modell zur Messung der NS-Überzeugung | 129 2.2.4 Auswertungen | 149 2.2.4.1 Auswertung der personalen Typologie | 149 2.2.4.2 Auswertung der Handlungstypologie | 153 2.2.5 Methodologische Reflexion | 160 Quellen | 171 Hinweise zur Lesart der numerischen Daten | 193 Datenbank | 211

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Teil 2 Personale NS-Typologie | 213 1

2

Qualitative Auswertung: Zehn prototypische NS-Biogramme | 219 I NS-Konsens: Zuneigung/Kollaboration | 223 (1) NS-Aktivismus: Zuneigung und radikales Engagement – BOYE GEHRCKENS | 225 (2) NS-Solidarität: Zuneigung/aktive Zusammenarbeit – ADOLPH PLATH | 236 II NS-Konsens bei innerkirchlicher Autonomiebestrebung | 241 (3) NS-Aktivismus und Selbstbehauptung – WALTER RUSTMEIER | 243 (4) NS-Solidarität und Selbstbehauptung – KURT LUCHT | 251 III Konsensfreie innerkirchliche Autonomiebestrebung | 255 (5) Selbstbehauptung – HARALD TORP | 256 IV Zwischen Konsens und Dissens: Politisch-ideologische Ambivalenzen | 258 (6) Synchrone und diachrone Mischformen – PETER HÖHNKE | 262 V NS-Dissens: Abneigung/Opposition | 268 (7) Resistenz: Abneigung/moderate Opposition – HEINRICH PETERSEN | 272 (8) Widerstand: Abneigung und Fundamentalopposition – FRIEDRICH SLOTTY | 279 VI Weitere Positionierungsformen | 295 (9) Opfer – ERNST GLOYER | 298 (10) Nicht zuordenbar – JOHANN BLODAU | 309 Quantitative Auswertung: Kollektive Häufigkeitsverteilungen | 313 2.1 NS-Positionierungsformen | 314 2.2 Klassifikations-Chiffren | 336 2.3 NS-Überzeugung und Überzeugungshandeln | 346 2.4 Kirchenpolitische Zugehörigkeit und Generationalität | 363

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Band 2 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110760835-208 Teil 3 NS-Handlungstypologie | 393 A) NS-Konformität | 403 A1) Praktizierte NS-Konformität | 404 I NS-Kooperation | 406 I.1 Politische NS-Kooperation | 407 (1) NSDAP-Mitgliedschaft | 416 (2) SA-Mitgliedschaft | 425 (3) SS-Mitgliedschaft | 433 (4) Mitgliedschaft in anderen NS-Organisationen und Verbänden | 435 (5) Mitgliedschaft in antisemitischen und antidemokratischen Nicht-NS-Organisationen | 438 I.2 Kirchenpolitische NS-Kooperation | 440 (6) DC-Mitgliedschaft | 441 (7) Mitgliedschaft in der Deutschkirche | 454 (8) Mitgliedschaft im Eisenacher ,EntjudungsInstitut‘ | 457 II NS-Engagement | 460 (9) NS-Engagement vor 1933 | 464 II.1 Politisches NS-Engagement | 476 (10) NSDAP-Ämter, Staatsämter/Aufgaben | 481 (11) NSDAP-Tätigkeit | 485 (12) SA-Ämter/-Ränge | 496 (13) SA-Tätigkeit | 498 (14) SS-Ämter/-Ränge | 507 (15) SS-Tätigkeit | 508 (16) Ämter/Ränge in anderen NS-Organisationen und Verbänden | 512 (17) Tätigkeit in anderen NS-Organisationen und Verbänden | 515 (18) Ämter in antisemitischen/antidemokratischen Nicht-NS-Organisationen | 522 (19) Tätigkeit in antisemitischen/antidemokratischen Nicht-NS-Organisationen | 524 (20) Denunziationen | 530 II.2 Kirchenpolitisches NS-Engagement | 534 (21) DC-Ämter | 543 (22) DC-Tätigkeit | 545 (23) Tätigkeit für die Deutschkirche | 555

IX

X

Inhaltsverzeichnis

(24) Tätigkeit für das Eisenacher ,Entjudungs-Institut‘ | 560 (25) Eintreten für die Neuausrichtung der Kirchen nach dem NS-Staat | 562 (26) Ausgleichsbestrebungen: Eintreten für die Mitte | 574 II.3 Individuelles NS-Engagement im Rahmen des Pfarramtes | 582 II.3.1 Positive NS-Bezugnahmen | 587 (27) Mündliche Lobpreisungen Hitlers und Einschwörung auf den NS-Staat | 589 (28) Schriftliche Lobpreisungen Hitlers und Einschwörung auf den NS-Staat | 634 (29) Proaktive NS-Zitationen | 655 (30) Defensiv-reaktive NS-Zitationen | 666 II.3.2 Propagierung von NS-Ideologie | 680 (31) Nationalprotestantismus | 685 (32) Nationalismus | 705 (33) Homogene Volksgemeinschaft, Antiliberalismus und Führerprinzip | 719 (34) NS-Arbeitsideologie | 742 (35) Germanismus | 754 (36) Heroismus und Männlichkeits-Ethos | 769 (37) Bellizismus | 782 (38) Verurteilung der Weimarer Republik | 817 (39) Antikommunismus | 846 (40) Antijudaismus | 867 (41) Christlicher Antisemitismus | 895 (42) Rassismus und rassistischer Antisemitismus | 919 (43) Rassismus bei betontem Glaubensprimat | 959 (44) Lebensraumideologie | 976 (45) Eugenik und ,Euthanasie‘ | 980 (46) Sozialdarwinismus | 995 (47) Weitere NS-ideologische Bezugnahmen | 1005 II.3.3 Äußere Formen der kirchlichen NS-Konformität | 1017 (48) NS-Gottesdienste | 1020 (49) NS-Formationen im Gottesdienst und bei kirchlichen Veranstaltungen | 1037 (50) Übernahme von NS-Symbolen | 1049 (51) NS-Personalpolitik kirchlicher Funktionsträger | 1059 III Umsetzung von kirchlichen und staatlichen NS-Vorgaben | 1069 (52) Ausstellung von ,Ariernachweisen‘ | 1071 (53) NS-Kirchenbeflaggung | 1083 (54) ,Volk und Führer‘ im Kirchengebet | 1090

Inhaltsverzeichnis

(55) Vereidigung auf Adolf Hitler | 1100 (56) Reglementierte Anwendung des Hitlergrußes | 1104 A2) Innere NS-Konformität: NS-Zustimmung | 1111 I Weiche Zustimmungsindikatoren | 1115 (57) Unvollständige theologische Ausbildung | 1117 (58) Landeskirchliche Beförderungen und Ämterübertragungen 1933–1945 | 1130 (59) Übertragene NS-Ämter und Aufgaben | 1137 (60) Freiwillige Meldung zum Militär 1933–1945 | 1142 (61) Karriere in der Wehrmacht | 1147 (62) Nach Kriegsende zur Entlassung vorgesehen | 1155 (63) Ideologisches NS-Engagement vor 1933 | 1159 (64) NSDAP-Mitgliedschaft 1933–1945 | 1164 (65) Denunziationen | 1175 (66) Radikal NS-konforme Führung des Pfarramtes | 1177 (67) Hitlergruß im innerkirchlichen Schriftverkehr | 1185 (68) Bejahung von NS-Ideologie | 1192 (69) [NS-Kindernamensgebung 1930–1945] | 1213 II Starke Zustimmungsindikatoren | 1217 (70) NSDAP-Mitgliedschaft vor dem 30.1. oder nach dem 1.5.1933 bis 1945 | 1221 (71) Andere NS-Beitritte vor dem 30.1.1933 | 1225 (72) Parteipolitisches und/oder propagandistisches NSEngagement vor 1933 | 1228 (73) Radikale politische NS-Kooperation in der NSDAP bis 1945, SA, SS | 1232 (74) Mitgliedschaft in und/oder Engagement für die Deutschkirche | 1240 (75) Radikales DC-Engagement | 1243 (76) Radikales politisches NS-Engagement | 1247 (77) Anwesenheit bei Reichsparteitagen der NSDAP in Nürnberg | 1253 (78) Bekundete NS-Zustimmung | 1255 (79) Bescheinigte NS-Zustimmung | 1282 (80) Entnazifizierungskategorie I bis IV | 1296 (81) NS-bezogene Sanktionen nach Kriegsende | 1302

XI

Inhaltsverzeichnis

IX

Inhaltsverzeichnis Band 3 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110760835-212 Teil 3 NS-Handlungstypologie (Fortsetzung) | 1319 B) Innerkirchliche NS-Nonkonformität: Selbstbehauptung – Charakteristika des ,Kirchenkampfes‘ | 1321 I BK-internes Wirken – Vorbedingungen des ,Kirchenkampfes‘ | 1329 (82) BK-Mitgliedschaft | 1329 (83) BK-Ämter | 1330 (84) BK-Tätigkeit | 1331 II Eintreten gegen die kirchliche Selbstgleichschaltung durch die DC – ,Kirchenkampf‘ der BK im engeren Sinn | 1340 (85) Verweigerung und Kritik gegenüber DC-beherrschten kirchlichen Organen und Funktionsträgern | 1343 (86) BK-konforme Einflussnahmen auf die kirchliche Personalgestaltung | 1362 (87) Eintreten gegen die Organisation ,Deutsche Christen‘ | 1370 III Innerkirchliche Verteidigung der Institution Kirche gegen Angriffe und Einflussnahmen von außen – ,Kirchenkampf‘ im weiteren Sinn | 1376 (88) Eintreten gegen Deutschkirche und Neuheidentum | 1378 (89) Eintreten für die Wahrung der kirchlichen Unabhängigkeit vom NS-Staat | 1409 (90) Verweigerungen kirchenbezogener NS-Vorgaben | 1430 C) Politisch-ideologische NS-Nonkonformität | 1443 C1) Praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität | 1453 (91) NS-Gegnerschaft vor 1933 | 1458 I Gesellschaftspolitische Verweigerungen | 1462 (92) Private Verweigerungen gesellschaftspolitischer NS-Vorgaben | 1464 (93) Öffentliche Verweigerungen gesellschaftspolitischer NS-Vorgaben | 1466 II Protest gegen kirchenfeindliche NS-Elemente | 1472 (94) Protest gegen die Kirchenfeindlichkeit einzelner NS-Funktionäre | 1475 (95) Protest gegen kirchenfeindliche NS-Strömungen und NS-Maßnahmen | 1481 (96) Freiwilliger NS-Austritt | 1494 III Nichtkirchenbezogene Kritik an NS-Führung und NS-Ideologie | 1497 (97) Kritik an NS-Führung und NS-Politik | 1500

X

Inhaltsverzeichnis

(98) Eintreten gegen Judenfeindlichkeit und Rassismus | 1506 (99) Eintreten gegen Eugenik und ,Euthanasie‘ | 1522 (100) Eintreten gegen Sozialdarwinismus | 1524 (101) Eintreten gegen Militarismus und Krieg | 1525 (102) Weitere NS-nonkonforme Handlungen | 1530 C2) Innere politisch-ideologische NS-Nonkonformität: NS-Ablehnung | 1536 I Weiche Ablehnungsindikatoren | 1543 (103) Konflikt mit NS-Instanzen | 1544 (104) Parteiausschluss | 1559 (105) Versetzung und/oder Beurlaubung 1933–1945 | 1569 (106) Ablehnung von NS-Ideologemen | 1577 (107) Bekundete partielle NS-Distanz 1930–1945 | 1582 (108) Nichtverwendung des Hitlergrußes im innerkirchlichen Schriftverkehr | 1592 II Starke Ablehnungsindikatoren | 1596 (109) NS-staatliche Strafen | 1600 (110) Entlassung aus Amt/Dienst 1933–1945 | 1603 (111) Freiwilliger NS-Austritt | 1607 (112) Radikale praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität | 1611 (113) Bekundete NS-Ablehnung 1930–1945 | 1616 (114) Bescheinigte NS-Ablehnung 1930–1945 | 1620 A–C) Positionsänderungen | 1631 (115) NS-konforme Positionierungsänderung | 1636 (116) NS-nonkonforme Positionierungsänderung | 1638 D) Einschränkungen und Sanktionen | 1645 D1) (Kirchen-)Politisch motivierte Einschränkungen und Sanktionen | 1655 I NS-staatliche/parteiliche Einschränkungen und Sanktionen | 1655 (117) Moderate NS-staatliche/parteiliche Einschränkungen und Sanktionen | 1659 (118) Erhebliche NS-staatliche Sanktionen | 1667 II Landeskirchliche Einschränkungen und Sanktionen | 1672 (119) Moderate landeskirchliche Einschränkungen und Sanktionen | 1677 (120) Erhebliche landeskirchliche Sanktionen | 1686 D2) Rassenideologisch motivierte Einschränkungen und Sanktionen | 1692 (121) Rassenideologisch bedingte Einschränkungen | 1692 (122) Erhebliche rassenideologisch bedingte Sanktionen | 1693

Inhaltsverzeichnis

Teil 4 Verzeichnisse | 1699 Abkürzungsverzeichnis | 1701 Abbildungsverzeichnis | 1705 Quellen- und Literaturverzeichnis | 1723 Pastorenverzeichnis | 1767

XI

Einleitung: Konzeption und Thesen

1

Einleitung: Konzeption und Thesen https://doi.org/10.1515/9783110760835-001

Einleitung: Konzeption und Thesen

Einleitung: Konzeption und Thesen

Die Stellung der evangelischen Kirchen im ,Dritten Reich‘ wird bis heute sehr kontrovers diskutiert. Aufgrund der disparaten Forschungslage wird in der vorliegenden Studie bundesweit erstmals die Positionierung der gesamten Pastorenschaft einer Landeskirche zum Nationalsozialismus untersucht: Wie stellten sich die 1933 bis 1945 in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins wirkenden insgesamt 729 Pastoren zum NS(-Staat)?1 Der Untersuchungszeitraum für diese Personengruppe umfasst die Jahre 1930 bis 1945,2 wobei die Zeit bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges quellenmäßig besser abgedeckt ist als die nachfolgenden Jahre, da ein Großteil der Pastoren Kriegsdienst leistete. Der damit am Fallbeispiel Schleswig-Holsteins in den Fokus gerückten Verbindung von Kirche und Staat, Christentum und Nationalsozialismus liegt zugrunde, dass „unter Kirche nicht ein abgeschlossenes und selbstreferenzielles System, sondern eine mächtige gesellschaftliche und mentalitätsbildende Institution verstanden wird, die sich aktiv und wirkungsvoll in gesellschaftliche, politische und kulturelle Prozesse einbrachte.“3 Zur Bestimmung der NS-Positionierung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft des ,Dritten Reichs‘ werden alle zugehörigen 729 Personen hinsichtlich ihrer Stellung zum NS(-Staat) klassifiziert. Anschließend wird zur Präzisierung das NSbezogene Handeln der Untersuchungsgruppe ausgeleuchtet, NS-konformes ebenso wie NS-nonkonformes Handeln und passives Behandeltwerden. Auf diese Weise soll anhand des schleswig-holsteinischen Fallbeispiels erstmalig ein empirisch fundierter, umfassender und differenzierter Einblick in die Wirkungsweisen und Einstellungsformen der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ ermöglicht werden. Aus der Kombination von Vollerhebung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft (große Untersuchungsgruppe) und Volluntersuchung ihres NS-bezogenen Handelns (großes Untersuchungsfeld) resultiert der Umfang der Arbeit. Sie erscheint ungekürzt, um das breite und differenzierte empirische, nicht zuletzt auch

_____ 1 Aufgenommen wurden alle im ,Dritten Reich‘ für die Landeskirche tätigen Pastoren mit Ordination vor dem 8. Mai 1945 einschließlich Vikare, Hilfsgeistliche und Marinepfarrer, zumeist mit späterem ordentlichem Pfarramt innerhalb der Landeskirche. Ausgeschlossen wurden lediglich einige wenige Pastoren, deren primäres Wirken eindeutig anderen Landeskirchen oder Ländern zuzuordnen war, u.a. Erwin Balzer (NS-Aktivist): 20.7.1930 Pastor auf Helgoland; 5.11.1933 Pastor in Hamburg-Othmarschen; 1.6.1934 bis 1945 Bischof für Lübeck (vgl. Hammer 1994). 2 Um die letzten Jahre der Weimarer Zeit berücksichtigen zu können, wurde der 1. Januar 1930 als Startzeitpunkt festgelegt; das Ende markiert der 8. Mai 1945. NS-relevante Informationen die Jahre vor 1930 betreffend wurden nicht systematisch erhoben, jedoch als ,Zufallsfunde‘ ebenfalls aufgenommen. 3 Buss 2011, S. 479. https://doi.org/10.1515/9783110760835-001

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Einleitung: Konzeption und Thesen

lokalgeschichtlich relevante Fundament, auf dem die Ergebnisse basieren, bereitzustellen. Zugleich trägt die Aufschlüsselung des NS-bezogenen Handelns der Pastorenschaft einer Landeskirche in ihrer vollumfänglichen Systematisierung über Schleswig-Holstein hinausweisenden, enzyklopädischen Charakter. Hierin versteht sich die Arbeit als inhaltliche und methodisch innovative Grundlagenforschung: Eine vergleichbare Studie liegt bislang weder für eine der ehemaligen Landeskirchen Deutschlands noch andere, nichtkirchliche Kollektive der NS-Zeit vor. Nachfolgend wird zunächst die dreibändige Konzeption der Veröffentlichung erläutert. Anschließend folgt die Präsentation der Ergebnisse der Studie, gebündelt zu sechs Thesen. Die Einleitung schließt mit der Skizzierung weiterführender Forschungsdesiderate. Diese Arbeit besteht aus drei zusammengehörigen Bänden. Band 1 stellt zunächst die Grundlagen der Studie bereit (Teil 1). Nach einer Zusammenfassung des Forschungsstandes wird das geschichtstheoretische sowie methodische Fundament offengelegt, um den Weg zu den Ergebnissen transparent zu machen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den theoretischen Prämissen, der Erstellung sowie der Auswertungsmethodik der personalen NS-Typologie, der NS-Handlungstypologie und des Modells zur Messung der inneren NS-Einstellung. Diese drei auf einer breiten Datengrundlage eigens entwickelten Produkte dürften als gewinnbringende Forschungsinstrumente direkt auf andere (kirchliche) Kollektive bzw. Landeskirchen übertragbar sein. Nach anschließender Darlegung und Reflexion der Quellenbasis der Arbeit werden Hinweise zum Verständnis der numerischen Daten gegeben, da Quantifizierungen wesentlicher Bestandteil der Auswertung der Typologien sind. Teil 1 endet mit Informationen zur alle Rohdaten umfassenden Datenbank. Teile der Datenbank sollen als forschungsbasierte Webseite veröffentlicht werden, um so ein individualbiografisches Recherche- und Forschungstool zu all den im Rahmen dieser Arbeit behandelten Pastoren im Netz bereitzustellen. Nach der Darlegung der Grundlagen dieser Arbeit erfolgt die Darstellung der Ergebnisse in Form der Auswertung der personalen NS-Typologie einschließlich Überzeugungs-Mess-Modell (Teil 2). Die erste, personale Typologie umfasst zehn Positionierungsformen zum Nationalsozialismus, strukturiert in sechs übergeordnete Gruppen. Auf dieser Grundlage konnten alle 729 Geistlichen klassifiziert werden. Die Typologie wird zum einen qualitativ in Form der Vorstellung eines für die jeweilige Positionierungsform exemplarischen Pastors ausgewertet. Daran anschließend erfolgt zum anderen die quantitative Auswertung der kollektiven Verteilung der Untersuchungsgruppe, die Band 1 beschließt. Es folgt die Auswertung der NS-Handlungstypologie (Teil 3) in den Bänden 2 und 3. Die Handlungstypologie konstituiert sich auf der untersten hierarchischen Ebene aus 122 überindividuellen NS-bezogenen Handlungseinheiten, den Handlungstypen. Diese strukturieren das weite Handlungsfeld und machen einzelne Handlungsweisen zählbar: Sie konnten von den Geistlichen auf unterschiedliche

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Art und Weise aktualisiert werden oder auch nicht. Die Typen wurden in einem weiteren Schritt untereinander systematisiert, sodass eine komplexe, mehrdimensionale Typologie des NS-Handelns entstand. Die Typen sowie die übergeordneten Typologie-Ebenen werden nacheinander sowohl qualitativ (individuelle Aktualisierungsvarianten, historische Rahmenbedingungen, Forschungsstand usw.) als auch quantitativ (absolute Aktualisierungsanzahlen, relative Anteile, Gewichtungen) ausgeleuchtet. In Band 2 erfolgt die Auswertung der 81 NS-konformen Handlungstypen. In Band 3 werden daran anschließend die übrigen 41 NS-nonkonformen Handlungstypen einschließlich erfahrener Einschränkungen und Sanktionen behandelt. Der Band und damit das Gesamtwerk enden mit einer Zusammenstellung verschiedener Verzeichnisse (Teil 4): Abbildungs-, Quellen- und Literatur-, Abkürzungs- und Pastorenverzeichnis. Auf drei weitere Aspekte der Konzeption sei hingewiesen. Erstens: die verwendete Nomenklatur. An zwei entscheidenden Stellen wird von traditionellen Gliederungsarten abgewichen, nämlich bei den beiden Typologien. Teil 2, Kapitel 1 ist nach der Struktur der personalen NS-Typologie aufgebaut, ebenso wie Teil 3 nach der NS-Handlungstypologie gestaltet ist. Hierauf wird in Teil 1 ausführlich eingegangen. Bei beiden Typologien wird auf der untersten hierarchischen Basisebene, d.h. die zehn personalen NS-Positionierungsformen (Teil 2) bzw. die 122 Handlungstypen (Teil 3) betreffend, arabisch durchgezählt: (1) bis (10) bzw. (1) bis (122). Hierarchisch darüber liegende Ebenen werden bei beiden Typologien mit römischen Ziffern durchnummeriert, wobei Unterebenen, sofern vorhanden, mit arabischer Zählweise abgestuft werden. Bei der Handlungstypologie (Teil 3) kommt eine weitere Besonderheit hinzu: Die Kategorien auf der obersten hierarchischen Ebene tragen lateinische Buchstaben (A, B, C usw.), Subkategorien werden, sofern vorhanden, numerisch untergliedert (A1, A2 usw.). Die Zahlen und Buchstaben der TypologieEbenen tragen nicht nur deskriptiven Charakter, sondern sind im Rahmen der Auswertung (Teil 2, Teil 3) auch von hoher funktionaler Relevanz. Sie werden der Einheitlichkeit halber im Inhaltsverzeichnis beibehalten, wodurch die Struktur beider Typologien diesem direkt zu entnehmen ist. Zweitens: Die Auswertungen der personalen Typologie (Teil 2 in Band 1), insbesondere jedoch der Handlungstypologie (Teil 3 in den Bänden 2 und 3) enthalten zahlreiche Zusammenfassungen, die sich zumeist am Ende von (Unter-)Kapiteln, mitunter auch längeren Unterunter(…)kapiteln finden. Sie beziehen sich auf entsprechend unterschiedlich weit gefasste Abschnitte. Die letzte, Teil 3 beschließende Zusammenfassung, komprimiert die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Drittens: Die drei Bände sind nach thematischen Gesichtspunkten zugeschnitten. Sie verfolgen nicht den Anspruch, das Typoskript möglichst paritätisch aufzuteilen. Dass Band 2 (NS-konformes Handeln) sehr viel seitenstärker ausfällt als Band 3 (NS-nonkonformes Handeln, Einschränkungen und Sanktionen, Verzeichnisse), liefert einen ersten Hinweis auf die Verteilung des NS-bezogenen Handelns der Geistlichkeit.

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Diese Pionierstudie liefert am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel bundesweit erstmals eine empirisch abgesicherte, vollumfängliche und zugleich sehr differenzierte Grundlage für eine Bestimmung der Positionierung der damaligen evangelischen Geistlichkeit zum NS(-Staat). Bevor diese in den Teilen 1 bis 3 detailliert entfaltet wird, seien sechs Thesen als inhaltliche Quintessenz vorangestellt. 1) Heterogenität. Positionierungsvielfalt und Verhaltensspektrum: Die Pastorenschaft des ,Dritten Reichs‘ deckte ein breites Spektrum an Positionierungen zum NS(-Staat) ab, das sich sowohl in den personalen Gesamtbildern als auch in den kollektiven Handlungsweisen manifestierte. Am Beispiel aller 1933 bis 1945 (zumindest zeitweise) in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins wirkenden 729 Pastoren wurde die evangelische Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ als ausgesprochen heterogenes Kollektiv greifbar. Dies überrascht nicht: Die Pastorenschaft konstituierte sich aus zahlreichen Individuen, die notwendigerweise stets in ein einzigartiges Verhältnis zum NS(-Staat) traten. Dass diese Tatsache hiermit besonders betont wird, ist zum einen dem Anspruch geschuldet, den einzelnen Personen bestmöglich gerecht zu werden. Zum anderen ist dies darauf zurückzuführen, dass die NS-Kirchengeschichtsschreibung bis heute durch die Koexistenz ganz unterschiedlicher Narrative gekennzeichnet ist, die oftmals als allgemeingültige oder doch zumindest eindeutig dominierende Master-Narrative implizit oder explizit zugrunde lagen und liegen. Dieses sind das ,Kirchenkampf‘-Narrativ mit der Einordnung der BK als Widerstandsgruppierung, das Nazifizierungs-/Schuld-Narrativ, das Passivitäts- und Unvereinbarkeitsnarrativ, das Widerstandsnarrativ (nicht auf die BK beschränkt) sowie das OpferNarrativ. In der vorliegenden Arbeit wurden die NS-Positionierung der Geistlichen, ihre Einstellungen, ihr öffentlich(keitswirksam)es Handeln und ihr Behandeltwerden, ganzheitlich zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Dadurch konnte eine konzeptionell einseitige Fokussierung auf einen der mit den Narrativen benannten NSrelevanten Bereiche vermieden werden. Auf der Grundlage des gewählten Studiendesigns wurde erkennbar: Alle fünf, oftmals verallgemeinert auftretenden Narrative haben prinzipiell ihre Berechtigung – allerdings nur in der Kombination mit den anderen. Es gab ,Kirchenkämpfer‘ der ,Bekennenden Kirche‘, die auch Widerstand gegen den NS(-Staat) leisteten. Es gab Pastoren, für die Christentum und Nationalsozialismus unvereinbar waren. Es gab nazifizierte Geistliche, NS-Pastoren. Es gab Kirchenmänner, die Opfer des Staates oder ihrer Landeskirche wurden. Einzig das zur Allgemeingültigkeit gesteigerte Widerstandsnarrativ, gefolgert aus der Annahme einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Kirche und NS-Staat, da erstere eine alternative Wirklichkeit dargeboten und damit qua Existenz Widerstand geleistet hätte, ist nicht tragfähig. Die NS-Heterogenität der Geistlichkeit manifestierte sich sowohl auf der personalen Erkenntnisebene (Teil 2) als auch auf der davon zu unterscheidenden Hand-

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lungsebene (Teil 3). So verkörperten einerseits die auf der Grundlage der schleswigholsteinischen Pastorenschaft generierten zehn personalen NS-Positionierungsformen die große Vielschichtigkeit: Die personale NS-Typologie umfasst Formen von radikalem NS-Aktivismus bis hin zu aktivem Widerstand. Damit korrespondiert das enorme Handlungsspektrum der Geistlichen: 122 jeweils überindividuelle, NS-bezogene Handlungstypen, zu verstehen als kollektive Handlungseinheiten, repräsentieren die Handlungsvielfalt. Dies reichte von handfestem Engagement in und für die NSDAP, SA oder SS sowie Lobpreisungen Adolf Hitlers und Einschwörungen auf den NS(-Staat) über das Eintreten für die Wahrung der kirchlichen Autonomie bis hin zu Formen des Protests oder der Kritik am NS(-Staat). Sowohl die große Untersuchungsgruppe als auch die heterogene personale Typologie sowie die aufgefächerte, verästelte Handlungstypologie verweisen auf die Notwendigkeit zur differenzierten Betrachtungsweise, indem sie als deren Voraussetzung (Vollerhebung am Beispiel einer Landeskirche; weit gefasste Fragestellung nach der gesamtheitlichen NS-Positionierung) bzw. deren Ergebnis (Typologien) fungieren. 2) Signifikanzen. Primat von NS-Konsens: Die Pastorenschaft des ,Dritten Reichs‘ war vorrangig durch NS-Kollaboration und NS-Zuneigung, durch NSkonforme Handlungs- und Einstellungsweisen gekennzeichnet. Hauptanliegen dieser Arbeit war es, die Tragweite der verschiedenen Narrative der Kirchengeschichtsschreibung anhand des schleswig-holsteinischen Fallbeispiels auf der Grundlage eines differenzierten personalen Klassifikationssettings und der Gesamtheit der verschiedenen, kollektiven Einstellungs- sowie Handlungsformen in ihrem Verhältnis zueinander auszuloten. Dazu wurden die Kategorien Konsens und Dissens, NS-Konformität, NS-Nonkonformität (politisch sowie innerkirchlich) und Sanktionen in ihrer komplexen, heterogenen Vielschichtigkeit auf der Grundlage der individuellen Handlungs- und Einstellungsweisen der schleswig-holsteinischen Geistlichen qualitativ und quantitativ vollständig ausgeleuchtet und untereinander gewichtet. So konnte die NS-Positionierung der Pastorenschaft auf einer empirischen Grundlage präzise bestimmt werden. Dabei trat ein deutlicher Primat von NSKonsens in Form aktiver Kollaboration und innerer NS-Zuneigung, von innerer wie praktizierter NS-Konformität zutage: Das Nazifizierungsnarrativ weist von den gängigen Erzählmustern der Kirchengeschichtsschreibung die größte deskriptive Relevanz auf. Die Bestimmung der NS-Positionierung der Untersuchungsgruppe erfolgte erstens auf der Grundlage der Analyse der personalen NS-Klassifikationen aller Geistlichen, zweitens der Auswertung der kollektiven Handlungsweisen. Hinsichtlich der personalen Einstufungen zeigte sich zunächst ein eindeutiger Primat an NS-konformen Positionierungen: Über 80 Prozent der NS-klassifizierten Geistlichen der Untersuchungsgruppe (exklusive der Nichtzuordenbaren) lebten im Konsens mit dem NS(-Staat). Diese Geistlichen kollaborierten aktiv mit dem Nationalsozialismus

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und/oder zeigten eine innere NS-Zuneigung. Nicht wenige dieser Kirchenmänner engagierten sich zugleich für die Wahrung der Autonomie der Kirchen innerhalb des NS-Staates, worin sie keinen Widerspruch zu NS-Kollaboration und NS-Zuneigung sahen, worin kein Widerspruch bestand. Im Dissens zum NS(-Staat) befand sich demgegenüber nur eine kleine Minderheit der Pastoren: Keine vier Prozent der Untersuchungsgruppe betrieben Opposition und/oder zeichneten sich primär durch eine innere NS-Abneigung aus. Diese enorme Diskrepanz zwischen NS-Konsens und NS-Dissens ist weder durch die sich ambivalent zeigenden Geistlichen, die gleichermaßen durch Elemente des Konsenses wie Dissenses gekennzeichnet waren, noch diejenigen Pastoren mit NS-konsens- sowie NS-dissensfreiem kirchlichen Autonomiestreben aufzulösen. Als besonders charakteristisch erscheint diesbezüglich die Kluft zwischen der NS-Kerngruppe, den radikalen NS-Aktivisten, und deren Pendant, den Widerständlern: Zahlreichen NS-Aktivisten standen nur sehr wenige Widerständler gegenüber. Dieser Gegensatz manifestierte sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Mitunter massivem, NS-aktivistischem Engagement stand in der Regel allenfalls moderates oppositionelles Verhalten gegenüber, das für einzelne Pastoren erst in seiner Gesamtheit als kaum mehr innerhalb der Grenzen des ,Dritten Reichs‘ zu lösender Dissens greifbar wurde. Politischen Widerstand, der auf einen Regimeumsturz abzielt hätte, gab es unter den schleswig-holsteinischen Pastoren nicht. Manche der Geistlichen – insbesondere der NS-oppositionellen – wurden Opfer ihrer Landeskirche bzw. des NS-Staates, wobei deren Anzahl ausgesprochen überschaubar ist. Diese Pastoren verloren ihre kirchlichen Ämter, wurden aus Schleswig-Holstein ausgewiesen oder gerichtlich verurteilt: zumeist zu Geld-, nur selten zu meist kurzen Haftstrafen. Nur ein einziger schleswig-holsteinischer Pastor wurde in einem KZ-ähnlichen Lager interniert, wo er 1945 starb. Moderate Maßnahmen wie folgenlose Gestapo-Verhöre, mit Freispruch oder Einstellung endende Gerichtsverfahren oder Erteilungen disziplinarischer Verweise durch das Landeskirchenamt lassen keine Opfer-Klassifikation zu. Opfer des NS-Regimes waren Juden, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, Homosexuelle und weitere mit Vertreibung, wirtschaftlichem Ruin, KZ-Internierung, Misshandlung, Folter und Menschenversuchen, Mord bis hin zur systematisch-industriellen Vernichtung Überzogene. Die Geistlichkeit gehörte nicht dazu. Diese Ergebnisse korrespondieren mit denen der Auswertung des NS-bezogenen Handelns der Pastorenschaft: Der überwiegende Großteil verhielt sich NS-konform. Die Geistlichen setzten sich auf vielfältige Weise aktiv für den Nationalsozialismus ein – und das schon vor der ,Machtergreifung‘. Sie leisteten damit einen eigenen, bemerkenswerten Beitrag zum Zustandekommen und anschließenden 12jährigen Fortbestehen des NS-Gesellschaftsprojekts. Der etablierte Begriff der ,Anpassung‘ als vermeintlich NS-konformste Beschreibungskategorie wurde durch den des ,NSAktivismus‘ ersetzt, der den vielfach weit über jegliche Form einer ,Anpassung‘ hinausgehenden, selbstinitiativen und massiven Beitrag zahlreicher Pastoren viel tref-

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fender beschreibt. Besonderes Gewicht erhielt dieses Ergebnis vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Multiplikatorenfunktion: Geistliche fungierten aufgrund ihres Amtseinflusses auf die eigene Gemeinde und über diese hinaus, aufgrund ihrer vorbildbehafteten Stellung, die ihnen als moralische Instanz zukam, als Multiplikatoren in Bezug auf die Meinungsbildung. Das Gros der damaligen deutschen Bevölkerung war protestantisch, zumal in Schleswig-Holstein, und blieb es auch in den Jahren der NS-Herrschaft. Anhand des schleswig-holsteinischen Fallbeispiels wurde die Gruppe der Geistlichen somit primär als NS-herrschaftsbereitender, NS-herrschaftskonsolidierender und anschließend langjähriger NS-herrschaftstragender Faktor greifbar. Politik und Kirchen, Kirchen und Militär usw. stellten keine hermetisch voneinander geschiedenen Subsysteme des ,Dritten Reichs‘ dar, wie die auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen beschränkte ,Kirchenkampf‘-Forschung über Jahrzehnte postulierte und bisweilen noch heute suggeriert wird, sondern standen in engen und stetigen, freilich nicht konfliktfreien Wechselbeziehungen zueinander. Innerhalb dieser Struktur des NS-Herrschaftssystems wird die Rolle der Kirchen, insbesondere die der in den vielen Gemeinden vor Ort wirkenden Pastoren in einer bis zuletzt christlich geprägten Gesellschaft des ,Dritten Reichs‘ nicht unterschätzt werden dürfen. Worin manifestierte sich der NS-Beitrag der Pastorenschaft konkret? NSBetätigungen erfolgten sowohl im politischen wie im innerkirchlichen, d.h. im außer- wie innergemeindlichen Raum. Politisch ist zunächst ein bemerkenswertes Ausmaß an NS-Mitgliedschaften anzuführen. Insbesondere der NS-Partei traten auffällig viele Geistliche bei (nachweislich über 20 Prozent der Untersuchungsgruppe), etliche Theologen schon vor der ,Machtergreifung‘. Auch in der SA, dem Schlägertrupp der NSDAP, wurden zahlreiche Pastoren Mitglied (wiederum über 20 Prozent) – gesamtgesellschaftlich sowie im Vergleich zu anderen Untersuchungsgruppen weit überdurchschnittlich viele Personen. Überschaubar blieben dagegen Mitgliedschaften in der SS. Bei deren Bedeutungsaufstieg infolge des vermeintlichen ,RöhmPutsches‘ wurden Theologen bereits nicht mehr aufgenommen. Auch in die NSDAP und SA wurde den Geistlichen die Aufnahme schon früh verwehrt: Wie viele Mitgliedschaften wären möglicherweise sonst zustande gekommen? Pastoren waren nicht nur Mitglied in der NSDAP und ihren Kernorganisationen SA und SS, in anderen Gliederungen und angeschlossenen Verbänden, in antidemokratischen und/oder antisemitischen Organisationen und Verbänden wie Freikorps oder dem Jungdeutschen Orden. Viele engagierten sich darüber hinaus in und für diese Vereinigungen. Zahlreiche Pastoren bekleideten Ämter und Funktionen in der NSDAP, der SA oder anderen NS-Verbänden, betätigten sich als NSDAP-Blockleiter, Zellenleiter, Ortsgruppenleiter, Kreisleiter, als Geschäftsführer, Referent oder Gauredner, als weltanschaulicher Schulungsleiter der NSDAP oder SA, als SA-Rottenführer, Scharführer, Truppführer u.a.m. Neben der Übernahme solcher Ämter und Funktionen gaben Kirchenmänner der NSDAP bei Wahlen und Abstimmungen

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schon weit vor 1933 ihre Stimme, empfahlen selbiges ihren Gemeinden, rieten zum SA-/SS-Beitritt, brachten sich bei NS-Veranstaltungen durch das Halten von Vorträgen ein usw. Manche Theologen leisteten vor 1933 als SA-Mann bei NSDAP-Veranstaltungen Saalschutz, waren an sogenannten Saalschlachten beteiligt und trugen blutige Straßenkämpfe gegen politische Gegner aus. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Theologen einen gesicherten, anspruchsvollen, staatsunabhängigen Beruf ausübten bzw. sich in der Ausbildung zu einem solchen befanden, erscheint das Ausmaß an politischen Mitgliedschaften und handfestem politischen NSEngagement als bemerkenswert. Eine direkte Beteiligung am Holocaust ließ sich dagegen nur bei einem schleswig-holsteinischen Pastor mit Sicherheit nachweisen, der als Chef eines SD-Einsatzkommandos die Tötung tausender Menschen befahl und z.T. persönlich überwachte. Weitere fungierten als Mitglieder der Waffen-SS oder der Feldpolizei der Wehrmacht; zahlreiche als Soldaten und Offiziere sowie Kommandeure im NS-Angriffs- und Vernichtungskrieg. Der weitaus größte Teil des NS-konformen Handelns der Geistlichen spielte sich jedoch im innerkirchlichen Raum ab. Dieses manifestierte sich zum einen in kirchenpolitischen Mitgliedschaften und Engagement für die ,Deutschen Christen‘ (DC), die noch NS-radikalere ,Deutschkirche‘ oder auch das Eisenacher ,Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘, die die Kirchen theologisch wie organisational an das NS-Regime anzupassen suchten. Zum anderen, und noch ausschlaggebender, manifestierte sich dieses NS-konforme Engagement innerhalb der individuellen Ausübung des Pastorenamtes. Dabei spielte die Art und Weise der Verkündigung des Evangeliums selbstverständlich eine große Rolle. Zur Untersuchung derselben wurden u.a. zahlreiche Publikationen von Geistlichen, daneben annähernd 1.000 vollständig ausformuliert überlieferte Predigten und Konfirmandenunterrichtskonzepte ausgewertet, die einen aussagekräftigen Einblick in die Art und Weise der Verkündigung im ,Dritten Reich‘ zuließen. Eine NS-neutrale Verkündigung, in der eine vermeintlich andere Wirklichkeit bezeugt worden wäre, ließ sich nur bei sehr wenigen der analysierten Verkündigungsbeispiele feststellen. Neben einigen wenigen Oppositions-Predigten sind die allermeisten Predigten, Konfirmandenstunden und Publikationen durch ein enormes Ausmaß an NS-konformen Elementen gekennzeichnet. Adolf Hitler und der NS(-Staat) wurden gepriesen, Hitler zum Retter aus der Not verklärt, zum Propheten stilisiert, in eine Reihe mit Jesus Christus und Martin Luther gestellt – kurzum: heilsgeschichtlich legitimiert. NS-Motive wurden für christliche Analogien herangezogen, aus Hitlers Mein Kampf und verschiedenen Reden zitiert, die ,Erfolge‘ der NS-Politik gelobt usw. Auch im Hinblick auf die Propagierung von NS-Ideologie erwies sich die Verkündigung als höchst relevanter Faktor. Diverse NS-Ideologeme wurden aufgenommen und verbreitet, vielfach auch explizit mit der christlichen Lehre verquickt. Der Großteil der Pastorenschaft betrachtete christliche Lehre und NS-Weltanschauung nicht als gegensätzliche, sondern kompatible Größen, sah und schuf zahlreiche

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Anknüpfungspunkte. Insbesondere wurden Verbindungen zwischen christlicher Lehre und NS-Weltanschauung hergestellt bezüglich der Bedeutung von ,Volk‘ und ,Deutschtum‘ (,Volk‘, auch ,Rasse‘ als göttliche Schöpfungsordnungen; Luther als deutsche Gallionsfigur, mehr noch denn als Antisemit), zwischen christlicher Gemeinschaft und der NS-,Volksgemeinschaft‘, ,Drittem Reich‘ und Gottesreich, christlicher Nächstenliebe und dem NS-Grundsatz ,Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘, der Bedeutung des Blutes (Jesu Blut, ,arisches‘ Blut), den christlichen Märtyrern und den ,Märtyrern der Bewegung‘ (v.a. NS-,Blutzeugen‘) – und vielem mehr. Insgesamt wurde auf umfangreicher Quellengrundlage ein qualitativ und quantitativ bemerkenswertes, weit über die Gruppe der radikalen NS-Aktivisten hinausgreifendes Ausmaß an direkter NS-Einschwörung und NS-Ideologietransfer greifbar, das vor dem Hintergrund des skizzierten Amtseinflusses von beträchtlichem NSwegbereitendem und NS-webverbreiterndem Charakter gewesen sein dürfte. Eine interessante, berufsgruppenspezifische Sonderrolle nahmen die Geistlichen in ihrer Stellung zu Rassismus und Judenfeindschaft ein. Auffällig war zunächst die uneingeschränkte Akzeptanz des NS-Rassenkonzepts in Form der vermeintlichen, zumal in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auch damals keineswegs unumstrittenen Existenz verschiedener menschlicher ,Rassen‘, einer ,arischen‘, einer ,jüdischen‘ usw. Ab 1933 war der Rassebegriff schlagartig präsent in der Verkündigung, vereinzelt bereits früher, wobei auch der bereits vor 1933 omnipräsente Volksbegriff mitunter rassisch gedacht wurde. Die Sonderstellung manifestierte sich in zwei innerhalb der Untersuchungsgruppe weit verbreiteten, weitgehend konsensfähigen Aspekten. Erstens wurde ,Rasse‘ zur göttlichen Schöpfungsordnung erhoben, damit jedoch zugleich der göttlichen Instanz untergeordnet: ,Rasse‘ dürfe nicht zum Götzen werden, ,Geschöpf‘ (=Rasse) und ,Schöpfer‘ (=Gott) dürften nicht verwechselt werden. Damit wurde auf der einen Seite zwar der Universalitätsanspruch der NS-Rassenlehre beschränkt, auf der anderen Seite jedoch das NS-Rassenkonzept ausdrücklich geheiligt. Die Akzentuierung dieses Verhältnisses war unterschiedlich: Manche betonten den Erhebungsaspekt (Heiligung von ,Rasse‘) stärker (v.a. Deutschkirchler, DCler und kirchenpolitisch Neutrale), andere den ,Geschöpf‘-Charakter (v.a. BKler). Einigkeit herrschte in der Stilisierung von ,Blut und Rasse‘ zu Elementen der göttlichen Schöpfungsordnung. Zweitens wurden für die nicht nur überwiegend, sondern einhellig vorherrschende Judenfeindschaft von den Pastoren biblische bzw. religiöse Ansätze gegenüber rassebasierten mehrheitlich als erklärungsmächtiger erachtet (jüdischer ,Fluch‘ durch ,Jesusmord‘ usw.), die die Pastoren dann der ,jüdischen Rasse‘ als Stigma zuordneten und so neben die Formen des traditionellen Antijudaismus stellten bzw. mit ihnen vernetzten. Hierin lag keineswegs eine Absage an den Rassenantisemitismus, keineswegs eine Negierung des NS-Rassenkonzepts begründet: Viele dieser Geistlichen goutierten ausdrücklich die Judenpolitik des NS-Staates einschließlich der ,Nürnberger Rassegesetze‘, z.T. sogar der Novemberpogrome. Manche Pastoren taten dies öffentlich kund. Keineswegs lag die NS-konformste Variante

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der Positionierungen zu Rassismus und zum NS-staatlichen Umgang mit der ,Judenfrage‘ in der vermeintlichen neutralen Enthaltung, dem Schweigen begründet, wie bis heute aufgrund des Fehlens offizieller kirchlicher Verlautbarungen kolportiert wird. Viele Pastoren schwiegen nicht. Vielmehr lobten sie in ihren Predigten, im Konfirmandenunterricht und in Veröffentlichungen das Durchgreifen des Staates in Bezug auf den gesellschaftlichen Ausschluss der damals als Juden definierten Menschen. In Einzelfällen wurden sogar die ,Nürnberger Rassegesetze‘ zu Gottes Gebot verklärt und die Novemberpogrome zum auch aus christlicher Sicht notwendigen Schritt stilisiert. Dies geschah unabhängig von der Frage, ob man den sogenannten ,Arierparagrafen‘ auch auf die Kirche übertragen sehen wollte, also für den Ausschluss der Christen jüdischer Herkunft plädierte (v.a. DC und Deutschkirche) oder nicht (v.a. BK). Gerade diejenigen, die die Übertragung des Paragrafen auf den innerkirchlichen Raum ablehnten, betonten die Notwendigkeit des staatlichen Vorgehens gegen ,den Juden‘. Sie verstanden ihre Sichtweise dementsprechend als NS-konform, auch wenn diese mitunter zu Konflikten mit NS-Instanzen führte. Dennoch stellt sich im Hinblick auf beide das Verhältnis zwischen Geistlichkeit und Rassenlehre kennzeichnenden Aspekte die Frage, inwiefern der charakteristische Umgang mit Judenfeindschaft und Rassismus beide Konzepte für die bewusst christlichen Kreise der Bevölkerung gerade anschlussfähig bzw. mehrheitsfähig gemacht haben könnte, zumal in der Verbindung mit den Propagierungen von Hitler-Lobpreisungen, Volksgemeinschaftsideologie usw. Neben der Art und Weise der Verkündigung des Evangeliums war das weite Feld der NS-konformen Amtsführung durch visuell wahrnehmbare Formen der Kollaboration geprägt: Kreuz und Hakenkreuz wurden auch visuell öffentlich eng miteinander verbunden, u.a. durch Übernahmen von NS-Symbolen in den kirchlichen Raum, das Abhalten von Gottesdiensten zu NS-Anlässen wie etwa dem 9. November, dem Gedenktag für die ,Blutzeugen‘ des Nationalsozialismus, oder dem 30. Januar als Tag der ,Machtergreifung‘, mitunter spezieller Feldgottesdienste für die Partei und ihre Verbände sowie die geschlossenen Teilnahmen dieser Verbände auch in den regulären Sonntagsgottesdiensten insbesondere in den Jahren 1933 bis 1934/35. Die kirchlichen Gebäude waren ab 1933 an Feiertagen flächendeckend durch Hakenkreuzfahnen geziert. Bis auf letzteren Aspekt der NS-Kirchenbeflaggung, der von Staat und Landeskirchenamt angeordnet war, waren alle genannten Facetten des NS-konformen Engagements freiwillig: Kein Pastor musste der NSDAP oder ihren Gliederungen beitreten, sich politisch engagieren, die Gemeinde auf Hitler einschwören, NS-Ideologeme propagieren oder NS-Feldgottesdienste abhalten. Als weiterer vorgeschriebener, dadurch freilich nicht weniger bedeutsamer Gesichtspunkt ist die Mitwirkung der Pastorenschaft an der Ausstellung sogenannter ,Arierscheine‘ und damit am Ausfindigmachen der ,Nichtarier‘ zu nennen: Ohne die Kirchenbücher und den engagierten Einsatz ihrer Hüter, der Theologen, hätten die Machthaber die ,Nichtarier‘ gar nicht aufspüren können.

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Der Großteil der benannten NS-konformen Handlungsweisen ist in den ersten neun Jahres des Untersuchungszeitraums, 1930 bis 1939, zu verorten. Hinsichtlich der letzten Weimarer Jahre wurde deutlich, dass die Pastorenschaft keineswegs als demokratiestabilisierendes Element fungierte – im Gegenteil: Parlamentarismus und andere Weimarer Entwicklungen wie die Pluralisierung der Gesellschaft, zunehmende Freizügigkeit usw. wurden als Zuchtlosigkeit attackiert, die junge Republik als vermeintlich kommunistischer Staat angeprangert. Ein beachtlicher Anteil der zunächst DNVP-orientierten Geistlichkeit engagierte sich zudem bereits vor 1933 propagandistisch und/oder parteipolitisch für die NSDAP. Dementsprechend offenbar fast ausnahmslos NS-euphorisch begingen die Pastoren das Jahr 1933. Zeitlich erreichte die NS-Konformität ihren Gipfel in den Jahren 1933 und 1934. Ab 1935 nahm sie tendenziell ab, ebenso wie die Kritik am Regime zunahm, die jedoch in den meisten Fällen punktuell blieb. Diese Änderungen markieren Entwicklungstendenzen, keinen grundsätzlichen Umschwung: Die Untersuchungsgruppe war insgesamt durch eine ausgeprägte Positionierungskonstanz gekennzeichnet. Nur wenige Pastoren durchliefen gravierende, über Nuancierungen hinausgehende Wandlungen. Auch nach 1934/35 blieb die NS-Konformität trotz Reduzierung eindeutig dominant. Der Grund für diese Entwicklungen lag allein in der tendenziell zunehmenden Kirchenfeindlichkeit des NS-Staates begründet. Diese zeigte sich lokal in sehr unterschiedlichem Maße: Viele Pastoren beurteilten die Lage der Kirchen im NS-Staat auch weit nach 1934/35 als überaus günstig – zumal vor dem Hintergrund des im eigenen Lande gerade erst ,überwundenen kommunistischen Schreckgespenstes‘. Das NSRegime war durch ein polykratisches NS-Herrschaftsgefüge geprägt, in dem stets verschiedene Einrichtungen und lokale Akteure um Machtbefugnisse konkurrierten. Weder hat es eine diachron stringente Kirchenpolitik noch einen synchron abgestimmten, flächendeckend konsistenten Umgang der Partei bzw. des NS-Staates mit den Kirchen vor Ort gegeben. Die wenigen einheitlichen Maßnahmen lagen u.a. in Ausschlüssen von Pastoren aus der SS und SA bzw. Aufnahmestopps in die NSDAP, SS und SA begründet, was zu starkem Unmut innerhalb der Geistlichkeit führte. Nationalsozialismus und Neuheidentum waren keineswegs deckungsgleich – weder hinsichtlich der NS-Funktionäre vor Ort noch der NS-Führungsriege des Reiches. Führende Nationalsozialisten einschließlich Hermann Göring und Adolf Hitler beteiligten sich als Kirchenmitglieder – vermutlich mitunter auch aus taktischen Erwägungen – an kirchlichen Amtshandlungen bzw. nahmen diese in Anspruch. Auch unter hohen NS-Funktionären befanden sich praktizierende Christen. Neopagane Strömungen innerhalb des Nationalsozialismus fanden sich insbesondere in der SS und HJ um Heinrich Himmler, Baldur von Schirach, Alfred Rosenberg und weitere repräsentiert. Der überwiegende Großteil der deutschen Bevölkerung, auch speziell der SS-Männer, blieb christlich – trotz vermehrter Kirchenaustritte der NS-Funktionseliten. Gleichwohl war das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen keineswegs konfliktfrei: Zahlreiche Geistliche gerieten in Auseinandersetzungen mit Staat oder Partei, v.a. zwischen 1935 und 1939. Von Gestapo-Verhören, Gerichtsanklagen usw. wa-

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ren auch etliche NS-konforme Pastoren, sogar radikale NS-Aktivisten betroffen. Die Bereiche der praktizierten Opposition und der erfahrenen Einschränkungen und Sanktionen sind daher strikt voneinander zu trennen. Erst drastischere Maßnahmen wie Gerichtsverurteilungen, Internierungen, Ausweisungen, aber auch landeskirchliche Entlassungen aus Pastoren- oder Aufsichtsamt, die zu einer Klassifikation des Pastors als Opfer führten, waren zielgenauer auf Opposition ausgerichtet. Für den überwiegenden Großteil der Geistlichen blieben solche Maßnahmen trotz tendenziell wachsender NS-Kirchenfeindlichkeit aus. Kritik sowie Positionsänderungen resultierten fast immer aus wahrgenommener bzw. selbst erfahrener NS-Kirchenfeindlichkeit, waren also interessengebunden. Nicht wenige Geistliche äußerten durchaus Kritik am NS(-Staat), die jedoch in der Regel punktuell blieb, etwa in Bezug auf die Kirchenfeindlichkeit lokaler NS-Funktionäre. Diese Kritik war als vermeintlich konstruktive Kritik vielfach problemlos mit dominanter NS-Konformität vereinbar. Nur wenige steigerten abweichendes Verhalten zu tatsächlicher Opposition. Somit stand politisch-ideologisch NS-nonkonformes Handeln in starkem Kontrast zum geschilderten NS-konformen Einsatz der Pastorenschaft. Gegenüber politisch-ideologisch NS-nonkonformem Handeln eindeutig umfänglicher fiel das Eintreten für die Wahrung der kirchlichen Autonomie aus: die auf den innerkirchlichen Bereich beschränkte NS-Nonkonformität, wie sie insbesondere die ,Bekennende Kirche‘ kennzeichnete. Nonkonform war dieses Selbstbehauptungsengagement lediglich aufgrund des NS-Totalitätsanspruchs, wie er von Staat und Partei sowie den ,Deutschen Christen‘ und der Deutschkirche, auch neuheidnischen Strömungen vertreten wurde. In dem ,Kampf‘ gegen das Neuheidentum fanden sich BKler, DCler und kirchenpolitisch neutrale Geistliche wieder vereint: Hier ging es um nichts weniger als die Existenz der Kirchen. Auch diese auf den innerkirchlichen Raum begrenzte NS-Nonkonformität prägte das Kollektiv weitaus weniger als NS-konformes Handeln – obgleich dieses primär in den Jahren bis 1939 festzumachen war. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass der Großteil der Geistlichen Kriegsdienst leistete – nicht wenige durch freiwillige Meldung. Eine Kriegsdienstverweigerung ließ sich nicht belegen. Mit diesem Einsatz der Pastoren zusammenhängend fällt die Quellendichte für die Kriegszeit reduziert aus. So sind für den Zeitraum u.a. deutlich weniger ausformulierte Verkündigungsbeispiele überliefert. Soweit ermittelbar begleiteten Pastoren der ,Heimatfront‘ den Krieg propagandistisch durch kriegstheologische Verklärungen zum aufgezwungenen ,Verteidigungskrieg‘ oder gerechten ,Überlebenskampf‘, gelegentlich auch zum geheiligten ,Gotteskrieg‘, forderten freiwillige Kriegsdienstmeldungen und riefen zum Durchhalten auf. Spezielle Dank- und Bittgottesdienste wurden gehalten, etwa anlässlich der Blitzsiege über Polen und Frankreich. Insbesondere hielten die Geistlichen bis Kriegsende vielerorts Kriegsandachten, Kriegsgebetstunden und Gefallenenehrungen für Gemeindeglieder, die ihr Leben ,für Führer, Volk und Vaterland‘ gegeben hatten.

