Europas variable Rechtsordnung: Eine Untersuchung zur Geltung und Wirkung des Europäischen Rechts [1 ed.] 9783428558957, 9783428158959

Die Europäische Union definiert sich seit ihren Anfängen als Rechtsgemeinschaft, die nicht auf Gewalt oder Unterwerfung,

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Europas variable Rechtsordnung: Eine Untersuchung zur Geltung und Wirkung des Europäischen Rechts [1 ed.]
 9783428558957, 9783428158959

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Schriften zum Europäischen Recht Band 196

Europas variable Rechtsordnung Eine Untersuchung zur Geltung und Wirkung des Europäischen Rechts

Von Andreas Hitzel

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS HITZEL

Europas variable Rechtsordnung

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 196

Europas variable Rechtsordnung Eine Untersuchung zur Geltung und Wirkung des Europäischen Rechts

Von Andreas Hitzel

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15895-9 (Print) ISBN 978-3-428-55895-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Fluctuet Nec Mergatur

Vorwort Es scheint offensichtlich, dass die fundamentalen Herausforderungen, die das europäische Projekt in unseren Tagen von verschiedenen Seiten bedrängen und bedrücken, nicht nur kleine, voürbergehende Phänomene sind, die sich mit der Zeit von alleine lösen werden. Vielmehr scheint es, als haben die mannigfaltigen Krisen das europäische Projekt insgesamt in seinen Grundfesten derart erschüttert, dass der Zustand der Krise und der Unsicherheit nicht einfach vorübergehen wird: Das Schifflein Europa mag, so hoffen wir, in den Stürmen der Krisen nicht untergehen, doch es schwankt bedrohlich – so bedrohlich, dass es ein „Weiter so“ nicht mehr geben kann, wenn nicht der Untergang möglicherweise doch noch sein Schicksal werden soll. Krisen sind Infragestellungen tradierter Sichtweisen und Gewissheiten. Sie stellen neu zur Debatte, was sicher und geklärt zu sein schien – und es ist ein Anliegen dieser Arbeit, zur Beantwortung und Bewältigung der großen Fragen, die infolgedessen an das europäische Projekt täglich neu herangetragen werden, einen wenigstens kleinen und bescheidenen Beitrag zu leisten. Mein ganz herzlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Thomas Vesting, der die dieser Arbeit zugrundeliegenden Fragen in meiner gedanklichen Entwicklung angelegt und ihre Herausbildung stets gefördert und mäeutisch gelenkt hat. Meine langjährige Teilnahme an seinen Seminaren und die in ihr erfolgte Beträufelung mit einem ganzen Kosmos geistiger Eindrücke gehört zu den Faktoren, ohne die diese Arbeit nicht denkbar wäre. Mehr als nur das Zweitgutachten erstellt hat Herr Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gunther Teubner, M. A. (Berkeley). Er hat das Entstehen dieser Arbeit und die Entwicklung meiner Thesen von Anfang an mitverfolgt und durch sein tiefes und ernstes Interesse entscheidend geprägt, wofür ihm mein besonderer Dank gilt. Sein wissenschaftliches Kerygma hat Generationen von Juristen geprägt – und auch ich gehöre zu der Schar jener Personen, die sich der performativen Wirkung seiner Deklamationen nicht zu entziehen vermochten; gehören die Momente des direkten gedanklichen Austausches mit dem Meister doch zu denen, die den Schüler am meisten prägen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor David Feldman Q. C. (Hon), M. A., D. C. L. (Oxon.), LL. D. (Hon., Bristol), F. B. A., F. R. S. A. sowie Herrn Dr. Henning Grosse Ruse-Khan, die das Entstehen dieser Arbeit nicht nur mit Interesse verfolgt und mir als anregende Gesprächspartner zur Seite standen, sondern mir auch einen Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge ermöglicht haben. Ohne die kontemplative Ruhe und Konzentration sowie die vielen Eindrücke und Erlebnisses dieses Forschungsaufenthaltes wäre diese Arbeit eine andere, auf keinen Fall eine bessere geworden. Ebenfalls gefördert und mit Interesse verfolgt wurde diese Arbeit von Herrn Professor Dr. Peter von Wilmowsky, LL. M.

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Vorwort

(Berkeley). Seine wissenschaftlichen Neugier und geistige Offenheit haben meine Ideen regelmäßig mit Fragen konfrontiert, die während des Schreibprozesses zum festen Bestand jener gedanklicher Begleiter gehörten, ohne deren korrektive Kraft ein kritisches und durchdachtes wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich ist. Ihm und den vielen anderen Menschen, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben, gilt mein aufrichtiger Dank. Frankfurt am Main, im Januar 2020

Andreas Hitzel

Inhaltsübersicht § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Ausgangspunkt: Das Recht in der europäischen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Untersuchungsziel und Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Gang der Untersuchung und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 § 2 Geltungsmangel: Über die Unmöglichkeit der verbindlichen Bestimmung eines Grundes für die Geltung des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Herkömmlicher Ausgangspunkt der Rechtsgeltung: Vernunft und Gewalt . . . . . 35 II. Die Europäische Union und das europäische Recht als Produkt einer Rechtsquelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Intersubjektivität als Erklärungsansatz für die Geltung des europäischen Rechts: Der Mittelweg als Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV. Die Frage nach der Rechtsgeltung als Frage nach der Letztbegründung . . . . . . 66 § 3 Rechtskräfte: Das europäische Recht als Recht der schwachen Bindungen . . . 76 I. Ontologische Abklärung: Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol . . . . . . . . . . 76 II. Die paradoxen Grundlagen des europäischen Rechtsprogramms: Der Mangel an Einheit und seine Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Programmfehler: Das europäische Recht als „unscharfes Recht“ . . . . . . . . . . . . 87 § 4 Geltungskrise: Über die Wirkungen und Eigenschaften des europäischen Rechts in Fällen kognitiver Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 I. Ordnung und Form: Der Einfluss des europäischen Ordnungsmodells auf das europäische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Einheit und Fragment: Folgen der Ordnung Europas für das europäische Recht 108 III. Semantische Ungewissheiten: Das europäische Recht als Recht fluider Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Schlussfolgerungen: Das europäische Recht als „poietisches Unsystem“ . . . . . 132 § 5 Fragmentverfassung: Das europäische Recht als variable Rechtsordnung . . . . 134 I. Vorstellungen von Verfassungen in Europa und die Vorstellung von einer europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

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Inhaltsübersicht II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates: Experimentelle und tastende Modelle – Netzwerk, Verbundordnung und Kollisionsrecht . . . . . 161 III. Folgen für das europäische Recht: Anpassung des Rechts an die Ordnung  – variable Rechtsordnung statt Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

§ 6 Perspektivenwechsel: Folgen des Verständnisses von der variablen Rechts­ ordnung Europas für die Rechtspraxis – eine normative Verteidigung des faktischen status quo anhand dreier Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 I. Abkehr von starren Hierarchie- und Vorrangvorstellungen: Warum der OMT-Fall tatsächlich nicht „entschieden“ werden konnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Abkehr vom Gedanken des einheitlichen Rechtssystems: Warum die erste Griechenlandhilfe, der ESM-Vertrag und der europäische Fiskalpakt tatsächlich europäisches Recht sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Abkehr von der Vorstellung klarer semantischer Gewissheiten: Warum Art. 122 Abs. 2, 123 Abs. 1 und 125 Abs. 1 AEUV in der Eurokrise tatsächlich nicht verletzt wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 § 7 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Ausgangspunkt: Das Recht in der europäischen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Untersuchungsziel und Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Gang der Untersuchung und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 § 2 Geltungsmangel: Über die Unmöglichkeit der verbindlichen Bestimmung eines Grundes für die Geltung des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Herkömmlicher Ausgangspunkt der Rechtsgeltung: Vernunft und Gewalt . . . . . 35 1. Die Europäische Union als gewaltlose Rechtsgemeinschaft? . . . . . . . . . . . . 35 2. Die Gewalt des Rechts und die Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Recht und Gewalt: Eine grundlegende Verhältnisbestimmung . . . . . . . . . 37 b) Die Gewalt einer „zwanglosen Rechtsgemeinschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Vernunft und Gewalt als Faktoren im europäischen Recht: Das Problem der fehlenden Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 II. Die Europäische Union und das europäische Recht als Produkt einer Rechtsquelle? 43 1. Die Einheit in der Rechtsquelle: Die Europäische Union als Schöpfung des Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Die Durchbrechung der Rechtsquellenhierarchie durch die nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Das europäische Recht als heterarchisches Netzwerkrecht . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Die europarechtliche Dogmatik als Schöpferin einer einheitsstiftenden Rechts­ quelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Intersubjektivität als Erklärungsansatz für die Geltung des europäischen Rechts: Der Mittelweg als Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Allgemeinverbindliche Ansprüche ohne Metaphysik: Über den Zusammenhang zwischen Legitimität, Gewalt und Rechtsgeltung unter den Bedingungen der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Intersubjektivität als Garantin von Allgemeinverbindlichkeit? . . . . . . . . . . . 60 3. Die Voraussetzungen einer allgemeinverbindlichen intersubjektiven Geltungs­ theorie: Der ideale Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Zu den Grundlagen des idealen Diskurses: Intersubjektivität als Verschleierung von Objektivität – die Wiederkehr von Vernunft und Gewalt in anderer Gestalt 64

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Inhaltsverzeichnis IV. Die Frage nach der Rechtsgeltung als Frage nach der Letztbegründung . . . . . . 66 1. Die Rechtsgeltung als Fall des Münchhausen-Trilemmas . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Das Problem der Rechtsgeltung in der EU als wirkungsverschärfter Fall des Münchhausen-Trilemmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Rechtsquellenlehre: Abbruch des Begründungsverfahrens in einer obersten Norm und logischer Zirkel der Quellenmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Gewalt: Infiniter Regress der Gewaltverursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Vernunft: Zirkel zwischen dem Anschluss an gesellschaftliche Wissens­ bestände und ihrer Strukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

§ 3 Rechtskräfte: Das europäische Recht als Recht der schwachen Bindungen . . . 76 I. Ontologische Abklärung: Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol . . . . . . . . . . 76 II. Die paradoxen Grundlagen des europäischen Rechtsprogramms: Der Mangel an Einheit und seine Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Einheit als Voraussetzung einer geregelten Anschlussfähigkeit? . . . . . . . . . . 81 a) Gemeinsames Wissen als Voraussetzung für geregelte Anschlussfähigkeit 81 b) Der Mangel an gemeinsamen Wissen im europäischen Kontext und seine Folgen für das europäische Rechtsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Das Wissen von der Paradoxie als einziges gemeinsames Wissen in ­Europa; seine Auswirkungen auf die operativen Vollzüge des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Rechtskultur als bestimmender Faktor für die Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . 84 III. Programmfehler: Das europäische Recht als „unscharfes Recht“ . . . . . . . . . . . . 87 1. Dicke Bindungen als Grundlage jedes funktionierenden Rechtsprogramms . 87 2. Folgen der Bindungsschwäche des europäischen Rechts: Mangelnde Unterscheidungskraft und Prinzipienschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 § 4 Geltungskrise: Über die Wirkungen und Eigenschaften des europäischen Rechts in Fällen kognitiver Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 I. Ordnung und Form: Der Einfluss des europäischen Ordnungsmodells auf das europäische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Über die Rolle der Ordnung als Grundlage des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Der Zusammenhang zwischen Ordnung und Form im Recht . . . . . . . . . . . . 97 3. Formverluste in der Europäischen Union: Die Tendenz zu „weichen“ Steuerungsinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Soft Law makes bad cases: Über den zunehmenden Gebrauch von NichtRecht und Quasi-Recht zur Strukturierung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Verstetigter Anwendungsfall von Soft Law: Die Offene Methode der Koordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsverzeichnis

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c) Institutionalisierter Formverlust: Unionsmethode statt Gemeinschafts­ methode – Politik statt Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Einheit und Fragment: Folgen der Ordnung Europas für das europäische Recht 108 1. Die Bedeutung des Prinzips der Einheit für die Rechtsordnung . . . . . . . . . . 108 2. Das europäische Recht als uneinheitliches Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Die Fragmentierung des europäischen Rechts in der Eurokrise . . . . . . . . . . 111 a) Die erste Griechenlandhilfe: Ausweichen ins nationale Privatrecht . . . . . 111 b) ESM-Vertrag: Quasi-europäisches Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 c) Europäischer Fiskalpakt: Europäisches Völkerrecht zur Implementierung ins nationale öffentliche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Semantische Ungewissheiten: Das europäische Recht als Recht fluider Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Einheit und Formstrenge als Voraussetzungen für semantische Gewissheiten 116 2. Das europäische Recht als Recht erhöhter Ungewissheiten . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Auflösungserscheinungen: Der Wandel von Bedeutungen im europäischen Recht in Anbetracht kognitiver Zwänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Art. 122 Abs. 2 AEUV und EFSM: Die Griechenlandkrise als unkontrollierbares, außergewöhnliches Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Art. 123 Abs. 1 AEUV: Verbot unmittelbarer Staatsfinanzierung statt Verbot monetärer Staatsfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Art. 125 Abs. 1 AEUV: Vom Beistandsverbot zum Verbot der Beistandspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 IV. Schlussfolgerungen: Das europäische Recht als „poietisches Unsystem“ . . . . . 132 § 5 Fragmentverfassung: Das europäische Recht als variable Rechtsordnung . . . . 134 I. Vorstellungen von Verfassungen in Europa und die Vorstellung von einer europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Die Verfassung als europäisches Heilmittel: Der legitimistische Verfassungsbegriff Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Verfassung als Garant der hierarchischen und autonomen Stellung Europas 136 b) Verfassung als Legitimität evozierende Beschwörungsformel . . . . . . . . . 138 c) Grund für die Übertragung der Vorstellungen vom Verfassungsstaat auf Europa: Begründung eines europäischen Gesellschaftsvertrages . . . . . . . 139 2. Über den notwendigen Zusammenhang zwischen dem legitimistischen Verfassungsstaat und primordialen Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Bindung kraft Vernunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Das Erfordernis der „inneren Integration“ durch primordiale Bindungen und die Nation als Trägerin derselben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Folge: Die Nation als notwendige Voraussetzung eines Verfassungsstaates 147

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Inhaltsverzeichnis 3. Die fehlende europäische Primordialität und die aus ihr folgende Wirkungslosigkeit einer möglichen europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Die fehlende europäische Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Ersetzung der fehlenden europäischen Primordialität durch einen europäischen Gesellschaftsvertrag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Folge: Die förmliche europäische Verfassung als bloßer Etikettenwechsel ohne Einfluss auf den Integrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates: Experimentelle und tastende Modelle – Netzwerk, Verbundordnung und Kollisionsrecht . . . . . 161 1. Das Ende der großen Legitimationserzählungen: Eine grundlegende Veränderung der Perspektive auf die Verfassung Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Erste Folge: Die Entkoppelung von Staat und Recht und die Öffnung zum pluralen Rechtsnetzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Zweite Folge: Plurales Verfassungsrecht und die Notwendigkeit eines Verfassungskollisionrechts – Die Funktion einer europäischen Verfassung als „Netzwerk von Netzwerken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Europa als Ensemble von horizontal fragmentierten Teilverfassungen . . 168 b) Die Frage nach der Verfassung Europas als Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilverfassungen: Die Herstellung von Kompatibilitäten durch Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 c) Die europäische Verfassung als dezentrale Metaverfassung zur selbstsubversiven Begrenzung und wechselseitigen Kompatibilisierung der Teilverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 III. Folgen für das europäische Recht: Anpassung des Rechts an die Ordnung – variable Rechtsordnung statt Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Das Konzept der variablen Geometrie als Ausdruck und Folge der postmodernen Struktur Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Konsequente Übersetzung in die Sphäre des Rechts: Die variable Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

§ 6 Perspektivenwechsel: Folgen des Verständnisses von der variablen Rechts­ ordnung Europas für die Rechtspraxis – eine normative Verteidigung des faktischen status quo anhand dreier Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 I. Abkehr von starren Hierarchie- und Vorrangvorstellungen: Warum der OMT-Fall tatsächlich nicht „entschieden“ werden konnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Abkehr vom Gedanken des einheitlichen Rechtssystems: Warum die erste Griechenlandhilfe, der ESM-Vertrag und der europäische Fiskalpakt tatsächlich europäisches Recht sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 III. Abkehr von der Vorstellung klarer semantischer Gewissheiten: Warum Art. 122 Abs. 2, 123 Abs. 1 und 125 Abs. 1 AEUV in der Eurokrise tatsächlich nicht verletzt wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

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§ 7 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

§ 1 Einleitung „Wir leben in einer Zeit großer Veränderungen, in der die Begriffe von gestern nicht mehr passen und die passenden Begriffe von morgen noch nicht da sind.“ R. W.

I. Ausgangspunkt: Das Recht in der europäischen Krise Die Europäische Union ist eine Union des Rechts, die scheinbar vollständig von Recht durchdrungen, vom Recht bestimmt und durch das Recht kontrolliert wird1 – aber es ist nicht der kontrollierte Moment des Normalen, nicht der vorhergesehene Zustand des Gewohnten und Erwarteten, sondern erst der wilde Moment der Krise, der Ausnahme und der Paradoxie, in dem die Rolle und Bedeutung des Rechts sich offenbart. Denn es ist der Augenblick der Krise, in dem das Recht sich von der Autorität seines Setzers und Bestimmers verselbstständigt2, der Moment der Ausnahme, in dem es sich mit den ihm zugrunde liegenden Erwartungen nicht mehr fassen lässt3, der Kairos der Paradoxie, in dem es seine scheinbare Klarheit hinter sich lassen und neue Sinnwelten aus sich heraustreiben muss4 und damit zeigt, 1

Der Begriff einer „Rechtsgemeinschaft“ – damals noch in Bezug auf die europäischen Gemeinschaften – wurde durch Walter Hallstein geprägt, Hallstein, in: Oppermann (Hrsg.), Walter Hallstein: Europäische Reden, 1979, 343; dazu vgl. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der Europäischen Union, 12004, 135 ff. Vgl. auch Art. 2 EUV: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind […] Rechtsstaatlichkeit […]“, dazu siehe die ersten Ausführungen in EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (Les Verts) und G. 1/91, Slg. 1991, I-6079, in denen vor allem betont wird, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit eine vollständige richterliche Überprüfbarkeit aller Handlungen der Mitgliedsstaaten und der Unionsorgane nach sich ziehe; s. m. w. N. auch Calliess, C., in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta: Kommentar, 2016, EUV Art. 2 Rn. 25 f. Der Begriff „Rechtsunion“ findet sich schließlich bei: EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Maduro vom 16.12.2004 – C-160/03 (Spanien / Eurojust) – Ziff. 17 ff. 2 Koselleck, Kritik und Krise, 71992, 155 ff. versteht den Moment der Krise als denjenigen, in dem die Gesellschaft die Herrschaft über den Staat übernimmt und – so müsste man anfügen – damit die Geltung des staatlich gesetzten Rechts selbst in die Krise stürzt. Zu den Problemen einer staatszentrierten Rechtsgeltung vgl. Vesting, Rechtstheorie, 22015, Rn. 149 ff. 3 Zur Kraft des Normativen im Ausnahmezustand Schmitt, Politische Theologie, 92009, 13; Schmitt, VVDStRL 1 (1924), 63–104, 83 f., 95. 4 Der Begriff des Kairos (griech. Καιρός) beschreibt im Gegensatz zum Begriff der messbaren Zeit – Chronos (χρόνος) – die nicht messbare günstige Gelegenheit, den rechten Zeitpunkt, der innerhalb der messbaren Zeit auftaucht, vgl. dazu Fränkel, Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1931, 97–118, 97 ff. Benjamin, Zur Kritik der Ge-

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§ 1 Einleitung

wie es um seine Rolle und Bedeutung, um seine Selbstständigkeit und normative Kraft – ja: wie es um die Geltung und Wirkung des Rechts wirklich bestellt ist. Diese These, diese Behauptung, auf der diese Untersuchung fußt und die im Verlauf derselben weiter entfaltet werden wird, ist im wahrsten Sinne des Wortes grenzwertig – nicht nur, weil sie drei Grenzbegriffe (Krise, Ausnahme und Paradoxie) ins Spiel bringt, ja miteinander kumuliert und verbindet. Vielmehr noch: Die Grenzbegriffe werden zu einem Prinzip erhoben, anhand dessen etwas bestimmt werden kann, das ansonsten, ohne das Grenzwertige, weniger aufschlussreich bestimmbar zu sein scheint: Die Kraft des Normativen, die Geltung und Wirkung des Rechts selbst. Dieser Ausgangspunkt, diese Herangehensweise, so mag man einwenden, ist gleich in doppelter Hinsicht problematisch: Erstens zeitlich, weil das Normale den dauerhaften Grundzustand darstellt, der die meiste Zeit über gilt, zweitens normativ, weil die Grenzsituation qualitativ anders ist als der Normalzustand, in der das Recht ja die meiste Zeit über operiert und insofern über diese keine Aussage zu treffen imstande ist5: „Hard cases make bad law“6, die Grenzsituation ist „irregulär“7, so mag man diese Einwände zusammenfassen. Dennoch: Alle Einwände vermögen nicht den Eindruck zu beseitigen, dass die Grenzsituation gerade in Bezug auf das Recht etwas bewirkt, was der Normalzustand nicht herzustellen vermag: Die Irritation des Gewohnten, die Infragestellung einer in bloßer „Wiederholung erstarrten Mechanik“8, die das Empirische von dem Normativen am Klarsten scheidet, ja durch die Erschütterung des Erfahrungswissens mit seinen eingespielten Verwaltungs- und Organisationsabläufen wieder eine neue Rückbesinnung auf seine normativen Grundlagen erzwingt und so zeigt, wie es um diese wirklich bestellt ist. Wer von diesem von der Grenzsituation her gedachten Paradigma aus das seltsam unfassbare, mit dem Begriff des Mehrebenensystems nur unzulänglich zu

walt und andere Aufsätze, 142017, 54 geht zwar von einer paralysierenden Wirkung der Paradoxie aus, zur Fruchtbarmachung von Paradoxien für das Recht siehe aber die Ausführungen bei Teubner, in: Joerges / Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht: Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003, 29 ff. Zur produktiven Bedeutung von Paradoxien für das Rechtssystem siehe auch Vesting, Rechtstheorie, Rn. 228 ff.; Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 29 ff. 5 In diesem Kontext im Hinblick auf das europäische Recht typisch Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3633 f.: „Ohnehin ist Kontrafaktizität für sich genommen noch kein hinreichendes Argument. Dabei ist zu betonen, dass quantitativ wie qualitativ der ganz überwiegende Teil des Europarechts weiterhin sehr gut funktioniert. Tag für Tag wird europäisches Recht in allen 28 Mitgliedstaaten umgesetzt und angewandt, es werden Vorlagen an den EuGH gerichtet und es wird Recht auf der Grundlage des Europarechts gesprochen.“ 6 U. S. Supreme Court, March 14, 1904 – 193 U. S. 197. 7 Isensee, in: Heintzen / Kruschwitz (Hrsg.), Unternehmen in der Krise: Ringvorlesung der Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2003, 2004, 244, konkret bezogen auf den Staatsbankrott. 8 Schmitt, Politische Theologie, 21.

I. Ausgangspunkt

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beschreibende9 Simulacrum eines politischen Großraumes10 namens Europäische Union genauer betrachtet, dem muss der Zugriff unsicher, der Blick unstet werden: Nicht nur, weil es ohnehin schon in seinen rechtlichen Struktur unklar, unausgereift, begrifflich unbestimmt zu sein scheint – ständig changierend zwischen intergouvernementalen, supranationalen und transnationalen Elementen11 – und in diesem chamäleonartigen Dasein jeden Begriff, jede Kategorie, die es zu fassen versuchen, sogleich wieder hinterrücks zerstört12. Zu dieser Irritation gewohnter juristischer Kategorien und Begriffe13 gesellen sich vielmehr mit dem zunehmenden Fortschritt der europäischen Integration, der wachsenden Verwirklichung der „immer engeren Union der Völker Europas“14 noch viel fundamentalere Fragen über ihren Charakter, ihr Recht und dessen Geltungskraft, die bisher von keinen

9 Der Begriff des Mehrebenensystems wird vor allem dann in Ansatz gebracht, wenn der einzigartige Charakter der Europäischen Union und ihr im Vergleich mit anderen politischen System besonders verflochtener und verschachtelter politischer Prozess deskriptiv beschrieben werden soll, vgl. Knodt / Große Hüttmann, in: Bieling / Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2013, 187, 192; Di Fabio, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus: Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, 2012, Rn. 7 ff. 10 Joerges, Europa ein Großraum?, 34 ff. 11 Die verschiedenen Deutungen der Europäischen Union unterscheiden sich insbesondere in dem Verständnis davon, wer der bestimmende Akteur in der Union ist: Intergouvernementale Theorien etwa sehen in den Mitgliedsstaaten und ihren jeweiligen Regierungen die treibenden Kräfte, während supranationale Theorien die europäischen Institutionen für maßgebend halten. Wieder andere sehen den entscheidenden Einfluss auf die europäische Integration bei zivilgesellschaftlichen Akteuren, und zwar entweder im Rahmen eines gesellschaftspolitischen (Gruppen-)Pluralismus oder multinationaler Konzerne, vgl. Bieling / Lerch, in: Bieling / Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2013, 14, 15. 12 Die wohl derzeit beste und leistungsfähigste Kategorisierung der Europäischen Union findet sich bei Ladeur, Eur Law J 3 (1997), 33, 33 ff. Die darin vorgenommene Beschreibung der Europäischen Union als Netzwerk hat nur dadurch ihre Schwächen, dass ihr der bereits Anfang der 1960er Jahre in den Entscheidungen Van-Gend-&-Loos sowie Costa / ENEL begonnene und bis heute fortwirkende Versuch einer strengen Stratifizierung des Europarechts gegenübersteht, die in ihrer hierarchischen Stringenz keine Entsprechung in der Netzwerktheorie findet. Zum Netzwerkcharakter der EU sowie der Einordnung der Mitgliedsstaaten als Netzwerkknoten siehe aber Teubner, Verfassungsfragmente, 12012, 237 f. Zur allgemeinen Tendenz der Ablösung formellen und rechtlich institutionalisierten Regierungs- und Verwaltungshandelns durch informelles, flexibles und schnelles Handeln in sich ständig modifizierenden Netzwerken vgl. Boehme-Neßler, ZRP 45 (2012), 237, 238. 13 Dieses Defizit ist bei der EU besonders ausgeprägt, jedoch nicht auf sie beschränkt. Denn der durch die funktionale Differenzierung ausgelöste Strukturwandel hat die alteuropäische Semantik restlos zerstört; und die Postmoderne ist rastlos damit beschäftigt, adäquate Begriffe zur Beschreibung ihrer selbst zu finden, vgl. Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 35. 14 Diese Zielbestimmung der Europäischen Union findet sich bereits in den Römischen Verträgen (Präambel des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957) und nunmehr in der Präambel des EUV. Es ist eines der konstituierenden Prinzipien des europäischen Projektes und der Idee einer „europäischen Rechtsgemeinschaft“, vgl. Grimm, Europa ja – aber welches?, 22016, 251; Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 491.

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§ 1 Einleitung

anderen Ereignissen so nachdrücklich gestellt wurden wie von denen der Eurokrise 2010–2013: Als sich im Nachgang der Finanz- und Bankenkrise die Defizienz der euro­ päischen Währungsarchitektur überdeutlich zeigte15 und erkennbar wurde, dass es ihr aus eigener Kraft nicht zu gelingen vermochte, ihre erste große Bewährungsprobe zu bestehen, sondern sie vielmehr an ihr zu zerbrechen drohte, ergriffen die nationalen Regierungen – allen voran die der Bundesrepublik Deutschland – das Heft des Handelns16 und reagierten auf die Krisensituation mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen, deren „unkonventionelle“ Umstände, Formen und Grundlagen dem Juristen bemerkenswert und erstaunlich vorkommen müssen17. Griechenland, das von der Krise besonders schwer betroffen zu sein schien, erhielt in einer „Nacht-und Nebel-Aktion“ – auf keiner anderen Grundlage als einem in derselben Nacht gefassten Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Eurozone18 – eine Finanzhilfe in Gestalt eines privatrechtlichen, englischem Recht unterstellten Darlehensvertrages (Loan Facility Agreement), für den die einzelnen Euroländer sich im Rahmen eines weiteren (ebenfalls privatrechtlichen, englischem Recht unterstellten) Vertrages verpflichteten, die erforderlichen liquiden Mittel bereitzustellen (Intercreditor Agreement)19. Viele weitere Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung krisengeschüttelter Mitgliedsstaaten folgten, bis diese Politik des finanziellen Beistandes unter Bedingungen und Auflagen schließlich teilweise in Gestalt des Art. 136 Abs. 3 AEUV im europäischen Primärrecht verankert wurde – wohlgemerkt nicht vor oder während, sondern erst nach dem akuten Stadium der Krise20. Die Frage aber, ob nicht die Rechtsnormen der europäischen Verträge, der „Kompromiss von Maastricht“ ein solches Vorgehen ursprünglich streng verbot21, ob er nicht gerade die „Korrektivkräfte des Marktes“ mit ihrer regulierenden Rationalität, die als Reaktion auf eine nicht tragfähige Haushaltspolitik drastische Zinsaufschläge, ja in letzter Konsequenz eben auch die Insolvenz eines Staates vorsehen, an die Stelle eines nun vollzogenen „bail-out“ setzte22, wurde während des

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Wieland, JZ 67 (2012), 213, 216. Dazu Winter, M., in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 24; Chalmers / Jachtenfuchs / Joerges, in: Joerges / Chalmers / Jachten­ fuchs (Hrsg.), The end of the Eurocrats’ dream: Adjusting to European diversity, 2016, 3 f.; Tuori, Kaarlo / Tuori, Klaus, The Eurozone crisis, 12014, 90 f. 17 So selbst die Generalanwältin des EuGH, die in ihrer Stellungnahme in Pringle zu dem Schluss kam, dass bei der Rettung der Währungsunion die Beteiligten zu „teilweise unkonventionelle[n] Maßnahmen“ griffen, vgl. EuGH, Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 26.10.2012 – C-370/12 (Pringle) – Ziff. 1. 18 Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 2015, 27. 19 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 98. 20 Art. 136 Abs. 3 AEUV trat erst zum 1. Mai 2013 in Kraft. 21 Insbesondere in Gestalt der Art. 123 und 125 AEUV. 22 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 97. 16

I. Ausgangspunkt

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Höhepunktes der Krise nicht einmal ernsthaft erwogen23. Zwar mangelte es nicht an guten Argumenten zu einem solchen Vorgehen – es gab gewichtige Stimmen, die eine Umstrukturierung der Schulden Griechenlands und damit letztlich eine Staatsinsolvenz sowohl aus ökonomischen als auch aus rechtlichen Gründen befürworten24. In den Kreisen der Staats- und Regierungschefs, in denen die „Rettung“ des Euro schnell zur Schicksalsfrage Europas hochstilisiert wurde25 – gelegentlichen rhetorischen Intensitätsspitzen zufolge scheinbar im Grunde gleichbedeutend mit dem Untergang Roms, der Abwehr des Mongolensturmes und der Verteidigung gegen osmanische Invasoren26 – die „alternativlos“ ein „bail-out“ Griechenlands nach sich ziehen müsse27, vermochten diese gewichtigen ökonomischen und rechtlichen Argumente jedoch erst gar nicht vorzudringen28: Prägend schienen vielmehr einzig die Deklarationen der Politiker zu sein, die Griechenland um jeden Preis Kredite geben und so seinen Schuldenstand noch weiter vergrößern wollten, „weil ein Europa der Demokratie und der Freiheit unsere Heimat ist“29; die Verlaut­ 23

Chalmers / Jachtenfuchs / Joerges, The retransformation of Europe, 2; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 89 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 800, vgl. auch Rödder, in: Kirchhof / Kube / Schmidt (Hrsg.), Von Ursprung und Ziel der Europäischen Union: Elf Perspektiven, 2016, 20. 24 Die beiden bedeutenden Ökonomen Clemens Fuest und Hans-Werner Sinn befürworteten eine Insolvenz Griechenlands, vgl. dazu Faßbender, NVwZ 2010, 799, 803. Dass den Staatsund Regierungschefs ihre Missachtung primärrechtlicher Vorschriften des Europarechts bewusst war, scheint heute unbestritten zu sein, vgl. nur etwa Reuters / Thomas, France’s Lagarde: EU rescues „violated“ rules: report, https://www.reuters.com/article/us-france-lagarde/frances-lagardeeu-rescues-violated-rules-report-idUSTRE6BH0V020101218, 07.03.2018; Fuest, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 54. 25 „Der Euro ist der Garant eines einigen Europas, oder anders gesagt: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. […] Aber wenn ich auf der einen Seite von einer der schwersten Krisen Europas spreche und gleichzeitig von unserem unbedingten deutschen Interesse an einem starken Europa, dann ergibt sich doch daraus die zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode.“ Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im deutschen Bundestag vom 7. September 2010, BT-Plenarprotokoll 17/123, 14470; dazu Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 129. Vgl. auch die Stellungnahme von van Rompuy: „Ever since [Maastricht], the fate of Europe and the euro have been intertwined. The euro is the most visible and the most palpable sign of our common destiny. It is also our most powerful tool.“ van Rompuy, „A Curtain went up – Ein Vorhang ging auf “, 5. 26 Die „Krise“ und der „Untergang des Abendlandes“ gehören in Europa zu den klassischen, zugleich aber auch stärksten und vorbelastetsten rhetorischen Registern, die auf tiefe eschatologische Wurzeln zurückgehen, vgl. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, 9; Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 162003; dazu instruktiv in Bezug auf die politische Krisenrhetorik gerade auch im Kontext der Finanz- und Eurokrise Ullmaier, Warum das Abendland beim Untergehen nicht untergeht. 27 Eine von Ökonomen favorisierte Lösung zur Bereinigung der griechischen Staatsschuldenkrise war die Einführung eines Nord- und eines Süd-Euro, die jedoch von der deutschen Regierung nicht als ernstzunehmende Alternative in Betracht gezogen wurde, vgl. Meyer, D., Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 2011, 19, 19 ff. 28 Dazu vgl. auch Schorkopf, AöR 2011, 323, 340. 29 So Angela Merkel in der bereits zitierten Rede vor dem deutschen Bundestag vom 7. September 2011, BT-Plenarprotokoll 17/123, 14470: „Der Euro ist der Garant eines einigen Europas, oder anders gesagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Weil ein Europa der Demokratie und der Freiheit unsere Heimat ist, darf der Euro nicht scheitern, und er wird nicht scheitern.“

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§ 1 Einleitung

barungen der „determined and coordinated action“30, die vermeiden wird „that there will be a Staatsbankrott in Greece“31 – „whatever it takes“32. Mag diese Reaktion der Staats- und Regierungschefs noch mit den Spezifika des politischen Prozesses erklärt werden, dem (gerade auf europäischer Ebene) wohl insgesamt eine nur geringe Rationalitätsvermutung zugeschrieben werden kann33 und der durch Krisensituation in dieser Hinsicht wohl noch katalysiert und bis zur Rechtsblindheit verschärft worden sein mag, so ist es doch erstaunlich, dass selbst die EZB – dieser Hort ökonomisch-bürokratischer Rationalität und scheinbarer politischer Unabhängigkeit in der Manege des europäischen politischen Betriebes34 – bis zur Ununterscheidbarkeit in das Lied der von der Bundesrepublik Deutschland dirigierten Staats- und Regierungschefs einzustimmen schien, mündeten doch schon ihre frühen Eingriffe in das Krisengeschehen in Gestalt gezielter Pressemitteilungen schnell vor allem in einem Postulat: dem, das Griechenland unter keinen Umständen insolvent werden gehe35, und noch viel erstaunlicher: zur Verwirklichung dieses Postulates beschloss sie – allen sehr gewichtigen recht­lichen Bedenken zum Trotz – kurzerhand zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Kauf von Staatsanleihen ihrer Mitgliedsstaaten36; ein vor der Krise noch gänzlich undenkbarer, ja unvorstellbarer Vorgang37.

30 Europäischer Rat, Statement by the Heads of State or Government of the European Union, 11.2.2010. 31 So der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble am 14.10.2012 auf einer Veranstaltung der deutschen Außenhandelskammer in Singapur. 32 Draghi, Speech by Mario Draghi, President of the European Central Bank at the Global Investment Conference in London 26 July 2012. 33 So Haltern, Europarecht, 2017, 5, 28 unter (zweifelhafter) Berufung auf Habermas, Faktizität und Geltung, 22001, 323 f. 34 Die Orientierung der EZB nur an ökonomischen und nicht an politischen Rationalitäten ist gerade der Grund für ihre in Art. 130 AEUV festgeschriebene Unabhängigkeit und Absonderung vom politischen Betrieb; sie soll die EZB „im Wesentlichen vor jedem politischen Druck bewahren“, vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003 – C-11/00 – Rn. 134 f. Dies schließt freilich nicht aus, dass die EZB eine eigenständige Politizität haben kann, die über das rein Ökonomische hinausgeht; sie ist ihrem Anspruch nach jedoch selbstständig und so einer Politisierung durch das politische System selbst nicht zugänglich, vgl. zu diesem in theoretischer Hinsicht schwierigen Komplex Teubner, Zeitschrift für Rechtssoziologie 35 (2015), 69, 80 ff. 35 Vgl. nur etwa bereits Europäische Zentralbank, Statement by the ECB’s Governing Coungil on the additional measures of the Greek government, 3.3.2010: „This determined fiscal and structural reform programme will benefit Greek citizens by allowing the Greek economy to overcome the present difficulties and bringing the economy back on a sustainable medium-term growth path with increasing employment.“ Zu diesem Vorgehen auch Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 101 f. 36 Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 10. Mai 2010 über die Verwaltung von der Griechischen Republik gewährten zusamengelegten bilateralen Krediten und zur Änderung des Beschlusses EZB/2007/7 (EZB/2010/4), ABl. L 119/24 vom 13.5.2010; dazu Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 103. 37 Winter, Teil I: Mehr oder weniger Europa?, 24; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 183 f.

I. Ausgangspunkt

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Diese Stärkung der intergouvernementalen Komponente in der EU, die Expansion ihrer Befugnisse und insbesondere jener der EZB38, die nicht weniger als eine grundlegende Umstürzung der in Maastricht errichteten Prinzipien einer rechtlich verfassten und stabilisierten Währungsunion39 – nur wenige Jahre zuvor noch eiserne Bedingung einer deutschen Zustimmung zum Euro40 – hin zu einer eher politisch verfassten Beistands- und Haftungsunion bedeuteten41, haben die Europäische Union strukturell in eine tiefe Krise gestürzt: Bestand bei Gründung der Vorgängerinstitutionen der Europäischen Union – der EGKS, der EWG und der EG – noch weitgehende Einigkeit darüber, dass es sich bei dem europäischen Projekt in erster Linie um ein vor allem funktional zu rechtfertigendes, expertokratisches Vorhaben zur Wirtschaftsförderung und Friedenssicherung handelt42, in dessen Rahmen keine fundamentalen politischen Entscheidung getroffen werden und in dem kritische Fragen nach seiner Legitimität und Rechtfertigung, ja nach der Geltung und Wirkung seines Rechts daher schon mit Schlagwörtern wie „Zweckverband funktionaler Integration“43 und „Output-Legitimation“44 abge 38

Haltern, Europarecht, 31. Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 8; Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 40 Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 6. Das BVerfG hatte bereits in seinem Maastricht-Urteil darauf aufmerksam gemacht, dass die vereinbarte Konzeption „der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft […] Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes [ist]. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen“ BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 148. Kirchhof weist in Bezug auf die rechtlichen Grundlagen der Währungsunion (heute Art. 122 ff. AEUV) darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland „dem Vertrag über die Währungsunion nicht zugestimmt [hätte], wenn diese rechtlichen Sicherungen nicht vorher verbindlich vereinbart worden wären. Die Unabhängigkeit der EZB ist ein besonderes Anliegen, weil die Stabilitätsbereitschaft, auch Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Staaten und Finanzinstitutionen sehr unterschiedlich sind“, vgl. Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 41 „The driving force in EMU, including its main legal aspects, has always been politics“, vgl. Snyder, Francis, EMU Revisited, Juli 1998, 81. Differenzierter und deshalb zutreffender sind aber die Ausführungen von Kirchhof: „Der Unionsvertrag betont besonders die finanzielle Eigenverantwortlichkeit jedes Mitgliedstaates. Dadurch werden Anreize zu weiterer Verschuldung unterbunden und die Hoffnung aus der Welt geschafft, Staaten könnten neue Kredite aufnehmen, deren Zahllasten aber auf andere Länder überwälzen. Die Euro-Gemeinschaft verspricht und hat Erfolg, weil sie eine rechtlich gebundene Währungsunion ist.“ Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25; zur größeren Tendenz in diesem Kontext vgl. auch Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 134. 42 Dieser funktionalistische Gedanke lag nach Tömmel, Das politische System der EU, 4 2014, 55 vor allem Schuman und Monet zugrunde und wurde durch den britischen Politikwissenschaftler David Mitrany theoretisch gefasst und begrifflich geschärft, vgl. Mitrany, The functional theory of politics, 1975. Zum Einfluss des Funktionalismus auf die Struktur und das Handeln der Union siehe auch Nettesheim, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, 181. 43 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 1044. 44 Dazu Scharpf, Fritz W., Regieren in Europa, 1999, 16 ff.; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 96. 39

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§ 1 Einleitung

speist werden können (wen kümmert es schon, wie krumm die Banane sein darf?), ohne auf weitergehende politische und konstitutionelle Verheißungen überhaupt erst eingehen zu müssen, ist spätestens mit der Entscheidung über das Schicksal ganzer Nationen im Zuge der Eurokrise ein Maß an politischer Intensität auf die europäische Ebene gehoben worden, das bloß funktionalistische und outputorientierte Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche – oder anders gewendet: die Vorherrschaft des Expertokratisch-Kognitiven gegenüber dem Legitimatorisch-Normativen45 – zunehmend zweifelhaft und problematisch erscheinen lassen46, ja die Verfasstheit der Union als Rechtsgemeinschaft selbst in eine Krise gestürzt haben: Waren in der Vergangenheit Krisen und insbesondere die in ihnen eingeschriebenen und nach einer Auflösung strebenden Widersprüche 47 stets das Movens der Integration, die regelmäßig den einhelligen Ruf nach „mehr Europa“ erschallen ließen48 und so den auf immer größere Vertiefung der Integration gerichteten Charakter der Europäischen Union und des europäischen Rechts tendenziell sogar noch zu bestärken vermochten49, so scheint es, als werde gerade das europäische Recht seit der Eurokrise zunehmend als Störfaktor wahrgenommen50, der zum Zwecke des effektiven Regierens und insbesondre der effektiven Krisenbewältigung durch die Wahl „phantasievoller Formen“51, informeller Handlungsweisen52 und anderer unkonventioneller Maßnahmen53 möglichst virtuos auszuschalten und zu umgehen ist. Kurzum: Das europäische Recht scheint nicht als Lösung für bestehende Probleme, nicht als Kompass, der das europäische Schiff durch unsichere Gewässer 45

„Die Integration kennt die Privilegierung von Output gegenüber Input seit Beginn ihrer Existenz“, vgl. Haltern, Europarecht, 123 – oder etwas anders gewendet: Die Dominanz des technischen Expertenwissens gegenüber der demokratisch legitimierten politischen Meinung. Diese allgemeine Tendennz in internationalen Zusammenhängen wurde bereits prophetisch vorhergesagt von Luhmann, ARSP 57 (1971), 1–35, 13. 46 Nettesheim, Demokratisierung der Europäischen Union und Europäisierung der demo­ kratischen Legitimation, 155; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 2015, 97. 47 Zu diesem Gedanken Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 32. 48 So auch jüngst wieder Habermas, Zur Verfassung Europas, 52014, 41; Wieland, in: Kadel­ bach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 211 ff.; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 221 f.; im Kontext der europäischen Staatsschuldenkrise Große Hüttmann / Fischer, T., in: Bieling / Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2013, 49. 49 Winter, Teil I:  Mehr oder weniger Europa?, 23; Ruffert, Europäische Währungspolitik als Herausforderung für das Recht, https://www.jura.uni-bonn.de/fileadmin/Fachbereich_ Rechtswissenschaft/Einrichtungen/Sonstige/Zentrum_fuer_Europaeisches_Wirtschaftsrecht/ Schriftenreihe/Heft_214.pdf, 28.01.2018; Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 491 f. 50 Streinz, in: Möllers (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise, 2013, 21. 51 Kadelbach, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 15. 52 Joerges, in: Joerges / Chalmers / Jachtenfuchs (Hrsg.), The end of the Eurocrats’ dream: Adjusting to European diversity, 2016, 307 f. 53 EuGH, Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 26.10.2012 – C-370/12 (Pringle) – Ziff. 1.

I. Ausgangspunkt

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zu navigieren hilft, gesehen zu werden, sondern gelegentlich nur noch als lästiges Hindernis zu gelten, das dem politischen Willen entgegensteht und daher statt diesen zu formen vielmehr von diesem aus dem Weg zu räumen ist. Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass so inhaltlich umstritten, vielfältig, komplex und unübersichtlich die einzelnen Maßnahmen auch waren, die von den Mitgliedsstaaten und Unionsorganen zur Krisenbewältigung getroffen wurden und so redundant und inkohärent die für sie gewählten rechtlichen Formen auch gewesen sein mögen54, sie doch alle eine Eigenschaft gemein haben: Jede Maßnahme gab wenigstens Anlass zu ernsthaften Zweifeln an ihrer Rechtmäßigkeit55, manche von ihnen gar zur Attestierung eklatantester Rechtsbrüche56 – ein für eine Rechtsgemeinschaft beachtlicher, ja geradezu verstörender Zustand, wiegt in ihr eine Instabilität des Rechts eigentlich doch noch schwerer als eine Instabilität der Finanzen57. Diese Wahrnehmung einer Krise des europäischen Rechts ist für die Europäische Union daher gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch: Da ihr keine Zwangsgewalt zusteht, beruht sie nach der herrschenden Lesart auf dem „einigenden Band“ das Rechts58, das „gleichzeitig Gegenstand und Mittel“ ihrer Inte­gration ist59, und nur weil ihr keine rechtfertigungsbedürftige Zwangsgewalt zukommt, kommt sie wiederum mit ihren gegenwärtigen Legitimitätsressourcen aus60: 54 Dazu jeweils im Einzelnen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Verantwortung für Europa wahrnehmen, 2011, 97 ff.; Kadelbach, EuR 48 (2013), 489, 489, 495; Scharpf, Fritz W., ZSE 9 (2011), 163, 175 ff.; Scharpf, Fritz Wilhelm, ZSE 9 (2011), 324, 324 ff.; Haltern, Europarecht, 119; Mayer, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 208. 55 Möllers, T., in: Möllers (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft  – Währungsunion und Schuldenkrise, 2013, 6; Kadelbach, in: Kadelbach / Günther (Hrsg.), Europa: Krise, Umbruch und neue Ordnung, 2014, 11; Haltern, Europarecht, 29; Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 3; ­Joerges, Integration through law and the crisis of law in Europe’s emergency, 299 f.; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 120. 56 Seidel, EuZW 2011, 241, 241 etwa sieht in der auf Vorschlag der Kommission vom Rat und ohne jede Beteiligung des Europäischen Parlaments am 11.5.2010 verabschiedeten Verordnung (EU) Nr. 407/2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus einen Bruch der europäischen Verträge „in so eklatanter Weise“, wie es ihn bislang kaum gegeben habe. Selbst Mayer, Reformbedarf und Reformperspektiven für die Europäische Union, 208 bescheinigt, dass während der Eurokrise institutionelle Praktiken entstanden sind, die auf keiner rechtlichen Grundlage fußen. Die Rechtmäßigkeit betonend dagegen Jacqué (Hrsg.), A man for all treaties, 2012, Einführung. 57 Vgl. Haltern, Europarecht, 29; Streinz, Rechtsprinzipien des EuGH zur Durchsetzung des Europäischen Rechts, 23; Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 58 Zuleeg, NJW 47 (1994), 545, 548; Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 223; Mayer, in: Schuppert / Bach (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, 479; Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 98; Bogdandy, Der Staat 39 (2000), 163, 163 ff.; Lenz, NJW 46 (1993), 1962–1964, 1963. 59 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 12001, 89. 60 Eine flächendeckende Gewalt jenseits der bloß normativen Kraft des Rechts müsste die Union in ihrer jetzigen Verfasstheit wohl sprengen, vgl. Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 492; Habermas, Zur Verfassung Europas, 58 f. Zum Gedanken, dass das Recht insgesamt ein Konzept der Politik ist, um andere, versiegende Legitimationsquellen zu ersetzen, siehe Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 3.