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Wie viele der NS-relevanten, in Handlungstypen gegossenen Verhaltensweisen nicht schlagartig 1933, auch nicht 1930 neu einsetzten, sondern an lange protestantische Traditionen anknüpften, griffen die Geistlichen auch in ihrem kriegsbegleitenden Engagement auf altbewährte Formen u.a. aus der Zwischenkriegszeit zurück, in der Krieg und Frontkämpfertum verherrlicht und theologisch verklärt worden waren, etwa in einem heroisierenden Totenkult. In den Jahren 1935 (Wiedereinführung der Wehrpflicht; ,Heimholung der Saar‘) und 1936 (Einmarsch ins Rheinland), insbesondere jedoch ab 1938 (,Anschluss Österreichs‘; ,Rückgewinnung des Sudetenlandes‘) stieg der Grad der Militarisierung der Sprache in Predigten usw., womit die Pastoren einen Beitrag zur geistigen ,Wehrhaftmachung des deutschen Volkes‘ leisteten. Auch speziell für die Jahre ab 1939 wurden die Geistlichen – wenn auch auf einer eingeschränkten Quellenbasis – primär als kriegsbegleitende, kriegstragende Instanz und damit als NS-Herrschaftsstabilisator greifbar. 3) ,Kirchenkampf‘. Ein Faktor unter vielen: Kirchenpolitik und Fragen des ,Kirchenkampfes‘ fungieren als wichtiger Faktor – als einer von vielen bei der ganzheitlichen Untersuchung des Verhältnisses von Kirchen und NS-Staat, Christentum und Nationalsozialismus. Jahrzehnte lang beschränkte sich die Untersuchung der evangelischen Kirchen im ,Dritten Reich‘ auf die Frage des sogenannten ,Kirchenkampfes‘, auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen der ,Bekennenden Kirche‘ und den ,Deutschen Christen‘, wobei der zur Epochenbezeichnung erhobene ,Kirchenkampf‘-Begriff als geeignet erschien, einen ,Kampf‘ der (Bekennenden) Kirche nicht nur gegen die NS-nahen DC, sondern gleichsam gegen ,den‘ Nationalsozialismus selbst zu konstruieren, dessen sich die (Bekennende) Kirche zu erwehren gehabt und erfolgreich erwehrt hätte (,Kirchenkampf‘-Narrativ). In der vorliegenden Arbeit wird diese auf den innerkirchlichen Raum begrenzte Sichtweise konsequent aufgebrochen, indem am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel nach der Positionierung der Geistlichkeit zum Nationalsozialismus gefragt, also das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat, Christentum und Nationalsozialismus in das Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt wurde. Während in der jüngeren Kirchengeschichtsschreibung diese Frage zuletzt bereits stärker ins Blickfeld getreten war, wird mit der vorliegenden Studie eine konsequente Verknüpfung von NS-Forschung und Kirchengeschichtsschreibung realisiert, indem erstmals die NSPositionierung aller Pastoren einer Landeskirche in ihrem gesamten Facettenreichtum zum Untersuchungsgegenstand gemacht wurde. Innerhalb dieses Rahmens erwiesen sich kirchenpolitische Zugehörigkeiten und Betätigungen in und für die verschiedenen kirchenpolitischen Lager einschließlich der Kirchenkampfführung als relevanter Teilaspekt, wie nicht zuletzt die vielschichtige Struktur der Handlungstypologie veranschaulicht. In Schleswig-Holstein gehörte beinahe die Hälfte der 1933 bis 1945 wirkenden Pastoren (zumindest zeitweise) der BK an, jeweils ungefähr ein Viertel waren DCler

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bzw. Neutrale; Deutschkirchler fielen quantitativ mit nur zehn Vertretern kaum ins Gewicht. Die kollektivbiografische Herangehensweise offenbarte, dass keines der kirchenpolitischen Lager als vollständig monolithischer Block zu begreifen ist, wobei insbesondere die BK eine NS-heterogene Gruppe war und sich hierin von den anderen drei Lagern erkennbar abhob. Die Deutschkirche fungierte demgegenüber als homogenste, radikal NS-aktivistische Gruppe. Auch der überwiegende Großteil der DCler und Neutralen befand sich im Konsens mit dem NS(-Staat), wobei DCler und Neutrale ein gegenüber der Deutschkirche zumindest heterogeneres Verhaltensspektrum zeigten, das freilich weit hinter der BK-Bandbreite zurückblieb. Die Neutralen traten als geringfügig gemäßigteres, gleichwohl den DC in der NSPositionierung nahestehendes Lager auf, das nach dem frühzeitig eingeleiteten Niedergang der DC Ende 1933/34 zur BK-Alternative avancierte, sofern die Geistlichen nicht einer der DC-Nachfolgeorganisationen beitraten. Generationsmäßig waren die DC primär durch die junge Frontkämpfergeneration geprägt (geboren zwischen 1890 und 1899), die BK insbesondere durch die Kriegsjugendgeneration (geboren 1900 bis 1909), in der sich auch die meisten der kirchenpolitisch neutralen Geistlichen befanden. Die Notwendigkeit zur differenzierten Betrachtungsweise über kirchenpolitische Fraktionen hinweg wurde v.a. auf der Handlungsebene greifbar: Bei annähernd allen 122 Handlungstypen waren stets Vertreter der DC, BK und Neutralen, bei NS-konformen Handlungstypen auch der Deutschkirche nachweisbar. Die Grenze des NS-relevanten Handelns verlief somit für die meisten Handlungsweisen nicht zwischen den verschiedenen Lagern, sondern fast immer mitten durch sie hindurch: DCler, BKler, Neutrale und Deutschkirchler wurden Mitglied in der NSDAP, schworen ihre Gemeinden auf das Hitlerregime ein, propagierten NS-Ideologie, engagierten sich gegen neuheidnische Akteure, gerieten in Konflikte mit Staat und/oder Partei; Vertreter zumindest der ersteren drei Gruppen übten zumeist punktuelle Kritik am NS-Staat bzw. Vertretern desselben usw. Auch wenn sich die Quantität der Vertreter und die qualitative Beschaffenheit und Reichweite der Handlungen zwischen den Fraktionen mitunter stark unterschieden, war der Grenzverlauf durch die Lager hindurch augenfällig. Eine verabsolutierte, zum Epochenbegriff erhobene dualistische ,Kirchenkampf‘-Geschichtsschreibung zwischen vermeintlich NS-nonkonformer BK auf der einen und den NS-konformen DC auf der anderen Seite wird der viel komplexeren historischen Realität nicht gerecht. Trotz allen innerkirchlichen Zwists zwischen der BK und den DC blieb die BK zu jeder Zeit Teil der schleswig-holsteinischen Landeskirche: Zu einem Schisma ist es nicht gekommen. Der ,Kirchenkampf‘ der BK basierte im Wesentlichen auf drei Säulen: erstens dem BK-internen Wirken (Auf-/Ausbau der Organisation), das nur vor dem Hintergrund des BK-Wollens als innerkirchlich NS-nonkonform eingestuft wurde; zweitens dem Eintreten gegen die kirchliche, organisationale sowie theologische NSSelbstgleichschaltung durch die DC (Auseinandersetzungen mit dem Landeskirchenamt/Eintreten gegen die DC); drittens dem Eintreten für die Wahrung der kirch-

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lichen Existenz und Autonomie in Auseinandersetzung mit völkischen-religiösen Strömungen sowie Einflussnahmen vonseiten des NS-Staates auf die Kirchen (wiederum innerkirchlich NS-nonkonform). Während die ersten beiden Säulen weitgehend BK-Pastoren vorbehalten blieben, wurden bei der dritten auch zahlreiche Vertreter der Deutschen Christen, der Neutralen und sogar der Deutschkirche als Akteure greifbar. In den ,Kampf‘ reihten sich nicht wenige der radikalen NS-Aktivisten der Untersuchungsgruppe ein. Schließlich betraf dieser ,Kampf‘ gegen das Neuheidentum sowie die Abwehr staatlicher Übergriffe die Interessen der gesamten Geistlichkeit und einte sie hierin faktisch, ohne dass es zu nennenswerter Zusammenarbeit zwischen BK und DC/Deutschkirche gekommen wäre. Für die BK gehörten beide ,Fronten‘ zusammen. Ziel ihres ,Kirchenkampfes‘ war die Wahrung der kirchlichen, organisationalen wie theologischen Autonomie zum einen nach innen gegenüber den Deutschen Christen, zum anderen – mitgetragen von den DClern, Neutralen und z.T. Deutschkirchlern – nach außen gegen das erstarkende, nicht mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzende Neuheidentum sowie gegen staatliche Übergriffe. Der Großteil der NS-relevanten Handlungsweisen war weder innerhalb dieses ,Kirchenkampfes‘ zu verorten noch kirchenpolitisch auf einzelne Gruppen begrenzt: Der ,Kirchenkampf‘ ist und bleibt ein entscheidender Faktor der NS-Kirchengeschichtsschreibung – eignet sich jedoch bei Weitem nicht als alleinige Beschreibungskategorie. Bei dem ,Kampf‘ ging es den Zeitgenossen um die Wahrung der kirchlichen Autonomie (DC/NS-Staat) und Existenz (Neuheidentum), um die kirchliche Selbstbehauptung, nicht um eine politisch-ideologische Opposition gegen den NS(-Staat), die auf einige wenige, unliebsame BK-Vertreter beschränkt blieb. NS-nonkonform waren die drei Säulen des ,Kirchenkampfes‘ lediglich aufgrund des nicht nur politischen, sondern auch weltanschaulichen NS-Totalitätsanspruchs, dem für den Raum der Kirchen Einhalt geboten werden sollte. Der ,Kirchenkampf‘ richtete sich nicht gegen kirchenunabhängige NS-staatliche oder parteiliche Maßnahmen, nicht gegen Staat oder Partei, die vielmehr auch die ,Kirchenkämpfer‘ mehrheitlich bejahten und begrüßten, mittrugen und propagandistisch legitimierten. 4) Die BK. NS-Konsens und Selbstbehauptung: Die ,Bekennende Kirche‘ war nicht nur keine Widerstandsgruppierung. Ihre Hauptmerkmale bestanden in NS-Kollaboration, NS-Zuneigung und damit kombiniertem kirchlichen Autonomiestreben, in der Verbindung von NS-konformen Handlungs- und Einstellungsweisen mit Selbstbehauptungsengagement. Vertreter der ,Bekennenden Kirche‘, die im ,Dritten Reich‘ beständig ihre NSLoyalität und Systemkonformität betont und gezeigt hatten, vollzogen nach Kriegsende einen fundamentalen Kurswechsel in der Selbstdarstellung: Man habe aktiv Widerstand geleistet und dies mit Verfolgung und KZ teuer bezahlt. Evangelische Kirchen und zahlreiche Kirchenhistoriker übernahmen diese Perspektive dankbar:

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Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller wurden zu vermeintlich exemplarischen Repräsentanten der (Bekennenden) Kirche stilisiert. Ferner wurden sogenannte Opferlisten zusammengestellt und veröffentlicht, um den vermeintlichen Leidensweg als Ergebnis der Widerständigkeit der (Bekennenden) Kirche im von Grund auf antichristlichen ,Dritten Reich‘ zu dokumentieren. Auch wenn diese Sichtweise insbesondere seit der Jahrtausendwende zunehmend hinterfragt und teilweise dekonstruiert wurde, Risse bekommen hat, hält sich das Bild einer widerständigen und notleidenden BK mit Gallionsfiguren wie Bonhoeffer hartnäckig im ,kulturellen Gedächtnis‘ unseres Landes – nicht zuletzt durch entsprechende, anhaltende explizite oder implizite Verortungen der BK im Sektor des aktiven oder doch zumindest passiven Widerstands. Mit der Umsetzung der Vollerhebung wurden erstmals am Beispiel einer der Landeskirchen Deutschlands auch ausnahmslos alle BK-Pastoren der Jahre 1933 bis 1945 hinsichtlich ihrer NS-Positionierung, ihrer Stellung zum NS(-Staat) vollumfänglich untersucht: ca. 300 Personen. Auf dieser Grundlage kann eine empirisch fundierte Positionsbestimmung der schleswig-holsteinischen BK auf breiter Quellen- und Informationsbasis vorgenommen werden. Bisherige Verortungen der BK beruhen demgegenüber in der Regel auf der Untersuchung offizieller Verlautbarungen der Leitungsgremien oder einzelner BK-Ausnahmevertreter. Auch die innerhalb der Nordkirche anhaltende Kontroverse um die schleswig-holsteinische BK kreist im Wesentlichen um die Beurteilung eines einzigen führenden BKlers: WILHELM HALFMANNS. Demgegenüber erweist es sich als zielführender, alle BK-Geistlichen der Landeskirche mit ihrem konkreten NS-bezogenen Handeln in den Fokus zu stellen, um auf diese Weise empirisch fundierte Ergebnisse über die BK als kirchenpolitische Fraktion zu gewinnen. Denn die BK-Pastoren waren es in ihrer Gesamtheit, die die BK vor Ort in den Kirchengemeinden repräsentierten, die das Bild der BK in ihren Gemeinden und darüber hinaus maßgeblich prägten – mehr noch als der Bruderrat der BK und dessen offizielle Stellungnahmen. Das Kollektiv der BK-Pastoren bildete das geistliche Rückgrat der BK. Wie positionierte sich die BK-Geistlichkeit zum NS(-Staat)? Die BK stellte keine Widerstandsorganisation dar, weder im Hinblick auf einen aktiven noch passiven Widerstand. Mehr noch: Die BK-Pastoren waren primär durch eine Kombination aus NS-Konsens in Form von aktiver NS-Kollaboration sowie innerer NS-Zuneigung und kirchlichem Autonomiestreben, aus NS-konformen Handlungs- und Einstellungsweisen bei gleichzeitigem Eintreten für die Selbstbehauptung der Institution Kirche gekennzeichnet. Über Selbstbehauptungsengagement hinausgehende politisch-ideologische NS-Nonkonformität blieb in der Regel punktuell und steigerte sich nur in wenigen Fällen zu deutlich wahrnehmbarer Opposition. Auch wenn die NS-Opfer der Untersuchungsgruppe größtenteils in der BK beheimatet waren, stellten sie innerhalb der BK nur einen geringen Anteil dar, blieben also auch dort selten. Insgesamt wurde die BK als mit Abstand NS-heterogenste kirchenpolitische Fraktion greifbar, deren Mitglieder sich gleichwohl insgesamt weit-

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aus NS-konformer positionierten als bisher weithin angenommen. Zugespitzt formuliert: Die BK hatte eher eine braune Weste mit Schattierungen und weißen Flecken als eine weiße Weste mit braunen Flecken. Dieser Befund manifestierte sich sowohl auf der personalen als auch der Handlungsebene. So hob sich die BK zunächst dadurch von den anderen Lagern ab, dass ihre Mitglieder ein breites Spektrum an NS-Positionierungsformen abdeckten. Zwar fanden von den radikalen NS-Aktivisten der Untersuchungsgruppe kaum welche den Weg in die BK. Dennoch gab es einzelne NS-aktivistische BKler, die sich vehementer für den NS(-Staat) einsetzten als andere DCler. Das Gros der BKler – über 60 Prozent – agierte im Konsens mit dem NS(-Staat). Die meisten davon engagierten sich zugleich für die Wahrung der kirchlichen Autonomie. NS-Konsens und kirchliche Selbstbehauptung waren miteinander vereinbar und wurden von etlichen BKlern miteinander vereinbart. Neben konsensfreier Selbstbehauptung und ambivalenten Zwischenformen, die beide fast ausschließlich innerhalb der BK vorkamen, waren nur knapp sechs Prozent der BK-Geistlichkeit als NS-Dissidenten einzustufen – davon kaum welche als Widerständler, die auch in der BK rarer blieben als NSAktivisten. Weitaus mehr NS-Konsens in der BK als Resistenz oder gar darüber hinausgehender Widerstand. Auch hinsichtlich der in der vorliegenden Arbeit systematisch untersuchten inneren NS-Überzeugung präsentierte sich die BK als mit Abstand heterogenstes Lager, als einziges, bei dem auch ambivalente Haltungen und sogar NS-Abneigung über den Einzelfall hinaus vorkamen. Gleichwohl war auch für die BK-Geistlichkeit Zuneigung zum Regime die kennzeichnendste Einstellungsform. Altersmäßig dominierte die BK insbesondere unter den ab 1900 geborenen Theologen, v.a. in der Kriegsjugendgeneration (Jahrgänge 1900 bis 1909) – jener Generation, die das Grauen des Ersten Weltkrieges miterlebt hatte, der jedoch der Frontkampf ,verwehrt‘ geblieben war, die somit von den Mythifizierungen der Frontgeneration ausgeschlossen waren. Gerade innerhalb dieser Generation des Unbedingten (Wildt), aus der sich das Gros der Architekten und Exekutoren des Holocausts und Vernichtungskrieges rekrutierte, dominierte unter den Theologen die ,Bekennende Kirche‘. Weitere Präzisierungen ermöglichte die Analyse der einzelnen NS-bezogenen Verhaltensweisen der BK-Pastoren. Die meisten aller NS-relevanten Handlungen waren auf BK-Pastoren zurückzuführen. Dies verwundert nicht: Die BK fungierte als mit Abstand größte kirchenpolitische Fraktion, die zudem aufgrund ihrer Altersstruktur und späterer BK-Überlieferungsfreudigkeit quellenmäßig besonders gut repräsentiert ist. Jedoch dominierte die BK gegenüber den anderen kirchenpolitischen Lagern (DC, Deutschkirche, Neutrale) nicht nur hinsichtlich der innerkirchlichen und politisch-ideologischen NS-Nonkonformität, sondern auch in Bezug auf NS-konformes Handeln: Das Gros des NS-konformen Handelns innerhalb der schleswig-holsteinischen Landeskirche war auf die Mitgliederschaft der ,Bekennenden Kirche‘ zurückzuführen.

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So waren über 30 Prozent der BK-Pastoren Mitglied in der NSDAP und/oder wenigstens einer ihrer Kernorganisationen SA/SS – jeder dritte BKler. Einige waren schon vor der ,Machtergreifung‘ eingetreten. Die BK-Theologen stellten sogar die mit Abstand größte SA-Fraktion der Landeskirche. Auch BKler übernahmen Ämter und übten Funktionen in der Partei, ihren Kernorganisationen sowie den anderen NS-Organisationen und angeschlossenen Verbänden aus. Daneben ging auch der Großteil der im Rahmen der Ausübung des Pastorenamtes zu verortenden NSKonformität auf BK-Pastoren zurück: Die meisten der Adolf Hitler oder den NS(-Staat) lobpreisenden Pastoren waren Mitglied in der BK. Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf das Gros der propagierten NS-Ideologeme: Die mitgliederstarke BK dominierte quantitativ. Auch BK-Pastoren hielten spezielle NS-Gottesdienste ab, auch bei BKlern wurden Gottesdienste von NS-Formationen geschlossen besucht. Auch BK-Pastoren inszenierten Harmonie zwischen Kreuz und Hakenkreuz – nicht zuletzt durch die öffentliche NS-Kirchenbeflaggung, die bereitwillige Ausstellung von ,Arierscheinen‘ oder das Leisten des Eides auf Adolf Hitler als Kirchenherrn. Vor dem Hintergrund des offiziellen BK-Anspruchs der Wahrung nicht nur der institutionellen, sondern auch der theologischen Autonomie überraschte das große Ausmaß NS-konformer Elemente innerhalb der Verkündigung. So waren neben den vielen expliziten NS-Lobpreisungen auch zahlreiche NS-Ideologeme wie Judenfeindschaft und Rassismus, nationale Schöpfungsordnungstheologie, Antikommunismus, Volksgemeinschaftsdenken, Weimar-Kritik, Exkurse zu Heldentum und den ,germanischen Vorvätern‘, kriegsverherrlichende Auslassungen usw. integraler Bestandteil der BK-Verkündigung. Auch BKler betrachteten die NS-Ideologie mehrheitlich nicht als Widerspruch zur christlichen Lehre, sondern vereinbarten und vernetzten beide miteinander. Dies dürfte den Nationalsozialismus auch für bewusst christliche Kreise anschlussfähig bzw. noch attraktiver gemacht haben. Nicht nur die Pastorenschaft als Gesamtkollektiv, sondern auch speziell die BK-Geistlichen leisteten einen maßgeblichen Beitrag zum Zustandekommen und langjährigen Fortbestehen des NS-Gesellschaftsprojekts. Während die BK bei den meisten NS-konformen Handlungsweisen in absoluten Zahlen dominierte, stellten diese absoluten Werte aufgrund der BK-Mitgliederstärke oftmals einen geringeren Anteil der BK-Pastoren dar als es die entsprechend engagierten Pastoren der anderen Gruppierungen taten. Dieser Unterschied zwischen absoluter und relativer Häufigkeit ist entscheidend: Absolut gesehen war die BK für NS-konformes Handeln innerhalb der Landeskirche der wichtigste Faktor. Relativ betrachtet erwiesen sich Neutrale, DCler und v.a. Deutschkirchler als NSkonformere Gruppen, insofern hier die prozentualen Anteile der NS-Engagierten oftmals höher ausfielen. Diese Diskrepanz dürfte bei einer zwischen den kirchenpolitischen Lagern exakt ausgewogenen Quellenlage noch deutlicher zutage treten. Obwohl die BK im direkten Vergleich die am wenigsten NS-konforme kirchenpolitische Fraktion war – das Feld wurde eindeutig von der Deutschkirche angeführt,

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gefolgt von DClern und dann Neutralen –, fungierte sie innerhalb der Landeskirche als ausschlaggebendster Faktor für NS-konformes Handeln. Dementsprechend fiel innerhalb der Verkündigung die Verhältnismäßigkeit zwischen den Anteilen von christlicher Lehre und Vermengungen mit nationalsozialistischen Elementen tendenziell stärker zugunsten der christlichen Lehre aus als es bei den anderen kirchenpolitischen Fraktionen der Fall war. Gerade die NSradikaleren Verkündigungsbeispiele waren überwiegend DClern und Deutschkirchlern vorbehalten, auch Neutralen, und wurden nur selten von BKlern gehalten. Während innerhalb der BK-Verkündigung somit zwar christliche Inhalte gegenüber nationalsozialistischen überwiegend dominant blieben, ließen sich umgekehrt auch bei BK-Pastoren kaum NS-neutrale Predigten oder Konfirmandenunterrichtsentwürfe finden: Fast alle wiesen NS-konforme Versatzstücke auf, transportierten NSInhalte. Zudem fiel das Ausmaß an expliziten Verquickungen zwischen Theologie und NS(-Staat) innerhalb der BK im Vergleich reduzierter aus: Hitler und das ,Dritte Reich‘ wurden von BK-Pastoren zwar ebenfalls gepriesen, jedoch seltener explizit als göttliche Offenbarungsquelle interpretiert, Hitler zwar zum Retter, seltener jedoch zum Propheten stilisiert, das ,Dritte Reich‘ zwar glorifiziert, seltener jedoch mit dem Gottesreich gleichgesetzt – NS-Würdigungen bei deutlicherem Auseinanderhalten der Sphären des Irdischen und des Göttlichen. Während das ,Führerprinzip‘ für den Raum der Kirche von BKlern mehrheitlich abgelehnt wurde, wurde es für den Staat nahezu uneingeschränkt goutiert, wie die vielen antidemokratischen, antiparlamentarischen Bezüge in der Verkündigung, oftmals in Kombination mit ,Führer‘-Propagierungen bestätigten. Selbiges gilt für den ,Arierparagrafen‘: Für den Raum der Kirche von BKlern überwiegend abgelehnt, wurde er für den gesellschaftspolitischen Raum vielfach ausdrücklich bejaht, das staatliche Vorgehen gegen ,die Juden‘ bis hin zu den ,Nürnberger Rassegesetzen‘ für notwendig erachtet, gerechtfertigt und sogar christlich legitimiert. Regelmäßig überschritten wurde die Grenze zwischen beiden Sphären dagegen u.a. in der Schöpfungsordnungstheologie, die auch innerhalb der BK-Geistlichkeit überraschend großen Anklang fand: Zahlreiche BKler sahen in ,Volk‘ und ,Rasse‘ gottgegebene, heilige Größen, betonten dabei aber ihren ,Geschöpf‘-Charakter stärker als Vertreter anderer kirchenpolitischer Lager. Diese Kombination aus Anerkennung der NS-Rassenlehre durch die Heiligung der Kategorie ,Rasse‘ als gottgegeben auf der einen und ausdrücklicher Unterordnung dieser Kategorie unter die göttliche Allmacht in Form der Hervorhebung, dass ,Blut und Rasse‘ nicht selbst zum Götzen gemacht werden dürften, war konsensfähig innerhalb der BK. Hierin ein Eintreten gegen die NS-Rassenideologie zu sehen, erscheint als verkürzt, nicht haltbar. Dieser Aspekt der Synthese von Nationalsozialismus und Christentum, der Vereinbarkeit und Vereinbarung von Kirchen und NS-Staat unter dem Primat Gottes ließ sich nicht nur hinsichtlich der NS-Rassenlehre, sondern auch in vielen weiteren Bereichen der theologischen BK-Selbstverortung feststellen. „Zuerst kommt Chris-

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tus, dann der Führer“ (Pastor THEODOR PINN)4 – Hitler gleich an Platz zwei, nur der Heiland noch vor ihm. Keine prinzipiellen Absagen an den Nationalsozialismus – auch wenn sich an der Hierarchisierung Konflikte mit dem totalitären NS-Staat entzünden konnten. Neben dem bemerkenswerten Ausmaß an NS-Konformität innerhalb der BK, welches die BK-Pastoren am stärksten kennzeichnete, ließ sich ferner Engagement für die Wahrung der kirchlichen Autonomie in ebenfalls beträchtlichem Umfang feststellen. Beide Formen waren gemeinsam bei ein und demselben Pastor zu finden, waren miteinander vereinbar und wurden von etlichen BK-Pastoren miteinander vereinbart: „Wir wollen dem neuen Staat mit ganzer Treue dienen, aber die Kirche muss Kirche bleiben“, lautete die zeitgenössische BK-Divise.5 Das Eintreten für die Wahrung der kirchlichen Autonomie in Form kirchlicher Selbstbehauptung war Inhalt des sogenannten ,Kirchenkampfes‘ der BK. Dieser gründete auf drei Säulen: dem BK-internem Wirken (Auf- und Ausbau der Organisation), das nur vor dem Hintergrund der Zielsetzung der BK relevant war, ohne selbst einen direkten NS-Bezug aufzuweisen; dem Eintreten gegen die innerkirchliche NSSelbstgleichschaltung, wie sie vonseiten der DC, u.a. durch die Übernahme des ,Arierparagrafen‘ und die Etablierung des ,Führerprinzips‘, betrieben wurde; kirchenbezogenen Auseinandersetzungen mit dem erstarkenden Neuheidentum sowie Abwehr von NS-staatlichen Übergriffen. Während für BKler alle drei Säulen eng zusammengehörten, blieb die dritte, die pastorale Befugnisse und Interessen maßgeblich tangierte, nicht auf BK-Pastoren beschränkt – schließlich ging es bei dem ,Kampf‘ gegen das mit dem Nationalsozialismus keineswegs deckungsgleichen Neuheidentum letzten Endes um die kirchliche Existenz, bei der Abwehr staatlicher Einflussnahmen um die Behauptung eigener Kompetenzen und Machtbefugnisse. NS-nonkonform war dieses Selbstbehauptungsengagement lediglich aufgrund des auch vor der Institution Kirche nicht haltmachenden NS-Totalitätsanspruchs. Über das Innerkirchliche hinausgehende, in den staatspolitischen, ideologischen Raum eingreifende Nonkonformität war am häufigsten, jedoch bei Weitem nicht ausschließlich innerhalb der BK zu verorten: Viele BKler, aber auch manche Neutralen und DCler, zeigten Formen des politisch-ideologischen Dissenses. Diese bleiben jedoch weit überwiegend punktuell. Zudem wurden sie vielfach mit NSKonformität und/oder Selbstbehauptung vereinbart, ohne das Gesamtbild maßgeblich zu prägen. Nur bei wenigen Pastoren steigerte sich politisch-ideologische NSNonkonformität über vereinzeltes Auftreten hinaus zu tatsächlicher Opposition. Diese wenigen Geistlichen gehörten ausnahmslos der BK an: Wenn es zu umfänglicher Opposition kam, dann innerhalb der BK – jedoch auch dort selten. Widerstand

_____ 4 Reumann 1998, S. 341. 5 LKANK, Halfmann, Wilhelm (Bischof) Nr. 38, BV 2, Bl. 9, Stellungnahme von „Pr. Siemonsen, P. Halfmann, P. Th. Matthiesen, P. Dr. Mohr, P. Möller, P. Gossmann, P. Kardel.“

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als nicht mehr innerhalb der Grenzen des Systems zu lösender Dissens blieb auch für die BK die unliebsame Ausnahme. Militärischen oder politischen, auf einen Umsturz des Regimes abzielenden Widerstand gab es unter den schleswig-holsteinischen Geistlichen nicht. In den politisch-ideologischen Raum eingreifendes nonkonformes Verhalten umfasste nichtkirchenbezogene Verweigerungen gesellschaftspolitischer Reichweite; in den politischen Raum ragenden Protest gegen kirchenfeindliche Akteure oder Strömungen innerhalb der NSDAP; nicht unmittelbar interessengebundene weltanschaulich-politische Kritik etwa an der Staats- bzw. Parteiführung oder an NSIdeologemen. Alle drei Formen der politisch-ideologischen NS-Nonkonformität berührten zumindest indirekt Berufsinteressen, etwa wenn staatliche Maßnahmen gegen Geistliche oder die Verabsolutierung des NS-Rassegedankens kritisiert wurden. Die viel beschworene ,christliche Motivation‘ für abweichendes Verhalten blieb für die Untersuchungsgruppe in der Regel auf ebendiese Interessengebundenheit beschränkt. Nur selten wurden eindeutig kirchenunabhängige NS-Maßnahmen kritisiert wie das staatliche Vorgehen gegen Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, politisch Andersdenkende und die anderen Opfergruppen des ,Dritten Reichs‘: kein Aufstand des christlichen Gewissens, der genau hier hätte ansetzen müssen. Die BK bildete die größte und heterogenste kirchenpolitische Gruppierung der Landeskirche, deren Pastoren am stärksten durch eine Kombination aus NSKonsens in Form von aktiver NS-Kollaboration aus Überzeugung und kirchlichem Autonomiestreben innerhalb des NS-Staates gekennzeichnet waren, oftmals ergänzt um punktuelle politisch-ideologische Einwände, die sich nur selten zu einer intensiveren NS-Opposition steigerten. Zwar wurde damit dem NS-Totalitätsanspruch für den Raum der Kirchen eine Grenze aufgezeigt, was jedoch nicht zuletzt aufgrund des Einhergehens mit aktivem NS-Engagement und NS-Zuneigung wenn überhaupt als geringer Störfaktor im NS-Herrschaftsapparat gewirkt haben dürfte. Auch wenn radikaler NS-Aktivismus innerhalb der BK verhältnismäßig selten blieb, die NSKonformität von BKlern also überwiegend weniger extrem ausfiel als bei Vertretern der anderen kirchenpolitischen Gruppen, fungierte die BK-Geistlichkeit aufgrund ihrer Mitgliederstärke als quantitativ ausschlaggebendste kirchenpolitische Gruppe der Landeskirche für pastorale NS-Kollaboration. 5) Handlungsspielräume. Die Kirchen als Schutzraum: Die Kirchen blieben im ,Dritten Reich‘ strukturell weitgehend unabhängig vom Staat, wodurch für Pastoren karrieristischer NS-Opportunismus begrenzt blieb, kaum Vorgaben für NS-konformes Handeln existierten und die Institution Kirche einen Schutzraum bot, der nicht nur neutrale Zurückhaltung, sondern auch Opposition ermöglichte. Innerhalb des totalitären NS-Regimes zählten die Kirchen zu den wenigen Einrichtungen, die sich zu jedem Zeitpunkt der NS-Herrschaft ein beträchtliches Maß an Unabhängigkeit vom Staat bewahren konnten. Ermöglicht wurde dies durch die

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Trennung von Kirche und Staat, wie sie in der Weimarer Republik zum Leidwesen der evangelischen Kirchen radikal vollzogen worden war. Nationalsozialistische Umformungen im Raum der Kirche waren kein Gewaltakt von außen, sondern Ausdruck einer gewollten NS-Selbsttransformation, die vonseiten der DC vorangetrieben, also eigeninitiativ aus den Kirchen heraus realisiert wurde. Auch wenn die DC anfänglich massiv von der NSDAP unterstützt worden waren, blieben sie eine innerkirchliche Parallelbewegung zur Partei – deren Verhältnis sich keineswegs konfliktfrei gestaltete, wie das Verbot der Verwendung des Hakenkreuzes in der DCSymbolik zeigt. Auch die von den DC dominierte Landeskirche Schleswig-Holsteins war zu keinem Zeitpunkt gleichgeschaltet – und das nicht nur aufgrund der BK: Auch die DC waren trotz aller vollzogenen Anpassungen an den NS(-Staat) daran interessiert, sich ein hohes Maß an kirchlicher Eigenständigkeit zu bewahren. Der NS(-Staat) selbst war weder durch eine homogene, zeitlich stringente Kirchenpolitik gekennzeichnet noch pauschal kirchenfeindlich ausgerichtet: Nationalsozialismus und Neuheidentum waren keineswegs identisch, wie die unüberschaubare Menge damaliger nationalsozialistischer Christen und christlicher Nationalsozialisten aufzeigte. Auf der Gemeindeebene wurde dies neben der Gruppe der Geistlichen vor allem anhand der häufigen Mitarbeit zahlreicher lokaler NSFunktionäre im Kirchenvorstand deutlich, insbesondere in den ersten Jahren der NS-Herrschaft. Das polykratische Herrschaftsgefüge, bei dem verschiedene parteiliche sowie staatliche Einrichtungen und Akteure um Machtbefugnisse und Entscheidungshoheiten konkurrierten, verhinderte zeitliche Stringenz und räumliche Einheitlichkeit auch in der Kirchenpolitik. So wurden große zeitliche sowie lokale Unterschiede im Verhältnis zwischen Kirche und NS(-Staat) sichtbar, maßgeblich verursacht durch Uneinigkeit und/oder Konkurrenz innerhalb bzw. zwischen verschiedenen NS-Instanzen. Zwar erfolgte eine insgesamt im Lauf der NS-Herrschaft zunehmende Zurückdrängung der Kirchen aus dem öffentlichen Raum mit dem Ziel, deren Wirkungsbereich auf genuin kirchliche Bereiche wie die Verkündigung zu beschränken. Auch wurden Geistliche aus der SS und SA ausgeschlossen, ab Mai 1933 offiziell nicht mehr in die NSDAP aufgenommen und büßten größtenteils übernommene NSÄmter nach und nach unfreiwillig ein. Inwieweit es dagegen zu einer vollständigen Ausschaltung der Kirchen nach siegreichem Kriegsausgang gekommen wäre, wie bis heute als Hauptargument für die vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen Christentum und Nationalsozialismus kolportiert wird, bleibt vor dem Hintergrund der skizzierten Herrschaftspolykratie und dem Mangel an diachroner Stringenz höchst spekulativ – zumal das Gros der deutschen Bevölkerung bei Kriegsende nach wie vor einer christlichen Konfession angehörte. Sicher ist, dass dem NS-Staat kirchenpolitisch frühzeitig primär an der Beendigung des ,Kirchenkampfes‘ gelegen war, der dem auf Homogenität ausgelegten Nationalsozialismus zuwider lief, indem er Pluralität, Konkurrenz und Zwist in die NS-,Volksgemeinschaft‘ inkorporierte. Auch der Einfluss des hierzu 1935 eigens gegründeten Reichsministeriums für Kirchliche

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Angelegenheiten blieb begrenzt: Eine Beilegung des ,Kirchenkampfes‘ konnte nicht erzielt werden. Die weitreichende, zu jedem Zeitpunkt (überwiegend) gewahrte strukturelle Freiheit der Kirchen vom NS-Staat war Grundvoraussetzung dafür, dass pragmatische, karrieristische Vorteile NS-konformer Agitationen verhältnismäßig gering blieben, kaum konkrete Vorgaben hinsichtlich praktizierter NS-Konformität vorlagen und die Kirchen ihren Geistlichen einen beträchtlichen Handlungsspielraum für neutrale Zurückhaltung und sogar offene NS-Opposition bieten konnten. Zwar war NS-Konformität für den Erhalt bzw. das Beibehalten eines kirchlichen Aufsichtsamtes ab 1933 durchaus förderlich. Dabei stellte allerdings politisches Engagement keine zwingende Voraussetzung dar. Im Rahmen der personellen Umgestaltungen der Propstenämter 1933/34 war eine DC-Mitgliedschaft maßgebender als eine NSDAP-Mitgliedschaft, wobei nicht alle 1933/34 im Zuge der personalen Neuordnung ins Propstenamt gekommenen oder bestätigten Geistlichen Partei- oder DC-Mitglied waren. Die NS-Positionierung des Kandidaten war nicht das ausschlaggebende Kriterium: Berücksichtigung fanden etwa auch Alter und Befähigung. Relativierend ist ferner zu ergänzen, dass das Karriere-Konzept für die Institution der Landeskirche von untergeordneter Relevanz war: Aufstiegschancen blieben aufgrund der pluralistischen Struktur des deutschen Protestantismus auf eine überschaubare Anzahl an kirchlichen Aufsichtsämtern beschränkt; die Organisationsstruktur der Landeskirchen war weitaus weniger zentralistisch und hierarchisch geprägt als im Katholizismus. Insbesondere im Vergleich zu anderen Berufsgruppen, etwa zur ,freien‘ Wirtschaft oder direkt vom Staat abhängigen Berufen, blieb die Bedeutung des Karriere-Motivs für die evangelische Geistlichkeit zweitrangig. Dies gilt neben den begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten auch in Bezug auf die materiellen Vorteile sowie die konkreten Machtbefugnisse, die im Zuge des ,Kirchenkampfes‘ beständig erfolgreich unterminiert wurden – sowohl von BK-Pastoren bei DCPröpsten als auch von DC-Pastoren bei BK-Pröpsten. Karrieristische Vorteile NSopportunistischen Verhaltens blieben für die Geistlichkeit stark eingeschränkt – zum einen aufgrund kircheninterner Strukturen, zum anderen durch die weitgehende strukturelle Unabhängigkeit der Kirchen vom Staat, aufgrund derer die Relevanz der Frage nach einer NS-konformen Positionierung verhältnismäßig begrenzt ausfiel. Noch entscheidender als dieser Umstand reduzierter Opportunismus-Bedeutung war die Tatsache, dass das Ausmaß an Sanktionen bei neutraler Zurückhaltung oder sogar NS-nonkonformer Betätigung gering ausfiel. Die Kirchen boten ihren Geistlichen aufgrund ihrer weitgehenden staatlichen Unabhängigkeit einen beachtlichen Handlungsspielraum, der kaum durch staatliche oder landeskirchliche NSVorgaben determiniert war und innerhalb dessen sowohl der Rückzug in die Passivität als auch offene Opposition möglich war – bzw. möglich gewesen wäre. So erfuhren die wenigen Geistlichen, die sich in passiver Zurückhaltung übten, indem sie beispielsweise in keiner einzigen NS-Organisation Mitglied wurden oder des ,Führers‘ in ihren Predigten nicht gedachten, keinerlei Sanktionen oder Benachtei-

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ligungen. Hier war allenfalls mit folgenlosen Beschwerden vonseiten der NSDAPOrtsgruppe zu rechnen. Kein Pastor musste der Partei oder ihren Organisationen beitreten geschweige denn Ämter und Funktionen übernehmen. Sogar Austritte aus NS-Organisationen waren jederzeit völlig sanktionslos möglich. Kein Geistlicher hatte seine Amtsführung nach dem NS(-Staat) auszurichten, um sein Pastorenamt ausüben und beibehalten zu können. Politische Betätigungen waren den Geistlichen formell sogar untersagt. Niemand war gezwungen, judenfeindliche Elemente in die Verkündigung aufzunehmen und hochzuhalten, die ,Volksgemeinschaft‘ zu sakralisieren, den Parlamentarismus zu attackieren usw. Es existierten kaum Vorgaben vonseiten des Staates oder der Landeskirche, die das erforderlich gemacht hätten. Das NS-konforme Handeln der Geistlichkeit beruhte in einem hohen Maße auf Freiwilligkeit. Bereits vor 1933 NS-exponierte Geistliche nahmen sogar moderate Sanktionen seitens der Landeskirche oder des Weimarer Staates in Kauf. Politische Neutralität hätte insbesondere deshalb nahegelegen, weil Geistliche stets ihre gesamte Gemeinde zu versorgen hatten, und damit – vor und auch nach der ,Machtergreifung‘ – nicht ausschließlich Nationalsozialisten. Für manche Pastoren war dies insbesondere vor 1933 in einer politisch stark polarisierten Zeit immerhin nachweislich ein Hinderungsgrund für den gewollten Parteieintritt. Durch eine politische NS-Exponierung entfernte sich der Geistliche notwendigerweise von den politisch anders eingestellten Gemeindegliedern; manche Pastoren gerieten mit SPD- oder auch KPD-Anhängern in ihren Gemeinden in Konflikt. Umgekehrt dürfte die Mehrheit der Glieder der Kirchengemeinden Schleswig-Holsteins früh nationalsozialistisch eingestellt gewesen sein. Diese wünschten sich vielfach einen jungen, nationalsozialistischen Kirchenmann, der ,die neue Zeit‘ verstand und sich ,volkstümlich‘ zeigte. Manchenorts wurde dagegen auch der innergemeindliche Wunsch nach der Verkündigung des unverfälschten Evangeliums greifbar. Wie sich ein Pastor zum NS(-Staat) positionierte und in welchem Maße er seine Amtsführung durch seine politische Haltung bestimmen ließ, oblag ihm zu jeder Zeit selbst. Es existierten also kaum konkrete Vorgaben für NS-Engagement. NS-Passivität in Form politischer Neutralität wurde nicht sanktioniert, hatte also keinen Einfluss auf den Erhalt der Anstellung bzw. den Erwerb des Lebensunterhaltes, obgleich NSKonformität dem Aufstieg in eines der wenigen kirchlichen Aufsichtsämter sehr zuträglich war. Doch nicht nur neutrale Zurückhaltung, sondern auch offen vorgetragene NSNonkonformität konnten Geistliche in einem bemerkenswerten Umfang an den Tag legen. So war zum einen innerkirchliche Auflehnung gegen die DC-geführte Landeskirchenleitung bzw. gegen die von den DC forcierte NS-Selbsttransformation möglich, wie sie insbesondere die BK-Geistlichkeit zeigte: Misstrauensvoten, offene Kritik und praktizierter Ungehorsam bis hin zur eigenständigen Ausbildung, Prüfung und Ordination von Theologen. In den meisten Fällen landeskirchlichen Ungehorsams war allenfalls mit disziplinarischen Verweisen zu rechnen, die keine weiteren Konsequenzen nach sich zogen; ausnahmslos alle vonseiten der BK geprüften

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und ordinierten Kandidaten wurden schlussendlich in den Dienst der Landeskirche übernommen. Weder der BK noch den DC war an einer Eskalation des ,Kirchenkampfes‘, an einem Schisma gelegen. Zum anderen war auch politisch-ideologische Opposition gegen Staat und Partei in außergewöhnlichem Umfang möglich – entweder vollkommen sanktionsfrei oder unter im Regelfall schlimmstenfalls geringen Sanktionen: Die Kirchen eröffneten ihren Geistlichen durch ihre weitgehende strukturelle Unabhängigkeit von Staat und Partei ein beachtliches Feld an nonkonformen Handlungsmöglichkeiten. Auch wenn die staatlichen Sanktionen für oppositionelles Handeln aufgrund NSstaatlicher Polykratie und Willkür stets unkalkulierbar blieben und tendenziell im Lauf der Jahre bis zum Kriegsbeginn zunahmen, dürften die für Geistliche geltenden, weiten Handlungsspielräume bereits für die Zeitgenossen als solche wahrnehmbar gewesen sein. Zwar waren zahlreiche Geistliche in Konflikte mit lokalen NS-Instanzen verwickelt – das Konfliktausmaß war nicht unerheblich –, viele auch von GestapoÜberwachung, Haussuchung und Verhör betroffen; gegen nicht wenige wurde Anklage erhoben. Jedoch blieben diese Auseinandersetzungen mit der Gestapo oder Partei in der Regel folgenlos und eingeleitete Gerichtsverfahren wurden überwiegend eingestellt oder endeten mit Freispruch. Davon waren nicht nur nonkonforme, sondern auch etliche NS-konforme Geistliche, sogar zahlreiche der radikalen NSAktivisten betroffen. Solche Maßnahmen waren demnach primär Ausdruck einer tendenziell zunehmenden NS-Kirchenfeindlichkeit, nicht die Folge von Opposition – obgleich aus abweichendem Verhalten beinahe grundsätzlich entsprechende, zumeist folgenlose Konflikte und Beschwerden resultierten, die bei der vorgesetzten Dienstbehörde, dem Landeskirchenamt eingingen. Erst vollzogene Straferteilungen durch die Gestapo bzw. durch Gerichte waren zielgenauer gegen NS-nonkonforme Geistliche gerichtet. Diese seltenen, tatsächlichen Strafmaßnahmen erfolgten größtenteils erst bei anhaltender Opposition und blieben auch dann in ihrer Härte überschaubar. Nonkonforme Geistliche konnten ihre Opposition zum Teil über Jahre hinweg offen praktizieren, ohne dass ihnen Einhalt geboten wurde. Aufgrund der weitgehenden strukturellen Unabhängigkeit der Kirchen wandten sich Partei, Gestapo und Reichsministerien zwecks Eingriff bzw. Disziplinierung des Dissidenten im Regelfall an die zuständige Kirchenbehörde. Das schleswigholsteinische Landeskirchenamt nahm seine Entscheidungshoheit in bemerkenswertem Umfang wahr – überwiegend zugunsten der Geistlichen. Zwar wurden nicht wenige Pastoren bei Konflikten mit lokalen NS-Instanzen in eine andere Gemeinde versetzt. In zahlreichen Fällen wies das Landeskirchenamt jedoch vonseiten der NSDAP bzw. NS-staatlichen Organen ausgesprochene Versetzungs- und Entlassungsforderungen erfolgreich zurück. Bemerkenswerterweise wurden sogar entsprechende Aufforderungen des schleswig-holsteinischen NSDAP-Gauleiters Hinrich Lohse sowie seines Stellvertreters ausgeschlagen. Institutionelle Nonkonformität

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wurde insgesamt konsequenter geahndet als politische Opposition, meistens jedoch lediglich durch disziplinarische Verweise, die keine weiteren Folgen nach sich zogen. Seltener resultierten aus oppositionellem Wirken über Versetzungen hinausgehende landeskirchliche Sanktionen. Manchen Theologen wurden ihre Aufsichtsämter entzogen. Als Pastor in den Ruhestand versetzt wurden Geistliche erst bei anhaltender, vehementer Opposition. Derartige Ruhestandsversetzungen blieben die Ausnahme. Kein einziger Pastor wurde aufgrund von Konflikten mit NS-Akteuren, mangelndem NS-Einsatz, fehlenden NS-Mitgliedschaften oder seiner kirchenpolitischen Einstellung pensioniert bzw. nach absolvierter Ausbildung nicht angestellt. Selbst in den seltenen Entlassungsfällen wurde entweder das volle Pastorengehalt oder ein nur geringfügig reduziertes Wartegeld ausgezahlt, die betroffenen Geistlichen zudem entweder weiter über Dienstaufträge beschäftigt oder von anderen Landeskirchen übernommen. Auch die wenigen nach rassenideologischem Maßstab ,belasteten‘ Geistlichen wurden zwar in den einstweiligen Ruhestand versetzt, jedoch erhielten sie weiterhin das Gehalt eines aktiven Pastors ausgezahlt und wurden weiterhin beschäftigt, mitunter in einer anderen Landeskirche. Staatliche Einflussnahmen und parteiliche Sanktionsforderungen konnten durch das Landeskirchenamt aufgrund des Erhalts weitgehender struktureller Eigenständigkeit der Kirchen abgemildert werden. Die seltenen tatsächlich erfolgten Strafmaßnahmen durch Staat, Partei oder Landeskirche folgten in der Regel erst aus mitunter jahrelang anhaltendem NS-oppositionellen Wirken und blieben auch dann in ihrer Durchschlagskraft überschaubar – insbesondere im Vergleich zu Strafmaßnahmen bei Widerstands- oder Opfergruppen. Die Geistlichkeit war weder den einen noch den anderen zuzurechnen. Ein kompromissloses Einschreiten gegen NSoppositionelle Pastoren fand weder staatlich noch landeskirchlich statt. Zugute kam den Geistlichen neben dem Schutz durch die Kirchen ferner der polykratische NSHerrschaftscharakter, in dessen Rahmen zwar totalitärer Willkür Tür und Tor offenstanden, umgekehrt jedoch die Gestapo Schutzhaft-Anordnungen von NSDAPKreisleitern kassierte, NSDAP-Ortsgruppenleiter KZ-Einweisungen durch die Gestapo verhindern konnten und etwa vonseiten der Gestapo angestrengte Gerichtsverfahren in der Regel mit Freispruch oder Verfahrenseinstellungen endeten – nicht zuletzt durch verschiedene Amnestie-Erlasse des ,Führers‘ selbst. Die Pastorenschaft gehörte somit zu den wenigen Berufsgruppen im ,Dritten Reich‘, denen ein beachtliches Maß an Möglichkeiten abweichenden Verhaltens von der neutralen Zurückhaltung bis hin zur offenen Konfrontation zur Verfügung stand – Handlungsprivilegien, die überwiegend ungenutzt blieben. Die Grenze von geistlicher Handlungsfreiheit und kirchlichem Schutzraum markieren in Nordelbien die vier zur Lübeckischen Landeskirche gehörenden Märtyrer, die nach anhaltend vehementer Opposition verhaftet und 1943 hingerichtet wurden. Häufiger als berufsmäßige oder strafrechtliche Sanktionen hinnehmen mussten die wenigen oppositionellen Geistlichen Gemeindekonflikte und reduzierten Kirchen-

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besuch: Opposition vollzog sich im ,Dritten Reich‘ nicht nur gegen Staat und Partei, sondern auch gegen die Mehrheitsgesellschaft. Vor dem Hintergrund der Kombination aus weitgehend karrieristischer Opportunismusfreiheit NS-konformen Handelns, kaum existenten entsprechenden Vorgaben für NS-konformes Handeln und stark limitiertem Sanktionsgeschehen erhält der herausgearbeitete Primat des NS-Konsenses zusätzliches Gewicht, insofern erkennbar wurde, welch beachtliches Maß an abweichenden Handlungsmöglichkeiten den Pastoren innerhalb des NS-Herrschaftssystems zur Verfügung gestanden hätte. 6) NS-Überzeugung. Zuneigung und Überzeugungshandeln: Die evangelische Geistlichkeit war weitaus stärker durch innere NS-Zuneigung als durch Abneigung oder ambivalente Einstellungen geprägt, wobei der Überzeugung handlungsleitende Funktion zukam. Mit der vorliegenden Studie wurde erstmals die diffizile Frage nach der inneren Einstellung zum NS(-Staat), der NS-Überzeugung, explizit zum Gegenstand einer kollektivbiografischen Untersuchung gemacht. Unter NS-Überzeugung wird der Glaube an die Richtigkeit bzw. Falschheit des Nationalsozialismus verstanden, die innerliche Bejahung oder Verwerfung desselben. Grundsätzlich wurde davon ausgegangen, dass das Handeln nicht zwangsläufig der inneren Überzeugung entsprochen haben musste. NS-konformes Handeln konnte sozialem Druck geschuldet gewesen, punktuelle Kritik ebenso mit einer NS-Ablehnung wie mit einer starken NSBejahung einhergegangen sein. Daher wurden öffentliches Handeln und innere Einstellung als zwei strikt voneinander getrennte Bereiche behandelt. Während praktiziertes Handeln den Quellen unmittelbar entnommen werden konnte, fungierten innere Einstellungen als latentes Konstrukt, das sich der direkten Wahrnehmung entzog. Aus diesem Grund wurde nach Mess-Indikatoren geforscht, die das Konstrukt operationalisieren. 36 solcher Indikatoren ließen sich nach umfänglicher Prüfung bestätigen. Auf der Basis dieser Indikatoren konnte das Einstellungskonstrukt für das Gesamtkollektiv untersucht und viele Pastoren ihrer Überzeugung entsprechend klassifiziert werden. Zugrunde gelegt wurde dabei die Annahme, dass sich die NS-Überzeugung des einzelnen Pastors stets aus den beiden Grundformen der NS-Zustimmung und der NS-Ablehnung zusammensetzte, wie sie von den Indikatoren jeweils in Reinform abgebildet werden. Da ein einzelner Indikator für sich genommen nicht bereits für das Konstrukt der Überzeugung als Ganzes stehen konnte, das ansonsten schließlich direkt messbar gewesen wäre, wurde in einem zweiten Schritt ein komplexes Mess-Modell entwickelt, mit dessen Hilfe die NS-Überzeugung unter Berücksichtigung aller von dem jeweiligen Pastor realisierten Indikatoren ermittelt werden konnte. Herzstück des Modells ist der NS-Überzeugungs-Score, der die jeweils nachgewiesenen Zu- und Abstimmungsindikatoren miteinander verrechnet. Dieser Score vermag so nicht nur Zu- und Abneigung sowie Ambivalenz anzuzeigen, sondern