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§ 1 Einleitung

Die EU ist nach der Konzeption ihrer Gründerväter „Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle, und sie ist Rechtsordnung“, gestützt nicht auf Gewalt, nicht auf Unterwerfung sondern als geistige und kulturelle Kraft auf der „Majestät des Rechts“61 – und auch wenn es zugestanden sein mag, dass es sich bei diesen bombastischen Begriffen zuallererst um solche der politischen Rhetorik handelt, die noch nie einer tiefgehenden kritischen Überprüfung standzuhalten vermochten62 und freilich auch die Union über die ein oder anderen Zwangsmittel verfügt63, können doch nur wenig Zweifel darüber bestehen, dass durch die Perzeption von Rechtsbrüchen während der Eurokrise grundlegende Erschütterungen im politischen und rechtlichen Gefüge der Union stattgefunden haben, die ihr wichtigstes konstitutionelles Moment  – die Verheißung einer demokratischen Verrechtlichung64 – selbst ins Wanken zu bringen vermochten65 und so an das europäische Recht von Neuem die Frage danach stellen, warum es ist, was es ist, wie es ist: die Frage nach der Grundlage seiner Geltung, dem Urgrund seiner Setzung, der Strenge seiner Bindung. Diese Fragen sind umso drängender, als dem Recht in der Union nicht nur als legitimationsstiftendes Narrativ, sondern auch funktional eine entscheidende politische Rolle zukommt: Entsprechend dem Charakter der Union als institutionell nur schwer fassbares, auf dem Gedanken des Verzichts auf Gewalt und der Gewalt des Rechts gegründetes politisches Gebilde66 kommt dem europäischen Recht die entscheidende Rolle in der Bändigung und Balancierung zentrifugaler und zentripetaler politischer Kräfte zu, die jedem politischen Gebilde innewohnen und über ihr Schicksal zu entscheiden pflegen67. Dies zeigt sich auch und gerade im Zusammenhang mit den Ursachen und Folgen der Eurokrise: Da die Mitgliedsstaaten sich im Vertrag von Maastricht zwar auf eine Währungsunion geeinigt haben, diese aber (anders als es der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 EUV vermuten lässt) nicht mit der notwendigen Wirtschaftsunion und schon gar nicht mit einer politischen Union zu flankieren vermochten68, haben sie sich als Ausgleich für diese Divergenz rechtlich dazu verpflichtet, für eine konvergente Wirtschaftspolitik Sorge zu 61

Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 11973, 51 ff. Schorkopf, AöR 2011, 323, 324; Brinker, NZKart 2017, 609, 609. 63 Die Idee, dass die EU keine Zwangs- sondern nur eine Rechtsgemeinschaft ist, ist faktisch gerade nach der Eurokrise überholt, wie nicht zuletzt die stärkeren Sanktionsmechanismen bei der Verletzung der Haushaltsdisziplin (Art. 126 AEUV und „six pack“) sowie das Abdrehen der Geldquellen gegenüber Griechenland durch die EZB gezeigt haben – im Gegenteil lässt sich gerade in Folge der Eurokrise eine Entwicklung von einer Rechts- zu einer Zwangsgemeinschaft zeichnen, vgl. Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. 64 Habermas, Zur Verfassung Europas, 40. 65 Dazu Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 488, 493; Vauchez, Brokering Europe, 12015, 116 f. 66 Kadelbach, Von der Krise zur Reform?, 20. 67 Zu diesem Gedanken des Bestehens zentrifugaler und zentripetaler Kräfte in einer jeden politischen Gemeinschaft vgl. Bryce, Studies in History and Jurisprudence, 1901. 68 Dazu Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 97; Calliess, C., DÖV 66 (2013), 785, 790 f.; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 216; Seidel, in: Caesar / Scharrer (Hrsg.), Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Regionale und globale Herausforderungen, 1998, 374. 62

I. Ausgangspunkt

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tragen69. Mit anderen Worten: Die „normative Kraft“70 des europäischen Rechts wurde als zentripetale Kraft der zentrifugalen Kraft, die eine Divergenz von Wirtschafts- und Währungsunion zu verursachen pflegt71, entgegengesetzt – und die Finanz- und Eurokrise spätestens haben gezeigt, dass diesem Konstrukt kein Erfolg beschieden war72, da die normative Kraft des europäischen Rechts offenkundig zu schwach auszufallen pflegt, um in diesem Kräfteungleichgewicht einen entscheidenden Ausschlag zu bewirken – ja im Gegenteil lässt sich die Reihe der Verstöße gegen die Konvergenzkriterien seit dem Beginn ihres Bestehens bis zur Staatsschuldenkrise und danach mit beeindruckender Regelmäßigkeit benennen73. Die Ansätze zur Erklärung dieses Scheiterns des europäischen Rechts fallen im Einzelnen zwar sehr unterschiedlich aus. Einige etwa sind der Ansicht, dass es sich bei den Regelungen zur Währungsunion, wie sie im Vertrag von Maastricht ausgehandelt wurden, ohnehin nur um eine vorläufige Organisationssatzung gehandelt habe, denen deshalb nicht dasselbe Maß an „normativer Sättigung“ innewohnte wie etwa den Grundfreiheiten. Eine stärkere Bindung dieser Rechtsvorschriften hätte vielmehr einen weiteren normativen Reifungsprozess erfordert, der jedoch 2010, als das „Sturmtief“ der Staatsschuldenkrise anrückte, noch nicht hinreichend abgeschlossen war.74 Diese Deutung scheint auch durch den politischen Willen der Architekten der Währungsunion gestützt zu werden, der bereits zu erwarten schien, dass eine Währungsunion geradezu zwangsläufig eine politische Union nach sich ziehen müsse75 – freilich ohne schon eine konkrete Vorstellung davon zu haben, wie und wann sich dieser weitere Integrationsfortschritt anschließen würde. Andere 69

Pipkorn, Common Market Law Review 31 (1994), 263–291, 272 f. Zu diesem Begriff siehe Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 201999, Rn. 42. 71 „Die Staaten haben dennoch [obwohl sie keine Wirtschaftsunion herzustellen vermochten] die Währungsunion geschaffen, weil sie durch verbindliche Rechtsregeln die Stabilität der Währung und der Finanzen in den Mitgliedstaaten gesichert haben.“ Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 72 Sester, RIW 59 (2013), 451, 456. 73 Die Nichtverhängung einer Sanktion in einem  Defizitverfahren gegen Portugal wurde schon 2002 von Romano Prodi, dem damaligen Präsidenten der EU-Kommission, als „Dummheit“ bezeichnet, vgl. BBC  news article, http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/2336823.stm, 14.11.2017. Eine entscheidende Schwächung erhielten die Stabilitätskriterien jedoch, als Deutschland und Frankreich  – die beiden Säulen der Europäischen Union und des Unionsrechts – in den Jahren 2002 bis 2004 folgenlose die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht einhielten und abschwächten und so demonstrierten, wie normativ kraftlos das europäische Recht und insbesondere das der Währungsunion sein kann, vgl. Wieland, JZ 67 (2012), 213, 214. 74 Sester, RIW 59 (2013), 451, 452 f. 75 Nach der Ansicht des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl etwa war eine politische Union langfristig ein unverzichtbares Gegenstück zu einer Wirtschafts- und Währungsunion, weshalb der Gedanke, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft ohne politische Union verwirklichen, „abwegig“ sein müsse, Kohl, Regierungserklärung zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Rom sowie zur EG-Konferenz in Maastricht, 6. November 1991. Vgl. auch auch Sester, RIW 59 (2013), 451, 452. 70

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§ 1 Einleitung

wiederum halten dem entgegen, dass die Väter von Maastricht davon ausgingen, dass die (nunmehr in Art. 123–126 AEUV) sowie im Wachstums- und Stabilitätspakt aufgesetzten Regularien tatsächlich eingehalten und damit genügen würden, um die finanzielle Stabilität der Eurozone dauerhaft zu gewährleisten76. Alle Erklärungsversuche vermögen es jedoch nicht, den cantus firmus zu ändern, der das Schrifttum zur Eurokrise zwar still, aber für den, der ihn zu hören gewillt ist, doch deutlich zu durchziehen scheint: Das europäische Recht ist schwach – und nur über die Gründe seiner Schwäche besteht Uneinigkeit. Ist es nur temporär schwach, weil es einen einmaligen Schwächeanfall hatte, weil es sich einer Krise, ja einem Ausnahmezustand oder einer necessitas ausgesetzt sah, die bekanntermaßen kein Recht kennen77? Oder ist es vielmehr eine dauerhafte Schwäche in der Art, wie Menschen in ihren sehr jungen (oder sehr alten) Lebensjahren schwach zu sein pflegen und wie sie daher nur sehr begrenzt und situativ schulmedizinischen Heilungsmethoden zugänglich sind? Ist sie heilbar  – durch die Adaption (weiterer) „Versatzstücke“ aus dem kulturellen Arsenal des Nationalstaats78 und insbesondere durch die Einführung einer förmlichen Verfassung, diesem persistenten, derzeit in der Latenz verharrenden79, bei nächster passender Gelegenheit jedoch unweigerlich wieder ans Tageslicht treten müssenden80 Petitum der „Berufseuropäer“81 nach (scheinbarer?) Konstitutionalisierung82, hinter dem sich in Wirklichkeit nicht selten vor allem ein Verlangen nach „mehr Europa“ und einem europäischen Superstaat zu verbergen scheint? Oder ist es eine Schwäche, die tiefer liegt, weil sie die Grundlage seiner Geltung und operativen Prozesse selbst berührt, ja von seinem „innersten Arkanum“83 ausgeht?

II. Untersuchungsziel und Forschungsgegenstand Diese Fragen zu beantworten oder sich ihnen wenigstens erkenntnisfördernd zu nähern ist das Ziel dieser Untersuchung. Ihr Anliegen ist es hierbei, eine gewisse Lücke in der gegenwärtigen Forschung zum europäischen Recht zu schließen: 76

Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 89. In diese Richtung argumentierend Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 12016, 140 Fn. 107; vgl. im Übrigen auch Schmitt, Politische Theologie, 18 f.; Isensee, Die Insolvenzunfähigkeit des Staates, 243. 78 Haltern, Europarecht, 34; kritisch Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147 ff. 79 „Das Verfassungskonzept, das darin bestand, alle bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ zu ersetzen, wird aufge­ geben.“ Europäischer Rat, Deklaration vom 21./22.06.2007. 80 Vauchez, Brokering Europe, 229 weißt zutreffend darauf hin, dass das konstitutionelle Denken im europäischen politischen Denken traditionell so tief verwurzelt, dass es nicht ausgelöscht werden kann und immer aufs Neue entsteht, selbst wenn es offiziell für tot erklärt wurde. 81 Zu diesem Phänomen vgl. Ruffert, Europäische Währungspolitik als Herausforderung für das Recht, 36. 82 Prominent vor allem Habermas, Zur Verfassung Europas, 39 ff. 83 Dazu Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 32. 77

II. Untersuchungsziel und Forschungsgegenstand

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Dieser mangelt es zwar nicht an Arbeiten, die seine Entstehung, seine einzelnen Entwicklungsschritte sowie alle Details der Eurokrise einschließlich ihrer rechtlichen Implikationen genauestens untersuchen. Auch an dogmatischen Arbeiten, die sich der Entwicklung, Auslegung und Systematisierung einzelner Normen und Normenkomplexe, der Implementierung von Richtlinien oder der Rechtsprechung des EuGH beschäftigen, mangelt es gerade der deutschen Europarechtswissenschaft nicht. Ein gewisser Mangel herrscht jedoch an der Literatur, die sich mit den weniger formalen Dimensionen des europäischen Rechts, seinen theoretischen Grundlagen und kulturellen Bedingungen, kurzum: mit seiner Mehrdimensiona­ lität 84 beschäftigen85 – besteht doch gerade seitens der deutschen Europarechtswissenschaft nach wie vor die nicht unerhebliche Tendenz, das „Verfassungsrecht“ der EU als „Verfassungsrecht ohne Politik“ zu betreiben, die Union als rein „juristische Idee“, die „geschriebene Verfassung“ als „heiligen Text“, die Kommentarliteratur als „Rechtswahrheit“, die Rechtsprechung als Feststellung des stets unzweifelhaften Sinns des „Verfassungstextes“ und das „Verfassungsgericht“ als körperlose Stimme der Vernunft und des Sinns der „Verfassung“ zu betrachten86. Mag es bei einer geordneten Rechtsmaterie wie etwa dem deutschen Zivilrecht noch wenigstens als möglich erscheinen, dass ein bloß dogmatischer Ansatz zur Bestimmung und Erklärung des Rechts hinreicht87, so muss dies doch bei einer inkohärenten Materie wie dem europäischen Recht, bei dem sich verschiedenste Rechtstraditionen, Regelungsebenen und institutionelle Entwicklungen mitein­ ander verschrauben, problematisch erscheinen88. Für das europäische Recht gilt daher in besonderem Maße, dass die Mehrdimensionalität des Rechts an die Dogmatik nicht nur von außen herantritt und gewissermaßen als „Fremdkörper“ irritiert, sie gibt dieser vielmehr eine Richtung vor und beeinflusst sie auch inhaltlich, indem sie Umstände und Ziele von Entscheidungen aufdeckt, die sich die Dogmatik wiederum zu eigen macht89. Ja vielmehr noch: Es besteht der Verdacht, dass es gerade jene Dimensionen sind, die nach gemeinläufiger Vorstellung als „nicht-rechtlich“ oder „außer-rechtlich“ gelten, die dem europäischen Recht die entscheidenden Impulse zu geben pflegen und die es bereits begrifflich passender erscheinen lassen, in dieser Untersuchung nicht vom „Europarecht“ – ein den Eindruck von Geschlossenheit und disziplinärer Stringenz erweckender Begriff –, sondern offener und unbestimmter vom „europäischen Recht“ zu sprechen.

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Zu diesem Begriff Haltern, Europarecht, 5. Dahingehend auch Vauchez, Brokering Europe, 2, der attestiert, dass Europarechtler sich für gewöhnlich auf die (unhinterfragten) Annahmen beschränken, dass die EU eine „Union des Rechts“, die Europäischen Verträge eine „Verfassungscharta“ und der Europäische Gerichtshof sowie die Europäische Kommission jene Institutionen sind, die das allgemeine Interesse der EU verkörpern. 86 Shapiro, Southern California Law Review 53 (1980), 537, 538. 87 Haltern, Europarecht, 32. 88 Ebd., 6. 89 Ebd., 5 f. 85

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§ 1 Einleitung

Wenn es daher vor allem diese Dimensionen sind, die die vorliegende Untersuchung in ihr Zentrum rückt, so erfolgt dies mit zwei wesentlichen Zielen: Zum einen möchte sie dazu anregen, das Bewusstsein von der strukturellen Besonderheit und Verschiedenheit des europäischen Rechts zu schärfen und einen Blickwinkel auf dieses zu entwickeln, der auch für die Betrachtung und Analyse anderer (zukünftiger) Probleme hilfreich zu sein verspricht. Nicht zuletzt die Ausführungen in § 3 sowie in § 5 sind vor diesem Hintergrund zu lesen. Zum anderen möchte sie in einer Art stillschweigendem, vom Leser zu ziehenden Umkehrschluss – nämlich durch die Herausarbeitung von Differenzen – die sozio-kulturelle Einzigartigkeit des klassischen konsolidierten Nationalstaates europäischer Prägung betonen und die Erkenntnis fördern, dass sich seine Eigenschaften und Charakteristika, zu denen vornehmlich auch gewisse Merkmale und Eigenschaften einer Rechtsordnung gehören, nicht voraussetzungslos auf andere Konstellationen und Institutionen, seien sie supra- oder transnational, übertragen lassen: Der konsolidierte Nationalstaat und sein Recht sind eine hochgradig artifizielle Angelegenheit, ein Produkt komplexer und spezifischer kultureller Entwicklungsprozesse, und es ist ein Anliegen dieser Untersuchung, insbesondere bei denjenigen, die an seiner Rechtsordnung geschult sind, sich nun aber mit Bezügen konfrontiert sehen, die seinen Rahmen verlassen, ein stärkeres Bewusstsein hierfür zu schaffen; ein Bewusstsein von der Verschiedenartigkeit und Differenz, die insbesondere (rein) dogmatische und technische, um Begriffs- und Systembildungen bemühte Herangehensweisen, (zu denen besonders deutsche, aber auch französische Juristen zu tendieren pflegen), hochgradig problematisch erscheinen lassen90 – besonders in dem Stadium, in dem sich die europäische Integration gegenwärtig befindet91. Dass eine hierdurch gebotene Beleuchtung der Mehrdimensionalität des Rechts aufgrund der dieser innewohnenden Uferlosigkeit freilich immer nur selektiv und exemplarisch erfolgen kann, ist eine der einschränkenden Bedingungen dieser Arbeit.

III. Gang der Untersuchung und methodisches Vorgehen Zur Erreichung dieses Untersuchungsziels wird im folgenden Kapitel (§ 2) zunächst das theoretische Problem des Geltungsgrundes des europäischen Rechts behandelt. Diese Untersuchung ist zuvörderst als Differenzbetrachtung angelegt, die Unterschiede zwischen dem Recht in der Europäischen Union im Vergleich zu jenem des Nationalstaates herauszuarbeiten versucht. Hierbei versteht sich, dass für diese Differenzbetrachtung nicht auf die konkreten Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedsstaaten abgestellt wird – eine solche konkrete Betrachtung würde die Untersuchung notwendigerweise unscharf machen und dazu führen, dass sie sich 90

Shapiro, Southern California Law Review 53 (1980), 537, 538; Snyder, Francis G., New directions in European community law, 1990, 1 ff.; ähnlich Haltern, Europarecht, 4 f.; in diese Richtung gehend neuerdings auch Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 488, 495 f. 91 Haltern, Europarecht, 9, 27, 33.

III. Gang der Untersuchung und methodisches Vorgehen

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ohne vielversprechenden Erkenntnisgewinn in den Einzelheiten und Details der konkreten Gegebenheiten einzelner Mitgliedsstaaten verlieren würde. Das Objekt des Vergleiches, der konsolidierte europäische Nationalstaat, wird vielmehr – wie es seinem Wesen als in die Welt gesetzte Idee entspricht92 – als „Normalvorstellung“93, ja als abstrakter Idealtypus betrachtet94, von dem aus Differenzen hergestellt werden. Nachdem zunächst die klassischen materiellen Geltungsgründe der Vernunft und Gewalt als mögliche Grundlagen des Unionsrechts abgehandelt und verworfen werden, bildet die formalistische Lehre von den hierarchischen Rechtsquellen, die den meisten Vorstellungen vom europäischen Recht wenigstens implizit zugrunde zu liegen scheint, einen wesentlichen Ausgangspunkt der Betrachtung. Diese wird in ihren verschiedenen Ausformungen mit den Besonderheiten der Europäischen Union abgeglichen, aufgrund deren heterarchischer Struktur, die ihrem eigenen Anspruch nach sowohl Schöpfung des Rechts als auch eigenständige Rechtsquelle ist, aber schließlich verworfen. Im Anschluss an diese Verwerfung wird dem insbesondere von Jürgen Habermas verfolgten Versuch nachgegangen, die Geltung des Rechts mittels eines intersubjektiven Ansatzes, einer legitimitäts- und damit geltungserzeugenden (Diskurs-)Ethik, zu begründen – einem Ansatz, dem im europäischen Kontext ebenfalls kein durchschlagender Erfolg beschieden sein kann, weil er letztlich das voraussetzt, was er zugleich zu ersetzen zu versucht und was es in Europa nicht gibt: Universelle, klar bestimmbare Gewalt und Vernunft. Die Betrachtung der normativ geprägten Vorstellungen von der Rechtsgeltung schließt mit einem Blick auf das von Hans Albers entwickelte Münchhausen-­ Trilemma, das zutreffend zeigt, dass jeder Letztbegründungsversuch – und somit auch die Begründung der Geltung des Rechts – letztlich scheitern und auf eine paradoxe Begründung des Unbegründbaren hinauslaufen muss: Entweder auf einen infiniten Regress, einen Zirkelschluss oder einen Abbruch des Verfahrens, die in ihren jeweiligen Wirkungen im besonderen Falle der Europäischen Union noch verschärft auftreten und alle dargestellten Begründungsversuche besonders unplausibel erscheinen lassen müssen. Von diesem toten Punkt, von dieser Dekonstruktion der tradierten Geltungstheorien aus wird im darauffolgenden Kapitel (§ 3) Luhmanns Theorie von der Rechtsgeltung als Verknüpfungssymbol und bloßem Zeichen für die Anschluss­ fähigkeit von Rechtsoperationen, die auf Letztbegründungsversuche verzichtet, auf den Schild gehoben. Da der Luhmann’sche Ansatz entscheidend auf die Ebene der 92

„Denn der Staat ist – nicht anders als die Gesellschaft, in der er ruht – im Kern Idee, erst dann praktische Organisation, in der sich die Idee verwirklicht. Sind in die Wirklichkeit gesetzte Ideen wie der Staat auch insofern Seiendes, so bleiben sie doch zugleich voluntativ wie normativ: vom Menschen gewollt und als Sollen in die Welt gesetzt.“ Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1. 93 Schmitt, Die Lage der Europäischen Rechtswissenschaft, 1950, 9. 94 Zum Begriff des Idealtyps siehe Weber, Gesammelte Aufsätze, 71988, 190 ff.

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§ 1 Einleitung

Rechtsoperationen selbst abstellt, wird von ihr die Brücke von allgemeingültigen Geltungstheorien zu einer theoretischen Betrachtung der grundlegenden Operationsweisen des europäischen Rechts geschlagen: Sie dient als Scharnier von der abstrakten Betrachtung der einzelnen Geltungstheorien hin zu einer konkreten Betrachtung der Operationsmodi, in denen und durch die das europäische Recht auf seiner Programmebene wirkt. Diese konkrete Betrachtung wird zeigen, dass das europäische Recht sich nicht nur in seiner Geltung ständigen Widersprüchen und Ambivalenzen ausgesetzt sieht, sondern – im Unterschied zum nationalstaatlichen Recht – auch auf Grundlage derartiger Widersprüche und Ambivalenzen operiert: Ein Umstand, der letztlich in einer soziologischen Bindungsschwäche begründet liegt und den Anschluss und Ausschluss von Rechtsoperationen in Europa schon auf der Programmebene zu einem in weiten Teilen erratischen Unterfangen macht. Von dieser Unzulänglichkeit aus werden im anschließenden Kapitel (§ 4) die drei wesentlichen Eigenschaften begründet, die die Erscheinung des europäischen Recht mit zunehmendem Fortschritt des Integrationsprozesses gehäuft zu prägen scheinen: Erstens seine Informalisierung und das Verlassen der im Nationalstaat entstandenen Errungenschaft des Regierens mittels aufgrund klar geregelter Verfahren erzeugten Rechts, zweitens seine Fragmentierung und die immer häufigere Abkehr von der Idee einer einheitlichen Rechtsordnung sowie schließlich – drittens – die zunehmende gleitende Dynamisierung seiner Bedeutungsgehalte, die nicht nur die Grenze zur Rechtskonkretisierung95, sondern bereits jene zur grundlegenden Rechtsänderung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Diese anhand theore­tischer Modelle herausgearbeiteten Erkenntnisse werden anhand konkreter Beispiele exemplifiziert, wobei als vorrangiges Anschauungsbeispiel die „drei hektischen Jahre“ der Eurokrise von Frühjahr 2010 bis Frühjahr 2013 herangezogen werden96. Im hierauf folgenden Kapitel (§ 5) wird auf den wichtigsten Ansatz eingegangen, der diese – gemeinhin als Defekte wahrgenommenen – Eigenschaften des europäischen Rechts zu heilen bestrebt ist: Das Projekt zur Schaffung einer förmlichen europäischen Verfassung, das in seinen Besonderheiten und Wirkmöglichkeiten besonders betrachtet und zunächst aufgrund des in seinem Kontext vorherrschenden legitimistischen Verfassungsverständnisses als Projekt zur Schaffung eines europäischen „Verfassungsstaates“ gedeutet wird. Von diesem Blickwinkel aus findet eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Konzepts des Verfassungsstaates statt, die dessen Abhängigkeit von primordialen Bindungen und dem Begriff der „Nation“ als Trägerin derselben beleuchtet und daher die Möglichkeit der Schaffung eines europäischen Verfassungsstaates ablehnt, da in Europa diese Voraussetzungen bisher nicht gegeben sind. Die Union wird stattdessen als postmoderne politische Struktur beschrieben, die zwischen der globalen Welt und der 95

Dass der Rechtsinterpretation selbst rechtsproduzierende Qualität zukommt, ist heute weitgehend anerkannt, vgl. Vesting, Rechtstheorie, Rn. 195; Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 166. 96 Zur Sinnhaftigkeit dieser zeitlichen Eingrenzung Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 120.

III. Gang der Untersuchung und methodisches Vorgehen

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Welt der Nationalstaaten steht und die daher festgefügte einheitliche Sinnwelten, wie sie sich in Begriffen wie „Verfassung“ spiegeln könnten, noch viel mehr als der Nationalstaat nicht mehr zulässt. Von dieser erneuten Dekonstruktion aus erfolgt eine Auseinandersetzung mit der heterarchischen und polyarchischen Netzwerkstruktur der Union, in der es nur noch Fragmente, nur noch Teilverfassungen gibt, zwischen denen eine „europäische Verfassung“ nur die Herstellung von kompatiblen Bezügen und normativen Verklammerungen zur Aufgabe haben und insofern als „Netzwerk von Netzwerken“ dienen kann – und zwar nicht im Sinne einer hierarchisch über den Teilsystemen stehenden, sondern einer sich in den Teilsystemen dezentral durch laufende Konfliktbewältigungen herausbildenden Meta-Verfassung. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wird unter der Annahme, dass Ordnung und Rechtsordnung in Europa nur kongruent gedacht werden können, ein Verständnis vom europäischen Recht als variabler Rechtsordnung entwickelt, das nicht auf Einheit und begriffliche Festlegungen, sondern auf polyarchische Offenheit und Adaptivität zwischen verschiedenen Regulierungs- und Entscheidungsverfahren abzielt, keine klare Trennung zwischen Normativität und Faktizität zulässt und daher zur Beschreibung des europäischen Rechts angemessener als das Konzept der „Rechtsgemeinschaft“ sein muss. Es ist ein Verständnis, das nicht mehr von klaren Unterscheidung, sondern nur noch von permanenten Überlappungen konkurrierender normativer Bestände ausgeht, zwischen denen das Recht nicht starr und gleichmäßig, sondern flexibel und variabel zu vermitteln und zu vermakeln hat. Das Konzept von der variablen Rechtsordnung ist damit Ausdruck einer grundlegenden Abkehr von einem Denken von der Einheit und Hierarchie hin zu einem Denken von der Differenz und Vielfalt her, auf dem diese Arbeit wesentlich beruht und das schließlich (§ 6) anhand dreier konkreter Beispiele veranschaulicht wird.

§ 2 Geltungsmangel: Über die Unmöglichkeit der verbindlichen Bestimmung eines Grundes für die Geltung des europäischen Rechts Was ist die Grundlage der Geltung des europäischen Rechts? Was ist es, das aus einem Stück Druckerschwärze, einem Flimmern auf einem Bildschirm, gespeist aus einer Datenmenge aus einem winzigen Winkel des unüberschaubaren Ozeans des weltweiten Netzes europäisches Recht macht, das Anspruch auf direkte und unmittelbare Anwendung1, ja auf absoluten Vorrang2 erhebt? Was ist es, das seiner Befolgung die Dignität des Rechtmäßigen, seiner Missachtung aber den ­Makel des Rechtsbruches verleiht? Und vor allem: Inwieweit muss sich die Antwort auf jene Fragen von der unterscheiden, die herkömmlich aus dem Blickwinkel des Nationalstaates gesprochen wird? Sich diesen Fragen überhaupt stellen zu müssen, ist ein verstörendes Unter­ fangen, das dem Juristen Unbehagen bereiten muss: Das Problem des Geltungsgrundes des Rechts ist im „staatsrechtlichen Normalzustand“ eigentlich überflüssig,3 seine Beschäftigung mit ihm schon Zeichen einer Krise oder wenigstens einer Irritation eingespielter Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsmechanismen. Dieses Unbehagen muss im Falle der Europäischen Union noch insofern verschärft auftreten, als die meisten Theorien zur Grundlage der Rechtsgeltung staatszentriert sind, d. h. die Existenz eines konsolidierten Staates mit einem Gewaltmonopol voraussetzen4. Die EU jedoch ist kein Staat und soll wohl auch kein solcher werden; insofern ist die Anwendung staatstheoretischer Begriffe  – wie u. a. den der Rechtsgeltung – auf sie eigentlich verfehlt. Allerdings mangelt es an Begriffen, die ersatzweise auf die Union angewendet werden könnten, sodass die Europäische Union sich Staatsanalogien nicht entziehen kann5; für sie gilt in besonderem Maße, dass politische Gemeinschaften unter den Bedingungen begrifflicher Ungewissheiten6 nach wie vor nur analog zum europäischen Nationalstaat gedacht werden können7  – eine unbefriedigende Verlegenheitslösung, zu der es allerdings nur wenige Alternativen zu geben scheint.

1

EuGH, 05.02.1963 – Rs. 26/62 (Van-Gend-&-Loos) = Slg. 1963, 12. EuGH, 15.07.1964 – Rs. 6/64 (Costa / Enel) = Slg. 1964, 1251. 3 Rüthers / Fischer, C. / Birk, Rechtstheorie, 102018, Rn. 332. 4 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 152. 5 Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 2010, 2. 6 Dazu allgemein Vesting, in: Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance: Perspektiven eines produktiven Umgangs mit Unsicherheit im Rechtssystem, 2009, 39 ff., 47 ff. 7 Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 4. 2

I. Herkömmlicher Ausgangspunkt der Rechtsgeltung

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I. Herkömmlicher Ausgangspunkt der Rechtsgeltung: Vernunft und Gewalt Theorien, die die Geltung des Rechts, die Kraft des Rechts oder das Recht der Kraft zum Gegenstand haben, nehmen ihren Ausgangspunkt gewöhnlich entweder in der Betonung der zwanglosen Autorität, der Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit des Rechts oder aber in seiner Bezogenheit auf und Abhängigkeit von politischen Strukturen und faktischer Macht: Vernunft und Gewalt sind die beiden Pole, zwischen denen sich Theorien zur Rechtsgeltung in verschiedensten Schattierungen traditionell zu bewegen pflegen8, und der Verdacht liegt nahe, dass hinter diesen Polen sich derselbe grundlegende anthropologische Streit verbirgt, der auch die Theorien über die Rechtfertigung politischer Strukturen selbst von alters her zu prägen scheint: Ist der Mensch von Natur aus gut, vernünftig und friedliebend, dann genügt die einleuchtende Darlegung der Vernünftigkeit des Rechts und seines Beitrages zur Friedenssicherung, um auch seine Befolgung zu garantieren; ist der Mensch hingegen von Natur aus böse, unberechenbar und gewalttätig, dann bedarf es der eisernen Faust einer flächendeckenden, jederzeit effektiv ausübbaren Gewalt, um dem Recht zur Geltung zu helfen. 1. Die Europäische Union als gewaltlose Rechtsgemeinschaft? Betrachtet man die herkömmliche Vorstellung, die der Europäischen Union und dem europäischen Recht zugrunde liegen, so scheint es, als sei der Streit zwischen diesen beiden Polen unter Ausschluss jeder in ihrer Mitte liegenden Schattierung eindeutig entschieden: Die Europäische Union verfügt ihrem Anspruch nach über keine eigenen Gewaltmittel, keinen Herrschaftsapparat, der ihr Recht gegenüber ihren Mitgliedsstaaten faktisch durchzusetzen vermöchte: „Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft: das Recht“9, dem keine andere Autorität zuzukommen scheint als die der Vernunft. Der Gedanke, dass – wie Max Weber ausführt – „legale Herrschaft“ stets auch einen „gewaltsamen Rechtszwang“ voraussetzt10, der wiederum eines „auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“ erfordert11, ist ihr fremd und stellt sich ihrem Recht scheinbar erst gar nicht: Vielmehr scheint sie – ähnlich wie das Völkerrecht – von dem Gedanken auszugehen, dass die seinem Geltung unterworfenen Mitgliedsstaaten es auch dann beachten werden, wenn hinter ihm keine Vollstreckungsgewalt steht und so schon mit der bloßen Frage nach der freiwilligen 8 So Fischer-Lescano, Rechtskraft, 2013, 19, in Anlehnung an Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 12008, 84. 9 Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 51. 10 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 185. 11 Ebd., 17.

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Anerkennung das europäische Recht als „gemeinsame Basis“ steht und fällt12; sie scheint, um es auf die Ursprungsfrage zurückführen, „anthropologischer Optimist“ zu sein, der die Vernünftigkeit der staatlichen Regierungen und Verwaltungsapparate permanent voraussetzt und den Fall, dass die (faktisch bestehende) Verkoppelung von Politik und Recht einen Einbruch irrationaler und dynamischer Elemente in die statische Rationalität des Rechts bewirken13 und somit in ihrer juristischen oder faktischen Geltung zu erschüttern vermögen könnte, weder einzuplanen noch zu bewältigen versucht. Allerdings: Auf die Frage, von welchem der beide Pole der Geltungsgrund des europäischen Rechts tatsächlich zu bestimmen ist, können diese Programmsätze keine Antwort geben. Sie geben vielmehr nur einen Anhaltspunkt für das politische Selbstverständnis der Union, nicht aber dafür, wie sie in der Praxis die Wirksamkeit ihres Rechts tatsächlich bewirkt. Verfügt nicht die EU im Gegenteil in Wirklichkeit über ein ganzes Instrumentarium an Sanktionsmechanismen, mit denen sie renitente Mitgliedsstaaten notfalls zur Einhaltung des europäischen Rechts zwingen kann und das sie nicht selten in aller Schärfe einzusetzen gewillt ist? Steht ihr nicht jederzeit die Möglichkeit offen, Rechtsverletzungen im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens14 durch die Verhängung von Zwangsgeldern gegen einzelne Mitgliedsstaaten zu ahnden15, ja bei schwerwiegenden und anhaltenden Rechtsverletzungen derselben sogar deren Mitgliedschaftsrechte zu suspendieren16? Und vor allem: War nicht die Eurokrise von einer ganzen Reihe von Zwangsmaßnahmen begleitet gewesen, die darauf gerichtet waren, überschuldete Mitgliedsstaaten entgegen dem Willen ihrer Regierungen und Bevölkerungen zu einschneidenden Sparmaßnahmen zu bewegen – nicht durch die zwanglose Gewalt des Rechts und die Vernunft des möglicherweise hinter ihr liegenden besseren Arguments sondern durch die nackte Gewalt des drohenden finanziellen Ruins, der ihnen im Fall weiterer Verletzungen von Regeln und Konventionen gedroht hätte? Die Idee, dass die EU keine Zwangs-, sondern nur eine Rechtsgemeinschaft ist, die Gewalt zur Gewährleistung der Geltung ihres Rechts kategorisch ausschließt, ist jedenfalls zunehmend fraglich geworden, wie nicht zuletzt die stärkeren Sank-

12 Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der Währungsunion und Schuldenkrise, 5; Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 99; dahingehend auch plastisch Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636: „Zentrales Merkmal der europäischen Rechtsgemeinschaft ist ihre Eigenschaft als Freiwilligkeitsgemeinschaft. Sie ist auf ‚freiwilliges Mitmachen‘ angewiesen, weil sie anders als der Nationalstaat keine Machtmittel hat und haben soll, um Rechtsverweigerung gewaltsam zu brechen. Die EU hat keine eigene Vollzugsgewalt und keine Zwangsbefugnisse; keine eigenen Polizisten oder Soldaten. Sie verfügt zwar über Stempelkissen, nicht aber über Schießeisen.“ 13 Habermas, Zur Verfassung Europas, 44; Leibholz, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 6 (1957), 120 ff., 121 f.; kritisch hinsichtlich dieser Unterscheidung Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 1985, 146 f. 14 Art. 258 ff. AEUV. 15 Art. 260 Abs. 2, 3 AEUV. 16 Art. 7 Abs. 3 EUV.

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tionsmechanismen bei der Verletzung der Haushaltsdisziplin17 sowie das Abdrehen der Geldquellen gegenüber Griechenland und Zypern durch die EZB eindrucksvoll gezeigt haben18. Vielmehr scheint es nicht auszuschließen zu sein, dass die EU sich im Zuge der steigenden Intensität der auf ihrer Ebene getroffenen politischen Entscheidungen in zunehmendem Maße auch auf Zwangsmittel zur Durchsetzung ihrer politischen Entscheidungen stützen, ja sich in Richtung einer politisierten Zwangsgemeinschaft entwickeln könnte19. Der Gegensatz zwischen Zwangs- und Rechtsgemeinschaft, wie ihn die Europarechtswissenschaft bisher zu konstruieren pflegte, kann jedenfalls in seiner Radikalität nur noch schwer aufrechterhalten werden: Es mag zwar richtig sein, dass die Europäische Union keinen Mitgliedsstaat mit Zwang in der Union zu halten vermag20 und keine eigenen Vollstreckungsorgane vorzuweisen hat, nur „über Stempelkissen, nicht aber über Schießeisen“ verfügt21. Zudem haben die Mitgliedsstaaten der Verhängung von Zwangsmitteln durch die Europäische Union ausdrücklich zugestimmt, ja es entspricht gerade auch ihrer staatlichen Souveränität, auf Souveränitätsrechte freiwillig zu verzichten und sich insofern einer fremden Gewalt zwanglos rechtlich zu unterwerfen22. 2. Die Gewalt des Rechts und die Rechtsgemeinschaft a) Recht und Gewalt: Eine grundlegende Verhältnisbestimmung Die Einwände, die einer strengen Dichotomie zwischen Rechts- und Zwangs­ gemeinschaft entgegengehalten werden müssen, sind jedoch noch viel grundlegender und bereits im Begriff der „Rechtsgemeinschaft“ selbst angelegt: Recht ist immer auch eine „Manifestation von Gewalt“, eine Behauptung zwingender Autorität und von dieser daher niemals zu trennen23. Denn weil die Autorität keine uneingeschränkte und ungebrochene Hinterfragung zulässt24, ja sich letztlich daher auf nichts anderes stützen kann „als auf sich selbst, sind der Ursprung der Auto­ 17

Vgl. nur etwa Art. 126 Abs. 11 AEUV sowie Art. 5, 6, 8 Verordnung (EU) Nr. 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, ABl. L 306/1 vom 23.11.2011. 18 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. 19 Ebd., 492 f. 20 Vgl. insbesondere die Möglichkeit des Austritts nach Art. 50 AEUV. 21 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636. 22 Marauhn, in: Dabrowski (Hrsg.), Die Diskussion um ein Insolvenzrecht für Staaten: Bewertungen eines Lösungsvorschlages zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise, 2003, 293. 23 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, 57; in dieselbe Richtung erstaunlicherweise Habermas, Zur Verfassung Europas, 44. 24 „Das Recht entzieht sich jeder Form von ‚Deliberation‘ und muss ähnlich wie die Grammatik einer Sprache als notwendiger Teil des way of life hingenommen werden.“ Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 40 f.

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rität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat)“25. Das Recht entspringt „der Willkür seiner eigenen Positivität“26, was die Vorstellung, Recht und Gewalt voneinander vollständig trennen zu können, als illusorischen Formalismus erscheinen lassen muss. Diese Gewalt, die dem Recht zugrunde liegt, muss zwar nicht das Resultat einer willkürlichen, beliebigen Freiheit27 oder der Entscheidung eines als Subjekt zu denkenden Souveräns28 sein – eine solche klar zurechenbare Gewalttat erscheint heute bereits im Hinblick auf die zunehmende Fragmentierung des europäischen Nationalstaates, vielmehr aber noch im Hinblick auf den polyzentrischen Verbandscharakter der EU als überholt29. Die dem Recht selbst innewohnende Gewalt sowie die politischen und ökonomischen Konsequenzen, die aus seiner Missachtung resultieren können, zeigen jedoch, dass Gewalt als Geltungsgrund des europäischen Rechts wenigstens nicht von vornherein gänzlich ausgeschlossen werden kann30 – jedenfalls soweit der Betrachter gewillt ist, einen deskriptiven Ansatz seiner Analyse zugrunde zu legen. Zwar verfügt die EU anders als ihre Mitgliedsstaaten und ihre Organe tatsächlich über keine Vollstreckungsapparate und ist somit wesentlich auf die normative Kraft des Rechts angewiesen31; sie ist insoweit eine „Freiwilligengemeinschaft“32, die ihren Ursprung nicht in der „Speerspitze“ hat33. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Befolgung ihres Rechts selbst wiederum nur ein freiwilliges Unterfangen ist, dessen Geltung mit dem bloßen Willen zum „freiwilligen Mitmachen“ zusammenfällt34, ja gleichsam auch immer systemisch die stete Option offenhält, ihm aus freiem Willen oder aus „vernünftigen Gründen“ die Gefolgschaft zu versagen. Gerade die Währungskrise und die strenge Konditionalität, unter der die finanziellen Hilfen gewährt wurden, demonstrieren vielmehr eindrücklich, dass das europäische Recht mit dem wachsenden Maß der Integration der Wirtschaftsund Währungsunion auf ein großes Arsenal an wirtschaftlichen und politischen Druckmitteln zurückgreifen kann, um Recht nicht nur auch gegen den erklärten Willen des unmittelbar betroffenen Mitgliedsstaates gleichsam wie in einem Über 25

Derrida, Gesetzeskraft, 82017, 29. Teubner, Recht als autopoietisches System, 11989, 7 f. 27 Schmitt, Die Diktatur, 72006, 142. 28 Schmitt, Politische Theologie, 13. 29 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 272; Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 602. 30 Interessant in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung von Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 369 über die Argumentationsmuster des EuGH bei der Bestimmung seines Verhältnisses zu nationalen Verfassungsgerichten: „Schaut man sich die Begründungen von EuGH und BVerfG für ihre jeweilige Position an, fällt auf, dass der EuGH eher mit dem Argument der Macht als mit der Macht der Argumente operiert. Er betont schlicht, dass es notwendig ist, eine Einheit und Effektivität der Rechtsordnung herzustellen. Schon die Frage nach dem Warum, dh warum die Notwendigkeit denn bestehe, stellt er sich nicht. Er fordert die Folgebereitschaft und seine Kompetenz, das letzte Wort zu haben, schlicht ein.“ 31 Habermas, Zur Verfassung Europas, 58 f. 32 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636. 33 So bezogen auf das römische Recht plastisch Esposito, Immunitas, 12004, 41 ff., insb. 43. 34 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636. 26

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und Unterordnungsverhältnis zu setzen, sondern seine Missachtung notfalls auch effektiv zu sanktionieren. Diese willensbeugenden Druckmittel, die sowohl die Setzung von Recht als auch die Sanktion seiner Missachtung ermöglichen, sind dabei umso sensibler und wirkungsvoller, als sie die Finanzen, die „Nerven eines Staates“35 selbst betreffen, ohne die kein öffentliche Gewalt ausübender Apparat, kein Staat zu existieren vermag36. Die Zwangsmittel, die der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten in den Fällen eines mangelnden Willens zur Rechtssetzung oder zur Rechtsbefolgung gegen einzelne Mitgliedsstaaten faktisch zur Verfügung stehen, könnten insoweit teilweise einschneidender und totaler nicht sein: Die Überschreitung der staatlichen Leistungsfähigkeit durch den Entzug ihrer finanziellen Basis, die hierdurch drohende Existenzvernichtung37 des unwilligen Mitgliedsstaates selbst. b) Die Gewalt einer „zwanglosen Rechtsgemeinschaft“ Handelt es sich bei diesen Zwangsmitteln, bei dieser Melange aus politischen, ökonomischen und rechtlichen Sanktionen allerdings um „Gewalt“? Diese Frage muss freilich dann verneint werden, wenn man „Gewalt“ im Sinne eines staat­ lichen Gewaltmonopols versteht, das im Konfliktfall auf Rechtsbrüche unmittelbar und flächendeckend mit effektiven Vollstreckungshandlungen reagieren kann. Ein solches „staatszentriertes“ und gleichsam axiomatisches Verständnis von Gewalt erscheint jedoch bereits im Hinblick auf die Realität des modernen Nationalstaates als verfehlt38, schließt sie doch die in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft bestehenden Ahndungen von Rechtsverletzungen sowie die korrespondierende Bewirkung von Rechtsgehorsam durch nicht-staatliche Akteure wie etwa Protestbewegungen, NGOs, Presse, multinationale Konzerne oder soziale Bewegungen und den von ihnen ausgehenden öffentlichen Skandalisierungen  – kurzum: die Setzung und Durchsetzung von Recht durch nicht-staatliche Akteure – künstlich aus der Betrachtung aus39. Versteht man den Begriff der „Gewalt“ jedoch weiter und vielschichtiger, so wird man die strenge Trennung zwischen Gewalt und Rechtsgemeinschaft im europäischen Kontext nur noch durch ein formales Argument aufrechterhalten können: Den Verweis auf die Möglichkeit des Austritts aus der Union40 – eine Möglichkeit, die trotz des Austritts Großbritanniens im alltäglichen Wirken des europäischen Rechts jedoch weiterhin rein theoretisch bleibt und kein permanent drohendes, reelles Szenario darstellt; sind, wie gerade das Beispiel Großbritanniens zeigt, die Konsequenzen, die Mitgliedsstaaten bei einem mög­ 35

Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 1986, VI, 2 (F 855). Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, 265. 37 Dazu Leisner-Egensperger, Die Leistungsfähigkeit des Staates, 1998, 31. 38 Doehring, Allgemeine Staatslehre, 32004, Rn. 263. 39 Teubner, in: Ladeur (Hrsg.), Public Governance in the Age of Globalization, 2004, passim; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 152. 40 Schorkopf, AöR 2011, 323, 335; Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636. 36

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lichen Austritt in ökonomischer, politischer und rechtlicher Hinsicht drohen doch von einem solchen Ausmaß, dass sie jede hierauf bezogene Drohung geradezu der Lächerlichkeit preisgeben würden. Dies gilt umso mehr in Bezug auf einen drohenden Austritt aus der Währungsunion, der bezeichnenderweise im europäischen Recht auch noch nicht einmal vorgesehen ist41. Kurzum: Die Geltung des europäischen Rechts und die Existenz der Europäischen Union basieren nicht einzig darauf, dass die Mitgliedsstaaten sich freiwillig, gleichsam nur aus Vernunftgründen an die Regeln halten42. Vielmehr ist Gewalt mit dem Recht im Allgemeinen und mit dem europäischen Recht im Besonderen untrennbar verwoben. Diese Einsicht in die Verbindung zwischen Gewalt und Recht muss im europäischen Kontext eigentlich weitgehende Konsequenzen haben. Denn anders als auf nationalstaatlicher Ebene gibt es auf EU-Ebene als Folge des Konzepts der Rechtsgemeinschaft keine normative Trennung zwischen Gesellschaft und Recht; alle Bereiche der europäischen Politik, Ökonomie, Bürokratie oder Zivilgesellschaft sind vielmehr dem Anspruch nach entweder Produkt oder Co-Produkt von Juristen und vom Recht durchdrungen43. Sofern nun aber der Geltungsgrund des europäischen Rechts Gewalt mit einschließt, so kann es nicht sein, dass die Union in dem Sinne „Schöpfung des Rechts“ ist, wie Hallstein es gerade unter Ausschluss jeder Form von Gewalt zu begründen versuchte44. Sie wäre in einem solchen Fall vielmehr zugleich auch (mittelbar) Schöpfung der Gewalt; ein autoritärer Akt, eine Charte octroyée stünde mit an ihrem Anfang und wäre eine der Grundlagen ihres Zusammenhaltes, dessen gewaltsame Setzung in Gestalt der Sanktionierung von Rechtsbrüchen kontinuierlich fortgeschrieben werden würde. Was aber würde dies im Einzelnen für den Geltungsanspruch des aus ihr abgeleiteten Rechts, die Legitimität der von ihr begründeten Institutionen bedeuten? Hier muss die vorliegende Untersuchung abbrechen. 3. Vernunft und Gewalt als Faktoren im europäischen Recht: Das Problem der fehlenden Einheit Welche der beiden Pole ist es nun aber, der dem europäischen Recht Geltung verleiht – Vernunft oder Gewalt? Oder wenigstens: Welchem dieser beiden Faktoren kommt die größere Bedeutung zu? Diese Fragen zu beantworten ist bereits bei Zugrundelegung eines klaren Vernunft- und Gewaltbegriffes schwierig, jedoch wohl fast unmöglich, wenn – wie im europäischen Kontext – selbst diese begrifflichen Gewissheiten schwankend erscheinen. Was könnte eine europaweit gültige Vernunft sein – die Vernunft hinter und in einem heterogenen, multikulturellen und 41