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auch den Homogenitätsgrad von Zu- oder Abneigung. Auch die Intensität der Überzeugung wurde im Mess-Modell berücksichtigt. Auf diese Weise konnte die in anderen kollektivbiografischen Arbeiten in der Regel vernachlässigte oder auf der Grundlage rein qualitativen Vorgehens berührte Frage nach der NS-Einstellung erstmals auf einer empirisch-statistischen Grundlage gezielt untersucht werden. Für über die Hälfte der Geistlichen konnten so Angaben zur NS-Überzeugung gemacht werden: weitaus mehr Pastoren, als quellenbedingt mithilfe rein qualitativer Verfahren hätten überzeugungsklassifiziert werden können. Zudem konnte durch die Integration gängiger qualitativer Möglichkeiten der Einstellungsuntersuchung über Tagebuchinhalte usw. via Indikatoren in das empirische Mess-Modell ein vorschnelles Gleichsetzen von subjektiven Tagebuchinhalten usw. mit der tatsächlichen Einstellung verhindert werden. Auf der Basis des eigens entwickelten Mess-Modells wurde am schleswigholsteinischen Fallbeispiel ersichtlich, dass die Pastorenschaft durch ein bemerkenswertes Ausmaß an NS-Bejahung gekennzeichnet war: Der überwiegende Großteil der überzeugungsklassifizierten Geistlichen wies eine NS-Zuneigung auf, die oftmals homogen ausfiel. Während Geistliche der Deutschkirche eine homogene, überaus starke NSZuneigung zeigten, dominierte bei den DC und kirchenpolitisch Neutralen eine ebenfalls homogene, jedoch im Vergleich zu den Deutschkirchlern weniger radikal ausgeprägte NS-Zuneigung; NS-Abneigung und Ambivalenz blieben in diesen drei kirchenpolitischen Lagern selten. Erst innerhalb der BK wurde ein breites Spektrum an NS-Überzeugungen greifbar: Hier ließen sich über den Einzelfall hinausgehend Ambivalenz und auch NS-Abneigung belegen. Dominant blieb jedoch auch unter BK-Pastoren die NS-Zuneigung. Ausschlaggebend war bei der Bestimmung der NS-Überzeugung der gesamte Untersuchungszeitraum, wobei die nur relativ selten belegbaren Positionsänderungen bei der Berechnung des NS-Überzeugungs-Scores extra berücksichtigt wurden. Der Zustimmungshöhepunkt fiel für die Pastorenschaft auf die Jahre 1933/34, die besonders euphorisch begangen wurden. Ab 1935 waren erste Ernüchterungserscheinungen zu bilanzieren, die mit der tendenziell ansteigenden NS-Kirchenfeindlichkeit zunahmen. Damit überschritt die Geistlichkeit berufsgruppenbedingt ihren Zustimmungszenit erheblich früher als die Gesamtbevölkerung, bei der erst mit Kriegsbeginn von einem Zustimmungsrückgang auszugehen ist. Gleichwohl markierte die seit 1934/35 tendenziell abnehmende Zustimmung keinen Stimmungsumschwung: Positionsänderungen blieben, wie gesagt, relativ selten. Zustimmung schlug nur bei wenigen Pastoren in Ablehnung um. Manche der Indikatoren gewährten zudem aufschlussreiche Einblicke in die Ursachen und Motive, die den Überzeugungen zugrunde lagen. Abneigung resultierte primär aus wahrgenommener bzw. selbst erlebter NS-Kirchenfeindlichkeit, war also interessengebunden. NS-Zuneigung konnte auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. So wurde z.B. ein bemerkenswert hohes Maß an ideologischer NS-

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Zustimmung greifbar, das mit dem Ausmaß an propagierter NS-Ideologie korrespondierte: Verurteilung der Weimarer Republik, Nationalprotestantismus, Antiindividualismus und Volksgemeinschaftsideologie, Antikommunismus, Rassismus und Judenfeindlichkeit sowie weitere NS-Ideologeme waren prägend bzw. wurden von etlichen Geistlichen befürwortet, waren mitunter sogar uneingeschränkt konsensfähig. Die NS-Politik und deren ,Erfolge‘ wurden gutgeheißen – sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch. Auch speziell die vermeintliche Kirchenfreundlichkeit der NSDAP war mitausschlaggebend für die Hinwendung zum NS(-Staat): § 24 des NSDAP-Parteiprogramms; Verwendung christlicher Terminologie durch Hitler, Goebbels und andere Funktionsträger; Gottesdienstbesuche geschlossener NSFormationen in den ersten NS-Herrschaftsjahren; anfänglicher Rückgang der Kirchenaustritte. In der Partei und ihren Organisationen und Verbänden wurden geeignete Missionsmöglichkeiten gesehen. Nicht zuletzt wurde die unbedingte Treue gegenüber der staatlich legitimen Obrigkeit, wie sie biblisch begründet war, hochgehalten. Diese kulminierte in ein bemerkenswert hohes, mitunter nachweisbar bis Kriegsende und darüber hinaus ungebrochenes Ausmaß an ,Führerglaube‘. Bei all den genannten Aspekten stellten Bibel und Bekenntnis offenkundig keinen Hinderungsgrund dar, wirkten sich vielfach sogar förderlich auf die NS-Nähe aus. Bereits erkennbar wurde dies u.a. anhand der Verbindung von christlicher Lehre und nationalsozialistischer Weltanschauung in der Verkündigung. Neben der Frage, wie die Geistlichkeit zum Nationalsozialismus eingestellt war, wurde in einem zweiten Schritt beleuchtet, welcher Stellenwert dieser Einstellung für das konkrete Handeln beizumessen war. Während die Bedeutung der Überzeugung für das Handeln im Nationalsozialismus innerhalb der Forschung in den letzten Jahren u.a. gegenüber gruppendynamischen Bedingungsfaktoren relativiert wurde, ließen sich am Beispiel der schleswig-holsteinische Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ deutliche Hinweise auf einen bemerkenswerten Grad an pastoralem Handeln aus Überzeugung, an Überzeugungshandeln ermitteln – zumal gruppendynamische Erklärungsansätze bei der regional weit verstreuten Geistlichkeit ohnehin nicht als tragfähig erschienen. Das Überzeugungshandeln manifestierte sich sowohl im Hinblick auf NS-Konformität als auch NS-Nonkonformität. Zum einen war bei einigen Geistlichen eine solche Übereinstimmung zwischen der Einstellung und dem Handeln explizit erkennbar. Zum anderen konnte diese Verbindung auf einer soliden empirischen Grundlage statistisch erhärtet werden – ein Novum. So standen durch die genaue Unterscheidung zwischen öffentlichem Handeln und der Einstellung bei der Quellenauswertung bzw. bei der anschließenden Strukturierung der Rohdaten enorme, voneinander weitgehend unabhängige Datensätze zur Verfügung, die miteinander korreliert werden konnten. Dabei ergaben sich statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen NS-konformen Handlungen und Einstellungen bzw. NS-nonkonformen Handlungen und Einstellungen. Trotz des möglichen Einflusses anderer Faktoren auf die Ergebnisse, insbesondere der Quellenverfügbarkeit, lieferten die Befunde ein starkes, empirisch-quantitatives Argu-

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ment für ein beträchtliches Ausmaß an Überzeugungshandeln, das nicht zuletzt mit den qualitativen Ergebnissen der Arbeit übereinstimmte. Der Befund des weit verbreiteten NS-konformen Handelns aus Überzeugung heraus korrespondierte mit der Tatsache, dass die Kirchen ihren Geistlichen beträchtliche Handlungsspielräume eröffneten, in denen nur wenige verbindliche Vorgaben für NS-konformes Handeln existierten, NS-Unterstützung kaum karrieristisch-opportunistische Vorteile mit sich brachte und der Druck zu unliebsamen, der eigenen Überzeugung widersprechenden NS-Zugeständnissen verhältnismäßig gering blieb, in dem sogar das offene Zeigen abweichenden Verhaltens möglich war. Forschungsdesiderate Die Einleitung beschließend seien sieben weiterführende Forschungsdesiderate benannt. – Individualbiografische Vertiefungen: Die vorliegende Studie verfolgte das Ziel, am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel erstmals einen breiten, empirisch fundierten Einblick in die NS-Positionierung der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ zu ermöglichen. Dazu wurde die Stellung von 729 Pastoren zum NS(-Staat) untersucht. Der Großteil dieser Personen ist nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der Forschung, mitunter sogar den heutigen Gemeinden der damaligen Pastoren unbekannt. Da der vorliegenden Arbeit primär ein kollektives Erkenntnisinteresse zugrunde lag, konnte diesbezüglich nur bedingt Abhilfe geschaffen werden: Längst nicht auf alle der schleswig-holsteinischen Pastoren konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlicher eingegangen werden. Desiderat bleiben daher individualbiografische Fokussierungen auf die damaligen Akteure auch jenseits kirchlicher Funktionsträger. Als Impuls dafür ist die Entwicklung einer personenbezogenen digitalen Datenbank als forschungsbasierte Webseite in Arbeit, die nicht nur die biografischen Eckdaten zu allen 729 schleswigholsteinischen Geistlichen umfassen, sondern auch NS-relevante Informationen sowie weiterführende Quellen- und Literaturverweise zu den Pastoren für ein breites, nicht nur fachwissenschaftliches Publikum leicht zugänglich im Netz bereitstellen soll. Die Datenbank soll parallel zum Erscheinen der vorliegenden Arbeit gelauncht werden und sie durch ihre individualbiografische Perspektive supplementär erweitern. Des Weiteren musste der Umfang des für die einzelne Person ausgewerteten Quellenmaterials notwendigerweise hinter individualbiografischen Studien zurückbleiben – obgleich eine möglichst breite Quellenbasis zugrunde gelegt wurde, um den 729 Geistlichen gerecht zu werden. Desiderat bleiben somit nicht nur individualbiografische Fokussierungen, sondern auch vertiefende individualbiografische Detailstudien zu den damaligen Akteuren, in deren Rahmen das Verhältnis des jeweiligen Geistlichen zum NS(-Staat) unter Hinzuziehung zusätzlicher Quellengattungen noch umfänglicher beleuchtet werden könnte. Die Webseite kann dabei als

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wichtiges Instrument im Forschungsprozess dienen, insofern sie nicht nur eine Zusammenstellung der damaligen Akteure und Gemeinden der schleswig-holsteinischen Landeskirche bereitstellt, sondern auch die biografischen Eckdaten, erste wichtige, NS-bezogene Informationen sowie weiterführende Quellen- und Literaturverweise zu den einzelnen Kirchenmännern liefert, also Impulsgeber und Einstiegsbereiter zu sein vermag. Bei der anschließenden Untersuchung können die beiden entwickelten Typologien individualbiografisch nutzbar werden.6 So zeigen die zehn personalen NSPositionierungsformen das mögliche Positionierungsspektrum auf, wobei dem häufigen Zusammengehen von Konsens und Selbstbehauptung Rechnung getragen wird. Auch die mutmaßlich vollständige Handlungstypologie stellt ein geeignetes Analysewerkzeug dar, auf deren Grundlage scheinbar streng individuelles Handeln als Teil kollektiver, generalisierter Muster interpretierbar wird, Ausnahme- also von Regelfällen unterschieden werden können. Zudem vermag die Typologie Handlungsweisen sowohl hinsichtlich ihres Forschungsstandes als auch struktureller, staatlicher sowie innerkirchlicher Rahmenbedingungen zu kontextualisieren. – Sozialprofil: Gemäß der Fragestellung der Arbeit konnte das Sozialprofil der Untersuchungsgruppe nicht systematisch analysiert werden. Eine Ausnahme hiervon wurde lediglich in Bezug auf das Konzept der Generationalität gemacht, dessen analytische Bedeutung für die NS-Forschung bekannt ist. Daher bleibt die Erstellung eines umfänglichen Sozialprofils der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft des ,Dritten Reichs‘ ein Desiderat künftiger Untersuchungen. Vergleichsstudien auch pastoraler Kollektive stehen hinreichend zur Verfügung. Dieses Sozialprofil wäre in einem weiteren Schritt mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie in Verbindung zu setzen, um so zusätzliche Erklärungsansätze für konforme wie nonkonforme NSPositionierungen zu entwickeln. Im Rahmen der Erstellung eines solchen umfänglichen Sozialprofils wäre ferner systematisch der Frage nach der Generationalität auch über die Untersuchungsgruppe hinaus nachzugehen. Der Befund, dass die Kriegsjugendgeneration, jene Generation des Unbedingten (Wildt) unter den Theologen eine kirchenpolitisch eindeutig BK-dominierte war, lässt eingehende sozialstrukturelle, generations- und milieuspezifische Folgeuntersuchungen über die Grenzen der damaligen Landeskirchen hinaus als wünschenswert erscheinen. – Empirische Entnazifizierungsforschung: Ein weiteres Desiderat liegt in der empirischen Erforschung der kirchlichen Entnazifizierung begründet. Dabei wäre erstens zu beleuchten, wie sich die Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ nach Kriegsende zum

_____ 6 Jüngst umgesetzt bei: Hertz 2022, Verkündigungspraxis.

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Nationalsozialismus positionierte: Distanz und Umbruch oder Relativierung und Kontinuität bis hin zur anhaltenden NS-Verhaftung? Zweitens wäre eine ganzheitliche Untersuchung des kirchlichen Umgangs mit der in der Nachkriegszeit wirkenden Pastorenschaft wünschenswert. Eine solche dürfte nicht auf die Frage nach den Entlassungen aus dem Pastorenamt begrenzt bleiben, sondern hätte systematisch auch nach anderen Formen des Umgangs wie Versetzungen in andere Gemeinden, Aberkennungen von Aufsichtsämtern unter Beibehaltung des Pastorenamtes, Ruhegehaltszahlungen, späteren Danksagungen und vielem mehr zu fragen. Ferner wäre der kirchliche Umgang mit den Opfern und im ,Dritten Reich‘ Sanktionierten zu beleuchten: Wie wurde mit diesen im Vergleich zu den ,Belasteten‘ verfahren? Beide Themenkomplexe könnten kollektivbiografisch am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel behandelt werden. Hierfür zeigte die vorliegende Arbeit auf, bei welchen Geistlichen auf die eine oder andere Art Handlungsbedarf bestand. – Bundesweiter Fokus. Exemplarität und Interkonfessionalität: Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit basieren auf einer Detailstudie zur schleswig-holsteinischen Geistlichkeit. Vieles spricht jedoch für die Gültigkeit zahlreicher der Befunde auch über die nördlichste der damaligen Landeskirchen hinaus. Schließlich beruhen diese auf einer großen Untersuchungsgruppe, auf einer enormen Datenmenge. Gleichwohl stehen ähnlich differenzierte Studien zur Pastorenschaft der anderen ehemaligen Landeskirchen noch aus. Stichhaltige Vergleiche zwischen den Landeskirchen und in dem Zusammenhang auch Untersuchungen zur Verallgemeinerbarkeit der vorliegenden Ergebnisse bleiben daher ein zentrales Anliegen. Solche interlandeskirchlichen Vergleiche ließen sich unter Anwendung der vorliegend entwickelten und evaluierten drei Produkte: personale Typologie, Handlungstypologie sowie Überzeugungs-Mess-Modell empirisch fundiert vornehmen. Alle drei Produkte sind schablonenhaft auf andere kirchliche Kollektive anwendbar, ohne sich gegen Modifikationen zu sperren: Sie dürften sich als anpassungsfähige Forschungsinstrumente besonders eignen. Sollte aus arbeitsökonomischen Gründen nicht die gesamte Pastorenschaft einer Landeskirche untersucht werden können, wären unbedingt Methoden der an statistischen Kriterien orientierten Samplebildung anzuwenden, da nur so Zufall begründet von Repräsentativität unterschieden, nur so die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet werden könnte. Auf diese Weise wäre als wünschenswertes Langzeitziel eine schlussendlich umfassende, regionale bzw. landeskirchliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede berücksichtigende, evidenzbasierte, deutschlandweite Gesamtbeurteilung der NS-Positionierung der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ möglich. Die Kirchen bieten diesbezüglich noch ein enormes Forschungspotenzial. Nicht zuletzt könnten mithilfe der beiden Typologien sowie des ÜberzeugungsMess-Modells auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der NS-Positionierung der Geistlichkeit zwischen den evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche in Deutschland, die zunehmend Gegenstand interkonfessioneller Untersu-

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chungen werden, erstmals auf einer empirischen Grundlage präzise ausgeleuchtet werden. – Empirische NS-(Kirchen-)Forschung: Mit dem Gedanken der Übertragung der Typologien und des Überzeugungs-Mess-Modells auf andere Landeskirchen wurde für die Kirchengeschichtsforschung das Desiderat der stärkeren Berücksichtigung empirisch-quantitativer Verfahren bei der Erforschung der NS-Vergangenheit indirekt bereits angesprochen. Erst durch die synergetische Zusammenführung von qualitativen mit quantitativen Methoden können Ausnahmen von Regelfällen unterschieden, Gewichtungen vorgenommen und die Frage nach der Vergleichbarkeit und Generalisierbarkeit von Ergebnissen evidenzbasiert beantwortet werden. Insbesondere der kollektivbiografischen Herangehensweise dürfte in diesem Rahmen eine große Bedeutung zukommen, insofern diese für die Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden besonders prädestiniert ist – wie nicht zuletzt die vorliegende Arbeit erkennen lässt. Inhaltlich bleiben in diesem Zusammenhang detaillierte Folgestudien zum Themenkomplex ,Geistlichkeit im Zweiten Weltkrieg‘ (Wehrmacht, Waffen-SS, Militärseelsorge, ,Heimatfront‘) ein zentrales Erfordernis. Die Quantifizierung NS-relevanter Handlungen auch neben formal-standardisierten Kriterien wie Mitgliedschaften oder Ämtern/Rängen mittels Handlungstypen, auf deren Grundlage in der vorliegenden Arbeit erstmalig eine explorative Erweiterung der Anwendung statistischer Verfahren innerhalb der Geschichtswissenschaft vorgenommen wurde, dürfte sich auch jenseits der Kirchengeschichtsschreibung für die NS-Forschung als gewinnbringend erweisen. Dies gilt zum einen für empirische Positionsbestimmungen anderer nicht NS-vordeterminierter Kollektive wie etwa von Lehrern oder Professoren. Zum anderen ließe sich so auch das Handeln NS-vorgeprägter Personengruppen wie einzelner SA-Stürme, SS- oder auch Wehrmachtseinheiten usw. systematisch durchdringen – qualitativ sowie noch konsequenter als bisher auch quantitativ. Auf diese Weise könnte das damalige (kollektive) Handeln im Nationalsozialismus, innerhalb der NS-,Volksgemeinschaft‘, auf einer soliden, breiten Datenbasis noch systematischer, umfänglicher, präziser und differenzierter ausgeleuchtet werden. – Historische Einstellungsforschung: Ein weites und ebenso unerforschtes sowie kompliziertes Feld mit enormem Forschungspotenzial liegt in der historischen Einstellungsforschung begründet. Bisher wurde auf diesem Gebiet primär qualitativ geforscht, wobei die Frage nach der Einstellung geschichtswissenschaftlich oft ausgelassen oder aus Handlungen stillschweigend auf die vermeintlich korrelative Haltung geschlossen wurde. In der vorliegenden Arbeit wurde erstmals der Versuch unternommen, das latente, nicht direkt wahrnehmbare Konstrukt der inneren NSÜberzeugung für eine konkrete Untersuchungsgruppe mittels eigens entwickelter Indikatoren und einem darauf basierenden Mess-Modell zu untersuchen. Während die Operationalisierung latenter Konstrukte in Nachbardisziplinen wie der empiri-

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schen Sozialforschung, Psychologie und pädagogischen Diagnostik mittels Indikatoren bezüglich gegenwartsbezogener Fragestellungen etabliert und generell üblich ist, wurde mit dem vorliegenden, explorativen Versuch der Übertragung dieser Methoden auf eine historische Fragestellung Neuland betreten. In diesem Sinne sucht die Arbeit eine intensivere Beschäftigung mit der historischen Einstellungsforschung anzuregen, insbesondere zur ganz entscheidenden Frage: Wie waren die damaligen Akteure des ,Dritten Reichs‘ zum Nationalsozialismus eingestellt? Die vorliegend zur Beantwortung generierten Indikatoren dürften sich mutmaßlich auch zur Untersuchung der NS-Einstellung anderer pastoraler Kollektive bzw. Individuen außerhalb Schleswig-Holsteins eignen, also auf andere Landeskirchen übertragbar sein – ebenso wie das Mess-Modell, das als Schwellenwertmodell bedarfsorientierte Anpassungen zulässt. Dagegen können die meisten der Indikatoren keine Gültigkeit für andere, nichtkirchliche Berufsgruppen beanspruchen. Vielmehr wären für andere Berufsgruppen neue Indikatoren zu generieren, weitere zur Messung der NS-Überzeugung in der Gesamtbevölkerung. Dabei müssten stets Zustimmung und Ablehnung berücksichtigt werden, um Einseitigkeit zu vermeiden. Zur Erstellung und v.a. auch zur wichtigen anschließenden Validierung von Indikatoren dürften sich kollektivbiografische Studiendesigns besonders eignen, da im Rahmen solcher Arbeiten potenziell große intersubjektive Datensätze generiert werden. Im Rahmen des explorativen Vorgehens konnten nicht alle Schwierigkeiten der Indikatorgenerierung, -validierung und -verarbeitung gelöst werden. Wünschenswert wären daher eingehende Folgestudien zu Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung der zumeist qualitativen Zugänge der Geschichtswissenschaft mit den stärker empirisch-quantitativ ausgerichteten Herangehensweisen der Sozialwissenschaften, Psychologie und pädagogischen Diagnostik, um den synergetischen Mehrwert bei der transdisziplinären Untersuchung der NS-Überzeugung zu evaluieren, zu vertiefen und zu zementieren: Unter welchen Bedingungen können gängige Methoden der Messung latenter Konstrukte retrospektiv auf historische Einstellungen, d.h. auf Akteure, die nicht mehr befragt werden können, angewandt werden? Hier gilt es neue Perspektiven zur Schließung einer Forschungslücke von grundsätzlicher Reichweite zu entwickeln. So könnte sich der kontroversen Frage nach der Relevanz der Überzeugungen für das Handeln in und für das NS-Regime und damit der komplexen Frage nach den Gründen methodisch zufriedenstellend angenähert werden. – Verbindung von Kirchengeschichtsforschung und allgemeiner NS-Forschung. Zur Bedeutung der Kirchen: Besondere Relevanz kommt dem letzten Desiderat zu: der engen Verbindung von Kirchengeschichtsforschung und allgemeiner NS-Forschung, wie sie in der vorliegenden Arbeit durch die Fokussierung auf das Verhältnis von Kirche und Staat, Pastorenschaft und NS-Regime, Christentum und Nationalsozialismus konsequent umgesetzt wurde. Dies ist bislang nur in unzureichendem Maße geschehen. Während die Kirchengeschichtsschreibung dadurch notwendi-

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gerweise bei einer rein innerkirchlichen, institutionsgeschichtlichen Darstellung, beim sogenannten ,Kirchenkampf‘ verbleibt, läuft die NS-Forschung Gefahr, die Bedeutung der Kirchen als wesentlicher gesellschaftlicher Faktor, als Multiplikator in Bezug auf die gesellschaftliche Meinungsbildung nicht hinreichend einzubeziehen. Das derzeitige Exzellenzcluster an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Religion und Politik verspricht hier einen wichtigen Beitrag zur stärkeren künftigen Verzahnung zu leisten. In der vorliegenden Arbeit konnte auf einem empirischen Fundament der erhebliche Beitrag herausgearbeitet werden, den die Geistlichkeit im Hinblick auf die NS-Herrschaftsbereitung, NS-Herrschaftskonsolidierung und den langjährigen NS-Herrschaftserhalt leistete. Somit wurden die Kirchen primär als NS-stützende Herrschaftssäule greifbar, viel mehr denn als Störfaktor. Nicht möglich war es hingegen, die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieser Mitwirkung genau zu bestimmen, also den Faktor der evangelischen Kirchen in diesem Zusammenhang empirisch zu gewichten. Der Fokus lag auf den Handlungen selbst, auf den Sendern, nicht den Empfängern. Zweifelsfrei erlaubten theoretische Überlegungen eine Einordnung der Geistlichkeit als nicht unerheblichen gesellschaftlichen Multiplikator. Wichtiges Desiderat bleibt jedoch die empirische Absicherung und Präzisierung dieser Annahme, wie sie u.a. mittels Wahlforschungsstudien oder auch kollektivbiografischen Untersuchungen sowie individualbiografischen Detailstudien zu den Kirchenvorständen, Kirchenältesten und, sofern die Quellenlage es zulässt, auch zu den vielen weiteren Gemeindegliedern realisiert werden könnten. Im Rahmen solcher Studien wäre speziell nach den Auswirkungen nicht nur politischer NS- Hinwendungen und -Betätigungen von Pastoren, sondern auch nach den Effekten des hohen Maßes an NS-konformer Verkündigung zu fragen, wie sie in der vorliegenden Studie am Beispiel der schleswig-holsteinischen Geistlichkeit herausgearbeitet wurde: Wie nahmen die Gemeindeglieder diese auf, wie wurden sie davon beeinflusst? Welche Wirkung erzielten die Predigten und Konfirmandenstunden, das pastorale NS-Engagement in den Gemeinden? Aufgestellt wurde vorliegend die begründete Vermutung, dass das hohe Maß an Aufnahmen NSkonformer Elemente in die Verkündigung, an direkten NS-Lobpreisungen sowie auch an expliziter Verknüpfung von christlicher Lehre und nationalsozialistischer Weltanschauung den Nationalsozialismus für bewusst christliche Kreise ansprechend und anschlussfähig gemacht haben bzw. diese Ansichten gefestigt und vertieft haben dürfte. Wer hätte dem Nationalsozialismus skeptisch gegenüberstehen sollen, wenn doch selbst der Ortsgeistliche, der Pastor von nebenan in der SA mitmarschierte und sonntäglich Hitler pries? Fest steht, dass Hitlers Wähler, seine vielen tausend und abertausend Anhänger, das Rückgrat der NS-,Volksgemeinschaft‘ Christen waren und sich größtenteils aus dem protestantischen Milieu rekrutierten, dem wegweisenden Einflussbereich der evangelisch(-lutherischen) Geistlichkeit (Schleswig-Holsteins).

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Teil 1 Grundlagen

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Die vorliegende Arbeit sucht einen empirischen, ausgewogenen und differenzierten Einblick in die NS-Positionierung der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ zu ermöglichen. Im Zentrum steht dazu die Untersuchung der evangelischlutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins1 im Nationalsozialismus, genauer: ihrer Pastorenschaft. Wie positionierte sich diese zum Nationalsozialismus? Mit dieser auf Vollständigkeit ausgerichteten kollektivbiografischen Herangehensweise, die anhand aller Pastoren einer Landeskirche nach dem gesamten Spektrum des NSbezogenen Handelns sowie der Einstellungsweisen zum NS(-Staat) fragt, stellt die Arbeit ein Novum nicht nur innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung dar: Eine vergleichbare Studie liegt bislang weder für eine der damaligen Landeskirchen Deutschlands noch andere, nichtkirchliche Kollektive der NS-Zeit vor. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Studie nicht nur als inhaltliche, sondern auch methodische Grundlagenforschung. https://doi.org/10.1515/9783110760835-002 Der Ansatz birgt für die ehemalige evangelisch-lutherische Landeskirche Schleswig-Holsteins eine besondere Brisanz. Zum einen fungierte die protestantisch geprägte Provinz Schleswig-Holstein als (frühe) NS-Hochburg.2 Grundsätzlich ist

_____ 1 Der regionale Zuschnitt auf eine der ehemaligen Landeskirchen ist gängige Praxis und resultiert aus der pluralistischen Struktur des deutschen Protestantismus, der weitaus weniger zentralistisch geprägt war als der Katholizismus; die einzelnen Landeskirchen waren weitgehend autonom. Vgl. zum schematischen Aufbau des deutschen Protestantismus bis 1933: Jakob 1993, S. 243; Hermle 2011, S. 175. Auch im ,Dritten Reich‘ gelang keine zentralistische Gleichschaltung. Die Landeskirche Schleswig-Holsteins entsprach territorial der damaligen preußischen Provinz Schleswig-Holstein (heutiges Schleswig-Holstein ohne Lübeck, Eutin und Geesthacht, jedoch einschließlich Altona, Blankenese und Wandsbek, die 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz an Hamburg abgetreten wurden). Sie bestand aus 466 Kirchengemeinden (geringfügig im Lauf der Jahre 1933 bis 1945 variierend), zusammengefasst in 22 Propsteien und dem Herzogtum Lauenburg. Bei der ,Machtergreifung‘ „lebten im Gebiet der Landeskirche 1,6 Millionen Menschen, von denen 92% evangelisch-lutherisch waren.“ (Linck 2014, S. 21; vgl. auch Fix/Nicolaisen/Pabst (Bearb.) 2017, S. 538f). Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht alle 92 Prozent der 1,6 Millionen Schleswig-Holsteiner praktizierende Christen waren, weisen die Zahlen auf einen beträchtlichen von den Geistlichen der Untersuchungsgruppe versorgten Anteil der schleswig-holsteinischen Bevölkerung hin. 1977 ging die Landeskirche in der ,Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche‘ (NEK) auf, die 2012 zur heutigen ,Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland‘ (,Nordkirche‘) erweitert wurde. 2 Vgl. u.a. Falter 1991, S. 159 und 161. Falter hebt hervor, dass die NSDAP bei der Juliwahl 1932 in Schleswig-Holstein deutlich über 50 Prozent (hier und im Folgenden auf die Wahlberechtigten bezogen) lag; bei der Reichstagswahl 1933 erzielte die NSDAP sechs ihrer acht besten Ergebnisse in schleswig-holsteinischen Gemeinden mit bis zu 88,2 Prozent (Viöl). In Viöl amtierte seit 1920 der früh und sehr exponiert für den Nationalsozialismus engagierte Pastor JOHANN PEPERKORN, NSDAPhttps://doi.org/10.1515/9783110760835-002

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von einer im Verhältnis zum Katholizismus stärkeren Affinität des Protestantismus zum Nationalsozialismus auszugehen.3 Wo ist in diesem Zusammenhang eines in Schleswig-Holstein frühzeitigen und weithin Anklang findenden Nationalsozialismus die evangelisch-lutherische Geistlichkeit Schleswig-Holsteins der Jahre 1933 bis 1945 zu verorten? Pastor HANS EDUARD MATTHIESSEN stellte 1946 die Behauptung auf, nur „ganz wenige“ Pastoren hätten „den Geist der NSDAP, soweit er lebt und das große Unglück herangeführt hat“, unterstützt.4 Dieser Tenor zieht sich durch die gesamte Kirchengeschichtsschreibung und findet sich auch in der aktuellen Forschungsliteratur nicht nur zu Schleswig-Holstein wieder. Christoph Strohm konstatiert, dass „ein beträchtlicher Teil an Pfarrern und Gemeinden doch standhaft“ geblieben sei;5 Götz Aly geht vom „nazifreundlichen Verhalten einzelner Repräsentanten“ offenbar eher als Randerscheinung aus. 6 Andererseits spricht Manfred Gailus in Bezug auf die schleswig-holsteinische Landeskirche von einer „weithin nazifizierten Kirchenregion[ ]“, die eine „radikal deutschchristlich beherrschte[ ] Landeskirche[ ]“ gewesen sei – ohne eine „nennenswerte oppositionelle Bekenntniskirche als Alternative“.7 Einige zeitgenössische Stellungnahmen der Jahre 1933 bis 1945 aus SchleswigHolstein untermauern eher Gailus‘ Annahme. So legt beispielsweise das Landeskirchenamt in einem Schreiben an den Minister für kirchliche Angelegenheiten vom 13. Mai 1938 bezüglich eines erhaltenen Schreibens dar:

_____ Mitglied seit 1928 (Inhaber des goldenen Parteiabzeichens), der später zum NSDAP-Kreisleiter von Südtondern avancierte. Um die Pastoren der Untersuchungsgruppe, zu der auch PEPERKORN gehört, kenntlich zu machen, werden ihre Namen stets in KAPITÄLCHEN gesetzt, Ausnahme: in Zitaten, die unangetastet bleiben. Nicht HERVORGEHOBEN werden die Namen ferner, wenn die Pastoren lediglich im Zuge von Literaturverweisen oder Quellenangaben genannt werden, ohne an der fraglichen Stelle selbst von inhaltlicher Relevanz zu sein. Hinsichtlich der Orthografie wurden in der vorliegenden Arbeit die damaligen Schreibungen beibehalten. Lediglich auch nach damaliger Schreibweise offensichtliche Fehler (inkl. Tippfehler und Zeichensetzung) wurden stillschweigend korrigiert sowie heute unübliche Interpunktionen, etwa bei NS-Akronymen (N.S.D.A.P.; S.S.; S.-A.-Mann usw.), angepasst. 3 Beispielhaft für dieses vielfach bestätigte Faktum sei erneut auf Jürgen W. Falters Studie verwiesen, in welcher herausgestellt wird, dass v.a. Protestanten Hitler gewählt haben: Falter 1991, S. 172 f und S. 175–179; Sebastian Lehmann-Himmel (Lehmann 2007, S. 53) verweist darauf, dass alle NSDAP-Kreisleiter Schleswig-Holsteins evangelischer Konfession waren, dass ferner selbst in stark katholisch geprägten Gebieten die Anzahl protestantischer Kreisleiter überwog. 4 LKANK, 11.11.0 Mobilisierte Geistliche und deren Entnazifizierung (Schleswig-Holstein) Nr. 463: Schreiben an Wilhelm Halfmann vom 5.2.46. 5 Strohm 2011, S. 108. 6 Aly 2007, S. 11. 7 Gailus 2001, S. 661 f. Auf die disparate Forschungslage wird im Folgenden detailliert einzugehen sein.

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Der Einsender gibt seiner Freude darüber Ausdruck, dass Pastor Redeker [in Stellau] ein volksverbundener Mann ist, der auch in seinen Darbietungen von der Kanzel für den Nationalsozialismus eintritt. Wir bemerken, dass glücklicherweise die Mehrzahl unserer Pastoren in Schleswig Holstein in positiver Haltung zu Volk, Reich und Führer stehen.8

Einer der Pröpste, ERNST SZYMANOWSKI, radikaler NS-Akteur sowohl als Propst als auch später innerhalb des SD, konstatierte 1934, dass es nur „einzelne Pastoren“ seien, „die sich nicht recht in das grosse Ganze eingliedern können.“9 Auch wusste THEODOR PINN, einer der Widerstandsgeistlichen Schleswig-Holsteins und Opfer des NS-Regimes sowie der Landeskirche, zu berichten, dass die Bekanntgabe seiner Ausweisung aus der Provinz Schleswig-Holstein auf einer Pastorenversammlung 1937 durch seine Amtsbrüder „mit Geheul quittiert wurde. So fest war der neue Staatsglaube in die Gemüter der Geistlichen eingedrungen“, ferner, dass „Pastoren eine Amtsversammlung verließen und dabei am Ausgang eine zackige Wendung machten und mit hochgerissenem rechten Amt ,Heil Hitler‘ in den Saal hineinbrüllten“.10 Diese verschiedenen Einschätzungen gilt es im Folgenden empirisch zu überprüfen, indem am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel erstmals ein fundierter Einblick in die Einstellungs- und Wirkungsformen der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ gewonnen werden soll: Wie positionierte sich die Pastorenschaft in Bezug auf den Nationalsozialismus? Zum anderen resultiert die Brisanz der vorliegenden Studie aus einer aktuellen, kirchlichen und wissenschaftlichen Kontroverse in Bezug auf die Einordnung der schleswig-holsteinischen ,Bekennenden Kirche‘ (BK), zu der sie einen Beitrag zu leisten sucht:11 Welche Rolle nahm die schleswig-holsteinische BK im Nationalsozialismus ein? Auslöser der Kontroverse waren das Buch Neue Anfänge? des Historikers Stephan Linck sowie damit in Zusammenhang stehende Aussagen,12 in welchem Linck die Bekennende Kirche Schleswig-Holsteins sowie speziell Bischof WILHELM HALFMANN scharf angreift. Als Reaktion darauf formierte sich ein Kreis überwiegend aus Nachkommen und Schüler der im ,Dritten Reich‘ tätigen BK-Geistlichen um den

_____ 8 LKANK, 16.20.0 Personalakten (Nordelbien) Nr. 981, Bl. 150. Der „Einsender“, ein Herr Loschky, hatte sich am 11.9.37 aufgrund OTTO REDEKERs NS-Lobpreisungen in Gottesdienten schon vor 1933 in einem Schreiben an die ,Kanzlei des Führers‘ gewandt und dessen parteiliche (bzw. staatliche) NSEinbindung gefordert: „Könnte ein solcher Pastor dem Vaterlande nicht mehr dienen?“ (Bl. 146). 9 LKANK, 16.20.0 Personalakten (Nordelbien) Nr. 1237, Bl. 178: Schreiben ans Landeskirchenamt vom 25.6.34. 10 Pinn 1985, S. 85. 11 Eine knappe Zusammenfassung der Kontroverse findet sich in: Karl Ludwig Kohlwage/Manfred Kamper/Jens-Dietrich Pörksen (Hrsg.) 2015, S. 296–315 (Dokumente zur Vorgeschichte der Tagung in Breklum 3./4. Februar 2015). Vgl. auch den Band: Hering/Lorentzen (Hrsg.) 2022: Kirchengeschichte kontrovers. Neuere Debatten zur Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein [in Vorbereitung], darin u.a. Hertz, Bekennende Kirche. 12 Linck 2014.

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Bischof em. Karl Ludwig Kohlwage (ehemals Bischof für den Sprengel HolsteinLübeck), der das negative Bild der schleswig-holsteinischen BK sowie v.a. HALFMANNs seitdem öffentlich zu relativieren sucht. Die Kontroverse zeigt deutlich auf, dass es sich um ein sehr sensibles Thema vielfach mit persönlicher, emotionaler Anteilnahme handelt, das einer umsichtigen und differenzierten Aufarbeitung13 bedarf. Eines der Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, hierfür ein solides Fundament zu liefern, indem die BK nicht wie bisher nur über ihre offiziellen Verlautbarungen oder Propagierungen einiger weniger, besonders exponierter Vertreter (zumeist Mitglieder des Landes- bzw. – für Gesamtdeutschland – Reichsbruderrats, also der Leitungsgremien der BK) eingeordnet wird, sondern bundesweit erstmals auf der Basis des gesamten Spektrums der NS-relevanten Handlungs- und Einstellungsweisen sämtlicher BK-Pastoren einer Landeskirche. Diese waren es schließlich, die der BK ihr vor Ort wahrnehmbares Gepräge verliehen, die ihr geistliches Rückgrat bildeten.14 Innerhalb der schleswig-holsteinischen Landeskirche waren dies 299 Geistliche, die der BK (zumindest zeitweise) angehörten. Durch die Einbeziehung aller 299 BKler können unzulässige Pauschalisierungen im Hinblick auf die BK vermieden und die BK auf der breiten empirischen Grundlage beurteilt werden. Dabei sind NS-konforme Handlungen und Einstellungen ebenso zu berücksichtigen wie NSnonkonforme: „Ob die Bekenntniskirche […] eine ,Gegenwelt zum Nationalsozialismus‘ bildete[ ], lässt sich erst entscheiden, wenn beide Seiten der Stufenleiter gleichmäßig vermessen wurden.“15 Wie schon in Bezug auf die Einordnung der evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ angedeutet, weist auch die Kontroverse speziell um die BK über Schleswig-Holstein hinaus. Auch wenn in der jüngeren Vergangenheit, insbesondere seit der Jahrtausendwende, immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Bekennende Kirche nicht als Widerstandsgruppierung zu betrachten ist,16 halten

_____ 13 Unter dem Begriff der ,Aufarbeitung‘, häufig synonym zu dem der ,Vergangenheitsbewältigung‘ verwendet, wird hier die wissenschaftliche Bearbeitung der Vergangenheit verstanden mit dem Ziel, diese offenzulegen und wachzuhalten. Nicht gemeint ist somit eine abschließende ,Überwindung‘ bzw. endgültige ,Erledigung‘. 14 Dagegen konstatierte Meyer (2003, S. 58 f), das enorme, vor Ort gezeigte Verhaltensspektrum der Pastoren innerhalb der BK verkennend: „Wer nach Widerstand der Kirche fragt, wird zunächst nach den Beschlüssen ihres höchsten Leitungsgremiums, der Synoden und des Bruderrates, fragen müssen. Denn diese wurden an die Gemeinden weitergereicht und nach Möglichkeit in die Tat umgesetzt.“ 15 Blaschke 2014, S. 202. 16 Vgl. etwa Fandel 1997, u.a. S. 268 f: „Die Pfälzische Pfarrbruderschaft verstand sich nicht als Oppositionsbewegung gegen den NS-Staat, sondern lediglich als innerkirchliche Opposition gegen ein totalitäres deutsch-christliches Regiment“; Zankel 2010, S. 124; Blaschke 2014, u.a. S. 98, 137 und 183.

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solche Einordnungen auch innerhalb der Forschungsliteratur bis heute hartnäckig an; die BK wird deutschlandweit mehrheitlich nach wie vor als eine solche geführt.17 War Widerstand gegen den NS(-Staat) tatsächlich eines der charakteristischen Merkmale der ,Bekennenden Kirche‘ (in Schleswig-Holstein)? Keineswegs – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen. Sowohl die in Bezug auf die BK beschriebene Auseinandersetzung in SchleswigHolstein mitsamt ihrer unterschiedlichen Einordnung im Hinblick auf eine etwaige Widerständigkeit als auch die divergierenden Gesamteinordnungen der evangelischen Geistlichkeit verweisen auf eine deutschlandweit insgesamt sehr kontroverse Beurteilung der Rolle der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus, die als fundamentale „Grundkontroverse“18 beschrieben werden kann. So lassen sich innerhalb der NS-Kirchengeschichtsschreibung im Wesentlichen fünf verschiedene Narrative ausmachen, in denen sich die Disparatheit der Forschungslandschaft manifestiert:

_____ 17 Beispielsweise konstatiert Ingo Grabowski (2016, S. 10 und 12) im Zusammenhang mit „Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus, dass sich die Bekennende Kirche vom NS-Regime distanziert habe und macht dies an Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer fest. Albrecht Geck (2016, S. 42) beschreibt die BK als „Oppositionsbewegung evangelischer Christen gegen den Nationalsozialismus“; genauso in dem Band (2016, S. 50) bei Dieter Beese: „Oppositionsbewegung evangelischer Christen gegen den Nationalsozialismus innerhalb der Kirche“. Peter Steinbach (2017, S. 250) charakterisiert die BK-Mitglieder als „bekenntnistreue[ ] NS-Gegner“. Vgl. auch die Beiträge in dem von Günter Brakelmann und Manfred Keller herausgegebenen Band (2005), u.a. den Aufsatz von Traugott Jähnichen mit dem bezeichnenden Titel „Selbstbehauptung – Protest – Widerstand. Zum Verhalten der Bekennenden Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus“ („Dissidenz zum Nationalsozialismus“, „Störpotential“, „Widerstand“ usw.). Thomas Brechenmacher und Harry Oelke (2011, S. 14) stellen der „BK“ auf der einen „NS-freundliche[ ] Deutsche[ ] Christen“ auf der anderen Seite gegenüber. Rebecca Scherf (2019, hier S. 232 und 239) charakterisiert die BK als einen „Ort aufkeimender Kritik und wachsenden Widerspruchs“ – auch wenn die BK „nicht eindimensional als eine Kirche der Verfolgten zu beurteilen ist“, ebenso wenig wie „ausschließlich“ als „Kirche des Widerstandes“. Wolfgang Benz (2003, S. 12 f) betont zwar, dass die BK „Widerstand im politischen Sinne, in der Absicht, schließlich das nationalsozialistische Regime zu stürzen, […] nie geleistet“ hat, charakterisiert sie aber als „kirchliche Opposition gegen den Nationalsozialismus“. Dietrich Meyer (2003) attestiert der BK „Widerstand“, der „religiös motiviert“ gewesen sei (S. 51), einen „Widerstand gegen den Staat“ (u.a. S. 57 und 69), den man wenigstens „zum passiven Widerstand“ (S. 65) rechnen müsse, und der in ihrem „Kirchenkampf“ begründet sei. Jüngst bescheinigten Hartmut Lehmann und Silke Lehmann (2021) der BK, „Widerstand gegen Hitlers Herrschaftsanspruch“ (S. 361) geleistet zu haben; ähnlich bei Jens Holger Schjørring (2021), indem er die Widerstandsleistung eines einzelnen BK-Pastors als Ausdruck einer „Theologie […] in der Tradition der Bekennenden Kirche“ interpretiert (382). Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich ergänzen. Diese aus der Kirchengeschichtsschreibung stammende Position wurde von der NS-Widerstandsforschung weitgehend übernommen (vgl. u.a. van Roon 1998, S. 79–100), und fand so auch Eingang in die allgemeine NS-Forschung: BK-Mitgliedschaften werden in verschiedensten Studien als Marker für NS-Opposition gewertet. Vgl. z.B. Mommsen 1983, S. 127; Glienke 2012, S. 49; Danker/Lehmann-Himmel 2017, S. 241. 18 Blaschke 2014, S. 244.

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a) ,Kirchenkampf‘-Narrativ mit der Einordnung der BK als Widerstandsgruppierung b) Nazifizierungs-/Schuld-Narrativ c) Passivitäts- und Unvereinbarkeitsnarrativ (Christentum vs. Nationalsozialismus) d) Widerstandsnarrativ (nicht auf die BK beschränkt) e) Opfer-Narrativ Bevor auf diese fünf z.T. sehr konträren Narrative näher eingegangen wird, sei vorab eine gravierende methodische Übereinstimmung der bisherigen Forschung benannt: die weitgehende Fokussierung auf die kirchlichen Leitungsebenen und deren Verfügungen bzw. auf die Kirchenpolitik des NS-Staates (Strukturgeschichte), ergänzt durch Einzelfalluntersuchungen zu einzelnen Gemeinden oder besonders exponierten Geistlichen, die zumeist wiederum Inhaber von Ämtern innerhalb der Landeskirchen bzw. kirchenpolitischen Gruppierungen waren (Eliteforschung).19 Solche Einzelfalluntersuchungen markieren Möglichkeiten und Extrema menschlichen bzw. pastoralen Verhaltens oder gemeindlicher Positionierungen im NS-Staat, erlauben jedoch keine verallgemeinernden Aussagen. Mit der beschriebenen Fokussierung geht die – von den positiv wie negativ besonders exponierten Vertretern abgesehen – vorherrschende Namenslosigkeit einher,20 die auf eine langanhaltende, gesellschaftliche Tabuisierung sowie geltende Personenschutzrechte (Quellenverfügbarkeit) zurückzuführen ist.21 Eines der Anliegen dieser Arbeit (sowie der stärker individualbiografisch ausgerichteten, zugehörigen Datenbank, vgl. Teil 1, Kapitel 5) ist es daher, nicht nur das Bild der heute bereits bekannten Pastoren der Vergangenheit durch zusätzliche Informationen weiter zu erhellen, sondern auch all die noch im Dunkeln liegenden Geistlichen, ihre Schicksale, ihre NS-bezogenen Einstellungen und Handlungen zu thematisieren

_____ 19 Dementsprechend konstatiert Bräuninger (2019, S. 490): „Kirchengeschichte wird zumeist auf der Ebene der Kirchenleitungen oder leitender Personen erforscht, das gilt insbesondere für Schleswig-Holstein.“ Vgl. etwa Reumann 1998. Dieser Umstand ist auch für andere Landeskirchen vielfach festgestellt worden. Vgl. u.a.: Fandel 1997, S. 18, Anm. 23; Weber 2019, S. 36. Harry Oelke (2006, S. 80) konstatiert ausdrücklich, sein Beitrag beruhe auf „grundlegende[n] kirchliche[n] Erklärungen und Verlautbarungen.“ Exemplarisch sei ferner auf die Arbeit von Christoph Strohm (2011) verwiesen, der den Fokus in seiner auf Gesamtdeutschland ausgelegten Untersuchung weitgehend strukturgeschichtlich auf die NS-Gesetzgebung sowie das Handeln einzelner, herausragender Kirchenvertreter beschränkt. Nur vereinzelt wurden zumindest größere Pastoren-Kollektive untersucht, jedoch ohne deren NS-relevante Handlungs- und Einstellungsweisen systematisch auszuwerten. Vgl. Teil 1, Kapitel 2.2.5. 20 Vgl. Herbert 2004, S. 20. 21 So zwangen Datenschutzbestimmungen beispielsweise noch Christopher R. Browning (2007, S. 18), bei seiner Untersuchung über das Reserve-Polizeibataillon 101 mit Pseudonymen zu arbeiten, was er selbst als „bedauerliche Einschränkung der historischen Genauigkeit“ beurteilt.

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und offenzulegen. Dies erscheint als unabdingbare Voraussetzung für eine umfassende und transparente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Kirchen.22 Kennzeichnend für die vergangene sowie gegenwärtige Kirchengeschichtsschreibung zum ,Dritten Reich‘ ist die Existenz sehr unterschiedlicher Gesamtbeurteilungen der Rolle der (evangelischen) Kirchen. So lassen sich, wie erwähnt, fünf verschiedene Narrative ausmachen, die die Kirchengeschichtsschreibung prägen: (a) ,Kirchenkampf‘-Narrativ mit der Einordnung der BK als Widerstandsgruppierung, (b) ,Nazifizierungs‘-/,Schuld‘-Narrativ, (c) ,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativ, (d) Widerstandsnarrativ (nicht auf die BK beschränkt), (e) OpferNarrativ. Die Narrative selbst weisen in ihrer jeweiligen konkreten Verwendungsform Unterschiede auf, werden aber trotz ihrer Spielarten oftmals eindeutig als solche erkennbar. Ihre Anwendung hängt nicht selten mit der Standortgebundenheit des Autors zusammen, primär mit der Frage nach der Kirchenloyalität.23 Vier der fünf Narrative wurden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die Kirchen selbst ins Leben gerufen, nur das ,Nazifizierungs‘-Narrativ (b) ist jünger und an die Kirche herangetragen. Im ersten Narrativ, dem nach wie vor omnipräsenten ,Kirchenkampf‘-Narrativ, ist die Ursache für die – trotz sich mehrender Gegenstimmen – bis heute prägende Verortung der ,Bekennenden Kirche‘ (BK) im Widerstandssektor zu suchen. So war die Erforschung der Rolle der evangelischen Kirchen Deutschlands im Nationalsozialismus lange Zeit gänzlich auf den sogenannten ,Kirchenkampf‘ beschränkt,24 auf die kirchenpolitischen, innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen den ,Deutschen Christen‘ (DC), die die Kirchen institutionell wie theologisch an das Hitlerregime und dessen Ideologie anpassen wollten, und der gegen diese innerkirchliche Anpassung eintretenden BK. Der Zugriff über das ,Kirchenkampf‘-Konzept verleitet dazu, aus der innerkirchlichen Opposition der BK gegen die NS-konformen DC vorschnell auf eine Ablehnung des Nationalsozialismus selbst, auf politischen Widerstand der BK zu schließen: Der zeitgenössische ,Kirchenkampf‘-Begriff wurde nach Kriegsende zur Bezeichnung einer Epoche erhoben, das ebenfalls zeitgenössische Schlagwort einer gegen die DC ,kämpfenden Kirche‘ zum politischen Kampf gegen den Nationalsozialismus umgedeutet.25

_____ 22 Auch besteht heute ein großes öffentliches Interesse an der Untersuchung und namentlichen Aufführung damaliger Akteure: vgl. Danker/Lehmann-Himmel 2017, S. 27. 23 Vgl. zur Bedeutung der Kirchenloyalität des Autors: Blaschke 2014, u.a. S. 32 f und 242. 24 So auch festgehalten u.a. bei: Hering, Rainer: Der Fall Biberstein und die evangelische Kirche. URL: https://www.zeit.de/2000/16/Heilige_Opfer_fuer_Hitler (15.1.2021). 25 Vgl. zur Geschichte sowie Problematik des Kirchenkampfbegriffs: Blaschke 2014, S. 135–137; Fitschen 2011; positive Stellungnahme zum ,Kirchenkampf‘-Begriff bei: Strohm 2011, S. 9 f. Ericksen/ Heschel (2005, S. 37) stellen heraus: „Tatsächlich aber bezieht sich der Begriff auf einen innerkirchlichen Machtkampf zwischen Vertretern der BK und den DC, in dem es neben der Frage des Be-

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Die Erhebung des ,Kirchenkampfes‘ zur Epochenbezeichnung in Verbindung mit der Umdeutung des BK-,Kampfes‘ zum politischen Widerstand geht zurück auf die unmittelbar in der Nachkriegszeit ansetzende und bis in die 1960/70er Jahre hinein überwiegend von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) getragene Erforschung der NS-Kirchengeschichte, die durch „selektive Quellenerschließung“26 auf die Schaffung und Etablierung einer Erinnerungskultur ausgerichtet war, die die BK – als vermeintliche Repräsentantin der evangelischen Kirchen – zur Widerstandsgruppierung stilisierte.27 Die Autoren dieser Geschichtsschreibung waren vielfach als BK-Pastoren am ,Kirchenkampf‘ vormals direkt beteiligte Geistliche. Die ursprünglich auf Diskreditierungen des kirchenpolitischen Kontrahenten aus der NS-Zeit (,Deutsche Christen‘, ,Deutschkirche‘) zurückgehenden, von BK-Seite während des Dritten Reichs‘ vehement zurückgewiesenen Gleichsetzungen von innerkirchlichem Selbstbehauptungsengagement und politischem Widerstand übernahmen viele BKler nach Kriegsende.28 Die DC wurden – wie von BK-Seite auch schon im ,Dritten Reich‘ – als unchristliche Abspaltung, als Ketzer, abgetan und in den ersten Nachkriegsjahrzehnten kaum thematisiert: In der geschichtswissenschaftlichen Nachkriegsliteratur, zumal der einschlägigen Kirchenkampfliteratur, erscheinen Nationalsozialismus und Christentum als zwei getrennte, eher unvereinbare, mehr oder minder sich ausschließende oder gar feindlich sich gegenüberstehende Größen.29

Man konnte hierin an kirchliche Selbstdarstellungen aus der Nachkriegszeit, auch an entsprechende Zuschreibungen etwa durch die Besatzungsmächte und Entnazifizierungsausschüsse anknüpfen:

_____ kenntnisses vor allem um die Kontrolle der evangelischen Kirche ging“ – nicht um „Widerstand der evangelischen Kirchen gegen den Nationalsozialismus“. Benz (2003, S. 20) definiert den ,Kirchenkampf‘ als „Verteidigung institutioneller und religiöser Ansprüche und Räume der beiden Amtskirchen gegenüber einem Staat, der totale Verfügungsgewalt über Menschen beanspruchte.“ Vgl. auch Gailus 2008/2009, S. 266 f. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff – entsprechend seines zeitgenössischen, d.h. ursprünglichen Bedeutungsgehalts – sowohl für die innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen der BK und den DC (engerer Begriffsgehalt) als auch für die innerkirchliche Verteidigung der institutionellen Autonomie gegenüber neopaganen Angriffen sowie Einflussnahmen des NS-Staates verwendet (weiterer Begriffsgehalt): vgl. Teil 3, B. 26 Graf 2008, Sp. 1820. 27 Die Forschung übernahm damit das Bild, welches die christlichen Kirchen in der Nachkriegszeit von sich entwarfen: vgl. Steinbach 2017, v.a. S. 248, 250–252 und 254. 28 Von NS-staatlicher Seite wurde die BK dagegen „nicht generell […] der politischen Unzuverlässigkeit verdächtigt, doch stieß ihre kirchenpolitisch motivierte Opposition bei führenden Vertretern der Partei auf Unverständnis“ (Fandel 1997, S. 521); auch hochrangige NS-Funktionäre fanden ihren Weg in die ,Bekennende Kirche‘ (vgl. Teil 3). 29 Gailus 2005, S. 223.

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Bis in die 1960er Jahre war es, von seltenen Zweifeln abgesehen, selbstverständlich, dass sie [=beide großen Amtskirchen] zum Widerstand gehörten. 1946 erklärte der Landeskirchenrat der Evangelisch Lutherischen Kirche in Bayern seinen Pfarrern und Gemeinden: „Nachdem bereits in einer Reihe von Spruchkammerentscheidungen die BK ausdrücklich als Widerstandsbewegung anerkannt wurde, hat nunmehr auch der Kassationshof im Bayerischen Staatsministerium für Sonderaufgaben […] ausgesprochen, daß die Bekenntniskirche ,als Widerstandsbewegung […] anerkannt werden muß.‘“30

Manfred Gailus unterteilt diesen ersten Abschnitt der NS-Kirchengeschichtsschreibung (1945–1960/70er) in zwei Phasen.31 Die erste Phase von 1945 bis Ende der 50er Jahre sei durch die Dominanz der „individuelle[n] Betroffenheitsliteratur“ v.a. führender BK-Geistlicher gekennzeichnet,32 wogegen die zweite Phase bis in die 1960er Jahre wesentlich durch die Publikationen der vom Rat der EKD berufenen Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit geprägt worden sei, bei der zwar eine wissenschaftliche Grundlegung zu erkennen gewesen sei, die aber unter „Legitimationszwängen“ gestanden habe. Zu ergänzen ist, dass die Betroffenheitsliteratur nicht nur bis Ende der 1950er Jahre prägend war: Bis zur Jahrtausendwende ist deutschlandweit eine rege Publikationstätigkeit ehemaliger BK-Pastoren zum ,Kirchenkampf‘ feststellbar.33 Für die schleswig-holsteinische Landeskirche waren bis in die 1990er Jahre Darstellungen von am ,Kirchenkampf‘ direkt beteiligten Akteuren ausschlaggebend: 1964 veröffentlichte Pastor JOHANN BIELFELDT (BK) eine Darstellung des ,Kirchenkampfes‘,34 nur wenige Monate später erschien eine Gegendarstellung des Kirchenjuristen Dr. Christian Kinder (DC).35 Zahlreiche weitere Publikationen ehemaliger BK-Geistlicher lassen sich finden.36 Ersetzt wurde die aus natürlichen (biologischen) Gründen endende Geschichtsschreibung von am ,Kirchenkampf‘ direkt Beteiligten durch eine Form der Kirchengeschichtsschreibung, die am ehesten als ,sekundäre Betroffenheitsliteratur‘ der ,Zweitzeugen‘ bezeichnet werden könnte: Publikationen der Nachkommen und Schüler damaliger BK-Pastoren, vielfach darauf ausgelegt, den Diskurs ganz im Sinne und sogar mit den Verlautbarungen der damaligen BK-

_____ 30 Blaschke 2014, S. 240f. 31 Vgl. zu Gailus‘ Phasierung der Kirchengeschichtsschreibung: Gailus 2001, S. 8–10; ders. 2008/ 2009, S. 266–271; ders. 2011, S. 97–100. 32 Auch Ericksen/Heschel (2005, S. 38) stellten fest, dass auf „frühere Mitglieder der BK […] ein großer Teil der Geschichtsschreibung zum Kirchenkampf zurückgeht“. 33 Beispielhaft sei auf Erich Schuppan verwiesen, geb. 1915 und ehemaliges BK-Mitglied, der 1986 von der Kirchenleitung mit der Erforschung der Kirchen Berlins und Brandenburgs im Nationalsozialismus beauftragt wurde (Veröffentlichungen: u.a. Schuppan 2000). 34 Bielfeldt 1964. 35 Kinder 1964. 36 Vgl. etwa die Beiträge in „Zeit, den schmalen Weg zu gehen. Zeugen berichten vom Kirchenkampf in Schleswig-Holstein“ (1985).

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Exponenten fortzuführen.37 Die Grenzen zwischen Quelle und Literatur verschwimmen bzw. werden aufgehoben. Kennzeichen der Mehrzahl dieser (primären oder sekundären) Betroffenheits-Publikationen ist die bereits geschilderte Umdeutung des ,Kirchenkampfes‘ zum politischen Widerstand.38 Eine sich davon abhebende und umfassend recherchierte Darstellung des Kirchenkampf[es] in Schleswig-Holstein 1933–1945 wurde 1998 von Klauspeter Reumann veröffentlicht – auch wenn es zeitgemäß bei einer ereignisgeschichtlichen Behandlung der innerkirchlichen Entwicklungen und Auseinandersetzungen (,Kirchenkampf‘) blieb.39 Hinzuweisen ist für Schleswig-Holstein ferner auf die Veröffentlichungen von Stephan Linck seit der Jahrtausendwende zu den nordelbischen Landeskirchen im und v.a. nach dem ,Dritten Reich‘.40 Eine kritischere Auseinandersetzung mit der Rolle der Kirchen, auch eine intensivere Beschäftigung mit der bis dahin weitgehend als unchristlich und nichtzugehörig ausgeklammerten DC-Bewegung ist deutschlandweit erst seit den 1960/ 70er Jahren festzustellen, namentlich durch Kirchenhistoriker wie Klaus Scholder und Kurt Meier, die erste umfassende Studien zu den DC sowie Überblicksarbeiten zum Thema Kirche im Nationalsozialismus vorlegten.41 Jedoch ist die Erforschung der DC erst in den 1990er Jahren „auf breiter Front in Gang gekommen“,42 auch im Hinblick auf Regionalstudien.43 Trotzdem ist die BK als vermeintlich widerständige Repräsentantin der evangelischen Kirchen im ,Dritten Reich‘ im öffentlichen Diskurs auch heute noch viel präsenter als die DC-Bewegung.44 Manfred Gailus beschreibt diese Entwicklung, beginnend Mitte der 1960er Jahre, als Öffnung der Kirchengeschichtsschreibung zur Politikgeschichte.45

_____ 37 So etwa bei: Pörksen (2007); siehe auch die Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe „Die Bekennende Kirche in Schleswig-Holstein“, URL: http://www.geschichte-bk-sh.de/ (15.1.2021; erstellt 2016). 38 Eine der wenigen Gegenstimmen findet sich bei WOLFGANG PREHN (2007, S. 7), der betont, „daß es im schleswig-holsteinischen Kirchenkampf, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht um einen politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus ging, sondern um die Wahrnehmung des Wächteramts über die Lehre und das Bekenntnis der Kirche.“ Die anderen Autoren des Bandes zeichnen freilich vielfach ein anderes Bild. 39 Vgl. Reumann 1998. Vgl. auch den von Reumann herausgegebenen Sammelband „Kirche und Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte des Kirchenkampfes in den evangelischen Landeskirchen Schleswig-Holsteins“ (1988). 40 Vgl. u.a. Linck 2007; ders. 2014; ders. 2016. 41 Vgl. Meier 1964; ders. 1976–1984; Scholder 1977–1985. Insbesondere Meiers Werke sind nicht unproblematisch. Vgl. dazu Ericksen/Heschel 2005, S. 42. 42 Gailus 2005, S. 226, hier mit einem Überblick über die diesbezüglich erschienenen Studien; ders. 2008/2009, S. 266; ders. 2012, S. 233. 43 Vgl. beispielhaft: Müller 2005. 44 Vgl. Hanisch 2004, S. 16. 45 Vgl. zu Gailus‘ Phasierung der Kirchengeschichtsschreibung: Gailus 2001, S. 8–10; ders. 2008/ 2009, S. 266–271; ders. 2011, S. 97–100.

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Die Bereitschaft der Kirchen für die Erforschung ihrer NS-Vergangenheit setzte freilich – wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen bzw. Institutionen, etwa den Universitäten – erst später ein. So haben sich die evangelischen Kirchen deutschlandweit bis um die Jahrtausendwende geweigert, ihre Beteiligung am Schrecken des NS-Staates näher erforschen und Arbeitsergebnisse ungeschönt veröffentlichen zu lassen.46 Für die Nordelbische Kirche (seit 2012 Nordkirche) ist ein solches Interesse seit 2001 erkennbar. Diesbezüglich sei auf das „mit vorbildlicher Öffentlichkeitsarbeit verbundene Ausstellungsprojekt ,Kirche – Christen – Juden‘“47 verwiesen, dessen Ziel darin lag, die „Anonymität aufzuheben, abstrakt scheinende Vorgänge an einzelnen Menschen, Opfern, Mitläufern oder Tätern, exemplarisch zu verdeutlichen“,48 zudem auf die 2016 bis 2019 innerhalb der Nordkirche gezeigte Wanderausstellung ,Neue Anfänge nach 1945?‘ Zur Auseinandersetzung der Kirchen mit ihrer NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit. Somit haben sich in Deutschland – anders als in anderen Ländern wie beispielsweise den USA – „die Forschungen zum Kirchenkampf fast völlig unabhängig von den Forschungen zum Holocaust entwickelt“,49 blieben also lange Zeit auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen beschränkt, ohne den Blick auf das Verhältnis von Kirchen und NS-Staat zu richten. Erst „in jüngster Zeit“, so Gailus, sind Untersuchungen erschienen, „die den ,Kirchenkampf‘-Gegenstand systematischer auf seinen sozialen und politischen Kontext beziehen“.50 Dies geht mit einer späten Öffnung der theologischen Kirchengeschichtsschreibung für die profane Allgemeingeschichte einher.51 Tatsächlich erschienen erst um die Jahrtausendwende erste Untersuchungen, die (zumindest vereinzelt) Themenfelder jenseits des ,Kirchenkampfes‘ zwischen BK und DC in den Blick nahmen und dabei auch die wichtige Frage nach dem Verhält-

_____ 46 Vgl. dazu: Gailus 2008, S. 20 f. Gailus ergänzt hier, dass nach wie vor nicht alle Kirchen der EKD eine solche Bereitschaft erkennen lassen. Bezeichnend ist, dass die 1970 abgeschlossene Dissertation von Wolfgang Gerlach, in der die Haltung der BK zum Judentum kritisch beleuchtet wird, erst 1987 erscheinen konnte: „Meine damalige Würdigung und Kritik des gesammelten Materials fand seinerzeit nicht die Billigung derer, die eine Veröffentlichung empfehlend zu vertreten hatten.“ (Gerlach 1993, S. 7) – und auch 1987 nur unter „in manchen Urteilen deutlich entschärfter Form“ (Geleitwort von Eberhard Bethge, S. 5). Auch von Gailus kritisch angemerkt: Gailus 2008/2009, S. 269. 47 Gailus 2008, S. 20. 48 Göhres/Liß-Walther 2006, S. 8. 49 Lehmann 2005, S. 12. Ähnlich bei Ericksen/Heschel (2005, S. 33): „Die christlichen Kirchen wurden oft aus dem Beziehungsgefüge zwischen NS-Staat und dem Holocaust ausgenommen.“ Vgl. auch Weber 2019, S. 26 f. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust-Begriff findet sich bei: Bethge 1988. 50 Vgl. zu Gailus‘ Phasierung der Kirchengeschichtsschreibung: Gailus 2001, S. 8–10; ders. 2008/ 2009, S. 266–271; ders. 2011, S. 97–100. 51 Vgl. dazu auch: ders. 2008/2009, S. 269f.

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nis von Kirche und Staat berührten.52 Eine Überblicksarbeit, die das Verhältnis von Kirche und NS-Staat, von Christentum bzw. Geistlichkeit und Nationalsozialismus umfassend untersucht, fehlt bislang. Aus diesem Grund ist der Themenkomplex ,Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus‘ trotz des Erscheinens zahlreicher Veröffentlichungen (besonders seit der Jahrtausendwende) insgesamt als verhältnismäßig junges Forschungsfeld zu betrachten – mit deutlichem Rückstand „im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen und Verbänden“.53 Ebendieses Verhältnis von Kirche und NS-Staat, von Pastorenschaft und Nationalsozialismus soll in der vorliegenden Arbeit am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel erstmals systematisch auf der Grundlage der gesamten Geistlichkeit einer Landeskirche untersucht werden. Ziel ist es, die Handlungs- und Einstellungsweisen aller 729 zwischen 1933 und 1945 in Schleswig-Holstein wirkenden Geistlichen zum Nationalsozialismus auf einer empirischen Grundlage vollständig, präzise und differenziert zu erfassen und auszuwerten. Im Fokus stehen demnach nicht nur innerkirchliche, kirchenpolitische Tätigkeiten der Pastoren den ,Kirchenkampf‘ betreffend, sondern sämtliche NS-relevante Handlungsfacetten auch der Bereiche Politik und individueller Amtsführung (Predigttätigkeit etc.). Kirchenpolitische Mitgliedschaften und entsprechendes ,Kirchenkampf‘-Engagement werden dabei ebenso wenig vernachlässigt wie priorisiert: Sie stellen einen NS-relevanten Faktor unter vielen dar. Die BK sowie ihr ,Kirchenkampf‘ können auf diese Weise in den Gesamtkomplex ,Kirchen im Nationalsozialismus‘ eingebettet, die Geschichte der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus aus der auf innerkirchliche Auseinandersetzungen und institutionelle ereignisgeschichtliche Entwicklungen beschränkten Perspektive herausgehoben und konsequent in den Kontext der gegenwärtigen NS-Forschung gestellt werden. Die vorliegende Arbeit, die im Bereich der kirchlichen Zeitgeschichte54 zu verorten ist, orientiert sich somit in ihrer Zielsetzung (Untersuchung des Verhältnisses von Kirche bzw. Pastorenschaft und Nationalsozialismus) stärker am Ansatz einer weltlichen Kirchengeschichte, berücksichtigt aber auch religiös-konfessionelle Bereiche,55 beispielsweise indem Predigten, Konfirmandenunterrichtsentwürfe, Vor-

_____ 52 Vgl. die Forschungen zur kirchlichen Beteiligung an der Ausstellung von sogenannten ,Arierscheinen‘: u.a. Wippermann 1994; Beiträge in: Manfred Gailus (Hrsg.) 2008. An anderer Stelle spricht Gailus (2008/2009, S. 270) von einem „Fokuswandel von der theologienahen, weithin selbstlegitimierenden Kirchenkampfforschung […] hin zur historischen Rekonstruktion des gesamten Protestantismus als sozialmoralisches Milieu sowie religiös-politische Mentalität und deren existenzielle Verflechtungen mit Nationalismus und Nationalsozialismus.“ 53 Gailus 2015, S. 31. 54 Vgl. zur kirchlichen Zeitgeschichte: Graf 2008; mit Ausführungen zur Kirchengeschichte allgemein: Markschies 2007. Die Kirchengeschichtsschreibung zeichnet sich dadurch aus, dass sie „historische Fragestellungen und Methoden“ auf kirchliche Geschehnisse angewendet: Jordan 2016, S. 108. Vgl. zur Kirchengeschichtsschreibung auch: Ganzer/Grasmück/Podskalsky 1997. 55 Vgl. zu den beiden Ansatzmöglichkeiten: Markschies 2007, S. 467.

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träge usw. sowie die theologischen Ausrichtungen von BK, DC und Deutschkirche jeweils im Hinblick auf ihr Verhältnis zum NS-Staat und dessen Ideologie zu beleuchten sein werden. Dabei wird kirchliche Zeitgeschichte stets als Aspekt der Gesellschafts- sowie Politikgeschichte verstanden, schließlich ist Religion stets „in die geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit eingebettet.“56 In Abgrenzung zum ,Kirchenkampf‘-Narrativ stellt das zweite Narrativ die NS-Konformität der (evangelischen) Kirchen ins Zentrum: Es ist das Narrativ der (b) ,Nazifizierung‘ und ,Schuld‘ der Kirchen – fachwissenschaftlich wie auch öffentlich präsent.57 Dieses Narrativ ist sehr viel später aufgekommen als die anderen vier, die bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die Kirchen geprägt wurden. Erste Ansätze für das ,Nazifizierungs‘-Narrativ finden sich in der beginnenden DCForschung in den 1960/70er Jahren. Seit der Jahrtausendwende ist es häufiger und in extremeren Formen zu finden und läuft so Gefahr, den Blick auf die vielschichtigen Schattierungen bis hin zu Widerstandsgeistlichen und (NS-nonkonformen) Opfern unter den Pastoren zu verstellen. Daneben finden sich drei weitere Narrative, die in der direkten Nachkriegszeit angelegt sind und noch heute die Kirchengeschichtsschreibung prägen. Das erste manifestiert sich in der Darstellung der Kirchen als sich im extremsten Falle allenfalls passiv-enthaltende Dulder des NS-Unrechts, vielfach unter expliziter Nennung oder zumindest impliziter Präsupposition der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum: (c) ,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativ.58 Dieses Erzählmuster wurde von den Kirchen unmittelbar nach Kriegsende geprägt. Beispielhaft sei auf folgenden Passus aus der bekannten ,Stuttgarter Schulderklärung‘ verwiesen: „[…] wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“59

_____ 56 Bräuninger 2019, S. 11. 57 Vgl. etwa Gailus, 2001, S. 661 f; ders. 2011 („Keine gute Performance“); Bräuninger 2019, S. 189; Grass, Günter: Mündig sein. Eine Rede, gehalten an der Paul-Natorp-Oberschule in Berlin. Gewidmet dem Abiturjahrgang von 2009. In: Die Zeit. Nr. 29 vom 9.7.2009 [URL: https://www.zeit.de/ 2009/29/C-Grass/komplettansicht (15.1.2021)]: „Beide christliche Kirchen haben sich nahezu widerstandslos angepaßt.“; Loubichi, Stefan: Die unrühmliche Rolle der Evangelischen Kirche im Dritten Reich. In: Zukunft braucht Erinnerung. URL: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/dieunruehmliche-rolle-der-evangelischen-kirche-im-dritten-reich (15.1.2021; erstellt am 26.10.2014). 58 Vgl. zur Kontroverse um die ,Unvereinbarkeit‘: Blaschke 2014, S. 31–40 („Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität“) sowie S. 74–87 („Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?“). 59 Siehe zum Wortlaut der ,Schulderklärung‘: EKD: Die Stuttgarter Schulderklärung. URL: https:// www.ekd.de/Stuttgarter-Schulderklarung-11298.htm (15.1.2021). Vgl. zu dieser viel behandelten Erklärung, ihrem Inhalt und ihrer zeitgenössischen Rezeption (in Schleswig-Holstein) u.a.: Reumann 1998, S. 412–421; Jürgensen 1988, S. 381–406; Vollnhals 1989, S. 33–44; zu unkritisch bei: Wunderlich 2014, S. 3; Beese 2016, S. 54.

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Derselbe Tenor findet sich in der folgenden Kirchengeschichtsschreibung wieder: die Herausstellung des vermeintlichen ,Schweigens‘ der Kirchen zu NS-Maßnahmen, oft bei explizit oder implizit bescheinigter Ablehnung derselben – festgemacht anhand (fehlender) offizieller Verlautbarungen der Kirchenführer.60 Insbesondere in Bezug auf den ,nichtarischen‘ Bevölkerungsanteil betreffende NS-Maßnahmen wurde vielfach ein kirchliches ,Schweigen‘ konstatiert. So wurde hervorgehoben, dass „Proteste gegen die Entrechtung und die Verfolgung der jüdischen Mitbürger“ unterblieben seien,61 dass „kein Wort des öffentlichen Widerspruchs“ erfolgt sei: passive, womöglich gar widerwillige Duldung.62 Mit Blick auf die Pastorenschaft und ihre Verkündigung, auf die Gemeinden vor Ort, lässt sich diese Behauptung eines kirchlichen ,Passivitäts‘-Narrativs, einer unfreiwilligen, ggf. gar widerwilligen Duldung, jedoch keineswegs aufrechterhalten. Dies gilt auch für BK-Pastoren, die die staatliche Gesetzgebung mitunter genau wie ihre DC-Amtsbrüder begrüßten und lediglich deren Übertragung auf den innerkirchlichen Raum ablehnten. Oftmals wird auf das Narrativ nicht nur in Bezug auf einzelne NS-Maßnahmen bzw. Herrschaftsbereiche zurückgegriffen, sondern auch zur Beschreibung der Positionierung beider christlichen Kirchen in Deutschland zum Nationalsozialismus insgesamt: „Ernüchternd wirkt zunächst, […] dass beide großen Kirchen […] zu einer christlich motivierten konfrontativen Totalopposition nicht gefunden haben“, es habe kein „kompromisslose[s] Einschreiten der Kirchen gegen das verbrecherische NS-Regime“ stattgefunden.63 Während „die konsistoriale Kirche zunehmend unter den Einfluss des Staates“ geraten sei, habe „die BK um die Freiheit der Kirche vom Staat“ gekämpft, wobei diese Spaltung „ihre Widerstandskraft geschwächt“ habe.64

_____ 60 Vgl. u.a. Gailus/Nolzen 2011, S. 11. Vgl. zur Kontroverse „Die Christen und die Judenvernichtung“: Blaschke 2014, S. 223–230. Als allgemeines Deutungsmuster auch jenseits der engeren Kirchengeschichtsforschung zu finden, etwa wenn Aly (2007, S. 11) das „Hauptversagen der beiden Kirchen“ in ihrem passiven Schweigen sieht. 61 Fandel 1997, S. 576. Auch andere kritische Autoren bedienten dieses Narrativ: vgl. Benz 2003, S. 13 f („Weder gegen die Entrechtung der deutschen Juden durch die Nürnberger Gesetze im September 1935 noch gegen den Novemberpogrom 1938 haben die Kirchen als öffentliche Institutionen offen und feierlich protestiert.“); Gailus/Vollnhals 2013, S. 20 („,Politik des Schweigens‘ in der ,Judenfrage‘“). 62 Van Norden 1994, S. 73. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen, vgl. u.a. Thamer 1988 („Schweigen“ und „Zurückhaltung“ der „Kirche und ihrer Pastoren“). 63 Brechenmacher/Oelke 2011, S. 283. Ähnlich etwa bei Benz (2003, S. 11): „Die Kirchen standen dem Nationalsozialismus nicht in grundsätzlicher Ablehnung entgegen.“ Schjørring (2018, S. 41 f) konstatiert, die BK habe „gegen die totalitären Ansprüche […] ein theologisches Bollwerk“ errichtet, wobei sich der „Kampf […] weitgehend auf die dogmatische Integrität“ bezogen habe, während man das Leisten von „weitreichende[m] Widerstand[ ] […] einzelnen Widerstandskämpfern und Märtyrern überlassen“ habe. Suggeriert wird damit, dass sich die meisten BKler zwar nicht zu ,Widerstand‘ hätten durchringen können, das Wollen der Widerständler aber durchweg geteilt hätten. 64 Meyer 2003, hier S. 65. An anderer Stelle (S. 77) werden die NS-konformen ,Deutschen Christen‘ indirekt ,entkirchlicht‘: „[…] es dem Staat gelungen ist, in der Gestalt der DC die völkische Rassen-

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Suggeriert wird bei solchen Einordnungen ein passives Dulden bis verhaltenes Einschreiten der beiden christlichen Kirchen, die als prinzipiell streng vom „verbrecherische[n] NS-Regime“ geschieden präsentiert werden. Diese strikte Trennung von Kirchen und NS-Regime, Kreuz und Hakenkreuz, deren vermeintliche Unvereinbarkeit, prägt auffallend viele auch aktuellere Veröffentlichungen, wie oftmals bereits anhand des Titels zu erkennen ist: Die antijüdische NS-Politik als Herausforderung des Protestantismus, 65 Die Verbrechen des NS-Staates als ethische Herausforderung der christlichen Kirchen66 usw. Auch Jens Holger Schjørring spricht von einer „Herausforderung für die Kirchen“ und konstatiert, „Christen“ hätten auf den Nationalsozialismus „reagier[ ]en“ müssen67 – die Form bereitwillig-initiativen NSEngagements von Christen, von nationalsozialistischen Christen oder christlichen Nationalsozialisten (Gailus), wird dabei kategorisch ausgeschlossen. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen,68 die allesamt den Blick darauf verstellen, dass ,Christentum‘ und ,Nationalsozialismus‘ vielfach bereitwillig miteinander vereinbart wurden – nicht nur von der Geistlichkeit: Noch 1939 – sechs Jahre nach der ,Machtergreifung‘ – gaben bei der Volkszählung 94 Prozent der Deutschen eine christliche Religionszugehörigkeit an;69 im Mai 1945 waren es 95 Prozent.70

_____ ideologie in die Kirche selbst zu tragen“ – womit der Blick für die NS-Umgestaltung aus dem Innern der Kirchen heraus verstellt ist. 65 Hermle 2011. 66 Anselm 2011. 67 Schjørring 2018, S. 39 und 42. 68 So erscheint es beispielsweise bei Joachim G. Vehse als „Widerspruch, sowohl der Kirche als auch dem Staat gegenüber loyal sein zu wollen“: Vehse 1988, S. 257 und 282; Peter Steinbach (2017, S. 253) präsentiert „Nationalsozialisten“ und „Protestanten“ als zwei unterschiedliche Gruppen. Damit zusammenhängend wird vielfach auf die Unvereinbarkeit vonseiten des NS-Regimes verwiesen. Vgl. etwa: Strohm 2011, S. 10: „grundsätzlich christentumsfeindliche Ausrichtung der nationalsozialistischen Herrschaft“. Scherf (2019, S. 232) konstatiert, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, dass sich „die evangelische Kirche“ nicht gänzlich „losgelöst“ vom NS-Staat positionieren konnte, weshalb sie nicht „als wirklicher Gegenspieler […] auftreten und wahrgenommen werden“ konnte. 69 So konstatieren Ericksen/Heschel (2005, S. 34): „Nach der Volkszählung vom Mai 1939 bekannten sich 54 Prozent der Deutschen zur evangelischen und 40 Prozent zur katholischen Konfession, während sich nur 3,5% als ,gottgläubig‘ bezeichneten und lediglich 1,5 Prozent angaben, gar keinen Glauben zu haben. […] Sowohl die Katholische als auch die Evangelische Kirche blieben für die gesamte Dauer des NS-Regimes vom Staat anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts, der Staat erhob die Kirchensteuer und kam für ihre Ausgaben auf. Geistliche leisteten – zum als Teil als Militärseelsorger – ihren Wehrdienst, der Religionsunterricht blieb Bestandteil des Erziehungssystems, die Theologischen Fakultäten an den Universitäten blieben bestehen und wurden weiterhin durch öffentliche Mittel gefördert. In Artikel 24 ihres Parteiprogramms bekannte sich die NSDAP nachdrücklich zu einem ,positiven Christentum‘ als Grundlage des deutschen Staates.“ Vgl. auch Gailus 2005. 70 Vgl. Nolzen 2011, S. 154. Erst jüngst wurde vielversprechend der Versuch einer „Neuperspektivierung des Verhältnisses von Religion und Nationalsozialismus“ unternommen – ein „Perspektivwechsel“, bei dem gefragt wird, ob sich der Nationalsozialismus „gerade wegen christlicher Disposi-

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Des Weiteren liegen ,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Muster zahlreichen Schemata zur Klassifizierung des kirchlichen Handlungsspektrums in der NS-Zeit zugrunde. Damit nimmt es erheblichen Einfluss auf die Interpretationsmöglichkeiten damaligen Handelns: Es begrenzt diese von vornherein. Exemplarisch sei folgendes von Peter Noss vorgeschlagenes Handlungsspektrum genannt: „Opportunismus, Anpassung, Opposition, Resistenz, Widerstand“.71 Auf drei Kategorien der NS-Nonkonformität, folgen nur noch die beiden Positionierungsmöglichkeiten „Anpassung“, die eine Annäherung an etwas prinzipiell Wesensfremdes, ein unfreiwilliges Mitmachen suggeriert, und „Opportunismus“, ein Mitmachen lediglich um des eigenen Vorteils willen, ggf. sogar wider besseren Wissens.72 Ausgeschlossen wird dabei zum einen die Variante eines weit über jegliche Form der ,Anpassung‘ hinausgehenden, innerkirchlichen wie parteipolitischen NS-Engagements von Geistlichen, wie es teilweise schon deutlich vor 1933 erfolgte, und auch darin gerade keine ,Anpassung‘ darstellte, sondern im Gegenteil in der Weimarer Zeit sogar mit Sanktionen durch Staat und Landeskirche verbunden war. Zum anderen wird von vornherein die Möglichkeit negiert, dass NS-konformes Handeln aus (euphorischer) NSZustimmung, aus ,Führerglaube‘ und Bejahung von NS-Ideologie und NSDAPParteiprogramm resultierte.73 Zahlreiche weitere Modelle mit vielfach sehr ausdifferenzierten Beschreibungskategorien für NS-nonkonforme Positionierungsmöglichkeiten ohne Entsprechungen für den NS-konformen Bereich ließen sich anführen; sie verdeutlichen den Schwerpunkt der bisherigen Forschung.74

_____ tionen und mit ihnen derart rasch entwickelt und etabliert hat“: Blaschke/Großbölting 2020, S. 13 f; vgl. auch die anderen Beiträge in dem Band „Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus“. 71 Noss 2000, S. 60. 72 Ähnlich bei Thomas Brechenmacher und Harry Oelke (2011, S. 19 und 289), die das Verhaltensspektrum beginnend bei „christlich-resistente[m] Verhalten“ bis zu „opportunistische[m] Mehrheitsprotestantismus“ skizzieren, oder bei Schjørring (2018, S. 39), der als NS-konformste Varianten ,Anpassung‘ benennt, ergänzend immerhin ,bereitwillige Zustimmung zur NS-Ideologie‘ einräumt. 73 Auch Blaschke (2014, S. 192) kritisiert den Anpassungs-Begriff als Beschreibungskategorie, da dieser suggeriere, dass „die Alternative für Widerstand mürrischer Gehorsam statt bereitwilliger Zustimmung gewesen“ sei. 74 Vgl. dazu auch Hering 2013, S. 98f; Langewiesche 1983, besonders S. 148–155; Blaschke 2014, S. 191–202, u.a. S. 192: es bestehe immer noch eine „krasse Asymmetrie zwischen ausgefeilten Widerstandsbegriffen und wenig differenzierten Kollaborationsbegriffen“. Ausgewogenere Klassifikationsschemata, die den NS-konformen Bereich stärker berücksichtigen, finden sich bei Manfred Gailus (2001, S. 17), der u.a. die Formen: „euphorische Identifizierung, sogar Überidentifizierung“ und „weitgehende Identität oder zumindest sehr starke Affinität“ benennt, bei Olaf Blaschke (2014, S. 187), der u.a. die über ,Anpassung‘ hinausgehende Kategorie „Nationalsozialistische Christen“ anführt, oder bei Rainer Hering (2013, S. 104–107), der in Bezug auf den NS-konformen Bereich eine genauere Unterscheidung zwischen ,Kooperation‘, ,Konformität‘ und ,Engagement‘ vorgeschlagen hat. Das im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelte Klassifikationsmodell wird in Teil 1, Kapitel 2 und Teil 2 vorgestellt bzw. angewandt.

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„Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat […].“75 Dieser Auszug aus der Stuttgarter Schulderklärung verweist auf das nächste prägnante Narrativ: auf das nicht mehr auf die BK begrenzte, und somit auch ,Deutsche Christen‘ inkludierende kirchliche Widerstandsnarrativ (d), das wie die meisten der anderen Narrative unmittelbar in der Nachkriegszeit geprägt wurde.76 Auch dieses Narrativ hat Eingang in die Kirchengeschichtsforschung wie allgemeine NS-Forschung77 gefunden, u.a. durch Kurt Meier, der den Kirchen in den 1960ern bescheinigte, „dass bereits ihre bloße Existenz eine Form des Widerstandes gegen das NS-Regime war.“78 Das Motiv kann als Steigerung des ,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativs angesehen werden. Es hat an Aktualität nicht verloren. So beschrieb beispielsweise Christoph Strohm im Jahr 2011 die bloße Existenz der Kirchen bzw. die Existenz christlichen Lebens als Form des Widerstandes gegen das NS-Regime: „Tatsächlich waren […] die beiden großen Kirchen diejenigen Institutionen und Bereiche der Gesellschaft, in denen der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik der stärkste und andauerndste Widerstand begegnete.“ Bereits das Praktizieren von „eigenständigen kirchlichen Aktivitäten und christlichen Lebensformen“, von christlichen „Lehren und Lebensformen“, wird zur „Widerständigkeit“ erhoben. Denn diese hätten „offensichtlich im Widerspruch zur nationalsozialistischen Weltanschauung“ wie der „Vergötzung von Rasse, Volk und Führer, die in pseudoreligiöser Weise öffentlich inszeniert wurde“, gestanden.79

_____ 75 Auszug aus der Stuttgarter Schulderklärung: EKD: Die Stuttgarter Schulderklärung. URL: https://www.ekd.de/Stuttgarter-Schulderklarung-11298.htm (15.1.2021). 76 Zwar benannte die Erklärung auch kirchliche Schuld: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“, vermied dabei aber jegliche Form der Konkretisierung; der Ausschluss der Christen jüdischer Herkunft wurde komplett verschwiegen, die Shoa allenfalls angedeutet. Es überwiegt – selbst wenn von den Entstehungsbedingungen der Erklärung abgesehen wird – das Bild einer passiv-widerständigen Kirche, ohne die DC davon auszuschließen. Vgl. zur „diskursiven Konstruktion einer Widerstandsidentität“ des deutschen Protestantismus seit der frühen Nachkriegszeit: Fischer-Hupe 2002. 77 Vgl. Blaschke 2014, S. 13. Blaschke führt hier aus, dass die Kirchen in „allen Büchern über die NS-Diktatur“ im Kapitel ,Widerstand‘ verhandelt werden: „Sucht man nach den Kirchen findet man sie genau dort und oft nur dort.“ Auch Blaschke führt dieses Faktum auf die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von kirchlicher Seite initiierte Stilisierung zurück: „Kirchenvertreter wie etwa Wilhelm Niemöller selber habe diese Zuordnung 1945 initiiert – mit anhaltendem Erfolg.“ 78 Ericksen/Heschel (2005, S. 42) über: Meyer 1992, S. 234 f. 79 Strohm 2011, S. 106; vergleichbar in Bezug speziell auf die schleswig-holsteinische BK bei JensHinrich Pörksen (2007, S. 48): „Die Christen in unserem Land, die in Breklum und anderswo in den Gemeinden der Bekennenden Kirche die zentralen Inhalte der Christusbotschaft vom Heil Gottes für alle Menschen verteidigten und die totalitäre Ideologie des nationalsozialistischen Staates mit ihren rassistischen, völkischen Ideen und ihrer Vergötzung des Deutschtums bekämpften, haben an die-

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Ganz ähnlich zu finden bei Martin Greschat:80 Zwar sei es „evident, dass [der] Einspruch [von Kirchengemeinden und Pfarrern gegen die NS-Herrschaft] nicht klar und nicht häufig genug erfolgte“ (=,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativ), jedoch könne unter Rückgriff auf das Totalitarismusmodell aus dem NS-bezogenen ,Schweigen‘ der Kirchen, aus der Annahme, dass die Kirchen „eine andere Wirklichkeit [bezeugten], die derjenigen der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis prinzipiell widersprach“, auf eine grundsätzlich vorhandene politische Opposition geschlossen werden: Die Konzentration auf den eigenen, selbst gestalteten Bereich mitsamt der eigenständigen christlichen Botschaft begrenzte tatsächlich den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch. […] Worum es mir geht, ist nur die Tatsache, dass auch der einfache Pfarrer, der lediglich die biblische Botschaft und die Bekenntnisse seiner Kirche weitersagen wollte, ohne dabei direkte politische Aussagen zu machen, gleichwohl zumindest indirekt politisch und mithin systemkritisch redete.

Passivität, neutrale Enthaltung als Systemkritik; „das Christentum und insbesondere die Kirchen, vor allem die Volkskirchen“81 pauschal als NS-Opposition: Widerstandsnarrativ. Jens Holger Schjørring schreibt der „Bewahrung der traditionellen Liturgie und d[er] Weiterführung des kirchlichen Lebens – loyal zu den Geistlichen“ (letzterer Zusatz scheint eine vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen Pastorenschaft und Nationalsozialismus andeuten zu wollen) den Status immerhin „eine[r] teilweise[n] Opposition“ zu – auch wenn der Autor einräumt, dass der „Preis“ dieser Form „darin bestand, dass die Politik ungehindert fortgesetzt werden konnte“, wobei es eben-

_____ sem zentralen Punkt der herrschenden Ideologie des Nationalsozialismus und dem Zeitgeist widersprochen.“ 80 Greschat 2006, S. 34. Dem Aufsatz scharf widersprochen hat Günther van Norden (2007); vgl. auch Greschats Erwiderung (2008). 81 Greschat 2006, S. 33. Im Folgenden führt Greschat aus, dass die „christliche Motivation […] fraglos bei vielen Menschen in ihrer Opposition und im politischen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime eine wichtige Rolle“ (S. 47) gespielt habe – ohne zu thematisieren, dass diese auch die gegenteilige Wirkung haben konnte (,Widerstands‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativ). Ebendiese christliche Motivation als ,Widerstandsmovens‘ wird von zahlreichen Autoren herausgestellt: vgl. z.B. Meyer 2003 (u.a. S. 51); Rudolph 2003. Manfred Gailus (u.a. 2012, S. 233) hingegen benennt auch den gegenteiligen Fall, wenn er von einem „christlich-nationalsozialistischen Doppelglauben“ spricht, von „christlichen Nationalsozialisten“ und „nationalsozialistischen Christen“. Tatsächlich ließ sich innerhalb der schleswig-holsteinischen Geistlichkeit seltener ,Widerstand‘ primär interessengebunden in Bezug auf den Schutz der Institution Kirche ausmachen, weniger aus grundsätzlicher christlicher Motivation heraus: Interessengebundenheit anstatt eines ,Aufstands des christlichen Gewissens‘ gegen die NS-Weltanschauung. Und: Mehrheitlich, so wurde anhand der Untersuchungsgruppe deutlich, wurden Christentum und Nationalsozialismus von den Geistlichen keineswegs als unvereinbare Gegensätze betrachtet.

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diese Form sei, die Christen „im nationalsozialistischen Deutschland“ bevorzugt gewählt hätten.82 Bei zahlreichen anderen Autoren findet der Mythos von der „zumeist politikferne[n] Predigt“83 Widerhall. Diese als Widerstand ausgelegte, vermeintliche NS-,Passivität‘ in der Verkündigung, die ausschließliche Verkündigung „der eigenständigen christlichen Botschaft“ (Greschat), die „politikferne Predigt“ (van Norden) bzw. die Existenz von NS-neutralen christlichen „Lehren und Lebensformen“ (Strohm) einschließlich der „Bewahrung der traditionellen Liturgie und d[er] Weiterführung des kirchlichen Lebens“ (Schjørring), ließ sich in Bezug auf die schleswig-holsteinische Geistlichkeit, so viel sei vorweggenommen, durchaus nachweisen – allerdings nur sehr selten.84 Bereits der damalige Oberkonsistorialrat NICOLAUS CHRISTIANSEN deutete 1938 an: „Wenn wir gegen die deutschkirchlichen Pastoren einschreiten wollten, dann müsse man es auch gegen manche andere Pastoren aus den verschiedensten Richtungen und allen Lagern tun, weil es überall solche gäbe, die nicht lauter und rein das Evangelium verkündigten“, solche Formen der Verkündigung müssten vielmehr als „Paradiesische Zustände“ angesehen werden.85 Annähernd 1.000 ausgewertete Predigten und Konfirmandenunterrichtsentwürfe der schleswig-holsteinischen Pastoren des ,Dritten Reichs‘ bestätigen CHRISTIANSENs Einschätzung. Sehr viel häufiger als NS-neutrale Verkündigung ließen sich befürwortende NS-ideologische Bezugnahmen und direkte propagandistische Lobpreisungen des Nationalsozialismus feststellen – bis hin zu Parteireden, die im Braunhemd von der Kanzel gehalten wurden; seltener auch das ebenso politische und keineswegs neutrale Gegenteil: Kritik an NS-Staat und NS-Ideologie. Welche Rolle die „Vergötzung von Rasse, Volk und Führer“ (Strohm) in der Verkündigung tatsächlich spielte, wird in Teil 3 detailliert zu erörtern sein – vorab: Sie spielte eine bemerkenswerte Rolle. Ebenfalls als nicht unproblematisch ist in diesem Zusammenhang die von der ,Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte‘ (München) organisierte, seit 2011 zugängliche Online-Ausstellung Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus86 einzustufen, die zwar medial hervorragend gestaltet ist, jedoch von manchen der ,Widerständler‘ ein Ambivalenzen

_____ 82 Schjørring 2018, S. 39. Zahlreiche weitere Beispiele für Aktualisierungen des Widerstandsnarrativs ließen sich anführen; in Bezug auf die katholische Kirche: Hürten 1987; ders. 1992. 83 Hier: van Norden 2007, S. 184. 84 Dass hierbei keineswegs von ,Widerstand‘ gesprochen werden kann, wird später ausführlich zu thematisieren sein. 85 LKANK, Wester, Reinhard (Bischof) Nr. 236: Bericht von Pastor Lensch-Itzehoe: Gespräch im LKA betr. Deutschkirche, offenbar 1938. 86 Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte: Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus. URL: https://de.evangelischer-widerstand.de/#/ (15.1.2021); vgl. dazu auch Oelke 2012.

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übergehendes, allzu glattes Geschichtsbild zeichnet (etwa im Hinblick auf HANS ASMUSSEN), und v.a. – der Titel verrät es – eben nur einseitig nach Widerstand fragt. Das letzte der fünf gängigen Narrative stellt (e) das ,Opfer‘-Narrativ dar. Noch 1945/46 begannen beide großen Amtskirchen mittels Fragebogen, Listen zu den NSVerfolgungsmaßnahmen gegen die Geistlichen zusammenzustellen, um den ,Widerstand des Klerus‘ zu belegen bzw. von der Entnazifizierung Betroffene zu unterstützen.87 In den evangelischen Kirchen waren besonders Vertreter der BK bemüht, „nach Kriegsende […] ihre Opferrolle durch den NS-Staat zu einem regelrecht legendären Status hochzustilisieren.“88 Diese Betonung der kirchlichen Opferrolle nimmt innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung einen großen Raum ein.89 Das Narrativ wird oft in Verbindung mit dem Widerstandsnarrativ verwendet – unter der (irrigen) Annahme: ,Opfer‘ des NS-Regimes müssten ,Widerstand‘ gegen das Regime geleistet haben. Dass dem nicht zwangsläufig so ist, belegt neben Beispielen aus den Kirchen der Fall Ernst Röhm, der Opfer des NS-Regimes wurde, ohne im Widerstandssektor verortet werden zu können. Die Opfer- und Widerstandsperspektive prägt dann auch das vielbeachtete, erstmals 1984 erschienene Werk Priester unter Hitlers Terror,90 das auf den von der katholischen Kirche nach Kriegsende erstellten Opferlisten beruht und die Maßnahmen des NS-Staates gegen katholische Geistliche umfänglich dokumentiert. 1996 wurden durch die Münchener ,Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte‘ der EKD die Fürbittlisten der BK als Opferlisten veröffentlicht.91 Die Situation der Kirchen im ,Dritten Reich‘ wurde sogar mit der der ,Nichtarier‘ gleichgesetzt, so etwa bei Kurt Meier,92 oder Heinz Hürten, der – auf ein zeitgenössisches Zitat bezugnehmend – konstatiert: Die „Kirche schien in gleicherweise der Verfolgung ausgesetzt wie die Juden“.93 Christoph Strohm spricht von einem von nationalsozialistischer Seite geführten „Vernichtungskampf[] gegen die

_____ 87 Vgl. u.a. Fandel 1997, S. 399 und 403; Blaschke 2014, S. 193. 88 Ericksen/Heschel 2005, S. 40. Bräuninger (2019, S. 192) konstatiert: „Es wurde ein Opfermythos kreiert, der der Kirche als Selbstschutz diente.“ 89 Vgl. dazu Blaschke 2014, S. 74–87 („Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?“). Beispielhaft sei verwiesen auf den von Erich Schuppan herausgegebenen Band (2000) mit dem bezeichnenden Titel: „Bekenntnis in Not. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg im Konflikt mit dem totalen Staat (1933–1945). Aufsätze zur Geschichte des Kirchenkampfs“, vgl. auch Schuppans Aufsatz in dem Band (S. 213–290); vgl. ferner den Band Brechenmacher/Oelke 2011; Beese 2016, S. 54 (die christlichen Kirchen hätten „stets aus der Defensive“ heraus gegenüber dem Nationalsozialismus agiert, ohne jemals „Herren des Geschehens“ gewesen zu sein); Zumholz/Hirschfeld 2006; Scherf 2019 – die Liste ließe sich beliebig erweitern. 90 Von Hehl/Kösters (Bearb.) 1996. 91 Grünzinger/Walter (Bearb.) 1996. 92 Vgl. Ericksen/Heschel 2005, S. 42. 93 Hürten 1987, S. 36.

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Kirchen“94 und Klauspeter Reumann erkennt „zwischen dem Vorgehen der SS gegen die Bekenntniskirche und der SA gegen die jüdischen Kirchen nur methodische, nicht aber grundsätzliche Unterschiede“.95 Die Berechtigung der fünf geschilderten Narrative: (a) ,Kirchenkampf‘-Narrativ; (b) ,Nazifizierungs‘-Narrativ; (c) ,Passivitäts‘- und ,Unvereinbarkeits‘-Narrativ; (d) Widerstandsnarrativ (nicht auf die BK beschränkt); (e) Opfer-Narrativ soll in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die schleswig-holsteinische Landeskirche, genauer: ihre 1933 bis 1945 wirkenden 729 Pastoren, überprüft werden. Vorweggenommen seien folgende Feststellungen: Alle Narrative, auch viele der beispielshaft angeführten Studien, rekurrieren in ihrer Aktualisierung zwar oftmals auch auf andere Narrative – besonders in der Verbindung der Narrative (a) und (c) bis (e) –, beanspruchen durch die jeweilige starke Fokussierung aber insgesamt weitgehende Allgemeingültigkeit für sich und werden darin als vermeintliche Masternarrative greifbar. Dabei wurde bezüglich der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft bereits 2005 – wenn auch nur anhand weniger, besonders exponierter Geistlicher und unter Rückgriff auf das ,Kirchenkampf‘-Narrativ – auf die große Vielfalt pastoraler Positionierungen zum Nationalsozialismus und damit auf das Differenzierungspostulat im Hinblick auf die Pastorenschaft hingewiesen. 96 Die Untersuchung der 729 schleswig-holsteinischen Geistlichen bestätigt die Notwendigkeit zur Differenzierung und zeigt: Alle fünf Narrative haben prinzipiell ihre Berechtigung. So ließen sich alle beschriebenen Positionierungsformen bestätigen: Manche Pastoren der Grundgesamtheit fungierten als aktive ,Kirchenkämpfer‘, andere unterstützten das NS-Regime innerkirchlich sowie parteipolitisch, leisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zogen sich zurück und verhielten sich neutral gegenüber dem NS-Staat, erkannten die Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus, begründeten die Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Kirche biblisch, wurden Opfer des Terrorregimes oder ihrer deutsch-christlich geführten Landeskirchenleitung. Kurzum: Die (schleswig-holsteinische) Geistlichkeit fungierte keineswegs als homogene Einheit. Vielmehr wird deutlich: Die jeweilige Positionierung eines Pastors zum Nationalsozialismus war stets einzigartig; für jeden Pastor ergibt sich ein individuelles Gesamtbild. Entscheidend scheint demnach die Verhältnismäßigkeit der Narrative zueinander zu sein: Die Stilisierung eines der Narrative zum Masternarrativ, das für sich Allgemeingültigkeit beansprucht, vermag den historischen Gegenstand, die Vielschichtigkeit und Komplexität der historischen Wirklichkeit nicht angemessen abzubilden. Während diesem Allgemeingültigkeitsanspruch des jeweiligen Narrativs bereits bei dessen Skizzierung widersprochen wurde, soll die Verhältnismäßigkeit

_____ 94 Strohm 2011, S. 82. 95 Reumann 1998, S. 352. 96 Vgl. Danker/Schwabe 2005, S. 66 f.

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der Narrative zueinander in der vorliegenden Arbeit bundesweit erstmals auf einer soliden, empirischen Grundlage präzise bestimmt werden: auf der der gesamten Geistlichkeit einer Landeskirche. Auch hierin versteht sich die Arbeit als Grundlagenforschung am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel.97 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, soll eine vollumfängliche Bestandsaufnahme der Positionierung der Geistlichkeit zum Nationalsozialismus vorgenommen werden, ohne dabei von vornherein eine der geschilderten Narrativ-Perspektiven zu priorisieren. Vielmehr sollen sämtliche NS-relevante, NS-konforme sowie NS-nonkonforme Informationen gleichermaßen erfasst und bei der Auswertung berücksichtigt werden. Dabei wird weder von einer Kollektivschuld ausgegangen, noch, einer Pauschalexkulpation gleichkommend, der Zeitgeist entschuldigend herangezogen.98 Es ist ausdrücklich nicht Ziel der vorliegenden, auf Transparenz ausgelegten Untersuchung, die 729 Pastoren der Untersuchungsgruppe postum zu diskreditieren, ebenso wenig sie zu heroisieren. Gleichwohl sind NS-Konformität sowie NS-Nonkonformität uneingeschränkt dort zu benennen, wo sie festzustellen sind. Durch das Negieren, Verschweigen oder Beschönigen von pastoraler Mitwirkung am nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekt wird im Umkehrschluss das Leiden der Opfer bagatellisiert, durch ungerechtfertigte Stilisierungen der Mut und die Leistung der tatsächlichen Widerstandspastoren gemindert.

_____ 97 Während sich insbesondere in der jüngeren Forschung auch ausgewogene Darstellungen finden (vgl. Blaschke 2014, S. 243), fehlt doch bislang eine solche, die die Verhältnismäßigkeit der in den Narrativen postulierten Rollen der Kirchen austariert. 98 So geschehen etwa bei Pörksen (2007, S. 50 f): „Ich bin nicht mehr bereit, der Kirche speziell vorzuwerfen, dass sie damals das gesagt hat, was alle – einschließlich der gesamten geistigen Elite unseres Volkes – leider gesagt und verschwiegen haben. Wer die Kirche gerecht und fair beurteilen will, muss sie messen an dem Denken, Reden und Tun aller anderen gesellschaftlichen Gruppen in der damaligen Zeit.“

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2 Theorie und Methodik 2 Theorie und Methodik 2 Theorie und Methodik

Theorie, Methodik und die Quellenbasis bestimmen den Erkenntniskorridor, innerhalb dessen die möglichen Befunde einer jeden geschichtswissenschaftlichen Studie verortet werden können.99 Der Untersuchung liegt eine kollektivbiografische Herangehensweise zugrunde: Beleuchtet werden sollen die Positionierungen der 1933 bis 1945 in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins tätigen Pastoren zum Nationalsozialismus (Prosopographie). Während kollektivbiografisches Vorgehen in die kirchliche Zeitgeschichtsforschung bislang kaum Eingang gefunden hat,100 ist ein solcher Zugriff für andere Bereiche der Geschichtswissenschaft – auch für die NS-Täterforschung – längst kein Novum mehr.101 Gleichwohl unterscheidet sich das hier zugrunde gelegte, kollektivbiografische Erkenntnisinteresse von bisherigen Untersuchungen dieser Art fundamental. So wird in der vorliegenden Arbeit erstmals konsequent nach dem ganzheitlichen NS-bezogenen Handeln des Kollektivs, nach dem kollektiven NS-relevanten Handeln der Untersuchungsgruppe gefragt (Handlungstheorie). Die Herangehensweise lässt sich demnach als innovative Zusammenführung von Kollektivbiografie und Handlungs-

_____ 99 Auf diesen sowie die nachfolgenden Inhalte wird unten genauer einzugehen sein; dort finden sich auch die Literaturangaben. 100 So auch bei Gailus (2001, S. 373 f), der konstatiert, dass „präzise, lokal oder regional eingegrenzte Berufsstandsanalysen zur Pfarrerschaft während der NS-Zeit erst in sehr wenigen Beispielen vorliegen“ – anders als für andere Berufsgruppen. Als eine der wenigen Ausnahmen sei neben Gailus‘ primär sozialgeschichtlicher Studie der Berliner Pastorenschaft im Nationalsozialismus (ebd., S. 373–565) auf Björn Mensing (1999) verwiesen, der einen größeren Teil der Pastorenschaft einer Landeskirche untersucht hat. Mensing begrenzt die Studie über die „NS-Verstrickung“ der Pfarrerschaft des rechtsrheinischen Bayerns allerdings auf die „Pg.-Pfarrer“ – ohne diejenigen Pastoren zu berücksichtigen, die zwar nationalsozialistisch, nicht aber in der Partei waren. Ferner wurde ausschließlich NS-Konformität untersucht, ohne den Bereich der NS-Nonkonformität zu beleuchten, wodurch die Studie zwar aufschlussreiche Einblicke in die „NS-Verstrickung“ der NSDAP-Pastoren liefert, ihre Aussagekraft in Bezug auf das Gesamtkollektiv aber begrenzt bleibt. Eine weitere kollektivbiografische Studie lieferte Fandel (1997), ebenfalls mit einem „Schwerpunkt […] auf die NSDAPMitglieder unter den pfälzischen Theologen“ (S. 18). Für die katholische kirchliche Zeitgeschichtsforschung sei verwiesen auf: Hirschfeld/Zumholz (Hrsg.) 2006. 101 Vgl. die Übersicht bei: Paul/Mallmann 2004, S. 2 f; Gallus 2005, S. 41; Knoch 2003, S. 9. Seither sind zahlreiche weitere kollektivbiografische Untersuchungen erschienen. Eine umfangreiche Bibliografie kollektivbiografischer Studien findet sich bei: Schröder 2011, S. 92–100. Auf zahlreiche kollektivbiografische Studien die NS-Forschung betreffend wird unten näher eingegangen. Diese sind zudem gesondert im Literaturverzeichnis aufgelistet. Diese Untersuchung geht insofern über die NS-Täterforschung, die „die Suche von Historikern nach jenen Personen und Gruppen [umfasst], die entweder direkt oder aber indirekt an den schlimmsten Untaten des NS-Regimes beteiligt waren“ (Hirschfeld 2004, S. 9), hinaus, als dass es ausdrücklich nicht um eine einseitige Thematisierung von Täterschaft geht: Die Untersuchung von NS-Nonkonformität steht gleichermaßen im Fokus.