Meyer, D., EuR 2013, 334, 334; Hanschel, NVwZ 2012, 995, 1000. So aber Oppermann, EuZW 2015, 201, 201. 43 Vauchez, Brokering Europe, 4; Schorkopf, AöR 2011, 323, 340. 44 Hallstein, Die EWG – eine Rechtsgemeinschaft, 344; Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 51; ähnlich heutzutage Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3635. 42

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multilingualen Recht45, das weder auf eine juristische Person, einen politischen Körper oder den Willen eines Souveräns zurückgeführt werden kann46, sondern vielmehr als Produkt vielfältiger Rechtserzeugungsverfahren zu denken ist47 – ohne irgendeine Einigkeit über ihre Gestalt, Natur oder Finalität48? Eine irgendwie in das Recht hineinzulegende Vernunft könnte vor diesem Hintergrund nicht axiomatisch-deduktiv, sondern allenfalls diskursiv und prozedural verstanden werden – jedoch: Wie sollen die Voraussetzungen, der fruchtbare Boden für derartige anspruchsvolle Konzepte gegeben sein, wenn noch nicht einmal die Wissenschaft vom europäischen Recht in der Lage ist, eine einheitliche Disziplin darzustellen, sondern vielmehr selbst in einzelne nationale Segmente zerfällt, die kaum etwas voneinander wissen49? Wie soll dann europaweit eine rechtserzeugende Kommunikation stattfinden, die das für jede Rechtserzeugung zentrale „gemeinsame Wissen“ entwickelt und transportiert50? Und wie verhalten sich diese Voraussetzungen, die ein vernunftbasiertes Recht erfüllen müsste, zu den bereits aufgedeckten vielfältigen Formen von Gewalt, die mit dem europäischen Recht verwoben sind? Wirkt die Gewalt nicht ständig auf die Vernunft ein und verhindert, dass diese sich voll entfalten und durchsetzen kann, ja verteilt sie nicht die „Argumentations- und Beweislasten innerhalb der ‚Diskursformationen‘ (M. Foucault)“ – eine Gewalt „nicht des besseren Arguments, sondern der unausgesprochenen Regeln, die darüber bestimmen, was relevant ist“51? Und noch viel grundlegender: Kann ein auf rein praktischem Wissen, auf bloß betriebsblinder Technik statt auf reinen Vernunftgründen basierendes Recht nicht möglicherweise im Ergebnis sogar „vernünftiger“ ausfallen als ein solches, das das Produkt diskursiv-deliberativer Verfahren ist52? Was ist auf der euro­ päischen Ebene der Maßstab, der ontologische Ankerpunkt, von dem aus sich die Beantwortung solcher grundlegender Fragen vollziehen könnte? Die Antwort auf diese Fragen müssen ernüchternd ausfallen: So unterschiedlich die beiden unterschiedlichen Konzepte der Gewalt und Vernunft äußerlich auch sein mögen, so sehr Vernunft auf der einen und bloße Gewalt auf der anderen Seite einander auszuschließen scheinen, so laufen beide Pole doch letztlich auf etwas hinaus, was im europäischen Kontext nicht bestehen kann: Die Konzeption einer Einheit, die in der Masse der Rechtsunterworfenen selbst oder aber in dem Rechtserzeuger verankert ist und entweder eine eindeutige Zurechnung der ausgeübten Gewalt ermöglicht oder aber die Formung eines klaren Vernunftbegriffes zulässt; entweder eine umfassende und einheitliche Vernunft, die bewirkt, dass alle 45

Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170. So prominenterweise Hobbes, Leviathan, 1996, XXVI, 1 ff. 47 Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 36. 48 Haltern, Europarecht, 3. 49 Eindrücklich Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 155, 158. 50 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 235. 51 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 145. 52 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 183. 46

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Rechtsunterworfenen die Geltung des gesetzten Rechts anerkennen oder aber eine Einheit zwischen Gewalt und dem Willen des Normgebers, der mithilfe des ihm unterworfenen Machtapparates zu bestimmen vermag, was Recht oder Unrecht ist. Wie dieser Rekurs auf den Gedanken eines einheitlichen Willens zeigt, sind beide Konzepte notwendig von der Vorstellung eines politischen Gebildes geprägt, das sich selbst als Einheit begreift: Der konsolidierte Nationalstaat, der in seinem Idealtyp sowohl ein einheitliches Staatsvolk mit einer einheitlichen Sprache und Kultur als auch einen einheitlichen, klaren Zurechnungssemantiken zugänglichen Normgeber mit einem seinem Willen unterworfenen und zur flächendeckenden Rechtsdurchsetzung fähigen Machtapparat verfügt. Nur unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen ist es möglich, den entscheidenden Akzent der Rechtsgeltung entweder auf ein einheitliches Element, das die Rechtsunterworfenen mit umfasst – eine einheitliche und umfassende Vernunft – oder aber auf eine Einheit zwischen Gesetzgeber und Rechtsdurchsetzung – einen einheitlichen Gewaltapparat – zu legen: Es ist letztlich die Unterstellung einer Kongruenz von Recht und Vernunft oder Recht und Gewalt in der Einheit des Nationalstaates, die der Begründung der Rechtsgeltung entweder in der Vernunft oder in der Gewalt jeweils zugrunde liegen. In der Welt der Nationalstaaten, in denen Gedanken von Einheitlichkeit, Homogenität und Hierarchie, die sie früher geprägt haben, deskriptiv selbst zunehmend brüchig werden53, mag es eine solche Einheit wenigstens noch normativ in der Verfassung samt des mit ihr überlieferten Traditionskorpus als „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit“54 geben, von der aus entweder ein einheitlicher Vernunftbegriff oder aber eine zentrale Gewalt konstruiert werden können, etwa in der Zurechnung aller Staatsgewalt zu einem (imaginierten) souveränen Volk. In der Europäischen Union hingegen fehlt ein solcher Ankerpunkt. Sie ist eine semi-autonome, netzwerkartige, heterarchische Mehrebenen-Struktur55 mit pluralistischen „Governance“-Prozessen56, die sowohl klare Zurechnungs­ zusammenhänge wie etwa den Gedanken einer ununterbrochene Legitimationskette, die über ein direkt gewähltes Parlament die Rückbindung der öffentlichen Gewalt an einen demos sicherstellt57 als auch die Annahme allgemeingültiger 53

Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148 f. Schmitt, Verfassungslehre, 102010, 20. 55 Teubner, Verfassungsfragmente, 237 f. 56 Der Begriff des Governance geht auf das altgriechische Wort „kybernan“ und das lateinische „gubernare“ (steuern) zurück, vgl. Knodt / Große Hüttmann, Der Multi-Level Governance-​ Ansatz, 187, Fn. 2. Er beschreibt das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“ Mayntz, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2006, 15. 57 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 158 f.; Huber, in: Huber / Mößle / Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie: Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Badura, 1995, 112 ff.; Möllers, C., Leviathan 43 (2015), 339, 339. 54

II. Die EU und das europäische Recht als Produkt einer Rechtsquelle?

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Prinzipien, von denen aus „vernünftige“ Schlüsse von weiten auf engere Begriffe bis hin zur konkreten Entscheidung eines Sachverhaltes erfolgen können58, ausschließt. Stattdessen befindet sie sich einem evolutionären, selbst theoretisch kaum fassbaren59 dynamischen Konstitutionalisierungsprozess, dem eine feste Verankerung fehlt60, ja der sich noch nicht einmal im Klaren darüber zu sein scheint, was sein Ziel und wer sein Hauptakteur sein soll61. In Europa bestehen verschiedenste Wissens-, Regel- und Wertbestände, die nicht auf einen einheitlichen Grund zurückgeführt werden können, sondern sich aus verschiedenen Pfaden gesellschaftlicher Normbildung entwickeln. Der Gedanke von einem einheitlichen materiellen Geltungsgrund ist in seinem Falle daher unangebracht, weil ein solcher Gedanke letztlich immer von einem einheitlichen Staatsgebilde62, ja von einer „großen Erzählung“ von der Universalität der Vernunft, der Einheit von politischen Gebilden oder der Handlungsfähigkeit von und Zurechenbarkeit zu Subjekten ausgeht, die es in der Postmoderne generell, erst recht aber bei postmodernen Gebilden wie der EU nicht mehr geben kann63. Die Antwort auf die aufgeworfenen Fragen kann somit nur mit radikaler Ambivalenz gesprochen werden: Ja – Nein – Sowohl als auch. Weder Gewalt noch Vernunft für sich genommen begründet die Geltung des europäischen Rechts. Sie sind auch nicht hinreichend zu bestimmen, weil die Gewalt sich nicht eindeutig zurechnen, die Vernunft sich nicht klar von der Unvernunft unterscheiden lässt. Und beide spielen bei der Begründung der Geltung des europäischen Rechts dennoch eine Rolle, bei der sie sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr wechselseitig durchdringen.

II. Die Europäische Union und das europäische Recht als Produkt einer Rechtsquelle? II. Die EU und das europäische Recht als Produkt einer Rechtsquelle? Wie wir so festgestellt haben, ist es im europäischen Kontext unmöglich, einen klaren materiellen Grund für die Geltung von Rechtsnormen zu benennen, da es an einer ihm zugrundeliegenden Einheit fehlt, von der aus ein solcher Grund bestimmt und zugerechnet werden könnte. Dieser Mangel an Einheit ist kein Spezifikum der europäischen Ebene. Er ist vielmehr das Resultat einer Entwicklung, die bereits im späten 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Fragmentierung, Spezialisierung und ontologischen Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft im Zuge der Industri­

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Vesting, Rechtstheorie, Rn. 194. Bieling / Lerch, Theorien der europäischen Integration, 9. 60 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 3 f. 61 Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, 26; Wieland, JZ 67 (2012), 213, 213. 62 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 151. 63 Lyotard, Das postmoderne Wissen, 31994, 112 ff.; Ruggie, International Organization 47 (1993), 136; Caporaso, Gender, Work And Organization 34 (1996), 29, 44 ff.; s. auch u. § 5 II. 1. 59

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alisierung beginnt64 und im Kontext der Europäischen Union nur eine besondere Verschärfung erfahren hat. Es ist insoweit nicht verwunderlich, dass die Rechtstheoretiker um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts – allen voran Merkl65 und Kelsen66  – diesen Verlust an ontologischer Sicherheit gespürt67 und hierauf mit einem radikalen Perspektivenwechsel reagiert haben: Wenn es nicht mehr möglich ist, einen klaren materiellen Grund als Grundlage der Rechtsgeltung auszumachen, wenn die Konstruktion allgemeingültiger Prinzipien und Ideen vergeblich scheint, so müssen Theorien, die einen Beitrag zur Erkenntnisförderung zu leisten beabsichtigen, sich derartiger Ansätze enthalten und sich in bescheidener Abstinenz auf eine rein formale Betrachtungsweise zurücknehmen. Sie können keinen umfassenden und sinnstiftenden Erklärungsversuch mehr bieten, sondern müssen unter den Bedingungen ontologischer Ungewissheit derartige Ansätze vielmehr systematisch ausklammern; sie können allenfalls noch das „Grundgefühl der Ordnung, das alle haben“68 identifizieren und verstärken, nicht aber es erklären oder gar in einer „Gesamtordnung“ begründen69. Eine solche rein formale Betrachtungsweise fragt nicht mehr nach dem Grund des gesetzten Rechts, sondern vielmehr nur nach den formal-logischen Voraus­ setzungen, unter denen es sich als System entfaltet70, nicht mehr nach der Legitimität des Gesetzten, sondern vielmehr nur nach seiner rechtslogischen Folgerichtigkeit71. Kelsen bestimmt diese rechtslogische Folgerichtigkeit als die inhaltliche Übereinstimmung der Erzeugung einer Norm mit einer anderen, als gegeben vorausgesetzten Norm72, die selbst keine Hinterfragung jenseits der Grenzen der formalen Logik zulässt73: Das Rechtssystem wird als ein hierarchisches Gebäude mit einer als gegeben vorausgesetzten „ersten Norm“, einem – inhaltlich beliebig74 – gesetzten Axiom an seiner Spitze betrachtet75, von dem sich alle anderen Normen in einem ununterbrochenen Stufenverhältnis ableiten. Diese Rückführbarkeit auf 64 „Seit dem 19. Jahrhundert vollzieht sich eine Wende zur gesellschaftlichen Praxis. Diese verdankt sich ihrerseits folgenreichen Einsichten darüber, dass eine (genauer: jede) Suche nach philosophischen Letztbegründungsmöglichkeiten als erkennbaren und praktizierbaren Gesellschaftstheorien – in der Linie klassischer Spekulationen auf Gesamtorientierungen aus einem Guss und für alle verbindlich – notwendig und auch dauerhaft hoffnungslose, zumindest praktisch erfolglos bleiben müsse.“ Wiethölter, in: Zumbansen / Amstutz (Hrsg.), Recht in RechtFertigungen: Ausgewählte Schriften von Rudolf Wiethölter, 2014b, 426 f. 65 Merkl, AöR 37 (1918), 56, 88 ff. 66 Kelsen, Reine Rechtslehre, 73 ff. 67 Kaiser, AöR 108 (1983), 5, 5 ff. weist in diesem Kontext zurecht darauf hin, dass dem Positivismus ein philosophischer Relativismus zugrunde liegt. 68 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 142015, § 268 Zusatz. 69 Dazu Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 12006, 16. 70 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 58. 71 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 249; Kelsen, Reine Rechtslehre, 64. 72 Kelsen, Reine Rechtslehre, 5 f. 73 Kelsen, Reine Rechtslehre, 197. 74 Kelsen, Reine Rechtslehre, 63. 75 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 88.

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eine einzige „erste Norm“ – Kelsen nennt sie Grundnorm76 – garantiert dabei die Geltung des Rechts durch ein einheitliches und hierarchisches Rechtserzeugungsprogramm, das das „Recht“ vom „Nicht-Recht“ klar zu unterscheiden vermag77 – freilich nur durch einen formalen Abbruch, wird doch der Geltungsgrund der „ersten Norm“ als „oberster Normerzeugungsregel“ sowie die aus dem Recht folgenden Handlungen aus der Betrachtung des Systems künstlich herausgenommen78: Die Setzung der „Grundnorm“ ist für Kelsen ein „Akt höchster Rechtserzeugung“, der das Rechtssystem hermetisch abschließt und hinter dem es keinen Geltungsgrund mehr geben kann, während alle anderen Akte der Rechtserzeugung (Gesetzgebung, aber auch Urteile und Verwaltungsakte79) als bloßer Vollzug einer Norm höherer Stufe und Erzeugung einer Norm tieferer Stufe80, ja letztlich als zunehmende Individualisierung und Konkretisierung der Grundnorm zu verstehen sind81, von der sie in ihrer Geltung abgeleitet und abhängig sind82. Hinter diesem, neben diesem oder vor diesem Setzungsakt kann es daher für Kelsen nichts mehr geben, was für die Rechtsgeltung von Beachtung zu sein vermöchte – oder wie man mit den Worten eines positivistischen Staatsrechtslehrers sagen könnte: „Das Staatsrecht hört hier auf.“83 1. Die Einheit in der Rechtsquelle: Die Europäische Union als Schöpfung des Rechts? Kann dieses hierarchische Stufenmodell auf die Europäische Union übertragen und zur Begründung der Geltung ihres Rechts herangezogen werden? Kann mit ihm nicht das Problem der Benennung eines einheitlichen Grundes gelöst, mittels seiner strikten Hierarchisierung nicht möglicherweise sogar die Einheit des europäischen Rechts durch die Konstruktion eines klaren, in sich logisch widerspruchsund lückenlosen Systems84, basierend auf einem einheitlichen Rechtserzeugungs 76

Kelsen, Reine Rechtslehre, 62. Ebd., 73 ff.; ähnlich Merkl, AöR 37 (1918), 56, 88: „Nicht ein logisches Prinzip von der lex posterior, sondern die Verfassung, welche unter anderen auch einen solchen  Rechtssatz ausspricht, ist uns das Prinzip einer Rechtseinheit. Was bis zu einem gedanklichen Ursprung zurückverfolgt, in eine Verfassung mündet, ist als einer Rechtseinheit und damit einem einzigen Staate zugehörig anzusehen.“ 78 „Am Ende – oder am Anfang, je nach Blickrichtung – steht das Wort oder die Tat.“ Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 184; dazu vgl. auch Meyer, S., Juristische Geltung als Verbindlichkeit, 2011, 22. 79 Zu Recht kritisch zu dieser Gleichsetzung von Rechtsanwendung und Rechtserzeugung bei Kelsen Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 79; Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 2015, 53. 80 Kelsen, Reine Rechtslehre, 83. 81 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 234. 82 Kelsen, Reine Rechtslehre, 83. 83 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 141968, 906. 84 So die Einheitsvorstellung bei Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 396. 77

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programm begründet werden? Überdies: Könnte durch eine solche Beschränkung auf formal-logische Ableitungen nicht sogar viele Probleme umgangen werden, die materielle Theorien zur Rechtsgeltung von alters her zu quälen pflegen – dass die Vernunft sich selbst nie vollständig zu fassen und zu bestimmen vermag und insofern an einem blinden Fleck leidet85? dass der Unterschied zwischen Recht und Gewalt nicht mehr klar ausgemacht werden kann, wenn man Ersteres mit Letzterem begründet86? Wäre diese Beschränkung auf ein rein formal-logisches Wissen von daher nicht überhaupt das einzige sichere Wissen, das über die Rechtsgeltung noch möglich ist und die zuvor attestierte Unmöglichkeit der Benennung eines materiellen Geltungsgrundes des europäischen Rechts eine allgemeine erkenntnistheoretische Beschränkung, die mit den Eigenarten der Europäischen Union nicht wesentlich etwas zu tun hat? Die Anwendung des Modells eines auf rein formal-logischen Zusammenhängen basierenden Stufenbaus der Rechtsordnung auf die Europäischen Union erscheint auf den ersten Blick einfach: Das europäische Recht gilt, weil die Mitgliedsstaaten dies angeordnet haben, weil sie die primärrechtlichen Vorschriften im Rahmen eines Vertragsschlusses verabschiedet und sodann diesen Vertragsschluss in Übereinstimmung mit ihren nationalen Verfassungsbestimmungen ratifiziert haben. Wenn die EU selbst „Schöpfung des Rechts“ ist, dann müssen sie und der Geltungsanspruch ihres Rechts auf dem beruhen, was man gemeinhin eine „Rechtsquelle“ nennt87, eine Norm oder ein Normensystem, das ihr vorausgeht und aus dem sie ihre Ansprüche und Rechte ableitet, ja die sie dazu ermächtigen, selbst wiederum Rechtsquelle zu sein88. Diese Rechtsquelle, dieser Geltungsgrund ist – kausal betrachtet  – der durch die nationalen Rechtsordnungen erteilte Rechtsanwendungsbefehl, im Hinblick auf die Bundesrepublik also etwa Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG und die auf seiner Grundlage erlassenen Zustimmungsgesetze zu den europäischen Verträgen89. Hier aber setzt direkt das entscheidende Problem an, auf das das Modell der Stufenordnung im europäischen Kontext zu treffen pflegt. Denn das europäische Recht beansprucht von sich, nicht nur auf einer völkerrechtlichen Vertragsbeziehung zu basieren, sondern eine „eigene Rechtsordnung“ darzustellen, die sowohl für die Mitgliedsstaaten als auch für ihre Bürger unmittelbar und aus sich selbst heraus verbindlich ist90. Wenn das europäische Recht aber eine eigenständige Rechtsordnung darstellt, die für sich beansprucht, in ihrem Geltungsanspruch von ihrem kausalen Gründungsakt unabhängig, ja gegenüber den nationalen Rechtsordnun-

85 Wiethölter, in: Zumbansen / Amstutz (Hrsg.), Recht in Recht-Fertigungen: Ausgewählte Schriften von Rudolf Wiethölter, 2014c, 451. 86 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 155. 87 Dieser Begriff geht zurück auf Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 21981, 11. 88 Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 51 ff.; Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 98. 89 Dazu Kirchhof, R., EuR 1991, 1, 15. 90 EuGH, 15.07.1964 – Rs. 6/64 (Costa / Enel) = Slg. 1964, 1251.

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gen sogar vorrangig zu sein, kann ein hierarchisches Stufenverhältnis überhaupt nur noch angenommen werden, wenn man die nationalen Rechtsordnungen dem europäischen Recht in der Normenpyramide unterordnet. Der Geltungsgrund der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten wäre dann nicht mehr in den nationalen Verfassungen, sondern vielmehr in den europäischen Verträgen zu suchen, die den formalen Grund für die Geltung selbst der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten darstellen würden91, ja ihrem Anspruch nach sogar nationale Verfassungen derogieren könnten92. Das europäische Recht und das Recht der Mitgliedsstaaten wären dann Teil ein und derselben Rechtsordnung, deren Spitze das europäische Primärrecht bilden würde und dessen Geltungsgrund selbst nicht mehr in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gefunden werden könnte. Einen solchen kühnen Anspruch zu erheben liegt jedoch selbst dem europäischen Recht fern. Zwar finden sich insbesondere seit den 1970er-Jahren Ansätze in Rechtsprechung93 und Literatur94 für eine autonome und nicht abgeleitete Geltung des europäischen Rechts. Diese Ansichten vermochten sich jedoch nicht in letzter Konsequenz durchzusetzen – nämlich insoweit als sie die nur abgeleitete Geltung der nationalen Rechtsordnungen zur Folge hätten95. Vielmehr dominiert heute zunehmend die Vorstellung, dass es auf einer Union der Völker Europas im Rahmen eines Verbundes demokratischer Staaten beruht96. Soweit zur Verwirk­ lichung dieser „immer engeren“ Union hoheitliche Aufgaben und Befugnisse wahrgenommen oder ausgeübt werden – wie etwa in Gestalt von Normerzeugungen –, sind es daher zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente durch Zustimmungsgesetze demokratisch zu legitimieren

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Dazu siehe MacCormick, JZ 50 (1995), 797, 799. „Eine Norm, die nach der rechtlichen Bedingtheit innerhalb einer Linie von Rechtsnormen einen höheren Rang einnimmt als eine andere, hat grundsätzlich auch größere derogatorische Kraft als diese“, vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 402. 93 „Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“ EuGH, 17. Dezember 1970 – Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft) Slg. 70, 1126. 94 Am prominentesten wohl Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 58 ff. 95 Überblick bei Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, 380 ff., insb. 399 f.; vgl. auch Eleftheriadis, Gender, Work And Organization 36 (1998), 255, 256 f.; ­MacCormick, JZ 50 (1995), 797, 799. 96 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 96. 92

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und in ihrer Geltung zu begründen haben97 und deren nationale Verfassungsidenti­ täten daher geachtet werden müssen98. Von hier aus versteht es sich, dass das europäische Recht nur einen Anspruch auf „Anwendungsvorrang“, nicht aber auf „Geltungsvorrang“ erhebt, d. h. eine Kollisionsformel bereithält, deren Grundlage nicht zwingend in einer höheren Stellung innerhalb einer einheitlichen Normenpyramide, sondern vielmehr ebenso im entsprechenden Anwendungsbefehl einer höherrangingen oder einer parallelen Rechtsordnung zuzurechnenden Norm begründet sein kann99, die insoweit „freiwillig“ gegenüber der niederrangigen oder systemfremden Norm zurücktritt100. 2. Die Durchbrechung der Rechtsquellenhierarchie durch die nationalen Rechtsordnungen Allerdings ist es nicht zu leugnen, dass der feine begriffliche Unterschied zwischen „Anwendungsvorrang“ und „Geltungsvorrang“ im Kontext einer Entwicklung der zunehmenden Emanzipation des europäischen Rechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen steht, an dessen Ende tatsächlich in absehbarer Zeit ein Geltungsvorrang stehen könnte. Denn die Widersprüchlichkeit des europäischen Rechts besteht insoweit gerade darin, dass es zum einen seine (häufig nur wenig im Einzelnen dargestellte) Einzigartigkeit hervorhebt, zugleich aber auch stets seine Vergleichbarkeit mit nationalem Recht betont101. Wie an der im Text der europäischen Verträge selbst angelegten Abhängigkeit des europäischen Rechts von den nationalen Rechtsordnungen erkennbar wird verfügt die Europäische Union über keine eigenständige und einheitliche Rechtsordnung102, operiert jedoch meistens so,

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Art. 1 Abs. 1, 2, Art. 4 Abs. 1, 2, Art. 5 EUV, dazu vgl. schon BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 96. 98 Art. 4 Abs. 2 EUV, dazu vgl. Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 494 f. 99 Da Art. 23 Abs. 1 S. 3  GG die Anwendung von Art. 79 Abs. 2, 3  GG ausdrücklich anordnet, kann es aus Sicht des Grundgesetzes keinen unbedingten Geltungsvorrang oder gar „Verfassungsvorrang“ des europäischen Rechts geben, vgl. Koenig, NVwZ 15 (1996), 549, 549 f. 100 Di Fabio, NJW 43 (1990), 947, 950; vgl. aber die gegenläufige, mittlerweile im Zurückweichen begriffene Tendenz bei Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 59. 101 Haltern, Europarecht, 3 f. 102 „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, …, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch die einzelnen sind.“ EuGH, 05.02.1963  – Rs. 26/62 (Van-Gend-&-Loos) = Slg. 1963, 12 Bereits aus dieser Formulierung ergibt sich, dass die EU in Wirklichkeit über keine eigenständige Rechtsordnung formuliert, weil diese eine solche „des Völkerrechts“ ist, da sie entscheidend auf dem intergouvernementalen Zusammenwirken der Mitgliedsstaaten aufbaut; vgl. auch Grussmann, in: Danwitz (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, 56, 60, der in diesem Kontext ausführt, dass es sich bei der europäischen Rechtsordnung und denen der Mitgliedsstaaten um mehrere, gleichzeitig geltende, nicht aufeinander rückführbare Ordnungen handelt, die deswegen auch nicht in Widerspruch zueinander geraten können.

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„als ob“ sie eine solche habe103. Obwohl die Rechtssysteme auf nationalstaatlicher Ebene stark ausdifferenziert sind, tritt das europäische Recht ihnen daher von Beginn an mit starken Harmonisierungs- und Vorrangansprüchen gegenüber104, die auf die nationalen Rechtsordnungen zunehmend disruptiv wirken105 und einem Anspruch auf „Geltungsvorrang“ insoweit im Ergebnis nicht selten gleichkommen106. Ein solcher Anspruch des europäischen Rechts auf Geltungsvorrang würde allerdings wenigstens zum gegenwärtigen Zeitpunkt von den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten ganz überwiegend abgelehnt werden, was ein Verständnis des europäischen Rechts als Stufenordnung entgegenzustehen scheint. Denn ein hierarchisches System mit einer einheitlichen Spitze ist nur dann möglich, wenn eine einheitliche Regel besteht, die eine Einordnung von Normen in verschiedenen Hierarchiestufen zulässt und so die jeweilige Hierarchie klar zu bestimmen vermag107. Ein solches „Recht über Rechtsnormen“108, eine „rule of recognition“109, die als Kriterium für die Hierarchiebildung herangezogen werden könnte, besteht im europäischen Kontext jedoch mindestens zweifach: Einmal aus der Sicht des europäischen Rechts und ein weiteres Mal vom Standpunkt der nationalen Rechtsordnungen und insbesondere ihrer Verfassungen, die für das europäische Recht nicht nur einen gedanklichen Bezugsrahmen, sondern aus der Sicht der jeweiligen Mitgliedsstaaten vielmehr eine Grenze darstellen können, die die Normenhierarchie zu durchbrechen vermag110. Wie hieraus ersichtlich wird, erscheint das Konzept eines Stufenbaus der Rechtsordnung im europäischen Kontext jedenfalls dann als schwierig, wenn sowohl das Recht der Europäischen Union als auch das ihrer Mitgliedsstaaten in die Betrachtung einbezogen werden, da beide Rechtsordnungen nicht ohne weiteres eine Rückführung auf eine einzige 103

Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 184 f. Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148. 105 Ebd., 146. 106 In diese Richtung neuerdings etwa die EU-Kommission, die auf ihrem Internetauftritt den „Vorrang“ (nicht nur Anwendungsvorrang) des EU-Rechts als „absolut“ und „unumschränkt“ bezeichnet: „Der Vorrang des EU-Rechts über das nationale Recht ist absolut / unumschränkt. Er gilt für alle EU-Rechtsakte, unabhängig davon, ob sie aus dem Primärrecht oder dem abgeleiteten Recht hervorgegangen sind. Darüber hinaus gilt dieser Grundsatz für alle nationalen Rechtsakte, unabhängig von ihrer Art: Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Beschlüsse, Rundschreiben usw., ganz gleich ob diese Texte exekutiven oder legislativen Ursprungs des betreffenden Mitgliedstaates sind. […] Der Gerichtshof befand, dass die Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten ebenfalls dem Grundsatz des Vorrangs unterliegen. Somit hat das nationale Gericht dafür zu sorgen, dass Bestimmungen einer Verfassung, die im Widerspruch zum EU-Recht stehen, nicht zur Anwendung kommen.“ Europäische Kommission, https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=URISERV:l14548&from=DE, 06.07.2018. Ähnlich auch bereits in der Vergangenheit der EuGH, der betont hat, dass der Vorrang des Europarechts bedeute, dass „jede“ dem Europarecht widersprechende Bestimmung des nationalen Rechts „ohne weiteres“ unanwendbar ist EuGH, 9. März 1978 – Rs. 106/77 (Simmenthal II) = Slg. 1978, 630. 107 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 71. 108 Hart, The concept of law, 32012, 92 f., 97 ff. 109 Zu diesem Begriff siehe ebd., 105 f. 110 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 163. 104

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höchste Norm für sich gelten lassen111. Anders als etwa im Nationalstaat gibt es im „Staatenverbund“ der Europäischen Union auch keine allgemeinen Kollisionsund Ausgleichsformeln wie etwa jene von der „Einheit der Rechtsordnung“ oder der „Integrationsleistung der Verfassung“, die eine verbindliche Klärung des Verhältnisses zwischen europäischen Recht und nationalem Recht zulassen würde112. Das Schema einer Normenhierarchie stößt insoweit hinsichtlich der europäischen Ebene an seine Grenzen, da Kollisionsfälle nicht mehr eindeutig und abschließend geklärt werden können113. Allerdings: Wäre es dann nicht zumindest möglich, die Geltung des europäischen Rechts im Rahmen eines hierarchischen Stufenverhältnisses zu betrachten, das die nationalen Rechtsordnungen aus der Betrachtung ausschließt und die europäische Rechtsordnung insoweit schlicht isoliert zu begründen versucht? Könnten durch eine solche konzeptionelle Trennung der Rechtsordnungen nicht wenigstens zwei separate Normenpyramiden konstruiert werden, die in sich jeweils schlüssig und insofern die Geltung des europäischen Rechts wenigstens in formal-logischer Hinsicht zu begründen in der Lage wären? Auch dieser Weg scheint jedoch zur Lösung der aufgeworfenen Probleme nicht wirklich überzeugend zu sein: Eine Isolation der nationalen und europäischen Rechtsordnungen wäre eine reine Fiktion, da das europäische Recht und das Recht der Mitgliedsstaaten einander keineswegs parallel und berührungslos gegenüberstehen, wie dies etwa nach der dualistischen Theorie zwischen Völkerrecht und nationalem Recht der Fall ist114. Eine fiktive „Abschneidung“ eines Begründungszusammenhanges ist einer formal-logischen Geltungsbegründung zwar durchaus nicht fremd, sondern vielmehr bereits in ihrer Methode angelegt. Insofern würde die Konstruktion von zwei Normenpyramiden dem ohnehin bereits rein fiktiven Konzept einer „ersten Norm“ nur eine weitere Fiktion – die Ausklammerung des Rechts der Mitgliedsstaaten und ihre Wechselwirkung mit dem europäischen Recht – hinzufügen und deren Gründungsakt gewissermaßen als „Grundnorm“ behandeln, bei dem der jeweilige Ableitungszusammenhang aufhören müsste. Von diesem einheitlichen Ausgang aus einem autoritativen, juristisch nicht weiter zu begründenden Gründungsakt könnte ferner die Eigenschaft des europäischen Rechts als Rechtsordnung fingiert werden115, mit der wiederum in Kollisionsfällen ein selbstbewusster Anspruch desselben gegenüber dem Recht der Mitgliedsstaaten begründet werden könnte. Dennoch: Eine solche „doppelte Fiktion“ würde die Geltung und Wirkung des europäischen Rechts in einem wesentlichen Punkt verfehlen: Das europäische Recht ist keine isolierbare Rechtsmaterie, sondern von den nationalen Rechts 111

Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 178. Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 138. 113 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 67. 114 Vgl. nur etwa EuGH, Urteil vom 05. Februar 1963 – 26/62 (Van Gend & Loos); BVerfG, Beschluß vom 18. Oktober 1967 – 1 BvR 248/63 und 216/67 – Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 1971 – 2 BvR 255/69 – Rn. 95. 115 Kelsen, AöR 32 (1914), 202–245, 390–438, 207 f. 112

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ordnungen und ihren Rechtskulturen vollständig durchwirkt und abhängig116. Selbst bei Annahme eines autonomen Ursprungs des europäischen Rechts ist der entscheidende strukturelle Gesichtspunkt, dass es nicht in die nationalen Rechtsordnung eingreifen, sondern höchstens autonom parallel zu diesen stehen und nur unter Bedingungen, die die nationalen Rechtsordnungen selbst innerhalb ihrer eigenen Rangverhältnisse regeln, zu diesen in eine Beziehung treten117 und in sie hineinwirken kann118. Entscheidendes Kriterium für das Maß der Verselbstständigung des europäischen Rechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen sind daher notwendigerweise immer die nationalen Verfassungen119 – und letztlich sind es auch diese, die die Wirksamkeit der Reichweite seines Anwendungsvorranges bestimmen120. Das Unionsrecht hängt mit anderen Worten auch in seiner juristischen Wirkung ganz wesentlich von seinem Zusammenwirken mit dem Recht der Mitgliedsstaaten ab, das folglich bei der Darstellung eines „hierarchischen Stufenbaus“ ebenso zwingend berücksichtigt werden muss wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht bei der Darstellung der Rechtsordnung121. Eine fiktive Betrachtung der Geltung des europäischen Rechts ohne seine Beziehung zu den nationalen Rechtsordnungen würde daher eine unzulässige Vereinfachung darstellen, eine wirklichkeitsfremde Fiktion ohne jede Plausibilität, die keinen Erkenntniswert böte, da sie elementare Eigenschaften unberücksichtigt ließe, ja ihnen mit einer bloßen kontrafaktischen Unterstellung gegenübertreten würde. 3. Das europäische Recht als heterarchisches Netzwerkrecht Wie hieran deutlich wird, ist die Vorstellung von „Rechtsquellen“ als Geltungsursprünge mit einem klaren „Anfang des Rechts“ mit dem distributiven, diffusen Charakter, der dem globalen Recht im Allgemeinen und dem europäischen Recht im Besonderen zu eigen ist, kaum zu vereinen122. Die Rechtsquellenlehre mit ihrer Hierarchisierungsleistung ist durch die Entwicklung hin zum „offenen Staat“123, der Ergänzung der staatlichen Rechtsquellen durch Verbindung und Vermischung mit supra- und transnationalen Rechtsquellen, zunehmend problematisch geworden124. Sie basiert auf Voraussetzungen, die schon beim modernen Nationalstaat kaum noch vorliegen, hinsichtlich der Europäischen Union aber gänzlich unpassend sind: 116

Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 168. Di Fabio, NJW 43 (1990), 947, 951. 118 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 183 f. 119 Kirchhof, R., EuR 1991, 1, 15. 120 Huber, AöR 116 (1991), 210, 224. 121 Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 181. 122 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 166. 123 Zu diesem Begriff siehe Di Fabio, Das Recht offener Staaten. 124 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 147; Ruffert, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2012, Rn. 8 ff. 117

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Erstens auf der seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge der Konsolidierung des europäischen Nationalstaates mit seinen umfassenden Kodifikationen bestehenden Vorstellung, dass die Rechtssetzung und Rechtsschaffung das Monopol eines als homogen zu denkenden Staates ist, der sich hierfür der förmlichen Gesetzgebung bedient125 – zweitens auf dem Gedanken, dass durch strenge Hierarchisierung Kollisionen zwischen Rechtsnormen gelöst und die Frage danach, was „vor“ der höchsten Quelle ist, einheitlich abgeschnitten werden kann126. Die Europäische Union jedoch stellt kein homogenes Gebilde dar, für das sich eine klare höchste Rechtsquelle benennen ließe, bei der die Frage der Rechtsgeltung einheitlich enden könnte. Vielmehr weist sie eine Vielzahl von (nationalen, transnationalen und supranationalen) Rechtsquellen auf, die sich zueinander flexi­ bel verhalten und hierarchische Rangstufen der Normerzeugungen unmöglich machen. Sie stellt ein plurizentrisches Netzwerk dar127, in dem die Mitgliedsstaaten, aber auch die Union sowie verschiedenste private Akteure „Netzwerkknoten“ bilden, die jeweils eigene Rechtsordnungen vorweisen sowie Kollisionsregeln für Geltungskonflikte zwischen den aus verschiedenen Quellen herrührenden Rechtsnormen entwickelt haben128. Eine Zentrale mit einem Rechtsetzungsmonopol dagegen besteht nicht. Vielmehr handelt es sich bei den supranationalen europäischen Institutionen allenfalls um eine „Netzwerkzentrale“, die zwar ein eigenständiges Recht produziert, dieses jedoch nicht wie eine Zentralinstanz innerhalb einer föderalen Ordnung dem konkurrierenden Recht anderer an der Netzwerkstruktur beteiligter Prätendenten überzuordnen vermag129. Diesem Befund steht freilich die seit Anbeginn des europäischen Projekts bestehende gegenstrebige Tendenz gegenüber, der Europäischen Union die Eigenschaften eines föderalen Nationalstaates zuzuschreiben und dessen strukturelle Eigenschaften auf sie zu übertragen – der Versuch der europäischen Akteure, allen voran der Kommission und des EuGH, eine Art „europäischen Superstaat“ aufzubauen, ohne zu begreifen, dass das Zeitalter einer von Hierarchie, Einheit und Homogenität gekennzeichneten Staatlichkeit ohnehin vorüber ist130. Die Spuren dieser Versuche sind in den Strukturen des europäischen Rechts omnipräsent, besonders im Versuch einer an den Nationalstaaten bemessenen vollständigen Verrechtlichung der Union einschließlich der Implementierung einer stratifizierten Rechtsordnung mit der Lehre vom Anwendungsvorrang als starrer Kollisionsregel. Während auf allen anderen Gebieten, die die Europäische Union betreffen, die Politikwissenschaftler, Historiker und sogar Ökonomen darum kämpfen zu bestimmen, was Europa eigentlich ist und bedeutet, scheint es im Kontrast dazu

125

Vesting, Rechtstheorie, Rn. 149. Ebd., Rn. 146. 127 Castells, End of Millennium, 22010, 339, 363. 128 Teubner, Verfassungsfragmente, 239. 129 Ebd. 130 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148 f. 126

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auf den Gebieten des europäischen Rechts daher ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität zu geben; nirgendwo sonst scheint Europa so real und fassbar wie im Recht131, ja: Juristen hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die Politik der frühen europäischen Gemeinschaften – und die Frage, ob der Vertrag etwas zulässt oder in einer gewissen Richtung interpretiert werden könnte, war von Beginn an omnipräsent und prägend132. Die Konsequenzen hiervon stellen jedoch heute gerade eines der Hauptprobleme dar, vor dem die Frage der Geltung des europäischen Rechts steht: Juristen leben nicht außerhalb von Zeit und Raum, sondern sind im besonderen Maße von den Vorstellungen und Strukturen geprägt, die sie im Rahmen ihrer Ausbildung und ihrer praktischen Erfahrung auf dem Boden ihrer nationalen Rechtsordnungen in einem konsolidierten Nationalstaat gesehen und gelernt haben133, wozu insbesondere die staatsfixierte Rechtsquellenlehre mit ihren starren Hierarchien und Suprematieansprüchen gehört. Als Konsequenz hiervon ist die Europäische Union von einem Übermaß an staatsanalogen Strukturen geprägt und leidet an einem „Netzwerkdefizit: Sie ist sich ihres durch Vielfalt, Heterogenität und Heterarchie gekennzeichneten Netzwerkcharakters nicht hinreichend bewusst und versucht stattdessen, ihre Defizite durch den Aufbau klassischer staatlicher Strukturen zu überwinden“134 – ein Unternehmen, bei dem sie jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand in einen ständigen Konflikt mit den nationalen Rechtsordnungen gerät, der sich als Sackgasse erweisen muss. Das europäische Recht bedarf daher einer Abkehr von einer staatsanalog gedachten Rechtsquellenlehre und stattdessen ein bewusstes Verständnis von seinem flexiblen Rechtsquellennetzwerk, das eine Öffnung zugunsten eines ihrer heterarchischen Struktur angemessenen Gesetzgebungswettbewerbes ermöglicht, der starre Kollisionsregeln mit strengen Vor- und Nachrangregeln zu ersetzen in der Lage ist135. 4. Die europarechtliche Dogmatik als Schöpferin einer einheitsstiftenden Rechtsquelle? Wie aber könnte eine Kollision innerhalb eines solchen flexiblen Rechtsquellennetzwerkes gelöst werden, wenn – wie im europäischen Recht – das Recht nicht mehr „durch eine referenzfähige oberste Norm (Grundnorm), ein oberstes Gesetz (Verfassung) oder eine oberste Instanz“ garantiert werden kann136, die in Konfliktfällen auch die Widerspruchsfreiheit und Einheit des Rechtssystems herzustellen vermag? Woraus könnten Regeln geschöpft werden, die Normenkollisionen pro 131

Vauchez, Brokering Europe, 1. Ebd., 32 f. 133 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 159. 134 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 149. 135 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 185; Teubner, Recht als autopoietisches System, 123 ff. 136 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 73. 132

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duktiv zu lösen, starre Hierarchien aufzulösen und hierdurch die verlorengegangene Einheit der geltungsbegründenden Rechtsquellen wieder herzustellen in der Lage wären? Oder vielleicht sogar noch besser: Woraus könnte eine oberste Einheit geschöpft werden, die die Differenzen zwischen den europäischen Rechtsordnungen zu überbrücken vermöchte, indem sie diese, ohne eine Hierarchie zu errichten, in einen übergreifenden Zusammenhang einordnen könnte, der als gemeinsamer Grund für die Geltung des Rechts zu dienen in der Lage wäre? Die Lösung zu diesen Problemen könnte in einer Rückbesinnung auf die Ursprünge der Rechtsquellenlehre sowie in der bereits dargestellten Rolle erblickt werden, die Juristen in der Europäischen Union traditionell zu spielen pflegen: Die vielschichtige, nicht selten spottgesegnete organische Metapher137 der „Rechtsquelle“ hatte in ihrem ursprünglichen, von Savigny geprägten Sinn eine Bedeutung, wie es dem Selbstverständnis der Juristen innerhalb der Europäischen Union sehr entgegenzukommen scheint – und es mag kein Zufall sein, dass diese Bedeutung ihr vor einem politischen Hintergrund gegeben wurde, wie er dem der Europäischen Union heute strukturell nicht unähnlich war: Das Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, in dem es keine politischen Strukturen gab, von der aus eine Einheit des Rechts hätte begründet werden können; weder eine einheitliche society, wie sie den englischen Rechtspraktikern zugrunde lag, noch ein zentralisierter Gesetzesstaat, wie er den französischen Legisten vorausging138. An die Stelle einer dem Recht vorausgehenden und an dieses von außen herantretenden einheitsstiftenden Struktur setzte Savigny daher die Idee von einer im Rechtssystem selbst herzustellenden Einheit und Geltung mittels einer aus dem Innern des Rechts selbst kommenden Rechtsgelehrsamkeit, die zwar an einen durch Tradition gegebenen Rechtskorpus gebunden und diesen zu hüten verpflich­tet ist, durch ihre wissenschaftliche Durchdringung desselben jedoch selbst zu einer eigenständigen Rechtsquelle wird139: Die Rechtsgelehrsamkeit ersetzt die fehlende politische Einheit und produziert in der Rechtsmaterie einen inneren Zusammenhang, der „die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit“ verbindet140, die ohne sie nicht mehr bestünde. Während ursprüngliche Rechtsordnungen von einem urwüchsigen, aus einem einheitlichen Volksgeist gespeisten Volksrecht geprägt seien, besteht für Savigny mit der fortschreitenden Entwicklung des Volkes eine Entwicklung vom Volksrecht hin zu Gesetzgebung und Rechtswissenschaft als den vorrangigen Rechtsquellen, die den einheitlichen Volksgeist

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Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, 453, 462. Schmitt, Die Lage der Europäischen Rechtswissenschaft, 25. 139 „Indessen entsteht durch die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form, welche seine innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt, ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurück wirft, so dass auch das aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung unaufhaltsam hervorgeht.“ Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 46 f. 140 Ebd., XXXVI (Vorrede). 138

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mitunter gänzlich zu verdecken vermögen141 und insofern in der einheitsstiftenden Rechtsgelehrsamkeit eine Art „Ersatz“ finden. Könnte dieser Gedanke im europäischen Kontext nicht wiederbelebt und die Regelung von Kollisionsfällen zwischen nationalem und europäischem Recht der Rechtswissenschaft einschließlich ihren Dialogen mit den Gerichten – kurzum: der europäischen Rechtsdogmatik als eigenständiger Rechtsquelle überlassen werden? Könnte diese nicht aus ihren juristischen Erkenntnisquellen heraus jeweils angemessene und flexible Lösungen schöpfen, die starre und miteinander konfligierende Vorrangregeln obsolet machen und so ein geordnetes Verhältnis zwischen den einzelnen Rechtsquellen wieder herstellen würde? Und vor allem: Würde eine solche geregelte Anordnung von Rechtsquellen nicht wieder eine zufriedenstellende formal-logische Begründung der Geltung des europäischen Rechts zulassen? Unzweifelhaft wäre eine solche eigenständige Systematisierungsleistung gerade der Europarechtswissenschaft nicht fremd, entspräche sie doch ihrem konstruk­ tiven und sinnstiftenden Selbstverständnis, das auf Kritik und Fortentwicklung des europäischen Rechts und seiner sozialen Infrastruktur gerichtet ist142. Gerade die Rechtsvergleichung wird in diesem Kontext bereits häufig als Methode zur Vereinheitlichung der Rechtsordnungen gesehen und gehandhabt, die unterschiedliche Systeme und Begriffe einebnen und anpassen sowie hieraus einen einheitlichen Begriffsapparat und Verständnishorizont entwickeln soll143 – in einer prominenten Ausprägung etwa dadurch, dass nicht nur dogmatische und semantische Kons­ trukte, sondern vor allem die soziale Problemlösungsfunktion von rechtsanwendenden Institutionen in den Blick genommen und erst von diesem Punkt aus die Normen auf ihre Tauglichkeit für die Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben und Funktionen miteinander vergleichen und gegebenenfalls aneinander angepasst werden144. Könnten durch eine solche Herangehensweise in Bezug auf die europäischen Rechtsordnungen nicht möglicherweise konkrete Normen, ja mitunter sogar übernationale Systeme, Begriffe und Typen entwickelt und immer weiter präzisiert werden, mit denen sich europaweit gültige Problemlösungen finden ließen145 – insbesondere durch das bewusste Anlegen eines europaweiten dogmatischen Blickwinkels, bei dem „die Konstatierung der Unterschiede zurücktritt gegenüber dem Ziel ihrer Überwindung“, ähnlich dem Denken eines „guten Advokaten, … der es versteht, bei vollendeter Redlichkeit und Lauterkeit gegenüber der Sache die Ak-

141

Ebd., 50. Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 488. 143 Mit kritischen Anmerkungen dazu Mansel, JZ 1991 (46), 529, 530 ff. 144 Diese sog. „funktionale Methode der Rechtsvergleichung“ geht zurück auf Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 41990. 145 Kübler, JZ 22 (1967), 629, 633. 142

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§ 2 Geltungsmangel

zente vornehmlich auf das zu setzen, was für die Vereinheitlichung spricht, ohne freilich bestehende Unterschiede zu bagatellisieren“146? Könnte hierdurch nicht mitunter sogar ein gemeinsames europäisches Rechtsverständnis wiederentdeckt werden, wie es etwa zu Zeiten des gelehrten römischen Rechts vorhanden war 147, ja: könnte hierdurch nicht sogar in letzter Konsequenz jene Rechtseinheit wieder hergestellt werden, die durch die Kodifikationen im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa verloren gegangen ist148? Auch wenn diese Gedanken freilich nicht ohne jeden schwärmerisch-idealistischen Charme sind, so können ihre Chancen auf eine praktische Umsetzung im gegenwärtigen Europa doch leider nur als gering bewertet werden: Die Idee von der europäischen Rechtsdogmatik als Quelle eines einheitsstiftenden Bandes, das Geltungskonflikte zwischen dem europäischen und dem nationalen Recht durch Schöpfungen aus einer eigenständigen Rechtsquelle zu lösen und hierdurch eine europäische Rechtseinheit mit einer einheitlichen Geltungsgrundlage wiederherzustellen vermöchte, erscheint bereits in Anbetracht der Realität der Europarechtswissenschaft als utopisch – konnte sie doch die großen Erwartungen, die in sie gelegt wurden, ganz überwiegend nicht erfüllen. Selbst nach über 60 Jahren seit Beginn des europäischen Projekts ist es ihr weder gelungen, ein einheitliches Verständnis oder eine einheitlich Auslegung noch eine einheitliche Anwendung des europäischen Rechts herzustellen149; vielmehr sind diese dogmatischen Instrumente weiterhin von nationalen Begriffen, Methodenlehren und Paradigmen geprägt, die dem Projekt einer um Systematisierung bemühten Dogmatik entgegenstehen und überwiegend nur die nationalen Rechtsdiskurse in den europäischen Kontext hinein perpetuieren, ohne sie zu einer irgendwie gearteten Einheit zusammenzuführen150 und zwischen denen die Verbindungen nicht zu-, sondern eher noch weiter abnehmen151 – ähnlich wie im Völkerrecht, in dem sich aufgrund derartiger Perpetuierungsvorgänge ebenfalls eher eine Tendenz zur zunehmenden Fragmentierung statt zur Einheitsbildung beobachten lässt152. Aber auch dem noch nicht genug: Das Problem der fehlenden inneren Einheit des wissenschaftlichen Denkens an sich, das sich gerade in seiner postmodernen Erscheinung nicht durch die Fortschreibung von einheitsbildenden Prozessen und Wissensbeständen, sondern vielmehr durch ihre Irritation und Disruption auszeichnet, wird im Falle der Europäischen Union durch spezifische Umstände noch weiter verschärft: Eine um Einheit bemühte Rechtsvergleichung ist unter den Be-

146

Zweigert, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 16 (1951), 387, 394. Thürer, ZSE 6 (2008), 7, 17 f. 148 Coing, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 32 (1968), 1, 7 ff. 149 Brinker, NZKart 2017, 609, 610. 150 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 158. 151 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 8. 152 Koskenniemi, Modern Law Review 70 (2007), 1, 4 ff. 147

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dingungen der Postmoderne nicht nur rechtssoziologisch kaum haltbar, weil sie die differenzierten sozialen Rahmenbedingungen des Rechts aus dem Blickwinkel geraten lässt153. Die europäische Rechtsvergleichung an sich leidet vielmehr bereits an einer grundlegenden methodischen Schwäche, an einer Vernachlässigung nur schwer zugänglicher Rechtsordnungen einschließlich der Rechtsordnungen der kleineren Mitgliedsstaaten, vor allem aber an einem mangelnden Konsens über eine gemeinsame methodische Herangehensweise an die Rechtsvergleichung154 – ja: die an sich schon gegebene Unzulänglichkeit ihrer einzelnen Rechtsordnungen wird durch die in ihr bestehende Sprachenvielfalt gerade noch weiter verschärft, weshalb wenn überhaupt nicht die Rechtsvergleichung, sondern zunächst erst einmal der „Rechtssprachenvergleich“ der erste Weg zu einer weiteren Harmonisierung der europäischen Rechtsordnungen sein müsste155. Diese grundlegenden und unüberwindbar scheinenden methodischen Probleme werden durch die Fülle der auf der Unionsebene selbst erlassenen Normen in ihren Wirkungen sogar noch weiter vertieft. Denn die insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg allgemein bestehende Tendenz der immerwährenden Beschleunigung der Normgebung, der Entwicklung hin zum „motorisierten Gesetzgeber“156 tritt im europäischen Kontext noch verschärft auf. Der europäische Normgeber erlässt regelmäßig eine Flut an neuen Verordnungen, Richtlinien, Leitfäden, Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen, deren sprachliche, systematische und redaktionelle Qualität nicht selten zweifelhaft ausfällt157. Auf einen Wettlauf mit einer solchen Normsetzungsmaschinerie kann sich jedoch eine Rechtsdogmatik, die darum bestrebt ist, eine zuvor noch nie hergestellte Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsmaterie zu begründen, erst gar nicht ernstlich einlassen. Die Zeiten einer um Einheitsstiftung und Systembildung bemühten Rechtsdogmatik sind vorbei – und ein dogmatischer Ansatz, der sich hierauf nicht einzulassen gewillt ist, kann dies nicht ändern, sondern muss fehlgehen.