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2 Theorie und Methodik

theorie definieren. Sie ermöglicht eine umfassende und differenzierte, empirisch fundierte Untersuchung über den Einzelfall hinausgehender, kollektiver Einstellungs- und Handlungsweisen102 und dürfte sich darin nicht nur zur Untersuchung dieses, sondern auch anderer (und nicht nur kirchlicher) Kollektive eignen. Ihr Potenzial liegt in der empirischen, präzisen und vollumfänglichen Erfassung historischen, kollektiven Handelns und kollektiver Einstellungen begründet. Neben der Tatsache, dass ausführliche methodische Einordnungen in kollektivbiografischen Arbeiten oftmals unterblieben,103 scheint es nicht zuletzt aufgrund der Neuartigkeit der vorliegenden Herangehensweise geboten, die methodischen Grundlagen der Studie detailliert darzulegen. Bevor dies geschieht, seien die theoretischen Überlegungen skizziert. Die Herangehensweise erwies sich als geeignet, Aspekte verschiedener geschichtstheoretischer Schulen integrativ zusammenzuführen: Mikro- bzw. alltagsgeschichtliche, kulturgeschichtliche, diskurs- sowie begriffsgeschichtliche, struktur- und mentalitätsgeschichtliche Gesichtspunkte wurden miteinander verbunden.104

_____ 102 So attestiert Alexander Gallus (2005, S. 45) dem kollektivbiografischen Ansatz „eine Mittlerposition“, „eine Brückenfunktion“. Sven Reichardt (2003, S. 20) betont bei seiner Untersuchung des SA-,Mördersturms 33‘, dass durch einen handlungstheoretischen Ansatz die Unterschiede (hier in Bezug auf die Faschismusforschung) zwischen Sozial- und Kulturgeschichte überwunden werden können: „Die in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit ritueller Beharrlichkeit vorgetragene starre Abgrenzung der subjektivistischen von den objektivistischen Konzeptionen des Faschismus kann mit einem Zugriff, der das handelnde Subjekt in das Zentrum der Analyse stellt, konstruktiv überwunden werden. […] Durch den handlungstheoretischen Zugang bietet sich die Chance, die getrennt voneinander operierenden sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Zugangsweisen zu vermitteln und zu verknüpfen.“ Zwischen innerer ,Einstellung‘ und öffentlicher ,Handlung‘ wurde innerhalb dieser Arbeit strikt unterschieden. 103 So verortet etwa Christopher R. Browning (2007, S. 16) seine Untersuchung über das ReservePolizeibataillon 101 knapp in der „Alltagsgeschichte“, und beschreibt diese zunächst geschichtstheoretische Zuordnung als „methodische[n] Ansatz“ [im Original: „approach“]. Alexander Gallus (2005, S. 42) bemängelt, dass es den meisten kollektivbiografischen Arbeiten an einer „methodische[n] Reflexion“ fehlt. 104 Geschichtstheoretische Schulen beruhen jeweils auf relativ einheitlichen theoretischen Konzeptionen. Vgl. dazu: Haas 2012, S. 69. Stefan Jordan konstatiert, dass „sich bei den meisten Historikern Mischformen theoretischer Positionen finden lassen, die man negativ als ,Inkonsistenzen‘ bezeichnen kann, die positiv gewendet aber auch als Offenheit für anderes erscheinen können. Sofern Historikerinnen und Historiker keiner festen Ideologie und keinem Dogmatismus folgen, kommen sie […] nicht umhin, sich das Andere zu eigen zu machen, sich beeinflussen und überzeugen zu lassen.“: Jordan 2016, S. 218. Auch Gallus betont, „[w]ie fruchtbar es sein kann, sich von der Fixierung auf einen methodischen Zugang oder ein geschichtstheoretisches Konzept zu verabschieden“: Gallus 2005, S. 41; ähnlich bei Longerich S. 3 f.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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2.1 Theorie: Grundannahmen 2.1 Theorie: Grundannahmen Geschichte ist eine „theoriegeleitete Konstruktion“105 der Vergangenheit. Das bedeutet: Geschichte existiert nicht per se, sie wird konstruiert, und „den Grundriss für diese Konstruktion liefert der theoretische Bezugsrahmen. Ohne theoretischen Ausgangspunkt gibt es keine Geschichte.“106 Geschichtstheorie determiniert somit – gemeinsam mit der Quellenbasis – den Rahmen des historischen Erkenntnisgewinns: Sie fundiert (im Zusammenspiel mit Thema bzw. Erkenntnisinteresse) die zur Beantwortung der Fragestellung verwendete Methodik, die ihrerseits bestimmt, wie sich die „Forschungspraxis gestaltet und welcher Befund am Ende steht.“107 Geschichtstheorie rekurriert dabei stets „auf vier verschiedene Bedeutungsebenen, die aufeinander verweisen, aber nicht aufeinander zu reduzieren sind.“108 Dies sind die sozialtheoretische, gesellschaftstheoretische und erkenntnistheoretische Dimension sowie die Ebene des Grundverständnisses von Geschichte und ihrer Vermittlung.109

2.1.1 Sozialtheorie: Individuen vs. Strukturen und Überzeugung vs. Handlungen Im Zentrum der ersten theoretischen Dimension, der Sozialtheorie, stehen Grundauffassungen der sozialen Wirklichkeit, die Frage, woraus sich historische Wirklichkeit konstituiert und in welcher Beziehung diese Elemente zueinander stehen. Dabei „geht es um ganz allgemeine und überzeitliche Annahmen über die Akteursqualitäten der Menschen, die Regelhaftigkeit ihrer Aktionen und das Verhältnis zwischen Individuen und überindividuellen sozialen Gebilden (,Strukturen‘) […].“110 Zusätzlich zu dieser Verbindung zwischen Individuum und Struktur wird das Verhältnis zwischen ,Handlungen‘ und inneren ,Einstellungen‘, von öffentlich(keitswirksam)em ,NS-Handeln‘ und innerer ,NS-Überzeugung‘ sozialtheoretisch zu reflektieren sein, das innerhalb der vorliegenden Studie eine große Rolle spielt. Grundsätzlich wird von einem Menschenbild ausgegangen, das den Menschen als vernunftbegabtes, mündiges und verantwortliches Wesen begreift. Als solches ist es einzigartig, unterscheidet sich also jeweils von allen anderen Personen. Gleichwohl ist jeder Mensch gleich wertvoll. Der historische Mensch wird in Quellen

_____ 105 Welskopp 2008, S. 143. 106 Ebd. Dies ist nicht unumstritten: vgl. Rüsen 2002. 107 Budde/Freist 2008, S. 159. Vgl. zu den verschiedenen Verwendungsformen des Theoriebegriffs: Haas 2012, v.a. S. 67–71. 108 Welskopp 2008, S. 144. 109 Vgl. ebd., S. 144–149. 110 Ebd., S. 144.

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2 Theorie und Methodik

als handelndes und denkendes Wesen greifbar, wobei sich Denken und Handeln stets in Auseinandersetzung mit der historischen Umgebung vollziehen. Je nach der an die Geschichte herangetragenen Fragestellung ist die rekonstruierbare Spur des Individuums, die es in der Geschichte hinterlassen hat, größer oder kleiner, gewichtiger oder unbedeutender, jedoch stets gleichsam beachtenswert.111 Aus diesen sozialtheoretischen Grundannahmen folgt zum einen, dass zur Beantwortung der Fragestellung in dieser Arbeit ein handlungstheoretischer Zugriff (vgl. Teil 1, Kapitel 2.1.3) gewählt wurde, der das Individuum in seinem konkreten Denken und Handeln ins Zentrum stellt, und der dabei gleichsam strukturelle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen vermag, innerhalb derer individuelle Handlungen schließlich stets vollzogen werden.112 Zum anderen schien es für ein umfassendes und differenziertes Ergebnis aufgrund der menschlichen Einzigartigkeit geboten, die Untersuchung nicht auf die (vermeintlich) ,großen Individuen‘ (Historismus)113 zu beschränken, ebenso wenig wie auf eine rein materialistische Weltsicht, in der der Mensch in seiner Bedeutung hinter gesellschaftliche, institutionelle Strukturen zurücktritt (Gesellschafts-/ Sozial-/ Strukturgeschichte)114 – schließlich „bezieht sich Geschichte im engeren und strengeren Sinne […] auf interagierende Subjekte und ihre Verbindlichkeiten, sonst bleibt es beim bloßen Geschehen bzw. natürlichen Vorgang […].“115 Vielmehr wurde sozialtheoretisch davon ausgegangen, dass auch die vermeintlich ,kleinen Individuen‘116 – die in Bezug auf die Fragestellung tatsächlich höchst gewichtige Spuren hinterlassen haben – ebenso relevant sind wie die ,großen Individuen‘,117 die vielen Ortsgeistlichen ebenso wie ihre Pröpste oder der Landesbi-

_____ 111 Vgl. zur Bedeutung des Subjekt-Verständnisses für die Geschichtstheorie: Jaeger 2002. 112 Über die Sinnhaftigkeit der Berücksichtigung der Verbindung von Individuum und Struktur herrscht heute weitgehend Konsens in der Geschichtswissenschaft. Vgl. etwa Gallus 2005, S. 41 f; Kocka 2008, S. 19; Jessen 2008, S. 116 f; Freist 2008, S. 195; Rohlfes 1999, S. 305 f; einzelbiografisch wegweisend umgesetzt bei: Kershaw 1998; ders. 2000; kollektivbiografisch umgesetzt u.a. bei Wildt 2002. Auf die Handlungstheorie wird im Abschnitt zur Erkenntnistheorie (Teil 1, Kapitel 2.1.3) näher einzugehen sein. 113 Vgl. Jordan 2002; Feist 2008, S. 189f; ausführlicher bei Jordan 2016, S. 40–61. 114 Vgl. ebd., S. 97–125; Freist 2008, S. 190–193; Kocka 2002; Welskopp 2002. 115 Wolf 2003, S. 49. 116 Gemeint ist die breite, keine Leitungsfunktion ausübende Pastorenschaft – in Abgrenzung zu den kirchlichen Funktionsträgern in Leitungsämtern. Analog dazu betont auch Habbo Knoch (2003, S. 11) in Bezug auf die allgemeine NS-Täterforschung die Notwendigkeit zu Untersuchungen „von unten“, die also über die Behandlung „der Elite der Täterinnen und Täter“ hinausgehen. 117 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die ,kleinen Individuen‘ nicht bloß als „verlängerte[r] Arm ihrer Vorgesetzten“ (Paul/Mallmann 2004, S. 4) fungierten – hier insbesondere: des Landesbischofs, der Pröpste, des Landeskirchenamts, BK-Bruderrats usw. –, also als selbstständige und eigenverantwortliche Wesen zu betrachten sind, was mit dem Paradigmenwechsel innerhalb der NS-Täterforschung korrespondiert (vgl. ebd., S. 3–4).

2.1 Theorie: Grundannahmen

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schof. Alle diese Individuen bewegten sich selbstbestimmt innerhalb vorgefertigter gesellschaftlicher wie auch speziell berufsbedingter organisationaler Strukturen, mit und in denen sie aufwuchsen und lebten bzw. arbeiteten. Zu solchen vorgefertigten Rahmenbedingungen zählen einerseits sozialstrukturelle und kulturelle Momente wie Sprache, regionale und familiäre Sozialisation, allgemeinere Denk- und Verhaltensweisen wie etwa ein damals autoritärerer Zeitgeist usw.118 Hinzu kommen für die Pastorenschaft andererseits zusätzliche berufsgruppenspezifische Bedingungen wie Ausbildung, landeskirchliche Richtlinien, Interaktionen mit Berufskollegen, kirchenstrukturelle und staatliche Abhängigkeitsverhältnisse etc. Dabei stehen Mensch und Umwelt in einem interdependenten Verhältnis zueinander, wobei die Existenz struktureller Bedingungen den Status des Individuums als mündiges und verantwortliches Wesen nicht negiert. Handlungen, auch sprachliche, werden also immer innerhalb kontextueller, struktureller Rahmenbedingungen realisiert,119 die ihrerseits durch die (Sprach-)Handlungen beeinflusst und gestaltet werden.120 Die Beschaffenheit dieser strukturellen Rahmenbedingungen kann gerade durch das Handeln bzw. Nichthandeln historischer Personen und den daraus (nicht) resultierenden Konsequenzen präziser gefasst werden: Biographien eröffnen spezielle Einblicke nicht nur in alltagsgeschichtlich relevante Zusammenhänge. Am individuellen Beispiel lässt sich oft genau nachvollziehen, wie sich soziale, ökonomische, kulturelle, politische oder ethnische Strukturen bilden, festigen, kreuzen oder auch auflösen, welchen Mehrwert die Zugehörigkeit zu welchen Netzwerken auf welchen Feldern abwirft […].121

Dies gilt in besonderem Maße für den kollektivbiografischen Ansatz, insofern sich erst auf dieser Grundlage Regelmäßigkeiten von weniger signifikanten Ausnahmen empirisch unterscheiden lassen.122 Gleichzeitig wird durch die Berücksichtigung der

_____ 118 Vgl. u.a. Jordan 2016, S. 167. 119 Wilhelm Heinz Schröder (1985, S. 10) konstatiert, dass „die Überbewertung der Subjektivität durch die Einbindung des Individuums in seinen sozialen Kontext“ vermieden werden kann. Die Notwendigkeit hierzu hebt auch Alexander Gallus (2005, S. 46) hervor; vgl. ferner: Rohlfes 1999, S. 305f. Auf den handlungstheoretisch relevanten Aspekt des Kontextes wird innerhalb der erkenntnistheoretischen Ausführungen näher einzugehen sein. 120 Auch Stefan Deines, Stephan Jaeger und Ansgar Nünning (2003, S. 2) betonen, dass „Subjekte […] immer (auch) Produkte historischer Konstellationen [sind], zugleich prägen sie diese aktiv oder versuchen, sich den übersubjektiven Prozessen zu entziehen, um so über Geschichte zu verfügen.“ Dieses interdependente Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. Institution wird bei Christine Müller-Botsch (2011, v.a. S. 72) speziell in Bezug auf die unteren NSDAP-Apparate festgehalten. 121 Lässig 2009, S. 553. 122 Vgl. Gallus 2005, S. 44. Ähnlich bei Wildt (2002, S. 23) in Bezug auf das RSHA-Führungskorps, der „[u]m das Gewöhnliche wie Außergewöhnliche dieser RSHA-Täter […] zu erklären, […] ihre verschiedenen, abweichenden wie übereinstimmenden, Profile“ untersucht.

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2 Theorie und Methodik

realen Handlungsbedingungen deutlich, „wer für welche Entscheidungen Verantwortung trug, wer seine Spielräume ausschritt oder Zivilcourage vermissen ließ.“123 Für die vorliegende Untersuchung bedeutet das, dass auf Grundlage des Gesamtkollektivs der Pastorenschaft erstmals empirisch für eine Landeskirche analysiert werden soll, welche NS-relevanten Verhaltensweisen besonders verbreitet waren und welche weniger; ob und welche pragmatischen Vorteile nationalsozialistisches Handeln für Pastoren mit sich brachte; wofür es landeskirchliche Vorgaben gab und wie diese umgesetzt wurden; welche Handlungen über die Befolgung von Vorgaben eigeninitiativ hinausgingen; welche Sanktionen bei abweichendem Verhalten zu erwarten waren usw. Als gleichsam bedeutend erscheint die Untersuchung von strukturellen Zusammenhängen zwischen Landeskirche und NS-Regime, zwischen Kirche und Politik in Form von staatlichen Anweisungen, Kontrollen und Sanktionen, die anhand der Pastorenschaft in ihrer Umsetzung ausgeleuchtet werden können. Diese strukturgeschichtlich relevanten Erkenntnisse sind ihrerseits zur Einordnung und Beurteilung der Handlungen von großer Relevanz: Sie markieren den strukturell vorgegebenen Handlungsspielraum der (schleswig-holsteinischen) Pastorenschaft.124 Die in dieser Arbeit leitende Annahme der Handlungs-Bedeutung des Individuums (innerhalb gegebener Strukturen), unabhängig von der Frage nach innerkirchlicher Leitungsposition, korrespondiert mit den geschichtstheoretischen Entwicklungen seit Ende der 1970er Jahre, wo das Individuum nach seinem Nichtvorhandensein in der Gesellschaftsgeschichte von verschiedenen geschichtstheoretischen Richtungen (Historische Anthropologie, Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte mit fließenden Übergängen) wieder ins Zentrum gerückt wurde, und zwar nun das ,kleine Individuum‘ (Wende vom Abstrakten zum Konkreten; Geschichte ,von unten‘).125 Während dieses jedoch hauptsächlich interessant wurde, weil es soziale Gruppen, Kollektive und allgemeine Prinzipien repräsentieren sollte,126 wird demgegenüber hier das Individuum gerade aufgrund seiner Einzigartigkeit und seines Wertes sowie seiner individuellen geschichtlichen Handlungsrelevanz in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt. Aus seiner Individualität und Einzigartigkeit

_____ 123 Lässig 2009, S. 553. 124 Auch Wildt (2002, u.a. S. 25–29) betont die Relevanz institutioneller wie auch politischer Rahmenbedingungen; vgl. auch Hirschfeld 2004, S. 12; Lässig 2009, S. 552. Levke Harders und Hannes Schweiger (2009, S. 195 und 197) ergänzen, dass gerade kollektivbiografische Studien geeignet sind, die möglichen, individuellen Freiräume von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen offenzulegen, und somit Handlungsoptionen aufzuzeigen. Den realen Handlungsspielraum, der sich Geistlichen bot, auszuloten, ist eines der zentralen Anliegen der Arbeit. 125 Vgl. Jordan 2016, S. 154; Lässig 2009, S. 542 und 551; Freist 2008, S. 194; speziell als neues Paradigma der NS-Täterforschung: Paul/Mallmann 2004, S. 1f; Mühlenfeld 2013, v.a. S. 82–84, 93 und 99–101. 126 Vgl. Jordan 2016, S. 159f.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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resultiert, dass es nur in sehr begrenztem Maße bzw. allenfalls für partikulare Fragestellungen repräsentativen Charakter innehaben kann: Die schleswig-holsteinische Geistlichkeit weist ein breitgefächertes Verhaltensspektrum in Bezug auf den Nationalsozialismus auf; jede einzelne Person trat in ein einmaliges, einzigartiges Verhältnis zum NS(-Staat). Die Reduzierung der Individuen auf ihren vermeintlich repräsentativen Charakter stellt notwendigerweise eine Entindividualisierung ihrer selbst sowie der vermeintlich exemplifizierten Personen und damit auch des historischen Sachverhaltes dar.127 Hinzu kommt, dass Exemplarität nur durch genaue Kenntnis der Grundgesamtheit von Zufälligkeit unterschieden werden kann. Aus beiden Gründen (Einzigartigkeit des Individuums und Gefahr der Zufälligkeit) erschien es als geboten, die gesamte 1933 bis 1945 in der schleswig-holsteinischen Landeskirche wirkende Geistlichkeit ins Zentrum der Untersuchung zu stellen (Vollerhebung): alle 729 Pastoren. Hierin unterscheidet sich die vorliegende Arbeit von den genannten theoretischen Ansätzen, die in der Regel einige wenige Individuen, höchstens kleinere Gruppen untersuchen. Zugleich wird mit den hier behandelten 729 Geistlichen ein aussagekräftiger Teil der während des ,Dritten Reichs‘ in 28 Landeskirchen wirkenden Pastoren – 1933 waren es ca. 18.000128 – beleuchtet, der einen aussagekräftigen Einblick in die Positionierung der deutschen Geistlichkeit am Beispiel der Kirchenmänner der nördlichen Grenzregion ermöglicht. Trotz des aus der Größe der Untersuchungsgruppe resultierenden Aufwands wurde ein mikroperspektivischer129 Ansatz gewählt: Die Untersuchung setzt auf der untersten Ebene an, bei der Gesamtheit der handelnden Individuen.130 Ebenso wie in der Historischen Anthropologie131 und in der Alltagsgeschichte132 steht das Indivi-

_____ 127 Auf das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, das hier berührt wird, wird unten im Rahmen der gesellschaftstheoretischen Ausführungen (zweite theoretische Dimension) näher einzugehen sein. Vorweggenommen sei hier, dass im Rahmen der personalen Auswertung verschiedene ,Prototypen‘ präsentiert werden, die keine stellvertretende ,Repräsentativität‘ bzw. ,Exemplarität‘ für andere Individuen beanspruchen, sondern typische Positionierungsformen zum Nationalsozialismus veranschaulichen sollen. Von Webers ,Idealtypen‘ unterscheiden sich diese ,Prototypen‘ dadurch, dass sie reale Fallbeispiele darstellen. Vgl. zur Prototypentheorie: Bußmann (Hrsg.) 2008, S. 560f; Linke/Nussbaumer/Portmann (Hrsg.) 2004, S. 175–177; zu Webers ,Idealtypen‘: Ay 2002; Jordan 2016, S. 78. Vgl. zur Prototypen-Methodik: Teil 1, Kapitel 2.2.4.1, zur Auswertung (Ergebnisse): Teil 2, Kapitel 1. 128 Vgl. u.a. Hermle 2011, S. 175. 129 Ein knapper Überblick über die Mikrogeschichte findet sich bei: Medick 2002, S. 215–218. Vgl. zur Ergiebigkeit mikroperspektivischer Ansätze innerhalb der Kirchengeschichtsforschung: Weber 2019, u.a. S. 425. 130 Dies gilt für die meisten kollektivbiografischen Arbeiten. Exemplarisch sei auf die Untersuchung von Sven Reichardt (2003) verwiesen, der seine Untersuchung des SA-,Mördersturms 33‘ explizit dem mikroperspektivischen Ansatz zuordnet (S. 20). 131 Vgl. Medick 2002, S. 157–161. 132 Vgl. Lüdtke 2002.

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2 Theorie und Methodik

duum im Mittelpunkt, der handelnde Mensch.133 Alltagsgeschichtlich relevant ist ferner die Untersuchung des Wirkens der breiten Pastorenschaft vor Ort, auf lokaler Ebene, d.h. in den einzelnen Gemeinden; die Untersuchung der Betätigungen auf der Kanzel bei Gottesdiensten, im Konfirmandenunterricht, bei kirchlichen Amtshandlungen usw. Auf dieser individualzentrierten, handlungsbasierten Grundlage soll die mentalitätsgeschichtlich 134 relevante „Untersuchung kollektiver Geisteshaltungen und Verhaltensweisen“135 einer vordefinierten sozialen Gruppe erfolgen: der schleswigholsteinischen Pastorenschaft der Jahre 1933 bis 1945. Während es in der Mentalitätsgeschichte jedoch in der Regel um dauerhaftere Denk- und Verhaltensweisen geht, die als „Denk- und Verhaltensstrukturen“136 beschrieben werden können, sich also vom Individuum entfernen, wird in der vorliegenden Arbeit gezielt sowohl nach den NS-relevanten, öffentlichen ,Handlungsweisen‘ als auch den inneren ,Einstellungen‘ zum Nationalsozialismus einer vordefinierten Untersuchungsgruppe für den Zeitraum der Jahre 1930 bis 1945 gefragt. Mentalitätsgeschichtliche Implikationen birgt die Arbeit v.a. insofern, als dass sie darauf hinweist, dass Pastoren aufgrund der mit ihrer beruflichen Tätigkeit einhergehenden Amtsausstrahlung bzw. ihres Amtseinflusses als Multiplikatoren in Bezug auf gesellschaftliche Meinungsbildungen (,kollektive Geisteshaltungen‘) anzusehen sind. Auch die Diskursgeschichte,137 die „Denk- und Verhaltensweisen, die in Sprachund Symbolhandlungen zum Ausdruck gebracht werden“,138 analysiert, hat die Untersuchung von menschlichen Einstellungen (weniger die systematische Untersuchung konkreten Handelns per se) zum Ziel. Dieser im Rahmen des linguistic turns zu verortende Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass Wahrnehmungen und Deutungen von historischen Diskursen im Zentrum stehen, die über Sprachhandlungen greifbar werden.139 Hierin erwiesen sich einzelne Aspekte dieses Ansatzes im Rahmen der handlungstheoretischen Herangehensweise zur Untersuchung der inneren NS-Haltung als nützlich, beispielsweise wenn die für viele Geistliche überlieferten Reflexionen der Aufgaben des Seelsorgers im ,Dritten Reich‘ auf ihren NSablehnenden oder NS-bejahenden Gehalt hin untersucht wurden – freilich ohne dabei die diskursanalytische Methodik anzuwenden. Anders als in der Diskursge-

_____ 133 Wie bereits angedeutet, können diese drei Schulen nicht strikt voneinander getrennt werden. Deutlich wird dies u.a. daran, dass Browning seine Untersuchung selbst der „Alltagsgeschichte“ zuordnet, Reichardt (2003, S. 20) dieser jedoch zurecht einen „mikroanalytische[n] Blick“ zuschreibt; ähnlich bei Knoch 2003, Editorial, S. 9 („Mikrostudie“). 134 Vgl. Schöttler 2002. 135 Jordan 2016, S. 166. 136 Ebd., S. 169, Hervorhebung im Original. 137 Vgl. Steinmetz 2002. 138 Jordan 2016, S. 169. 139 Vgl. ebd., S. 189.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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schichte, bei der der Diskurs selbst und oftmals alle an einem bestimmten Diskurs Beteiligten von Interesse sind,140 stehen in der vorliegenden Arbeit das Handeln und die Einstellungen eines vordefinierten Gesamtkollektivs im Fokus. Die Diskursgeschichte ist als Erweiterung der Begriffsgeschichte141 zu betrachten, bei der nicht die Untersuchung von Diskursen, sondern von einzelnen Begriffen im Zentrum steht:142 Ziel ist dabei die Untersuchung von Begriffsverwendungen, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, „wie bestimmte Personen ihre jeweilige Wirklichkeit begrifflich gefasst haben.“143 Dieser Ansatz erwies sich vor allem in Bezug auf die Untersuchung und Beurteilung der Verwendung von Wörtern und begrifflichen Konzepten wie ,Rasse‘, ,Volk‘, ,Volksseele‘ usw. als brauchbar, indem solche Verwendungen im Rahmen des konkreten Sprachhandelns vor dem Hintergrund ihrer begriffsgeschichtlichen Entwicklung sowie zeitgenössischer Bedeutungszuschreibung, Akzeptanz und Verbreitung beleuchtet werden können.144 Sowohl begriffs- als auch diskursgeschichtliche Ansätze fokussieren folglich auf die Perspektive der Zeitgenossen,145 was besonders dann entscheidend wird, wenn die Beurteilung historischer Ereignisse und Akteure bzw. ihrer Handlungen nicht ausschließlich auf den – u.U. für die Akteure gar nicht abzusehenden – Handlungsfolgen basieren soll.146 Für diese Untersuchung folgt daraus etwa, dass pastorales

_____ 140 Vgl. ebd., S. 192f. 141 Vgl. Koselleck 2002, S. 40–44. 142 Vgl. zur Unterscheidung von Diskurs- und Begriffsgeschichte: Jordan 2016, S. 189f. 143 Ebd., S. 127. Reinhart Koselleck (2000, S. 350), der im Zusammenhang mit der Entwicklung der Begriffsgeschichte in Deutschland wegweisend war, beschreibt den begriffsgeschichtlichen Ansatz als „Propädeutikum für eine Wissenschaftstheorie der Geschichte – sie führt hin zur Historik“, insofern sie das Verhältnis von zeitgenössischen Begriffen und nachträglichen, geschichtswissenschaftlichen „Erkenntniskategorien“ aufzeigt. 144 Als einschlägiges, begriffsgeschichtliches Nachschlagewerk sei auf das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebene Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ (1972–1997) verwiesen. 145 Vgl. zur zeitgenössischen Perspektive innerhalb der Begriffsgeschichte: Jordan 2016, S. 127f. 146 Koselleck unterscheidet zwischen dem „Erfahrungsraum“ und dem „Erwartungshorizont“ der Zeitgenossen, wobei ersterer die „gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können“ beschreibt, letzterer „auf das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare“ abzielt: Koselleck 2000, S. 354f. Vgl. zu den beiden Begriffen: ebd., S. 349–375. Hier schließt sich die schwierige Frage an, zu welchem Zeitpunkt welche Entwicklungen antizipierbar, ,erschließbar‘ waren. Koselleck charakterisiert den ,Erwartungshorizont‘ dadurch, dass er eine „Linie [darstelle], hinter der sich künftig ein neuer Erfahrungsraum eröffnet, der aber noch nicht eingesehen werden kann. Das Erschließbare der Zukunft stößt trotz möglicher Prognosen auf eine absolute Grenze, denn sie ist nicht erfahrbar.“ (ebd., S. 356). Für diese Untersuchung sind jedoch zwei Einschränkungen vorzunehmen. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass innerhalb des Nationalsozialismus von Anfang an kein Hehl aus den radikalen, menschenverachtenden Zielen gemacht wurde (u.a. NSDAP-Parteiprogramm, Hitlers „Mein Kampf“, Alfred Rosenbergs „Mythus

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2 Theorie und Methodik

Handeln nicht aus der Post-Holocaust-Perspektive beurteilt werden darf. Das bedeutet jedoch nicht, dass Handlungsfolgen, die, absehbar oder nicht, notwendigerweise immer auch in der Handlung selbst angelegt sind, ebenso wie aus der entsprechenden Handlung resultierende „unbeabsichtigte Nebenfolge[n]“,147 unberücksichtigt bleiben dürften.148 Als gewinnbringend ist darüber hinaus die beiden Ansätzen (Begriffs- und Diskursgeschichte) zugrunde liegende Annahme anzusehen, dass das Sprachhandeln einzelner Personen nicht nur Realität widerspiegelt, sondern gleichzeitig auch immer seinerseits konstruiert.149 Dieser bereits erwähnte Gedanke der Interdependenz verweist gleichsam auf die in den 1980/90 Jahren entwickelte ,Neue Kulturgeschichte‘ (cultural turn),150 die das wechselseitige Zusammenspiel von handelnden Individuen und vorgefertigten Strukturen stärker akzentuiert: „Neu an der Neuen Kulturgeschichte ist die Verbindung einer akteurgebundenen Sicht auf die Geschichte mit einer Untersuchung strukturaler Aspekte.“151 Dabei wird von einer „netzartigen Verflechtung“152 ausgegangen, wodurch Individuen als handelnde und miteinander in Verbindung stehende Personen gewürdigt werden und zugleich die Existenz struktureller Rahmenbedingung anerkannt wird, was mit dem der Untersuchung zugrunde gelegten Ansatz korrespondiert. Nicht zuletzt sind in diesem Zusammenhang auch religions- und kirchengeschichtliche Themen stärker in den Fokus der Geisteswissenschaften, auch der Geschichtswissenschaft gerückt (religious turn).153

_____ des 20. Jahrhunderts“, allesamt vor 1933 publik), die NS-Ziele also prinzipiell schon früh antizipierbar waren. So spricht Klemperer (2010, S. 34) in Bezug auf „Mein Kampf“ von einer „mit schamloser Offenheit“ vorgetragenen NS-Propaganda und ergänzt: „Es wird mir immer das größte Rätsel des Drittes Reichs bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus [=„Mein Kampf“] schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte.“ Zum anderen gilt für den Untersuchungszeitraum des ,Dritten Reichs‘, dass der nationalsozialistisch bedingte Teil des ,Erfahrungsraums‘ beständig anwuchs, immer klarer wurde. So ging beispielsweise nationalsozialistischer Antisemitismus für Zeitgenossen spätestens mit den sogenannten ,Judenboykotten‘ von 1933 vom ,Erwartungshorizont‘ in den ,Erfahrungsraum‘ über. 147 Gessmann (Hrsg.) 2009, S. 292. 148 An dieser Stelle sei auf die Mehrdimensionalität von Geschichte verwiesen, die sich u.a. in der Differenz zwischen „Weltdeutungen der Zeitgenossen“ und „Ordnungsdimensionen der Geschichtswissenschaft“ manifestiert: Jessen 2008, S. 105. 149 Vgl. Jordan 2016, S. 191–193, 127 und 129. 150 Vgl. Hübinger 2002. 151 Jordan 2016, S. 212; vgl. auch Landwehr 2012, S. 318. Landwehr betont hier die Verbindung zwischen Kulturgeschichte und Mikrogeschichte, Alltagsgeschichte sowie der Historischen Anthropologie. Dagmar Freist (2008, S. 194) konstatiert, diese Strömungen würden sogar häufig unter dem Terminus der ,Neuen Kulturgeschichte‘ zusammengefasst. 152 Jordan 2016, S. 212. 153 Vgl. Gailus 2011.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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In Bezug auf die das sozialtheoretische Verhältnis zwischen Individuen und Strukturen kann somit zusammenfassend festgehalten werden, dass in der vorliegenden Arbeit – ausgehend von Fragestellung, Untersuchungsgegenstand, Menschenbild und Geschichtsverständnis – ein handlungstheoretischer Ansatz Verwendung findet, der die innerhalb struktureller Rahmenbedingungen agierenden Individuen eines Gesamtkollektivs in den Fokus stellt. Dieser erwies sich als geeignet, Elemente und Ansätze verschiedener geschichtstheoretischer Schulen im Hinblick auf die vollumfängliche, differenzierte Analyse des Handelns der Untersuchungsgruppe integrativ miteinander zu verbinden. Wie verhielten sich die einzelnen Pastoren vor Ort in Bezug auf den Nationalsozialismus? Inwiefern bekämpften sie ihn, inwieweit unterstützten und stärkten sie ihn? Welche Verhaltensweisen prägten das Handeln der Pastorenschaft besonders, welche waren weniger typisch, welche waren Ausnahmen? Und durch welche Einstellungen zum NS(-Staat) war die Geistlichkeit gekennzeichnet? Mit dieser Schwerpunktsetzung auf die empirische Erfassung, Strukturierung und systematische Auswertung pastoraler Verhaltensund Einstellungsweisen sucht die vorliegende Arbeit anhand des schleswigholsteinischen Fallbeispiels eine wesentliche Forschungslücke zu schließen. Nicht systematisch untersucht werden können dagegen solche sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, die durch Fragestellung und handlungstheoretischen Zugriff nicht unmittelbar berührt werden. Fragen das Sozialprofil der Untersuchungsgruppe betreffend wie familiäre Sozialisation oder Prägung durch die universitäre Ausbildung sind demnach Folgestudien vorbehalten. Dies gilt auch für die Frage, durch welche sozialstrukturellen Momente NS-(non)konforme Einstellungen und Verhaltensweisen begünstigt wurden. Deutlich wurde, dass allgemeinere bzw. für andere Berufsgruppen getroffene Erklärungen für die Pastorenschaft nicht greifen. So kann beispielsweise Michael Wildts in Bezug auf das RSHA-Führungskorps getroffene Feststellung, das NS-Regime habe „den Anpassungsdruck auf junge Akademiker, wenn sie eine Berufskarriere in Deutschland planten“,154 erhöht, als Erklärung ebenso wenig auf die vom Staat relativ unabhängig agierenden Kirchen übertragen werden, wie Brownings vielbeachtetes Ergebnis für das Polizeibataillon 101, hauptsächlich gruppendynamische Aspekte seien ausschlaggebend gewesen:155 Die Pastorenschaft war innerhalb der Landeskirche regional weit verstreut und amtierte in strukturell voneinander weitgehend unabhängigen Kirchengemeinden. Gleiches gilt für die von Sven Reichardt allgemein für SA-Beitritte angegebenen Gründe: Arbeitslosigkeit, Fehlen von sozialen Auffangnetzen und nationalistischer Militarismus.156 Von diesen treffen zumindest die ersten beiden Gründe auf die (angehenden) Pastoren nicht zu. Was bewog (angehende) Pastoren demgegenüber zum sehr häu-

_____ 154 Wildt 2002, S. 26. 155 Vgl. Browning 2007, u.a. S. 228–229 und 241–242. 156 Vgl. Reichardt 2003, S. 33f.

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2 Theorie und Methodik

figen SA-Beitritt? In mehreren Fällen ließen sich (vermeintlich) gesteigerte Missionsmöglichkeiten, NS-Bejahung oder ab 1933 Staatstreue als Gründe ausmachen. Insbesondere aber wurde im Rahmen NS-konformen Handelns – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen – ein beträchtliches Ausmaß an innerer ,NSZuneigung‘ greifbar, die vielfach als Movens für NS-konformes Handeln fungiert haben dürfte: ideologische Übereinstimmungen in Form von (z.T. theologisch begründeten) nationalen bis nationalistischen Grundüberzeugungen, in Form der Angst vor der ,bolschewistischen Gefahr‘, der ,jüdischen Gefahr‘,157 der Ablehnung der Weimarer Republik mit ihren wirtschaftlichen Nöten, ihrer vermeintlichen Zügellosigkeit und ihrem parlamentarischen Staatsaufbau, in Form von dem damit einhergehenden Sehnen nach einer Führerfigur – Aspekte, die durch die NSDAPProgrammatik behoben zu werden schienen, ebenso wie zunächst der Rückgang der Kirchenaustritte.158 Die in bisherigen (kollektivbiografischen) Arbeiten ausgesparte, hiermit angesprochene schwierige Untersuchung der inneren ,Überzeugung‘ vom Nationalsozialismus,159 von ,NS-Zustimmung‘ bzw. ,NS-Ablehnung‘, wird in der vorliegenden Arbeit erstmals für ein Kollektiv gezielt und systematisch durchgeführt: Wie kann die ,Überzeugung‘ auf einer empirischen Grundlage für eine große, vordefinierte Personengruppe untersucht werden? Welche Einstellungen zum Nationalsozialismus

_____ 157 Dieser Grund wurde nach Kriegsende nur selten eingestanden, beispielsweise von ERNST SZYMANOWSKI: „Gewiss, ich habe durch meine Zugehörigkeit zur Partei die Ausscheidung der Juden aus dem Kultur- und Wirtschaftsleben Deutschlands gebilligt, aber niemals diese Grausamkeiten gewollt und mich an den Morden nie beteiligt oder bewußt Handlangerdienste dazu getan.“ (LKANK, 16.13 Bischof für Holstein-Lübeck (Nordelbien) Nr. 1158: „Bericht über meinen Lebensweg seit meinem Ausscheiden aus dem Kirchendienst im Jahre 1935“ vom 22.8.58). Vgl. zum Weglassen des Antisemitismus-Affinitäts-Grundes nach Kriegsende auch Mensing 1999, S. 17, Anm. 30. 158 Vgl. Gailus/Nolzen 2011, S. 9; zur reichsweiten Kirchenaustrittsentwicklung u.a. Blaschke 2014, S. 152–154; Granzow/Müller-Sidibé/Simml 2007. Auf NS-Bejahungsmotive wird in Teil 3, A2 umfänglich einzugehen sein. 159 So etwa bei Wildt (2002, S. 37) zum RSHA-Führungskorps, der konstatiert, dass „persönliche Motivationslagen“ gegenüber „berufliche[n] Werdegängen und konkrete[n] Tätigkeiten“ in den Hintergrund treten müssen; ähnlich bei Horst Matzerath (1981, S. 176) für Oberbürgermeister: „Hier kann und soll die Motivation für den Eintritt in die Partei nicht untersucht werden“; ebenfalls ausgespart bei der kollektivbiografischen Untersuchung der NS-Gaufrauenschaftsleiterinnen von Anette Michel (2007); gestreift bei Glienke (2012). Die wichtige Frage nach der inneren Haltung zum Nationalsozialismus wird gelegentlich durch die Analyse sozialstruktureller Aspekte ersetzt, so beispielsweise bei: Reichardt 2003 (SA-,Mördersturm 33‘); Kaienburg 2003. Vgl. zur Problematik solcher Vorgehensweisen: Gallus 2005, S. 46. Gelegentlich wird die Haltung zu einzelnen Aspekten der NS-Ideologie fokussiert, ohne die Frage nach der Einstellung zum Nationalsozialismus insgesamt aufzugreifen. Exemplarisch sei auf die Goldhagen-Debatte verwiesen, in der Bedeutung und Verbreitung antisemitischer Haltungen im Zentrum stehen: Schneider, Michael: Die „GoldhagenDebatte“: ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft. URL: https://www.fes.de/fulltext/histori ker/00144.htm (15.1.2021; erstellt 1997); Browning 2007, S. 249–292.

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kennzeichneten die Pastorenschaft? Wer stimmte dem Nationalsozialismus zu, wer lehnte ihn ab? Dem liegt die gewichtige sozialtheoretische Annahme zugrunde, dass praktizierten ,Handlungen‘ zwar oftmals, nicht jedoch notwendigerweise immer eine der Handlung entsprechende ,Einstellung‘ zugrunde gelegen haben musste.160 Insbesondere im totalitären und sehr restriktiven NS-Staat, der von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wurde, sind auch opportunistische Motive wie Anpassung und Vorteilsnahme in Betracht zu ziehen (Handeln gemäß der ,sozialen Erwünschtheit‘). NS-nonkonforme Handlungen entgegen dieser Erwünschtheit dürften dagegen, so die Annahme, der ,Überzeugung‘ entsprochen haben – können aber nicht vorschnell als Existenzbeleg für eine innere ,Ablehnung‘ des Regimes gewertet werden: Wohlwollende, vermeintlich konstruktive Kritik ließ sich auch bei überzeugten NSAnhängern feststellen. Kurzum: Die gezielte Untersuchung der ,Überzeugungshaltung‘ der Untersuchungsgruppe erscheint als wichtiges Desiderat grundlegender Bedeutungstragweite. Die Messung dieser ,NS-Überzeugung‘ erfolgt in der vorliegenden Arbeit – gemäß dem handlungstheoretischen Ansatz – in Anlehnung an verhaltensbezogene Theorien auf der Grundlage spezifischer (Sprach-)Handlungen (aktives Handeln sowie passives Behandeltwerden), die sich zur Operationalisierung des latenten, nicht unmittelbar wahrnehmbaren Konstrukts der im Personeninneren liegenden ,NS-Überzeugung‘ eignen, indem sie diese als direkt beobachtbare Indikatoren sichtbar und damit einer Auswertung zugänglich machen.161 Die Generierung und Eignungsprüfung (Validierung) der Indikatoren zur Erfassung von ,NS-Zustimmung‘ und ,NS-Ablehnung‘ orientiert sich an Grundannahmen und Methoden der empirischen Sozialforschung162 – ebenso wie die Entwicklung des auf die Indikatoren zugeschnittenen Mess-Modells. Nach der Operationalisierung und Messung der ,NS-Überzeugung‘ können in einem zweiten Schritt die Übereinstimmungen von Einstellungsformen und Handlungsweisen überprüft werden: Welche Rolle spielte die ,Überzeugung‘ für das Han-

_____ 160 In der Psychologie und Sozialforschung viele Jahre negiert und umstritten, wird ein solcher, wenn auch nicht in jedem Fall greifender Zusammenhang zwischen Einstellung und Handlung heute weithin angenommen. Vgl. dazu Six, Bernd: Einstellungen. URL: https://www.spektrum.de/ lexikon/psychologie/einstellungen/3914 (15.1.2021); vgl. auch die Meta-Analyse von Eckes/Six (1994/1996), die gemittelte Korrelationen von Einstellung und Verhalten von über r=0.36 bzw. über r=0.40 ergab. Alle verwendeten statistischen Abkürzungen werden im Abkürzungsverzeichnis aufgeschlüsselt. 161 Vgl. dazu auch Teil 1, Kapitel 2.2.3 sowie Teil 3, A2 und C2. Damit wird eine psychohistorische Herangehensweise verworfen, die aufgrund der Quellenlage auch nicht durchführbar wäre. Gleiches konstatiert Wildt (2002, S. 37) für seine RSHA-Untersuchung. Vgl. zur Psychohistorie: Röckelein 2002. 162 Vgl. Döring/Bortz 2016..

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2 Theorie und Methodik

deln? Tatsächlich ließen sich – so viel sei vorweggenommen – deutliche Zusammenhänge zwischen der systematisch untersuchten ,NS-Überzeugung‘ und den jeweiligen öffentlichen NS-Handlungsweisen der Pastoren feststellen, die ein beträchtliches Ausmaß an ,Überzeugungshandeln‘ nahelegen.

2.1.2 Gesellschaftstheorie: Individuen vs. Institutionen und Kollektive Wie bei der sozialtheoretischen geht es auch bei der zweiten Dimension, der gesellschaftstheoretischen Ebene um das Verhältnis von Individuum und Struktur, wobei die Personen nun „in ihren konkreten sozialen Gebilden“,163 also Kollektiven und Institutionen, betrachtet werden. In dieser Arbeit tritt damit die evangelischlutherische Landeskirche Schleswig-Holsteins ins Blickfeld: Wie positionierte sich diese in Bezug auf den Nationalsozialismus? Die Fragestellung ist zu präzisieren – sich handelnd zu einer Sache positionieren können nur Individuen, Lebewesen, nicht jedoch abstrakte Gebilde. Zu fragen ist also nach dem Verhalten der die landeskirchliche Institution konstituierenden Personen.164 Untersuchungen, die auf die Betrachtung des Handelns einiger weniger herausragender Kirchenvertreter begrenzt sind und aus diesen Aussagen über die Landeskirche ableiten, verallgemeinern singuläre Ergebnisse und weisen der kirchlichen Institution selbst den Status eines Individuums zu. Demgegenüber scheint es zielführender zu sein, davon auszugehen, dass sich die landeskirchliche Institution aus mehreren Kollektiven konstituierte, von denen – wenn man das Kollektiv der Gemeindeglieder beiseitelässt – das größte im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht: die Pastorenschaft.165 Mit ‚Kollektiv‘ wird hier die

_____ 163 Welskopp 2008, S. 145. 164 Ralph Jessen (2008, S. 114) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grundsatzproblem“ und ergänzt: „Im Prinzip könnte man ja alle Geschichte in das Handeln individueller Menschen auflösen, denn weder ,der Staat‘ noch ,der Markt‘ noch ,die Reformation‘ oder eine ,soziale Klasse‘ sind handlungsfähige Subjekte, sondern letztlich abstrahierende Kategorien, um eine bestimmte Art und Weise zu bezeichnen, in der Menschen sinngeleitet interagieren. Freilich könnte man mit einer Zerlegung der vergangenen Wirklichkeit in Myriaden einzelner Handlungen weder ein kohärentes Bild der Geschichte gewinnen noch würde man diesen Einzelhandlungen selber gerecht werden. Deren Sinn ist nämlich ohne den Handlungskontext nicht verständlich, der wiederum durch das Handeln bzw. die Handlungsergebnisse anderer Menschen geschaffen wird.“ Wie bereits dargelegt, wird das benannte Problem im Rahmen dieser Arbeit durch die Untersuchung der kontextuellen (kirchlichen wie staatlichen) Rahmenbedingungen, des realen Handlungsspielraums aufzulösen versucht, die wiederum erst anhand der Individuen empirisch greifbar werden. Ergänzt sei, dass es dabei gerade nicht das Ziel ist, ein auf Kohärenz ausgerichtetes Geschichtsbild zu generieren, sondern Ambivalenzen und Differenzen angemessen zu berücksichtigen. 165 Vgl. zu allgemeinen Vorzügen kollektivbiografischer Untersuchungen etwa: Rohlfes 1999, S. 314; Lässig 2009, S. 552; Pyta 2009, S. 333f. Vgl. ferner allgemein zur Entwicklung der Biografik

2.1 Theorie: Grundannahmen

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Gesamtheit einer mindestens zwei Personen umfassenden sozialen Gruppierung benannt, deren Mitglieder ein gemeinsames Merkmal, Verhalten oder passives Betroffensein aufweisen, und zwar dergestalt, dass ihnen „etwas collective (lat., ,allen zusammengenommen‘) und nicht nur distributive (lat., ,jedem Einzelnen für sich‘) zugeschrieben werden kann“.166 Neben der quantitativen Dominanz der Pastorenschaft sprechen weitere Aspekte für eine Untersuchung dieses Kollektivs, um zu einer begründeten Positionierung der Landeskirche im NS-Staat gelangen zu können. So fungierten die Pastoren als Schnittstelle zwischen der Institution Kirche und der Gesellschaft bzw. den Kirchenmitgliedern, denn der direkte Kontakt fand primär über die Geistlichen in den einzelnen Gemeinden statt. Hier wurden die kirchlichen Aufgaben wie etwa das Abhalten von Gottesdiensten, Amtshandlungen und Seelsorge wahrgenommen, hier wurde die Institution Kirche erfahrbar und greifbar. Für die Untersuchung der landeskirchlichen Rolle im Nationalsozialismus, also der Verbindung von Kirche und Staat, scheint genau dieser auf der lokalen Ebene zu verortende Verbindungspunkt besonders vielversprechend zu sein, denn hier wird nicht nur sichtbar, welche Strukturen die Landeskirche bzw. die die Landeskirche begründenden Kirchen intern kennzeichneten, sondern auch, welche Inhalte die Kirchen mittels ihrer Geistlichkeit nach außen tatsächlich aktiv vertraten und somit in die Gesellschaft transportierten. 167 Ein weiterer Grund liegt darin, dass die einzelnen Gemeinden innerhalb der Organisation der Institution Landeskirche tatsächlich eine herausragende Rolle einnahmen – besonders im gegenüber dem Katholizismus weitaus weniger zentralistisch organisierten Protestantismus. Innerhalb der Gemeinden wiederum waren es letztlich die Pfarrer, denen eine Schlüsselstellung dafür zufiel, welchen Weg eine Gemeinde […] um 1933 einschlagen würde […]. Für den durch die Gemeinden weithin selbst zu wählenden Weg im „Dritten Reich“ erwies sich die Einstellung ihrer Pfarrer als entscheidende Variable. Ihre Optionen erfolgten vorgängig, ihr Verhalten wirkte allenthalben als richtungsweisend.168

_____ als wissenschaftliches Genre: Szöllösi-Janze, 2002; Lässig 2009, hier besonders S. 540–546; Runge 2009, S. 113–115; Pyta 2009, S. 331; Dröge 2011, S. 2–5. 166 Gessmann 2009, S. 393f. Hervorhebungen im Original. Anhand dieser Definition wird deutlich, dass ein Individuum Angehöriger mehrerer Kollektive sein muss, wie etwa einer Gesellschaft als Ganzes, einer Stadt, eines Vereins, einer Sprachgemeinschaft, einer Familie etc. 167 Analog dazu konstatiert Thomas Fandel (1997, S. 18): „Das Verhältnis der Kirchen zum Nationalsozialismus drückte sich am deutlichsten vor Ort, in der konkreten Gemeindesituation aus.“ 168 Gailus 2001, S. 18f und 626, siehe auch S. 372. Weber (2019, S. 22) konstatiert entsprechend, dass die Geistlichkeit „als kirchliche Handlungsträger vor Ort […] die Akteure [waren], die das kirchliche Leben in den Kirchengemeinden in erster Linie bestimmten.“ Auch Fandel (1997, S. 18) hebt (in Bezug auf den Katholizismus) die Bedeutung des Ortsgeistlichen für „die Wahrnehmung der Bevölkerung“ hervor.

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2 Theorie und Methodik

Nicht nur die Institution Landeskirche, sondern auch Kollektive (wie die schleswigholsteinische Pastorenschaft) sind als (organisationale) Abstraktionen zu bezeichnen, die selber weder denken noch handeln können: Dies vermögen ausschließlich die das Kollektiv konstituierenden Individuen. Unter ‚Individuum‘ wird hier – der Biologie, Psychologie und den Sozialwissenschaften folgend – ein einzelnes Wesen seiner Art verstanden, das primär in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit betrachtet wird, und gleichzeitig notwendigerweise immer auch als kleinstes Element eines Größeren, eines Kollektivs fungiert169 – besser gesagt: mehrerer Kollektive (hier beispielsweise schleswig-holsteinische Pastorenschaft, NSDAPMitgliederschaft, BK-Mitgliederschaft, usw.). Die gesellschaftstheoretische Auffassung von Individuen „als letzte Aufbauelemente“ beinhaltet – in Form einer Abkehr von der „Hypostasierung eines Kollektivsubjekts“ – „die Maxime eines ,methodologischen Individualismus‘“,170 der sich als „Bezeichnung für ein wissenschaftstheoretisches Paradigma der Sozialwissenschaften, demgemäß soziale (Makro-)Phänomene (,kollektive Effekte‘) und ihre Strukturen unter Rückgriff auf […] individuelles Verhalten bzw. Interaktion erklärbar“171 werden, definieren lässt. Als Gegensatz zum methodologischen Individualismus fungieren holistische Ansätze, die „methodische Einstellungen oder Erklärungsansätze [vertreten], in denen der Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen unterstellt wird.“172 Dabei wird „individuelles Verhalten [als] ein bloßer Reflex der sozialen Strukturen“173 verstanden. In dieser Arbeit wird gesellschaftstheoretisch von einem ,komplexen methodologischen Individualismus‘ ausgegangen, der zwar das Individuum in seinem Handeln ins Zentrum stellt, sich aber von der ursprünglichen, u.a. auf Max Weber zurückgehenden Form des ,methodologischen Individualismus‘174 dadurch unterscheidet, dass er „die sozial-kommunikative Kontextualität des individuellen Bewusstseins einbezieh[t]“,175 die Existenz überindividueller Entitäten also nicht negiert, und auf diese Weise holistische Aspekte integriert.176 Das Individuum wird

_____ 169 Vgl. Sève 1999, S. 625; Lorenz 2008, hier v.a. S. 592; Gessmann 2009, S. 347; Bösch 2011, S. 1227. 170 Bösch 2011, S. 1231. 171 Gethmann 2010, S. 583; vgl. auch Bösch 2011, S. 1231; Sève 1999, S. 627; Gessmann 2009, S. 345; Fistetti 1999. 172 Gessmann 2009, S. 319; vgl. zum Holismus auch: Mittelstraß 2008. 173 Fistetti 1999, S. 844. 174 Vgl. Sève 1999, S. 627; Fistetti 1999, S. 841. 175 Bösch 2011, S. 1231. 176 So betont Carl F. Gethmann (2010, S. 584), dass das Programm des ,methodologischen Individualismus‘ durchaus „auch so verstanden werden [kann], daß es mit der Existenz sozialer Entitäten vereinbar ist.“

2.1 Theorie: Grundannahmen

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also zwar als prinzipiell fähig zur „freien Gestaltung vielfältiger Möglichkeiten“177 angesehen, wobei diese potentiellen Möglichkeiten durch strukturelle Bindungen determiniert sind, die so „den Grad der effektiven Freiheit der handelnden Subjekte“178 vorgeben. Aus dieser theoretischen Grundlage resultiert die bereits thematisierte Notwendigkeit, Handlungen stets vor dem Hintergrund prägender kirchlicher und staatlicher Strukturen zu interpretieren,179 um auf diese Weise den „Abstand zwischen individuellem Handeln und kollektiven Phänomenen“,180 zwischen individualistischen und strukturalistischen Ansätzen zu überbrücken – was der hier entwickelte, handlungstheoretische Zugriff in herausragender Weise einzulösen vermag (vgl. Teil 1, Kapitel 2.1.3). Dem ,komplexen methodologischen Individualismus‘ folgend wurde ferner davon ausgegangen, dass alle Individuen des fraglichen Kollektivs prinzipiell gleichsam wichtig sind, dass sie durch ihre Zugehörigkeit zu dem großen Kollektiv der Pastorenschaft nicht verschwinden, sondern in der Menge lediglich schwerer erkennbar werden. Die (vermeintlich) ‚großen Individuen‘ stechen dabei insofern (zunächst) besonders hervor, als dass sie als Fixpunkte, als Träger, Sprecher und ggf. partiell auch Lenker des Kollektivs fungieren. Allgemeine, undifferenzierte Aussagen über das Kollektiv als Ganzes (oder gar die gesamte Landeskirche), die ausschließlich auf der Grundlage dieser ,großen Individuen‘ oder anderen Einzelbiografien getroffen werden, beruhen auf verallgemeinernden Induktionen (pars pro toto),181 deren Anwendung auf Individuen, die, wie dargelegt, per definitionem durch Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit gekennzeichnet sind, hier abgelehnt wird. Demgegenüber wird davon ausgegangen, dass Aussagen über das Gesamtkollektiv der Pastorenschaft empirisch belastbar erst auf der Grundlage der Gesamtheit182 der dieses Kollektiv begründenden Pastoren vorgenommen werden können:183

_____ 177 Bösch 2011, S. 1227. 178 Fistetti 1999, S. 844. 179 So werden hier, wie auch beim biologischen Holismus, „Organismen nicht als isolierte Naturkörper (nach Art der Physik), sondern als in Struktur und Funktion in untrennbarer Interaktion mit den eigenen Teilsystemen und der Umwelt stehend betrachtet“, oder wie beim methodologischen Holismus der sozialwissenschaftlichen Philosophie der „Einfluss[] gesellschaftlicher Institutionen auf das Verhalten von Individuen“ berücksichtigt: Mittelstraß 2008, S. 427 und 428. 180 Fistetti 1999, S. 842. 181 Verallgemeinernde Induktionen lassen sich definieren als logischer Schluss „von einer Teilmenge auf eine Gesamtmenge (z.B. von der Beobachtung, dass n Raben schwarz sind, auf die Allaussage, dass alle Raben schwarz sind)“: Gessmann 2009, S. 348, Hervorhebungen im Original. 182 Ist eine Vollerhebung aufgrund der Kollektivgröße nicht durchführbar, wäre unbedingt eine repräsentative Stichprobe zu ziehen (vgl. Schröder 1985, S. 14). Andernfalls sind die Untersuchungsergebnisse nicht verallgemeinerbar. 183 Wie bereits erläutert wird damit – holistische Überlegungen integrierend – nicht negiert, dass jedes Kollektiv mehr darstellt, als die Summe seiner Mitglieder, jedes Feuer mehr als die Summe kleiner Funken, jedes Individuum mehr als die Summe seiner Atome (vgl. Lorenz 2008, S. 590; Sève

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2 Theorie und Methodik

Eine solide Positionsbestimmung der Pastorenschaft zum Nationalsozialismus beruht auf der Gesamtheit der NS-Positionierungen aller das Kollektiv konstituierenden Pastoren. Oder wie der Phänomenologe Wilhelm Schapp es ausdrückt: „Zur Allgeschichte kann man nur kommen über Einzelgeschichten“184 – die Geschichte der Pastorenschaft besteht aus den (hier geschichtswissenschaftlich verstandenen) Geschichten der Pastoren.185 In Anlehnung an Schapp basiert die (stets einzigartige) Positionierung eines jeden Geistlichen zum Nationalsozialismus ihrerseits auf der jeweils individuellen Gesamtheit der NS-relevanten Geschichten,186 von denen einzelne Bausteine, die Phänomene, als Überreste, als Informationsbits dieser Geschichten in den Quellen greifbar werden und von ihnen zeugen. Hinsichtlich des Zusammenhangs von überindividueller Allgeschichte (hier: Kollektivgeschichte) und den vielen, individuellen Einzelgeschichten (hier: Individualgeschichten) geht

_____ 1999, S. 626). Dieses Moment ist für das Kollektiv u.a. in den Bereichen des kollektiven Bewusstseins bzw. Gedächtnisses (vgl. Mittelstraß 2008, S. 428) oder auch der Massenpsychologie zu verorten. Damit hängt auch die Tatsache zusammen, dass Kollektive eine gewisse Eigendynamik im Handeln entwickeln können, womit die Selbstverantwortlichkeit der Individuen jedoch nicht aufgehoben ist. Die Frage nach der individuellen Handlungsverantwortung ist Gegenstand der Verantwortungsethik. 184 Schapp 1981, S 186. Die methodologische Frage nach der grundsätzlichen Eignung phänomenologischer Philosophie bzw. von Schapps „Philosophie der Geschichten“ für die Geschichtswissenschaft kann hier nicht ausführlich thematisiert werden, einen Einblick bietet: Wolf 2003. Erwähnt sei hier lediglich, dass sich Schapp (auch in diesem und den nachfolgenden Schapp-Zitaten) und die Phänomenologie im Allgemeinen weniger mit der Geschichtswissenschaft als mit der Analyse vorwissenschaftlichen, subjektiven Erlebens befassen, also einen anderen Geschichtsbegriff zugrunde legen. So beschreibt Martin Heidegger (1967, § 72, S. 373 und § 74, S. 384, Hervorhebungen im Original) in Anlehnung an Wilhelm Dilthey mit ,Geschichte‘ ursprüngliches, subjektives Geschehen, verstanden als „Erstreckung des Daseins zwischen Geburt und Tod“, das „im Mitsein mit Anderen“ zum „Mitgeschehen“ wird. Davon unterscheidet er die Geschichtswissenschaft, die „Historie“, die dieses erlebte Geschehen als Objekt konstruierend untersucht (vgl. ebd., § 72, S. 375, Hervorhebungen im Original). Gleichwohl besteht eine Verbindung zwischen ,Geschichte‘ und Historie‘ (Heidegger) bzw. ,(Einzel-)Geschichten‘ und ,Geschichte‘ (Schapp), insofern „die Historie als Wissenschaft von der Geschichte des Daseins das ursprünglich geschichtlich Seiende zur ,Voraussetzung‘ haben muß als ihr mögliches ,Objekt‘“, denn „[i]n der Idee der Historie als Wissenschaft liegt, daß sie die Erschließung des geschichtlich Seienden als eigene Aufgabe ergriffen hat“ (ebd., § 76, S. 392f, Hervorhebung im Original). Diese immanente Verbindung ermöglicht die Übertragung einzelner Gedankengänge von Schapp, die primär in Bezug auf das subjektive Erleben getroffen sind, auf die Geschichtswissenschaft bzw. hier: auf das Verhältnis von Kollektiv und Individuum. 185 In diesem Zusammenhang konstatieren Stefan Deines, Stephan Jaeger und Ansgar Nünning (2003, S. 10f), dass „[a]uf der Gegenstandsebene […] die Geschichte der großen Männer […] zu Geschichten vieler unterschiedlicher Subjekte“ wurde. 186 Schapp geht davon aus, dass man sich dem Selbst ausschließlich über Geschichten nähern kann (vgl. Wolf 2003, S. 56). An anderer Stelle beschreibt Wolf (ebd., S. 61) den Rückgriff auf ,Geschichten‘ als flexible „Zugangsweisen zur Pluralität der Lebensformen“.

2.1 Theorie: Grundannahmen

79

Schapp davon aus, dass der „Übergang von den Einzelgeschichten zur Allgeschichte […] über die Mitverstrickung oder über das Wir [erfolgt], wobei aber die kleinste Einzelgeschichte schon das Wir enthält.“187 Er folgert, „daß die Einzelgeschichte in der Allgeschichte ruht und daß die Allgeschichte alle Einzelgeschichten umfaßt und damit die Einzelgeschichten auch in eine Verbindung untereinander bringt schon durch ihre Zugehörigkeit zur Allgeschichte“:188 „Die verschiedenen Vor-, Parallel-, Seiten- und Nachgeschichten erschließen somit eine ganze Welt […].“189 Die darin angesprochene Vernetzung lässt sich, wie angedeutet, auf das hier zugrunde gelegte Verständnis in Bezug auf das Verhältnis von Kollektiv und Individuum übertragen: Der Übergang von den Geschichten der einzelnen Individuen zur Geschichte des Kollektivs erfolgt über die synthetische, integrative Zusammenführung aller Individualgeschichten. Die Kollektivgeschichte ist ihrerseits bereits in jeder Individualgeschichte angelegt: Die Individuen werden als Teil des Kollektivs greifbar, als Pastoren.190 Die jeweilige Individualgeschichte wird dabei durch das konkrete Denken und Handeln des jeweiligen Individuums geprägt; die historischen Personen werden erst als handelnde und damit auch denkende Wesen greifbar. Abschließend sei zum gesellschaftstheoretischen Verständnis – und gleichzeitig die dritte, erkenntnistheoretische Dimension berührend – zum Verhältnis von Individualgeschichte und Kollektivgeschichte erläutert: Auch dem Terminus der Individualgeschichte(n) obliegt hier ein geschichtswissenschaftliches Verständnis. Gemeint sind demnach nicht subjektive Erzählungen oder Erinnerungen des betreffenden Individuums, nicht „eine Geschichte von etwas“, verstanden als vorwissenschaftlicher „Ereignis(-zusammenhang)“, sondern „Geschichte selber“, verstanden als systematisiertes „Beziehungsgeflecht“, als Gegenstand der „Geschichtskunde, -erzählung und -wissenschaft“.191 Bereits die einzelne Individualgeschichte, die Geschichte des jeweiligen Pastors, ist dementsprechend – mit Heidegger gesprochen – als ,Objektivierung‘ des jeweiligen ,subjektiven Erlebens‘ zu verstehen, sie fungiert als dessen geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion (etwa durch Quellenkritik, Interpretation unter Berücksichtigung des historischen Kontextes etc.). Als solche ist jede Individualgeschichte Bestandteil einer größeren Geschichte, hier in erster Linie der des Kollektivs der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft im Nationalsozialismus, dann auch der Geschichte der NS-Periode insgesamt, die wiederum Teil der Weltgeschichte ist.

_____ 187 Schapp 1981, S. 182. 188 Ebd., S. 196. 189 Wolf 2003, S. 58f, Hervorhebungen im Original. 190 Reinhart Koselleck (2000, S. 354) hält dementsprechend fest, dass „in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben“ ist. 191 Engels/Günther/Meier [u.a.] 1975, S. 594 und 647.

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2 Theorie und Methodik

Diese größere Geschichte bzw. Weltgeschichte wird begrifflich seit der Entwicklung eines modernen Geschichtsverständnisses im späten 18. Jahrhundert in Form des Kollektivsingulars ,Geschichte‘ – vormals: Geschichten – realisiert, mit dem der Anspruch einherging, „eine Reihe von Begebenheiten in ein zusammenhängendes Ganzes zu bündeln. Die ,Geschichte‘ erhielt eine die einzelnen Befunde oder Tatsachen übergreifende Bedeutung“, sie implizierte von nun an durch die Bündelung von Einzelgeschichten „einen höheren Abstraktionsgrad, der übergreifende Einheiten geschichtlicher Bewegung kennzeichnen konnte. ,Die Geschichte‘ war von größerer Komplexität, als die einzelnen Geschichten bisher zuließen.“192 Nicht zuletzt manifestiert sich diese in dem „reflexiven Sinn, der im neuen Kollektivsingular enthalten war“, denn: „Nur in der Reflexion über die einzelnen Geschichten wurde ,die Geschichte‘ freigelegt.“193 Diese die moderne Geschichtswissenschaft allgemein betreffenden Aussagen sind für die vorliegende Arbeit im Speziellen von besonderer Bedeutung, da das begriffliche Verhältnis von ,Einzelgeschichte(n)‘ und ,(übergeordneter) Geschichte‘ im Zusammenspiel von Kollektiv- und Individualgeschichten repräsentiert ist: Die Positionsbestimmung der Pastorenschaft zum Nationalsozialismus erfolgt auf der Grundlage der NS-Positionierungen ihrer Geistlichen. Gleiches gilt für die Feststellung, dass Geschichte „einen abstrakten Zusammenhang der Einzelgeschichten“194 impliziert. So ist es das Anliegen der Arbeit, die vielen Individualgeschichten nicht nur additiv aneinanderzureihen. Vielmehr werden diese analytisch in ihre für die Fragestellung relevanten, handlungstheoretischen Bestandteile zerlegt („vom Ganzen zu den Teilen“,195 den einzelnen Phänomenen, die die Individualgeschichten begründen), um anschließend auf der Grundlage dieses analytischen Prozesses „im synthetischen Weg von den Teilen zum Ganzen“196 überindividuelle, empirische Handlungsschemata generieren zu können, also „komplizierte Konstruktionen aus methodisch ausgewiesenen Elementarkonstruktionen“197 schrittweise herstellen zu können. In eben dieser analytischen Zerlegung der (geschichtswissenschaftlich verstandenen) Individualgeschichten in ihre NS-relevanten Phänomene, die auf deren geschichtswissenschaftlicher Reflexion beruht, sowie in der anschließenden synthetischen Zusammenführung dieser so herausgelösten, einzelnen Informationsbausteine liegt der über die Summe der Einzelgeschichten hinausweisende Charakter

_____ 192 Engels/Günther/Meier [u.a.] 1975, S. 648 und 649. Vgl. zur Herausbildung des Kollektivsingulars: Veraart 2008, S. 104; siehe zur detaillierten Darstellung der Entwicklung des Geschichtsbegriffs: Engels/Günther/Meier [u.a.] 1975, zur Herausbildung des Kollektivsingulars v.a. S. 647–658. 193 Engels/Günther/Meier [u.a.] 1975, S. 657 und 656. 194 Veraart 2008, S. 104. 195 Wolters/Mittelstraß 2013, S. 383. 196 Ebd. 197 Wolters 2010, S. 389.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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der Untersuchung begründet, der sich in einem durch die Bündelung der Einzelgeschichten höheren Abstraktionsgrad, in größerer Komplexität manifestiert.

2.1.3 Erkenntnistheorie: Kollektivgeschichte und Handlungstheorie Damit ist gleichsam zur dritten, erkenntnistheoretischen Dimension übergeleitet. Diese umfasst das Verständnis darüber, „was man in der Vergangenheit beobachten kann und welchen Stellenwert diese Beobachtungen besitzen.“198 Sie zielt auf die Frage ab, „welche Faktoren im Erkenntnisprozess relevant und wie diese verfasst sind“.199 Hier ist zunächst noch einmal zu erwähnen, was im gesellschaftstheoretischen Teil bereits angedeutet wurde: Der Arbeit liegt weitgehend ein dem ,komplexen methodologischen Individualismus‘ folgendes, phänomenologisches Erkenntnisverständnis zugrunde. Ausgegangen wird von der Annahme, dass sich ein Kollektiv maßgeblich – wenn auch nicht vollständig – in der Summe der diese konstituierenden Individuen offenbart. Analog dazu resultieren das öffentliche ,Handeln‘ und die ,Einstellungen‘ des Kollektivs aus der Gesamtheit des Handelns bzw. der Einstellungen aller Vertreter des Kollektivs, wobei sämtliche Handlungen stets vor dem Hintergrund ihrer kontextuellen, strukturellen Rahmenbedingungen zu betrachten sind. Erkenntnistheoretisch kann demnach zum einen zwischen einer kollektiven und einer individualbiografischen, zum anderen zwischen einer personalen und einer handlungstheoretischen Ebene unterschieden werden. Zur Positionsbestimmung der vorliegenden Untersuchungsgruppe im Nationalsozialismus sollen sowohl die personale (Teil 2) als auch die handlungstheoretische Erkenntnisebene (Teil 3) ausgewertet werden: Wie sind die Pastoren der Untersuchungsgruppe im Hinblick auf ihre NS-Positionierung zu kategorisieren (Teil 2), und welche kollektiven Handlungsweisen lassen sich erkennen (Teil 3)? Dabei basiert die personale Klassifikation eines jeden Geistlichen auf der Gesamtheit aller jeweils NS-relevanten Handlungs-Phänomene und der Beziehung dieser Phänomene zueinander; beide Erkenntnisdimensionen hängen demnach miteinander zusammen. Während die Theorie der kollektiven personalen Positionsbestimmung auf der Grundlage der Klassifikation sämtlicher Kollektivmitglieder direkt einsichtig ist und bereits vielfach kollektivbiografisch umgesetzt wurde, bedarf die Untersuchung des kollektiven Handelns eingehenderer theoretischer Erläuterungen: Dieser Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit erstmals verfolgt und daher umfänglich grundiert. Um das ,Handeln‘ und die ,Einstellung‘ des Kollektivs auf der Grundlage der Gesamtheit der Kollektivmitglieder untersuchen zu können, sind zunächst sämtli-

_____ 198 Welskopp 2008, S.144. 199 Haas 2012, S. 76.

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2 Theorie und Methodik

che individuellen, die NS-Positionierung (Handlung und Einstellung) des jeweiligen Pastors betreffenden Einzelinformationen, die NS-relevanten Phänomene, aus den Individualgeschichten200 zu extrahieren (analytischer Vorgang auf der individuellen Erkenntnisebene), und anschließend miteinander in Zusammenhang zu bringen, sei es in ein positives Verhältnis der Verbindung oder in ein negatives der Abgrenzung (synthetischer Prozess auf der kollektiven Erkenntnisebene). Der analytische Vorgang der Herauslösung sämtlicher NS-relevanter Phänomene aus den Individualgeschichten ist somit Voraussetzung für deren anschließende synthetische Zusammenführung in überindividuelle, kollektive Einheiten, die sich nicht mehr auf einzelne Geistliche beziehen, sondern Einstellungen zu operationalisieren und Handlungsweisen des Gesamtkollektivs abzubilden vermögen. Diese Herstellung kollektiver Entitäten ist als Ergebnis eines langwierigen qualitativen Strukturierungsprozesses des schlussendlich enormen Pools an NS-relevanten Einzelinformationen zu verstehen,201 wobei die kollektiven Einheiten aufgrund ihrer Abstraktion in ihrer Komplexität über eine bloße summarisch-additive Aneinanderreihung der entsprechenden Phänomene hinausweisen. Der für die vorliegende Arbeit fundamental wichtige, erkenntnistheoretische Ebenenwechsel von den vielen einzelnen Individualgeschichten zur komplexeren Kollektivgeschichte erfolgt also auf einer empirischen Grundlage über die von den Individualgeschichten abstrahierende, integrative Zusammenführung der diese jeweils prägenden, zuvor analytisch extrahierten Phänomene. Auf diese Weise bleiben die Feststellungen über das abstrakte Kollektiv empirisch verankert und stets überprüfbar: Sie beruhen auf der Gesamtheit der bei allen das Kollektiv konstituierenden Personen beobachtbaren, empirischen Phänomenen. Gleichzeitig resultiert aus der notwendigen Abstrahierung von diesen Phänomenen im Zuge des synthetischen Prozesses, dass die Kollektivgeschichte über die bloße Summe der Individualgeschichten hinausgreift: Sie bildet kein bloßes Aggregat, sondern ein komplexes System, ein neues Ganzes. Hierin liegt die zunächst paradox anmutende Tatsache begründet, dass Aussagen das Kollektiv betreffend auf der Gesamtheit der dieses Kollektiv konstituierenden Personen und deren Handeln getroffen werden, aufgrund ihrer abstrakteren Komplexität jedoch erkenntnistheoretisch über die Summe der Individuen und deren singuläre Handlungsweisen hinausgehen.

_____ 200 Von dem bereits thematisierten, philosophischen Verständnis der Phänomenologie lässt sich der „außerphilosophische Gebrauch“ des Begriffs unterscheiden, der diejenigen Wissenschaften kennzeichnet, „in denen auf Grund bloßer Beobachtung […] das Datenmaterial für Theorien bereitgestellt wird“: Thiel 2016, S. 176, Hervorhebung im Original. Ergänzend zu dieser sehr weiten Definition lässt sich für diese Arbeit festhalten, dass den einzelnen Phänomenen – verstanden als kleinste, abgrenzbare, der Wahrnehmung zugängliche Erscheinungen – eine besondere Bedeutung zukommt, insofern diese als Zugang zum Untersuchungsgegenstand fungieren. 201 Auf die Methode der Erstellung von kollektiven Einheiten wird unten näher einzugehen sein: vgl. Teil 1, Kapitel 2.2.

2.1 Theorie: Grundannahmen

83

Selbiges gilt auch bereits für jede der einzelnen Individualgeschichten, die mehr darstellen als die Summe der jeweils individuellen NS-relevanten Phänomene, indem sie ihrerseits stets ein eigenes, komplexes Ganzes bilden.202 Beispielshaft sei auf die Existenz von Veränderungen im Verhalten oder grundsätzliche qualitative Unterschiede hinsichtlich der Gewichtung verschiedener Verhaltensweisen verwiesen. Kurzum: Das Gesamtbild kongruiert nicht mit der bloßen Summe der jeweiligen NS-bezogenen Phänomene. Wie schon die im gesellschaftstheoretischen Abschnitt (Teil 1, Kapitel 2.1.2) konstatierte Integration struktureller, kirchlicher wie staatlicher Determinanten konkreten Handelns, gründen auch die das Verhältnis von Individuum und Kollektiv betreffenden Feststellungen in dem der Untersuchung zugrunde liegenden, theoretischen Konstrukt des ,komplexen methodologischen Individualismus‘. Erkenntnistheoretisch relevant für den konstatierten Ebenenwechsel vom individuellen zum kollektiven Handeln ist insbesondere der bereits vielfach verwendete Handlungsbegriff. Unter ,Handlung‘ kann „eine in sich abgeschlossene beschreibbare Einheit menschlichen Verhaltens [verstanden werden], sofern dieses beabsichtigt […] und entsprechend zielgerichtet ist. […] So verstandene H.[andlung]en sind stets willentlich, jedoch nicht unbedingt freiwillig“.203 Sie können als aktives „Herstellen“ bzw. „Hervorbringen“ von „(nicht-dingliche[n]) Artefakte[n]“204 beschrieben werden und sprachlicher sowie außersprachlicher Art sein. Von dieser Hervorbringung zu unterscheiden ist die Handlungsfolge, deren Untersuchung weniger im Zentrum steht als die vollständige Handlungsausübung, also das unmittelbare Herstellen der Handlung sowie dessen Endergebnis205 – schließlich würden ansonsten andere Personengruppen ins Zentrum rücken: die Handlungsempfänger (Gemeindeglieder u.a.m.). Nicht explizit Gegenstand der Untersuchung sind ferner die den Hervorbringungen im Einzelnen zugrunde liegenden Handlungsabsichten bzw. Handlungsintentionen, die „kein beobachtbares Merkmal“206 darstellen und nicht sinnvoll operationalisiert werden konnten – anders als grundsätzliche personale ,NSÜberzeugungen‘: Wie erwähnt können aus bestimmten Handlungen, die dieses latente Konstrukt operationalisieren, Rückschlüsse auf innere Haltungen gezogen werden, auch können Aussagen über den Zusammenhang von NS-Handlung und

_____ 202 So bereits von Aristoteles in Bezug auf den Menschen per se festgehalten und noch immer gültig: Vgl. Lorenz 2008, S. 590. 203 Gessmann 2009, S. 292. In der vorliegenden Arbeit werden die Termini ,Handlung‘ und ,Verhalten‘ synonym in dem dargelegten Sinn (beabsichtigt und zielgerichtet, willentlich, jedoch nicht zwangsläufig auch freiwillig) verwendet. 204 Lorenz 2008, S. 273. 205 Vgl. zur Unterscheidung von Hervorbringung, Endergebnis und Folge: ebd. 206 Ebd., S. 274, vgl. auch ebd., S. 281.

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2 Theorie und Methodik

NS-Haltung getroffen werden, jedoch nur selten Handlungen konkrete Intentionen gesichert zugeschrieben werden. Des Weiteren birgt der Handlungsbegriff den Vorzug, Handeln ebenso wie Behandeltwerden abzubilden: Handlungen können aktiven oder passiven Charakter aufweisen, was außerhalb der Linguistik (verbale Aktiv- vs. Passivkonstruktionen) vielfach vernachlässigt wurde,207 hier aber durch die gezielte Untersuchung auch von Einschränkungen und Sanktionen der Kollektivmitglieder Berücksichtigung findet. So kann der real gegebene, landeskirchliche und staatliche Handlungsspielraum der Pastorenschaft vor dem Hintergrund der staatlichen sowie landeskirchlichen Sanktionspraxis empirisch präzise ausgeleuchtet werden. Von großer Relevanz für die Systematisierung sowie Beurteilung einer Handlung ist darüber hinaus – wie bereits mehrfach im Hinblick auf Individuum und Struktur (,komplexer methodologischer Individualismus‘) betont – ihr Kontext. Für Sprachhandlungen zielt dieser Aspekt ab auf (a) den allgemeinen K.[ontext] der Sprechsituation, z.B. Ort, Zeit, Handlungszusammenhang der Äußerung, (b) den persönlichen und sozialen K.[ontext] der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, ihren Einstellungen, ihren Interessen und ihrem Wissen bzw. ihren wechselseitigen Wissensannahmen, sowie (c) den sprachlichen K.[ontext], der (begleitet vom nonverbalen mimisch-gestischen K.[ontext]) die Ausdrücke grammatisch und semantisch verknüpft und gleichzeitig […] in den situativen K.[ontext] einbettet.208

So ist der allgemeine Kontext (a) u.a. ausschlaggebend für die Charakterisierung eines Phänomens als primär politisch oder kirchlich (Kriterium: Realisierungsort/ -raum) bzw. als Vorgabenbefolgung oder darüber hinausgehendes Engagement (Kriterium: Handlungszusammenhang). Der sprachliche Kontext (c) ist u.a. entscheidend für die Berücksichtigung der unmittelbaren sprachlichen Umgebung eines Phänomens (textuelle Einbettung), auch für die Beleuchtung der Verbindungslinien christlicher und nationalsozialistischer Terminologie. Der Aspekt der sozialen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, zwischen Pastor und Gemeinde (b), verweist auf den pastoralen Amtseinfluss, der im Hinblick auf die Beurteilung aller Handlungen stets zu berücksichtigen ist. Dieser Handlungskontext – besonders der allgemeine Kontext (a) unter zusätzlicher Berücksichtigung potenzieller Handlungssanktionen – rekurriert auch auf die makrogeschichtlichen, strukturellen, innerkirchlichen wie staatlichen Rahmenbedingungen, vor deren Hintergrund individuelles Verhalten grundsätzlich zu interpretieren ist, und die ihrerseits – wie erwähnt – durch die Untersuchung des Handelns präziser gefasst und ausgeleuchtet werden können. Den Handlungsspielraum zu bestimmen ist elementar für die Einordnung der Ergebnisse.

_____ 207 Vgl. Lorenz 2008, S. 280. 208 Bußmann (Hrsg.) 2008, S. 368.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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Darüber hinaus eignet sich der Handlungsbegriff nicht nur für die Untersuchung individuellen, sondern auch kollektiven Handelns, vermag also den skizzierten, erkenntnistheoretischen Ebenenwechsel vom individuellen zum kollektiven Handeln einer Untersuchung zu modellieren und praktisch zugänglich zu machen. Dafür wird ein gegenständliches Handlungsverständnis zugrunde gelegt, d.h., es wird davon ausgegangen, dass Handlungen innerhalb menschlicher Interaktion „als Gegenstände subjektinvariant zur Verfügung“209 stehen, also von (verschiedenen) Personen mit (annähernd) gleichem Ergebnis wiederholt werden (und dementsprechend von Rezipienten auch als die entsprechende Handlung zutreffend erkannt werden) können. Diese Interpretation von Handlungen als zunächst subjektunabhängig zur Verfügung stehende, objektivierte, universale Gegenstände, die erst in ihrer individuellen Handlungsaktualisierung210 nicht mehr ohne handelndes Subjekt (Agens) gedacht werden können, ermöglicht ihre Systematisierung als übergeordnete, überindividuelle Handlungsschemata. Diese Schemata, auch Handlungstypen genannt,211 die als gegenständlich verfügbare, subjektinvariante und damit abstrakte, kollektive Einheiten fungieren, sind der Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich. Greifbar werden sie erst durch subjektive Handlungsaktualisierungen (Handlungstoken). Mit anderen Worten: Die konkreten, in den Quellen greifbar werdenden singulären, NSrelevanten Phänomene lassen sich stets als Handlungsaktualisierungen übergeordneter kollektiver Handlungstypen interpretieren. Letztere sind zu begreifen als „Gegenstand logisch zweiter Stufe, der durch Abstraktion […] aus den Aktualisierungen unter Verwendung der Äquivalenzrelation ,Akt derselben Handlung‘ hervorgeht“.212 Je nach Gestalt des jeweiligen Handlungstyps können dessen Aktualisierungen identisch sein (beispielsweise beim Handlungstyp ,SA-Mitgliedschaft‘, der durch die gleiche Handlung, den ,Beitritt‘, aktualisiert wurde oder gar nicht) oder auch nur ähnlich, äquivalent (etwa der Handlungstyp ,SATätigkeit‘, der durch ganz verschiedene Handlungen hervorgerufen werden konnte).213 In beiden Fällen fungieren die verschiedenen Aktualisierungen als Realisierung des entsprechenden Handlungstyps, der seinerseits bestimmt, „wann ein wiederholtes Ausüben derselben H.[andlung] den gleichen Akt hervorbringt.“214

_____ 209 Lorenz 2008, S. 275. 210 Unter ,Handlungsaktualisierung‘ wird das „Ausführen oder das Vollziehen einer Handlung verstanden“: Lorenz 2005, S. 64, Hervorhebung im Original. 211 Vgl. ders. 2008, S. 284; Kamp 2008, S. 289. Im Folgenden wird ausschließlich auf den Begriff des ,Handlungstyps‘ zurückgegriffen. 212 Lorenz 2008, S. 284, Hervorhebung im Original. 213 So konstatiert auch Kuno Lorenz (2008, S. 280), dass „verschiedene Bewegungen oder Verhaltungen zur selben H.[andlung] gehören [können] (z.B. Kopfnicken oder auch Guten-Tag-Sagen als Grüßen), wie auch dieselbe Bewegung oder Verhaltung bei verschiedenen H.[andlung]en auftritt (z.B. Unterschreiben als Briefunterschreiben oder als Vertragschließen).“ 214 Ebd., S. 273, Akt hier verstanden als Endergebnis der konkreten Handlung.

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2 Theorie und Methodik

Damit ist die Unterscheidung zwischen kollektivem Handlungstyp und individueller Handlungsaktualisierung ausschlaggebend, um aus individuellem Handeln auf kollektives Handeln, wie es auf der Grundlage der Handlungstypen sichtbar wird, schließen, und dieses somit untersuchen zu können. So sind ausschließlich die subjektinvarianten Handlungstypen wiederholbar und damit für das Kollektiv auswertbar, nicht deren stets einzigartige Aktualisierungen.215 Denn erst aus der prinzipiellen Wiederholbarkeit der Typen folgt, dass sie als (von einem Pastor X) aktualisiert oder nicht-aktualisiert zählbar und somit einer quantitativen, kollektiven Auswertung zugänglich sind.216 Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ können die Aktualisierungen, also die einzelnen Phänomene, für das Kollektiv erst als Aktualisierungen eines inhaltlich definierten Rahmens, des jeweiligen Typs, ausgewertet werden: Sinnvoll miteinander in Beziehung gesetzt, evaluiert, historisch kontextualisiert, verglichen und qualitativ gewichtet werden können nur miteinander in Beziehung stehende Handlungsaktualisierungen (sowie auf einer abstrakteren Ebene auch Handlungstypen). Das hier zugrunde gelegte handlungstheoretische Konzept ermöglicht also durch die Interpretation von individuellen, NS-relevanten Phänomenen als Aktualisierung eines überindividuellen Handlungstyps sowohl die Strukturierung als auch die qualitative und quantitative Auswertung der Vielzahl singulärer Informationsbits. Es fungiert damit als Kernelement der Ausleuchtung des kollektiven Handelns der Untersuchungsgruppe. Sozialwissenschaftlich lässt sich dieser Schritt der Handlungstypengenerierung als Kodierung fassen: Die quantitative Datenanalyse setzt das Vorhandensein von Informationen als numerisch kodierte Daten voraus, also eine Aufbereitung der qualitativen Rohdaten zu statistisch verwertbaren Einheiten: den Handlungstypen, die entweder aktualisiert werden konnten (Kodierung mit ,1‘) oder nicht (Kodierung mit ,0‘).217 Auf der Grundlage dieser Transformation qualitativer in quantitative Daten, von Phänomenen in Handlungstypenaktualisierungen wird in der vorliegenden Arbeit erstmals eine explorative Erweiterung der bisher innerhalb der Geschichtswissenschaft gängigen Anwendungen statistischer Verfahren vorgenommen: Erstmals sollen individuelle Handlungen für ein Gesamtkollektiv ausgewertet werden. Kodierung umfasst dabei neben der Handlungstypengenerierung sowie Auswertung

_____ 215 Vgl. Mazuga 2013, S. 24f. 216 Anne Mazuga (ebd., S. 25, Hervorhebung im Original) konstatiert in diesem Zusammenhang: „[…] es liegt eine gewisse Absurdität in den Fragen ,Wie viele Handlungen hast du gestern ausgeführt?‘ oder ,Wie viele Handlungen finden zur Zeit in diesem Raum statt?‘ Sinnvoll sind diese Fragen erst, wenn wir genau angeben, welche Handlungen gezählt werden sollen, wenn wir also spezifische Handlungsprädikate verwenden und uns auf einzelne Handlungsausführungen eines bestimmten Typs beziehen. So können wir fragen: ,Wie viele Anrufe hast du gestern beantwortet?‘, ,Wie oft warst du spazieren?‘, ,Wie viele Leute hören den Vortrag?‘“ 217 Vgl. zur Lesart der numerischen Daten: Teil 1, Kapitel 4.

2.1 Theorie: Grundannahmen

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(1 vs. 0) ferner die qualitative Zuordnung von Einzelinformationen (Phänomenen) zu diesen strukturierenden Einheiten (Handlungstypen).218 Anleihen in den Sozialwissenschaften (Grundannahmen und Methoden) werden darüber hinaus insbesondere im Rahmen der Operationalisierung des latenten Konstrukts der ,NSÜberzeugung‘ mittels der Generierung und Validierung von Mess-Indikatoren gemacht. Die Handlungstypen waren nicht logisch vorgegeben, also nicht einfach ,aufzuspüren‘; für Handlungen ist es keineswegs „selbstverständlich, was jeweils als eine H.[andlung]seinheit zu gelten hat“: Die Typenbildung ist stets „situationsabhängig“.219 Auszugehen ist von den Handlungsaktualisierungen, den einzelnen den Quellen zu entnehmenden Phänomenen, die analytisch aus den Individualgeschichten herausgelöst werden können (Induktion).220 Durch deren anschließende, synthetische Zusammenführung gemäß des Erkenntnisinteresses sind die abstrakteren Handlungstypen zu generieren,221 und zwar auf der Grundlage inhaltlicher Äquivalenz der Handlungsaktualisierungen im Unterschied zu den Aktualisierungen anderer Typen (Abduktion ersten Grades: Bildung der Handlungstypen222). Handlungstypen entstehen also „durch Abstraktion aus Einzelhandlungen und Einzelhandlungen durch Konkretion aus Handlungstypen“.223 Hierin liegt die Tatsache begründet, dass kollektives Handeln, wie es auf der Grundlage von Handlungstypen greifbar wird, in seiner Komplexität notwendigerweise über eine additive Aneinanderreihung von individuellen Handlungsaktualisierungen hinausgeht (,komplexer methodologischer Individualismus‘). In Bezug auf den Abstraktionsgrad der Typen ist entscheidend, dass sie auf der einen Seite trennscharf bleiben, auf der anderen Seite jedoch eine überindividuelle Gültigkeit aufweisen müssen, um Handlungsaktualisierungen mehrerer Geistlicher umfassen zu können. In ihrer Gesamtheit sollen die Handlungstypen ausnahmslos alle NS-relevanten, induktiv ermittelten Phänomene sämtlicher Kollektivmitglieder

_____ 218 Vgl. Döring/Bortz 2016, zu den sozialwissenschaftlichen Grundlagen insbesondere S. 3–142. 219 Lorenz 2008, S. 275. 220 Ziel ist es, ausgehend „von der Wahrnehmung von Einzelerscheinungen zum Allgemeinen“ (Haas 2008, S. 594), zum Kollektivsignifikanten zu gelangen. 221 Auch Georg Kamp (2008, S. 290) konstatiert, dass Handlungstypen als Abstrakta „im Rückgriff auf die konkreten Handlungen gebildet“ werden können. 222 Der abduktive Schluss ließe sich als die wahrscheinlichste, (vermeintlich) bestmögliche Ableitung beschreiben, die jedoch nicht logisch zwingend ist, es wären also prinzipiell auch andere Typenbildungen denkbar: vgl. Gessmann 2009, S. 1f. Abduktive Schlüsse sind erkenntniserweiternd, weisen also einen interpretatorischen, erklärenden Charakter auf, der über die Summe der inkludierten Phänomene hinausgeht. Um zwischen der Typenbildung und der anschließenden Strukturierung der Typen untereinander begrifflich zu unterscheiden, werden hier die Termini ,Abduktion ersten‘ bzw. ,zweiten Grades‘ verwendet. 223 Lorenz 2005.

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2 Theorie und Methodik

umfassen und somit den Gegenstandsbereich des NS-relevanten Handelns vollständig abdecken. Um den Gegenstandsbereich weiter zu strukturieren, sind in einem zweiten Schritt des Typologisierungsprozesses auch die Handlungstypen untereinander in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise kann eine hierarchisch organisierte, komplexe Handlungstypologie generiert werden (Abduktion zweiten Grades: hierarchische, taxonomische Strukturierung der Typen), die das ermittelte NS-Handeln vollständig wiederzugeben vermag. Dabei können auch äußere Rahmenbedingungen des Handelns (Vorgabendeterminiertheit) innerhalb der Struktur abgebildet werden: Handlungstypen, die als Befolgung von Vorgaben anzusehen sind, können typologisch von solchen unterschieden wurden, die auf vorgabenfreies Engagement rekurrieren. Somit konstituiert sich die Typologie aus verschiedenen den Typen übergeordneten, wiederum abstraktere Gruppen unterschiedlicher hierarchischer Ordnung bis hin zu Kategorien in der oberster Instanz.224 Innerhalb dieser Handlungstypologie fungieren die einzelnen Handlungstypen funktional als Kriterien225 von ihnen übergeordneten Gruppen, als deren Unterscheidungsmerkmale.226 In ihrer Gesamtheit konstituieren die kollektiven Handlungstypen die Handlungstypologie NS-relevanter Handlungsweisen, die ein in sich hierarchisiertes Ganzes darstellt.227 Durch die Strukturierung der Typen untereinander (Abduktion zweiten Grades) mit dem Ergebnis einer umfassenden, hierarchischen Typologie, erhalten die Typen sowie die übergeordneten Abstraktionsebenen ihrerseits eine inhaltliche, erkenntnistheoretisch relevante Rahmung, durch die auch den Handlungstypen übergeordnete Gruppen qualitativ und quantitativ ausgewertet werden können.

2.1.4 Geschichtsverständnis und Vermittlungsansatz Die vierte und letzte theoretische Dimension rekurriert auf das geschichtliche Grundverständnis und – damit zusammenhängend – die forcierte Art der Geschichtsver-

_____ 224 Kategorien werden hier „logisch als letzte […] Bedeutungsfelder“ (Wolters 2010, S. 171) verstanden, in die Sachverhalte auf der Grundlage von entsprechenden erfüllten Kriterien eingeteilt werden (vgl. Gessmann 2009, S. 381). Vgl. zu Handlungstypengenerierung sowie dem Typologisierungsprozess: Teil 1, Kapitel 2.2.2.2. 225 Als Kriterien werden hier „Gründe […] für das Vorliegen von Sachverhalten“ verstanden: Wolters 2010, S. 391. 226 Es wird demnach ein semantisches Kriteriumsverständnis zugrunde gelegt (definitio fiat per genus proximus et differentiam specificam): vgl. ebd., S. 392. 227 Kamp (2008, S. 290) definiert eine Menge von Handlungstypen als „Kataster[]“. In Anlehnung an den Terminus ,Handlungstyp‘ wurde vorliegend der Begriff ,Handlungstypologie‘ gewählt.

2.1 Theorie: Grundannahmen

89

mittlung.228 Hierunter fällt zunächst die Annahme, dass Geschichtsschreibung immer eine Konstruktion der Vergangenheit darstellt, die wesentlich durch die der jeweiligen Untersuchung zugrunde liegende Fragestellung, Quellenauswahl, Theorie und Methodik bestimmt wird.229 Selbst Zeitgenossen erlebten nicht ein und dieselbe Geschichte: ,Geschichte‘ im Kollektivsingular als Ausdruck der modernen, wissenschaftlichen Untersuchung geschehener Realität, existiert nicht per se, sondern nur fragmentarisch in menschlichen Wahrnehmungen bzw. Einzelgeschichten,230 genauer: deren Verschriftlichungen.231 Schapp konstatiert: „Es gehört nicht zur Geschichte, daß sie sich jedem Glied des Wir gleich darstellt. Wer mit dieser Vorstellung sich den Geschichten naht, übersieht, daß die Geschichte aus Verstricktsein besteht. Jeder ist anders in dieselbe Geschichte verstrickt.“232 Für den Historiker resultiert daraus zum einen die Notwendigkeit, den für seine Sicht maßgeblichen, theoretischen und methodischen Standpunkt offenzulegen. Dem wird in der vorliegenden Arbeit umfänglich Rechnung getragen. Da sich ,Geschichte‘, wie dargelegt, selbst in der Wahrnehmung von Zeitgenossen nicht als homogene Einheit darstellt, wird sie hier nicht wie im Historismus233 als homogener, zielgerichteter Prozess mit Fortschrittscharakter verstanden. Gewählt wird für die Ergebnisvermittlung dementsprechend eine Darstellungsweise, die Brüche und Ambiguitäten nicht überdeckt, sondern sie als solche ausdrücklich herausstellt. Ziel der Ergebnispräsentation ist es somit nicht, ein glattes Geschichtsbild zu zeichnen, das durch die Auflösung von Widersprüchen notwendigerweise eine Vereinfachung der komplexen historischen Realität darstellte. Vielmehr werden intraindividuelle Ambivalenzen und interindividuelle Unterschiede, Brüche und Gegensätzlichkeiten in angemessener Form berücksichtigt und das sehr heterogene NS-Verhaltensspektrum in seiner ganzen Vielschichtigkeit aufgezeigt, um eine präzise und differenzierte, ausgewogene Darstellung zu ermöglichen.234

_____ 228 Vgl. Welskopp 2008, S. 145f. 229 Von Welskopp im erkenntnistheoretischen Teil verortet: vgl. ebd., S.144. 230 Vgl. Veraart 2008, S. 105. 231 Vgl. Deines/Jaeger/Nünning 2003, S. 9. 232 Schapp 1981, S. 183. Koselleck (2000, S. 358) konstatiert in diesem Zusammenhang, dass es „auch anders gewesen sein [kann] als erfahren. Sei es, daß eine Erfahrung irrtümliche Erinnerungen enthält, die korrigierbar sind, sei es, daß neue Erfahrungen andere Perspektiven freigeben.“ 233 Vgl. Welskopp 2008, S. 148. 234 Der von Alexander Gallus für kollektivbiografische Arbeiten konstatierten „Gefahr“, dass „die abweichenden Stimmen nicht genügend zur Geltung […] kommen und individuelle Ausprägungen in der Masse der Kollektivdaten unbewertet [bleiben] oder gänzlich übersehen […] werden“ (Gallus 2005, S. 46), soll damit Rechnung getragen werden.

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2 Theorie und Methodik

Fragestellung und Erkenntnisinteresse entsprechend wird dabei keine ereignisgeschichtlich-chronologische, sondern eine analytisch-thematische Darstellungsweise gewählt, wobei innerhalb der thematischen Abschnitten immer wieder auf den Faktor ,Zeit‘ einzugehen sein wird. Angewandt wird eine Kombination aus narrativen, erzählenden Ausführungen (qualitative Auswertung) und der Präsentation statistischer Ergebnisse (quantitative Auswertung), die eng miteinander verwoben werden.235 Im Rahmen der Präsentation der quantitativen Ergebnisse wird zur Veranschaulichung zudem vielfach auf Abbildungen (Grafiken) zurückgegriffen; komplexe Modelle werden durch grafische Darstellungen unterstützt. Am Ende längerer (Unter-)Kapitel sowie eines jeden größeren Abschnitts werden die inhaltlichen Ergebnisse in Teil 2 und Teil 3 noch einmal knapp zusammengefasst. Aus dem Konstruktionscharakter von Geschichte resultiert ferner, dass auch die vorliegende Arbeit nicht für sich beansprucht, eine Meistererzählung darzustellen, mit der das letzte Wort gesprochen wäre. Vielmehr versteht sich die Arbeit als Grundlagenforschung und Plädoyer für eine weitergehende, differenzierte Erforschung der kirchlichen NS-Vergangenheit, auch im Hinblick auf andere Landeskirchen, und liefert hierfür einen ersten, empirisch fundierten Ansatz. Dieser scheint geeignet zu sein, auch Einstellungs- und Handlungsweisen anderer, kirchlicher wie nichtkirchlicher Kollektive noch präziser untersuchen zu können. Auch in Bezug auf die damaligen Pastoren der schleswig-holsteinischen Landeskirche wird keineswegs beansprucht, alle potenziell vorhandenen, NSrelevanten Informationen erfasst zu haben: Die herangezogenen Quellenbestände definieren den Rahmen des möglichen Erkenntnisgewinns. Dass sich bei einer Vollerhebung von 729 Personen die Quellenbasis gegenüber einzelbiografischen bzw. einzelgemeindlichen Untersuchungen auf eine begründete Auswahl beschränken muss, ist offenkundig. In diesem Sinne ist ,Grundlagenforschung‘ auch so zu verstehen, dass die Arbeit eine erste, solide Grundlage für wünschenswerte, weiterführende Untersuchungen zu einzelnen damaligen Geistlichen der schleswigholsteinischen Landeskirche liefern möchte. Für solche Untersuchungen zeigt die Arbeit mit ihrer komplexen Handlungstypologie nicht nur das potenziell mögliche, breite Verhaltensspektrum auf, in dem jegliches pastorales, NS-bezogenes Verhalten verortet werden kann, sondern schafft auch eine praktische Grundlage für die kontextuelle Einordnung singulärer Fälle, indem sie mittels der Handlungstypen eine kollektive Einordnung individueller Phänomene ermöglicht und so die begründete Unterscheidung von Ausnahme- und Regelfall zulässt.236

_____ 235 Auf diese Weise soll der häufig an statistischen Verfahren geäußerten Kritik der „Unanschaulichkeit und Unlesbarkeit der Resultate“ entgegengewirkt werden: Kaelble 1990, S. 76. 236 Joachim Rohlfes (1999, S. 314) hebt hervor, dass erst durch kollektivbiografische Arbeiten deutlich wird, „in welch starkem Maße scheinbar streng individuelle Eigenheiten in durchaus überindividuellen Lebensschicksalen und Verhaltensmustern verwurzelt sind. […] Die biografischen

2.2 Methodik: Studiendesign

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2.2 Methodik: Studiendesign 2.2 Methodik: Studiendesign Das theoretische Fundament der Arbeit, das anhand von vier Dimensionen vorgestellt wurde, begründet – gemeinsam mit der der Untersuchung zugrunde gelegten Fragestellung, dem Erkenntnisinteresse – die Methodik der Arbeit, die Herangehensweise zur Erlangung von Ergebnissen.237 Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde eine neuartige Methode zur empirisch fundierten Bestimmung der NSPositionierung der Untersuchungsgruppe entwickelt, auf deren Grundlage kollektive Handlungs- und Einstellungsweisen systematisch erfasst sowie ausgewertet werden können. Sie lässt sich als Zusammenführung von Kollektivbiografie und Handlungsanalyse definieren. Auf dieser spezifischen Form der Handlungsanalyse aufbauend können die Individuen der Untersuchungsgruppe (und damit das Gesamtkollektiv) NS-klassifiziert werden. Die vorangegangenen theoretischen Ausführungen weisen dabei – mit teilweise fließenden Übergängen zwischen Theorie und Methodik – methodologischen Charakter auf:238 Sie begründen das Fundament des methodischen Zugriffs. Sozialwissenschaftlich lässt sich die vorliegende Studie als explorative Untersuchung einordnen: Sie versteht sich als empirische Grundlagenforschung, der es in einem bislang weithin unerforschten Bereich um die Schaffung inhaltlicher und begrifflicher Voraussetzungen sowie um die Generierung von Thesen geht.239 Dies gilt nicht nur, aber auch speziell hinsichtlich der vorliegend erstmals durchgeführten empirischen Analyse der inneren Einstellung einer Untersuchungsgruppe zum NS(-Staat).

_____ Gemeinsamkeiten einer größeren Menschengruppe erhalten per se mehr Erklärungspotenzial als die Begebenheiten eines einzelnen Menschenlebens und sind überdies geeignet, auch die individuelle Biografie durchschaubarer zu machen.“ Da eine solche Untersuchung zu den (nicht nur) schleswigholsteinischen Kirchen bisher fehlte, mangelt es vielen kirchengeschichtlichen Arbeiten, die sich mit einzelnen Individuen oder Gemeinden befassen, an einer solchen Einordnung, was auch von Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul (2004, S. 4) in Bezug auf die allgemeine NS-Täterforschung als Manko herausgestellt wird („die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit des individuellen Exempels“). 237 Gunilla Budde und Dagmar Freist (2008, S. 159) definieren ,Methode‘ als „planmäßiges und systematisches Vorgehen zur Herstellung historischen Wissens, als Verfahrensweg zwischen Fragestellung und Ergebnis“. Vgl. auch: Völkel 2002. Vgl. zum Verhältnis von Theorie, Methodik und Fragestellung: Welskopp 2008, S. 132. 238 Vgl. Markus Völkel 2002, S. 211; Mittelstraß 2013. 239 Vgl. zu sozialwissenschaftlichen Untersuchungen allgemein: Döring/Bortz 2016, zu deren Grundlagen insbesondere S. 3–142.

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2 Theorie und Methodik

2.2.1 Kollektivbiografie Unter der kollektivbiografischen Methode (Prosopographie) wird in Anlehnung an die Historische Sozialforschung die theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Personenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder240

verstanden, wobei hier nicht ganzheitliche Lebensläufe, sondern nur das Verhältnis zwischen dem jeweiligen Individuum und dem Nationalsozialismus, ausschließlich die NS-bezogenen Handlungen und Einstellungen im Zentrum stehen.241 Aus den getroffenen theoretischen Grundannahmen (komplexer methodologischer Individualismus, Phänomenologie; vgl. Teil 1, Kapitel 2.1) resultiert, dass alle Individuen des Kollektivs als gleichsam bedeutend betrachtet werden, denn alle Individualgeschichten sind gleichermaßen konstitutiv für die Geschichte des Kollektivs, die sich erst aus der integrativen, synthetischen Zusammenführung sämtlicher Einzelgeschichten ergibt. Dies korrespondiert mit der sozialtheoretischen Annahme von Einzigartigkeit, Wert und Relevanz eines jeden Individuums. Für die vorliegende Arbeit folgt daraus, dass keine Auswahl, sondern ausnahmslos alle Individuen des Gesamtkollektivs untersucht werden (Vollerhebung): 729 Geistliche.242 Solche Vollerhebungen bergen mehrere praktische Vorteile. So ermöglichen sie auf potenziell breiter Informationsbasis empirisch fundierte, präzise Aussagen über das Gesamtkollektiv, ohne auf Pauschalisierungen (verallgemeinernde Induktion) zurückgreifen zu müssen. Zudem können auf diese Weise komplexe historische, biografie-bezogene Sachverhalte höchst differenziert in ihrem gesamten Facettenreichtum dargestellt werden, indem nicht nur intraindividuelle Ambivalenzen, sondern auch interpersonale Unterschiede angemessen dargestellt werden können. Dieses anhand des Gesamtkollektivs zu realisieren, scheint besonders bei sensiblen Fragestellungen – wie der nach Haltung und Handlung in Bezug auf den Nationalsozialismus – entscheidend zu sein, um den einzelnen Persönlichkeiten gerecht werden zu können. Nicht zuletzt verweisen die Ergebnisse das Fallbeispiel Schles-

_____ 240 Schröder 1985, S. 8. 241 Die Vorgehensweise ließe sich als ,selektiv-kollektivbiografisch‘ beschreiben. Vgl. zu selektiven Biografien, hier als „partiell“ beschrieben: Rohlfes 1999, S. 314. 242 Tatsächlich werden Vollerhebungen aus arbeitsökonomischen Gründen nur selten realisiert. Je kleiner die untersuchte Personengruppe des Kollektivs, desto weniger Allgemeingültigkeit können die Ergebnisse in Bezug auf das Kollektiv beanspruchen.

2.2 Methodik: Studiendesign

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wig-Holstein betreffend aufgrund ihrer breiten empirischen Rückbindung über sich selbst hinaus, indem sie einen aussagekräftigen Einblick in die evangelischen Geistlichkeit des ,Dritten Reichs‘ ermöglichen – ohne personale Exemplarität postulieren zu wollen oder zu können.

2.2.2 Typologisierungen Wie erwähnt wird der kollektivbiografische Zugriff vorliegend erstmals mit der vollumfänglichen Untersuchung sämtlicher NS-relevanter Handlungs- und Einstellungsweisen der Kollektivmitglieder kombiniert. Dabei kommen verschiedene Strukturierungs- und Auswertungsvorgänge zum Tragen. Zu Beginn wurde die bewusst offene Fragestellung formuliert: Wie positionierte sich die schleswig-holsteinische Landeskirche zum Nationalsozialismus? Unter Einbeziehung der dargelegten theoretischen Überlegungen ließ sich die Frage konkretisieren: Wie positionierten sich die das Kollektiv der Pastorenschaft konstituierenden Individuen zum Nationalsozialismus? Die Fragestellung wurde bewusst weit gefasst, um den zu untersuchenden Gegenstandsbereich in seiner Gesamtheit erfassen zu können. Durch die Abstellung auf Einstellungs- und Verhaltensweisen in Bezug auf den Nationalsozialismus insgesamt konnten der politische, kirchenpolitische, berufliche sowie der private Bereich in die Untersuchung einbezogen werden, wobei NS-Konformität und NS-Nonkonformität gleichermaßen berücksichtigt wurden, ebenso wie Einschränkungen und Sanktionen. Auf diese Weise konnte eine vollständige und ausgewogene Positionsbestimmung der gesamten 1933 bis 1945 in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins (zumindest zeitweise) wirkenden Geistlichkeit im Hinblick auf den Nationalsozialismus vorgenommen werden, die weit über den ,Kirchenkampf‘ hinausgreift und inhaltlich sowie methodisch über die Region hinausweist. Die Positionsbestimmung der Untersuchungsgruppe erfolgt in zwei Schritten: auf der Grundlage einer personalen Klassifikation der Geistlichen (Teil 2) sowie der anschließenden, detaillierten Auswertung der die personalen Einordnungen begründenden Handlungs- und Einstellungsformen aller Kollektivmitglieder (Teil 3). Voraussetzung dafür war die Generierung einer personalen NS-Positionierungstypologie sowie einer NS-Handlungstypologie.

2.2.2.1 Erstellung der personalen NS-Typologie und Klassifikationspraxis Für die personale Klassifikation der Geistlichkeit im Hinblick auf ihre NS-Positionierung war in Ermangelung geeigneter Vorlagen eine neue NS-Typologie zu entwickeln, die mehreren Ansprüchen gerecht werden sollte. So deuteten neben den theoretischen Vorüberlegungen auch intraindividuelle Vielschichtigkeit und große in-

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2 Theorie und Methodik

terindividuelle Unterschiede auf die Notwendigkeit eines Klassifikationssystems hin, das – – –



– – –

über die traditionelle, teilweise bis heute prägende Einteilung in Täter, Widerständler und Opfer243 hinausgeht gleichwohl NS-konforme wie NS-nonkonforme Positionierungen gleichermaßen abzubilden vermag dabei über formale Kriterien wie eine NSDAP-, BK- oder DC-Mitgliedschaft bzw. entsprechende Ämterausübungen hinausreicht, die nur einen Teil der in Bezug auf die Fragestellung relevanten Informationen darstellen244 die Unterscheidung zwischen (hier im Zentrum stehender) personaler Erkenntnisebene auf der einen, und handlungstheoretischer Erkenntnisebene auf der anderen Seite berücksichtigt Handlungsweisen und Einstellungsformen auseinanderhält und einbezieht die konträren Pole ,Differenziertheit‘ und ,Quantifizierbarkeit‘ bestmöglich ausbalanciert und auf die Untersuchungsgruppe zugeschnitten ist (Berufsgruppenspezifität).

Die Klassifikation rekurriert dabei ausschließlich auf die NS-Positionierung des Geistlichen, erhebt also – das sei hier ausdrücklich festgehalten – keineswegs den Anspruch, eine Gesamtwürdigung der Lebenswerke vorzunehmen. In der Folge wurde eine auf der Gesamtheit sämtlicher zu klassifizierender Pastoren beruhende, empirisch verankerte personale NS-Typologie entwickelt (induktives Vorgehen), die die aufgeführten Ansprüche einlöst. Sie umfasst zehn pastorale NS-Positionierungsformen (POS), die sich in sechs Gruppen einteilen lassen:

_____ 243 Dies gilt für die NS-Forschung allgemein wie auch für die NS-Kirchengeschichtsschreibung. Vgl. u.a. Herbert 2004, S. 20f. 244 U.a. hierin unterscheidet sich die in dieser Arbeit angewendete Klassifikationspraxis von bisherigen Studien, bei denen personale Einordnungen überwiegend auf der Grundlage NS-relevanter Mitgliedschaften und Ämterübernahmen (u.a. Glienke 2012) bzw. eines ausgewählten Kriteriums getroffen wurden. Danker/Lehmann-Himmel (2017) benennen beispielsweise, beruhend auf dem Kriterium des frühen NSDAP-Beitritts, die Positionierungsform „Alter Parteigenosse“; SteinStegemann (1992, S. 197–199) klassifiziert die der Hamburger Justizjuristen alleinig auf der Grundlage der Vorgesetztenbeurteilungen. Demgegenüber erscheint die hier gewählte Zugrundelegung aller NS-relevanten Informationen verschiedenster Provenienz ausgewogener.