153

Heldrich, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 34 (1970), 427, 435 ff. 154 Doralt, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 75 (2011), 260, 268 f. 155 Luttermann, C. / Luttermann, K., JZ 59 (2004), 1002, 1004. 156 Schmitt, Die Lage der Europäischen Rechtswissenschaft, 18 ff. 157 Chalmers / Jachtenfuchs / Joerges, The retransformation of Europe, 9; Krajewski / Rösslein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union: EUV / AEUV, AEUV Art. 289 Rn. 37 ff.; Danwitz, JZ 61 (2006), 1, 1 ff.

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§ 2 Geltungsmangel

III. Intersubjektivität als Erklärungsansatz für die Geltung des europäischen Rechts: Der Mittelweg als Lösung? 1. Allgemeinverbindliche Ansprüche ohne Metaphysik: Über den Zusammenhang zwischen Legitimität, Gewalt und Rechtsgeltung unter den Bedingungen der Postmoderne Wie wir so gesehen haben, ist es nicht möglich, für die Geltung des europäischen Rechts einen materiellen oder auch nur formellen Grund zu benennen. Das europäische Recht vermag sich weder auf eine objektiv-subjektunabhängige Vernunft, noch auf eine klar zurechenbare Gewalt, ja noch nicht einmal auf eine andere Norm zurückführen zu lassen, sondern scheint allenfalls Versatzstücke aus den großen Theoriesträngen der Normbegründung aufzunehmen und zu befriedigen, die aufgrund ihrer eklektischen Partikularität jeden Anspruch auf einen allgemeingültigen Erklärungsversuch zum Scheitern zu verurteilen scheinen. In der weltanschaulich pluralistischen Moderne ist der Konsens über moralische Normen, der in der alteuropäischen Welt hintergründig immer vorhanden war, zerbrochen158 – und es scheint, als ob dieser Bruch sich auch in der Begründung rechtlichen Normen fortsetzt: Rechtsnormen, besonders jene des europäischen Rechts, so mag man den Eindruck gewinnen, können nicht mehr allgemeingültig gerechtfertigt werden; an die Stelle derartiger Erklärungsversuche tritt vielmehr eine unüberschaubare Menge inkommensurabler Erklärungssplitter  – ein Trümmerfeld, übersäht mit Bruchstücken aus den großen Gebäuden der europäischen Theoriegeschichte, aus denen jedes Individuum sich seine eigene Erklärung zusammensuchen und zusammenbauen muss: Ein prekäres Gebilde, dessen bestenfalls hübsch anzuschauende Spolien nicht darüber hinwegzutäuschen vermögen, dass es permanent vom Einsturz bedroht ist – wird es doch nicht vom festen Mörtel einer gefügten Ontologie und Logik, sondern letztlich nur vom weichen und formbaren Gemenge persönlicher Neigungen und Vorlieben zusammengehalten, deren eklektische Gestalt von nichts weiter als den subjektiven Standpunkten ihres jeweiligen Erbauers abzuhängen scheint. Dass ein solcher Relativismus besonders in Bezug auf die Begründung des Rechts, das gerade nicht relativ, sondern gegenüber jedermann in gleicher Weise zu gelten beansprucht, unbefriedigend sein muss, ist unmittelbar einleuchtend. Dennoch: Welche Alternative scheint es zu einem solchen relativistischen und eklektizistischen Ansatz zu geben, wenn ein objektentsprechender, „realer“ Zugriff auf die Welt unter den Bedingungen postmoderner Ungewissheit und Verwirrung nicht mehr möglich scheint? Was soll dem weiterhin dem Postulat der Allgemeinverbindlichkeit unterworfenen Gebäude hinreichende Festigkeit verleihen, wenn es nichts Festes mehr zu geben scheint, mit dem der Baumeister arbeiten kann? Kann das Recht in der Postmoderne, soweit es allgemeinverbindlich sein will, letztlich 158

Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 56.

III. Intersubjektivität als Erklärungsansatz 

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nur noch auf faktischer Macht und nackter Gewalt gegründet werden, die nur so weit reichen, wie es eben die tatsächlichen Verhältnisse zulassen – mit all den bereits dargestellten Problemen und Unzulänglichkeiten, die damit einhergehen159? Genau an diesem Punkt setzt die Geltungstheorie von Jürgen Habermas an: Haber­mas versucht, in einer Umgebung, in der „der Relativismus in allen möglichen Varianten Oberwasser hat“, in dem es nichts Festes und Absolutes mehr zu geben scheint, eine neue, gegen den Relativismus erfolgreich zu verteidigende Theorie der Rationalität zu entwickeln160, die die Geltung des Rechts wieder auf einen festen Untergrund zu stellen vermag, ohne dabei jedoch die ontologischen Bedingungen der Postmoderne zu vernachlässigen oder gar kontrafaktisch zu beschönigen. Das  Recht der modernen Gesellschaft ersetzt zwar Überzeugung durch Zwang; es erfordert Befolgung, stellt aber gerade die Motive der Regelbefolgung frei161. Gleichwohl sieht jedoch auch Habermas das Problem, dass der Staat eine durchschnittliche Normbefolgung durch Vollstreckungs- und Durchsetzungs­ apparate alleine nicht zu gewährleisten vermag, sondern zusätzlich noch jener Voraussetzungen bedarf, die ermöglichen, dass Recht nicht alleine der Sanktionen wegen, sondern auch aus Achtung vor dem Recht an sich befolgt werden kann162 und somit auch dort noch zu gelten vermag, wo der lange Arm des Staates seine faktische Macht verliert. Eine Norm ist für Habermas daher nur dann rechtsgültig, wenn sie nicht nur auf der „Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird“ basiert, sondern darüber hinaus auch noch ihre eigene Legitimität selbst herstellt, „die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit möglich macht“163 und so der bloßen Durchsetzungs- und Sanktionsgewalt noch eine Art ethische Verpflichtung zur Normbefolgung hinzusetzt. Das Recht hat für Habermas einen notwendigen Bezug zur Ethik, weil es sich nur funktional aus seiner gesellschaftlichen Notwendigkeit und seiner dienenden Funktion für die Gesellschaft begründen lässt164. Die Rechtsform ist kein Prinzip, das sich aus sich selbst heraus normativ oder epistemisch begründen ließe, sondern nur funktional gerechtfertigt und von der Moral abgegrenzt werden kann165: Im Hinblick auf die Geltung des Rechts verschränkt sich daher für Habermas „die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität begründenden Kraft eines dem Anspruch nach rationalen, weil freiheitsverbürgenden Verfahren der Rechtssetzung“166. Hieraus resultiert für ihn die Notwendigkeit eines Versuchs, einen Zusammenhang zwischen Recht und Ethik herzustellen, 159

S. o. § 2 II. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 12006, 178 f. 161 Habermas, Faktizität und Geltung, 56 f. 162 Ebd., 662. 163 Ebd., 49. 164 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 87. 165 Habermas, Faktizität und Geltung, 143, 123. 166 Ebd., 46. 160

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ohne dabei aber die Autonomie eines ausdifferenzierten Rechtssystems in Frage zu stellen oder aber auf klassische metaphysische, insbesondere naturrechtliche Vorstellungen zurückgreifen zu müssen167. Die Postulierung einer solchen legitimitätserzeugenden ethischen Komponente – und hier liegt das entscheidende Problem der Habermas’schen Geltungstheorie – erfordert jedoch notwendigerweise ein universelles Legitimitätsversprechen, das auch in einem nachmetaphysischen Zeitalter jedem relativistischen Angriff standzuhalten vermag168 – ein Unterfangen, das zu gewährleisten in der Postmoderne, in der allgemeinverbindliche Ansprüche an Wirkung und Akzeptanz verlieren, hochgradig problematisch erscheinen muss. 2. Intersubjektivität als Garantin von Allgemeinverbindlichkeit? Den Schlüssel zur Lösung dieser Quadratur des Kreises, in der Postmoderne eine Legitimitätstheorie mit universeller Gültigkeit zu entwickeln, erblickt Habermas in der Kommunikation – genauer: in einem diskursiven Begründungsprogramm, an dessen Ende ein Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit wieder erhoben werden kann169. Für Habermas können Normen nicht mehr aufgrund eines außerhalb der Kommunikation liegenden Bezugssystems, etwa aufgrund einer als real-objektentsprechend zu denkenden Vernunft, einer universelle Befolgung erheischenden Sanktionsgewalt oder einer formellen Rückführbarkeit auf eine Grundnorm gelten. Ihre Geltung kann vielmehr nur aus ihrer Erzeugung im Rahmen eines Legitimität hervorbringenden Prozesses resultieren, dessen Grundlage wiederum nur ein Diskurs sein kann, der seine legitimitätserzeugende Rationalität dadurch gewinnt, dass an ihm alle teilnehmen und seinen Befunden frei zustimmen können170: Ausgehend von dem Paradigma, dass im postmetaphysischen Zeitalter die „Bedingung für die Wahrheit von Aussagen“ nur die „potentielle Zustimmung aller anderen“ sein kann171, kann Allgemeinverbindlichkeit und damit auch allgemeinverbindliche Legitimität für Habermas nur intersubjektiv, d. h. über die gemeinsame Sprache und kommunikatives Handeln hergestellt werden172. (Allgemein)gültig können daher nur jene Normen sein, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“173, was eine Art Mittelweg zwischen einem rein materiellen und einem rein formellen Ansatz darstellt.

167 Apel, in: Apel / Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, 1992, 38. 168 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 50 ff. 169 Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 180. 170 Habermas, in: Habermas (Hrsg.), Wahrheit und Rechtfertigung: Philosophische Aufsätze, 1999, 308 f. 171 Habermas, in: Habermas / Luhmann (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – was leistet die Systemforschung?, 1990, 124. 172 Habermas, Faktizität und Geltung, 43. 173 Ebd., 138.

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Rechtsnormen sind für Habermas daher mit anderen Worten nur dann gültig, wenn sie auf der einen Seite erzwingbar sind, auf der anderen Seite aber auch eine sozialintegrative Kraft dergestalt entfalten, dass ihre Adressaten sich zugleich auch als ihre vernünftigen Urheber begreifen dürfen, d. h. ihre Geltung sich wesentlich auch „einer präsumtiv vernünftigen Selbstgesetzgebung politisch autonomer Staatsbürger verdankt“174. Rechtsnormen gelten für Habermas also sowohl aufgrund der drohenden Sanktion im Falle ihrer Missachtung als auch aufgrund jener inneren Motivation, die Folge eines rationalen Einverständnisses ist175. Normbegründung und Normgeltung werden damit zu einem „kooperativen Unternehmen“, das (Allgemein-)Gültigkeit als Folge der universellen Inklusion eines Erzeugungsprogramms hervorbringt und so den kategorischen Imperativ intersubjektiv ergänzt176: Gültig ist nicht mehr die „Maxime, von der ich will, dass sie ein allgemeines Gesetz sei“, sondern „das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen“177. Für Habermas erhält das Recht also nicht wie etwa bei Kelsen schon durch seine bloße (Rechts-)Form seinen Geltungsanspruch, sondern vielmehr erst durch ein „Verfahren der Rechtssetzung, das Legitimität erzeugt“178. Dieses Verfahren kann für Habermas unter den Bedingungen der Postmoderne, deren legitimitätsstiftender politischer Rahmen jener der liberalen Demokratie ist, nur ein diskursives Verfahren sein, da Demokratieprinzip und Diskursprinzip miteinander verschränkt sind179, ja das Demokratieprinzip überhaupt nur die Verwirklichung des Diskursprinzips in der Sphäre des Rechts und insofern Voraussetzung für dessen Legitimität ist180 – besagt es doch, „dass nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtssetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können“181. Die Legitimität und damit letztlich auch die Geltung von Rechtsnormen bemisst sich für Habermas also nicht an der Wahrheit, Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit einer Norm, sondern „an der diskursiven Einlösbarkeit ihres normativen Geltungsanspruchs“, d. h. „daran, ob sie in einem rationalen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen“ ist182 und so Anspruch auf universelle Geltung erheben kann. Erst mit Hilfe dieses theoretischen Instrumentariums erhebt Habermas von Neuem den Anspruch, auch in der Postmoderne richtige Normen von falschen Normen, geltende Normen von nicht geltenden Normen allgemeingültig unterscheiden

174

Ebd., 51 f. Ebd., 23. 176 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 46 ff. 177 Habermas, in: Habermas (Hrsg.), Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 2014, 77. 178 Habermas, Faktizität und Geltung, 169. 179 Ebd., 154 f. 180 Ebd., 154. 181 Ebd., 141. 182 Ebd., 47 f. 175

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zu können183 – jedoch nicht vom Standpunkt ewig feststehender Gewissheiten, sondern nur von der Warte intersubjektiv-fluider, immer neu verhandelbarer Momentaufnahmen. Diskurse werden nach Habermas „in der Absicht unternommen […], sich gegenseitig von der Berechtigung von Geltungsansprüchen zu überzeugen, die Proponenten für ihre Aussagen erheben und gegen Opponenten zu verteidigen bereit sind“184. Sie basieren auf Sprechhandlungen, die mit zwei Zwecken verbunden sind, nämlich „dass der Hörer die Bedeutung des Gesagten verstehen und die Äußerung als gültig anerkennen möge“185. Sprechhandlungen sind für Habermas auf intersubjektives Verstehen und intersubjektive Anerkennung ausgerichtet. Sie erheben Geltungsansprüche in Gestalt von Wahrheits-, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsansprüchen186, die im Rahmen des Diskursverfahrens durch inter­ subjektive Interaktion entweder als richtig bestätigt oder als unrichtig verworfen werden und somit Geltungsansprüche entweder allgemeingültig anerkennen oder zurückweisen187. 3. Die Voraussetzungen einer allgemeinverbindlichen intersubjektiven Geltungstheorie: Der ideale Diskurs Wie bereits an diesem Punkt deutlich wird, beruht der Habermas’sche Ansatz auf mehreren Voraussetzungen, ohne deren faktische Gegebenheit der gesamte intersubjektive Theoriestrang nur schwer zu verteidigen ist. Habermas ist zwar Werterelativist. Im Gegensatz zu den Positivisten versucht er allerdings, keine relativistische Theorie der Normgeltung, sondern der von ihm als notwendig postulierten Allgemeingültigkeit wegen eine Theorie mit Anspruch auf universelle Richtigkeit zu entwickeln188. Der Begriff der Richtigkeit von Normen, mit dem Habermas hantiert, ist daher insofern wenigstens „wahrheitsanalog“, als es sich bei ihm wie auch beim Wahrheitsbegriff um einen Geltungsanspruch handelt, der (diskursiv, durch das Beibringen von Gründen) universell eingelöst werden kann189. Um diese für die Allgemeingültigkeit notwendig erforderliche Versprechen einlösen zu können, muss der Diskurs jedoch gewisse Voraussetzungen erfüllen, deren Gegebenheit jeder Teilnehmer, der in den Diskurs eintritt, zumindest unterstellen muss. Diese sind zum einen den freie Zugang zum Diskurs einschließlich der Möglichkeit, im Diskurs Thema und Beitrag ohne Beschränkungen frei wählen zu können, zum anderen den Wahrheits-, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsanspruch der Sprechhandlungen der anderen Diskursteilnehmer, der auf echte argumentative Auseinandersetzung 183

Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 66. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 61. 185 Habermas, in: Habermas (Hrsg.), Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze, 2001, 66. 186 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 68. 187 Habermas (Hrsg.), Nachmetaphysisches Denken, 12001, 124. 188 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, 14. 189 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 66, 68 f. 184

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im Sinne einer sachlichen Überzeugung und nicht etwa auf bloß manipulative Verhaltensbeeinflussungen wie etwa Erpressung, Fälschung, Lüge oder Bestechung ausgerichtet sein muss190. Diese für die Rationalität und damit für die legitimitätserzeugende Wirkung des Diskurses unabdingbaren Voraussetzungen bringt Habermas mit der Einführung der begrifflichen Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln zum Ausdruck: Ein „rationaler Diskurs“ sei überhaupt nur dann möglich, wenn er unter Bedingungen stattfinde, „die innerhalb eines durch illokutionäre Verpflichtungen konstituierten öffentlichen Raums das freie Prozessieren von Themen und Beiträgen, Informationen und Gründen ermöglichen“191, d. h. auf einer idealen Sprechsituation basiere, die sich dadurch auszeichne, dass „jeder Konsensus, der unter ihren Bedingungen erzielt werden kann, per se als wahrer Konsensus gelten darf“192. Diesen hohen Anforderungen kann allerdings nur ein Verhalten genügen, das überzeugungsmotivierend und nicht verhaltensinduzierend ist, d. h. auf Ebene jener zwanglosen „ersten Ordnung“ operiert, auf der sich Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit erst herausbilden und ausdifferenzieren  – Habermas nennt sie die „Lebenswelt“193. Handlungen dagegen, die auf einer Ordnungsebene operieren, die erst an diese „erste Ordnung“ der Lebenswelt anknüpfen und eine ihr gegenüber sekundäre Ordnung mit verhaltensinduzierenden Faktoren wie etwa Geld und administrativer Macht bilden, vermögen diesen hohen Anforderungen an eine ideale Sprechsituation hingegen nicht zu entsprechen194. Beide Handlungsweisen – Habermas nennt die erste, überzeugungsmotivierende Handlungsweise „kommunikativ“, die zweite, verhaltensinduzierende Handlungsweise „strategisch“  – schließen sich für ihn daher gegenseitig aus195. Nur kommunikatives Handeln ist ordnungsbildend und vermag es, über seine Verständigungsrationalität die Möglichkeit sozialer Ordnung zu erklären und immer neu zu schaffen. Strategisches Handeln als zwar intersubjektiver, jedoch ausschließlich im Wollen des Einzelnen verankerter und somit sekundärer Prozess vermag es für Habermas hingegen nicht, ordnungsbildend zu wirken196: „Während im strategischen Handeln einer auf den anderen empirisch, mit der Androhung von Sanktion oder der Aussicht auf Gratifikation einwirkt, um die erwünschte Fortsetzung einer Interaktion zu veranlassen, wird im kommunikativen Handeln einer vom anderen zu einer Anschlusshandlung rational motiviert, und dies kraft des illokutionären Bindungseffekts eines Sprechaktangebots“197. Soziale Integration und damit auch 190

Ebd., 99 ff. Habermas, Faktizität und Geltung, 138 f. 192 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, 136. 193 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 102016, 227 f. 194 Habermas, Faktizität und Geltung, 59. 195 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 68. 196 Habermas (Hrsg.), Nachmetaphysisches Denken, 82. 197 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 68. 191

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ein legitimitätserzeugender rationaler Diskurs kann für Habermas daher nicht durch strategisches, sondern ausschließlich durch kommunikatives Handeln geschaffen werden198. 4. Zu den Grundlagen des idealen Diskurses: Intersubjektivität als Verschleierung von Objektivität – die Wiederkehr von Vernunft und Gewalt in anderer Gestalt Hier liegt die elementare Schwäche des intersubjektiven Ansatzes begründet, die im europäischen Kontext in ihrer Wirkung noch besonders schwer wiegen muss: Die Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln, die Habermas einzuführen genötigt ist, ist nicht empirisch überprüfbar, sondern rein normativ199. Sie ist zugleich jedoch auch – selbst wenn man die Normativität des Rechts schlicht beliebig unterstellt, wie es Habermas tut200  – im Rechtssystem selbst nicht justiziabel und reproduzierbar, weil sie das Recht in seiner Gültigkeit ja erst begründet201. Habermas weiß sich mit diesem Problem daher nicht anders zu helfen, als die für seine Diskurstheorie unabdingbaren Diskursregeln – zu denen wesentlich die Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln gehört – als intuitives Vorwissen zu behandeln, das in der Alltagspraxis einfach schon immer vorhanden sei, ohne dass es einer erkenntnistheoretischen Begründung bedarf202 und denen jedermann, selbst der „konsequente Aussteiger“, immer verhaftet bleiben muss203. Die Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln ist für ihn daher eine Unterscheidung, die, selbst wenn sie im konkreten Fall kontrafaktisch sein mag, im Kommunikationsvorgang aller­ wenigstens als Fiktion aufrechterhalten werden muss – notfalls im Vorgriff auf eine gegenwärtig offensichtlich noch nicht bestehende, durch die vorgreifliche Fiktion selbst jedoch noch zu realisierende ideale Sprechsituation, die alleine zu gewährleisten vermag, „dass wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch eines vernünftigen Konsensus verbinden dürfen“204. Der Einwand, der hiergegen erhoben werden muss, liegt freilich auf der Hand: Die Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln ist in Wirklichkeit keineswegs klar und schon gar nicht in der Alltagspraxis einfach gegeben. Überzeugungsmotivierendes und verhandlungsinduzierendes Handeln bestehen vielmehr permanent nebeneinander und miteinander, was die normative 198

Habermas, Faktizität und Geltung, 118 ff. Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, 1993, 335 ff. 200 In dieser Hinsicht ist Habermas verblüffenderweise Kelsen nicht unähnlich, vgl. Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 105 f. 201 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 99. 202 Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie, 1998, 56 ff. 203 Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 110. 204 Habermas, in: Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion: Walter Schulz zum 60. Geburtstag, 1973, 258. 199

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Hervorhebung des kommunikativen Handelns zu einer artifiziellen, ja mitunter geradezu willkürlichen Unterscheidung macht205. Vielmehr noch: Da die klare Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln in der Alltagspraxis evident nicht einfach gegeben ist, kann sie selbst wieder nur eine normative, von außen theoretisch eingeführte und somit selbst nur von einem nichtintersubjektiven, außenstehenden, „objektiven“ Standpunkt aus zu treffende Unterscheidung sein206, die letztlich erneut auf eine Art objektiv zu begreifender Einheitsvorstellung in Gestalt eines einheitlichen Maßstabes und einer einheitlichen Erwartung abzielt, ja letztlich wieder einer Form von objektiver, übergreifender Vernunft bedarf, die zu ersetzen der gesamte intersubjektive Theoriestrang eigentlich gerade zum Hauptzweck hat. Hieran wird deutlich, dass auch Habermas die Quadratur des Kreises, in der Postmoderne allgemeinverbindliche Aussagen zu treffen, in Wirklichkeit nicht lösen kann, sondern vielmehr durch ein eigenen Standpunkt einfach bereits im Vorhinein beantwortet hat, ohne diesen Standpunkt wiederum selbst mit seiner eigenen Theorie erklären zu können: Er hat bereits ein konkretes normatives Verständnis von menschlicher Kommunikation, die ihm eine Unterscheidung zu treffen ermöglicht, von der aus er seine Theorie von der kognitiven Rechtfertigung von Normen erst entwickeln kann, ohne diese Unterscheidung auf Basis seiner post-meta­physischen Annahmen selbst vornehmen zu können207. Habermas versucht das zu begründen, was in der Postmoderne in Wirklichkeit nicht begründet, sondern allenfalls nur voluntativ entschieden werden kann und von ihm auch tatsächlich selbst willkürlich gesetzt wird208. Seine Theorie ist nicht vom Anfang, sondern vom Ende her gedacht. Sie ist eine Rekonstruktion und normative Verteidigung des demokratisch-liberalen Verfassungsstaates209, die normativ mit ihm bereits anfängt und nur deswegen mit ihm auch aufhört und dessen Bestehen er – ebenso wie die von ihm ausgehende Durchsetzungs- und Sanktionsgewalt – einfach als gegeben annimmt. Die intersubjektive Geltungstheorie von Habermas setzt somit letztlich wieder eine allgemeinverbindliche, flächendeckende Gewalt sowie einen objektiven Vernunftbegriff voraus. Sie ist eine verschleierte Wiederbelebung der klassischen Theoriestränge von Vernunft und Gewalt im post-metaphysischen Gewande und damit, wie wir bereits gesehen haben, unter den Bedingungen der Postmoderne im Allgemeinen und denen Europas im Besonderen zur Normbegründung untauglich210: In Europa gibt es keinen festen Punkt, kein festgefügten einheitlichen Wissenstatbestände und schon gar keinen einheitliches Wissen vom Sprachgebrauch,

205

Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheorie, 70. Scheit, Wahrheit, Diskurs, Demokratie, 1987, 263 ff. 207 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 74. 208 Ebd., 106. 209 Ebd., 105. 210 S. o. § 2 II. 206

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von dem aus sich normative Unterscheidungen wie die zwischen kommunikativem und strategischem Handeln, freiem und unfreiem, rationalem und irrationalem Diskurs treffen ließe211. Eine intersubjektive, diskurstheoretische Rechtfertigung seines Rechts würde insofern etwas schaffen, was es in Wirklichkeit nicht gibt, sondern selbst einfach voraussetzt: Eine übergreifende Einheit, von der aus allgemeinverbindliche Unterscheidungen und Zurechnungen vorgenommen werden können.

IV. Die Frage nach der Rechtsgeltung als Frage nach der Letztbegründung 1. Die Rechtsgeltung als Fall des Münchhausen-Trilemmas Die Kritik, die an den vorstehend erläuterten Theorien zur Begründung der Rechtsgeltung geäußert werden müssen, muss in Wirklichkeit sogar noch viel fundamentaler ausfallen, als es der Gang dieser Untersuchung bisher darzustellen erlaubte. Der Ansatz dieser Kritik ist eng mit dem Grundparadox verwoben, das jedem Rechtssystem innewohnt: Das Recht kann trotz seiner Autonomie und seinem komplexen Konditionalprogramm seine grundlegende binäre Codierung, die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, nicht auf sich selbst anwenden212. Es ist nicht in der Lage zu beurteilen, ob die infolge seines Konditionalprogramms getroffene Unterscheidung zwischen rechtmäßig und unrechtmäßig nicht in Wirklichkeit jeweils selbst wieder rechtmäßig oder unrechtmäßig ist. Das Recht selbst ist in dieser Hinsicht blind und bedarf deshalb stets einer Öffnung gegenüber anderen Systemen (Politik, Wirtschaft, Religion usw.), um diese grundlegende normative Entscheidung operationalisierbar zu machen. Wenn aber das Recht schon nicht in der Lage ist, die Differenz zwischen Recht und Unrecht herzustellen, so gilt dies erst recht für die Differenz zwischen Recht und Nicht-Recht, geltendem Recht und nicht geltendem Recht213. Denn sie ist eine Differenz, die nicht nur eine innerhalb des Systems zu treffende Unterscheidung betrifft, sondern vielmehr eine Kollision zwischen zwei unterschiedlichen Systemen markiert und insofern die innerhalb des Systems operationalisierten Unterscheidungen überschreitet: Das Problem der „Geltung“ tritt nur dann auf, wenn zwei verschiedene Geltungsansprüche miteinander in Widerspruch geraten, die sich gegenseitig ausschlie­ 211

Instruktiv in diesem Kontext Grimm, JZ 50 (1995), 581, 588; im Übrigen siehe auch § 2 II. 3. und § 3 II. 1., III. 1. 212 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 176. 213 Dahingehend Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, 451. M. E. deutet diesen Gedanken auch bereits Luhmann an, wenn er davon spricht, dass der Begriff der Rechtsgeltung, wie ihn die Habermas’sche Diskursethik herstellt  – die Zustimmung aller möglicherweise und an einem rationalen Diskurs zustimmenden Teilnehmer – nicht ­justiziabel ist, da sie im Rechtssystem selbst nicht praktiziert werden kann, vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 99.

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ßen214. In diesem Fall muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, welcher Geltungsanspruch gilt, welcher von ihnen der Sphäre des Rechts oder eben des Nicht-Rechts zuzuordnen und insofern der normativen Erwartung des Rechts­ systems zugerechnet oder aber in dieser Erwartung enttäuscht werden muss215. Einen systemuniversellen, normativen Test über diese Unterscheidung kann das Rechtsprogramm selbst jedoch nicht herstellen216. Die Geltung des Rechts ist keine Frage des Sollens, sondern eine Frage der Behandlung der Kollision zwischen zwei Sollensansprüchen, ein Epiphänomen einer Paradoxie217. Aus der Sicht eines Rechtssystems gilt Recht aus sich selbst heraus oder es gilt nicht218. Es kann allenfalls Verfahrensnormen zur Verfügung stellen, die regeln, wie einzelne seiner Normen geändert – d. h.: die ihm schon grundsätzlich innewohnende Geltung in einzelnen Fällen inhaltlich geändert werden kann219 –, nicht aber seine Geltung aus sich selbst heraus herstellen. Denn ein Vollzug dieser Verfahrensnormen kann es überhaupt nur geben, wenn davon ausgegangen wird, dass sie bereits gelten, Verfahrensnormen auf Basis konkurrierender Geltungsansprüche hingegen nicht gelten220. Das Recht setzt insoweit voraus, was es bewirken soll: seine eigene Verfügbarkeit und seine eigene Unverfügbarkeit221, seine eigene Geltung und den Ausschluss anderer Geltungen. Die Rechtsgeltung ist daher keine „Norm“ und durch das Recht selbst auch nicht normativ fassbar, sondern eine Form, die eine Differenz zweier Seiten symbolisiert: Der Innenseite der Geltung und der Außenseite der Nichtgeltung222. Wenn aber diese Unterscheidung zwischen Innen und Außen im Recht selbst nicht hergestellt werden kann, sondern ihr vielmehr vorausgeht, so ist die Frage nach der Rechtsgeltung, nach dem Kriterium der Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht eine Frage, die das Recht selbst überschreitet: Eine Frage nach einem Begründungszusammenhang jenseits des Rechts, nach einem Grund hinter dem Grund, dem eigentlichen, letzten Grund – ja: der Letztbegründung223. Dieser Anspruch auf Letztbegründung stößt jedoch auf grundlegende logische Probleme. Wer nach dem letzten Grund eines Phänomens sucht, ist gezwungen, auch für diesen Grund wieder eine Begründung zu liefern und somit gewisser­ maßen die Erklärung wieder selbst zu erklären. Dieses Problem kann nur auf drei  Arten gelöst werden: Man führt diese Frage nach dem Grund hinter dem 214

Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 28. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 105. 216 Ebd., 100. 217 Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 27. 218 Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, 20 f. 219 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 103. 220 Ebd., 101. 221 Dahingehend auch Wiethölter, in: Honneth / McCarthy / Offe / Wellmer (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen: Im Prozess der Aufklärung: Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, 1989, 803. 222 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 104. 223 Wiethölter, in: Zumbansen / Amstutz (Hrsg.), Recht in Recht-Fertigungen: Ausgewählte Schriften von Rudolf Wiethölter, 2014a, 376. 215

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Grund immer weiter fort und verliert sich so in einem infiniten Regress – oder man umgeht diesen infiniten Regress entweder durch einen Abbruch des Verfahrens bei einem gesetzten, unhinterfragbaren Dogma oder einen logischen Zirkel, der das Phänomen mit einem Grund erklärt, für den es selbst wiederum Voraussetzung ist.224 Alle drei Möglichkeiten sind jedoch unbefriedigend und bilden ein logisches Trilemma (das sog. Münchhausen-Trilemma225), dem sich auch die zuvor dargestellten Theorien zur Rechtsgeltung ausgesetzt sehen226 und in ihrer jeweiligen Anwendung auf die Europäische Union noch eine Verschärfung erfahren. Denn wie zu zeigen ist bestehen bei der Europäischen Union anders als im Nationalstaat keine ergänzenden Sinngehalte, die die Leerstelle, die diese logische Unzulänglichkeit hervorruft, hinreichend zu verdecken vermögen würden: 2. Das Problem der Rechtsgeltung in der EU als wirkungsverschärfter Fall des Münchhausen-Trilemmas a) Rechtsquellenlehre: Abbruch des Begründungsverfahrens in einer obersten Norm und logischer Zirkel der Quellenmetapher Die Rechtsquellenlehre beansprucht von sich, eine formal-logische Erklärung für die Geltung von Rechtsnormen bereitzustellen227. Dennoch tritt gerade bei ihr die logische Unzulänglichkeit traditioneller Normbegründungszusammenhänge am deutlichsten zutage: Die Rechtsquellenlehre bricht den Begründungszusammenhang von Normen an einem höchsten Punkt – je nach Konzeption einer Grundnorm oder einer secondary rule of recognition228 – ab. Dier höchste Punkt markiert zwar den Übergang vom Recht zum Nicht-Recht, kann durch das Rechtsystem selbst jedoch wiederum nicht hinreichend erklärt werden, sondern wird gerade aus dem System ausgeklammert. Die Rechtsquellenlehre produziert damit eine (ihrerseits wieder begründungsbedürftige) Differenz zwischen dem, was vor der Quelle und nach der Quelle ist, die ohne den Abbruch des Begründungszusammenhangs erst gar nicht bestünde229. Die Rechtsquellenlehre basiert somit letztlich auf einem willkürlich gesetzten Dogma, einem „ersten Satz“230, der selbst keinerlei Hinterfragung

224

Albert, Traktat über kritische Vernunft, 51991, 15 f. Ebd., 15. 226 So bereits jeweils in Ansätzen Wiethölter, Begriffs- oder Interessenjurisprudenz – falsche Fronten im IPR und Wirtschaftsverfassungsrecht, 376; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 82015, 223; Popper, Logik der Forschung, 101994, 60 ff. 227 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 58. 228 Hart bezahlt seine Unterscheidung zwischen primary rules of obligation und secondary rules of recognition damit, dass die Geltung von Letzteren nicht begründet werden kann; als bloße „habits“ wird ihre Existenz vielmehr einfach unterstellt, vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 109. 229 Ebd., 524. 230 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 98. 225

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zulässt, sondern vielmehr als in unmittelbarer, selbstevidenter Erkenntnis fundiert betrachtet werden muss231. Zudem: Die Quellenmetapher insinuiert mit ihren deduktiven Ableitungszusammenhängen zwar eine klare Kausalität des Normbegründungszusammenhanges, tatsächlich führt sie diesen aber in einen logischen Zirkel: Sobald der Abbruch des Begründungszusammenhanges nämlich bei einer höchsten Autorität erreicht ist, besteht ironischerweise nur noch die Möglichkeit, den Begründungszusammenhang wieder in einer rangniedrigeren Regel zu suchen, deren Quelle eigentlich die höchste Norm ist, im Hinblick auf dieselbe in einem solchen Fall jedoch selbst zur Quelle wird232. Denn ob eine Norm selbst eine Rechtsquelle für andere Normen ist, lässt sich nicht aus der Rechtsquelle selbst, sondern vielmehr erst durch ihre Wirkung begründen233. Eine Rechtsquelle, der keine Wirkung zukommt, die nicht in der Lage ist, wirksame Rechtsregeln zu setzen, kann nicht von einer Nicht-Quelle unterschieden werden234. Die Wirkung der Rechtsquelle, die wirksam gesetzte Norm, begründet vielmehr erst ihre Eigenschaft als Rechtsquelle, ohne wiederum ihre Ursache zu sein, ja die Frage, zu welcher Quelle eine Norm überhaupt gehört, muss in Wirklichkeit vorab immer schon beantwortet sein235: „Die Quelle selbst ist die Wirkung von dem, [als] dessen Ursprung [man] sie angibt“236 – und die gegenteilige Annahme eines klaren Anfanges und Ursprunges derselben folglich „ein im System selbst gefertigter Mythos“237. Was aber soll ein erster selbstevidenter Satz sein, auf dem das europäische Recht ruhen könnte? Was ist der höchste Punkt, an dem ihr Rechtssystem aufhört und ins Nicht-Recht übergeht? Und was soll ihre Rechtsquelle, der Ursprung ihres Rechts sein, von dem seine Wirksamkeit abhängt und von dessen Wechselwirkungen aus sich seine Geltung bestimmen ließe? Diese Probleme verweisen erneut auf Frage danach, was die Grundlage des europäischen Rechts ist: Die begrenzten Einzelermächtigungen der Mitgliedsstaaten oder aber ein Gründungsakt, der sich sowohl von seinen Gründern als auch ihren Rechtsordnungen emanzipiert hat. Eine Be­ antwortung dieser Fragen ist hier entbehrlich, weil – wie bereits festgestellt – es einen solchen höchsten Punkt, eine einheitliche höchste Rechtsquelle im europäischen Recht jedenfalls nicht gibt. Die logischen Unzulänglichkeiten, die der 231 Dazu im Kontext der Letztbegründungsprobleme Albert, Traktat über kritische Vernunft, 15 f. 232 Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, 2016, 737 f.: „Wenn man einmal so mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen ist, die einen nicht aus dem System hinaus zu einer noch höheren Autorität springen läßt, bietet sich ironischerweise die einzige Rettung bei Kräften an, die weniger gut durch Regeln definiert sind, aber ohnehin die einzige Quelle der Regeln höherer Ebene darstellen: die Regel niedrigerer Stufe …“. 233 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 18. 234 Kelsen, Reine Rechtslehre, 19602009, 215, 219; dazu vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 73. 235 Raz, The concept of a legal system, 22003, 100 ff. 236 Derrida, Randgänge der Philosophie, 11988, 264. 237 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, 441.

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Rechtsquellenlehre innewohnen, sind hierdurch in ihrer Wirkung noch verschärft. Im europäischen Kontext fehlt ein selbstevidentes Dogma, ein klares einheitsstiftendes politisches Narrativ238 wie etwa die Verfassungssetzung im Nationalstaat, bei dem ein Abbruch eines Normbegründungszusammenhangs plausibel möglich wäre und das den Mangel an Logik durch die Klammerwirkung eines starken politischen Bildes zu kompensieren oder aber in die operativen Prozesse der politischen Praxis zu externalisieren vermöchte. b) Gewalt: Infiniter Regress der Gewaltverursachung Diese Unzulänglichkeit – das Fehlen eines einheitsstiftenden politischen Nar­ ratives – wirkt sich auch auf mögliche Versuche aus, die Geltung des europäischen Rechts in der Gewalt zu suchen. Die Frage nach der Gewalt in einem politischen Gemeinwesen ist in der europäischen Ideengeschichte traditionell mit dem Begriff der Souveränität als höchster Gewalt verbunden239. Eine solche höchste Gewalt kann es als reale innerweltliche Größe jedoch nicht geben, da in einer vom Kausalitätsgesetz beherrschten Welt keine einzelne Ursache herausgenommen und mit einem derartigen Superlativ bezeichnet werden kann240: Betrachtet man einen Akt der öffentlichen Gewalt (den Schlag eines Polizeiknüppels, die Verkündung einer Gerichtsentscheidung, den Erlass eines Gesetzes), so wird man feststellen, dass niemals schon eine einzelne Ursache für diesen Akt hinreichend war, sondern vielmehr ein komplexes Zusammenwirken eines ganzen Ursachennetzwerkes letztlich die Gewalt bewirkt hat, aus dem keine einzelne Ursache hervorgehoben werden kann. Die Frage nach der höchsten oder der entscheidenden Ursache der Gewalt muss sich daher deskriptiv letztlich immer in einem infiniten Regress eines ganzen Netzwerkes von Kausalketten verlieren. Hieraus folgt jedoch, dass die höchste Gewalt (Souveränität) selbst wiederum nichts anderes als ein politisches Narrativ, ein „Abwehrrecht gegen andere Souveränitätsprätendenten“ und ein „Recht zur Durchsetzung von Ansprüchen“ ist241, das die öffentliche Gewalt normativ zur höchsten Gewalt erklärt und einem imaginierten einheitlichen Subjekt – dem Staat – zurechnet242. Der Europäischen Union aber fehlt nicht nur unzweifelhaft die Zuschreibung der Eigenschaft der Souveränität243 und damit die Zuerkennung einer höchsten Gewalt, 238

Dazu Lübbe-Wolf, FAZ 6. Januar 2018, 9. Vgl. Dreier, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon: Recht, Wirtschaft, Gesellschaft; in 7 Bänden, 1995, Sp. 1203. 240 Schmitt, Politische Theologie, 26. 241 Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 258. 242 Ebd., Rn. 265, 266. 243 Klar insofern zuletzt die Ausführungen bei BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon-Urteil) – Rn. 334, 347. Instruktiv sind auch die Ausführungen von Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 140, demzufolge sich ein Staatenverbund gerade dadurch auszeichne, dass er selbst keinen Anspruch auf Souveränität erhebt, sondern diese vielmehr bei den Mit 239

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was sich nicht zuletzt auch in der ihr zugeschriebenen Unfähigkeit zeigt, ihr Recht notfalls mit Gewalt gegenüber den Mitgliedsstaaten zur Geltung zu bringen und insofern ihren Rechtsgedanken zu bewähren244. Auf ihrer Ebene ist vielmehr auch die Frage der Zurechnung von Verantwortlichkeiten stets komplex, nicht selten gar geradezu „opak“245 – ja vielmehr noch: Trotz der zunehmenden Selbstständigkeit ihrer Organe246 (allen voran des EuGH und der EZB) dominiert wenigstens seit der Finanz- und Eurokrise die Wahrnehmung, dass das intergouvernementale Zusammenwirken der Mitgliedsstaaten der bedeutende politische Faktor in der Union ist247. Eine solche Wahrnehmung hat jedoch nicht nur zur Folge, dass die höchste, die Geltung des Rechts begründende Gewalt allenfalls in den Mitgliedsstaaten verortet werden kann und insofern einem derivativen Geltungsverständnis des europäischen Rechts die höhere Plausibilität zukommt. Der deskriptiv bestehende infinite Regress, den die Begründungsfigur der „höchsten Gewalt“ an sich bereits logisch mit sich bringt, wird hierdurch auch normativ unmittelbar erfahrbar, weil der Ursprung der von der Union ausgeübten Gewalt direkt in die einzelnen Mitgliedsstaaten hineinführt und sich in diesen verliert. c) Vernunft: Zirkel zwischen dem Anschluss an gesellschaftliche Wissensbestände und ihrer Strukturierung Aber auch dem noch nicht genug: Das Fehlen eines einheitsstiftenden politischen Narrativs beseitigt auch die Möglichkeit, eine vernunftbasierte Geltung des europäischen Rechts anzunehmen. Denn ohne ein Mindestmaß an sozialer Einheit innerhalb eines politischen Gebildes kann es nicht das erforderliche Maß an gemeinsamem Wissen geben, das die Herausbildung gesicherter Wissensbestände in der gesellschaftlichen Praxis zulässt, an die eine „Vernunft“ anzuschließen und aufzubauen vermag. Ohne ein gemeinsames grammatikalisches Wissen von der Sprache oder der Bedeutung von Schriftzeichen kann es keine Kommunikation248, ohne Kommunikation wiederum keinen Anschluss der Vernunft an gesellschaft­ liche Wissensbestände geben249. Eine solche Anschlussfähigkeit durch gemein­ sames Wissen ist in einer modernen Gesellschaft jedoch notwendige Voraussetzung für jeden Vernunftbegriff: Nach der klassisch-alteuropäischen Tradition gehörte die Vernunft zur Natur des Menschen; sie war in einem normativen Naturverständnis verankert, auf das gliedsstaaten als „Herren der verbundstaatlichen Verfassung“ bleibt, diese allerdings im politischen Alltag wiederum auf die „Demonstration von Souveränität“ verzichten. 244 Zu diesem Gedanken (jedoch bezogen auf das Völkerrecht) siehe Kaufmann, E., Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911, 153. 245 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 140. 246 Möllers, C., Leviathan 43 (2015), 339, 340. 247 Ebd., 356 248 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 234. 249 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 21994, 122.