2.2 Methodik: Studiendesign

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I

NS-Konsens: Zuneigung/Kollaboration (1) NS-Aktivismus: Zuneigung und radikales Engagement (2) NS-Solidarität: Zuneigung/aktive Zusammenarbeit II NS-Konsens bei innerkirchlicher Autonomiebestrebung (3) NS-Aktivismus und Selbstbehauptung (4) NS-Solidarität und Selbstbehauptung III Konsensfreie innerkirchliche Autonomiebestrebung (5) Selbstbehauptung IV Zwischen Konsens und Dissens: Politisch-ideologische Ambivalenzen (6) Synchrone und diachrone Mischformen V NS-Dissens: Abneigung/Opposition (7) Resistenz: Abneigung/moderate Opposition (8) Widerstand: Abneigung und Fundamentalopposition VI Weitere Positionierungsformen (9) Opfer (10) Nicht zuordenbar245 Bevor die Klassifizierungspraxis dargelegt wird, sei die damit zusammenhängende Frage erörtert: Sind diese Positionierungsformen hinreichend differenziert? Schließlich hat eine jede personale Typologie die oben angedeuteten Ansprüche der Wahrung möglichst hoher Individualität und gleichzeitiger Quantifizierbarkeit auszubalancieren. So fiel im Rahmen der Klassifizierung der Pastoren rasch auf, dass alle zehn Positionierungsformen z.T. recht unterschiedliche Vertreter aufwiesen – nicht nur im Hinblick auf die Informationsdichte und das qualitative Gewicht der ermittelten Handlungen. Vielmehr umfassen alle Formen – nicht nur POS 6: ,Synchrone und diachrone Mischformen‘ – Pastoren mit Aktualisierungen sowohl NS-konformer als auch NS-nonkonformer Handlungstypen, sind also durch Geistliche mit intraindivi-

_____ 245 Die Reihenfolge der Bereiche I, III und V sowie die entsprechende Thematisierung in der Arbeit richten sich wertfrei nach der Signifikanz der Ergebnisse. Die Widerstandsforschung ist durch die Koexistenz diverser verschiedener Beschreibungskategorien gekennzeichnet; dabei benennen unterschiedliche Termini z.T. den gleichen Sachverhalt, ebenso wie ein und derselbe Begriff z.T. für unterschiedliche Inhalte verwendet wird. Die Entwicklung einer differenzierten Terminologie zur Kategorisierung von NS-Konformität befindet sich demgegenüber erst in ihren Anfängen – dementsprechend auch Modelle, die NS-konforme Positionierungen ebenso abdecken wie NS-nonkonforme. Die in der vorliegenden Arbeit Verwendung findenden Begriffe (,Widerstand‘ usw.) werden in Teil 2 bzw. Teil 3 im Rahmen ihrer konkreten Anwendung definiert. Eine prägnante Darlegung der Entwicklung der Widerstandsforschung sowie der aktuellen Akzente findet sich bei: Hering 2013, S. 98–103; vgl. auch Blaschke 2014, S. 191–198; Winter, Tobias: Der Diskurs um Widerstand im Dritten Reich. URL: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-diskurs-um-widerstand-imdritten-reich/ (15.1.2021; erstellt 2012, aktualisiert 2018).

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2 Theorie und Methodik

dueller Heterogenität gekennzeichnet: „Das machte die Zeit von 1933 bis 1945 aus: Zugleich im Konsens und im Widerspruch zu leben, in der Gemengelage von Zustimmung und Unzufriedenheit, Begeisterung und Distanz.“246 Trotz dieser Heterogenität auch innerhalb der POS wurde darauf verzichtet, die POS weiter auszudifferenzieren. Denn erstens war der erwähnte Anspruch der kollektiven Quantifizierbarkeit einzuhalten, mit dem notwendigerweise ein Verlust von Individualität einhergeht.247 Und zweitens widersprach neben der kollektiven Auswertbarkeit in mehreren Fällen auch die ermittelbare Informationsdichte zu den einzelnen Pastoren noch feineren Aufschlüsselungen: Noch präzisere, nuancierte Unterscheidungen lassen sich empirisch belastbar nur auf einer sehr hohen Informationsdichte zu den einzelnen Individuen vornehmen; für kollektivbiografische Arbeiten – zumal bei sehr großen Kollektiven – können diese kaum zufriedenstellend umgesetzt werden. Zielführender schien es demgegenüber zu sein, die POS als nicht durch starre Abgrenzungen voneinander getrennte Bereiche, sondern vielmehr als prototypisch strukturierte Felder zu verstehen, deren Vertreter für ihre Form typisch oder weniger typisch sein und damit auch in unterschiedlicher Entfernung zu anderen Positionierungsformen verortet werden können. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Notwendigkeit zur weiteren Ausdifferenzierung des Modells sei ferner auf den elementaren Unterschied zwischen personaler (Teil 2) und handlungstheoretischer Ebene (Teil 3) hingewiesen, die, wie dargelegt, erkenntnistheoretisch strikt auseinanderzuhalten sind. Eben hieran mangelt es vielen personalen Klassifikations-Modellen: Die Ebenen ,Handlung‘ und ,personale Gesamteinordnung‘ wurden bisher überwiegend miteinander vermengt, obgleich ein Modell niemals beide Erkenntnisebenen zugleich abzudecken vermag. Im vorliegenden Ansatz erfolgen die personalen Einordnungen auf der Grundlage des jeweils gesamten ermittelten Informationspools der singulären NS-relevanten Phänomene, deren Typologisierung notwendigerweise nicht dieselbe Gestalt annehmen kann wie die personale Typologie. Beispielsweise konnte für die Untersuchungsgruppe handlungstheoretisch genau zwischen Formen der ,Verweigerung‘, des ,Protests‘ sowie der ,Kritik‘ auf der einen bzw. zwischen der ,NS-Kooperation‘ in Form von Mitgliedschaften, dem ,NS-Engagement‘ in Form von darüber hinausge-

_____ 246 Blaschke 2014, S. 201; vgl. auch Hering (2013, S. 104), der festhält, dass die „Bereiche der generellen Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus bzw. der prinzipiellen Gegnerschaft […] nur vergleichsweise selten vor[kamen]“. Bei der personalen Klassifikation führte die in Bezug auf das Gesamtbild des Pastors jeweils dominante der zehn Positionierungsformen zur entsprechenden Einordnung; nur wenn die personale Heterogenität selbst als dominant anzusehen war, wurde von einer ,Ambivalenz‘ ausgegangen (POS 6). Vgl. zur ,Ambivalenz‘-Definition: Teil 2, Kapitel 1. 247 Vgl. Hering 2013, S. 108. Die Einordnung von Individuen selbst in induktiv entwickelte, empirisch verankerte Settings ist immer ein deduktiver und entindividualisierender Vorgang.

2.2 Methodik: Studiendesign

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hender Betätigung usw. auf der anderen Seite unterschieden werden, wie sie manchen personalen Klassifikations-Modellen zugrunde liegen: Einzelne Handlungen lassen sich einzelnen, auch ausdifferenziertesten Bereichen präzise zuordnen – komplexe personale Gesamtbilder, die sich aus Handlungen aller genannten (und weiterer) Bereiche zusammensetzen können, in vielen Fällen dagegen nicht. Personale Klassifikations-Modelle müssen notwendigerweise abstraktere Einheiten aufweisen als Handlungsmodelle. Des Weiteren ist das vorgeschlagene Modell hinreichend differenziert, um bei der personalen Klassifikation den wichtigen Anspruch nach Berücksichtigung nicht nur der Handlungsweisen der Personen, sondern auch deren ,NS-Überzeugung‘ einlösen zu können (Modellebenen I, II, IV und V; s.u.). Bisherigen Ansätzen mangelt es neben der festgehaltenen Differenzierung zwischen personaler und handlungstheoretischer Erkenntnisebene auch an ebendieser Unterscheidung zwischen ,Einstellungen‘ und ,Handlungen‘, zwischen ,Überzeugung‘ und konkreter ,Aktion‘ – kaum verwunderlich, da die ,NS-Gesinnung‘ zwar oftmals genannt wird, selbst jedoch bisher nie explizit Gegenstand einer empirischen Untersuchung war. Zum Teil wurden Einstellungen in Modellen als eigene Vor- oder Folgestufen losgelöst von Handlungen präsentiert bzw. auf die ,Haltung‘ abzielende Begriffe für ,Handlungen‘ verwendet oder gänzlich vernachlässigt.248 Demgegenüber stellt die Untersuchung und Mess-Modellierung der ,NS-Überzeugung‘, also der inneren ,Einstellung‘ zum Nationalsozialismus, eines der zentralen Anliegen der vorliegenden Arbeit dar, deren Abbildung auch die personale Typologie einzulösen vermag. Während aus den genannten Gründen auf eine weitere Ausdifferenzierung der zehn NS-Positionierungsformen schlussendlich verzichtet wurde, erschien es als wünschenswert, bei der personalen Klassifikation der Geistlichen die angesprochene, intraindividuelle Heterogenität und die interpersonalen Unterschiede innerhalb der zehn POS mit abzubilden, um den Individuen und NS-Positionierungsmöglichkeiten in ihrer Vielschichtigkeit noch gerechter werden zu können. Dazu wurden zusätzlich alle für den jeweiligen Geistlichen nachweisbaren signifikanten NSrelevanten Handlungsbereiche mit angegeben, auf denen die finalen Einordnungen in POS 1 bis POS 10 aufbauen. So beruhte die personale NS-Einordnung eines jeden Geistlichen stets auf dem personalen Gesamtbild, also nicht nur einzelnen relevanten Faktoren wie etwa formal-standardisierten Kriterien der (kirchen-)politischen Mitgliedschaften oder Ämterbekleidungen. Alle diesem jeweiligen personalen Gesamtbild zugrunde liegenden Phänomene sind innerhalb der Handlungstypologie erfasst, die auf der obersten Ebene nach folgenden vier Kategorien strukturiert ist:

_____ 248 Vgl. beispielsweise das viel genutzte Modell von Gotto/Hockerts/Repgen (1990), in dem alleinstehende „Unzufriedenheit“ die erste von vier Stufen darstellt.

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(A) (B) (C) (D)

2 Theorie und Methodik

NS-Konformität Innerkirchliche NS-Nonkonformität Politisch-ideologische NS-Nonkonformität249 Einschränkungen und Sanktionen

Die Kategorien (A), (C) und (D) lassen sich in Subkategorien unterteilen: (A) und (C) in die Subkategorien ,Praktizierte‘ und ,Innere NS-Konformität‘ (A1 und A2) bzw. ,Praktizierte‘ und ,Innere politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘ (C1 und C2). Bei (D) wurde zwischen ,(kirchen-)politisch motivierten Einschränkungen und Sanktionen‘ (D1) und ,Rassenideologisch motivierten Einschränkungen und Sanktionen‘ (D2) unterschieden. Im Folgenden werden die Kennzeichnungen dieser sieben handlungstypologischen (Sub-)Kategorien (A1, A2, B, C1, C2, D1, D2) im Rahmen der personalen Klassifikation als Chiffren gefasst.250 Die finalen POS-Einordnungen (POS 1 bis 10) aller Pastoren erfolgten stets auf der Grundlage der als ,signifikant‘ nachweisbaren, d.h. ,klassifikationsrelevanten‘ (s.u.) Chiffren. So gab die für den Pastor ermittelte Chiffrenkombination (erster Klassifikationsschritt) stets verschiedene POS-Möglichkeiten vor, von denen die vor dem Hintergrund des personalen Gesamtbildes zutreffende im zweiten, finalen Klassifikationsschritt bestimmt wurde. Zur intra- wie interpersonalen Heterogenitätsabbildung auch innerhalb der POS erschien es als zielführend, die für jeden Pastor unabhängig voneinander vergebenen, ,signifikanten‘ Chiffren mit anzugeben, um so den mit einer jeden Klassifikation einhergehenden Individualitätsverlust bestmöglich auszugleichen: Die Möglichkeit vielfältiger Chiffren-Kombinationen gewährleistet die Abbildung individueller, ,signifikanter‘ Heterogenität in allen POS (nicht nur in POS 6, bei der die ,Ambivalenz‘ klassifikationsausschlaggebend ist), ohne dass bereits eine einzelne Information aus einem für den Pastor insgesamt ganz untypischen Bereich sofort zur Deklarierung einer solchen intrapersonalen Heterogenität geführt hätte. Die Chiffren präzisieren die POSEinordnung, bleiben aufgrund der Signifikanzebene jedoch zugleich abstrakt genug, um ihrerseits eine kollektive Vergleichbarkeit und Auswertung zu gewährleisten;251 sie vermitteln zwischen der noch abstrakteren POS-Ebene (personale Erkenntnisebene) und der einzelphänomenologischen Erkenntnisebene.

_____ 249 Auch diese Reihenfolge der Kategorien (A), (B) und (C) richtet sich wertfrei nach der Signifikanz der Ergebnisse. 250 Formal entsprechen die Chiffren den Subkategorien bzw. in einem Fall der Kategorie (B) der Handlungstypologie. 251 Dadurch konnte die ohnehin über eine Dreigliederung in ,Täter-Widerständler-Opfer‘ deutlich hinausgehende Klassifikation durch zusätzliche Kombinationsmöglichkeiten und Zwischenformen weiter ausdifferenziert werden.

2.2 Methodik: Studiendesign

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Zum Beispiel: Ein Pastor mit dem Tableau ,POS 2: NS-Solidarität (A1)‘ war ,NSsolidarischer‘, also ein typischerer Vertreter seiner Positionierungsform als ein Geistlicher mit der Kombination ,POS 2: NS-Solidarität (A1,C1)‘, der vor dem Hintergrund des personalen Gesamtbildes in diesem Fall zwar ebenfalls als ,NSsolidarisch‘ – nicht etwa ,ambivalent‘252 – zu klassifizieren war, jedoch in seiner zugleich punktuellen ,praktizierten politisch-ideologischen NS-Nonkonformität‘ (C1) als weniger solidarischer bzw. weniger typischer Vertreter der zweiten Positionierungsform erkennbar ist. Während für ersteren aufgrund seiner Chiffrenkombination (A1 und A2) lediglich POS 1 (,NS-Aktivismus‘) oder POS 2 (,NS-Solidarität‘) infrage kamen, wobei das personale Gesamtbild für POS 1 schlussendlich nicht durch hinreichende NS-Radikalität gekennzeichnet war, war bei letzterem theoretisch eine Einordnung in POS 1 (,NS-Aktivismus‘), POS 2 (,NS-Solidarität‘), POS 6 (,Synchrone und diachrone Mischformen‘) oder ggf. auch POS 7 (,Resistenz‘) denkbar: Erst das personale Gesamtbild, d.h. die genaue Betrachtung der Gesamtheit der ermittelten, NS-relevanten Phänomene, begründete die finale Einordnung in POS 2. Im Rahmen der personalen Auswertung können neben der POS-Verteilung auch die Chiffren selbst ausgewertet werden, d.h. es kann untersucht werden, für wie viele Geistliche beispielsweise die Chiffre C1 ,signifikant‘ ist, inwieweit also ,praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘ das Kollektiv auch jenseits von POS 7 (,Resistenz‘) und 8 (,Widerstand‘) prägte. Für die Festlegung beim ersten Klassifikationsschritt, ab wann eine Chiffre als ,klassifikationsrelevant‘ angesehen werden kann, ab welchem Punkt also die Informationsgrundlage als hinreichend ausgeprägt für die Bescheinigung einer ,signifikanten‘ ,praktizierten NS-Konformität‘ (A1), ,NS-Zuneigung‘ (A2), ,innerkirchlichen NS-Nonkonformität‘ (B) usw. zu betrachten ist (Diagnostik), wurde in Anlehnung an die Methoden der empirischen Sozialforschung ein Schwellenwertmodell verwendet.253 Als Grundlage wurde die Anzahl der aktualisierten Handlungstypen der jeweiligen (Sub-)Kategorie verwendet – in der (bestätigten) Annahme, dass sich steigende Intensität innerhalb der NS-relevanten Kategorien in der Regel in der zunehmenden Aktualisierungsanzahl der jeweils konstitutiven Handlungstypen manifestiert. Für die Bereiche A1 (,Praktizierte NS-Konformität‘), C1 (,Praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘) und B (,Innerkirchliche NSNonkonformität‘) wurde der Grenzwert (Threshold) jeweils bei ,3‘ festgesetzt (s.u.):

_____ 252 Vgl. zur ,Ambivalenz‘-Definition: Teil 2, Kapitel 1. Betont sei an dieser Stelle lediglich, dass die Ebene IV der ,politisch-ideologischen Ambivalenzen‘ Mischformen aus ,NS-Konformität‘ (A) und ,politisch-ideologischer NS-Nonkonformität‘ (C) vorbehalten ist, also ,innerkirchliche NS-Nonkonformität‘ (B) exkludiert. Vgl. zu letzterer die Modellebenen II und III. 253 Vgl. zur deskriptiven Statistik, ihren Begrifflichkeiten sowie Techniken und den Methoden der Sozialforschung hier und im Folgenden: Mittag 2011, S. 3–110; Döring/Bortz 2016.

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2 Theorie und Methodik

Diese Chiffren wurden jeweils ab drei aktualisierten Handlungstypen als ,signifikant‘ und damit ,klassifikationsrelevant‘ definiert. Auch die ,NS-Überzeugungs‘-Klassifikation erfolgte ab einem erreichten, gewichteten Grenzwert von ,3‘. Auf das Modell zur Operationalisierung des latenten Konstrukts der ,NS-Überzeugung‘ sowie die konkrete Vorgehensweise bei der ,Überzeugungs‘-Klassifikation wird separat ausführlich eingegangen. Vorweggenommen sei an dieser Stelle in Bezug auf die Modellskalierung, dass die Mess-Indikatoren hinsichtlich ihrer Aussagekraft unterschieden wurden in ,starke Indikatoren‘, die mit einem Punktewert von ,2‘ in das Modell eingingen, und ,weiche Indikatoren‘, die einen Wert von ,1‘ zugewiesen bekamen (Gewichtung). Bei nicht erreichtem Grenzwert von ,3‘ wurde keine Angabe zur ,NS-Überzeugung‘ gemacht. Zur Benennung der verschiedenen Formen der ,NS-Überzeugung‘ wurden die obigen Chiffren (A2 und C2) weiter ausdifferenziert: Die Chiffre ,A2‘ zeigt ,einförmige Zuneigung‘, ,C2‘ ,einförmige Abneigung‘ an; die Unterstreichung markiert die Chiffre als Ergebnis der personalen Überzeugungsmessung: ,Zu-‘ bzw. ,Abneigung‘, während die Chiffren ,A2‘ und ,C2‘ ohne Hervorhebung die theoretischen Grundformen ,Zustimmung‘ und ,Ablehnung‘ markieren. Die Chiffrenkombination ,A2,C2‘ zeigt ,Ambivalenz‘; bei ,A2(C2)‘ überwog die ,Zuneigung‘; bei ,C2(A2)‘ die ,Abneigung‘. Besonders extreme Formen wurde als ,weitreichende bis generelle Zuneigung‘ mittels der Chiffre ,A2!‘ abgebildet; ,weitreichende bis generelle Ablehnung‘ als ,C2!‘. Die Methodik der Messung der ,NS-Überzeugung‘ wird ausführlich in Teil 1, Kapitel 2.2.3 vorgestellt; die MessIndikatoren selbst werden in Teil 3 eingehend besprochen und validiert. Während auf der Chiffren-Ebene, d.h. bei isolierter Betrachtung der ,NS-Überzeugung‘, diese nach sieben Überzeugungsformen unterschieden werden konnte, war im Rahmen der personalen NS-Gesamttypologie (POS-Ebene) aus den bereits dargelegten Gründen eine Beschränkung auf die Dreigliederung ,Zuneigung‘ – ,Ambivalenz‘ – ,Abneigung‘ vorzunehmen. Da die verschiedenen NS-relevanten Bereiche in der Quellengrundlage der Arbeit theoretisch relativ gleichmäßig, mutmaßlich mit tendenzieller Begünstigung der ,NS-Nonkonformität‘ (Kategorien B und C) Eingang fanden, wurde bei ,praktizierten‘ (A1, B, C1) wie ,inneren‘ Formen (A2, C2) ein kategorieübergreifend symmetrischer Maßstab gewählt – obwohl die mit Abstand meisten Handlungstypen im Bereich der ,NS-Konformität‘ (A1, A2) generiert werden konnten. Ein asymmetrischer, die Kategorien B und C durch einen niedrigeren Grenzwert automatisch in ihrer Klassifikationsrelevanz aufwertender Maßstab hätte eine künstliche Bedeutungsverzerrung zur Folge gehabt (Bias). Die ,Sanktions‘-Chiffren D1 und D2 wurden bei der Aktualisierung wenigstens eines ,erhebliche Sanktionen‘ umfassenden Handlungstyps vergeben, nicht jedoch für die Handlungstypen der ,moderaten Einschränkungen und Sanktionen‘. Die Zuweisung einer dieser Chiffren führte automatisch zur (ggf. zusätzlichen) Einordnung in POS 9 (,Opfer‘), die quer zu POS 1 bis 8 liegt: Alle in POS 1 bis 8 Eingeordneten konnten zusätzlich in POS 9 eingereiht werden.

2.2 Methodik: Studiendesign

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Die Tauglichkeit der Verwendung dieses objektivierten, quantitativen Schwellenwert-Maßstabs als ersten Klassifikationsschritt wurde für jeden einzelnen Pastor auf der Grundlage des sich ergebenden personalen Gesamtbildes überprüft: Eignete sich die jeweilige Chiffre(nkombination) als erste Annäherung an das personale Gesamtbild oder widersprach sie diesem? Dabei stellte sich heraus, dass mithilfe des Maßstabs die meisten Fälle tatsächlich angemessen abgebildet werden konnten: Die Vorgehensweise der Zählung der innerhalb der einzelnen (Sub-)Kategorien (A1, B, C1, D1, D2; A2 und C2 in verschiedenen Varianten für die ,Überzeugungs‘Abbildung) jeweils aktualisierten Handlungstypen zur Intensitätsmessung erwies sich als tragfähig. So verteilten sich die NS-relevanten Informationen mit zunehmender Informationsdichte bei den allermeisten Pastoren tatsächlich auf verschiedene Handlungstypen der jeweiligen (Sub-)Kategorien; Phänomenhäufungen in einzelnen wenigen Handlungstypen bei weitgehender Aussparung anderer blieben die Ausnahme.254 Des Weiteren bewährte sich die oben dargelegte Festlegung der klassifikationsrelevanten Grenzwerte. So wurde mit deren Hilfe auf der einen Seite das Klassifizieren auf unzureichender Quellengrundlage in den meisten Fällen zielgenau verhindert: Pastoren ohne zugewiesene Chiffre wurden automatisch in POS 10 (,Nicht zuordenbar‘) einsortiert. Beispielsweise wurde eine nachgewiesene Mitgliedschaft bei den NS-konformen ,Deutschen Christen‘ (DC) für sich genommen nicht bereits als ausreichend für eine Vergabe der Chiffre A1 (,Praktizierte NS-Konformität‘) angesehen – ebenso wenig wie eine Mitgliedschaft in der für die Wahrung der kirchlichen Autonomie eintretenden ,Bekennenden Kirche‘ (BK) sofort zur Vergabe der Chiffre B (,Innerkirchliche NS-Nonkonformität‘) führte. Auf handlungstypologischer Ebene (Teil 3) hingegen waren beide Informationen als NS-relevante Phänomene stets zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite konnte ein Großteil der Untersuchungsgruppe auf der Grundlage der Grenzwerte im Hinblick auf seine NSPositionierung klassifiziert werden (vgl. Teil 2, Kapitel 2). Die Grenzwerte können als Klassifikationswerkzeug je nach Quellendichte, Untersuchungsgruppe und Risikobewertung angepasst werden:255 Der Grenzwert befindet sich stets im Spannungsfeld zwischen den Fehlermöglichkeiten, einer Person eine Chiffre fälschlicherweise zugewiesen zu haben (falsch positiv) oder sie irrtümlicherweise nicht vergeben zu haben (falsch negativ), d.h. zwischen den Ansprü-

_____ 254 Nicht statistisch ausgewertet werden konnte aufgrund der Fülle des Datenmaterials die Anzahl der jeweiligen Aktualisierungen (Phänomene) eines Handlungstyps, weder für die personale (Teil 2), noch die handlungstheoretische Auswertung (Teil 3); gleichwohl war die Gesamtheit der Phänomene auch bei der personalen Klassifikation als mögliches Korrektiv des objektiven Maßstabs stets zu berücksichtigen. 255 Auf die Festsetzung der Grenzwerte speziell im Modell der ,NS-Überzeugung‘ wird in Teil 1, Kapitel 2.2.3.2 gesondert eingegangen.

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2 Theorie und Methodik

chen möglichst hoher Sensitivität und bei zugleich möglichst hoher Spezifität (je höher die Sensitivität der Messung, desto genauer können NS-zustimmende bzw. ablehnende Personen richtig als solche identifiziert werden, desto weniger falsch negative Ergebnisse kommen also zustanden; je höher die Spezifität, desto genauer können nicht NS-Überzeugte richtig erkannt werden, desto weniger falsch positive Ergebnisse entstehen also). Durch die Hochsetzung der Grenzwerte stiege die Wahrscheinlichkeit einer fälschlicherweise unterlassenen Chiffrenvergabe (falsch negativ), durch deren Herabsetzung das Risiko einer irrtümlich vorgenommenen Zuweisung (falsch positiv). In der vorliegenden Arbeit wurde die Möglichkeit falsch positiver Zuschreibungen gegenüber falsch negativen als gravierender erachtet, weshalb die Grenzwerte in Abhängigkeit vom finalen Datenpool wie beschrieben und nicht bereits bei niedrigeren Werten festgesetzt wurden. Für die meisten Geistlichen erwies sich der gewählte Maßstab als geeignet. In keinem Fall wurde eine Chiffre bei erreichtem Grenzwert nicht vergeben. Allerdings wurden mache Pastoren trotz vergebener A1Chiffre schlussendlich als ,nicht zuordenbar‘ (POS 10) eingestuft, wenn die qualitative Reichweite der Aktualisierungen keine Einordnung in die naheliegende POS 2 (,NS-Solidarität‘) zuließ (Verhinderung falsch positiver Kategorisierungen nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Klassifikationsschritt). Umgekehrt wurde bei einigen Pastoren zusätzlich eine der Chiffren A1, B oder C1 vergeben, obwohl die Signifikanzgrenze (jeweils drei verschiedene Handlungstypenaktualisierungen) nicht erreicht war: Auch hier wurde vom objektiven Maßstab abgewichen. Zwei Gründe waren ausschlaggebend. Erstens konnten einzelne Handlungsweisen (Aktualisierungen) von herausragendem qualitativen Gewicht oder (seltene) Phänomenhäufungen in einem einzelnen Handlungstyp trotz nicht erfülltem Grenzwert (Folge der aus der Risikobewertung resultierenden Festsetzung des Grenzwertes erst bei ,3‘) als hinreichend für eine Klassifikationsrelevanz eingestuft werden. Beispielsweise wurde bei HANS HANSEN (BK) die Information einer BKMitgliedschaft in Kombination mit mehreren qualitativ gewichtigen Aktualisierungen des Handlungstyps (85): ,Verweigerung und Kritik gegenüber DC-beherrschten kirchlichen Organen und Funktionsträgern‘ (Kategorie B: ,Innerkirchliche NSNonkonformität‘) als ausreichend für eine Klassifizierung in ,POS 5: Selbstbehauptung, (B)‘ erachtet: Ablegung der ersten theologischen Prüfung bei der BK nach mehrfacher Kritik beim Landesbruderrat der Bekennenden Kirche SchleswigHolsteins an dessen Einigungsbestrebungen mit den ,Deutschen Christen‘; spätere Verweigerung der Ordinierung durch Landesbischof ADALBERT PAULSEN (DC).256 Zwei-

_____ 256 LKANK, Moritzen, Johannes (Pastor) Nr. 89; LKANK, Wester, Reinhard (Bischof) Nr. 59; LKANK, 16.20.0 Personalakten (Nordelbien) Nr. 214.

2.2 Methodik: Studiendesign

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tens wurde bei manchen Geistlichen vom objektivierten Grenzwert abgewichen, um die intrapersonale Verhältnismäßigkeit zu wahren. Beispielsweise wäre bei einem Pastor mit drei aktualisierten A1-Typen und zwei B-Typen regulär lediglich die Chiffre A1 vergeben worden, was zu einer Einordnung in ,POS 2: NS-Solidarität‘ (oder ,POS 1: NS-Aktivismus‘) geführt hätte, auch wenn ,POS 4: NS-Solidarität und Selbstbehauptung‘, in Abhängigkeit von den jeweiligen Informationen ggf. sogar ,POS 5: Selbstbehauptung‘ zur angemessen Repräsentation des personalen Gesamtbildes passender wäre. Diesem Umstand wurde auf der Chiffren-Ebene Rechnung getragen, womit für den zweiten Klassifikationsschritt der finalen POS-Zuordnung das Spektrum der potenziell infrage kommenden POS gleichsam erweitert wurde. Zur Veranschaulichung des seltenen Abweichens vom Grenzwert sowie der Klassifikationspraxis insgesamt sei ein reales Beispiel für die oben genannte Form ,POS 2: NS-Solidarität (A1,C1|A2)‘ des Bereichs I (,Zuneigung/Kollaboration‘) knapp vorgestellt: CLAUS BEHRENS (DC). Dessen ,NS-Solidarität‘ (POS 2) manifestierte sich sowohl in einer ,NS-Zustimmung‘ (A2) als auch in reger ,praktizierter NS-Konformität‘ (A1), primär im innerkirchlichen Raum (Verkündigung). So sind viele Predigten mit direkten Einschwörungen der Gemeinde aufs Hitlerregime sowie der Propagierung zahlreicher NS-Ideologeme überliefert: BEHRENS aktualisierte zahlreiche Handlungstypen der ,praktizierten‘ (A1) wie ,inneren NS-Konformität‘ (A2). Unmittelbar vor der ,Machtergreifung‘, im Januar 1933, nahm er jedoch – als angehender DCPastor – im Gemeindeblatt der Kirchengemeinde Hohn in einzigartiger Weise gegen das Rassenkonzept Stellung: Er postulierte die Existenz lediglich einer einzigen menschlichen Rasse: „Über diesen Standpunkt ist die ernste, verantwortungsbewußte Wissenschaft auch heute noch nicht hinausgekommen.“257 BEHRENS ist der einzige der schleswig-holsteinischen Geistlichen, bei dem sich die – wenn auch nur vorübergehende – Ablehnung bzw. Verurteilung des Fundaments des Rassismus, der Existenz verschiedener anthropologischer ,Rassen‘, feststellen ließ; etliche andere Pastoren verwendeten den Rassebegriff in Bezug auf Menschen, erhoben ihn zur göttlichen Schöpfungsordnung, sahen ihn bereits in der Bibel angelegt und begründet, sprachen von einer ,jüdischen Rasse‘ usw. – BKler wie DC-Geistliche. Aufgrund dieser herausragenden Stellungnahme von BEHRENS in ihrer einmaligen, qualitativen Reichweite der öffentlichen, grundsätzlichen Verurteilung des Rassenkonzepts wurde – abweichend vom objektiven Maßstab – zusätzlich zu den regulären Chiffren A1 und A2 die Chiffre C1 vergeben. Auf diese Weise vermag die Chiffrenkombination die Heterogenität abzubilden: deutliches NS-Engagement und NS-

_____ 257 Gemeindeblatt der Kirchengemeinde Hohn vom Januar 1933, mit Dank erhalten von Pastorin A. Andersson, KG Hohn: Text „Rasse“ von BEHRENS.

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2 Theorie und Methodik

Bejahung mit DC-Beitritt bei gleichzeitiger (anfänglicher) Verurteilung der für den Nationalsozialismus und die DC zentralen NS-Rassenideologie. Allerdings überwog im Hinblick auf das Gesamtbild die ,NS-Konformität‘ so deutlich, dass die Existenz dieses einen, wenn auch höchst beachtlichen Phänomens aus der Subkategorie ,Praktizierte politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘ (C1) eine Einstufung als insgesamt ,ambivalenten‘ Fall (POS 6) geschweige denn als ,oppositionellen‘ Geistlichen (POS 7 oder gar 8) nicht zuließ: ,POS 2: NS-Solidarität (A1,C1|A2)‘. Wie erwähnt, ist die Einordnung der Geistlichen in die zehn für die Untersuchungsgruppe entwickelten NS-Positionierungsformen als finaler Klassifikationsschritt zu bezeichnen, der auf der auf dem Schwellenwertmodell basierenden Chiffrenkombination aufbaut, die jeweils eine Reihe verschiedener (theoretisch bis hin zu allen) POS-Möglichkeiten und damit einen weiter oder enger gefassten, objektivierten Klassifikationsrahmen vorgibt. Anders als die Chiffrenvergabe selbst ist die POS-Auswahl als qualitativer Schritt bar eines objektivierten Maßstabs zu begreifen. Wie im erkenntnistheoretischen Teil dargelegt, geht das individuelle Gesamtbild in seiner Komplexität notwendigerweise über die bloße Summe der aktualisierten Handlungstypen (sowie der einzelnen Phänomene) hinaus: Die personale Erkenntnisebene übertrifft die handlungstheoretische in ihrer Komplexität – ebenso wie der Mensch mehr darstellt als die Summe seiner Atome. Aus diesem Grund ist die Chiffrenvergabe als alleinige Klassifikationsmethode unzureichend, obwohl die Chiffren, wie dargelegt, intraindividuelle und interindividuelle Heterogenität auch innerhalb der zehn POS durchaus abzubilden vermögen. Konkret greifbar wird dies etwa in Bezug auf die Existenz großer qualitativer Unterschiede zwischen verschiedenen Handlungsweisen innerhalb der (Sub-)Kategorien, vor dem Hintergrund der Einbeziehung zeithistorischer sowie institutioneller und staatlicher Rahmenbedingungen pastoralen Verhaltens oder der kollektiven Signifikanz der Handlungsweise (Berücksichtigung des Außergewöhnlichen, Herausragenden – wie u.a. bei BEHRENS). Ferner stößt die Chiffrenvergabe bei dem angemessener Berücksichtigung von Positionierungsänderungen an ihre Grenzen.258 Auf letzteren Aspekt wird in Teil 3, Kategorie, A–C: Positionsänderungen‘, näher einzugehen sein. An dieser Stelle sei lediglich im Hinblick auf die personale Klassifikationsrelevanz festgehalten: Typologien (personale wie handlungsbasierte) neigen (ebenso wie quantitative Auswertungsmethoden) zwangsläufig zu einer gewissen Statik, wogegen das ,Dritte Reich‘ für einen nicht unerheblichen, durch vielfältige Entwicklungen gekennzeichneten Zeitraum bestand. Innerhalb der personalen Typologie wurde dem durch die Generierung zweier weiterer Klassifikations-

_____ 258 Vgl. zur Bedeutung zeitlicher Verschiebungen: Hering 2013, S. 108.

2.2 Methodik: Studiendesign

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Chiffren entgegengewirkt, den Chiffre ,Z1‘ und ,Z2‘, die zeitliche Positionsänderungen des fraglichen Pastors kenntlich machen (Z1: ,NS-konforme Positionsänderung‘, Z2: ,NS-nonkonforme Positionsänderung‘). Die Chiffren wurde bei Aktualisierung eines der beiden Positionsänderungs-Handlungstypen (Typen (115) und (116)) vergeben. Bei der Untersuchung solcher Änderungen war stets die nicht zu unterschätzende Möglichkeit einer Fortexistenz derselben ambivalenten Positionierung zu reflektieren, die sich beispielsweise in den Jahren 1933 und 1935 in ,NS-konformen‘ (A1) und 1937 in ,NS-nonkonformen‘ Predigtäußerungen (C1) manifestieren konnte – ohne dass eine ,Positionsänderung‘ eingetreten wäre. Eine tatsächliche Änderung wurde daher erst attestiert, wenn diese entweder konkret benannt wurde oder auf einer hinreichend breiten Informationsdichte deutlich zutage trat. Nicht einbezogen wurde dabei die für den Großteil der Untersuchungsgruppe anzunehmende, zum Teil auch nachweisbare, ab 1935 tendenziell zunehmende Entfernung vom NSRegime, ohne dass diese in den meisten Fällen zu einer deutlichen Positionsänderung geschweige denn zum Bruch mit dem Regime geführt hätte oder von allen Geistlichen vollzogen worden wäre. Die meisten belegbaren ,Positionsänderungen‘ waren, so stellte sich heraus, NS-nonkonform, seltener NS-konform. Im Rahmen der qualitativen POS-Einordnung wurden solche Veränderungen besonders berücksichtigt. Beispielsweise überwog bei den Pastoren THEODOR PINN und FRIEDRICH SLOTTY (beide BK) nach anfänglicher, deutlicher ,NS-Konformität‘ (A1, A2) und 1933/34 eingetretenem Wandel (A–C) insgesamt die ,innerkirchliche‘ (B) und vor allem die ,politisch-ideologische NSNonkonformität‘ (C1, C2) so markant, dass eine Klassifikation als ,Widerständler‘ angezeigt war: ,POS 8‘ (PINN: ,A1,B,C1,D1|C2!-Z2‘, SLOTTY: ,A1,B,C1,D1|C2(A2)-Z2‘). Seltener wurde demgegenüber die anfängliche ,NS-Konformität‘ als dominant bewertet (,POS 1: NS-Aktivismus‘; ,POS 2: NS-Solidarität‘); bei relativer Ausgewogenheit im Hinblick auf das personale Gesamtbild erfolgte die Einordnung in ,POS 6: Synchrone und diachrone Mischformen‘, die somit nicht nur synchrone, sondern auch diachron bedingte ,Ambivalenzen‘ umfasst. Insgesamt erwies sich die Kombination aus objektivierten und qualitativen Klassifikationselementen als geeignete Herangehensweise. Nicht zuletzt erleichtert die Anwendung eines objektivierten Maßstabs im ersten Klassifikationsschritt die Handhabbarkeit der Kategorisierung einer so großen Personengruppe enorm (Gütekriterium der Praktikabilität) – auch wenn sie, wie dargelegt, die Überprüfung der Chiffren-Vergabe sowie die finale, qualitative POS-Einordnung nicht zu ersetzen vermag. Abschließend sei im Hinblick auf alle personalen Einordnungen ausdrücklich festgehalten, dass diese stets auf der Grundlage der Quellenbasis der Arbeit erfolgten (Quellenvorbehalt); trotz breiter Quellengrundlage (vgl. Teil 1, Kapitel 3) variiert die verfügbare NS-relevante Informationsdichte zwischen den Pastoren stark. Selbstverständlich könnten daher zusätzliche Informationen bei einzelnen Geistli-

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2 Theorie und Methodik

chen eventuell zu einer anderen POS-Einordnung führen. Auch könnten sich weitere Chiffren durch dann überschrittene Grenzwerte als ,signifikant‘ herausstellen – nicht jedoch die sich bereits als signifikant erwiesenen negieren, jedenfalls bei gleichbleibenden Grenzwerten.

2.2.2.2 Erstellung der NS-Handlungstypologie Neben der personalen NS-Typologie (POS 1 bis 10 mit differenzierender Chiffrenvergabe) wurde eine NS-Handlungstypologie generiert, die nicht die personalen Gesamtbilder, sondern die enorme Vielzahl der diese konstituierenden, singulären Informationen (Phänomene) zum Inhalt hat. Die Handlungstypologie stellt die Grundlage für die personale NS-Typologisierung und die entsprechende Kategorisierung der Untersuchungsgruppe dar. Während das theoretische Fundament der Handlungstypologie bzw. der Typologisierung mitsamt dem Anspruch, kollektives Handeln abzubilden, bereits umfänglich erörtert wurde, wird im Folgenden dargelegt, wie bei der Erstellung der Handlungstypologie, der Systematisierung der unzählig vielen NS-Phänomene im Einzelnen vorgegangen wurde. Auf Grundlage der geschichtstheoretisch fundierten, bewusst sehr offen gewählten Fragestellung nach der NS-Positionierung der Untersuchungsgruppe wurden zunächst die verschiedenen Quellenbestände zu allen Pastoren des Kollektivs gesichtet und ausgewertet (induktives Vorgehen). Dabei wurden sämtliche anhand der einzelnen Geistlichen greifbar werdenden, NS-relevanten Phänomene erfasst und in eine Datenbank eingespeist, woraus ein sukzessive anwachsender, schlussendlich gewaltiger Pool an NS-bezogenen Informationen resultierte (Analyse). Parallel begann die inhaltliche Strukturierung der Vielzahl einzelner Phänomene auf der Basis ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Synthese), um so aus individuellen Einzelformationen überindividuelle, kollektivsignifikante Handlungseinheiten ableiten zu können (Ebenenwechsel vom Individuum zum Kollektiv durch Abduktion ersten Grades). Auf diese Weise wurden schlussendlich 122 NS-relevante, überindividuelle Handlungstypen generiert. In einem zweiten Schritt wurden diese Handlungstypen durch die Erstellung ihnen übergeordneter Gruppen untereinander weiter strukturiert (Abduktion zweiten Grades), wodurch die Typologie eine hierarchische Dimension erhielt (Taxonomie). Dieses Verfahren der analytischen Zerlegung des Gegenstandes in individuelle NS-relevante, singuläre Phänomene und deren anschließende synthetische Zusammenführung in subjektinvarianten Handlungstypen sowie die darauffolgende Strukturierung der Typen untereinander lässt sich als de-konstruktivistisches Vorgehen beschreiben. Auf dieser Methode aufbauend erfolgte die Generierung einer umfassenden, systematisierten Handlungstypologie, die den Gegenstandsbereich des NSrelevanten Handelns, so die Annahme, bestmöglich und vollständig abzubilden

2.2 Methodik: Studiendesign

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vermag.259 Auf ihrer Grundlage wird die handlungsbasierte Präzisierung der Beantwortung der Fragestellung nach der Positionierung des Kollektivs zum Nationalsozialismus vorgenommen. Da diese umfangreiche, hierarchische Handlungstypologie auf der Gesamtheit der empirisch beobachtbaren und extrahierten Phänomene beruht, ist sie selbst empirisch verankert – auch wenn Handlungstypen sowie diesen übergeordnete Gruppen als (in zunehmendem Maße) theoretische Abstraktionen zu begreifen sind, basieren sie mittelbar auf der historischen Realität. Aus der Tatsache, dass nur solche Informationen berücksichtigt wurden, die für die Beantwortung der Fragestellung relevant waren, lässt sich ableiten, dass selbiges auch für die auf diesen Informationen aufbauenden Handlungstypen sowie die ihnen übergeordneten Gruppen gilt. Dabei verliefen induktive, analytische Quellenauswertung und abduktive, synthetische Handlungstypengenerierung sowie -strukturierung reziprok: Die generierten Handlungstypen und die sich sukzessive entwickelnde, komplexe Typologie waren stets zu modifizieren, was sich notwendigerweise wiederum auf die Zuordnung der einzelnen Phänomene auswirkte. Der Typologie liegt somit eine umfangreiche Strukturierungsarbeit zugrunde: Die finale Gestalt der Handlungstypen und der Typologie insgesamt basiert auf einem sehr aufwendigen Typologisierungsprozess des Vergleichens der Vielzahl NS-relevanter Phänomene, Handlungstypen und diesen übergeordneten Gruppen untereinander (Generierung, Erweiterung, Reduzierung, Kombination, Über-/ Unter-/ Parallelordnung, Abgrenzung und Zusammenhangslosigkeit). Dabei musste die terminologische (und damit auch inhaltliche) Reichweite der Handlungstypen stets auf einer mittleren Ebene liegen: Weder durften die Typen zu allgemein gefasst sein, da sie dann ihren distinkten Charakter verlören und den Gegenstandsbereich nicht mehr ausreichend differenziert erfassen

_____ 259 An dieser Stelle sei noch einmal in Bezug auf den Vollständigkeitsbegriff erwähnt: Natürlich musste eine Auswahl der zu untersuchenden Quellenbestände vorgenommen werden – die Quellenbasis bestimmt den Rahmen möglichen Erkenntnisgewinns. Gleichwohl steht aufgrund der Kombination aus bewusst weit gefasster Fragestellung und Zugrundelegung einer breiten Quellenbasis zu vermuten, dass ein Großteil relevanter Informationen erfasst wurde und sich deshalb durch die Auswertung weiterer Bestände v.a. die generierten Handlungstypen inhaltlich weiter anreichern ließen, weniger, dass neue Handlungstypen abgeleitet werden könnten. Dafür spricht auch, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt im Lauf der Quellenauswertung keine neuen Handlungstypen mehr hinzukamen. Wahrscheinlicher ist, dass sich durch eine weitere inhaltliche Anreicherung der Typen einige der weiter gefassten aufspalten ließen – etwa der Typ ,DC-Tätigkeit‘. Hiermit ist auch die Frage nach der ,bestmöglichen‘ Gestalt der Typen und Typologie als Ganze berührt. Der abduktive Schluss zielt, anders als der deduktive, nicht auf allgemeingültige Wahrheit, sondern „auf die beste verfügbare Erklärung“ (Gessmann (Hrsg.) 2009, S. 2); die Typologie ließe sich prinzipiell auch anders aufbauen, etwa indem Typen zusammengefasst oder hierarchisch anders angeordnet werden könnten. Auch aus diesem Grund scheint es geboten, die der Typologie zugrunde liegende Methodik transparent zu machen.

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2 Theorie und Methodik

würden, noch zu eng, um ihren überindividuellen, kollektiven Charakter nicht einzubüßen und messbar zu bleiben. Die Generierung der Handlungstypen erfolgte also zwischen den Prinzipien der Distinktion und Differenziertheit auf der einen, der kollektiven Quantifizierbarkeit auf der anderen Seite, und zwar in kompliziertem, langjährigem Erstellen, terminologischem Erweitern oder Verengen, Verwerfen und ggf. doch wieder Erschaffen – immer in Abhängigkeit zu dem beständig weiter anwachsenden Datenpool (trial and error). Bei der anschließenden Systematisierung der Typen untereinander mussten die darüber liegenden Ebenen höherer Ordnung notwendigerweise inhaltlich stets weiter gefasst sein. Als Beispiel dafür sei angeführt: Konnte den Quellen entnommen werden, dass Pastor X in einer Predigt Adolf Hitler als Erretter anpries, fungierte diese Information zunächst als in Bezug auf die Fragestellung NS-relevante Einzelinformation. Ließ sich anschließend feststellen, dass neben Pastor X auch die Pastoren Y und Z Hitler in ihren Predigten als Erlöser priesen, konnten diese weiteren Informationen mit der ersten vernetzt werden, sodass sich der überindividuelle Handlungstyp ,Mündliche Lobpreisungen Adolf Hitlers‘ generieren ließ. Wenn dann ermittelt wurde, dass die Pastoren A und B in Predigten zwar nicht auf Hitler selbst rekurrierten, aber die NS-Bewegung als Ganzes, den sogenannten ,nationalen Aufbruch‘ feierten, so fiel die inhaltlich sehr enge Verbindung zu den Äußerungen der Pastoren X, Y und Z auf; es erschien als sinnvoll, den Handlungstyp zu modifizieren und zu ,Mündliche Lobpreisungen Adolf Hitlers und Einschwörung auf den NS-Staat‘ zu erweitern. Der Typ liegt also auf einer abstrakteren Ebene als die Einzelinformationen, er umfasst mehrere miteinander verwandte Phänomene. Konnte danach den Quellen die Anbringung des Hakenkreuzes im Kircheninnern durch den bereits thematisierten Pastor X oder auch einen neuen Pastor C entnommen werden, so fiel auf, dass es sich zwar um eine hinsichtlich der Fragestellung NS-relevante Information handelt, die sich jedoch nicht unter das Kriterium ,Mündliche Lobpreisungen Adolf Hitlers und Einschwörung auf den NS-Staat‘ subsumieren ließ. Gemeinsam mit anderen, ähnlichen Einzelinformationen bildet es daher einen neuen Typ: ,Kirchliche Übernahme von NS-Symbolen‘. Beide Typen haben einen gemeinsamen, abstrakteren Nenner: Sie sind Ausdruck eines ,individuellen NS-Engagements im Rahmen des Pfarramtes‘, das als den beiden (und weiteren) Typen hierarchisch übergeordnete Gruppe generiert wurde. Nicht in Beziehung zu setzten zu dieser den genannten Handlungstypen übergeordneten Gruppe des ,individuellen NSEngagements im Rahmen des Pfarramtes‘ war dagegen beispielsweise der Handlungstyp ,SA-Mitgliedschaft‘, der nicht im beruflichen, sondern im parteipolitischen Raum zu verorten ist. Daher konstituiert dieser – gemeinsam mit verwandten Handlungstypen wie etwa der ,SS-Mitgliedschaft‘ – die Gruppe ,Politische NS-Kooperation‘. Auf der obersten hierarchischen Ebene gehören beide Gruppen der Kategorie ,NS-Konformität‘ (A) an. Parallel geordnet zu dieser sind die Kategorien ,Innerkirchliche NS-Nonkonformität‘ (B), ,Politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘ (C) sowie ,Einschränkungen und Sanktionen‘ (D), die wiederum auf verschiedenen hierarchi-

2.2 Methodik: Studiendesign

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schen Ebenen aus mehreren Gruppen und diese aus einer Vielzahl von konstitutiven Handlungstypen bestehen. Folglich ist die Handlungstypologie als in sich hierarchisch strukturiertes, komplexes Konstrukt aufzufassen, das den Gegenstandsbereich in seiner Vielschichtigkeit differenziert abzubilden vermag. Der vollständige Aufbau der Handlungstypologie ist dem Inhaltsverzeichnis der Arbeit, Teil 3 in Band 2 und 3, zu entnehmen, dessen Aufbau formal exakt der Struktur der Handlungstypologie entspricht. In der hierarchischen Struktur liegt gleichsam der taxonomische Charakter der Typologie begründet: Jede Information eine ,SA-Mitgliedschaft‘ betreffend ist auch für die übergeordnete Gruppe ,Politische NS-Kooperation‘ konstitutiv, nicht alle zu dieser Gruppe gehörenden Phänomene manifestieren sich jedoch im Handlungstyp der ,SA-Mitgliedschaft‘ (sondern auch im Handlungstyp ,SS-Mitgliedschaft‘ und weiteren Typen). Bei den Handlungstypen selbst wurde darauf geachtet, dass diese ,kollektivsignifikant‘ ausfallen. Die Grenze der Kollektivsignifikanz wurde bei wenigstens zehn aktualisierenden Geistlichen festgesetzt (≥ 10). In begründeten Ausnahmefällen wurde bei einigen wenigen Handlungstypen von diesem Grundsatz der Kollektivsignifikanz abgewichen. Die Handlungstypologie enthält einige wenige ,Residualtypen‘, die als Auffangbecken diejenigen NS-relevanten Phänomene umfassen, die selber keinen kollektivsignifikanten Handlungstyp bilden konnten. Diese Residualtypen stellen sicher, dass kein einziges NS-relevantes Phänomen durch das Raster fällt: Ausnahmslos alle NS-bezogenen Informationen fanden so Eingang in die Handlungstypologie. Der hierarchische Aufbau der Handlungstypologie lässt sich am Beispiel der Kategorie der ,NS-Konformität‘ (A) grafisch wie folgt darstellen:

Abbildung 1: Hierarchischer Aufbau der Handlungstypologie am Beispiel der ,NS-Konformität‘: Kategorie, Subkategorien, Gruppen 1., 2. und 3. Ordnung, Handlungstypen

110 2 Theorie und Methodik

2.2 Methodik: Studiendesign

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Die Handlungstypologie basiert auf einer qualitativen Analyse und Interpretation des umfangreichen Datenmaterials.260 Die Handlungstypen sowie die ihnen übergeordneten Gruppen waren also keineswegs ,vorhanden‘ oder mussten zwangsläufig so konstruiert werden wie hier geschehen. Daher werden bei der Auswertung immer wieder methodische Typologisierungsaspekte zu thematisieren sein, auch, um die z.T. abstrakten, methodischen Ausführungen den Typologisierungsprozess betreffend anhand konkreter Inhalte veranschaulichen zu können. Abschließend sei erwähnt, dass alle qualitativen sowie quantitativen Daten in einer Datenbank (vgl. Teil 1, Kapitel 5) erfasst sind, die sämtliche bei den einzelnen Geistlichen greifbar werdenden, NS-relevanten Phänomene nach den Handlungstypen strukturiert abbildet.261 Doch nicht nur die in den Quellen zu findenden Phänomene als Handlungsaktualisierungen der entsprechenden Typen wurden in die Datenbank aufgenommen, sondern auch die der Forschungsliteratur zu einzelnen Geistlichen zu entnehmenden Informationen. Dass sich auch diese, mitunter anderen Quellen entstammenden Informationen mittels der Handlungstypen ausnahmslos erfassen ließen, spricht für die Vollständigkeit der Handlungstypologie im Hinblick auf die Abbildung des Gegenstandsbereichs.

2.2.3 Untersuchung der NS-Überzeugung In der vorliegenden Arbeit wird strikt zwischen nach außen hin praktizierter, öffentlicher ,Handlung‘ und der inneren ,Einstellung‘ unterschieden: Eine NS-konforme Handlung musste vor dem Hintergrund des historischen Referenzrahmens nicht notwendigerweise der ,Überzeugung‘ entsprochen haben (Möglichkeit des Handelns gemäß der ,sozialen Erwünschtheit‘). NS-nonkonforme Handlungen korrespondierten umgekehrt zwar gerade nicht mit der mehrheitsgesellschaftlichen bzw. parteilich wie staatlich vertretenen Erwünschtheit, konnten aber dennoch mit einer NS-Bejahung einhergehen bzw. aus ihr resultieren (wohlwollende, vermeintlich

_____ 260 Die einzelnen Phänomene waren für ihre Strukturierung und die Generierung der überindividuellen Handlungstypen bzw. für ihre Einschätzung als Aktualisierung bereits bestehender Typen stets zu interpretieren, ebenso wie die Typen für ihre Verhältnisbestimmungen untereinander. Allen Abstraktionen liegt eine inhaltliche Interpretation zugrunde, da diese immer über die bloße Summe der diese konstituierenden Elemente hinausgehen. 261 So firmiert unter dem Terminus der ,Kollektivbiografie‘ als zweite Definition auch die „Erschließung und Dokumentation von biografischen (Meta-)Quellen als Gegenstand der Biographischen Lexikographik aus vorrangig geschichtswissenschaftlicher Perspektive“, die „Sammlung und Dokumentation von Biographien“: Schröder 2011, S. 5 und 65. Diesem Aspekt wurde durch die Erstellung der umfangreichen, alle Kollektivmitglieder und deren NS-relevante Einstellungs- und Verhaltensweisen umfassenden Datenbank Rechnung getragen.