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sie sich bezog und an das sie als Erkenntnisquelle gekoppelt war250. Sie war Folge einer natürlichen, gottgegebenen Ordnung, der sie innewohnte und anhand derer sie erkannt und abgeleitet werden konnte, ja die es zuließ, alle Unterscheidungen letztlich an eine umfassende „natürliche“ Einheit rückzubinden und an dieser zusammenzufassen. Diese Vorstellung von Vernunft und Natur begann jedoch bereits ab dem 17. Jahrhundert brüchig zu werden und löste sich schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts infolge der mit der Industrialisierung und Arbeitsteilung verschärft einhergehenden funktionalen Spaltung der Gesellschaft vollständig auf, ebenso wie die auf ihr beruhende alteuropäische Gesellschaft251. Die moderne Gesellschaft dagegen sieht den Menschen nicht mehr als Teil einer natürlichen, gottgegebenen Ordnung, die die Annahme oberster Prinzipien und Erkenntnisse zuließe, von denen aus die Vernunft sich deduktiv zu entfalten vermöchte. Die Vernunft vermag sich in der ontologisch aufgelösten Moderne nicht mehr durch Spekulation selbst zu erfassen und zu bestimmen252. Ihr beherrschendes Strukturprinzip, die funktionale Differenzierung, lässt kein Leitsystem, keine Spitze und auch kein Zentrum zu, von denen sich aus einheitliche, gesellschaftsübergreifende Rationalitätsprätentionen konstruieren ließen253. Die Vernunft kann unter diesen Umständen vielmehr nur noch an jene soziale Wissensbestände angeschlossen und gekoppelt werden, die in den Systemen der Gesellschaft nach funktionalen Kriterien selbst produziert werden254. Eine solche funktional und sozial angeschlossene Vernunft jedoch ist zugleich Folge als auch strukturierende Voraussetzung dieser Wissensbestände; sie ist eine aus der Gesellschaft erwachsene Kraft, die zugleich die Gesetze und Strukturen der Gesellschaft so bestimmt, dass sie nicht anders zu sein vermögen, als sie bereits sind255 und in diesen ständigen Wechselwirkungen zwischen ihren Voraussetzungen und Wirkungen letztlich zirkulär verläuft: Die Strukturierungsleistung, die aus dieser Wechselwirkung resultiert, ist keine individuelle Fähigkeit, die aus diesem Zirkel hinausführen könnte, sondern eine Differenzierung, die Unterscheidung zwischen System und Umwelt, die gerade wieder in die sie voraussetzende Strukturierung gesellschaftlicher Wissens­ bestände hineinführt. Der Vernunftbegriff kann, jedenfalls soweit er auf eine soziologische Realität zu rekurrieren beabsichtigt, in der ontologisch aufgelösten, nur noch nach funktionalen Kriterien differenzierten Gesellschaft daher – leider – kein Vermögen mehr sein, das dem Menschen kraft seines Menschseins zukommt und ihn vom Tier unterscheidet, die Welt in ihrer Totalität umfasst oder ein universelles Prinzip des Richtigen darstellt256. Vernunft ist unter diesen Vorzeichen vielmehr ein 250 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 171; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 377. 251 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 173–175. 252 Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, 451. 253 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 185. 254 Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, 426 f. 255 So ähnlich Lassalle, Über Verfassungswesen, 1993, 14 f. 256 Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 2017, 1061.

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Vermögen, das nicht an den Menschen, sondern an konkrete gesellschaftliche Systeme gebunden ist, denen es erlaubt, das Ausgeschlossene als Umwelt, sich selbst hingegen als operativ geschlossenes (autopoietisches) System zu beobachten257 und das seinen Universalitätsanspruch daher nur noch insofern zu behalten vermag, als es als „Korrelatbegriff zu Selektivität“ fungiert und damit eine im „Horizont der Welt“ selegierte Wirklichkeit kontingent unterstellt258. Dies schließt freilich nicht aus, dass die Rationalität auch in der Lage ist, verschiedene Funktionssysteme zu übergreifen – jedoch nicht nur in Gestalt einer kognitiven, sondern vor allem einer strukturellen Selbstbeschränkung, die verschiedene Systeme, Handlungen, ja letztlich sogar die Welt als Ganzes zu umfassen und abzugrenzen vermag259: Von „Systemrationalität“ kann überhaupt nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn weder die Umwelt noch die Relation zwischen System und Umwelt, sondern nur das System selbst die Entscheidung zwischen System und Umwelt festlegt. Wäre dem nicht so, verlöre der Begriff der Rationalität seine aktive Unterscheidungskraft und würde einfach nur das beschreiben, was ohnehin bereits faktisch besteht. Der Begriff der Rationalität setzt damit die Kontingenz der Relation zwischen System und Umwelt voraus260, die jedoch wiederum keine universelle Vernunft, sondern nur einen universellen Selektionszwang hervorzubringen vermag261. Es ist vor dem Hintergrund dieser Kontingenz insofern irreführend, in Bezug auf das Recht in der modernen Gesellschaft überhaupt von „Vernunft“ zu sprechen, da dieser Begriff aufgrund seiner tradierten Prägung einen universellen Anspruch insinuiert, der aufgrund der Systemgebundenheit desselben nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Vernunft im tradierten Sinne kann in einer funktional differenzierten Gesellschaft nur noch vom jeweiligen Beobachter abhängen, der normative Aussagen und operative Prozesse entweder als vernünftig oder unvernünftig beschreibt. In der Mehrheit der Beobachter wiederum eine Einheit zu sehen würde erfordern, dass die Kriterien der einzelnen Rationalitäten selbst wieder vernünftig bestimmt und festgelegt werden können262, was jedenfalls außerhalb der operativ geschlossenen Systeme nicht möglich erscheint. Begrifflich passender ist es daher, in Bezug auf das Recht nicht von Vernunft, sondern vielmehr von einer spezifisch „juridischer Rationalität“ zu sprechen263, die es vermag, wenigstens innerhalb des 257

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 183. Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 1061. 259 Ebd., 1077. 260 Ebd., 1080 f. 261 Weil eine ihr zugrundeliegende Einheit fehlt, kann die Vernunft in der funktional differnzierten Gesellschaft nur noch unvollständig sein; nur noch der Selektionszwang in ihr ist universell, die Universalität des Unterscheidens und Grenz-Ziehens – und eine Vernunft, die dies nicht wahrhaben will, wird totalitär, ja terroristisch, vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 188. 262 Ebd., 177. 263 Dieser Begriff geht auf Schelsky, in: Schelsky (Hrsg.), Die Soziologen und das Recht: Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, 1980 zurück und wird dann von Luhmann aufgegriffen, vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 184. 258

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Rechtssystems selbst eine „Einheit der Differenz“ herzustellen264, von der aus seine binäre Codierung begriffen werden kann. Eine solche einheitliche juridische Rationalität, dies es vermöchte, eine operative Schließung des Systems durch einen klar definierten binären Code zu bewirken, besteht in Bezug auf das europäische Recht jedoch allenfalls unvollkommen. Es mag zwar möglicherweise zutreffen, dass trotz aller Verschiedenheiten Europa eine von anderen Kontinenten deutlich verschiedene, ausgeprägte Kultur vorzuweisen hat265. Diese Kultur materialisiert sich aber jedenfalls im Recht nicht zu einer einheitlichen juridischen Rationalität. Im europäischen Rechtsraum bestehen verschiedene gesellschaftliche Wissens-, Regel- und Wertbestände, denen keine einheitliche Rationalität zugrunde liegt, sondern die sich aus verschiedenen Pfaden gesellschaftlicher Normbildung entwickeln266 und so wieder ihre jeweils eigenen Zirkel bilden – angefangen etwa bei den nationalstaatlichen Bürokratien, Gewerkschaften und Verbänden bis hin zu international agierenden Konzernen, NGOs und suprastaatlichen Institutionen. Wie hieran deutlich wird, ist das europäische Recht sowohl nach Gegenständen als auch nach Diskursräumen fragmentiert267, vor allem aber weiterhin fest in den Zirkeln nationalstaatlichen Rechtsdenkens und ihren Rationalitäten verankert268, die es selbst nach mittlerweile über 60 Jahren europäischer Integration noch nicht zu durchbrechen und überschreiten vermochte. Es erhebt auch erst überhaupt nicht den Anspruch, diese verschiedenen Rationalitäten einzuebnen und durch eine einheitliche europäische juridische Rationalität abzulösen269, von dem aus ein eigenständiger europäischer Rationalitätszirkel und damit wenigstens eine klare europaweite Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, geltendem Recht und nicht geltendem Recht möglich wäre. Das europäische Recht befindet sich stattdessen in einem fragmentarischen, multipolaren und heterarchischen Zustand, der sich besonders deutlich in der Sprache und der Methodik zeigt und die Annahme einer eigenständigen strengen binären Codierung nur schwer zulässt. Die Sprache ist für das Recht nicht nur ein neutrales Kommunikationsmittel, sondern vielmehr integraler Bestandteil der juridischen Rationalität, da sie Rechtsbegriffe, Argumentationsmuster und Methoden integral prägt270 und so eine geregelte binäre Codierung erst möglich macht. Das europäische Recht hat es jedoch nicht vermocht, eine einheitliche Sprache oder auch nur ein einheitliches Begriffsverständnis, eine einheitliche 264

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 175. Piris, EuR 2000, 311–350, 325. 266 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 151. 267 Thym, EuR 2015, 671, 698. 268 Ebd., 673. 269 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 167; vgl. insbesondere auch Art. 4 Abs. 2 EUV S. 1: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ 270 Thym, EuR 2015, 671, 681. 265

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Auslegungsmethode oder eine einheitliche Anwendungsweise zu entwickeln271. Nicht nur seine Sprachen sondern auch seine methodischen Grundannahmen und erkenntnis­leitenden Verfahren sind vielmehr weiterhin maßgeblich von den nationalen Rechtstraditionen bestimmt272. Eine spezifisch europäische juridische Rationalität, die allgemeingültige Ein- und Ausschließungen zu bewirken vermögen würde, besteht so nicht, oder genauer: Sie besteht nur aus einer französischen, italienischen englischen, deutschen, schwedischen, spanischen usw. Rationalität, die jeweils auf der europäischen Ebene zusammentreffen, ohne hierbei eine große Synthese, ein übergreifendes Ganzes, eine einheitliche Denktradition – geschweige denn ein integriertes widerspruchsfreies System zu formen273, das eine europaweite Verbindlichkeit einmal getroffener Unterscheidungen zuließe.

271 Brinker, NZKart 2017, 609, 610 Zweifelnd, ob dies in der Praxis auch überhaupt einen Unterschied machen würde Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 157. 272 Thym, EuR 2015, 671, 689 f.; Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 139 ff. 273 Zur historischen Bedeutung der systematischen Widerspruchsfreiheit für die Eigenschaft als Recht vgl. Hruschka, JZ 47 (1992), 429, 434 ff. Zur gegenwärtigen Situation in Europa hierzu vgl. Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 158. Wenigstens zwei gegensätzliche Rechtsanwendungsregime in Europa sieht auch Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 150.

§ 3 Rechtskräfte: Das europäische Recht als Recht der schwachen Bindungen I. Ontologische Abklärung: Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol Wie so gezeigt wurde, sind alle traditionellen Versuche, die Geltung des europäischen Rechts zu begründen, nicht nur in ihrer Substanz, sondern auch logisch zum Scheitern verurteilt. Die Geltung des europäischen Rechts kann nicht nur weder mit Gewalt, Vernunft, einer formalen Rechtsquellenhierarchie oder einem Diskursprogramm begründet werden. Derartige Begründungsversuche führen vielmehr auch in logische Probleme, die durch die in ihm angelegten Doppeldeutigkeiten, Defizite und Ambivalenzen noch eine Verschärfung erfahren und dem Betrachter ein Bild offenbaren, das ihn resigniert zurücklassen muss: Ein begriffliches nicht zu fassendes juridisches Gebilde, halb eigenständig, halb abhängig – eine gallertartige Ansammlung politischer Macht, halb rechtlich, halb nicht-rechtlich – eine an keinem Punkt klar festzumachende Ordnung, halb Gewalt, halb Ohnmacht – das Bild einer gewaltigen, mehrdimensionalen Paradoxie, die sich wie ein Vexierbild jedem in Ansatz gebrachten Erklärungsversuch sofort wieder zu entziehen und keine theoretische Erklärung, keine begriffliche Festlegung zuzulassen scheint. Rien ne va plus? So resignativ die in dieser Untersuchung bisher gewonnen Erkenntnisse zu sein scheinen, so wäre es doch voreilig, die Untersuchung mit ihnen bereits abbrechen zu lassen. Vielmehr zeigen sie, dass der Versuch einer Begründung der Rechtsgeltung im europäischen Kontext in seinem Anspruch selbst noch bescheidener ausfallen muss, als es bereits die dargestellten formal-logischen Erklärungsansätze sind. Der Widerspruch und die Paradoxie sind keine unüberwindbaren, eine aussichtslose Sackgasse markierenden Denkhindernisse, sondern der modernen Gesellschaft selbst fest eingeschrieben; sie sind der Grund, der sie von ihrem innersten Arkanum her antreibt, die Ursachen für die in ihr ständig zu beobachtende Dialektik von Hochzivilisation und Katastrophe, Kultur und Krise1. Ein Erklärungsversuch muss in Anbetracht dieses Umstandes daher auf den Versuch einer ontologischen Erklärung – der Erklärung mit einem eigentlichen, wirklichen, letzten Grund – verzichten, sofern er nicht in Widersprüchen und Paradoxien enden will. Vielmehr muss er die Paradoxien und Widersprüche zum Anfangspunkt seiner 1

Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 12002, 132 spricht davon, dass die Paradoxie an die Stelle des transzendentalen Subjekts zu setzen ist; dazu vgl. im Kontext des Rechtssystems Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 32.

I. Ontologische Abklärung

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Erklärung machen, wie es insbesondere der systemtheoretische Ansatz ­Niklas Luhmanns zu tun pflegt: Für Luhmann ist die Paradoxie das, was in der Naturphilosophie der „erste Satz“, für Kant das transzendentale Subjekt ist: Die einzige noch mögliche Form von unbedingtem, aus sich selbst erkennbarem,  a priori gültigem Wissen2. Luhmanns Theorien wurzeln daher nicht in der Idee, dass eine zu unterstellende Einheit, sondern Differenzen und Paradoxien die Anfangsvollzüge des Denkens sind3. Die Idee der Einheit wird in ihnen einer Transformation zugeführt4 – und es ist in Anbetracht dieses grundlegend verschiedenen Ausgangspunktes nicht verwunderlich, dass sie das Problem der Rechtsgeltung von einem ganz anderen Blickwinkel aus zu betrachten vermag: Rechtsgeltung ist ihnen zur Folge keine Frage nach einem Grund, sondern nach einer Eigenschaft5: der Anschlussfähigkeit  – d. h. der Eignung einer Operation, sich an andere Rechtsoperationen anschließen zu können und sich durch derartige Rekursprozesse selbst als Recht zu validieren. Das Rechtssystem ist nach Luhmann anders als bei Kelsen gerade nicht hierarchisch, pyramidenförmig oder in einem Stufenaufbau formiert und determiniert, „sondern jeweils heterarchisch, also kollateral, also in nachbarschaftlichen Vernetzungen“ zu denken6. In einem als Netzwerk strukturierten Rechtssystem aber tritt an die Stelle einer hierarchischen Deduktion (die gerade ein ebenso verfasstes System erfordern würde)  eine rekursive operative Vernetzung und Dynamisierung, ein Prozess der „Recht-Fertigung“7, die die Rechtsgeltung immer wieder neu erarbeitet8. Das geltende Recht an sich kann nach Luhmann daher auch nicht als hierarchisches Begriffssystem verstanden werden. Es ist nicht durch einheitliche Prinzipien, sondern durch Differenzen gesichert, d. h. dem Anschluss oder Ausschluss von Operationen an das Rechtssystem. Die Rechtsgeltung ist damit kein stabiler Zustand, sondern ein Prozess der laufenden Reproduktion, des laufenden Anschlusses oder Ausschlusses, der das Rechtssystem kontinuierlich verändert.9 Nur über diese laufenden Veränderungen, dem kontinuierlichen Anschluss und Ausschluss

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Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 132; vgl. auch Luhmann, in: Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, 1993, 197 ff.; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 133; Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 30. 3 Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?, 2002, 19, 27.; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 108; ähnlich Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 25 ff. 4 Dazu Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?, 6. 5 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 180. 6 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 144. 7 So in ähnlichem Kontext ein prägnanter Begriff von Wiethölter, in: Joerges / Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht: Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003, 13 ff. 8 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 109 f. 9 Ebd., 280 f.

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in operativen Vollzügen, kann so etwas wie eine „Einheit“ erblickt werden10 – eine Verbindung zwischen dem zuvor und danach geltenden Recht durch die reflexive Selbstbeschreibung des Systems, das die ihm zugrundeliegenden Operationen als seiner zugehörig betrachtet und dem Recht so eine zeitlich übergreifende „Iden­ tität“ verleiht11. Wie aber vollzieht sich dieser kontinuierliche Anschluss und Ausschluss von Operationen im Rechtssystem? Für Luhmann ist das entscheidende Kriterium, ob die Operation ein Bezug zum geltenden Recht herzustellen vermag – genauer: an die von ihm zu treffen beanspruchten Unterscheidungen von rechtmäßig und unrechtmäßig. Rechtsgeltung ist von diesem Standpunkt aus kein fester Bestand, an dem das Rechtsgeschehen entlanggeht, sondern ein im Recht selbst von Operation zu Operation reproduziertes und weitergereichtes zirkulierendes Symbol, das die Stabilität des Rechts in der Dynamik seiner operativen Vollzüge markiert; ein im rekursiven Vollzug der dem Rechtssystem eigenen Operationen selbst hergestellter Wert, der in allen Operationen als Verknüpfungssymbol mitfungiert und sie so an der Einheit des Systems partizipieren lässt12. Der Anschluss oder Ausschluss innerhalb rekursiver Operationen lässt sich für Luhmann – anders als bei Kelsen – also nicht unmittelbar durch Rechtsnormen, sondern nur durch das soziale System selbst, genauer: „im rekursiven Vollzug der systemeigenen Operationen“ herstellen13. Dies bedeutet, dass die Frage nach der Geltung oder Nicht-Geltung – d. h.: der Unterscheidung zwischen dem Anschluss oder dem Ausschluss von normativen Beständen – durch Rechtsnormen alleine nicht geregelt werden können, da dies eine nicht begründbare gesicherte Geltung dieser den Anschluss oder Ausschluss unmittelbar regelnden Normen selbst erfordern würde. Das Problem der Regelung der Anschlussfähigkeit kann daher für Luhmann nur durch Verweis auf eine außerhalb der Rechtsnormen selbst liegende Grundlage gelöst werden. Diese externe Grundlage sieht Luhmann im „faktischen Sprachgebrauch der Juristen“, der zwar aufgrund seiner Einbettung im allgemeinen Sprachgebrauch auch der Gesellschaft zugehört, die kommunikativen Prozesse im Rechtssystem jedoch selbst steuert und anschlussfähige Operationen als geltendes Recht, nicht anschlussfähige Operationen hingegen als Nicht-Recht zu behandeln vermag14. Rechtsnormen wiederum treten in diese Unterscheidungen nur mittelbar ein, nämlich insoweit, wie sie vom besagten Sprachgebrauch der Juristen adoptiert werden. An die Stelle von vertikalen Normhierarchien mit regulierten Rechtserzeugungsverfahren samt ihrem Anspruch, eine Letztbegründung der Normgeltung 10

Ebd., 98. Ebd., 98, 102. 12 Ebd., 101, 103, 106 f. 13 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 108 weißt in etwas allgemeinerem aber hier insgesamt doch passendem Kontext darauf hin, dass Luhmanns Rechtstheorie ein Versuch ist, „auf die Krise des Rechtspositivismus zu reagieren, ohne den Begriff des Rechtssystems zur Bezeichnung der Einheit der Rechtsordnung aufzugeben“. 14 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 102. 11

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zu liefern, wie sie vor allem der Rechtspositivismus postuliert, tritt damit ein zwar streng systeminterner, innerhalb des System aber durchaus „auf Offenheit angelegter Prozess des Suchens und Findens von Mustern, Normen und Gründen“15, eine „Umstellung von Hierarchie auf Zeit“, die es erlaubt, bei der Begründung von Rechtsgeltung auf eine oberste Norm zu verzichten und unabdingbare Letztbegründungs- und Objektivierungszwänge zu umgehen16 – ein Umstand, der die Rechtsgeltung von allen ontologischen Anforderungen entschlackt, indem es das Problem dynamisch versteht und radikal auf die operative Ebene verlagert17. Die Rechtsnorm verliert damit bei Luhmann ihren „Status als ontologisches Objekt“; an ihre Stelle treten bloß flüchtige Rechtsereignisse: „kommunikative Episoden“ in deren Rahmen Normen nur noch als „Anknüpfungspunkte für rechtsrelevantes Handeln und damit als Strukturen für Wiederholungen, für Wiederverwendungen in jeweils anderen Situationen“, nicht aber mehr als stabile Entitäten fungieren18.

II. Die paradoxen Grundlagen des europäischen Rechtsprogramms: Der Mangel an Einheit und seine Auswirkungen Diese Betrachtung der Frage der Rechtsgeltung vom operativen Prozess her bietet ein schlüssiges Konzept, mit dem auch die Geltung des europäischen Rechts erklärt werden kann – freilich nicht ganz ohne Schwächen, die in der normativen Armut von Luhmanns Ansatz selbst begründet liegen: Die entscheidende Frage, warum anschlussfähige Operationen stattfinden, warum gewisse Operationen an das Rechtssystem angeschlossen werden, während anderen Operationen die Anschlussfähigkeit verwehrt bleibt, vermag die Theorie selbst nur formell, durch Verweis auf einen Sprachgebrauch zu beantworten. Eine zufriedenstellende materielle Erklärung, eine Erklärung des hinter diesen Operationen liegenden Grundes, bleibt sie dagegen bewusst schuldig. Dennoch: Luhmanns theoretische Öffnung hin zur Betrachtung der einzelnen Rechtsoperationen bietet einen tauglichen Ansatzpunkt für die Fassung der eingangs beschriebenen operativen Schwächen des europäi 15 So die Beschreibung in dem etwas anders und breiter gelagerten Konzext „postmoderner“ Methodenlehren bei Vesting, Rechtstheorie, Rn. 242a. 16 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 110. 17 Vgl. ebd., 102 f. „Ebensowenig ist Geltung eine Norm, auch keine Grundnorm, auch keine Metanorm. Es handelt sich nicht um eine Erwartung, die nicht für den Enttäuschungsfall entworfen ist und gegen ihn geschützt werden soll. Das, was im Rechtssystem gilt, soll nicht gelten: Es gilt – oder eben nicht. Daher kann das Rechtssystem das, was gilt, ändern, ohne gegen eigene Normen zu verstoßen. Jedenfalls wird die Rechtsänderung nicht durch den Geltungsanspruch des Rechts schon blockiert, sondern allenfalls durch Verfahrensnormen, die regeln, und dadurch einschränken, wie Rechtsgeltung erzeugt, das heißt: Recht geändert werden kann.“ Instruktiv hierzu auch Vesting, Rechtstheorie, Rn. 119: „Während das Feste in der Tradition immer als die obere Seite galt, wird bei Luhmann alles Feste auf das Fließende gegründet bzw. Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik in einen zirkulären Zusammenhang gebracht. Daraus geht die Vorstellung dynamischer Systemstabilität hervor“. 18 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 112.

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schen Rechts, die sich mit ihr als Schwäche im Prozess der Anschlussfähigkeit, als Unfähigkeit zur Bildung stabiler Regeln für den Anschluss und Ausschluss und die Fortschreibung der Rechtsgeltung beschreiben lässt: Das Recht wird nach Luhmann dadurch zum System, dass es die grundlegende Frage von Recht und Unrecht, die niemals letztverbindlich geklärt werden kann, sondern sich in einem unendlichen Oszillieren, in einem Paradoxon verlieren muss, als konditionierbaren Widerspruch missversteht, der sich durch ein technisiertes Programm in eine Differenz verwandeln lässt19. Da die Unterscheidung von Recht und Unrecht nicht bereits selbst die Feststellung oder auch nur die Kriterien dafür enthält, was im Einzelfall Recht oder Unrecht ist, müssen weitere Gesichtspunkte bestehen, die wiederum eine Unterscheidung darüber ermöglichen, ob die Werte Recht oder Unrecht auch richtig zugeordnet wurden – eine „Zusatzsemantik“, die Luhmann „Programm“ nennt20. Dieses Rechtsprogramm jedoch ist anders als der binäre Code Recht / Unrecht alles andere als eindeutig definiert. Bei ihm handelt es sich zwar um eine aus einer klaren Unterscheidung stammende „Suche nach weiteren Gesichtspunkten“, die gerade im Recht vorzugsweise „der Tradition entnommen bzw. als Tradition rekonstruiert werden“ kann, hierauf jedoch keinesfalls festgelegt ist; vielmehr genügen „irgendwelche Gesichtspunkte“, die dazu in der Lage sind, das System und seine Codierung aufrechtzuerhalten21. Das Rechtsprogramm ist mit anderen Worten strukturell niemals klar geregelt, sondern notwendig offen und temporalisiert, es kann „nicht abschließen“, sondern „nur anschließen“22, indem es durch eigene Unterscheidungen, durch das „komplizierte Unterscheiden von Unterscheidungen im System“ die Paradoxie des Systems insgesamt immer weiter entfaltet23. Von diesem Punkt aus ist es möglich, die bereits erwähnten Besonderheiten des europäischen Rechts mir größerer Klarheit zu identifizieren: Das Rechtsprogramm ist im europäischen Recht nicht nur im Hinblick auf das Rechtssystem insgesamt, sondern auch in seinem Kern – d. h. auf Ebene seiner Programmierung – selbst wiederum von einer Paradoxie geprägt, die aus den ihm innewohnenden Ambivalenzen und Widersprüchen herzurühren scheint: Dem Fehlen einer dem Recht zugrundeliegenden Einheit, die den Prozess des Anschlusses oder Ausschlusses durch die Bildung von gemeinsamem Wissen und gefestigten Erwartungen zu durchdringen und dem Rechtsprogramm damit eine klar geregelte Struktur zu geben vermögen würde.

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Dazu Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 33. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 189 f. 21 Ebd., 190. 22 Ebd., 93. 23 Ebd., 190 f. 20

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1. Einheit als Voraussetzung einer geregelten Anschlussfähigkeit? a) Gemeinsames Wissen als Voraussetzung für geregelte Anschlussfähigkeit Wie bereits dargestellt verortet Luhmann die Regeln, nach denen die Operationen im Rechtssystem vollzogen werden, in der Sprache, genauer: im Sprachgebrauch der Juristen, der bestimmt, welche normativen Gehalte, welche Regeln und Texte an das Rechtssystem angeschlossen oder ausgeschlossen werden. Nach welchen Regeln dieser Sprachgebrauch jedoch operiert, vermag Luhmanns Ansatz allerdings nicht zu beantworten, da er diese Frage aus dem Rechtssystem ausklammert und in die „Gesellschaft im allgemeinen“ einbettet24. An diesem Punkt muss jedoch der Versuch einer Beschreibung der Besonderheiten der Anschließungs- und Ausschließungsphänomene im europäischen Recht ansetzten: Ein Sprachgebrauch, eine gefestigte Gepflogenheit, die Einschließungen und Ausschließungen in einem System zu bewirken vermag, kann es nicht ohne ein gemeinsames Wissen von der Verwendung dieser Sprache geben25, aus der wiederum eine gewisse Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit dieser operativen Prozesse erwachsen muss. Dieses gemeinsame Wissen, diese Gepflogenheiten, die jeder Sprach- und Mediengebrauch voraussetzt, ist zwar selbst kein stabil-statisches Wissen, kein hermeneutisches „Vor-Verständnis“, sondern eine performative, in der Kommunikation stets dynamisch mitlaufende Kompetenz26. Dennoch bildet es eine übergreifende Gemeinsamkeit, eine einheitliche Basis, ja eine gemeinsame „Ordnung“, die die Partizipanten miteinander verbindet und ihnen einen einheitlichen Erwartungshorizont einstiftet, der umso präziser und klarer ausfallen wird, desto größer und umfassender der gemeinsame Wissensfundus ist. Dieses gemeinsame Wissen, dieser Bestand gemeinsamer Gepflogenheiten ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch den Strom anhaltender gesellschaftlicher Transformationsprozesse, der stetigen Zunahme an sozialen und funktionalen Differenzierungen in fortschreitende Auflösung geraten27, sodass es selbst im Nationalstaat mittlerweile nur noch schwerlich möglich erscheint, von einer „normalen Lage“ auszugehen, von der aus ein gemeinsames Wissen und eine einheitliche Gepflogenheit im Hinblick auf das Rechtssystem und insbesondere sein Programm gedacht und konstruiert werden könnte28. In der postmodernen Welt, der post-onto­logischen und post-metaphysischen Welt der Netzwerke kann „die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte Struktur“ gedacht werden29. Stattdessen löst sich die Welt „tatsächlich und immer 24

Ebd., 102. Vesting, Rechtstheorie, Rn. 234; vgl. auch Ladeur / Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2008, 23. 26 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 235. 27 Vesting, Staatstheorie, 2018, Rn. 229 ff. 28 In diese Richtung Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 11990, 24 f. 29 Vattimo / Pfeiffer, Jenseits des Christentums, 2004, 11 f. 25

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umfassender in ein Spiel von Interpretationen“ auf30, in der übergreifende gesicherte Erkenntnisse und Wissensbestände nur noch den Charakter von tradierten Überresten, von Überbleibseln und Restbeständen haben, die bereits mit einem Verfallsdatum versehen und für den Schlussverkauf etikettiert zu sein scheinen. b) Der Mangel an gemeinsamen Wissen im europäischen Kontext und seine Folgen für das europäische Rechtsprogramm In der Europäischen Union, dieser jungen und artifiziellen Schöpfung eines elitären politischen Willens, bestehen solche tradierten Restbestände gemeinsamen Wissens jedoch in noch weitaus geringeren Dosen als im Nationalstaat, ja vielmehr noch: Es besteht nicht nur keine einheitliche Sprache als Grundbestand gemeinsamen Wissens, sondern zudem auch noch eine fundamentale Uneinigkeit über ihre Ordnung im Sinne eines fehlenden gemeinsamen Verständnisses über ihre Grundlagen und Rahmenbedingungen, die den Aufbau eines signifikanten gemeinsamen Wissensbestandes und einer Entwicklung von gefestigten Gepflogenheiten permanent die Basis zu entziehen scheint – eine Uneinigkeit über ihre maßgeblichen Akteure (Intergouvernementalismus oder Supranationalismus)31, ihr Ziel (föderaler Bundesstaat oder polyzentrisches Staatennetzwerk)32 sowie die auf diesem Weg zu ergreifenden Handlungsformen (Unionsmethode oder Gemeinschafts­ methode)33, ja selbst über ihr geistiges Zentrum34, die das gesamte europäische Gebilde so widersprüchlich und fragmentiert ausweisen, wie es bisher vor ihm in der europäischen Geschichte allenfalls das Heilige Römische Reich gewesen sein mag: ein „irregulärer und einem Monstrum gleicher Körper“35, dessen entscheidendes Kennzeichen der Zusammenfall von Gegensätzen, die Paradoxie zu sein scheint. Im europäischen Kontext besteht keine Einigkeit, kein gemeinsames Wissen der Partizipanten darüber, in welchem Ordnungsrahmen man sich überhaupt bewegt. Einige Teilnehmer gehen davon aus, dass es sich bei der Europäischen Union um eine supranationale Entität handelt, deren bestimmende Kraft die Kommission ist – andere wiederum sehen in ihr vorrangig eine Verwaltungsplattform für das intergouvernementale Zusammenwirken der Mitgliedsstaaten, bei der die jeweiligen nationalen Regierungen den Ton angeben36. Wieder andere streben aus historischen und politischen Gründen den Ausbau der Europäischen Union zu einem 30 Vattimo, in: Bübner (Hrsg.), Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache: Hommage an Hans-Georg Gadamer, 2002, 60. 31 Übersicht bei Bieling / Lerch, Theorien der europäischen Integration, 14, 15. 32 Instruktiv insoweit Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147 ff. 33 Zu dieser neueren Entwicklung Schorkopf, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 114. 34 Haltern, Europarecht, 39. 35 Evers, Leviathan 22 (1994), 115, 121 ff. in Anlehnung an Pufendorf. 36 Bieling / Lerch, Theorien der europäischen Integration, 14, 15; Tömmel, Das politische System der EU, 54.

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föderalen „Superstaat“ an37 – ein nicht unerheblicher Teil hingegen versteht sie als vorrangig funktional zu rechtfertigenden38, netzwerkartigen Staatenverbund39, der sich niemals zu einem solchen föderalen Gebilde entwickeln soll40. Schließlich gehen einige davon aus, dass der Integrationsprozess im europäischen Kontext durch förmliche Rechtssetzung und Vertragsänderungen erfolgen müsse, deren Initiatorin einzig die Kommission zu sein habe41, während andere dieses gewöhnlich als „Gemeinschaftsmethode“ bezeichnete Vorgehen für überholt halten und zugunsten einer stärkeren Gewichtung zwischenstaatlichen Verhandelns und flexibler Handlungsformen, kurz: zu einem als „Unionsmethode“ bezeichneten Methodenpluralismus öffnen wollen42. c) Das Wissen von der Paradoxie als einziges gemeinsames Wissen in Europa; seine Auswirkungen auf die operativen Vollzüge des europäischen Rechts Diese Widersprüche, diese Paradoxien, auf denen die Gründung des europäischen Rechts wurzelt, sind zwar an sich „keine logischen Fehler, die man ausmerzen muss, wenn man weiterkommen will“43. Im Gegenteil: Paradoxien sind das Movens der Entwicklung der Gesellschafts- und Rechtssemantik und von der Rechtspflege daher zu erhalten und zu behandeln44. Paradoxien, die einer Gründung innewohnen, können aber zugleich auch nicht unaufgelöst bleiben. Sie streben nach Auflösung, nach einer Entparadoxierung, die die Paradoxie selbst immer weiter entfaltet45. Diese Entfaltungen können an der paradoxen Lage selbst jedoch nichts ändern: Der Prozess der Entparadoxierung ist eine Angelegenheit, der bestehende Widersprüche nicht löst, sondern sie vielmehr allenfalls zeitweilig aufschiebt, versteckt, invisibilisiert, unterdrückt oder verdrängt, ja ihr Wiederhervorbrechen nur zu einer Frage der Zeit macht46. Paradoxien können nicht gelöst werden, sondern nur durch veränderte Umstände der Irrelevanz und dem Vergessen anheimfallen. Jeder Versuch der Entfaltung oder gar Entscheidung der Paradoxie bewirkt daher nicht ihr Verschwinden, sondern selbst wiederum nur ein Hin- und Herspringen zwischen ihren Polen47, ein erratisches Oszillieren, das die anschlie 37 Zu den neueren Entwicklung in diese Richtung vgl. Pilz, Der Europäische Stabilitäts­ mechanismus, 4. et passim. 38 Tömmel, Das politische System der EU, 55. 39 Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 369. 40 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147 ff. 41 Dazu in der Rückschau Thym, EuR 2015, 671, 696. 42 Schorkopf, Methodenpluralismus in der europäischen Integration, 114. 43 Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 29. 44 Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 19; Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 30. 45 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 133. 46 Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 31. 47 Ebd., 28.

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ßenden und ausschließenden Operationen innerhalb des europäischen Rechts, ja die Suchbewegung im Rechtsprogramms selbst zu einem ebenso erratischen Unterfangen macht, hinter dem keine Einheit, kein Zusammenhalt, keine Regelmäßigkeit erblickt werden kann außer diejenige der Paradoxie selbst. 2. Rechtskultur als bestimmender Faktor für die Rechtsgeltung Aus der Betrachtung des Problems der Rechtsgeltung von den operativen Prozessen und dem sie bewirkenden Sprachgebrauch offenbart sich aber auch noch eine weiterer wichtiger Aspekt dieser Schwäche des europäischen Rechts: Indem Luhmann die Fortschreibung der Rechtsgeltung, den Anschluss oder Ausschluss von Operationen in einem intersubjektiven Prozess – dem Sprachgebrauch – verortetet, zielt er auf den inneren Aspekt des Rechts, seine Verankerung in den Individuen, ja letztlich auf die psychische Disposition der Rechtsanwender und Rechtsunterworfenen ab48. Zwar unterscheidet Luhmann auf der einen Seite streng zwischen sozialen und psychischen Systemen; seine Theorie erzeugt „eine Spannung zwischen Individuum und sozialem System“, die keine Auflösung „in einer den Menschen ganz und gar einschließenden Rechtsidee oder Rechtsgemeinschaft“ möglich erscheinen lässt: Alle Ereignisse, die nicht kommunikativ sind, gehören für ihn nicht zum Rechtssystem, sondern vielmehr zu dessen Umwelt, so also insbesondere auch „körperliche Wesen“ wie Anwälte, Richter oder Hochschullehrer, die einen für das Rechtssystem unmittelbar relevanten Beruf ausüben. Auf der anderen Seite ist der Mensch für Luhmann aber „über sein Bewusstsein“ – die Systemtheorie spricht in diesem Zusammenhang zumeist von „psychischen Systemen“ – sowie über die Sprache, genauer: „über den Sinn, der in Rechtskommunikation und Rechtstexten, wie etwa Schriftsätzen vor Gericht mitgeteilt wird, … am Rechtssystem beteiligt“.49 Sprache und Mensch als organisches und psychisches System sind für Luhmann also eng miteinander verwoben50, was für das Rechtssystem wiederum eine feste strukturelle Kopplung an psychische Systeme als „Bewusstseinssysteme“ über das Medium Sprache bedeuten muss51. Zwar wird hierdurch das Recht nicht zu einem Bewusstseinsprodukt der Juristen, sondern bleibt „Produkt einer emergenten Realität, der eigendynamischen Rechtskommunikation“, dessen selbstständige soziale Realität darin besteht, dass es kommuniziert wird52. Das „autonome reflektierende Subjekt“ ist damit dem Rechtssystem gleichwohl nicht abhandengekommen, sondern spielt weiterhin eine entscheidende Rolle; es ist „mitnichten dekonstruiert,

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So scharf beobachtend Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 33 f. Vesting, Rechtstheorie, Rn. 115 f. 50 Luhmann, Soziale Systeme, 11984, 286 ff.; Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 108. 51 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 441. 52 Teubner, Recht als autopoietisches System, 60. 49

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wohl aber dezentriert“53 – ja vielmehr noch: Die Behandlung des Bewusstseins als autopoietisches System, das sich von sozialen Systemen wie dem Rechtssystem unterscheidet, „ist im Gegensatz zu allem Gerede von der Zerstörung des Individuum ein radikaler Versuch, die Bewusstseinsakte des Subjektes einschließlich seiner Selbstreflexionsleistungen systemtheoretisch zu reformulieren … und über operative und strukturelle Kopplungen wird das Sozialsystem von dem unruhigen psychischen System ganz gehörig perturbiert“.54 Diese an das Rechtssystem strukturell gekoppelten Perturbatoren sind keine „blutleeren Wesen“, die sich in einem unstrukturierten Vakuum befinden; sie sind vielmehr durch ihre Umstände, Erfahrung, Ausbildung und Wertvorstellung – kurz: durch eine Kultur vorgeprägt, die ihr Handeln im Rechtssystem selbst dann noch prägt, wenn sie sie sich nicht akut in ihr Bewusstsein drängt55. Ein im Rechtsystem wirkendes Subjekt ist nicht denkbar ohne eine ihm zugrundliegende, historisch vermittelte Rechtskultur und ohne ein Verhältnis zu anderen Formen der Subjektivität56. Recht setzt damit immer einen Fundus stabiler kultureller Bestände voraus; es zielt nicht auf die Strukturierung eines ansonsten bestehenden Chaos ab, sondern knüpft an eine bereits bestehende nicht-rechtliche Ordnung, einen „Faktor X“ an, von dem es nicht zu trennen ist und von dem aus es seinen rechten Sinn erst zu entfalten vermag57: Sie bildet einen tragenden Rahmen, in den das Recht eingebettet ist und in dem immer neu darüber verhandelt wird, ob und wie Recht angewandt und bestimmt werden soll58. Die Existenz einer solchen Vorstrukturierung, einer solchen Ordnung erscheint jedoch, jedenfalls soweit sie als gefügte Einheit betrachtet wird, bereits im moder­ nen Nationalstaat immer mehr fraglich. Im Zuge der gemeinhin als „Wertewandel“ beschriebenen Entwicklung besteht vielmehr eine allgemeine Tendenz zur „Temporali­sierung der Normgeltung“, d. h. einer Zunahme des Behandelns und Erlebens von Rechtsnormen als bloßen Zeitprojektionen, die sich jeweils auf konkrete historische Gegebenheiten statt auf festgefügte Ordnungen wie solche der Kultur beziehen, deshalb als kontingent empfunden werden und „kognitiv empfind­lich“ sind59. Dennoch können nur wenig Zweifel daran bestehen, dass diese kulturellen Vorstrukturierungen und Ordnungen, an die das Recht anknüpft, im europäischen Kontext wenn überhaupt dann einzig im Nationalstaat und in den nationalen Rechtsordnungen zu finden sind60, während eine übergreifende europäische 53

Ebd. Ebd., 59. 55 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 159. 56 Ladeur, Die Textualität des Rechts, 12016, 13; Rosen, Law As Culture, 2017, 7. 57 In diese Richtung verstehe ich Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, 451. 58 So in Ansätzen Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 568. 59 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 557; in diese Richtung auch Teubner, ARSP 91 (2005), 587, 592 („dynamische Ordnung der Dauerveränderung“). 60 Hatje / Mankowski, 159. 54

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Rechtskultur nach wie vor fehlt – ja im Gegenteil besteht der Verdacht, dass der europäische Rechtskreis sich gerade aus vielen verschiedenen Rechtskulturen zusammensetzt, deren spannungsvolles Zusammentreten die bestehende Rechtskrise in der Europäischen Union noch verschärft zu haben scheint. In Deutschland etwa genießen das Recht und die Gerichte als Reaktion auf die Erfahrung der weitgehenden Rechtlosigkeit während des NS-Regimes ein relativ hohes Ansehen, während in Frankreich und einigen südeuropäischen Staaten eine Neigung zu einem flexiblen, vom politischen Ergebnis her gedachten Rechtsverständnis besteht, das sich nicht auch zuletzt in der Bewältigung der Eurokrise seinen Niederschlag gefunden hat61. Zugespitzt formuliert: In den nordeuropäischen Ländern gibt es eine allgemeine „Kultur der Regelorientierung“, die jedenfalls einer systematischen Korrumpierung von Rechtsregeln entgegensteht – eine Kultur, die so in den Südländern nicht besteht62. Ein Recht aber, das auf keiner gemeinsamen Rechtskultur aufbaut, sondern sich vielmehr Spannungen zwischen verschiedenen Rechtskulturen ausgesetzt sieht, vermag sich weder hinreichend zu rechtfertigen noch ein stabilisierendes, haltendes Moment zu entwickeln: Wenn Norm und Rechtskultur nicht in eins fallen, sind Bedeutung und Akzeptanz des Rechts und damit wiederum auch die Regeln seines Rechtsprogramms stets gefährdet63 – und selbst die bedeutendsten Staatsgebilde vergehen schnell, wenn sie keine hinreichende Akzeptanz mehr zu evozieren vermögen64. Das „Grundgefühl der Ordnung“, das alles zusammenhält65, geht verloren, das Schmiermittel, das die Operationen des Rechtssystems in reibungsloser Regelmäßigkeit aneinander anschließt, versiegt. Ein solches Recht läuft auf seiner Programmebene „unrund“. Es vermag keine großen normativen Kräfte freizusetzten und ist so nicht in der Lage, anderen, konkurrierende Kräfte viel entgegenzuhalten66. Seine normative Erwartung wird daher durch kognitive Erwartungen abgelöst und entthront67  – ein analytischer Befund, der durch unsere eingangs diagnostizierten Schwächen des europäischen Rechts bestätigt zu werden scheint: In Europa prägt nicht die Kraft des Rechts die Verhältnisse, sondern die Kraft der Verhältnisse das Recht, und selbst die scheinbar grundlegendsten Normen geben schnell nach, wenn vermeintliche politische Notwendigkeiten es erfordern.

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Oppermann, EuZW 2015, 201, 202. Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 139. 63 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 341. 64 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1 f. 65 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 268 Zusatz. 66 Fischer-Lescano, Rechtskraft, 18. 67 Renner, in: Kjaer / Teubner / Febbrajo (Hrsg.), Financial crisis in constitutional perspective: The dark side of functional differentiation, 2011, 93. 62

III. Programmfehler

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III. Programmfehler: Das europäische Recht als „unscharfes Recht“ 1. Dicke Bindungen als Grundlage jedes funktionierenden Rechtsprogramms Diese Analysen und Diagnosen zum europäischen Recht lassen sich auf eine übergreifende Schwäche zurückführen, deren Ursache wiederum in dem grundlegen­den Konstruktionsfehler der Europäischen Union, der Nachahmung von Nationalstaatlichkeit, begründet zu liegen scheint: Das europäische Projekt schneidet das Problem der „Verankerung der Bindungskraft des Rechts in der Innenwelt der Individuen“ ab, wie es auch der Nationalstaat europäischer Prägung in seiner alltäglichen positivistischen Erscheinung zu tun pflegt68, ohne aber zugleich dieselben einheitsstiftenden kulturellen und historischen Voraussetzungen wie derselbe zu erfüllen. Es scheint nicht selten, als ob in Nachahmung dieser nationalstaatlichen Tradition auch im europäischen Kontext in der Praxis ein Rechtsbegriff gehandhabt werde, der – ähnlich wie die Geltungstheorie Kelsens – vor allem formal verstanden wird, d. h. von förmlichen, positivierten Verfahren der Rechtserzeugung her denkt und so eine strenge binäre Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht hervorbringen soll. Ein solcher positivistischer Rechtsbegriff vermag es jedoch nicht, die bis hierher bereits diagnostizierten vielschichtigen Einflüsse und Faktoren, die auf der Programmebene des europäischen Rechts wirken und gerade seine Besonderheit ausmachen, recht zu begreifen. Er kann, wie schon Luhmann bemerkt, „die Veränderung der Art, wie Recht ist, kaum fassen“; sein strenger Zuschnitt auf einen binären Code der Geltung / Nichtgeltung ist ungeeignet, „sublime Verschiebungen in der Art, wie Recht seine Funktion erfüllt und als Sinn erlebt wird, aufzudecken“69. Ein Rechtsbegriff, der derartige Zwischenstadien und Schattierungen zwischen Geltung und Nichtgeltung zu erfassen in der Lage wäre, scheint jedoch gerade in Bezug auf die Europäische Union, in der die integrierenden sozialen Kräfte, die auf eine strenge Rechtsanwendung und -befolgung hinzuwirken in der Lage wären, unsicher erscheinen, notwendig. Jedes Gemeinwesen bedarf gerade dann, wenn es sich als durch das Recht bestimmt betrachtet und infolgedessen mit einem strengen binären Geltungscode arbeitet, eigentlich wesentlich jenes Minimums an integrierender Faktoren, die allgemeine Bereitschaft erzeugen, das Recht auch dann noch einzuhalten, wenn es eigenen Interessen zuwiderläuft. Diese Bereitschaft – man kann sie mit Habermas auch als Solidarität bezeichnen – kann durch das Recht nicht unmittelbar hergestellt werden, sondern speist sich aus politisch-kulturellen Quellen70. Die Frage aber, was die politisch-kulturelle Quelle ist, aus der eine die Rechtstreue auf allen Ebenen gewährleistende solidarische Kraft fließen könnte, 68

Vesting, Rechtstheorie, Rn. 184. Luhmann, Rechtssoziologie, 31987, 341. 70 Habermas, Zur Verfassung Europas, 55 f. 69

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§ 3 Rechtskräfte

vermag die Europäisch Union nur damit zu beantworten, dass Grundlage der Solidarität innerhalb der Europäischen Union die Achtung des Unionsrechts selbst sei71, ja manche gehen sogar so weit, die Solidarität im europäischen Kontext schlicht als justiziable Rechtspflicht zu sehen72 – ein Zirkelschluss, der die tatsächlich bestehende Leerstelle nur zu verdecken sucht. Die politisch-kulturellen Quellen, aus denen sich das für ein Rechtssystem erforderliche Maß an Solidarität zu speisen pflegen, müssen tatsächlich in einer anderen Sphäre gesucht werden: Dem Verhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus. Alle moralischen Werte und so auch die Solidarität und die an sie geknüpfte „Achtung vor dem Recht“ sind in ein enges und kompliziertes kulturelles Gewebe integriert, das stets eine „dicke“ soziale Bindung voraussetzt73. Eine solche „dicke Bindung“ ist jedoch nicht einfach vorhanden und schon gar nicht allgegenwärtig, sondern hochgradig partikular; sie folgt aus der Verbindung von Individuen und Gruppen mit einer spezifischen Kultur, Geschichte und Identität74, einem „sense of belonging“75, der nicht durch universelle Werte und Gemeinsamkeiten ersetzt werden kann. Das Menschsein alleine macht das jeweilige Individuum nicht zum Mitglied eines einzigen, allumfassenden Stammes. Entscheidende Gemeinsamkeit des Menschseins ist vielmehr der Partikularismus, der jedes Individuum an spezifischen „dichten“ Kulturen teilhaben lässt – etwa denen als „Amerikaner, Intellektueller, Ostküstenbewohner, Professor etc.“76 –, die wiederum entsprechend ihrem Maß an Partikularismus unterschiedliche Bindungsstärken, unterschiedliche Schattierungen auf der Skala zwischen „dünn“ und „dick“ aufweisen und hierdurch in praxi den Programmfehler auch auf die Ebene der Codierung „durchschlagen“ lassen77, indem sie verschiedenste Schattierungen auf der Skala zwischen Recht und Nicht-Recht, ja in letzter Konsequenz auch auf einer Skala zwischen rechtmäßig und rechtswidrig bedingen. Eine solche identitätsstiftende Kultur und die aus ihr folgenden sozialen Bindungen bestehen im europäischen Kontext jedoch entweder überhaupt nicht oder allenfalls nur sehr dünn – unzweifelhaft jedenfalls signifikant dünner als im partikularen Nationalstaat78: Die Europäische Union ist keine historisch gewachsenes, 71

Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 273. Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 3. 73 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, 11996, 17. 74 Ebd., 108. 75 Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 608. 76 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, 109 f. 77 Dies ist ein Umstand, der die Eigenschaft des europäischen Recht als autonomes soziales System im strengen systemtheoretischen Sinne zweifelhaft erscheinen lässt, weil diese gerade durch einen binären Code gekennzeichnet sind, der auch nicht durch die Programmierung des Systems selbst eingeebnet, sondern vielmehr nur immer weiter entfaltet wird, vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 93, 95, 165 ff. 78 Selbst wenn die EU durch Verfassungsgebung, die Entwicklung eines europäischen Volksbegriffes sowie den vollständigen Verzicht auf die nationalstaatliche Souveränität zu einem Bundesstaat werden würde, wäre dieser immer noch ein Bundesstaat „neuer Prägung“, da in 72

III. Programmfehler

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partikulares Gebilde, Europa keine organisch entstandene Gemeinschaft, sondern zuvörderst ein artifizielles (Eliten-)Projekt im Geiste eines politischen Univer­ salismus – es ist „ein Wald von Ideen, Symbolen und Mythen; ein Spiegel, der eine Vielzahl von Konzepten und Bedeutungen reflektiert, statt, wie ein Prisma, die Köpfe und Herzen der Menschen um ein einziges Thema herum zu versammeln“79. Die Solidarität ist in seinem Kontext allenfalls schwach ausgeprägt, das Gefühl partikulärer Gemeinschaft begrenzt: Die verschiedenen europäischen Nationen nehmen sich zwar meistens nicht feindselig, sondern ganz überwiegend mit grundlegendem Wohlwollen wahr; zur Erzeugung einer Bereitschaft, die finanzielle Probleme und Lasten anderer Nationen zu übernehmen, genügt das bestehende Maß an Gemeinsamkeit jedoch offenbar schon nicht80. Vielmehr scheint es, als herrsche die Wahrnehmung vom Bürger als Klienten der Europäischen Union, nicht aber als eigenverantwortliches politisches Subjekt vor, die den Gedanken einer grenzüberschreitenden, am Wohl aller orientierten zivilgesellschaftlichen Verständigung dem Verdacht der Illusion aussetzen muss81. Solidarität setzt eine Nähe von Geber und Empfänger, ein gewisses Maß an „kultureller Homogenität“ voraus und knüpft an die gemeinsame partikuläre Identität eines überschaubaren, abgrenzbaren Raumes an82. Eine solche Partikularität, eine solche „dicke“ Bindung entsteht jedoch durch die bloße persistente Beschwörung einer „Rechtsgemeinschaft“83 und durch den Austausch und den Konsum euro­ päischer Güter, durch die eindrucksvoll „große Zahl französischer und italienischer Weine und Käsesorten, die man in deutschen Geschäften“ kaufen kann sowie durch einen wachsenden Reiseverkehr nicht gleichsam automatisch84, sondern, wenn überhaupt, allenfalls nur sehr bedingt: Das europäische Recht mag einen gewissen Erfolg bei der Herstellung eines gemeinsamen Marktes erzielt haben, war bei der Herstellung gemeinsamer Identität allerdings weniger erfolgreich85 – wohlgemerkt obwohl es gerade als Versuch begonnen hat, auch politische Loyalitäten, Erwartungen und Aktivitäten hin zu einem neuen politischen Zentrum zu verschieben:

ihm die Symbole politischer Einheit den Bürgern „fremder“ wären als jene des National­staates, vgl. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 139; ähnlich auch Manent, A world beyond politics?, 2006, 62. 79 Haltern, Europarecht, 40. 80 Vgl. nur etwa deutlich Winter, L. de, Der Spiegel 2010 (17.05.2010): „Unsere supranationalen politischen Eliten denken anders darüber. Ihre gesamte Glaubwürdigkeit ist mit dem Projekt Europa verstrickt, und deshalb behaupten sie, wir müssten die Griechen retten, weil wir sonst selbst rettungslos verloren seien. Aber dem ist nicht so. Die Griechen können von mir aus ruhig bankrottgehen. Wir werden zwar anschließend unsere Banken retten müssen, die den Griechen leichtsinnig Milliarden an Krediten gewährt haben, aber das ist ein geringer Preis im Vergleich zu den Belastungen, die uns unsere EU in den kommenden Jahren aufs Auge drücken wird.“ 81 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 141. 82 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 225 f. 83 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3631. 84 So aber Friedrich, Europa – Eine Nation im Werden?, 1972, 67 f. 85 Haltern, Europarecht, 74.

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§ 3 Rechtskräfte

zu einer neuen politischen Gemeinschaft, die den alten politischen Bezugspunkt, den Nationalstaat, überstülpen und ersetzen sollte86. 2. Folgen der Bindungsschwäche des europäischen Rechts: Mangelnde Unterscheidungskraft und Prinzipienschwäche Die Folgen dieses Scheiterns und der sich in ihm gezeigten Schwäche, den Mangel an „dicken“ Bindungen, sind weitreichend: Die europäische Solidarität bleibt zu einem nicht geringen Teil ein bloßes Kosten-Nutzen-Kalkül, das schnell aufgegeben wird, sobald die Interessen der einzelnen Beteiligten gefährdet sind – ein bemerkenswerter Kontrast zu den europäischen Nationalstaaten, die in Gestalt wohl ausgebauter Sozialstaaten nicht selten eine geradezu exzessive Solidarität kennen87. Eine nicht auf „dicken“ Bindungen beruhende Gemeinschaft kann jedoch höchstes dann eine stabilisierte Erwartung, eine Festigkeit der in ihr angelegten Prinzipien entwickeln, wenn sie über eine hegemoniale Struktur verfügt, die diese notfalls zentral bestimmt und durchsetzt88. Eine solche hegemoniale Struktur ist dem europäischen Projekt jedoch fremd, ja eines seiner Hauptzwecke besteht gerade darin, derartige hegemoniale Strukturen zu verhindern. Das europäische Recht kann vor diesem Hintergrund daher nicht in demselben Sinne als „Recht“ wie nationalstaatliches Recht, nicht als konstituierendes Element einer als „Rechtsgemeinschaft“ zu begreifenden politischen Gemeinschaft verstanden werden. Vielmehr bestehen in ihm im besonderen Maße verschiedenste sublime Schattierungen zwischen Recht und Nicht-Recht, ja ihm kommt insgesamt nur eine „geringere Rechtsqualität als Gesetzen in einem demokratischen Rechtsstaat“ zu89. Der Begriff einer Rechtsgemeinschaft setzt einerseits die Vorstellung von einer Einheit des Rechts, andererseits aber auch die Vorstellung von einer strikten Rechtsbindung voraus90. Ein Recht, das auf schwachen, „dünnen“ Bindungen beruht, vermag diese Anforderungen jedoch nicht zu erfüllen; es kann nicht sicherstellen, dass die in ihm enthaltenen feierlichen Verpflichtungen im Ernstfall auch wirklich eingehalten und weiterhin als geltend betrachtet und behandelt werden91, sondern ist stets der Gefahr der Politisierung, der fehlenden Rechtsbindung in Anbetracht äußerer Sachzwänge ausgesetzt92. Es ist nicht in der Lage, eine geregelte Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht und damit auch nicht zwischen rechtmäßig und rechtswidrig aufrechtzuerhalten. In ihm bestehen nicht nur viele 86

Haas, The uniting of Europe, 2004 (Reprint), 16. Haltern, Europarecht, 129. 88 So auch ähnlich Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 508; Schönberger, Merkur 66 (2012), 1, 1. 89 Joerges, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, 86 ff. 90 Volkmann, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 90. 91 Zu diesem Problem gerade im Falle von Staatsinsolvenzen vgl. Beck, Hanno / Wentzel, Dirk ORDO 62 (2011), 71 ff., 91. 92 So diagnostiziert es im Hinblick auf das Europarecht auch Haltern, Europarecht, 31. 87

III. Programmfehler

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verschiedene Schattierungen und Zwischenstufen auf der Skala zwischen Recht und Nicht-Recht, die meisten Befunde sind in ihm sogar eher auf der Seite des Nicht-Rechts, der Seite des schwachen Rechts anzutreffen, die seine leichte Beeinflussbarkeit durch kognitive Einflüsse und damit auch seine ausgeprägt hervortretende Prinzipienschwäche erklären müssen: Rechtsordnungen können nicht in einem Rahmen des grenzenlosen Universalismus gedacht werden, sondern sind an partikulare politische Ordnungen gebunden. Ein unabhängig von solchen Ordnungen konstruiertes Recht muss daher ein theoretisches, nur unter Schönwetterbedingungen funktionierendes Konstrukt bleiben, dem wesentliche Merkmale der Rechtlichkeit – die kontrafaktische Stabilisierung von Erwartungen aufgrund von normativen Kräften93 – abhanden gehen müssen. Das europäische Recht bildet alleine schon aus diesen Gründen keine hierarchische, gleichmäßig funktionierende Einheit, sondern muss als flexibles Netz verstanden werden, in dem unterschiedliche Knoten mit unterschiedlichen Formen, unterschiedlichem Aussehen und vor allem unterschiedlicher Stabilität und Stärke, ja unterschiedlicher Geltung bestehen, die sich nicht zu einer homogenen Einheit zusammenfügen lassen94 und folglich auch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine eindeutigen streng binären Unterscheidungen ermöglichen. Das europäische Recht ist nicht Folge einer statisch zu denkenden Einheit, sondern Ausdruck eines dynamischen Konzepts, das auf zunehmende Vergemeinschaftung drängt und „nie zum Ruhen im geltenden Recht findet“, sondern vielmehr stets in Bewegung ist, ohne das Ziel der Bewegung oder einzelne Haltepunkte auf dieser Strecke schon zu kennen: Es ist ein „Recht auf Rädern“95, dem ein fester Ankerpunkt, eine gefügte Ordnung fehlt und daher kontinuierlich ein andere Ordnung, ein „anderes Europa“ hervorbringt anstatt auf einer solchen Ordnung aufzubauen96. Kurzum: Das europäische Recht ist in signifikantem Ausmaß nicht von normativen, sondern von kognitiven Erwartungen geprägt – den Erwartungen der Politik und der Ökonomie97, denen gegenüber es seine normative Geschlossenheit, seine eigenständige Struktur nur sehr unvollkommen, vorübergehend und streckenweise zu behaupten vermag98. Es ist in seinen kulturellen Grundlagen in den einzelnen 93 In dieser Hinsicht übereinstimmend im Hinblick auf die Funktion des Rechts Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 559; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31959, 337. 94 Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 370. 95 Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 96 Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 88. 97 „Solange Geld das Hauptmedium politischer Gestaltung bleibt, wird sich die Politik vom Recht in der Krise letzten Endes nicht aufhalten lassen. Das Recht wird entweder geändert oder in einer Weise ausgelegt, dass der politische Wille sich durchsetzt. Anschaulich wird dies an der Wirtschafts- und Währungsunion, die bis in die Gegenwart von einem politischen Primat beherrscht wird.“ Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), 184, 202 f.; Rödder, Europa eins – zwei – drei, 19. 98 Zur generellen Tendenz der Ablösung normative geprägter durch kognitiv geprägte Strukturen siehe Luhmann, Rechtssoziologie, 340; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 80 f.; Renner, Death by Complexity – the Financial Crisis and the Crisis of Law in World Society, 93.

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§ 3 Rechtskräfte

nationalstaatlichen Rechtskulturen verwurzelt, die wiederum durch Sprachbarrieren streng getrennt sind und den Gedanken an eine „Einheit“, eine gelebte „dicke“ Bindung nur als Utopie zulassen99. Dem europäischen Recht fehlt das Element der Einheit und damit auch das Element einer festen Ordnung – die Fähigkeit zur Bildung und Erhaltung eines klar geregelten Rechtsprogramms auf Basis einer gefügten Rechtskultur, von dem aus sich durch klare Unterscheidungen feste Begriffe und Bedeutungen bestimmen, entfalten, klassifizieren und gegenüber kognitiven Einflüssen immunisieren lassen könnten. Zwar bestehen auch im europäischen Recht anschlussfähige Rechtsoperationen, es fehlt ihnen aber an klaren Ordnungskriterien, die eine Klassifikation und Regelung dieser rechtlichen Produktionen zuließe100. Es ist kein von eindeutigen Unterscheidungen und Festlegungen, sondern von beständigen Unschärfen und Prinzipienschwächen geprägtes Recht: Ein „unscharfes Recht“, dessen Erscheinung gerade von einem Mangel an normativer Unterscheidungskraft, ja von kontinuierlichen Fragmentierungen, Formverlusten und semantischen Auflösungen geprägt ist, die seine fundamentale Andersartigkeit markieren und im folgenden Kapitel in ihren Wirkungen und Eigenschaften eingehender untersucht und exemplifiziert werden.

99 100

Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 157 f. Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 5.

§ 4 Geltungskrise: Über die Wirkungen und Eigenschaften des europäischen Rechts in Fällen kognitiver Herausforderungen Unter den mannigfaltigen Ansprüchen, die das europäische Recht an sich selbst zu stellen pflegt, ist derjenige, System zu sein1, der voraussetzungsvollste, schwierigste, anspruchsvollste. Der Begriff des Systems ist gerade im Hinblick auf das Recht doppeldeutig. Er kann sowohl eine inhaltliche Eigenschaft des Rechts – seine Behandlung als inhaltlich zusammenhängendes Ganzes – als auch seine soziologische Stellung in der Gesellschaft – seine operative Schließung gegenüber anderen Systemen2 –, kurzum: eine normative Qualität oder eine soziologische Realität beschreiben3. Es ist vor allem das erstere Verständnis, auf das das europäische Recht in Anlehnung an das nationalstaatliche Recht abzuzielen scheint: auf „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“4, auf ein „nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“5, das eine erschöpfende Gliederung des Stoffes ermöglicht6. Ein System in diesem Sinne erfordert Einheit und Ordnung, die es im Hinblick auf das Recht erst ermöglichen, Begriffe mit „rationalen Mitteln“ nach einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen7  – wiederum Voraussetzung dafür, die „wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen“8, die das Ziel aller Systematisierungsbemühun­gen bilden. Der Anspruch, System zu sein, über eine innere Ordnung und Einheit zu verfügen, sind jedoch nicht nur Imitationen des Nationalstaates auf europäischer Ebene, 1

Vgl. nur etwa EuGH, 05.02.1963 – Rs. 26/62 (Van-Gend-&-Loos) = Slg. 1963, 12, 24 f.; EuGH, 03.02.1976 – Rs. 59/75 (Manghera) = Slg. 1976, 91, 100; EuGH, 31.03.1971 – Rs. 22/70 (AETR) = Slg. 1971, 263, 274; EuGH, 15.06.1978 – Rs. 149/77 (Defrenne) = Slg. 1978, 1365, 1377 f. Siehe hierzu auch die erhellenden Ausführungen bei Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147. 2 So etwa das Verständnis bei Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 40 f.: „Unter ‚System‘ verstehen wir … einen Zusammenhang von faktisch vollzogenen Operationen, die als soziale Operationen Kommunikationen sein müssen, was immer sie dann noch zusätzlich als Rechtskommunikationen auszeichnet. Das aber heißt: die Ausgangsunterscheidung nicht in einer Normen- oder Wertetypologie zu suchen, sondern in der Unterscheidung von System und Umwelt“. 3 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 67 ff., Rn. 108 ff. widmet diesen beiden völlig verschiedenen Systembegriffen unter den Überschriften „System I“ und „System II“ sogar jeweils eigene ­Kapitel. 4 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 11974, B 861 A 833. 5 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2017, Vorrede IV. 6 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 21970 (1923), 221. 7 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 21983, 12 f., 42; Binder, Philosophie des Rechts, 11967, 922; Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, 9. 8 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 18.

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nicht nur bloß formale methodische Postulate und Voraussetzungen für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, sondern vielmehr auch grundlegende rechtsethische Forderungen, die letztlich in der Rechtsidee selbst begründet liegen9: Sie wurzeln in dem allgemeinen Gerechtigkeitspostulat, wonach Gleiches gleich, Ungleiches hingegen ungleich zu behandeln ist, sofern kein sachlicher Grund für eine Abweichung vorliegt. Denn ausgehend von diesem Gerechtigkeitspostulat muss das Rechtssystem und die in ihm getroffenen Wertungen konsequent zu Ende, d. h. folgerichtig gedacht werden, was wiederum erfordert, dass das Recht ein geordnetes, widerspruchsfreies, auf abstrakte und generelle Prinzipien rückführbares Ganzes darstellt10; es ist, so könnte man es auch sagen, ein „Minimum an Metaphysik“, ohne das „eine Erkenntnis des Rechts nicht möglich ist“11. Das Vorliegen einer Ordnung und Einheit sowie die aus ihnen folgenden Eigenschaften der wertungsmäßigen Widerspruchsfreiheit und inneren Folgerichtigkeit erscheinen im Hinblick auf das europäische Recht allerdings zweifelhaft – nicht nur, weil gerade die Eurokrise ausgeprägte Fragmentierungstendenzen im europäischen Recht besonders offenkundig zu Tage gefördert und so grundlegende normative Erwartungen an dieses augenfällig enttäuscht zu haben scheint12. Der Zusammenhang ist vielmehr noch grundlegender: Die Prinzipien der Ordnung und der Einheit sind zwar generell voneinander zu trennen, stehen jedoch zueinander in engen Wechselbeziehungen. Jede Ordnung trägt bereits die Tendenz zur Einheit in sich13, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ohne Ordnung keine Einheit, ohne diese wiederum kein System bestehen kann. Wie wir jedoch bereits festgestellt haben, besteht im europäischen Kontext keine Ordnung, die dem Recht zugrunde gelegt werden könnte, kein klarer Maßstab, der eindeutige Festlegungen und Unterscheidungen zuzulassen vermag. Vielmehr ist der Ordnungsrahmen des europäischen Rechts von Paradoxien und Unschärfen gekennzeichnet – dem beständigen Oszillieren zwischen intergouvernementalen und supranationalen Regierungsformen, „governance through law“ und der Verwendung von „Soft Law“, statischer Konstitutionalisierung und der Dynamik der „ever closer union“14 –, die jede Systembildung auszuschließen scheinen; führen Paradoxien doch nicht in die Ordnung und Einheit, sondern zumindest prima facie im Gegenteil nur in „Widerspruch, Chaos, Inkonsistenz, Lähmung, Schrecken“15. Dennoch: Auch wenn der Gedanke an eine geordnete Einheit in Europa noch weit unrealistischer sein dürfte als im Hinblick auf den Nationalstaat, ja alles 9

Ebd., 16; Coing, JZ 6 (1951), 481, 485. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 16 f. 11 So erstaunlicherweise selbst Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, 66; ähnlich Kelsen, Reine Rechtslehre, 210; dazu auch Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 375. 12 Kadelbach, Von der Krise zur Reform?, 15; Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 505. 13 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 222. 14 S. o. § 3 II. 1. 15 Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 29. 10

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gegen eine einheitliche Ordnung im europäischen Kontext zu sprechen scheint16, ist das Bewusstsein von dieser Differenz wenigstens im alltäglichen Wirken der Juristen nur wenig ausgeprägt. Obwohl das europäische Recht als „irgendwie anders, komplizierter und dynamischer“ wahrgenommen wird, wird es (gerade in Deutschland) doch weitgehend mit demselben Anspruch an methodischer Strenge und Widerspruchsfreiheit betrieben wie nationales Recht17 – wohlgemerkt obwohl ironischerweise die mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen eigentlich selbst im Zuge ihrer Durchdringung durch die europäischen Rechtsordnung zunehmend an Einheitlichkeit verlieren und zu fragmentarischen Ordnungen transformieren18. Die Wirkungen, die aus der Wahrnehmung dieser Eigenschaften resultieren müssen, sind weitreichend: Wenn das europäische Recht kein kohärentes, von klaren und eindeutigen Unterscheidungen geprägtes System, keine Art BGB darstellt19, sondern von derartigen Kohärenz- und Systemvorstellungen vielmehr weit entfernt sein muss, öffnet dies die Tür zu einem gänzlich anderen methodischen Verständnis; zu einem inkrementell, genealogisch und topisch zu verstehenden Falldenken20, dem jeder Anflug von starrer dogmatischer Strenge fremd sein muss. Ein solches Denken, eine solche Herangehensweise – so lautet die hier vertretene These – wohnt dem europäischen Recht bereits faktisch inne, sie wird allerdings durch einen am nationalstaatlichen Recht geschulten idealisierten Zugriff der meisten Europarechtler verdeckt, übertüncht und verschleiert, ohne dass dies jedoch etwas an diesen Eigenschaften zu ändern imstande wäre. Im Folgenden wird daher den Versuch unternommen, diesen pseudo-systematisierenden und pseudo-dogmatisierenden Schleier, der ein Verständnis mehr zu versperren als ihm förderlich zu sein scheint, zu lüften und anhand der exemplarischen Betrachtung der Wirkungen des europäischen Rechts jene subkutanen Eigenschaften ans Tages­licht zu fördern, die seinen Unterschied im Vergleich zum Recht des Nationalstaates markieren: Den Mangel an Ordnung und der aus ihm folgende Formverlust, das Fehlen einer inneren Einheit und die so zu beobachtende Zersplitterung der Rechtsordnung sowie – schließlich – die aus diesen beiden Eigenschaften folgende Auflösung semantisch verankerter Gewissheiten.

16 Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 613; Isensee, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, 137. 17 Haltern, Europarecht, 4. 18 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 16. 19 In diese Richtung auch Haltern, Europarecht, 6. 20 Ebd., 32.

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I. Ordnung und Form: Der Einfluss des europäischen Ordnungsmodells auf das europäische Recht 1. Über die Rolle der Ordnung als Grundlage des Rechts Recht steht, so haben wir bereits bemerkt, nicht in einem kontextlosen Vakuum, nicht in einer fiktiven abstrakten Welt des reinen Sollens, sondern ist vielmehr stets sozial eingebettet und gebunden. Gesetze können sich nicht selbst definieren, subsumieren und vollstrecken, sondern bedürfen – so könnte man diese soziale Einbettung mit einer bekannten Theorie fassen – einer festgefügten Ordnung, eines Ordnungssystems aus Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen und vor allem sozialen Bindungen, die diese Anwendung leisten21 und hierbei den der Norm innewohnenden Sinn erst produzieren22. Die Jurisprudenz ist nicht freischwebend, sondern steht in engem Zusammenhang mit einer ihr vorausgehenden und zugrundeliegenden Ordnung, in dessen Rahmen sie sich vollzieht23. Das Recht ist keine Einbahnstraße, kein in nur eine Richtung verlaufender Vektor, der gleichsam aus dem Nichts kommt und von diesem Punkt aus seine Umwelt strukturiert24. Vielmehr prägt die Umwelt des Rechts die juristische Sphäre und gibt ihr erst eine Struktur vor, die ihr wie eine zweite Natur anhaftet – etwa im Bereich der Wirtschaft die Rationalität der Optimierung der Bedürfnisbefriedigung, die das Wirtschaftsrecht selbst als grundlegendes Ordnungsmuster durchzieht25. Sachlogische Strukturen prägen das Recht26, nicht das Recht die sachlogische Struktur – und es ist diese Strukturierung der Wirklichkeit, dieser Ordnungsrahmen, dieser Fundus an „Normal-Situationen“ und „Normal-Typen“, der den Rechts-Sinn erst konstituiert27: Die Rechtsnormen schaffen nicht die Ordnung, sondern wirken nur auf dem Boden und ihm Rahmen einer gegebenen Ordnung, innerhalb derer ihnen nur ein kleines von der Sachlage unabhängiges Maß an Selbstständigkeit zukommt28. Bei diesen Erkenntnissen handelt es sich um selbstverständliche, elementare Gewissheiten, die jedem Juristen evident erscheinen müssen und eigentlich keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Dennoch scheint es, als klammere der seit 21

Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 14. Es entspricht heute der ganz überwiegenden Auffassung, dass die Rechtsinterpretation nicht aufgrund logisch zwingender Deduktionen erfolgt, sondern vielmehr selbst produktiv ist und den Sinn einer Norm erst erzeugt, vgl. Vesting, Rechtstheorie, Rn. 195. 23 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 34. 24 Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 40; Vesting, Staatstheorie, Rn. 330; Haltern, AöR 128 (2003), 511, 526 ff. 25 Ellscheid, in: Kaufmann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2011, 197. 26 Welzel, in: Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät zu Göttingen (Hrsg.), Festschrift für Hans Niedermeyer zum 70. Geburtstag, 1953, 290 ff. 27 Ballweg, Zu einer Lehre von der Natur der Sache, 21963, 67. 28 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 11. 22

I. Ordnung und Form

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dem 19. Jahrhundert wenigstens in der alltäglichen Rechtspraxis implizit vorherrschende Gesetzespositivismus mit seinen formalen Auslegungs- und Anwendungsmodi diese elementaren, der juristischen Sphäre sowohl vorausgehenden als auch anhaftenden Umstände fast vollständig aus der Betrachtung aus. Sie werden als „metajuristische“ Gesichtspunkte betrachtet, die als „subjektive Faktoren“ in der dogmatischen Rechtsanwendung nicht maßgebend sein dürfen29, ohne recht zu begreifen, wie voraussetzungsvoll diese Beschränkung auf den bloßen Inhalt einer Norm, die „reine Rechtstechnik“ in Wirklichkeit ist. Das historische Beispiel der beiden Staaten, in denen der Positivismus sich im 19. Jahrhundert am deutlichsten durchzusetzen vermochte und in der dogmatisches Denken noch immer eine gewisse Konjunktur zu haben pflegt – Deutschland und Frankreich – demonstrieren, dass diese Beschränkung auf einen rein formalen Funktionsmodus nur unter den Bedingungen umfassender Kodifikationen, eines Berufsbeamtentums, einer professionalisierten Richterschaft, vor allem aber einer stabilen politischen Ordnung innerhalb eines Nationalstaates dauerhaft etablieren konnte30: Nicht weil die Rechtsnormen stabil konstruiert sind, sondern weil die ihnen zugrundeliegende Ordnung fest und sicher ist, weil das Bedürfnis nach ontologischem und metaphysischem Sinn im Nationalstaat bereits befriedigt ist31, ohne dass es für die Erhaltung dieses konsolidierten Zustandes weiterer Rücksichtnahmen bedarf, vermag der Jurist, „positiv“ zu denken32. 2. Der Zusammenhang zwischen Ordnung und Form im Recht Das augenfälligste Zeichen, an dem der Zusammenhang zwischen Ordnung und Recht, der eigentliche Sinne des Begriffs „Rechts-Ordnung“ deutlich wird und an dem sich die Festigkeit der dem Recht zugrunde liegenden Ordnung beweist, ist die Form, die das Recht entweder einzuhalten vermag oder zu durchbrechen geneigt ist. Ein Recht, das auf einer festen Ordnung basiert, ist zugleich auf diese Ordnung festgelegt. Es kann seinen Ordnungsrahmen nicht durchbrechen, keinen neuen Ordnungsrahmen schaffen, sondern bleibt vielmehr an diese einmal getroffene Festlegung gebunden. Es basiert auf einer „normalen Lage“, auf einer „normalen Situation“33, die sowohl sein Entstehen als auch seine Anwendung innerhalb eines Kontexts von Institutionen und Verfahren bestimmen und ihm eine Eigenschaft verleihen, die seine Behandlung als System erst ermöglichen: Eine feste Form, die es zulässt, sowohl die Gründe seines Entstehens als auch die Art und Weise seiner Anwendung vorherzusehen und als geregelten Normalzustand, nicht 29

Dazu ebd., 26 f. Ebd., 25. 31 Weiler, Der Staat „über alles“, http://www.jeanmonnetprogram.org/archive/papers/95/​ 9507ind.html, 20.07.2018. 32 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 28. 33 Ebd., 19; Schmitt, Politische Theologie, 19; in diesem Kontext siehe auch die Ausführungen bei Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 24 f. 30

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aber als Chaos zu betrachten – konkret etwa durch die Einhaltung einer förmlichverfahrens­mäßigen Normgebung, einer bürokratisch-geregelten Rechtsanwendung sowie einer regelbasiert-institutionalisierten Rechtsdurchsetzung, die es jeweils verhindern, dass derartige Maßnahmen stattdessen einfach auf dem „kurzen Dienstweg“, durch informelle oder semi-formelle faktische Handlungen des jeweiligen Machthabers getroffen werden. Im Nationalstaat wird diese „Form“ des Rechts vordergründig klassischerweise durch die politische Ordnung, wie sie durch die verfassungsgebende Gewalt festgelegt wurde und wie sie sich in der Folge auf Grundlage dieser Festlegung weiterentwickelt hat34, hintergründig vor allem aber auch durch eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur bestimmt35: Sie wird bestimmt durch ein Gefüge von rechtlich strukturierten und geregelten Institutionen, vor allem aber durch eine allgemeine Idee davon, wie diese Institutionen auftreten, handeln, und zusammenwirken sollen und dürfen36; durch eine politische, rechtliche und kulturelle Festlegung, die die Möglichkeit von Ambivalenzen und Widersprüchen minimiert oder wenigstens kategorisierbar macht und so eindeutige, „scharfe“ Unterscheidungen innerhalb des Systems erst zulässt – in der Bundesrepublik etwa das grundlegende Verständnis, dass die Länder durch die Bundesverfassung umfassend gebunden sind und sich nicht einfach durch einseitige Aufkündigungen oder die Eingehung neuer Bünde den Beschränkungen derselben teilweise wieder entledigen können, dass die förmliche Gesetzgebung eine höhere Legitimität als die Exekutive genießt und daher nicht durch Maßnahmen der Verwaltung ausgehebelt oder konterkariert werden darf usw. Erst als Folge dieser auf Grundlage einer gefügten Ordnung gehegten Erwartungen, dieser gelebten Wirklichkeit37, ja dieser „Verfassung hinter der Verfassung“38 ist es möglich, im Recht eine feste und konsistente „Form“ zu erblicken und diese mit so klaren Erwartungen zu versehen, dass sie auch allen Versuchen einer Missachtung oder Umgehung ihrer selbst überzeugend zu trotzen in der Lage ist. Wie wir gesehen haben bestehen ein solches geordnetes Gefüge und derartige klare Erwartungen im europäischen Kontext jedoch nicht in demselben Maße wie im Nationalstaat39: Die Europäische Union ist zwar zunehmend in einer Entwicklung begriffen, die darin münden soll, ihre politische Strukturen zu festigen und zu stabilisieren, ja sie gar an gewisse Erscheinungsformen von Staatlichkeit anzugleichen40. Im Unterschied zum Nationalstaat zeichnet sie sich aber vor allem 34

Schmitt, Verfassungslehre, 20. Bleckmann, JZ 52 (1997), 265, 266 ff. 36 Man könnte dies als die „Grundannahmen“ und das „Vorverständnis“ bezeichnen, die jeder verfassten Ordnung vorausgeht, vgl. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, 1 ff. 37 Dazu ebd., 7 ff. 38 Jestaedt, Matthias B., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009. 39 Dazu siehe ausführlich o. § 3 II. und III. 40 Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 2. 35

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dadurch aus, dass keine klare Vorstellungen über ihre Ordnung und über die normale Situation ihres institutionellen und verfahrensmäßigen Kontextes herrscht, was nicht selten durch Beschreibungen wie, sie sei ein Gebilde „sui generis“ zu maskieren versucht, in Wirklichkeit aber gerade offen zu Tage gelegt wird41: Es besteht keine Einigkeit über ihre Ordnung und infolgedessen auch kein gefestigtes Verständnis, keine gefestigte Erwartung von „Normalität“ im Kontext ihrer Institutionen und Verfahren. Ihr Recht wird folglich nicht von einer einheitlichen Form, sondern vielmehr von „Inkonsistenzen“ und „Schrullen“42, nicht von im Rechtssystem selbst aufgrund normativer Erwartungen getroffenen eindeutigen Unterscheidungen, sondern von kognitiven Einflüssen geprägt43, die ständige Formverluste, Formwechsel und Formmutationen zur Folge haben – eine schleichende aber mit der zunehmenden Vertiefung der Integration doch unaufhaltsam scheinende Großtendenz von förmlichen, „harten“ Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsverfahren hin zu informellen, „weichen“ Steuerungsformen44, die grob mit dem Begriff der „Transnationalisierung“ zusammengefasst werden kann45. 3. Formverluste in der Europäischen Union: Die Tendenz zu „weichen“ Steuerungsinstrumenten a) Soft Law makes bad cases: Über den zunehmenden Gebrauch von Nicht-Recht und Quasi-Recht zur Strukturierung Europas Das augenfälligste Beispiel für den zunehmenden Verlust der Form im europäischen Recht ist der Gebrauch von Soft Law46, der die Steuerung und Regierung des europäischen Gebildes „im Interesse der Sicherung der Flexibilität ihrer Entscheidungsverfahren“ immer mehr zu bestimmen scheint47. Angefangen bei den in den Verträgen selbst vorgesehenen Instrumenten der Empfehlung und Stellungnahme48 zeichnet sich die Handlungsweise der Europäischen Union durch ein 41 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 10 attestiert der „sui-generis“-Formel insofern völlig zutreffend, dass sie nur eine „klassifikatorische Impotenz“ zu maskieren versucht. 42 So in Bezug auf das Europarecht insgesamt Haltern, Europarecht, 7. 43 Etwa in Gestalt des zunehmenden Verlustes der politischen Gestaltungskraft gegenüber der Wirtschaft und den Finanzmärkten sowie das Absinken der öffentlichen Verwaltung zum bloßen „Betrieb“, vgl. zu dieser Tendenz schon Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 825 ff.; Schmitt, Politische Theologie, 82 f.; zur heutigen Situation Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 4. 44 Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, 72016, § 10 Rn. 141 ff. 45 Dazu Calliess, G.-P. / Maurer, in: Calliess (Hrsg.), Transnationales Recht: Stand und Perspektiven, 2014, 7. 46 Der historische Ursprung dieses Konzepts wurde wohl zuerst von McNair, The law of treaties, 1961, 6 erfasst, der den Begriff des „Soft Law“ allerdings noch nicht verwendet. 47 Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 16 f. 48 Art. 288 Abs. 5 AEUV, dazu Ortega, Arbeitsdokument zu institutionellen und rechtlichen Auswirkungen der Anwendung der Instrumente des „Soft law“, 22.02.2007, 2.

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immer größer zu werden scheinendes Arsenal an „informellen“ Regierungs­formen aus: „Memoranda of Understanding“, die die zu erfüllenden wirtschaftlichen Reformen von krisengeschüttelten Schuldnerstaaten festlegen und theoretisch rechtlich unverbindlich sind, im Falle ihrer Missachtung aber die Einstellung der Gewährung von Hilfskrediten und damit den sicheren Staatsbankrott zur Folge haben49, Weiß- und Grünbücher, Gemeinsame Erklärungen, Verhaltenskodices, Leitlinien, Schlussfolgerungen und Entschließungen des Rates – um nur einige dieser „weichen Steuerungsformen“ zu nennen50, deren vielschichtiges, begrifflich nur schwer fassbares Wesen sich von der medienwirksamen Alibi- und PR-Aktivität51 über Briefe mit bloßen „Empfehlungen“ zur Deregulierung und Privatisierung einer Volkswirtschaft einschließlich der Flexibilisierung ihres Arbeitsmarktes52, halboffi­ziellen, die weitere Politik und Verwaltungspraxis bestimmenden Absprachen53, Presseerklärungen zur Verkündung eines „verbindlichen“ Willens zum zur Not unbeschränkten Ankauf von Staatsanleihen54 bis hin zu quasi-rechtlichen55, ja sogar gesetzesersetzenden oder gar -vertretenden Texten reicht, deren förmlicher Verabschiedung eine fehlende Rechtssetzungskompetenz oder gar eine fehlende Mehrheit entgegenstand56. Alle diese Instrumentarien haben eine Gemeinsamkeit: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Rechtsbindungen aufweisen, ja teilweise sogar noch nicht einmal klar binär codiert sind, zugleich aber aufgrund der von ihnen ausgelösten (nicht selten diffusen) Erwarten entweder tatsächlich Rechtswirkungen auslösen oder ein Verhalten zu bewirken vermögen, das einer Rechtsbindung mehr oder weniger gleich- oder nahekommt und deshalb gemeinhin unter dem Begriff des „Soft Law“ zusammengefasst wird57. Soft Law ist also nicht notwendigerweise ein Gegenbegriff zu „Hard Law“, kein „Nicht-Recht“, sondern zumindest eine ambiva-

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Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 97 ff.; vgl dazu auch Bark / André Gilles EuZW 24 (2013), 367, 370. 50 Übersicht Ortega, Arbeitsdokument zu institutionellen und rechtlichen Auswirkungen der Anwendung der Instrumente des „Soft law“, 2; vgl. auch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 141 ff. 51 Dazu Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Schlussbericht Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten vom 12.06.2002, BT-Drs. 14/9200, 444. 52 Trichet / Draghi, Letter of the European Central Bank to Silvio Berlusconi, 5 August 2011, http://www.voltairenet.org/article171574, 19.02.2018. 53 Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, 12008, 268. 54 Press Release on Technical features of Outright Monetary Transactions, 06.09.2012; vgl. Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 42. 55 Die eigentlich nur als Empfehlungen ausgestalteten, intergouvernemental vorbereiteten aber supranational gefassten Beschlüsse nach Art. 119–121 und 126 AEUV z. B. habe nicht nur rein politische, sondern in beschränktem Umfang auch rechtliche Qualität, vgl. Cromme, DÖV 65 (2012), 209, 211. 56 Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 17; Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 24 f.; Schäfer, Eur Law J 12 (2006), 194, 204 ff. 57 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 22.

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lente, halb-verbindliche Rechtsform58, ein unscharfes Regelungsinstrumentarium „in the Twilight between Law and Politics“59, das jedoch zugleich auch wesentliche Eigenschaften des Rechtsbegriffs – der verbindliche Erlass aufgrund anerkannter Verfahren und die Durchsetzbarkeit mittels Hoheitsgewalt – nicht zu erfüllen vermag60. Durch die Verwendung des Adjektivs „soft“ wird zwar nicht notwendigerweise die Geltung und Bindungskraft der Regelung vollständig negiert, wohl aber auf ein Maß reduziert, das die Anwendung von Zwangsgewalt oder förmlichen Sanktionen ausschließt61 oder gar die Unterscheidung zwischen Recht und NichtRecht, rechtmäßig und rechtswidrig selbst verwischt62. Die verminderte Geltung und Bindungskraft des Soft Law wird traditionell vor allem dort eingesetzt, wo keine Ordnung besteht, die den Erlass verbindlicher und zur Not auch erzwingbarer Regeln zulassen würde, dennoch aber eine Steuerung und Koordinierung gewünscht ist63. Denn weil es nur über eine verminderte Geltung und Bindungskraft verfügt, bedarf die Setzung von Soft Law weder einer formellen Rechtssetzungsbefugnis noch eines verbindlichen und anerkannten Verfahrens64. Es umgeht vielmehr förmliche Rechtssetzungskompetenzen und -verfahren, was meist sowohl einer schnelleren Verwirklichung als auch einer vereinfachten Kompromissfindung förderlich ist65. Diese Umstände sind die Ursache dafür, dass das Soft Law seinen Ursprung vor allem im Völkerrecht hat und dort nach wie vor eine große Rolle spielt66. Denn weil im Völkerrecht ohnehin keine gleichmäßige Sanktionsmöglichkeit als Reaktion auf Rechtsverletzungen besteht, weil sein Übergang zur Welt der reinen Politik fließend ist, ist der Unterschied zwischen harten, verbindlichen Regelungen und Soft Law in der praktischen Kon-

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Thürer, ZSR 104 (1985), 429, 442; Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 31; Guzman / Meyer, T., Journal of Legal Analysis 2 (2010), 171–225, 180. 59 Soft Law, Thürer, Daniel, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/ law-9780199231690-e1469?rskey=FGZTVP&result=1&prd=EPIL, 02.08.2018. 60 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 21 f. Zur ebenfalls bestehenden gegenteilitgen Tendenz von Rechtstexten, die zwar förmlich erlassen sind, jedoch kein verbindliches Recht enthalten vgl. Feldman, STALAW 37 (2016), 212, passim. 61 Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 3. 62 Vgl. nur etwa die in Art. 288 AEUV vorgesehene Stellungnahme, bei der es sich eigentlich nur um eine unverbindliche sachverständige Meinungsäußerung handelt, die als solche nicht binär codiert sein muss, zugleich aber auch indirekt rechtlich bedeutungsvoll sein kann und daher unter das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung fällt, Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 2016, AEUV Art. 288 Rn. 95 ff.; Geismann, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2015, AEUV Art. 288 Rn. 63 ff. 63 Guzman / Meyer, T., Journal of Legal Analysis 2 (2010), 171–225, 188–192. 64 Ortega, Arbeitsdokument zu institutionellen und rechtlichen Auswirkungen der Anwendung der Instrumente des „Soft law“, 2. 65 Guzman / Meyer, T., Journal of Legal Analysis 2 (2010), 171–225, 185; Schäfer, Eur Law J 12 (2006), 194, 204. 66 Übersicht bei Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, 11991, passim.