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2 Theorie und Methodik

konstruktive Kritik). In der vorliegenden Studie soll die in bisherigen kollektivbiografischen Arbeiten umgangene Frage nach der NS-Einstellung des Kollektivs gezielt untersucht werden: Wie kann diese für eine so große Personengruppe untersucht werden? Die besondere Herausforderung der Thematik liegt darin begründet, dass es sich bei der ,Einstellung zum NS(-Staat)‘ um einen Sachverhalt handelt, der im Personeninneren liegt und sich somit einer unmittelbaren Wahrnehmung entzieht: Ob eine Person NSDAP-Mitglied war, wie sie im NS-Regime gehandelt hat, kann entsprechenden Quellen direkt entnommen werden – wie sie innerlich zum Nationalsozialismus eingestellt war, ob sie diesen guthieß oder ablehnte, hingegen nicht. Bei der NS-Einstellung handelt es sich somit um ein theoretisches, latentes Konstrukt. In der Geschichtswissenschaft wurde der Frage nach der inneren NS-Haltung bislang überwiegend qualitativ nachgespürt, d.h. auf der Grundlage von Stimmungsberichten des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, Feldpostbriefen, Tagebüchern usw. – wobei selbst Tagebuchinhalte nicht zwingend der tatsächlichen Einstellung entsprochen haben müssen. Vorliegend wird demgegenüber erstmals der Versuch unternommen, dieses latente Konstrukt auf der Grundlage verschiedener beobachtbarer, empirisch verankerter Merkmale, den eigens hierfür entwickelten Indikatoren, messbar zu machen (Operationalisierung). Während es in den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der pädagogischen Diagnostik generell üblich ist, latente Konstrukte (Intelligenz, Freiheit, bestimmte Einstellungen und Gefühle usw.) mittels Indikatoren zu operationalisieren, hat diese Herangehensweise bisher kaum Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden, obgleich insgesamt eine deutliche Zunahme quantitativ ausgerichteter Vorgehensweisen zu konstatieren ist. In der Arbeit wird somit erstmals für eine Personengruppe der Versuch unternommen, die in den genannten Disziplinen gängigen empirischen Herangehensweisen zur Untersuchung ,innerer Sachverhalte‘ auf eine geschichtswissenschaftliche Fragestellung anzuwenden: Auf welche Weise können die Instrumente der empirischen Messung latenter Konstrukte retrospektiv auf historische innere Sachverhalte, d.h. auf Akteure, die nicht mehr befragt werden können, angewandt werden? Wie kann die ,NS-Einstellung‘ der Untersuchungsgruppe durch Indikatoren operationalisiert und gemessen werden? Welche Indikatoren kommen in Betracht? Welchen Ansprüchen müssen diese genügen? Und wie kann von den Indikatoren auf die individuelle Ausprägung des Einstellungs-Konstrukts rückgeschlossen werden? Dabei wird angenommen, dass durch die Verbindung von geschichtswissenschaftlicher Fragestellung und gängigen Operationalisierungs-Methoden gegenwartsbezogener Fächer ein transdisziplinärer Mehrwert bei der Untersuchung der NS-Einstellung erzielt werden kann. Auf diese Weise sucht die vorliegende Arbeit einen ersten, explorativen, synergetischen Ansatz zur Schließung einer lange bestehenden NS-Forschungslücke grundsätzlicher Reichweite zu entwickeln: der Untersuchung der inneren ,NS-Einstellung‘ der damaligen Akteure.

2.2 Methodik: Studiendesign

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Geschichtswissenschaftlich manifestiert sich die Frage nach der historischen ,NS-Einstellung‘ auf drei gesellschaftlichen Ebenen: der gesamtgesellschaftlichen (Makro-Ebene), der gruppenbiografischen (Meso-Ebene) und der individualbiografischen Dimension (Mikro-Ebene). In größerem Umfang wurde sie bisher nur auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene diskutiert, angestoßen insbesondere durch die Goldhagen-Debatte der Jahrtausendwende, die in der Diskussion um die Existenz eines spezifisch deutschen eliminatorischen Antisemitismus gipfelte. 262 Seitdem wurde sie primär im Zusammenhang mit der Untersuchung der NS-Volksgemeinschaftsideologie erörtert,263 wobei die Frage nach der Rolle des ,Überzeugungshandelns‘ stärker im Fokus stand als die Frage nach validen Möglichkeiten zur Ermittlung der ,Überzeugung‘ selbst. So wurde die ,NS-Einstellung‘ der damaligen deutschen Bevölkerung auf dieser Makro-Ebene überwiegend auf der Grundlage „methodisch unbefriedigend[er]“ Auswertungen von Feldpostbriefen, Berichten des Sicherheitsdienstes (sogenannte „Lageberichte“) oder privaten Tagebüchern, auch führender NS-Funktionäre wie Joseph Goebbels, 264 daneben NSDAP-Wahl- 265 und retrospektiven Umfrageforschungsergebnissen aus den 1980er oder 1990er Jahren untersucht.266 ,Historische Demoskopie‘ (Aly) wurde also primär mittels qualitativer Zugänge betrieben. Nur vereinzelt wurden daneben auf dieser gesamtgesellschaftlichen Ebene bereits empirische Verfahren eingesetzt, indem einzelne Indikatoren Verwendung fanden, wie etwa die Häufigkeit der Vergabe der Vornamen „Adolf“ [Hitler], „Horst“ [Wessel] und „Hermann“ [Göring/der Cherusker],267 Anrufungen des „Führers“ in Todesanzeigen gefallener Soldaten,268 Kirchenaustritte, Urteile des Volksgerichtshofs und das Sparverhalten.269 Dabei wurde sich auf sehr wenige, überwiegend sogar – methodisch unzureichend – auf einen einzigen Indikator beschränkt, der bzw. die zudem nicht validiert und somit teilweise in ihrer Operationalisierungseignung zu-

_____ 262 Vgl. zur Goldhagen-Debatte: Teil 1, Kapitel 2.1.1. 263 Vgl. die prägnante Zusammenfassung bei: Steuwer 2013, S. 525–528. 264 Aly 2007, hier S. 13. Vgl. u.a. auch: Welzer, Harald: Die Deutschen und ihr „Drittes Reich“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15 (2007), S. 21–28. URL: https://www.bpb.de/apuz/30543/diedeutschen-und-ihr-drittes-reich?p=all (15.1.2021): „Eine moderne Umfrageforschung gab es vor 70 Jahren noch nicht, und die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte, die das Regime regelmäßig erhob, sind von nur begrenzter Aussagekraft, da sie erstens stark die subjektiven Auffassungen der Berichterstatter spiegeln und zweitens nicht nur als Untersuchungs-, sondern zugleich als Steuerungsinstrument der öffentlichen Stimmung gedacht waren und insofern erheblich verzerrt sind.“ 265 Vgl. Falter 1991. 266 Vgl. Neitzel/Welzer 2014, S. 61f; Welzer, Harald: Die Deutschen und ihr „Drittes Reich“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15 (2007), S. 21–28. URL: https://www.bpb.de/apuz/30543/diedeutschen-und-ihr-drittes-reich?p=all (15.1.2021). 267 Vgl. Wolffsohn/Brechenmacher 1999, v.a. S. 211–262. 268 Vgl. Kershaw 1980/2003. 269 Vgl. zu allen diesen Indikatoren: Aly (Hrsg.) 2007.

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2 Theorie und Methodik

recht hinterfragt wurden.270 Gleichwohl wurde auf dieser gesamtgesellschaftlichen Ebene bereits 2006 darauf aufmerksam gemacht, dass sich die „indirekte Messung von ,Stimmung‘ mittels heterogener Indikatoren […] als viel geeigneter [erweist] als die – wie auch immer durchgeführte – inhaltsanalytische Bearbeitung wie auch immer gearteter ,Stimmungs-Berichte‘ welcher Provenienz auch immer.“271 Letztendlich manifestiert sich die ,NS-Einstellung‘ stets auf der individualbiografischen Dimension (Mikro-Ebene), schließlich konstituieren sich gesellschaftliche Aggregate unterschiedlicher Größe bis hin zur Gesamtgesellschaft stets aus verschieden großen Anzahlen von Individuen. Jede einzelne Person des ,Dritten Reichs‘ entschied sich trotz aller gesellschaftlichen, strukturellen Einflussfaktoren individuell für oder gegen den Nationalsozialismus, war NS-euphorisiert, bejahte den NS(-Staat), nahm eine ambivalente Haltung ein oder lehnte das neue Regime ab. Im Rahmen umfänglicher individualbiografischer Studien zu Akteuren des ,Dritten Reichs‘ ließ sich die Frage nach der ,NS-Einstellung‘ aufgrund der Möglichkeit zur sehr intensiven Auseinandersetzung mit der einzelnen im Fokus stehenden Person bisher am besten beantworten, wobei ausschließlich qualitative Methoden Anwendung fanden, indem die Haltung aus Ego-Dokumenten (Tagebüchern, Feldpostbriefen, Vernehmungsprotokollen, Autobiografien usw.) (re)konstruiert wurde. In solchen Zugriffen liegt die Gefahr, Formulierungen des untersuchten Akteurs allzu schnell als direktes Spiegelbild dessen Einstellung zu interpretieren. Auch hier wären also (ergänzend) quantifizierbare Mess-Indikatoren, ein objektiviertes Messverfahren wünschenswert. Dies gilt in besonderer Weise für kollektivbiografische Studien (Meso-Ebene), in deren Rahmen große Personengruppen des ,Dritten Reichs‘ untersucht werden. Ausschließlich qualitative Zugänge über die oben genannten Quellengattungen eignen bereits aus pragmatischen Gründen kaum, sofern diese für die Untersuchungsgruppe nicht flächendeckend vorliegen bzw. die Untersuchungsgruppe nicht explizit nach deren Vorhandensein (z.B. Tagebücher) zugeschnitten ist.272 Allgemeine ,Stimmungs-Berichte‘, Feldpostbriefe oder in privaten Tagebüchern führender NS-Funktionäre festgehaltene Einschätzungen zur Stimmungslage in der Gesamtbevölkerung können keine Gültigkeit für die jeweilige Untersuchungsgruppe beanspruchen. Auch erweist sich die nuancierte (Re-)Konstruktion der Lebens- und Einstellungswelt bei allzu großen Personengruppen aus arbeitsökonomischen Gründen als nicht realisierbar. Und so wurde die Frage nach der ,NS-Haltung‘ der Akteure in

_____ 270 Vgl. Spoerer, Mark: Rezension zu: Götz Aly (Hrsg.): Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2006. In: H-Soz-Kult (27.2.2007). URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9639 (15.1.2021). 271 Müller 2007 (Erstveröffentlichung 2006), S. 128f. 272 Eine Ausnahme stellt beispielsweise die Auswertung von Abhörprotokollen sich in Gefangenschaft befindender Wehrmachtsoffiziere dar: Neitzel 2012; Neitzel/Welzer 2014.

2.2 Methodik: Studiendesign

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kollektivbiografischen Arbeiten bisher größtenteils ausgeklammert, die Frage nach der ,Einstellung‘ mit praktizierten ,Handlungen‘ vermengt oder durch die Analyse soziostruktureller Zusammensetzungen ersetzt. 273 Empirisch-quantitative Ansätze wurden bisher nicht realisiert. Trotz dieses Defizits wurde die Bedeutung der ,NSEinstellung‘, insbesondere der ideologischen NS-Nähe im NS-Handlungszusammenhang zuletzt auch in kollektivbiografischen Arbeiten zugunsten soziokultureller und gruppendynamischer Bedingungsfaktoren relativiert. Insgesamt weist die mittlere Gesellschaftsebene im Hinblick auf die NS-Einstellungsforschung den größten Bedarf auf. In diesem Sinne sucht die vorliegende Arbeit einen ersten, explorativen Versuch zur Indikatoren-basierten Überzeugungs-Messung anhand der 1933 bis 1945 tätigen evangelisch-lutherischen Pastorenschaft Schleswig-Holsteins zu leisten. Schließlich eröffnen – das sei ausdrücklich hervorgehoben – gerade große, auf einer breiten Quellenbasis untersuchte Personengruppen die Möglichkeit nicht nur zur empirisch fundierten Generierung, sondern auch zur wichtigen, anschließenden Validierung (Eignungsprüfung) von Mess-Indikatoren auf der Grundlage umfangreicher Datensätze. Durch welche Indikatoren kann die ,NS-Überzeugung‘ operationalisiert werden? Wie kann ein empirisch fundiertes, Indikatoren-basiertes Mess-Modell, das Aussagen über einen möglichst großen Teils der Untersuchungsgruppe zulässt, aussehen? Und welcher Stellenwert ist der ,Überzeugung‘ im Rahmen des ,Handelns‘ beizumessen? Die Ergebnisse der Arbeit legen – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen – nahe, dass die Einstellung einschließlich der ideologischen Nähe für die vorliegende Untersuchungsgruppe eine erhebliche Rolle im Rahmen der Erklärung NS-konformen bzw. weitreichenderen (nicht jedoch punktuellen) oppositionellen Verhaltens spielte, worauf starke Übereinstimmungen zwischen NS-Handeln und NS-Haltung hindeuten. Nachfolgend wird zunächst die entwickelte Methodik der Generierung und Validierung der Indikatoren vorgestellt (Teil 1, Kapitel 2.2.3.1), anschließend die der Entwicklung eines auf den Indikatoren aufbauenden, diese verarbeitenden Modells, mit dem die ,NS-Überzeugung‘ gemessen werden kann (Teil 1, Kapitel 2.2.3.2). Im personalen Ergebnisteil der Arbeit erfolgt die kollektive Auswertung der ,Überzeugungs‘-Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe einschließlich der Untersuchung des Zusammenhangs von Handeln und Einstellung (Teil 2, Kapitel 2.3), die eingehende Besprechung und Validierung der einzelnen Mess-Indikatoren wird in Teil 3, A2 und C2 vorgenommen. Abschließend ist festzuhalten: Unter dem Terminus der ,NS-Überzeugung‘ wird der Glaube an die Richtigkeit bzw. Falschheit des Nationalsozialismus, die innerliche Bejahung oder Verwerfung desselben verstanden. Erkennbar wird: Die ,Über-

_____ 273 Vgl. Teil 1, Kapitel 2.1.1 und Kapitel 2.2.5.

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2 Theorie und Methodik

zeugung‘ wird über zwei Grundformen operationalisiert (,Zwei-Säulen-Modell‘), die als ,NS-Zustimmung‘ und ,NS-Ablehnung‘ definiert werden und die in Reinform oder Kombinationsvarianten denkbar sind. In diesem Sinne werden künftig auch – sofern nicht ausdrücklich anders gesagt – verwandte Begriffe wie ,Haltung‘ oder ,Einstellung‘ gebraucht. Für eine dritte Grundhaltung, die sich in einer ,Neutralität‘ manifestieren würde, ließen sich keine Indikatoren generieren. Für keinen einzigen Pastor konnten Informationen zu einer neutralen, einer gleichgültigen Einstellung ermittelt werden. Inwiefern der sehr polarisierende Nationalsozialismus in einer stark politisierten Zeit – ab 1933 zudem als totalitäres, in die Lebenswirklichkeit aller direkt und massiv eingreifendes Staatsprinzip – überhaupt das Entstehen von Neutralität, von Gleichgültigkeit zuließ, kann hier nicht diskutiert werden. In Abgrenzung dazu wird unter ,NS-Überzeugung‘ somit die in einem bestimmten Ausmaß ,zustimmende‘ und/oder ,ablehnende‘ Bewertung des Nationalsozialismus verstanden. 274 Diesen beiden Überzeugungsgrundformen (,NS-Zustimmung‘; ,NS-Ablehnung‘) ließen sich die einzelnen Indikatoren zuordnen, wobei sich beim darauf aufbauenden Mess-Modell aus den vielfältigen Intensitäts- und Kombinationsvarianten sehr verschiedene personale Überzeugungsgesamtbilder ergaben.275

2.2.3.1 Generierung und Validierung von NS-Überzeugungs-Indikatoren Manche Typen der NS-Handlungstypologie lassen Rückschlüsse auf die innere Einstellung zum Nationalsozialismus zu und konnten somit als Indikatoren für die ,NSÜberzeugung‘ generiert bzw. herangezogen werden. Nachfolgend sind die grundsätzlichen Fragen der Methodik der Merkmalsgenerierung und Merkmalsvalidierung zu erörtern, die für alle ,Zustimmungsindikatoren‘ (A2) wie ,Ablehnungsindikatoren‘ (C2) gelten. In Teil 3, A2 und C2 werden die einzelnen Indikatoren validiert und ausgewertet. Wie bereits angedeutet: Aufgabe der Indikatoren ist es, das latente, selbst nicht direkt wahrnehmbare Konstrukt der ,NS-Überzeugung‘ sichtbar und auswertbar zu machen, also zu operationalisieren. Ein Indikator kann definiert werden als „Gegenstand, dessen Vorhandensein es erlaubt, auf die Anwesenheit eines anderen Gegenstandes zu schließen“:276 „Ergebnis der Operationalisierung ist die Festlegung eines Indikators, der das gemeinte, aber nicht unmittelbar beobachtbare Phänomen anzeigt.“277 Indikatoren lassen sich somit als überindividuell gültige Messgröße begreifen.

_____ 274 Vgl. zur Definitionsvielfalt von ,Einstellungen‘: Six, Bernd: Einstellungen. URL: https://www. spektrum.de/lexikon/psychologie/einstellungen/3914 (15.1.2021). 275 Eine (ggf. extrem überzeugungsstarke) ,Ambivalenz‘ ist nicht mit ,Neutralität‘ zu verwechseln. 276 Lorenz/Schroeder-Heister 2008, S. 580. 277 Schröder 1985, S. 11.

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Bei der Entwicklung und anschließenden Validierung des Merkmalskatalogs konnte auf einen gewaltigen Pool empirischer Daten zurückgegriffen werden, der sich aus den vielen Einzelinformationen zu den 729 schleswig-holsteinischen Geistlichen konstituiert. Nicht zur Verfügung standen dagegen bereits vorgefertigte, serielle Datenreihen, die als „numerisch erstarrte Ausflüsse der damaligen politischen Stimmungslagen“278 hätten verwendet werden können. Vielmehr waren die einzelnen, potenziellen Indikatoren – wie alle anderen Handlungstypen – eigens aus dem Informationspool heraus zu bilden und jedes einzelne Phänomen einzeln zuzuordnen. Bei der Indikatoren-Suche konnte sich nicht an Vorstudien orientiert werden. Zwar existieren, wie erwähnt, einige wenige der ,historischen Demoskopie‘ (Aly) zuzurechnende Arbeiten – diese beschränken sich jedoch auf die Abbildung der Grundstimmung in der gesamten deutschen Bevölkerung, nicht auf die Messung der ,NS-Überzeugung‘ einer konkreten Untersuchungsgruppe, und zudem auf einzelne, wenige ausgewählte Merkmale (Kindernamensgebung, Anrufung des ,Führers‘ in Todesanzeigen gefallener Soldaten, Kirchenaustritte, Urteile des Volksgerichtshofs, Sparverhalten), die aus inhaltlichen und/oder quellentechnischen Gründen nicht auf die vorliegende Untersuchungsgruppe angewendet werden konnten. In kollektivbiografischen Arbeiten wurde ein solcher Operationalisierungs-Ansatz bisher nicht realisiert – obwohl sich – wie nicht oft genug betont werden kann – gerade kollektivbiografische Arbeiten mit großen Datensätzen für die Entwicklung und Validierung empirisch verankerter Mess-Indikatoren eignen. Die in der vorliegenden Arbeit unternommene Operationalisierung und Messung der ,NS-Überzeugung‘ mittels eines Katalogs verschiedener Überzeugungsmerkmale ist als erster Versuch eines solchen Vorgehens zu bezeichnen, als explorative Grundlagenforschung.279 Konkret wurden für die Operationalisierung des Konstrukts der ,NS-Überzeugung‘ (A2 und C2) mittels verschiedener Indikatoren Grundprinzipien der sozialwissenschaftlichen bzw. psychologisch-pädagogischen Diagnostik280 adaptiert und im Hinblick auf das Anliegen ,historischer Demoskopie‘ modifiziert. Die leitende Frage des Operationalisierungsprozesses lautete: Durch welche Indikatoren (Handlungstypen) kann die innere ,NS-Überzeugung‘ in Form von ,NS-Zustimmung‘ (A2) und ,NS-Ablehnung‘ (C2) empirisch belastbar erfasst und für das Gesamtkollektiv der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft einer Auswertung zugeführt werden? Schlussendlich konnte 36 Indikatoren281 nach umfänglicher Prüfung eine Operationalisierungseignung attestiert werden. Diese begründen den Merkmalskatalog, auf dessen Grundlage der Versuch unternommen wurde, das theoretische Konstrukt der

_____ 278 Aly 2007, S. 15. 279 Vgl. zur Mess-Modellierung: Teil 1, Kapitel 2.2.3.2; zur kollektiven Überzeugungsauswertung: Teil 2, Kapitel 2.3. 280 Vgl. allgemein: Krohne/Hock 2015. 281 Vgl. Teil 3, A2 und C2.

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,NS-Überzeugung‘ über die beiden Grundformen der ,NS-Zustimmung‘ und ,NSAblehnung‘ für ein großes Personenkollektiv auf einem empirisch gesicherten Fundament abzubilden und zu messen. Dem handlungstheoretischen Zugriff der Arbeit entsprechend lassen sich die Indikatoren als handlungsbasierte Merkmale charakterisieren, wobei neben Formen des Behandeltwerdens überwiegend solche Handlungsweisen in Betracht kamen, die nicht als öffentliche, ,praktizierte‘ Formen der ,NS-Konformität‘ (A1) einzustufen waren oder über punktuelle ,Politisch-ideologische NS-Nonkonformität‘ (C1) hinausgingen. Dieser Unterscheidung kommt aus den erwähnten Gründen des potenziellen Einflusses der ,sozialen Erwünschtheit‘ insbesondere im Hinblick auf die ,NS-Konformität‘ (A) große Bedeutung zu: Während bei NS-konformem Handeln als Movens theoretisch bloße Anpassung infrage kam, dürften NS-nonkonforme Handlungen, die der (staatlichen) Erwünschtheit entgegenliefen, grundsätzlich, so die Annahme, der Meinung entsprochen haben – ohne notwendigerweise auf eine ,NSAblehnung‘ rekurrieren zu müssen: Systemimmanente Kritik konnte auch wohlwollenden, vermeintlich konstruktiven Charakter aufweisen. Trotz dieser prinzipiellen Unterscheidung zwischen den Bereichen A1 und A2 sowie C1 und C2 waren insbesondere einige als ,Praktizierte NS-Konformität‘ (A1) klassifizierte Verhaltensweisen zusätzlich als Merkmal für eine ,NS-Überzeugung‘ zu werten. Bei diesen überschritt die ,praktizierte‘ Handlung (A1) deutlich die Grenzen von Anpassung und sozialer Erwünschtheit bzw. war erkennbar als nicht mehr systemimmanent zu lösende Opposition erkennbar (C1). Inhaltlich beziehen sich diese Interferenzen (A1-A2 bzw. C1-C2) zum einen auf einzelne, aufgrund ihrer qualitativen Beschaffenheit und/oder ihres Aktualisierungszeitpunktes herangezogene Handlungstypen, wie u.a. das ,NS-Engagement vor 1933‘ (Teil 3, A1-Typ (9)), die ,Mitgliedschaft in und/oder Engagement für die Deutschkirche‘ (A1-Typen (7) und (23)) sowie vorgenommene ,Denunziationen‘ (A1Typ (20)) bzw. ,freiwillige NS-Austritte‘ (C1-Typ (96)). Neben diesen beiden Faktoren ,Zeitpunkt‘ (signifikante ,praktizierte NS-Konformität‘, A1, vor der ,Machtergreifung‘) und ,Qualität‘ (etwa ,freiwilliger NS-Austritt‘, C1) lassen sich zum anderen dem quantitativen Ausmaß des ,praktizierten‘ Engagements für (A1) bzw. gegen (C1) den NS(-Staat) Hinweise auf die ,NS-Überzeugung‘ des betreffenden Geistlichen entnehmen. So verweist die Kombination mehrerer A1- bzw. C1-Typen auf eine entsprechende ,Überzeugung‘: beispielsweise ,Doppelmitgliedschaften in NSDAP/SA/SS‘; Anzahl bekleideter ,Ämter/Ränge‘ unter Berücksichtigung von ,Tätigkeiten‘ innerhalb der NSDAP und ihrer Verbände; Anzahl aktualisierter Handlungstypen aus dem Bereich der ,NS-konformen Führung des Pfarramtes‘ usw. (A2); mehrere Typen der radikalen ,praktizierten politischideologischen NS-Nonkonformität‘ (C1), die in ihrer Kombination den Rahmen punktueller, potenziell konstruktiver Kritik sprengten (C2). Tatsächlich kommt dem quantitativen Aspekt (Aktualisierung vieler A1- bzw. C1-Typen) – gemäß dem der Arbeit zugrunde liegenden handlungstheoretischen

2.2 Methodik: Studiendesign

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Zugriff – im Radikalitätszusammenhang besonderes Gewicht zu: Radikales NSEngagement manifestierte sich in der Regel in der Aktualisierung mehrerer verschiedener Typen, sehr viel seltener in vielfachen Aktualisierungen nur ein und desselben Typs. Dabei war die Frage, wo potenzielles ,Mitläufertum‘ bzw. bloße, wenn auch stets aktive ,Anpassung‘ (soziale Erwünschtheit) endete und ,Überanpassung‘ als radikale ,praktizierte NS-Konformität‘ begann bzw. ab welchem Umfang nonkonformes Handeln Rückschlüsse auf eine tatsächliche NS-Ablehnung zulässt, der fragliche quantitative Zustimmungs- bzw. Ablehnungsindikator somit als aktualisiert zu werten war, für jeden quantitativ angelegten Indikator einzeln zu prüfen und festzusetzen. Dieselben drei Faktoren (Zeitpunkt, Qualität, Quantität) benennt auch Stephan Alexander Glienke in seiner Studie über die niedersächsischen Landtagsabgeordneten der Nachkriegszeit im Hinblick auf die NS-Zustimmung – freilich ohne die ,NSÜberzeugung‘ näher zu untersuchen: Mehrere Indikatoren deuten […] in ihrer Kombination auf den Grad der Selbstidentifikation der Betroffenen mit dem Nationalsozialismus hin: Art, Umfang und Qualität der Mitgliedschaften und das Datum des Parteieintritts sowie die Zahl der Mitgliedschaften in NS-Gliederungen und das über eine bloße Mitgliedschaft hinausreichende Engagement für die Ziele des Nationalsozialismus. Generell deutet ein frühzeitiger Parteibeitritt auf ein höheres Maß an Identifikation mit dem Nationalsozialismus hin als ein späterer.282

Für Pastoren bergen diese Aspekte (Beitrittszeitpunkte; Art und Anzahl von NSMitgliedschaften; Ausmaß des NS-konformen Engagements innerhalb und außerhalb von NS-Organisationen) im Hinblick auf die Abbildung der ,NS-Überzeugung‘ eine noch deutlich größere Aussagekraft als für die meisten anderen Kollektive bzw. Individuen – schließlich blieb der NS-staatliche Einfluss auf die Kirchen begrenzt, die Trennung von Kirche und Staat prinzipiell erhalten (Faktor Berufsgruppenspezifität). Radikale und/oder frühe Formen nationalsozialistischer Betätigungen deuten für die einen gesicherten Beruf ausübenden (oder sich für einen solchen ausbilden lassenden283) Theologen somit prinzipiell mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine ,NS-Zustimmung‘ hin, die sich aufgrund der weitgehenden Unabhängigkeit der Kirchen vom NS-Staat NS-Tätigkeiten völlig sanktionslos entziehen konnten, und für

_____ 282 Glienke 2012, S. 17. Glienke ergänzt jedoch, dass Rückschlüsse auf die innere Haltung „nur im Einzelfall unter Erwägung der möglichst gesamten Lebenssituation des Betroffenen gezogen werden“ könnten, da beispielsweise zwar ein früher Parteieintritt auf ein höheres Maß an NSIdentifikation hindeute, sich jedoch „auch unter jenen, die der Partei erst 1933 beitraten, Personen befunden haben können, die erst nach dem Sieg der NSDAP bereit waren, sich nun öffentlich zu ihr zu bekennen, mit der sie möglicherweise bereits seit längerer Zeit sympathisiert hatten.“ Aus diesem Grund erfolgten die Überzeugungsklassifikationen in der vorliegenden Arbeit auf der Grundlage eines umfangreichen Katalogs an Indikatoren. 283 Vgl. für diese Gruppe auch Mensing 1999, S. 43–71, v.a. S. 54.

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die NS-konformes Agieren zudem kaum pragmatische Vorteile (Opportunismus) mit sich brachte.284 Unterstreichen lässt sich diese Annahme bezüglich des Ausmaßes ,NS-konformen Handelns‘ aus ,Überzeugung‘ heraus durch die signifikanten Korrelationen der Chiffren A1 und A2 im Rahmen der personalen Klassifikation bzw. der Anzahlen der A1- und A2-Handlungstypen insgesamt (jeweils auch unter Ausklammerung der aus ,praktizierter NS-Konformität‘, A1, resultierenden Indikatoren).285 Die meisten der insgesamt 36 Indikatoren waren nicht zugleich als Ausdruck einer öffentlichen, praktizierten ,Handlung‘ (A1, C1) zu werten. Vielmehr kann die Mehrheit der Indikatoren als Form indirekter oder direkter Bescheinigungen oder Bekundungen der ,NS-Zustimmung‘ (A2; z.B. ,Beförderungen‘ bzw. ,Ämterübertragungen‘ im landeskirchlichen oder nichtkirchlichen Raum) bzw. ,NS-Ablehnung‘ (C2; u.a. ,Ablehnung von NS-Ideologemen; ,Bekundete NS-Ablehnung‘) charakterisiert werden. Daneben wurden als Zustimmungsindikatoren auch NS-konforme Verhaltensweisen gewertet, die (a) nicht vorgeschrieben, (b) im privaten bis maximal halböffentlichen Raum zu verorten waren (wodurch sie nicht zusätzlich unter die Subkategorie ,Praktizierte NS-Konformität‘, A1, fielen), und bei denen zudem (c) ein opportunistisches Movens auszuschließen war, sodass ,NS-Zustimmung‘ als Movens näher lag als Handeln nach ,sozialer Erwünschtheit‘ – beispielsweise bei der Verwendung des ,Hitlergrußes im innerkirchlichen Schriftverkehr‘. Die Eignung eines jeden für die Operationalisierung von ,NS-Überzeugung‘ potenziell infrage kommenden Handlungstyps war eingehend zu prüfen. Hierfür wurden sich an den innerhalb der empirischen Forschung, v.a. der psychologischpädagogischen Diagnostik, üblichen Gütekriterien (insbesondere der Validität) orientierende Richtlinien entwickelt,286 anhand derer über die Aufnahme eines potenziellen Indikators in den Katalog entschieden wurde. Die Gütekriterien selbst waren aufgrund der Beschaffenheit der zur Verfügung stehenden, historischen Daten notwendigerweise nicht direkt übertragbar bzw. nicht voll einzulösen, manche sogar gänzlich ungeeignet, da kein Probanden vorzulegender Test oder Fragebogen verwendet werden konnte, sondern vielmehr der Versuch unternommen wurde, die ,NS-Überzeugung‘ bereits verstorbener Personen auf der Grundlage des überlieferten Quellenmaterials zu rekonstruieren bzw. auf einer empirischen Grundlage messbar zu machen. Gerade deswegen sollte auf diesen wichtigen Schritt der Eignungs-

_____ 284 So wurde beispielsweise kein Pastor aufgrund einer fehlenden Parteimitgliedschaft bzw. neutraler ,NS-Passivität‘ sanktioniert bzw. nicht in den landeskirchlichen Dienst übernommen; weitreichendere Sanktionen waren überwiegend erst bei (jahrelangem) NS-nonkonformem Engagement zu erwarten. Für innerkirchliche Beförderungen jedoch waren NS-Betätigungen sehr dienlich, wie noch aufzuzeigen sein wird. 285 Vgl. Teil 2, Kapitel 2.3. 286 Vgl. hier und im Folgenden zu den Gütekriterien: Krohne/Hock 2015, S. 25–85; bündig zusammengefasst bei: Moosbrugger/Kelava (Hrsg.) 2012, S. 8–26.

2.2 Methodik: Studiendesign

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prüfung der potenziellen Indikatoren nicht verzichtet werden: Nur so kann die Operationalisierungseignung der Indikatoren über den Status einer bloßen Hypothese gehoben werden.287 Das wichtigste Kriterium, dem die Handlungstypen genügen mussten, um als Zustimmungs- oder Ablehnungsindikator herangezogen werden zu können, war das ihrer Gültigkeit (Validität): Eignet sich der Handlungstyp tatsächlich zur Abbildung des latenten Konstrukts der ,NS-Überzeugung‘? Die Eignungsprüfung wurde auf zwei Säulen abgestellt. Zur Aufnahme in den Katalog musste das potenzielle Merkmal beide Kriterien erfüllen. Beide Prüfungsschritte basieren auf den bzw. werden ermöglicht durch die vorliegenden, enormen Datenmengen zur Untersuchungsgruppe. Beim ersten Prüfschritt wurde die Operationalisierungseignung vor dem Hintergrund des historischen Kontextes evaluiert (qualitative Prüfung): Erlauben die allgemeinen zeithistorischen Umstände, berufsgruppenspezifischen, landeskirchlichen und innergemeindlichen sowie staatlichen Rahmenbedingungen, auch im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen und Berufsgruppen, die Aufnahme des Handlungstyps als Merkmal innerer ,NS-Überzeugung‘ der Untersuchungsgruppe? Diese Frage war stets auf der Grundlage aller Kollektivmitglieder (gesamter Informationspool) bzw. der durch sie und anhand ihnen erkennbar werdenden, strukturellen Rahmenbedingungen zu beantworten. Dabei zu berücksichtigen war auch die Frage nach dem Öffentlichkeitsgrad des Phänomens: Privat bis allenfalls halböffentlich aktualisierte NS-konforme Phänomene führten nahezu grundsätzlich zur Erfassung in einem potenziellen Zustimmungsindikator. Zu diesem Aktualisierungsrahmen gehörte ferner die Auswertung der Begründungszusammenhänge: Welcher Pastor stand wie und warum im Zusammenhang mit dem potenziellen Indikator? Sprechen die vorliegenden Quelleninformationen für eine Eignung oder nicht? Beispielsweise stellte sich beim potenziellen, schlussendlich verworfenen Merkmal ,NS-Kindernamensgebungen 1930–1945‘ (wer nannte sein Kind Adolf (nach Hitler), Hermann (nach Göring bzw. dem Cherusker) oder Horst (nach Wessel) heraus,288 dass die wenigen entsprechenden Namensgebungen vielfach auf Väter und Vorväter zurückzuführen sein dürften. So nannte FRIEDRICH HEß (BK, voller Vorname: FRIEDRICH FRANZ ADOLF) seinen im April 1931

_____ 287 Da der vorliegende Versuch der Validierung von Indikatoren innerhalb der Geschichtswissenschaft ein Novum darstellt, konnte auch hierbei nicht auf Vorstudien zu anderen Untersuchungsgruppen oder Kriterienkatalogen zurückgegriffen werden. Umso dankbarer bin ich, dass Herr Prof. Dr. Peter Graeff (Soziologie und empirische Sozialforschung der CAU) sich gerne dazu bereitgefunden hat, die Methodik der Validitätsprüfung detailliert durchzusprechen. Für seine vielen hilfreichen Anmerkungen danke ich herzlich. Auch Prof. Dr. Mario Hasler (Variationsstatistik der CAU) danke ich für seine Anmerkungen. 288 Vgl. Teil 3, Handlungstyp (69): ,[NS-Kindernamensgebung 1930–1945]‘.

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geborenen Sohn Adolf; ebenso FRIEDRICH ADOLF BRUNN (BK) seinen Sohn Adolf Friedrich (1940); HERMANN HAHNKAMP (DC) den seinigen Fritz-Hermann (1937) usw. Folglich ließen sich hier in signifikantem Ausmaß andere, nicht auf NS-Konformität rekurrierende Motive ausmachen, die eine Aufnahme als Indikator verhinderten. Dieser erste, qualitative Validierungsschritt lässt sich als Annäherung an das Gütekriterium der äußeren Kriteriumsvalidität definieren: Der historische, gesamtgesellschaftliche wie insbesondere berufsgruppenspezifische, anhand der Untersuchungsgruppe ausgeleuchtete Kontext einschließlich des Aktualisierungsrahmens (öffentlich oder halböffentlich/privat; konkrete Aktualisierungszusammenhänge) fungiert als objektiver, außerhalb des Kriterienkatalogs liegender Maßstab, mit dem der potenzielle Indikator inhaltlich übereinstimmen musste: Ist die Aufnahme als Merkmal vor diesem Hintergrund plausibel? Nach diesem ersten inhaltlichen, qualitativen Schritt wurde die Eignung jedes potenziellen Merkmals zweitens durch die Untersuchung der Existenz von statistischen Zusammenhängen mit eigens aus dem Datenpool heraus entwickelten Prüfkriterien evaluiert. Dieser zweite Schritt der Validitätsprüfung ähnelt dem der Konstruktvalidierung. So wurde davon ausgegangen, dass möglichst hohe, positive Übereinstimmungen des potenziellen Indikators mit den mutmaßlich dieselbe Positionierungsform abbildenden Prüfkriterien – bei Zustimmungsindikatoren mit den ,NS-konformen‘, bei Ablehnungsindikatoren mit den ,politisch-ideologisch NSnonkonformen‘ Prüfkriterien; Konvergenzvalidität als Sonderform der Konstruktvalidität – ebenso für die Eignung sprechen, wie gleichzeitig möglichst niedrige, negative Zusammenhänge mit den Prüfkriterien der jeweils konträren Positionierungsform: bei Zustimmungsindikatoren mit den ,politisch-ideologisch NS-nonkonformen‘ und bei den Ablehnungsindikatoren mit den ,NS-konformen‘ Prüfkriterien: Diskriminanzvalidität als weitere Sonderform der Konstruktvalidität. Ein solches Zusammengehen von Konstrukt- und Diskriminanzvalidität bei ein und demselben potenziellen Indikator spricht, so die Annahme, deutlich für die Trennschärfe des Merkmals und damit dafür, dass die entsprechende Überzeugungsgrundform (NS-Zustimmung oder NS-Ablehnung) korrekt angezeigt wird. Zustimmungs- und Ab-lehnungsindikatoren sind dabei durch dieselben Prüfkriterien validierbar, die in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des potenziellen Indikators (Zustimmungs- oder Ablehnungsmerkmal) entweder der Konvergenzvalidierung oder der Diskriminanzvalidierung dienen. Interpretierbar wurden die Übereinstimmungszusammenhänge (positive sowie negative) durch den Abgleich mit einer Referenzgruppe als komparative Bezugsgröße. So wurden für jedes potenzielle Merkmal stets die Zusammenhänge mit dem Prüfkriterium zwischen den das fragliche Merkmal aufweisenden Geistlichen im Vergleich zu den jeweils restlichen Geistlichen der Untersuchungsgruppe geprüft. Als Referenzgruppe wurde also grundsätzlich die jeweilige Untersuchungsgruppe abzüglich derjenigen Geistlichen mit nachgewiesenem Indikator herangezogen. Zum Beispiel: Ein gegenüber der Referenzgruppe deutlich erhöhter Aktualisie-

2.2 Methodik: Studiendesign

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rungsanteil des ,NS-konformen‘ Prüfkriteriums unter denjenigen Geistlichen, für die ein potenzieller Zustimmungsindikator nachgewiesen wurde, sprach ebenso für dessen Validität wie gegenüber der Referenzgruppe erkennbar reduzierte Zusammenhangsstärken mit einem nonkonformen Prüfkriterium. Dabei wurde darauf verzichtet, die jeweilige Referenzgruppe durch den Ausschluss derjenigen Geistlichen weiter zu verkleinern, die den fraglichen Indikator nicht hätten aktualisieren können289 oder über deren mögliche Aktualisierung keinerlei Informationen gewonnen werden konnten,290 da dies nicht für jeden Indikator sinnvoll hätte umgesetzt werden können.291 Jedoch wurde als zweite Referenzgruppe zusätzlich zur ersten Referenzgruppe die direkte Gegengruppe herangezogen, sofern eine solche gebildet werden konnte. Beispielsweise fungierte der Ablehnungsindikator ,Entlassung aus Amt/Dienst 1933–1945‘ (C2-Typ (110)) als Gegengruppe zum Zustimmungsindikator ,Landeskirchliche Beförderungen und Ämterübertragungen 1933–1945‘ (A2-Typ (58)). Im Rahmen der Konstruktvalidierung sollten die Unterschiede zur direkten Gegengruppe noch größer ausfallen als zur ersten Referenzgruppe. Der Entwicklung der Prüfkriterien selbst lagen qualitative Überlegungen und Abwägungen zugrunde. Schlussendlich wurden sechs Prüfkriterien bestätigt. Diese lassen sich in ,prozentuale‘ und ,absolute Prüfkriterien‘ unterscheiden: Bei ersteren waren relative Anteile, bei letzteren absolute Anzahlen relevant. Erstere rekurrieren auf den Grad des Vorhandenseins ausgewählter personaler NS-Positionierungsformen (POS 1: ,NS-Aktivisten‘; POS 7 oder 8: ,NS-Dissidenten‘; POS 10: ,NichtZuordenbare‘); letztere handlungsbasiert auf das Zusammenhangsmaß von Indikatorengruppen (Anzahl Zustimmungsindikatoren; Anzahl Ablehnungsindikatoren; Verhältnis der beiden Gruppen zueinander unter Berücksichtigung der Gewichtung nach ,weichen‘ und ,starken Indikatoren‘). Konkret wurde durch die ,prozentualen Prüfkriterien‘ untersucht: –



wie viel Prozent der Geistlichen, die den potenziellen Indikator aktualisierten, waren im Rahmen der personalen Klassifikation als radikale ,NS-Aktivisten‘ (POS 1) zu klassifizieren? → Validitätsargument: bei Zustimmungsindikatoren gegenüber der/den Referenzgruppe/n erhöhte Anteile (Konvergenzvalidität), bei Ablehnungsindikatoren reduzierte Anteile (Diskriminanzvalidität) wie viel Prozent der Geistlichen, die den potenziellen Indikator aktualisierten, waren im Rahmen der personalen Klassifikation als ,resistent‘ oder ,wider-

_____ 289 Beispielhaft sei auf die sich auf die Entnazifizierung beziehenden Indikatoren verwiesen, bei denen aus der Referenzgruppe die von der Entnazifizierung nicht Betroffenen (Ruhestand, Wohnortwechsel, Kriegsgefangenschaft, Tod, Vermissten-Status) auszuschließen wären. 290 Z.B. bei Fehlen einer jeglichen Quellengrundlage für einen Geistlichen. 291 Auf Limitierungen wird unten näher einzugehen sein.

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2 Theorie und Methodik

ständig‘ (POS 7 oder 8) zu klassifizieren?292 → Validitätsargument: bei Zustimmungsindikatoren gegenüber der/den Referenzgruppe/n reduzierte Anteile (Diskriminanzvalidität), bei Ablehnungsindikatoren erhöhte Anteile (Konvergenzvalidität) wie viel Prozent der Geistlichen, die den potenziellen Indikator aktualisierten, waren im Rahmen der personalen Klassifikation ,nicht zuordenbar‘ (POS 10) → Validitätsargument: sowohl von Indikatorgruppe als auch (sofern vorhanden) der Gegengruppe (d.h. der Referenzgruppe 2) gegenüber der (ersten) Referenzgruppe reduzierte Anteile

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ein erhöhter Anteil radikaler ,NSAktivisten‘, die dem NS(-Staat) mutmaßlich und auf der Grundlage des MessModells auch nachweislich besonders stark ,zugeneigt‘ waren, unter denjenigen Geistlichen, für die der zu validierende Indikator bestätigt werden konnte, bei Zustimmungsindikatoren für deren Eignung, bei Ablehnungsindikatoren für deren Nichteignung spricht. Dementsprechend zeigt ein reduzierter Anteil an ,NSAktivisten‘ bei Zustimmungsindikatoren deren Nichteignung und bei Ablehnungsindikatoren deren Eignung an. Genau umgekehrt verhält es sich im Hinblick auf den Anteil der ,NS-Dissidenten‘ unter den Geistlichen des potenziellen Indikators (,resistente‘ oder ,widerständige‘ Geistliche, POS 7 oder 8), die dem NS(-Staat) mutmaßlich und auf der Grundlage des Mess-Modells auch (überwiegend) nachweislich ,abgeneigt‘ waren.293 Daneben verweist der Anteil der ,Nicht-Zuordenbaren‘ (POS 10), so die Annahme, auf die grundsätzliche Klassifikationsrelevanz des fraglichen Indikators: Ein niedriger Anteil an ,Nicht-Zuordenbaren‘ unter den Geistlichen des fraglichen Indikators dürfte auf dessen Vernetzung mit hinreichend vielen anderen Handlungstypen der NS-Handlungs-typologie hindeuten, ein hoher Anteil hingegen auf relativ isoliertes Auftreten der Indikatornachweise, was der Relevanz und damit Eignung des Merkmals widerspräche. In eine vergleichbare Richtung zielen die ,absoluten Prüfkriterien‘ ab, wobei es bei diesen ausschließlich um die Zusammenhänge der Indikatoren (,NS-Überzeugung‘) untereinander geht. So wurden verschiedene Summenscores gebildet, die auf folgende Fragen Auskunft geben: –

wie viele Zustimmungsmerkmale haben die Geistlichen mit Nachweis des potenziellen Indikators im Durchschnitt aktualisiert? → Validitätsargument: bei Zustimmungsindikatoren gegenüber der/den Referenzgruppe/n deutlich erhöh-

_____ 292 Da nur sehr wenige Geistliche als ,Widerständler‘ – das eigentliche Pendant zu den ,NSAktivisten‘ – klassifiziert werden konnten, wurden aus statistischen Gründen die ebenfalls durch Dissens gekennzeichneten, resistenten Geistlichen in das Prüfkriterium integriert. 293 Vgl. zur ,NS-Überzeugung‘ der POS-Gruppen: Teil 2, Kapitel 2.3.

2.2 Methodik: Studiendesign





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ter Wert (Konvergenzvalidität), bei Ablehnungsindikatoren deutlich reduzierter Wert (Diskriminanzvalidität) wie viele Ablehnungsmerkmale haben die Geistlichen mit Nachweis des potenziellen Indikators im Durchschnitt aktualisiert? → Validitätsargument: bei Zustimmungsindikatoren gegenüber der/den Referenzgruppe/n deutlich reduzierter Wert (Diskriminanzvalidität), bei Ablehnungsindikatoren deutlich erhöhter Wert (Konvergenzvalidität) wie stark positiv oder negativ fällt die ,Richtungsintensität‘ der ,NSÜberzeugung‘ (gewichtete Verrechnung der Zustimmungs- und Ablehnungsindikatoren)294 der Geistlichen mit Nachweis des potenziellen Indikators aus? → Validitätsargument: bei Zustimmungsindikatoren gegenüber der/den Referenzgruppe/n deutlich erhöhter Wert, bei Ablehnungsindikatoren deutlich reduzierter (möglichst negativer) Wert295

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Zustimmungs- bzw. Ablehnungsindikatoren untereinander jeweils verstärkt positiv zusammenhängen, da sie jeweils auf dasselbe latente Konstrukt rekurrieren (,NS-Zustimmung‘ oder ,NS-Ablehnung‘), mit den Merkmalen der anderen Grundform dagegen negativ, da sich die beiden Konstrukte konträr gegenüberstehen (innere Konsistenz des Merkmalskatalogs: Messgenauigkeit). Nicht ausgeschlossen wurde bei der Summenscore-Bildung der Einfluss des geprüften Indikators (alle Geistlichen der Indikatorgruppe aktualisierten wenigstens einen Indikator: den validierten), da auch im Hinblick auf die jeweilige Indikatorund Referenzgruppe stets mit allen 36 Indikatoren validiert wurde. Die Gefahr eines Zirkelschlusses insbesondere bei diesen ,absoluten Prüfkriterien‘ der Konstruktvalidierung (Annahme der Operationalisierungseignung von Merkmal X, weil es mit den Merkmalen Y und Z positiv zusammenhängt, die als valide angesehen werden, da sie miteinander und mit X übereinstimmen) wurde zum einen durch die Untersuchung von Übereinstimmungen mit hinreichend vielen Merkmalen (schlussendlich 36) zu verringern versucht. Zum anderen wurden, wie beschrieben, stets auch die Zusammenhänge mit den konträren Indikatoren untersucht. Alle sechs Prüfkriterien (,prozentuale‘ wie ,absolute Kriterien‘) liefern im Hinblick auf den zu überprüfenden Indikator Argumente für eine Validität bzw. das Fehlen einer solchen. Während bereits bei der qualitativ orientierten Kriteriumsva-

_____ 294 Vgl. zur Bedeutung sowie Berechnung der ,Richtungsintensität‘: Teil 1, Kapitel 2.2.3.2. Auf die Gewichtung der Indikatoren wird unten detailliert eingegangen. 295 Für die frühesten Indikatoren entfiel dieser Schritt notwendigerweise zunächst, da keine Referenzen zur Verfügung standen. Bei zunehmender Indikatorenanzahl wurden alle bereits aufgenommenen Indikatoren stets fortlaufend überprüft; die in Teil 3, A2 und C2 darzustellenden Ergebnisse beruhen allesamt auf den finalen 36 Indikatoren.

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2 Theorie und Methodik

lidierung (erster Prüfschritt) der der Arbeit zugrunde liegende Datensatz relevant war, insofern Rahmenbedingungen erst vor dem Hintergrund der vielen qualitativen Informationen präzise und auf einer empirischen Grundlage ausgeleuchtet werden konnten, beruht auch die statistische Konstruktvalidierung auf diesem Datensatz: Die Validierung wird erst kollektivbiografisch auf einer breiten Personen- und Informationsgrundlage möglich. Parallel zur Validierung waren die finalen 36 Merkmale, deren Operationalisierungseignung durch die beiden vorgestellten Prüfmechanismen (Kriteriums- und Konstruktvalidierung) bestätigt werden konnte, aufgrund erkennbarer Unterschiede im Hinblick auf die Wertigkeit ihrer Aussagekraft in eine relationale Ordnung zu überführen (Gewichtung): Manchen Indikatoren kam erkennbar größere Bedeutung zu als anderen. Hierfür wurde die Unterscheidung zwischen ,starkem Indikator‘ und demgegenüber weniger aussagekräftigerem ,weichem Indikator‘ etabliert.296 Die Zuordnung erfolgte auf der Grundlage derselben beiden Prüfschritte, die bei der Eignungsprüfung der potenziellen Indikatoren zum Tragen kamen: zunächst der qualitativen Analyse der zeithistorischen Rahmenbedingungen; anschließend der Untersuchung der Stärke der statistischen Zusammenhänge mit den Prüfkriterien. Zusammenfassend kann der Vorgang der Indikatorvalidierung wie folgt dargestellt werden: –



Qualitative Prüfung des historischen Kontextes: lokale, gesamtgesellschaftliche sowie berufsgruppenspezifische Rahmenbedingungen, wie sie durch die und anhand der Mitglieder der Untersuchungsgruppe greifbar werden; besondere Berücksichtigung der Faktoren Zeitpunkt, Qualität, Öffentlichkeitsgrad und quantitative Ausprägung der Phänomene (Kriteriumsvalidität) Statistische Prüfung: Quantitative Zusammenhangsstärken der Geistlichen des potenziellen Indikators mit sechs Prüfkriterien (Konstruktvalidität; Referenzgruppe: Rest der Grundgesamtheit sowie, wenn möglich, direkte Gegengruppe) – ,Prozentuale Prüfkriterien‘ – Anteil an ,NS-Aktivisten‘ (POS 1) – Anteil an ,NS-Dissidenten‘ (,Resistente‘, POS 7, und ,Widerständige‘, POS 8) – Anteil an ,Nicht-Zuordenbaren‘ (POS 10) – ,Absolute Prüfkriterien‘ – Durchschnittliche Anzahl der Zustimmungsmerkmale – Durchschnittliche Anzahl der Ablehnungsmerkmale – Wert der ,Richtungsintensität‘ (gewichtete Verrechnung der Zustimmungs- und Ablehnungsindikatoren)

_____ 296 Im Rahmen der Überzeugungsmessung gingen erstere mit einem Wert von ,2‘ in die Berechnungen ein, letztere mit einem von ,1‘: vgl. Teil 1, Kapitel 2.2.3.2.

2.2 Methodik: Studiendesign

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Ein Merkmal wurde als valide in den Katalog aufgenommen, wenn erstens der historische (Aktualisierungs-)Kontext darauf hindeutete und zweitens die Ergebnisse der Zusammenhangsanalysen für die Teilgruppierung der das potenzielle Merkmal aktualisierenden Geistlichen signifikant über bzw. unter den Werten der Referenzgruppe(n) lagen. Abschließend sind die Limitierungen der Konstruktvalidierung zu reflektieren. Zunächst zu benennen ist die ,Missing-Problematik‘: Aufgrund der Beschaffenheit der historischen Daten konnte in der Regel aus einem Nichtnachweis eines Indikators nicht darauf geschlossen werden, dass dieser von dem betreffenden Geistlichen auch tatsächlich nicht aktualisiert worden wäre, woraus einige statistische Einschränkungen resultieren.297 So wurde aus diesem Grund im Rahmen der Untersuchung der Zusammenhangsstärken mit den Prüfkriterien auf die Berechnung von Korrelationskoeffizienten verzichtet; ebenso auf die Berechnung von Standardabweichungen, des p-Wertes sowie die Durchführung von Regressionsanalysen.298

_____ 297 Hierauf wird in Teil 1, Kapitel 4 ausführlich eingegangen. Bei einigen, nicht jedoch allen Indikatoren ist dieses Problem durch die weitere statistische Aufbereitungen der Rohdaten zu lösen. Anschließend stünden diese Indikatoren weiteren statistischen Auswertungsmethoden offen, beispielsweise einer Faktorenanalyse. 298 Insbesondere wurde die Verwendung des Chi-Quadrat-Tests zur Berechnung der ,statistischen Signifikanz‘ (p-Wert) als zusätzliches Instrument der Validierung der ,prozentualen Prüfkriterien‘ in Betracht gezogen und mit Herrn Prof. Dr. Mario Hasler (Variationsstatistik der CAU), dem ich herzlich danke, eingehend besprochen. Der p-Wert ist interpretierbar als Wahrscheinlichkeit, einen Effekt (die Alternativhypothese) fälschlicherweise zu postulieren. Bis zum Signifikanz-Niveau, festgesetzt bei α=0,05 (5%), könnte demnach die Nullhypothese zurückgewiesen werden, wodurch automatisch die Alternativhypothese als wahr angenommen würde: Je kleiner der p-Wert, desto mehr spricht das Ergebnis gegen die Nullhypothese. Dabei berücksichtigt würden Effektunterschied (Größenunterschied der Werte), Fallzahl sowie Streuung. Als Nullhypothese (H0) wurde formuliert: Wahrscheinlichkeit für ,NS-Zustimmung‘ bzw. ,NSAblehnung‘ gleich oder größer bei der Referenzgruppe als für diejenigen mit Indikatornachweis; Alternativhypothese (H1): Wahrscheinlichkeit für ,NS-Zustimmung‘ bzw. ,NS-Ablehnung‘ kleiner bei der Referenzgruppe als für diejenigen mit Merkmalsnachweis; HO: πRG ≥ πIND ; H1: πRG < πIND (π=Wahrscheinlichkeit für ,NS-Zustimmung‘ bzw. ,NS-Ablehnung‘; RG=Referenzgruppe; IND=Pastoren mit Indikatornachweis). Im Rahmen der Anwendung der von Prof. Hasler für die Statistik-Software R erstellten Berechnungsformel ergaben sich für die meisten Zusammenhänge mit den ,prozentualen Prüfkriterien‘ p-Werte von deutlich unter α=0,05 (,1‘ bei der Formel ist jeweils durch den tatsächlichen Wert zu ersetzen): MATRIX