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sequenz gering67 und vermag jedenfalls häufig keinen hinreichenden Anreiz dafür zu bieten, die Mühen formeller Ratifizierungsverfahren auf sich zu nehmen68. Im europäischen Kontext dagegen ist die weite und in der Bedeutung zunehmende Verwendung von Soft Law jedoch ein seltsamer, verstörender Zustand: Die Europäische Union will als Rechtsgemeinschaft ihr Ziel der europäischen Integration eigentlich gerade nicht auf informellem, „formlosem“ Wege, sondern gemäß ihres Konzepts des „integration through law“ und „governing through law“ durch formelle Rechtssetzung erreichen69. Soft Law ist daher kein Eigenbegriff der Rechtssprache der Europäischen Union oder ihrer Mitgliedsstaaten; vielmehr versteht sie sich gerade als kodifikatorisch gegründete Gemeinschaft mit einer eigenen Rechtsordnung, einer klaren und ihr eigenen Form, die sie einzuhalten gewillt und verpflichtet ist70. Soft Law ist dem kontinentaleuropäischen Systemdenken, an das sich das europäische Rechtsdenken anlehnt, fremd und liegt der anglo-amerikanischen Diskussion näher, die weniger an Systembildungen und begrifflichen Präzisierungen als an vorrangigen „policy“-Gründen orientiert ist71. Soft Law befindet sich im europäischen Kontext daher in einer „Grauzone zwischen Recht und Politik“72 und es ist bezeichnend, dass die bloße Nennung dieses Assoziationen an das Völkerrecht evozierenden Begriffes in ihrem Kontext bisher überwiegend bewusst vermieden73, in der Sache aber die Verwendung von Soft Law kritisch und mit Sorge betrachtet wird74. Umso aufschlussreicher ist es dennoch, dass Soft Law in Europa mittlerweile gerade nicht nur in Fällen verwendet wird, in denen die Union über keine formellen Kompetenzen verfügt, sondern vielmehr auch auf Gebieten Anwendung findet, in denen ihre Kompetenz unstreitig ist75: Soft Law wird zunehmend als Erweiterung und Flexibilisierung der europäischen Regierung, als ambivalentes Mittel zur Vermeidung einer Ausdifferenzierung und Fragmentierung des Integrationsprozesses einerseits und zur Förderung einer „variablen Geometrie“ andererseits gesehen, 67

Boyle / Chinkin, The making of international law, 2007, 215, 220. Guzman / Meyer, T., Journal of Legal Analysis 2 (2010), 171–225, 192 f. 69 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 98; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 243. 70 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 20; Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 90. 71 Heusel, „Weiches“ Völkerrecht, 275 ff., 290 ff. 72 Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 17. 73 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 18. 74 Hauptkritikpunkt ist – neben der Umgehung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung –, dass der Einsatz von Soft Law im Hinblick auf das Demokratiegebot und das Rechtsstaatsprinzip bedenklich sei, da diese eine Verantwortbarkeit sowie eine Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit von Normen erfordern, die bei Soft Law aufgrund seines ambivalenten Charakters nicht gegeben ist: Es ist gerade nur unverbindlich, hat trotzdem aber quasi-verbindliche Wirkungen, vgl. ebd., 31 Vgl. auch die ursprünglich insgesamt kritische Bewertung von Soft Law durch die EU-Kommission selbst in Bericht der Kommission über europäisches Regieren, 2003, 29. 75 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 23 f. 68

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das Integrationsfortschritte selbst in denen Fällen ermöglicht, in denen der Integra­ tionswille der Mitgliedsstaaten nicht oder wenigstens nicht einheitlich gegeben ist76. Es wird für geeignet erachtet, um den erforderlichen Wandel der Union zu erreichen und ihren Verfall durch ein „beweglicheres“ Denken, ein Abrücken vom Gedanken der Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten auf einen gleichen Rechtsstand (acquis communautaire) zu verhindern77 – in der vagen Hoffnung, möglicherweise in Zukunft doch noch irgendwann eine Überführung der Regelungen in hartes, „förmliches“ und einheitliches Recht erreichen zu können78. Tatsächlich aber sind diese Flexibilisierungen, das Abrücken von festen Kompetenzen und Verfahren sowie der mit ihnen einhergehende Verzicht auf förmliche Vollstreckungsmechanismen, kurzum: die Anwendung von Soft Law in der Union zu einem dauerhaften Zustand geworden, der nur eines mit Gewissheit offenbart: Das Fehlen einer klaren und verbindlichen Vorstellung davon, wie die Ordnung der Union im Einzelnen gestaltet sein und welchen Ansprüchen sie genügen soll. b) Verstetigter Anwendungsfall von Soft Law: Die Offene Methode der Koordinierung Einen dauerhaften, in seiner Bedeutung und Wirkung geradezu konstitutionellen Anwendungsfall hat die Verwendung von Soft Law im europäischen Kontext in der sog. Offenen Methode der Koordinierung erfahren79. Bei dieser handelt es sich nicht um ein grundlegend neues Verfahren europäischer Regierung, sondern um eine Fortentwicklung und Systematisierung der politischen Koordinierung in der Union80, innerhalb derer sich die einzelnen Teilnehmer auf gemeinsame Richtlinien, Ziele und „Benchmarks“ verständigen, für deren Erreichung sie sich zwar selbst weiterhin alle Mittel und Kompetenzen rechtlich vorbehalten, zugleich aber im Rahmen einer „prozessgesteuerten Konvergenz“ auch gegenseitig überwachen, bewerten, überprüfen, vergleichen und austauschen81. Im Vordergrund steht somit nicht die Vergemeinschaftung von Politikfeldern durch Übertragung von Kompetenzen, sondern die Angleichung und Konvergenz nationaler Politiken mittels eines gemeinsamen Lern- und Überzeugungsprozesses82, dem jede rechtliche Verbindlichkeit bewusst fehlt83. 76

Schäfer, Eur Law J 12 (2006), 194, 208. Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 741. 78 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 20. 79 Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 12. 80 Linsenmann / Meyer, C., Integration 25 (2002), 285, 286 f. 81 Lang, EuR 40 (2005), 381, 381 f. 82 Linsenmann / Meyer, C., Integration 25 (2002), 285, 286. 83 „Die Umsetzung dieser Strategie wird mittels der Verbesserung der bestehenden Prozesse erreicht, wobei eine neue offene Methode der Koordinierung auf allen Ebenen, gekoppelt an eine stärkere Leitungs- und Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates, eingeführt wird, die eine kohärentere strategische Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll. Der Europäische Rat wird auf einer im Frühjahr eines jeden Jahres anzu 77

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Die Offene Methode der Koordinierung kommt daher zuallererst in jenen Fällen zum Tragen, in denen der EU verbindliche Rechtssetzungskompetenzen fehlen84. Sie wurde zu Beginn der 1990er Jahre vor allem dazu entwickelt, die nationalen Arbeits- und Sozialpolitiken, die die europäische Integration stets eher stiefmütter­ lich zu behandeln pflegt und die weiterhin in die Kompetenzbereiche der Mitgliedsstaaten fallen, zu vereinheitlichen85. Heute wird die Offene Methode der Koordinierung in dieser Tradition zunehmend in dem Bestreben verwendet, die seit Maastricht bestehende Divergenz zwischen der errichteten Währungsunion und der fehlenden korrespondierenden Wirtschaftsunion zu überbrücken und mehr für Beschäftigung, sozio-ökonomische Inklusion und Kohäsion – kurzum: mehr für Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene zu tun und so auf einem Politikfeld, dessen Vergemeinschaftung politisch nicht zu realisieren ist, wenigstens eine „weiche Form der Steuerung“ bereitzustellen86. Neben der Steuerung in Feldern, in denen keine förmliche Rechtssetzungskompetenz besteht, wird die Offene Methode der Koordinierung mittlerweile darüber hinaus aber auch angewandt, um einerseits eine höhere „Beweglichkeit“ in die „starre mitgliedschaftliche Struktur“ der Union zu bringen87, andererseits eine mögliche „Anstoßwirkung“ zur Erweiterung der förmlichen Kompetenzen der Union auszulösen88. Diese mithilfe der Offenen Methode der Koordinierung verfolgten Aufweichungs- und Flexibilisierungstendenzen haben sich vor allem in der Bewältigung der Eurokrise gezeigt. Zwar hat die Union auch versucht, ihre Krisen und Defizite legislativ zu bewältigen und entsprechend eine so große Flut an Normen erlassen, dass ihr nicht selten noch nicht einmal die nötigen administrativen Mechanismen zur Verfügung standen, um ihre Einhaltung auch wirklich zu kontrollieren und durchzusetzen89. Dominant war aber vor allem ein stark informelles, vom losen Zusammenwirken der Staats- und Regierungschefs geprägtes Handlungsmuster, das nationale Zuständigkeiten zwar unangetastet ließ, auf europäischer Ebene aber immer mehr koordiniert und miteinander verzahnt hat90: Eine allgemeine Tendenz weg von formalisiertem und rechtlich institutionalisier-

beraumenden Tagung die entsprechenden Mandate festlegen und Sorge dafür tragen, das entsprechende Folgemaßnahmen ergriffen werden.“ Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 23. und 24. März 2000, I.7. 84 Schäfer, Eur Law J 12 (2006), 194, 204 ff. 85 Schorkopf, Methodenpluralismus in der europäischen Integration, 99. 86 Linsenmann / Meyer, C., Integration 25 (2002), 285, 287; Schäfer, Eur Law J 12 (2006), 194, 206; Lang, EuR 40 (2005), 381, 394. 87 Dazu Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 747. 88 Lang, EuR 40 (2005), 381, 394. Die in Art. 121 Abs. 1 AEUV vorgesehene Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten ist ein Beispiel, wie aus einer bloßen Koordinierung immer mehr die Notwendigkeit zur weitergehenden Integration erwachsen kann (contractum ad contrahendi), vgl. Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 1 f. 89 Chalmers / Jachtenfuchs / Joerges, The retransformation of Europe, 9. 90 Calliess, C., DÖV 66 (2013), 785, 787; Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 87.

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tem Regierungshandeln hin zu informellem Handeln in flexiblen, sich schnell und kontinuierlich verändernden Verwaltungsnetzwerken91. Wie hieran deutlich wird, zeichnet sich die Offene Methode der Koordinierung vor allem dadurch aus, dass sie bewusst „offen“ ist, d. h. weder hinsichtlich der Ausgestaltung ihres Ziels und ihrer Reichweite noch hinsichtlich der hierfür zu ergreifenden Mittel und Instrumente irgendeine Beschränkung kennt92. Die mit ihr verfolgte Steuerung erfolgt zwar zentral und einheitlich, entweder (in der schwächsten Form) durch bloßen Informations- und Erfahrungsaustausch und die Einigung auf eine „best practice“93 oder aber (in der stärkeren Form) durch Festlegung von Programmzielen oder Beschließung von Leitlinien, deren Verwirklichung an einen genauen Zeitplan gebunden ist94. Die Ausgestaltung und Erreichung dieser Festlegungen obliegt jedoch dezentral den einzelnen Mitgliedsstaaten, die durch ihre Verpflichtung vor allem „psychologisch“ gebunden sind, sonst aber einzig durch politische Druckmittel beeinflusst werden können95, deren unüberschaubares, in der Praxis sich ständig veränderndes und kaum zu typologisierendes Instrumentarium sich auf einem breiten Spektrum zwischen „härteren“ und „weicheren“ Mitteln einordnen lässt, die „von verklausulierten Ermahnungen und Empfehlungen in langen Berichten, Gruppendruck hinter verschlossenen Türen, der Veröffentlichung nicht-obligatorischer Einzelempfehlungen, der Veröffentlichung von ‚blauen Briefen‘ (Frühwarnungen) und Stellungnahmen bis hin zu empfindlichen finanziellen Strafen“ reichen können96. Von dieser Offenheit und Weite, von diesem bewussten Verzicht auf die Einhaltung irgendeiner Form begründet sich auch ein Großteil der Kritik, die an der Offenen Methode der Koordinierung geübt wird. Da die Offene Methode der Koordinierung sowohl auf förmliche Rechtssetzung als auch auf förmliche Durchsetzungsmechanismen verzichtet, belässt sie die Kompetenz und Verantwortlichkeit für die von ihr geregelten Politikfelder vorgeblich bei den Mitgliedsstaaten, die „freiwillig“ zu handeln scheinen und daher auch keinen Rechtsschutz vor dem EuGH gegen ihre Maßnahmen suchen können97. Ja vielmehr noch: Da ihre Festlegungen und Instrumentarien vorgeblich nur politisch und informell sind, bezieht sie teilweise sogar Nicht-Mitgliedsstaaten in ihre Steuerungswirkung mit ein98. Tatsächlich führt die Offene Methode der Koordinierung jedoch zu einer erheblichen, durch die Anwendung von Soft Law verschleierten Kompetenzausweitung der Union und, da ihre maßgeblichen Beteiligten die Kommission und der Rat sind,

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Boehme-Neßler, ZRP 45 (2012), 237, 238. Lang, EuR 40 (2005), 381, 391. 93 Ebd., 386. 94 Ebd., 384. 95 Ebd., 387; Bodewig, EuR 38 (2003), 310, 322; Nettesheim, EuR 39 (2004), 511, 531. 96 Linsenmann / Meyer, C., Integration 25 (2002), 285, 288. 97 Lang, EuR 40 (2005), 381, 390. 98 Müller-Graff, EuR 47 (2012), 18, 25. 92

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zu einer signifikanten Kompetenzverlagerung auf die Exekutive99 – eine Praxis, die durch den Vertrag von Lissabon bewusst nicht ausdrücklich abgesichert wurde und daher weiterhin rechtlich umstritten ist100. Kein Streit kann aber darüber bestehen, dass diese Praxis die bereits attestierte „Entförmlichung“ des europäischen Rechts noch weiter befördert und verfestigt. c) Institutionalisierter Formverlust: Unionsmethode statt Gemeinschaftsmethode – Politik statt Recht Die beschriebene Verfestigung der Verwendung von informellen, „weichen“ Instrumentarien innerhalb der Union kulminiert in der grundlegenden Wende von der gemeinhin als Gemeinschaftsmethode bezeichneten Regierungsform hin zur sog. Unionsmethode, die diese Handlungsweisen, diesen Formverlust im euro­päischen Kontext institutionalisiert und zum Prinzip erhebt  – wohlgemerkt obwohl sie eigentlich aus der Not geboren wurde: Als sich im der Zuge der Finanz- und Schuldenkrise zeigte, dass die bisherige Gemeinschaftsmethode als Regierungsweise mit dem für sie charakteristischen Initiativmonopol der Kommission, darauffolgenden Mehrheitsentscheidungen in Rat und Europäischem Parlament sowie anschließender Möglichkeit zur Rechtskontrolle vor dem EuGH nicht die erforderliche Schnelligkeit und Flexibilität bot, um effektiv auf die Krise reagieren zu können, wurde der Versuch unternommen, stattdessen stärker auf die Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten sowie ein Tätigwerden derselben außerhalb der starren Grenzen des Unionsrechts zu setzen101. Angela Merkel schließlich hat für diese – eigentlich provisorische – Vorgehensweise den Begriff „Unionsmethode“ geprägt, sie als Ergänzung der traditionellen „förmlichen“ Handlungsweise der Union befürwortet102 und damit letztlich verstetigt. Die Unionsmethode sollte zwar als „Mischung aus Gemeinschaftsmethode und koordinierendem Handeln der Mitgliedsstaaten“103, als mixtum compositum aus Formalität und Informalität die Gemeinschaftsmethode weder ersetzen noch verändern, sondern nur ergänzen. Tatsächlich markiert sie jedoch einen entscheidenden Schritt zu einem „neuen Intergouvernementalismus“, der sich nicht nur durch eine Dominanz des Rates der Staats- und Regierungschefs und eine untergeordnete Rolle der Kommission und des Europäischen Parlaments104, sondern auch durch die zunehmende Abkehr vom Gedanken des rechtsförmigen Regierens und der

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Lang, EuR 40 (2005), 381, 388; Linsenmann / Meyer, C., Integration 25 (2002), 285, 292. Schwarze, EuR 46 (2011), 3, 13. 101 Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 2. 102 Merkel, Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Eröffnung des 61. akademischen Jahres des Europakollegs Brügge, 2. November 2010. 103 Ebd. 104 Chalmers / Jachtenfuchs / Joerges, The retransformation of Europe, 3 f. 100

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Effektivität des Unionsrechts105 bestimmt wird: Die Unionsmethode funktioniert gerade nicht nach den Gesetzmäßigkeiten rechtlich verfasster Verfahren, sondern nach den Gesetzen zwischenstaatlicher Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse, für die das Recht gegenüber den politischen Einflussmöglichkeiten von Regierung und Verwaltung nur eine geringe Bedeutung hat106. Sie untergräbt die Autorität der europäischen Institutionen, deren formelle Kompetenzen und Verfahren sie nicht als rechtsstaatlicher Errungenschaft, sondern als zu lösendes Problem sieht und die sie deshalb zu schwächen bestrebt ist107. Die „Unionsmethode“ ist daher in Wirklichkeit keine eigenständige Methode, sondern ein Begriff für ein allgemeines Bestreben zur zunehmenden „Entförm­ lichung“ des Unionsrechts; eine Metabeschreibung für einen mittlerweile tatsächlich eingetretenen Methodenpluralismus, der keine Verlegenheitslösung, sondern Mittel zur Aufbrechung der Form des europäischen Rechts und des europäischen Regierens ist108. Die Unionsmethode umgeht jene Förmlichkeit, die eine Rechtsgemeinschaft eigentlich zwingend erfordert109, kehrt vom Gedanken einer uniformen Integration, die das europäische Projekt stets ausgemacht hat, zugunsten einer Verstetigung der variablen Geometrie in der Union ab110 und kehrt somit letztlich zugunsten eines politischen Pragmatismus dem Gedanken der Rechtsgemeinschaft überhaupt den Rücken zu – ist dieser doch ein Begriff, der einerseits die Vorstellung von einer Einheit des Rechts und des von ihm geregelten Raums, andererseits die Vorstellung einer strikten Rechtsbindung und Regierung durch Recht, kurzum: den Gedanken von einer strengen Rechtsförmlichkeit voraussetzt111. Die Unionsmethode ist jedoch eine Handlungsmaxime, die darum bestrebt ist, derartige Förmlichkeiten gerade gegenüber den politischen Erfordernissen unterzuordnen und jedes erforderliche Instrumentarium bereitzustellen, um förmliche Barrieren zur Not auszuräumen und umgehen zu können: Sie ist keine Methode, sondern methodische Umgehung, wenn nicht gar methodische Zerstörung jeder Methode und so letztlich eine Institutionalisierung des zunehmenden Abschieds von der Form des europäischen Rechts, der, wie wir zuvor gesehen haben, in der fehlenden Unterscheidungskraft seines Rechtsprogramms selbst angelegt ist.

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Zu dieser grundlegenden Transformation im europäischen Kontext siehe Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 503. 106 Kadelbach, EuR 48 (2013), 489, 496. 107 Sarrazin / Kindler, Integration 2012, 213, 214. 108 Schorkopf, Methodenpluralismus in der europäischen Integration, 114. 109 Kadelbach, EuR 48 (2013), 489, 495. 110 Schimmelfennig, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, 2015, 129 f. 111 Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 90.

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II. Einheit und Fragment: Folgen der Ordnung Europas für das europäische Recht 1. Die Bedeutung des Prinzips der Einheit für die Rechtsordnung Die Begriffe der Ordnung und des Systems setzen weiterhin den Begriff der Einheit voraus. Eine Ordnung kann nur gedacht und vom Chaos abgegrenzt werden, wenn sie einen Bestand vorweist, der sich auf übergeordnete, zusammenhängende Begriffe zurückführen lässt und hierdurch eine „innere Einheit“112, ein „geschlossenes System“113 zu bilden imstande ist: Die Einheit ist ein allgemeingültiges normatives Desiderat einer jeden Ordnung und Gemeinschaft114, eine notwendige Bedingung für Vollkommenheit und Abgeschlossenheit, ja ein ontologisches Strukturprinzip, dessen prominente Bedeutung in der europäischen Geistesgeschichte wohl nicht zuletzt auf das Aufkommen des Monotheismus und des Christentums zurückzuführen ist115. Das Recht soll eine einheitliche Rechtsordnung bilden, und die ihr innewohnende Einheit und Widerspruchsfreiheit müsse auch in Zukunft erhalten bleiben116, was nicht zuletzt den Verfassungsorganen zu gewährleisten obliege117, so liest man etwa: Die Einheit der Rechtsordnung sei eine Art unabdingbare, unverzichtbare „Kollisionsregel“, anhand derer (ansonsten logisch unlösbare118) Unstimmigkeiten und Widersprüche zwischen Normen selbst gegen den Willen des historischen Gesetzgebers gelöst werden können119; sie sei Voraussetzung schlechthin für Gerechtigkeit120 – so entspricht es in etwa dem herrschenden Juristenduktus, ungeachtet gegenläufiger Stimmen, die weder logisch noch moralisch eine solche Einheit postulieren121.

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Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 11 ff. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 21996, 433: „Eine gegebene Rechtsordnung ist stets ein geschlossens System von Institutionen und Rechtssätzen, und zwar unabhängig von der sozialen Realität der durch die Institutionen und Rechtssätze geregelten Lebensverhältnisse“. 114 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 15. 115 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 75. 116 Wolf, ZRP 15 (1982), 1, 1 ff.; Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, 1983. 117 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1960 – 1 BvL 21/60 – Rn. 28. 118 Normenkonflikte sind logisch nicht lösbar, vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 373 f. 119 Ebd., 372 f. 120 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 16 f. 121 So prominent die Interessenjurisprudenz, die ihren Akzent mehr auf eine Gerechtigkeit „von Fall zu Fall“ zu legen pflegt, vgl. dazu Coing, JZ 6 (1951), 481, 484. 113

II. Einheit und Fragment

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2. Das europäische Recht als uneinheitliches Fragment Es ist vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht verwunderlich, dass auch das europäische Recht von sich behauptet, einheitlich zu sein und eine Einheit zu bilden122. Die Vorstellung von einer Einheit des Rechts ist in Europa von Anfang an stark mit dem Gedanken der Rechtsgemeinschaft verwoben123. Das europäische Projekt war gerade zu Beginn von einer politischen Semantik geprägt, deren zentraler Begriff der der Einheit war, ja es hatte von Anfang an den Anspruch erhoben, einen einheitlichen Herrschaftsverband sowie eine einheitliche Rechtsordnung herauszubilden, die durch gleiche und einheitliche Regeln einen freien und fairen Wettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten ermöglichen sollte124. Der Gedanke von der Einheit der Rechtsordnung korrespondierte mit jenem von der politischen Einheit Europas, aus der ein gemeineuropäischer Rechtsanwendungsbefehl zu resultieren beabsichtigt war, der sowohl die Einheit der Rechtsordnung als auch die Kongruenz zwischen Politik und Recht gewährleisten sollte125. Heute können allerdings nur wenig Zweifel darüber bestehen, dass die Idee von einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung  – genauso wie die mit ihr eng verwobene Idee von einem einheitlichen europäischen „Superstaat“ – zunehmend unter Druck geraten ist126. Nicht nur die Eurokrise und die mit ihr einhergehende und sich immer weiter zu verfestigen scheinende konstitutionelle Differenzierung der Union – die pragmatisch Tendenz hin zu den Konzepten eines „Europe á la carte“ mit einer „variablen Geometrie“ – scheinen die Idee von einem einheit­lichen Gebilde mit einer einheitlichen Rechtsordnung erschüttert zu haben127. Hinter diesen vordergründig pragmatischen Erwägungen stehen vielmehr tieferliegende Gründe, die jeden Gedanken an eine der Europäischen Union innewohnenden Einheit grundlegend entgegenstehen müssen: Eine einheitliche Rechtsordnung auf Basis eines einheitlichen Rechtsanwendungsbefehls kann nur existieren, wenn eine ihr vorausgehende politische und kulturelle Einheit existiert, die die Voraus­ setzungen des Gedankens einer Einheit im Recht annimmt und akzeptiert128. Diese politische und kulturelle Einheit erscheint jedoch bereits im Nationalstaat, in dem der Gedanke von der „Einheit im Staat“ selbst zunehmend durch polyzentrische Herrschaftsformen konterkariert wird, als überholt129. In der modernen funktional 122

Dazu Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147. Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 89 f. 124 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 31 f.; Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 743 f.; Ladeur, Die Welt 24.07.2018. 125 Dazu Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 528. Zu den Ursprüngen dieses Konzepts des „Rechtsbefehls“ siehe Austin, The province of jurisprudence determined, 1995. 126 Dazu Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 147 ff., insb. 148 f.; Ladeur, Die Welt 24.07.2018. 127 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 31 f.; Volkmann, Teil III: Methode und Geometrie der Union, 89; Schimmelfennig, Variable Geometrien. Differenzierung, Integration und Demokratie, 130. 128 Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 528. 129 Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 602. 123

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§ 4 Geltungskrise

differenzierten Gesellschaft treten vielmehr eine Fülle privater, öffentlicher und halb-öffentlicher Akteure mit jeweils eigenen Rationalitäten miteinander in Aktion und lassen die Idee von einer „Einheit der Rechtsordnung“ wohl nur noch als rhetorische Figur, ja als bloßen normativen Begriff zu130. Selbst die Verwirklichung dieser rein rhetorischen, normativen Einheit erscheint im europäischen Kontext jedoch immer mehr zweifelhaft. In der EU besteht gerade vor dem Hintergrund der beschriebenen Tendenz hin zu informellen, „weichen“ Steuerungsformen kein einheitliches Zentrum, keine zentrale Entscheidungsinstanz, die sich gegenüber anderen Akteuren abschotten könnte. Vielmehr ähnelt sie durch diese Tendenzen und Eigenschaften dem Charakter einer Netzwerkstruktur, in der die verschiedensten Akteure aus vielfältigen Bereichen (z. B. Regionen, Verbände, Forschungsinstitute, etc.) zusammenwirken und so die jeweiligen Entscheidungen im Rahmen eines heterogenen Prozesses beeinflussen und prägen131. In einem solchen Netz kann es jedoch weder eine Hierarchie noch irgendeine Form von (inhaltlicher) Einheit und Kohärenz, geschweige denn eine Fähigkeit zu eindeutigen Unterscheidungen geben: Ein Netz kennt kein Oben oder Unten und lässt sich nicht von einem einheitlichen Punkt her konstruieren und erklären. Vielmehr besteht es aus gleichwertigen, polyzentrischen Knoten und Verbindungen, die zwar verbunden und voneinander abhängig, zugleich jedoch auch autonom, abgrenzbar und gleichwertig sind132 und damit nicht nur eine, sondern stets mehrere Unterscheidungen zu treffen in der Lage sind, die folglich keine eindeutigen Festlegungen, sondern vielmehr beständige Unschärfen hervorbringen. Der Gedanke von der Einheit des Rechts oder eines einheitlichen Rechtssystems kann daher weder im Nationalstaat, noch viel weniger aber in transnationalen Räumen wie dem der Union ein Konstruktionsprinzip des Rechts sein133 – und es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass das europäische Recht spätestens bei seiner faktischen Anwendung in den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht von Einheit, sondern von einer überschaubaren Vielzahl an Partikularismen und unauflösbaren Widersprüchen gekennzeichnet ist134. Das europäische Recht kann sich daher nicht zum Ziel setzen, eine perfekte Einheit zu bilden; vielmehr kann es gerade im Verhältnis zu den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen nur darum bemüht sein, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen föderalen Universalismen und plurizentrischen Partikularismen herzustellen135. Die Annahme einer einheitlichen Rechtsordnung ist vor dem Hintergrund eines solchen fragmentarischen Zustandes selbst rein normativ nicht zu vertreten.

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Teubner, Recht als autopoietisches System, 138 f. Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 614. 132 Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 370. 133 Fischer-Lescano / Teubner, Regime-Kollisionen, 12006, 36; Kjaer, Between governing and governance, 2010, 13. 134 Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 370. 135 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 168 f. 131

II. Einheit und Fragment

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3. Die Fragmentierung des europäischen Rechts in der Eurokrise Besonders deutlich hat sich der fragmentarische Charakter des europäischen Rechts in der Eurokrise gezeigt. Die Krise hat zu einer „plurilateralen Tätigkeit“ der Mitgliedsstaaten außerhalb der Verträge geführt und damit nicht nur die „variable Geometrie“ der EU, das Europa der zwei Geschwindigkeiten, verschärft136, sondern darüber hinaus vor allem die Friktionen innerhalb der Union und ihres Rechts offen zu Tage gelegt und weiter befördert. Auf die Krise wurde mit einem breiten Arsenal an Instrumenten geantwortet, die sich als mixtum compositum aus völkerrechtlichen, europarechtlichen und nationalrechtlichen Regelungen präsentieren, die die Kompetenzen und Aufgaben der Union sowie der Mitgliedsstaaten zunehmend unscharf und schwammig erscheinen lassen137 und – vermittelt durch den Europäischen Rat –, das Heft des Handelns den nationalen Regierungen in die Hand gelegt haben138. Dieses Vorgehen hat zwar zum Teil dezentrale Elemente in der Union vermindert, zugleich aber auch die Fragmentierung des Unionsrechts weiter befördert139: Die Krise hat zu einer partiellen „Flucht aus den Strukturen der Europäischen Union“140, ja zu einer offenen Abkehr vom Gedanken einer zentralen und einheitlichen Regierung Europas geführt141. Statt ihr mit den Mitteln des Europarechts zu begegnen wurde in ihrem Rahmen ein breites Instrumentarium an rechtlichen Maßnahmen sowie eine ganze Reihe neuer Institutionen außerhalb der Unionsarchitektur eingeführt142, die den Gedanken der Einheit des Unionsrechts verlassen: Sie waren nicht selten Folge des Rosinenpickens einzelner Mitgliedsstaaten143 und damit vorgeblich „second-best-solutions“ zur Bereitung des Weges für „künftige, systemgerechte Lösungen“144; in Wirklichkeit sind sie jedoch sowohl Ausdruck als auch systemische Folge des netzwerkartigen Ordnungsmodells der Union und waren folglich vom Beginn der Krise eines ihrer dominanten rechtlichen Leitmotive: a) Die erste Griechenlandhilfe: Ausweichen ins nationale Privatrecht Als Anfang 2010 etwa die finanzielle Lage Griechenlands immer prekärer und schließlich untragbar und zur Gefahr für die Stabilität der gesamten Eurozone wurde, wurde außerhalb des gewöhnlichen Entscheidungsfindungs- und Rechtssetzungsverfahrens der Union auf Basis eines bloßen formlosen Beschlusses der 136

Haltern, Europarecht, 123 f. Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 218. 138 Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 1. 139 Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 4. 140 Wieland, JZ 67 (2012), 213, 217. 141 Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 2. 142 Kadelbach, EuR 48 (2013), 489, 498 ff.; Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 2. 143 Schimmelfennig, Variable Geometrien. Differenzierung, Integration und Demokratie, 128 f. 144 Schäuble, FAZ 12.01.2013. 137

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§ 4 Geltungskrise

Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel am 7. Mai 2010 entschieden, Griechenland mittels verschiedener, nicht dem Unionsrecht unterstehender Instrumente finanziell zu helfen145 – ungeachtet des Umstandes, dass diese den Rahmen der gewöhnliche Handlungsweise der Union unzweifelhaft sprengen mussten. Diese gewöhnlich als „erste Griechenlandhilfe“ bezeichneten Instrumente waren im Einzelnen ein Darlehensvertrag (Loan Facility Agreement) zwischen den  Staaten der Eurozone und der Hellenischen Republik, ein IntergläubigerVertrag (Intercreditor-Agreement), der die Aufbringung der liquiden Mittel durch die Gläubiger zum Gegenstand hatte, der EFSF-Rahmenvertrag, der einen (vorläu­ figen) Rettungsschirm für krisengeschüttelte Euroländer errichtete sowie schließlich diverse, zwischen der aus IWF, EZB und Kommission bestehenden Troika sowie der griechischen Regierung ausgehandelte Memoranda of Understanding, die die Voraussetzungen und die Konditionen der Darlehensgewährung regelten. Während die Memoranda of Understanding bloß rechtlich unverbindlich waren und so eher ein Art Leitfaden für zukünftige politische Entscheidungen über Bedingungen und Umfang von Darlehensgewährungen darstellten146, wurden sowohl der Darlehensvertrag als auch der Intergläubiger-Vertrag und der EFSF-Rahmenvertrag englischem Privatrecht unterstellt147. Sie sind privatrechtliche Verträge zwischen souveränen Staaten, die eigentlich über eine eigene Rechtsordnung verfügen, diese jedoch bewusst nicht gewählt haben, sondern denen es stattdessen gefiel, sie zu umgehen148. b) ESM-Vertrag: Quasi-europäisches Völkerrecht Mit dieser sich in einer „rechtlichen Grauzone“149 bewegenden „Flucht ins Privat­ recht“ war allerdings nur der Anfang in einem Prozess der zunehmenden und verschärften Zersplitterung der europäischen Rechtsordnung gemacht. Im weiteren Verlauf der Krise schienen die Staats- und Regierungschefs sich vor allem erneut daran zu erinnern, dass das Unionsrecht nach einer vielzitierten Formel eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ darstellt150, wobei sie den Begriff des Völkerrechts zu betonen, das Element der Neuartigkeit hingegen scheinbar zu vergessen suchten. So traten im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise neben die unionsrechtlich vorgesehene Koordinierung151 nicht nur auch noch eine rein völkerrechtliche Form der 145 Ausführliche Schilderung der Geschehnisse des nicht öffentlichen Gipfels bei Busse, FAZ 29.07.2010; zur rechtlichen Dimension vgl. auch Wieland, JZ 67 (2012), 213, 216. 146 Zu diesem Konzept im Einzelnen Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 28. 147 Art. 14(1) des Darlehensvertrages, Art. 16(1) des ESFS-Rahmenvertrages sowie Art. 14(1) des Intergläubiger-Vertrages, vgl. dazu jeweils Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 98. 148 Busse, FAZ 29.09.2011; vgl. dazu auch Calliess, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grund­gesetzKommentar, Januar 2018, GG Art. 24 Rn. 143. 149 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 97. 150 EuGH, Urteil vom 05. Februar 1963 – 26/62 (Van-Gend-&-Loos) – S. 25, juris. 151 Vor allem jene nach Art. 121 Abs. 2 AEUV.

II. Einheit und Fragment

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Kooperation, Koordinierung und Entscheidung152. Vielmehr war auch im Bereich des „harten“ Rechts ein offener Rückfall der Union ins Völkerrecht zu beobachten, der die Schwäche und Fragmentierung ihrer Strukturen besonders offen zutage förderte153: War die „erste Griechenlandhilfe“ noch vor allem provisorischer Natur und in Eile aus der Not heraus geboren worden154, wurde selbst ihre Verstetigung in Gestalt eines dauerhaften Rettungsschirmes – dem ESM – nicht in die Unionsarchitektur eingegliedert155. Obwohl die Union jedenfalls über die Flexibilisierungsklausel des Art. 352 AEUV wohl einen ständigen Rettungsschirm im Unionsrecht hätte verankern können156, ja in Gestalt des Art. 136 Abs. 3 AEUV schließlich sogar eine eigene Änderung des Primärrecht zur Einrichtung eines permanenten Rettungsschirmes erwirkt hatte, wurde der ESM letztlich durch einen völkerrechtlichen Vertrag errichtet157. Die Entscheidung zur Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV wurde zwar auf derselben Sitzung des Rates am 28. und 29.10.2010 getroffen, in der auch die Einführung des ESM beschlossen wurde; erstaunlicherweise nahm der ESM aber schon vor Inkrafttreten dieser Vertragsänderung seine Arbeit auf und konnte insofern nicht auf dieser Norm als Kompetenzgrundlage aufbauen158 – was nicht zuletzt auch aufgrund der Befürchtung geschah, das seine Verankerung im Unionsrecht zu einer Verletzung der sog. No-Bail-Out-Klausel (Art. 125 Abs. 1 AEUV) führen könnte159. Gleichzeitig wurde diese völkerrechtliche Vorgehensweise jedoch auch an das Unionsrecht angegliedert. Zwar ist der ESM keine Einrichtung der EU, sondern eine zwischenstaatliche, dem Völkerrecht unterliegende Einrichtung, die der Kompetenz der Mitgliedsstaaten unterfällt und somit auch nicht der Kontrolle des Europäischen Parlaments unterliegt (Art. 10 Abs. 2 EUV)160. Seine Funktion ist aber so eng an die Belange der Währungsunion gekoppelt und mit ihnen verzahnt, dass eine Nähe zum Recht der Europäischen Union besteht161, was sich nicht zuletzt 152

Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 2; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 122 f. Habermas, Zur Verfassung Europas, 48 ff. 154 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 97; Faßbender, NVwZ 2010, 799, 799 f. 155 Bark / André Gilles EuZW 24 (2013), 367, 367. 156 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 802; EuGH, 27.11.2012 – C-370/12 (Pringle) – Rn. 67. 157 Calliess, Art. 24, Rn. 143. 158 Art. 136 Abs. 3 AEUV trat am 1. Mai 2013 in Kraft, während der ESM-Vertrag bereits zum 27. September 2012 in Kraft getreten war und der ESM daraufhin schon am 8. Oktober 2012 seine Arbeit aufnahm, vgl. Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 145 ff. 159 „Da der ESM daher weder ‚Union‘ gem. Art. 125 I 1 AEUV noch ‚Mitgliedstaat‘ i. S. des Art. 125 I 2 AEUV ist und die Mitgliedstaaten auch nicht in irgendeiner Form direkt für die gefährdeten Staaten eintreten, ist insoweit jedenfalls formal keine Verletzung der No-Bail-OutKlausel zu konstatieren.“ Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 104; vgl. auch Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 99 f.; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 122 f. 160 Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 3; Tomkin, German Law Review 14 (2013), 169, 174 f. 161 Entsprechend handelt es sich auch um Angelegenheiten der EU im Sinne von Art. 23 Abs. 2 GG und nicht um solche des Völkerrechts nach Art. 59 Abs. 2 GG, vgl. BVerfG, Urteil vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 (ESM-Urteil) – Rn. 232; dazu Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 5. 153

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§ 4 Geltungskrise

auch an der Jurisdiktion des EuGH bei Vertragsstreitigkeiten162 sowie der Regelung des Art. 136 Abs. 3 AEUV zeigt: Art. 136 Abs. 3 dient zwar nicht als Kompetenzgrundlage des ESM, verankert ihn aber dennoch im europäischen Primärrecht und fungiert insofern als Scharnier zwischen der Sphäre des Völkerrechts und der des Unionsrecht163. Die Bedeutung des Art. 136 Abs. 3 AEUV besteht somit nicht darin, den ESM unionsrechtlich zu legitimieren, sondern eine Koppelung zum Unionsrecht herzustellen, an das die Mitgliedsstaaten bei der Ausübung ihrer originären Kompetenzen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungsunion gebunden sein sollen164. Es handelt sich beim ESM mithin um eine Mischung aus Völkerrecht und Unionsrecht, um quasi-europäisches Völkerrecht, das dennoch formal außerhalb der Rechtsordnung der Union und ihrer Mitgliedsstaaten steht und sich mit dem Gedanken einer einheitlichen Rechtsordnung nicht in Einklang bringen lässt165. Aber selbst innerhalb dieses ambivalenten Gebildes lässt sich eine Tendenz zur zunehmenden Zersplitterung des europäischen Rechts ausmachen. Der ESM-Vertrag enthält in Art. 19, 5 Abs. 5 eine Flexibilisierungsklausel, die durch einstimmigen Beschluss des Gouverneursrates – dem Rat der Finanzminister der Anteilseignerstaaten – eine einfache Änderung der Instrumentarien des Rettungsschirmes zulässt166. Der ESM-Vertrag bietet eigentlich nur eine Grundlage für die Gewährung von Finanzhilfen an Staaten, nicht aber an private Finanzinstitute. Auf dem Eurogipfel vom 29. Juni 2012 wurde aber gleichwohl beschlossen, dass auch eine Rekapitalisierung von Banken mithilfe des ESM vorgenommen werden könne, was dann in Gestalt der Restrukturierung des spanischen Bankenhilfsfonds „Fondo de Restructuarcion Ordenado Bancaria“ durch den ESM auch tatsächlich mittelbar geschah. Auch im Falle Zyperns im März 2013 wurden Banken über den Kanal eines nationalstaatlichen Bankenhilfsfonds durch den ESM rekapitalisiert.167 Denkt man diese Entwicklung und diese Möglichkeiten zur Flexibilisierung fort, so fällt die Vorstellung nicht schwer, dass der ESM entsprechend seiner ohnehin bestehenden ambivalenten Rechtsnatur auch sich selbst die Kompetenz zuschreiben wird, nicht nur sein Instrumentarium weiter zu differenzieren, sondern auch die Rechtsnatur derselben flexibel und differenziert zu gestalten – durch ein beständiges Oszillieren zwischen der Wahl von Völkerrecht und Unionsrecht bei seiner Darlehensvergabe, je nach Fall, Situation und Opportunität.

162

Art. 37 Abs. 3 ESM-Vertrag; vgl. im Übrigen dazu auch die Ausführungen bei Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 98. 163 Schorkopf, Methodenpluralismus in der europäischen Integration, 105. 164 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 100; wohl in dieselbe Richtung auch Mayer, Reformbedarf und Reformperspektiven für die Europäische Union, 197. 165 Dahingehend Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. 166 Bark / André Gilles EuZW 24 (2013), 367, 370. 167 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 96 f.

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c) Europäischer Fiskalpakt: Europäisches Völkerrecht zur Implementierung ins nationale öffentliche Recht Eine weitere Ausprägung dieses sich in der Krise herausgebildeten quasi-europäischen, „obskuren“168 und ambivalenten Völkerrechts ist der gewöhnlich als „Europäischer Fiskalpakt“ bezeichnete Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS). Dieser musste aufgrund eines britischen Vetos ebenfalls als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des EU-Rechts konzipiert werden, obwohl auch seine Aufgabe eigentlich funktional eng mit jenen der Wirtschafts- und Währungsunion zusammenhängt (Art. 126 AEUV)169. Die in ihm geregelten Konvergenzkriterien sind für sich genommen jedoch erstaunlicherweise nicht verbindlich, sondern müssen von den jeweiligen Signatarstaaten erst implementiert werden170: Die Bundesrepublik Deutschland hatte vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung mit der 2009 ins Grundgesetz eingefügten Schuldenbremse vorgeschlagen, auch die in Europa einzuhaltende Haushaltsdisziplin in die jeweiligen nationalen Verfassungen zu übernehmen und nationale Verfassungsgerichte mit ihrer Einhaltung zu betrauen171. Dieser Vorschlag vermochte sich zwar nicht vollauf durchzusetzen, er bewirkte jedoch, dass die verabschiedete Fassung des VSKS das Erfordernis einer Überführung der Konvergenzkriterien in (einfaches) nationales Recht und einen automatischen Mechanismus zur Korrektur und Sanktion von Verstößen vorsieht172. Der VSKS steht daher trotz seiner völkerrechtlichen Form mit den nationalen Rechtsordnungen in einer engen Wechselwirkung und ähnelt in seiner Struktur einer europarechtlichen Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV), ohne jedoch Europarecht im strengen Sinne zu sein: Er adaptiert versatzstückartig typisch unionsrechtliche Steuerungsmechanismen, führt sie jedoch aus dem Unionsrecht heraus und transformiert sie ins Völkerrecht, um einen Sachverhalt zu regeln, der eigentlich zu den Kernaufgaben der Union gehört. Das Konzept der „Rechtsgemeinschaft“ und der „Einheit des Rechts“ wird durch diese Vorgehensweise äußeren Sach­zwängen, die eine Regelung zwingend erfordern, erneut untergeordnet und jedenfalls punktuell als Anspruch aufgegeben173. Sie demonstriert nicht nur, wie stark diese Konzepte den politischen und rechtlichen Alltag der Union zu überfordern scheinen, sondern auch, wie sehr sie ihrem Ordnungsmodell und seinen Regulierungsbedürfnissen offenkundig entgegenstehen und wie wenig sein Rechtsprogramm in der

168

Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. Calliess, C., DÖV 66 (2013), 785, 787; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 81; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 109 f. 170 Art. 288 Abs. 3 AEUV. 171 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 109 f. 172 Art. 3 Abs. 1 lit. e), 2 VSKS; vgl. dazu ebd. 173 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. 169

116

§ 4 Geltungskrise

Lage zu sein scheint, selbst die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, die Festlegung der Systemgrenzen, eindeutig zu treffen und beizubehalten.

III. Semantische Ungewissheiten: Das europäische Recht als Recht fluider Bedeutungen 1. Einheit und Formstrenge als Voraussetzungen für semantische Gewissheiten Wie aber kann ein Recht, das, wie wir festgestellt haben, weder seine eigene Form einzuhalten in der Lage ist noch eine von ihm selbst angestrebte Einheit herzustellen vermag klare semantische Gewissheiten, ja einheitlich zu verstehende Rechtsbegriffe entwickeln, die es ihm ermöglichen könnten, einmal erkannte Bedeutungen auch dann noch aufrechtzuerhalten, wenn ihnen kognitiv vermittelte Zwänge entgegenstehen? Ist ein auf einem solchen Fundament entwickeltes Recht nicht vielmehr intrinsisch flexibel, ungewiss, begrifflich fluide? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst breiter begonnen werden, nämlich mit einer wenigstens kurzen Positionierung zu der Frage, ob es überhaupt semantische Gewissheiten im Recht geben kann – selbst dann, wenn ihm tatsächlich sowohl eine festgefügte Ordnung als auch eine konzipierte Einheit zugrunde liegen. Diese Frage ist nicht zuletzt durch das Werk von Derrida virulent geworden, demzufolge es überhaupt keine feststellbare Bedeutung von Wörtern, sondern nur eine ständige Differenz, Transformation und Aufschiebung des den Wörtern scheinbar innewohnenden Sinns geben kann, die jeden Begriff letztlich soweit dekonstruiert, das von seiner Gründung nichts weiter als nackte Macht übrig bleibt174. Spinnt man diesen Gedanken fort, so wäre das Recht niemals begrifflich gebunden, niemals mit einer semantisch zu verortenden Gewissheit ausgestattet, sondern stets die bloße Verschleierung einer grundlosen Gewalttat, deren Ausübung mit ihm nicht erklärt werden könnte175. Das Recht wäre unter diesen Bedingungen vielmehr so korrumpiert, dass es weder autopoietisch geschlossen sein könnte noch in der Lage wäre, im Hinblick auf seine Normen kognitiv zu lernen, d. h. eine programmatisch geregelte Anschlussfähigkeit zu entwickeln176. Dennoch: Auch wenn Derridas Dekonstruktion semantisch vermittelter Sinngehalte hier nicht grundlegend in Frage gestellt werden soll, können doch jedenfalls für die Zwecke dieser Untersuchung nur wenig Zweifel darüber bestehen, dass in dem Ausmaß der durch Rechtsbegriffe hergestellten Gewissheit und in der Reichweite der jeweiligen Transformation und Aufschiebung verschiedene Schattierun-

174

Derrida, in: Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, 2015, 80 f. 175 Derrida, Gesetzeskraft, 29. 176 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 82.

III. Semantische Ungewissheiten

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gen bestehen. Derridas Dekonstruktion ist keine völlige Absage an semantische Gewissheiten, keine völlige Preisgabe jeden Sinns an den Horror totaler Ungewissheit und nackter Gewalt, sondern ein Akt der Läuterung, ein „Gang durch die Wüste“, der, wenn er einmal zurückgelegt wurde, ein erneutes Sich-Einlassen auf den Sinn zulässt – jedoch nicht mehr aus der Perspektive scheinbarer absoluter Gewissheiten, sondern als pragmatischer Kompromiss zwischen Immanenz und Transzendenz vor dem Hintergrund eines sich ansonsten abzeichnenden Abgrundes177. Auch wenn daher möglicherweise jeder semantisch vermittelte Sinn theoretisch unendlich aufgeschoben und niemals klar festgestellt werden kann, ergibt sich aus dieser Perspektive, dass diese Aufschiebung doch in einigen Fällen näher, in einigen Fällen ferner zu liegen scheint: Eine semantische Unbestimmtheit mag zwar immer gegeben und niemals zu beseitigen sein, ihr Ausmaß und ihre Streuung sind jedoch abhängig von verschiedenen Umständen und Bedingungen – nennen wir sie zusammengefasst erneut den „Faktor X“178 –, der diesen Kompromissschluss präfiguriert und eine Eingrenzung der möglichen Bedeutungen zulässt. Dieser „Faktor X“ ist, wie wir gesehen haben, vordergründig das gemeinsame Wissen von der Sprache und ihrem Gebrauch179, in Bezug auf das Recht jedoch hintergründig vor allem die ihm zugrundeliegende Ordnung sowie die aus ihr folgende Bereitschaft zur Einhaltung der Rechtsform überhaupt – eine komplexe Struktur aus vorgelagerten Werten und Entscheidungen180, ein unter der Oberfläche von Rechtstexten und insbesondere Verfassungen liegendes flexibles Gewebe aus Ideen, Prinzipien und Theorien181, ohne die kein erhöhtes Maß an semantischer Schärfe, kein Wissen von der Bedeutung von Rechtsbegriffen möglich ist. Zwar scheint heutzutage gerade in Europa zu einem nicht geringen Teil die Ansicht vorzuherrschen, Recht könne man einfach „machen“ und gleichsam aus dem Nichts am Reißbrett „konstruieren“; tatsächlich wird Recht aber nicht aus seiner „äußeren Form“, den staatlichen Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsinstitutionen, sondern, wie wir gesehen haben, vor allem von der Gesellschaft und ihrer Kultur auf Basis eines von diesen eingestifteten Verständnis- und Erwartungshorizontes hervorgebracht182. Rechtsbegriffe sind zwar einerseits der Sphäre des Juristischen zuzuordnen, wo sie ein „dogmatisches Ordnen“ ermöglichen und so die Ungewissheit im Recht vermindern, zugleich zirkulieren sie jedoch auch in allgemeinen öffentlichen Debatten und werden insofern auch von diesen geprägt und durchdrungen183, ja sie haben „eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge“ und „sind an eine konkrete Situation gebunden“184, die man mit unseren bisher gewonnen Erkennt 177

Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 37 f.; Teubner, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 9, 21 ff. 178 Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, 451. 179 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 122; Vesting, Rechtstheorie, Rn. 235. 180 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität, 53. 181 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 119. 182 Dazu instruktiv Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 39. 183 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 489. 184 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 82009, 31.

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§ 4 Geltungskrise

nissen auch als den allgemeinen Ordnungsrahmen des Rechts beschreiben kann, der die Interpretation semantischer Begriffe in einen sozialen Kontext einordnet und so in seinen Möglichkeiten beschränkt. 2. Das europäische Recht als Recht erhöhter Ungewissheiten In der Europäischen Union besteht jedoch wie dargestellt nicht nur dieses gemeinsame Wissen von dem Gebrauch der Sprache nur uneinheitlich185. Vielmehr ist darüber hinaus wie gezeigt auch der allgemeine Ordnungsrahmen im europäischen Kontext paradox und so offensichtlich ungeeignet, ein Rechtsprogramm mit klarer Unterscheidungskraft hervorzubringen, das wiederum in der Lage wäre, die Förmlichkeit und Einheit des Rechts zu wahren186. Im europäischen Recht kann es daher auch keine Rechtsbegriffe geben, denen eine erhöhte semantische Schärfe zukommt und die so eine verfestigte Gewissheit dauerhaft hervorzubringen vermögen würden: Das Institutionengefüge Europas entwickelt sich dynamisch und diskontinuierlich und musste in der Vergangenheit aufgrund von Veränderungen der Vertragsgrundlage sowie Erfahrungen der politischen Praxis im Verlauf des Integrationsprozesses ständig neu überdacht werden187. Dementsprechend ist auch das Europarecht ein Recht, das nicht von fest gefügten Prinzipien, sondern von Unordnung, Sprüngen, Verschiebungen und Diskontinuität geprägt ist – ein „Recht auf Rädern“188, das über keinen festen, in einer Ordnung, Formalität und Einheit verankerten Punkt verfügt, von dem aus klare Unterscheidungen getroffen und so Bedeutungen mit größerer Schärfe bestimmt und fortgeschrieben werden könnten. Das europäische Recht ist stattdessen aufgrund eines Mangels an Ordnung, Form und Einheit im besonderen Maße von einer unscharfen und fluiden Semantik geprägt. In ihm lassen sich kontinuierlich Bedeutungsverschiebungen in Bezug auf Rechtsbegriffe ausmachen, die im Unterschied zu jenen Bedeutungsverschiebungen, die auch bei nationalstaatlichen Rechtsbegriffen auszumachen sind, von zwei Umständen geprägt sind: Sie sind zum einen im besonderen Maße vom Einfluss (vermeintlich) kognitiv-technischen Wissens abhängig, dem sie sich anpassen und vor dem sie normativ zurückweichen189. Zum anderen sind sie aber auch etwas fundamental anderes als offene Rechtsbrüche, die sich auch in Nationalstaaten ausmachen lassen, da der Bruch ja gerade selbst wieder eine klare Unterscheidung ist, die wiederum eine ihr vorausgehende Unterscheidung – eine feste Bedeutung – voraussetzt, von der sich der Rechtsbruch überhaupt erst feststellen lässt. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich auch, dass die Bedeutungsverschiebungen innerhalb des europäischen Rechts in Anbetracht kognitiv geprägter Einflüsse nicht durch 185

S. o. § 3 II. 1. S. o. § 3 II., § 4 I. 187 Wallace, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 2006, 255. 188 Kirchhof, P., FAZ 12.07.2012, 25. 189 Dazu Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 223. 186

III. Semantische Ungewissheiten

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die Bemühung eines (faktisch rechtsblinden) Ausnahmezustandes, der – je nach Konzeption – sich entweder über semantische Gewissheiten bewusst hinwegsetzt oder im „Niemandsland … zwischen Recht und Leben“190 das Recht gleich ganz suspendiert191, erklärt werden kann – ist doch die Suspendierung des Rechts wie auch der offene Rechtsbruch überhaupt nur dann erforderlich, wenn eine klare, unverrückbare Vorstellung davon besteht, was das Recht genau bedeutet. Im europäischen Kontext besteht vielmehr eine derartige Gewissheit, ein derart fester Punkt, der einen unverhohlenen Bruch oder eine offene Suspendierung erforderlich machen würde, erst gar nicht. Vielmehr sind in ihm die erläuterten Umstände, die den Bedeutungskompromiss herstellen (Sprache und Ordnung), so gelagert, dass sie Bedeutungsverschiebungen subkutan, unter der Oberfläche eines unveränderten Normtextes zulassen und so das Anbringen der schweren Geschütze des „Rechtsbruches“ und des „Ausnahmezustandes“ überflüssig zu machen scheinen, wofür erneut die sich in der Eurokrise gezeigten Argumentationsmuster ein gutes Anschauungsbeispiel abgeben: 3. Auflösungserscheinungen: Der Wandel von Bedeutungen im europäischen Recht in Anbetracht kognitiver Zwänge Die Eurokrise hat nicht nur gezeigt, dass sowohl die Schar der Europarechtler als auch die europäischen Institutionen die Bemühung des Begriffes des Ausnahmezustandes peinlich vermeiden192 (obgleich es sich bei einem Staatsbankrott unzweifelhaft um eine Ausnahmesituation handeln dürfte, die die Bemühung derartiger Grenzbegriffe eigentlich nahelegt193). Auch der Begriff des Rechtsbruchs wurde von vielen Diskutanten nicht selten kategorisch zurückgewiesen194 und – was entscheidend ist – auch durch den EuGH beharrlich verneint195, obwohl auf der anderen Seite in der Debatte die Attestierung einer „Rechtskrise“196, einer rechtlichen „Obskurität“197, ja eines „Rechtsbruches“198 insgesamt omnipräsent schienen. Zwar erschüttert in der Tat nicht jede attestierte Rechtsverletzung oder jede Verneinung einer zuvor attestierten Rechtsverletzung die erwartungsstabilisierende Funktion des Rechts und damit das Vertrauen in die Festigkeit der Rechtsordnung – vielmehr wird die normative Erwartungshaltung sowie das Vertrauen in die Rechtsordnung 190

Agamben, Ausnahmezustand, 12004, 7 f. Schmitt, Politische Theologie, 18 f. 192 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 272. 193 Hitzel, DÖV 2015, 600, 605 f.; Ohler, JZ 2005, 590, 599. 194 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3633; Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 142 f. 195 So vor allem grundlegend und prominent EuGH, 27.11.2012  – C-370/12 (Pringle)  – Rn. 137. 196 Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 741. 197 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 493. 198 Haltern, Europarecht, 29; Seidel, EuZW 2011, 241, 241. 191

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durch die juristische Bewältigung von Rechtskrisen, wozu auch die Verneinung eines Rechtsbruches nach eingehender juristischer Prüfung zählen kann, für gewöhnlich bestätigt199. Auffällig ist allerdings, dass juristischen Bewältigungsmaßnahmen in Europa vor allem von einem Schema gekennzeichnet zu sein schienen: Der Attestierung eines Rechtsbruches durch die Zivilgesellschaft und Teile der (rechtswissenschaftlichen) Literatur einerseits sowie einer darauffolgenden vollständigen Zurückweisung dieses Vorwurfes durch die europäischen Institutionen und die „herrschende Meinung“ einerseits – nicht selten unter reflexartigem Verweis auf die Konstituierung Europas als „Rechtsgemeinschaft“, die Rechtsbrüche gleichsam automatisch unmöglich zu machen scheine. Ist das Europarecht daher tatsächlich von willkürlichen Machtakten geprägt, die es weder benennt noch beurteilt, sondern folgenlos geschehen lässt? Operiert es in einem „Zustand der Korruption“, der die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht aufgrund vorgeordneter Codierungen einebnet und insofern nur noch an „Attrap­pen der Rechtlichkeit“ festhält200? Eine These, die diese Fragen bejahen würde, wäre jedenfalls nach den hier bisher gewonnenen Erkenntnissen in einer solchen Radikalität nicht aufrechtzuerhalten. Denn wenn, wie wir gesehen haben, das europäische Recht strukturell ein Recht von nur verminderter semantischer Schärfe ist, in der die Umstände, die die Fassung eines festen Bedeutungskompromiss zulassen würden (Sprache und Ordnung), sich in einem Zustand der Paradoxie befinden und so permanent erratisch zwischen verschiedensten Polen hin- und herspringen, fällt die Attestierung eklatanter Rechtsbrüche schwer, da es den Rechtsbegriffen an einer hinreichend gefestigten semantisch verankerten Bedeutung fehlt, von der aus Rechtsbrüche ex ante oder ex post bestimmt werden könnten. Die enttäuschten Erwartungen, die das europäische Recht gerade in der Eurokrise hinterlassen hat und die gewöhnlich mit dem Etikett des „Rechtsbruchs“ beschrieben werden, sind daher zu einem nicht geringem Teil in Wirklichkeit Folge der dem europäischen Recht eigenen begrifflichen Ungewissheit, die noch viel mehr als im Nationalstaat einer allgemeingültige Festlegung auf konkrete Bedeutungen und Sinngehalte entgegenzustehen scheint und so stets eine breite Streuung der existierenden Erwartungshorizonte hervorzurufen pflegt, die einerseits die Beeinflussung des europäischen Rechts durch kognitive Faktoren begünstigen, andererseits immer einen gewissen Bestand an Erwartungen enttäuschen muss. Sie sind nicht unbedingt Ausdruck eines Zustands der Korruption, sondern eines Defizits auf seiner Programmebene, einem Mangel an Unterscheidungskraft, die im Wesen der Europäischen Union als fragmentiertes, multilinguales Netzwerk-Gebilde selbst angelegt sind und in Grenzsituationen nicht erst entstehen, sondern nur besonders deutlich zutage treten.

199 200

Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 506. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 81.

III. Semantische Ungewissheiten

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a) Art. 122 Abs. 2 AEUV und EFSM: Die Griechenlandkrise als unkontrollierbares, außergewöhnliches Ereignis Eines der ersten sich während der Eurokrise gezeigten Beispiele, das sowohl die Beeinflussung der Begrifflichkeiten des europäischen Rechts durch kognitive Zwänge als auch hierdurch enttäuschte Erwartungen demonstrierte, war die Einrichtung des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)201, der es der Union ermöglichte, durch die Verpfändung von Teilen des EU-Haushalts und die Aufnahme von Krediten am Kapitalmarkt Darlehen an krisengeschüttelte Mitgliedsstaaten zu vergeben. Dieses Vorgehen, das nach der bis dahin vorherrschenden Ansicht eigentlich gegen das in Art. 125 AEUV enthaltene Beistandsverbot sowie das in Art. 310 Abs. 1 AEUV geregelte Verbot der Verschuldung des EU-Haushaltes verstieß202, wurde ausdrücklich auf Grundlage des Art. 122 Abs. 2 AEUV erlassen203, der den Rat in Ausnahme zu den vorgenannten Verboten ermächtigt, in Fällen von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle entziehen“, Finanzhilfen der Union für „einen Mitgliedsstaat“ zu gewähren204. Hierzu stellte sich der europäische Normgeber auf den Standpunkt, dass es sich bei der Verschuldungskrise Griechenland um eine Folge der 2007 begonnenen Finanz- und Wirtschaftskrise und damit um ein „außergewöhnliches Ereignis“ gehandelt habe, das sich der Kontrolle Griechenlands entzog205. Diese Interpretation, die vor allem von der ökonomischen Befürchtung getragen wurde, ein Ausfall griechischer Staatsanleihen könnte zu einer Kette von Bankeninsolvenzen führen206, widersprach einer zuvor vorherrschenden Ansicht, wonach das „außergewöhnliche Ereignis“ gerade unkontrollierbar und insofern nicht durch den jeweiligen Mitgliedsstaat verschuldet worden sein durfte207 – bestanden doch 201

Vgl. Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. L 118/1 vom 12.5.2010. 202 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 244 ff., s. dazu auch unten die Ausführungen und Nachweise unter § 4 III 3 c). 203 „… gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insbesondere auf Artikel 122 Absatz 2 …“, Einleitungsformel der Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. L 118/1 vom 12.5.2010. 204 Dazu vgl. schon Europäisches Währungsinstitut, Konvergenzbericht, März 1998, 29. 205 „Nach Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags kann einem Mitgliedstaat, der aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, ein finanzieller Beistand der Union gewährt werden. Solche Schwierigkeiten können durch eine ernsthafte Verschlechterung der internationalen Wirtschafts- und Finanzlage verursacht werden.“ Erwägungsgründe (1) und (2) der Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines euro­ päischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. L 118/1 vom 12.5.2010. 206 Fuest, Plädoyer für eine Stärkung der Kompetenzen der Europäischen Union, 54 ff. 207 Bandilla, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Oktober 2006, EGV Art. 100 Rn. 10 etwa führte aus, dass zwar die „Schwierigkeiten“ verschuldet sein dürfen, das ihnen zu Grunde liegende „außergewöhnliche Ereignis“ selbst jedoch nicht verschuldet sein darf. Auch Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV: Vertrag über die Europäische Union und

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§ 4 Geltungskrise

allgemein nur wenig Zweifel daran, dass nicht die Finanz- und Wirtschaftskrise allein sondern vor allem die fehlgeleitete Wirtschafts- und Haushaltspolitik Griechenlands den Beinahe-Staatsbankrott verursacht hatten und letztere nur als Katalysator, nicht aber als Ursache derselben gewirkt haben208. Entsprechend groß und grundlegend fiel die Kritik derer aus, deren Erwartungen durch diese in Eile und aus der Not heraus geborene Volte des europäischen Normgebers enttäuscht wurden. Neben dem Wortlaut des Art. 122 Abs. 2 AEUV, der verfehlten Politik Griechenlands sowie dem offensichtlich krisengetriebenen, die bestehenden rechtlichen Einwände leichtfertig von der Hand weisenden Vorgehen der europäischen Staats- und Regierungschefs wurde vor allem aus deutscher Sicht das Handeln der Bundesrepublik scharf kritisiert: Da der EFSM in Wirklichkeit eine permanente Einrichtung gewesen und insofern schon alleine deshalb nicht vom Anwendungsbereich des Art. 122 Abs. 2 AEUV, der für vorübergehende Katastrophen gedacht sei, gedeckt sein konnte209, hätte die Bundesregierung für ihre Zustimmung zur Verordnung nach den Grundsätzen des Lissabon-Urteiles des BVerfG einer vom Bundestag und Bundesrat verabschiedeten bundesgesetzlichen Ermächtigung bedurft210. Der EuGH sei daher nicht nur dazu verpflichtet gewesen, einen solchen „eklatanten Bruch der europäischen Verträge“211 zu beseitigen212, vielmehr hätte auch das BVerfG notfalls die Verordnung, auf der der EFSM basiert, für ultra vires erklären und ihr die Anwendung im deutschen Rechtsraum versagen müssen213. Interessant ist jedoch, dass derartige rechtliche Verdikte über den EFSM seitens der Rechtsprechung nicht nur nicht gesprochen wurden214, sondern sich darüber hinaus vom Anbeginn an auch Verteidiger der vom europäischen Normgeber vertretenen Interpretation finden ließen. So finden sich Ansichten in der Literatur, nach denen die Finanzkrise ein außergewöhnliches, unkontrollierbares Ereignis dargestellt haben soll, während die vorherige Haushaltspolitik Griechenlands schlicht nicht in die Betrachtung eingestellt werden dürfe215. Ob der jeweilige MitVertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2003, EGV Art. 100 Rn. 8 befürwortete entsprechend der systematischen Stellung der Vorschrift als Ausnahme zum allgemeinen Bailoutverbot eine restriktive Auslegung der Norm. 208 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 800; Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 270; Seidel, EuZW 2011, 241, 241; Frenz / Ehlenz, EWS 2010, 65, 68. 209 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 143. 210 Seidel, EuZW 2011, 241, 241. 211 Ebd. 212 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 801. 213 Seidel, EuZW 2011, 241, 242. 214 Dies ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der EFSM  in Anbetracht seines geringen Volumens von nur 60 Mrd. Euro eine eher geringe Rolle in dem gesamten Mechanismus des Euro-Rettungsschirms gespielt hat – im Gegensatz zum EFSF oder später gar zum ESM, vgl. Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 92. 215 So schon angedacht bei Frenz / Ehlenz, EWS 2010, 65, 68; explizit vertreten schließlich von Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 240; Bandilla, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union: EUV / AEUV, Mai 2018, AEUV Art. 122 Rn. 26 f.; Häde, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 2016, AEUV Art. 122 Rn. 15.

III. Semantische Ungewissheiten

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gliedsstaat also zum Eintritt der Problemlage beigetragen habe, sei nicht entscheidend, ja vielmehr noch: Ob ein Ausnahmefall nach Art. 122 Abs. 2 AEUV oder ein Eigenverschulden des Staates vorliege, sei eine vorrangig politische Frage, die nur durch Beschlussfassung im Rat abschließend festgestellt und beurteilt werden könne216. Diese die Handlungen des europäischen Normgebers nachträglich affirmierende Ansicht, die sich schließlich durchgesetzt hat, vermochte zwar nicht, die beschriebenen Einwände gegen die Rechtmäßigkeit des EFSM zum Schweigen zu bringen. Im Gegenteil scheint es, als habe die mit ihr einhergehende komplette Zurückweisung jeden Verdachts eines Rechtsbruches gerade noch zur Verhärtung der Fronten beigetragen. Sie ist damit zugleich jedoch ein augenfälliges Beispiel für die begriffliche Unschärfe des europäischen Rechts und die Streuweite der aus ihr resultierenden Erwartungshorizonte, die die verminderte semantische Gewissheit des europäischen Rechts sowohl bedingen als auch verschärfen. b) Art. 123 Abs. 1 AEUV: Verbot unmittelbarer Staatsfinanzierung statt Verbot monetärer Staatsfinanzierung Eine ähnliche kognitiv veranlasste Bedeutungsverschiebung bei gleichzeitiger Enttäuschung bestehender rechtlicher Erwartungen war das OMT-Programm der EZB, mit dem diese beschloss, notfalls unbeschränkt Staatsanleihen krisen­ geschüttelter Mitgliedsstaaten auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen – ein vor dem Hintergrund des Art. 123 Abs. 1 AEUV vor der Krise noch undenkbarer Vorgang217. Art. 123 Abs. 1 AEUV verbietet seinem Wortlaut nach zwar nur den „unmittelbaren Erwerb“ von Schuldtiteln öffentlicher Stellen durch die EZB, was im Umkehrschluss zu bedeuten scheint, dass ein Erwerb von Schuldtiteln auf dem Sekundärmarkt schon immer zulässig war218. Vor der Krise bestand allerdings die gefestigte Erwartung, dass ein Ankauf auf dem Sekundärmarkt nur insoweit zulässig sein dürfe, wie es nicht zu einer Umgehung des Verbots des unmittelbaren Ankaufs und der monetären Staatsfinanzierung führe219. 216

Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 244. Winter, Teil I: Mehr oder weniger Europa?, 24. 218 Tutsch, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2015, AEUV Art. 123 Rn. 2; Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 39; schon vor der Finanzund Eurokrise h. M., vgl. nur etwa Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, EGV Art. 101 Rn. 5; Gnan, in: Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2003, EGV Art. 101 Rn. 35; Bandilla, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Januar 2000, EGV Art. 101 Rn. 5. 219 Bandilla, EGV Art. 101, Rn. 1, 5; Hattenberger, EGV Art. 101, Rn. 5; vgl. auch den Wortlaut des 7. Erwägungsgrundes der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, Abl. L 332/1 vom 31.12.1993: „Die Mitgliedstaaten müssen geeignete Maßnahmen ergreifen, damit die nach Artikel 104 des Vertrages [heute Art. 123 AEUV] vorgesehenen Verbote wirksam und uneingeschränkt angewendet 217

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§ 4 Geltungskrise

Diese Erwartung wurde durch das OMT-Programm weitgehend enttäuscht, da, so wurde argumentiert, ein notfalls unbeschränkter Ankauf von Anleihen auf dem Sekundärmarkt faktisch der Rolle eines „lender of last resort“ entspreche, die die Preisbildung auf dem Primärmarkt, ja die Unterscheidung zwischen unmittel­barem und mittelbarem Anleiheerwerb überhaupt verzerre und ad absurdum führe220. Denn wenn die EZB notfalls unbeschränkt Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen dürfe, sei es geradezu willkürlich, wenn ihr der Erwerb von Staatsanleihen am Primärmarkt verboten bliebe, da in einem solchen Fall der Primärmarkt ohnehin zum bloßen durchlaufenden Posten, zur bloßen juristischen Sekunde zwischen dem Ankauf durch private Investoren und deren sofortigen (risikolosen) Verkauf an die EZB verkümmere221. Ja vielmehr noch: Ein notfalls unbeschränkter Erwerb von Staatsanleihen führe durch die Anteilseignerschaft der nationalen Zentralbanken an der EZB zu einer unübersehbaren Haftungsübernahme durch einzelne Mitgliedsstaaten, für die die Union überhaupt keine Kompetenz habe222. Diese stabilisierte Erwartung über die Bedeutung und Tragweite des Art. 123 Abs. 1 AEUV vermochte sich allerdings ebenfalls nicht durchzusetzen223  – im Grunde deshalb, weil hinter dieser Interpretationsfrage der historische Gegensatz zwischen der deutschen Vorstellung von einer nur auf Preisstabilität ausgerichteten Zentralbank und dem französisch-südeuropäischen Konzept einer Zentralbank, die aktiv die Wirtschaftspolitik unterstützt und insofern keine strikte Trennung zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik kennt, stand224. Dieser dem Recht vorgelagerte und die grundlegende Vorstellung über den Ordnungsrahmen der Wirtschafts- und Währungsunion betreffende Gegensatz begünstigte eine anderweitige Interpretation der Vorschrift, der zufolge zwar ein Erwerb von staatlichen Schuldtiteln tatsächlich zu keiner Umgehung des Verbots des Erwerbs auf dem Primärmarkt führen dürfe, entscheidendes Kriterium hierfür aber einzig sei, ob die Motive des jeweiligen Ankaufs im Bereich der Geldpolitik oder aber der Fiskalpolitik zu verorten sind225. Nicht die Wirkungen eines Anleihekaufprogrammes sind nach dieser Interpretation also für die Beurteilung eines Verstoßes gegen die Verbotsnorm entscheidend – eine monetäre Staatsfinanzierung fände ohnehin ständig erlaubterweise in Gestalt von Giralgeldschöpfung durch Geschäftsbanken statt226 –, ausschlaggebend sei vielmehr sein Zweck und die mit ihm verfolgte Absicht. werden und damit insbesondere das mit diesem Artikel verfolgte Ziel nicht durch den Erwerb auf dem Sekundärmarkt umgangen wird.“ 220 Mensching, EuR 2014, 333, 344 Eine Umgehung des Art. 123 Abs. 1 AEUV im Falle des OMT-Programms bejahend Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitätspolitik, 2015, 314 ff. 221 Mensching, EuR 2014, 333, 344. 222 Kritisch gegenüber diesem Einwand Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 504. 223 Vgl. nur etwa EuGH, Urteil vom 16. Juni 2015 – C 62/14 (OMT); BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Urteil). 224 Sester, RIW 59 (2013), 451, 452. 225 Tutsch, Art. 123, Rn. 25. 226 Mensching, EuR 2014, 333, 338 f., 343 f.

III. Semantische Ungewissheiten

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Diese Öffnung des Rechtsbegriffes für den (ökonomischen) Zweck einer Maßnahme führt zu einer Situation, in der ökonomische Deutungen und Erwartungen eine rechtliche Wertung überformen und ersetzen227. Das europäische Recht öffnet sich aufgrund einer begrifflichen Unsicherheit gegenüber den kognitiv bestimmten Wertungen einer Wissenschaft, von der es sich ein höheres Maß an allgemein­ verbindlicher Akzeptanz erhofft als jene, die der „Kampf ums Recht“228 selbst hervorzubringen vermag, was letztlich seine eigene Bedeutung erheblich schmälert – ja: es scheint, als sei diese Schmälerung der eigenen Bedeutung Ausdruck und Folge seiner eigenen gesellschaftlichen Bedingungen, die einen solchen Bedeutungsverlust zu begünstigen scheinen: Das Recht zieht Konsequenzen daraus, dass es vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft nicht mehr einen allgemeingültigen Zugriff auf die Welt geben kann, sondern nur eine unüberschaubare Vielzahl gleichursprünglicher Zugriffe bestehen, die nicht nur autonom, sondern zugleich auch wechselseitig abhängig sind. Es akzeptiert so das „Eigenrecht nebeneinander bestehender Sozialtheorien“, das es in „Begriffsbildung und Normformulierung … zu einer neuartige[n] Sprachspielpluralität“ verarbeitet. Zugleich zeigt sich vor diesem Hintergrund aber auch, dass das Recht den „Totalitätsanspruch einer jeden Theorie“ abwehrt und sich „seiner einseitigen Ökonomisierung ebenso wie seiner einseitigen Politisierung, Soziologisierung, Szientifizierung oder Moralisierung“ verwehrt und „auf dem Partialcharakter der verschiedenen Sozialtheorien“ insistiert, deren Einfluss es sich nur insoweit öffnen kann, wie diese für den jeweiligen Teilbereich gültige Aussagen zu treffen imstande sind. Das Recht öffnet sich mit anderen Worten gegenüber einer transversalen Vernunft, die einerseits zwar gerade die Autonomie und Relevanz ökonomischer Expertise für das Wirtschaftsrecht zur Kenntnis nimmt, andererseits aber auch dessen jeweilige Begrenzung sowie die Eigenständigkeit des Rechts anerkennt: Es öffnet seine eigene Perspektive hin zu einem „distanzierten Umgang“, einem Mittelweg zwischen völliger Abschottung und totaler Öffnung gegenüber ökonomischen Erwägungen.229 Vor dem Hintergrund eines solchen attestierten freiwilligen Bedeutungsverlustes des Rechts, das sich anderen Teilbereichen öffnet, zugleich aber auch auf seiner Eigenständigkeit beharrt, erklärt sich auch, dass sowohl der EuGH als auch das BVerfG gewisse Vorbehalte gegen den dargestellten Einbruch ökonomischer Deu 227

Die Befürworter der Rechtmäßigkeit der EZB-Rettungspolitik berufen sich implizit, zum Teil jedoch sogar explizit auf ökonomische Argumentationsmethoden wie etwa dem der Institutionenökonomik, vgl. dazu Sester, RIW 59 (2013), 451, 451; siehe auch Slodczyk, Handelsblatt 15.02.2013. Diesen Vorrang der ökonomischen gegenüber der juristischen Deutung ausdrücklich verteidigend Pfleger, Unionsrechtliche Rahmenbedingungen der Restrukturierung von Staatsschulden, 2018, 168. 228 Jhering, Der Kampf ums Recht, 82003. 229 Teubner, in: Grundmann / Thiessen (Hrsg.), Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich / ​ Law in the Context of Disciplines: Interdisziplinäres Denken in Rechtswissenschaft und -praxis / ​ Interdisciplinary Approaches in Legal Academia and Practice, 2015, 149 f.

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§ 4 Geltungskrise

tungen in die Begriffswelt des europäischen Rechts pflegten und sich die letzte, verbindliche entscheidende Deutung wenigstens formal weiterhin jeweils selbst vorbehielten: Sie haben in ihren Entscheidungen zum OMT-Programm zwar gerade die Relevanz ökonomischer Expertise anerkannt, zugleich aber weiterhin auf der Autonomie des Rechts selbst beharrt, die einem unbeschränkten, totalen Anspruch ökonomischer Deutungen entgegenstehen muss230 – auch wenn die semantische Basis dieser Autonomie im Falle des europäischen Rechts sehr unbestimmt und damit nur wenig überzeugend ausfällt, weshalb es kaum verwunderlich ist, dass die schärfsten Befürworter einer kognitiven Öffnung des europäischen Rechts sich mit ihr nicht zufrieden geben, sondern ihr Augenmerk unverblümt auf die Interpreten selbst richten: Eine der Öffnung von Rechtsbegriffen gegenüber ökonomischen Erwägungen im Wege stehende Autonomie des europäischen Rechts sei nichts weiter als ein Fall von „richterlicher Arroganz“, die es einfach nur versäumt habe zu begreifen, dass in gewissen Situationen wie der Eurokrise „die Grenzen dessen, was das Recht und die Juristen leisten können, nahezu erreicht“ sei231. c) Art. 125 Abs. 1 AEUV: Vom Beistandsverbot zum Verbot der Beistandspflicht Kulminationspunkt dieser sich vor dem Hintergrund einer unveränderten Seman­ tik vollzogenen Veränderungen im Gefüge der Wirtschafts- und Währungsunion und wohl deutlichster und meistdiskutiertester Fall einer grundlegenden norma­ tiven Verschiebung im europäischen Recht ist die Veränderung der Bedeutung der No-Bailout-Klausel nach Art. 125 Abs. 1 AEUV, die ihrem Wortlaut nach sowohl eine „Haftung“ für als auch einen „Eintritt“ in die Verbindlichkeiten eines Mitgliedsstaates durch einen anderen Mitgliedsstaat oder die Union verbietet. Der Wortlaut des Art. 125 Abs. 1 AEUV ist im Einzelnen vergleichsweise detailliert und galt deshalb nach einer vor der Eurokrise bestehenden Erwartung insoweit als „wasserdicht“: Der historische Normgeber wollte klar und unmissverständlich regeln, dass jedes Mitglied der Wirtschafts- und Währungsunion alleine für seine Verbindlichkeiten hafte und weder mit einer Schuldübernahme noch sonst irgendeiner Form des finanziellen Eintretens eines anderen Mitgliedsstaates oder der Gemeinschaft rechnen könne232. Art. 125 AEUV verbiete, so lautete ein weit verbreitete Erwar 230

EuGH, Urteil vom 16. Juni 2015 – C 62/14 (OMT) – Rn. 66 ff. räumt der EZB zwar einen weiten Beurteilungsspielraum ein, der jedoch weiterhin der vollen richterlichen Kontrolle unterliegen soll; i. E. ähnlich BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Urteil) – Rn. 146 ff., das die ultra-vires-Kontrolle zwar für unverzichtbar erachtet, zugleich aber auch von einem Gebot der zurückhaltenden Ausübung derselben spricht. Mayer, NJW 68 (2015), 1999, 2003 spricht im Kontext des OMT-Falls insofern zutreffend von der Etablierungs einer „dilatorische[n] Kompromissformel“ zwischen der juristischen und der ökonomischen Sphäre. 231 Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 501. 232 Bandilla, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Januar 2000, EGV Art. 103 Rn. 3.

III. Semantische Ungewissheiten

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tung, jede Form der finanziellen Unterstützung eines Mitgliedsstaates233. Weder die Mitgliedsstaaten noch die Union sollten auf verpflichtender oder freiwilliger Basis irgendwelche Schulden von Mitgliedsstaaten oder deren öffentliche Institutionen übernehmen dürfen234, vielmehr sollten sämtliche finanzielle Hilfeleistungen außerhalb der ausdrücklichen Ausnahme des Art. 122 AEUV verboten sein235. Von dieser Bedeutung der No-Bailout-Klausel gingen vor der Eurokrise auch der europäische Normgeber236, erstaunlicherweise aber selbst die an der Euro-Rettungspolitik von Beginn an maßgeblich beteiligten Akteure aus: „The Treaty of Lisbon was very straight-forward. No bailout.“237 Nur vor dem Hintergrund dieser Interpretation ist es auch verständlich, dass die im Rahmen der Eurokrise ins Leben gerufenen Krisenbewältigungsmaßnahmen vor allem durch die Wahl der bereits beschriebenen „phantasievolle Formen“238 um eine Umgehung des unionsrechtlichen Beistandsverbotes bestrebt waren. Nicht nur hat die EZB ihr OMT-Programm vor allem deshalb verkündet, weil sie davon ausging, dass Art. 125 Abs. 1 AEUV es unmöglich mache, dass die Union oder einzelne Mitgliedsstaaten an ihrer statt als „lender of last resort“ fungieren könnten239. Schon der EFSF wurde vor allem deswegen als privatrechtliche Zweckgesellschaft luxemburgischen Rechts gegründet, da die Erwartung bestand, dass Art. 125 AEUV nicht gelte, wenn die Kredite nicht von den Mitgliedsstaaten, sondern über private Dritte gewährt werden240. Auch der ESM wurde aufgrund einer ähnlichen Erwägung auf die Grundlage des Völkerrechts anstatt des Unionsrechts gestellt – basierend auf der Meinung, dass Art. 125 AEUV nicht für völkerrechtliches Vorgehen gelten könne, da es keine Bestimmung im europäischen Recht gebe, die eine Sperrwirkung des Unionsrechts gegenüber einem völkerrechtlichen Vorgehen der Mitgliedsstaaten zu begründen vermöchte, insbesondere da es sich bei dem ESM um eine Maßnahme der Wirtschaftspolitik handele, die keine ausschließliche Unionskompetenz sei (Art. 2 Abs. 3, 3 Abs. 1 c), 5 Abs. 1 AEUV) und insofern nach Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 2 EUV weiterhin der uneingeschränkten 233 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 800; Bandilla, EGV Art. 103, Rn. 3; Gnan, in: Groeben / ​ Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2003, EGV Art. 103 Rn. 23; Häde, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta: Kommentar, 2007, EGV Art. 103 Rn. 3; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV: Vertrag über die Euro­ päische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2003, EGV Art. 103 Rn. 5; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, EGV Art. 103 Rn. 3. 234 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 121 f. 235 Frenz / Ehlenz, EWS 2010, 65, 67; Faßbender, NVwZ 2010, 799, 801. 236 Vgl. den Titel sowie den 1. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3604/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung des Verbots des bevorrechtigten Zugangs gemäß Artikel 104a des Vertrages, Abl. L 332/4 vom 31.12.1993. 237 Reuters / Thomas, France’s Lagarde: EU rescues „violated“ rules: report. 238 Kadelbach, Von der Krise zur Reform?, 15. 239 Sester, RIW 59 (2013), 451, 452. 240 Kube / Reimer, NJW 2010, 1911, 1913 f.

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Kompetenz der Mitgliedsstaaten unterstehe241. Auch Art. 136 Abs. 3 AEUV wurde im Hinblick auf ein solches Verständnis der No-Bail-Out-Klausel als Ausnahme­ vorschrift zu derselben eingeführt242. Da die No-Bailout-Klausel gerade für den Fall eines drohenden Staatsbankrotts zugeschnitten und auch in diesem Fall die langfristige Stabilität der Eurozone zu gewährleisten beabsichtigen schien243, wäre zu erwarten gewesen, dass sie im Falle einer Gefährdung der Stabilität des Euro aufgrund überschuldeter öffentlicher Haushalte in ihrer Bedeutung unverändert geblieben wäre244. Tatsächlich bestand jedoch von Anfang an die Erwartung der Märkte, dass Art. 125 Abs. 1 AEUV bei drohender Insolvenz eines Mitgliedsstaates niemals zur Anwendung gelangen würde; gingen sie doch bei der Bestimmung der Zinsniveaus über Jahre hinweg implizit von einer doppelte Bailout-Garantie aus: Der Haftung der Mitgliedsstaaten für ihre jeweiligen Banken sowie der Haftung und der EU und der Mitgliedsstaaten jeweils füreinander – eine sich gegen eine scheinbar klare normative Bedeutung des europäischen Rechts entwickelte Erwartung, die sich letztlich auch durchgesetzt hat245: Wenigstens seit Beginn der Eurokrise gab es auch in der Literatur mannigfaltige Versuche, Art. 125 AEUV mit allerlei juristischen Kunstgriffen so stark einzuschränken, dass er, wie es der nunmehr vorherrschenden Interpretation entspricht, praktisch leer läuft246. Der Wortlaut des Art. 125 AEUV enthalte, so wurde argumentiert, überhaupt kein Beistandsverbot der Mitgliedsstaaten;  ein solches könnte sich höchstens auf einer weit verstandenen Auslegung des Art. 125 AEUV ergeben, die gerade die deutsche Literatur zwar immer gefordert habe, in Wirklichkeit aber verfehlt sei247. Zwar fände sich in den Verträgen nur eine ausdrückliche Ausnahme von Art. 125 AEUV – die Regelung des Art. 122 Abs. 2 AEUV, der die Mitgliedsstaaten auch nicht als Geldgeber nenne -, dies bedeute jedoch nicht, dass Mitgliedsstaaten keinen finanziellen Beistand leisten dürfen, weil ihnen grundsätzlich uneingeschränkte Kompetenz zukomme, die Art. 125 Abs. 1 AEUV nicht ausdrücklich einschränke248. Aber selbst diejenigen, die die semantische Bedeutung der Norm unangetastet lassen wollten, haben sich letztlich für eine Aufweichung derselben ausgesprochen: Die Auslegung einer Norm dürfe im Ergebnis nicht dazu führen, dass das System, zu dem sie gehört – die Währungsunion – zer 241

Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 99 f.; Tomkin, German Law Review 14 (2013), 169, 174 f. Erwägungsgrund (2) des Beschlusses des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (2011/199/ EU), ABl. L 91/1 vom 6.4.2011; dazu Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 98. 243 EuGH, Urteil vom 27. November 2012 – C-370/12 (Pringle) – Rn. 135. 244 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 800. 245 Fuest, Plädoyer für eine Stärkung der Kompetenzen der Europäischen Union, 56 f. 246 Übersicht bei Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 99. 247 Sester, RIW 59 (2013), 451, 452 Fn. 11; Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 103 f. 248 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 137. 242

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stört werde249. Das Beistandsverbot nach Art. 125 Abs. 1 AEUV sei zwar seinem Wortlaut nach eigentlich absolut, jedoch teleologisch zu reduzieren, wenn seine Befolgung die Währungsunion insgesamt zu gefährden drohe250. Ja vielmehr noch: Art. 125 Abs. 1 AEUV sei im Lichte der Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUV dergestalt einzuschränken, dass die Mitgliedsstaaten dem Vertragsziel der Stabilität der Eurozone insgesamt Unterstützung und Solidarität schulden, woraus mitunter sogar eine Beistandspflicht abgeleitet werden könne251; jedenfalls aber sei es in einem solchen Falle aber wenigstens gut vertretbar, dass Art. 125 AEUV freiwillige Hilfeleistungen sowie Kreditvergaben nicht verbiete252. Diese mehr dem südeuropäischen Vorverständnis von der Wirtschafts- und Währungsunion als Solidargemeinschaft sowie den vorherrschenden politischen Opportunitäten in der Union entsprechende Interpretation wurde schließlich durch den EuGH aufgegriffen und gebilligt. Der EuGH kam bei einer Auslegung des Art. 125 AEUV unter Bemühung der „klassischen Auslegungsregeln“253 zu dem Schluss, dass die Norm „nicht jede finanzielle Unterstützung untersagt“, sondern nur diejenigen, die „zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben“254. Der Sinn und Zweck der No-­Bailout-Klausel sei es, zum einen die Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten sicherzustellen, zum anderen die finanzielle Stabilität des Euro insgesamt aufrechtzuerhalten255. Da die Hilfskredite jedoch strikt an die Umsetzung makroökonomischer Anpassungen durch die nationalen Regierungen gebunden seien, seien sie trotz der Aushebelung des Marktmechanismus noch immer geeignet, die Mitgliedsstaaten zu einer soliden Haushaltspolitik zu motivieren und insofern rechtmäßig256. Während der Sinn und Zweck des Art. 125 ursprünglich darin gesehen wurde, einen „moral hazard“, also die unverantwortliche Kreditaufnahme von Staaten auf Kosten anderer Staaten zu verhindern, verschob der EuGH also den Zweck der Norm dahin, dass Art. 125 nur sicherstellen soll, dass der jeweilige Schuldnerstaat den Marktgesetzen unterworfen bleibt257  – entweder authentisch durch den Mechanismus von Angebot und Nachfrage oder artifiziell durch eine „strikte 249

Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 102. Dieses auf einen Vorrang der staatlichen Existenz gegenüber konkurrierenden Interessen abzielende Argument findet sich allgemein in der Literatur zur Staateninsolvenz und insbesondere zur Rechtmäßigkeit von einseitigen staatlichen Schuldenerlassen, vgl. nur etwa Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 264; Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 112017, § 26 Rn. 19. 250 Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der Währungsunion und Schuldenkrise, 7; Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 102. 251 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 99. 252 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 264. 253 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 101. 254 EuGH, Urteil vom 27. November 2012 – C-370/12 (Pringle) – Rn. 130, 136 f. 255 Ebd., Rn. 135. 256 Ebd., Rn. 137. 257 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 127.

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Konditionalität“ der Hilfsprogramme, die diesen Mechanismus in seinen Wirkungen wenigstens teilweise ersetzt. Denkt man diese Auslegung des Art. 125 AEUV zu Ende, ist ein finanzieller Beistand letztlich überhaupt nur noch dann nach Art. 125 AEUV rechtswidrig, wenn er „die Koppelung der Mitgliedstaaten an die Kapitalmärkte konterkariert und so den Anreiz für eine solide und nachhaltige Haushaltspolitik durch einen Empfängerstaat beeinträchtigt“258; ja sie gleicht einem Versuch, das Recht „durch Interpretation ins Gegenteil zu verkehren“, indem es beim Begriff des „‚No Bail Out‘ durch Deutung und Umdeutung das ‚No‘“ effektiv entfallen lässt259. Der Konstruktion eines Zwecks „zweiter Stufe“ – der Stabilität der Währungsunion insgesamt – sowie einer auf dieser Basis erfolgenden restriktiven Auslegung des Art. 125 wohnt insofern der Beigeschmack der Umgehung inne; die Norm wird durch einen „juristischen Zaubertrick“ ihres Anwendungsbereiches weitgehend beraubt und ausgehebelt260, ja der Rechtsbruch drängt sich eigentlich geradezu förmlich auf261: Die Norm gilt, obwohl sie eigentlich für finanzielle Krisen gedacht ist, paradoxerweise nur noch „for good times but no longer for bad times“262. Gleichzeitig hat der EuGH es jedoch konsequent vermieden, seine Entscheidung auf ein irgendwie geartete Not- oder Ausnahmerecht zu stützen. Vielmehr stützt seine Argumentation sich formal nur auf eine wörtliche Interpretation des Art. 125 AEUV sowie einer zweischichtigen teleologischen Auslegung der Norm, die keine Referenz auf ein Ausnahme- oder Notzustand zu erfordern scheint, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen263, ja es scheint, als nehme er politische Entscheidungen und Opportunitäten gerade zum Anlass und Ziel seiner Interpretation: „Letztlich interpretiert der Europäische Gerichtshof […] den Wortlaut des Art. 136 Abs. 3 AEUV in seine Auslegung des Art. 125 AEUV hinein“264, obwohl diese Norm zum Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit des ESM, über dessen Rechtmäßigkeit er zu befinden hatte, zwar schon beschlossen, jedoch noch gar nicht in Kraft getreten war265. Dieser Kunstgriff des EuGH hat zwar teils großen Zuspruch erfahren. Er sei im Ergebnis überzeugend, weil er die „No-Bail-Out-Klausel des Art. 125 AEUV nicht leerlaufen“ lasse, zum anderen die Wirtschafts- und Währungsunion als einen „vollumfänglich kontrollierbaren Teil der europäischen Rechtsgemeinschaft“ und nicht als rechtslosen Ausnahmezustand begreife266. Das „No-Bail-Out“ werde infolge­dessen weiterhin die Regel bleiben und nur ausnahmsweise und unter stren 258

Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 101. Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 3. 260 Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 267 f. 261 Faßbender, NVwZ 2010, 799, 800. 262 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 187. 263 Ebd., 136 f. 264 Calliess, C., DÖV 66 (2013), 785, 787. 265 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 94. 266 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 97. 259

III. Semantische Ungewissheiten

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gen Auflagen im Einzelfall aufgegeben werden267. Die strikte Konditionalität, wie sie in Art. 136 Abs. 3 AEUV zum Ausdruck komme, bleibe gewahrt und es sei sichergestellt, dass Europa sich nicht still und heimlich in eine Transferunion verwandle268. Zugleich hat die Auslegung des EuGH jedoch gefestigte Erwartungen über die Bedeutung einer europarechtlichen Norm besonders tiefgreifend erschüttert, was nicht zuletzt einer der maßgeblichen Gründe für das OMT-Verfahren des BVerfG sowie des in seinem Rahmen gefassten Vorlagebeschlusses war. Das BVerfG sieht zwar in der Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV eine grundlegende Änderung in der Wirtschafts- und Währungsunion269. Zugleich sieht es aber auch den ESM und das OMT-Programm in einer funktionalen Parallele. Beide würden das Ziel verfolgen, die Liquidität von Staaten sicherzustellen und insofern vor dem Hintergrund eines nach der Rechtssache Pringle anhand des objektiven Ziels der Maßnahme zu bestimmenden Grenze zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik die Grenze zur Wirtschaftspolitik überschreiten, was Art. 125 Abs. 1 AEUV eigentlich gerade zu verbieten beabsichtige270. Art. 136 Abs. 3 AEUV, so muss man diese Ansicht des BVerfG verstehen, sei somit eher eine konstitutive Ausnahmevorschrift zu Art. 125 AEUV und schärfe damit die No-Bail-out-Klausel mehr als sie zu relativieren271. Gleichzeitig hat das BVerfG jedoch in seiner ESM-Entscheidung den Streitpunkt, ob der ESM gegen das Bailout-Verbot verstoße, auch bewusst offen gelassen und insofern eine Festlegung auf eine konkrete Bedeutung des Art. 125 Abs. 1 AEUV selbst vermieden272. Es bleibt vor diesem Hintergrund abzuwarten, wie die verschiedenen miteinander konfligierenden Erwartungen über die Bedeutung des Art. 125 Abs. 1 AEUV sich weiter entwickeln und welche hinter ihnen stehenden Kräfte sich im juristischen Kampf um die Bedeutung der Begriffe endgültig durchsetzen werden: Die Vorstellungen von einer Rechtsstaatlichkeit Europas, die stabile rechtliche Begriffe und Entscheidungen erfordert oder aber eine pragmatisch-ökonomische Sichtweise, die zuallererst darum bemüht ist, das Überleben der Währungsunion und des Integrationsprozesses sicherzustellen und insofern das „Recht der Lebenden“ gegenüber „Rechte[n], die Tote begründet haben“273, voranstellt. Der Pringle-Fall des EuGH sowie die Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV274 sind jedenfalls unzweifelhaft 267

Ebd., 105. Calliess, C., DÖV 66 (2013), 785, 793. 269 Ebd., 786; BVerfG, Beschluss vom 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Vorlagebeschluss) – Rn. 72. 270 BVerfG, Beschluss vom 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Vorlagebeschluss) – Rn. 86. 271 Calliess, C., NVwZ 32 (2013), 97, 103. 272 Kadelbach, EuR 48 (2013), 489, 492. 273 So die moralische Beschreibung des Staatsbankrotts bei Zeitlin, Der Staat als Schuldner, 1906, 87. 274 Bzw. der ihm zugrundeliegende Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, Abl. L 91/1 vom 6.4.2011. 268

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§ 4 Geltungskrise

Zeichen dafür, dass die makroökonomische Verfassung Europas sich geändert hat275. Die derzeit faktische Aufgabe des Art. 125 AEUV ist somit vordergründig zwar ein weiterer Schritt im schleichenden Prozess der Staats­werdung Europas276, ein Versuch, „die Gediegenheit ihrer politischen Struktur und die Stabilität ihrer Finanzsysteme zu festigen“277, in Wirklichkeit aber vor allem eine besonders augenfälliges Beispiel für die erhöhte semantische Unschärfe des europäischen Rechts, die derartige grundlegende Änderungen zulässt, ohne die Änderung des Wortlautes auch nur einer primärrechtlichen Norm zu erfordern.

IV. Schlussfolgerungen: Das europäische Recht als „poietisches Unsystem“ Wie wir so gesehen haben, liegt dem europäischen Recht weder ein klares Ordnungsmodell noch eine gemeinsame Sprache zugrunde, die ihm eine so starke Unterscheidungskraft und Prinzipienstärke verleihen könnten, wie sie dem Anspruch einer Rechtsgemeinschaft zu genügen in der Lage wären. Es ist daher weder in der Lage, von ihm selbst zu gewährleistende Förmlichkeiten einzuhalten, eine Einheit zu bilden noch eine hinreichend präzise und standfeste Semantik zu entwickeln. Infolgedessen ist es imstande, schleichend grundlegende Änderungen in der Bedeutung seiner Begriffe zu vollziehen, ohne hierfür auch nur irgendeine legislative Änderung zu erfordern. Das europäische Recht unterliegt somit einer fundamentalen Selbsttäuschung: Es beansprucht von sich, ein dem nationalstaatlichen Recht nicht unähnliches System zu bilden, das auf einer allgemeingültigen normativen Basis aufbaut, in Wirklichkeit ist es jedoch ein durch unterschiedliche nationale Traditionen und Sichtweisen geprägtes Fragment278, dessen augenfälligste Eigenschaft ein gegenüber nationalstaatlichem Recht vermindertes Maß an normativer Kraft und Gewissheit ist. Es ist ein Recht, mit nur verminderter Unterscheidungskraft, ein Recht der verschärften Unschärfen, das keiner „Rückkehr zum Recht“ bedarf, um seine Krisen zu lösen279, sondern in Krisen, die seine normative Kraft herausfordern, als vexierbildartige Projektionsfläche anstatt als prägender und bestimmender Akteur in Erscheinung tritt. Das europäische Recht gleicht bei derartigen Herausforderungen in seiner Wirkung einer fluiden, gallertartigen Masse, die die verschiedenen kognitiv bestimmten Strömungen in Europa auffängt, abfedert und sich von ihnen (ver)formen lässt, ohne jedoch in der Lage zu sein, ihnen selbst wiederum starke formende Kräfte entgegenzusetzen. Es ist vor allem damit beschäftigt, die ihm innewohnenden Paradoxien zu pflegen anstatt normative Rechtspflege zu betreiben und „überraschende 275

Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 119. Faßbender, NVwZ 2010, 799, 801. 277 Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 2. 278 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 161; Thym, EuR 2015, 671, 698. 279 Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 3. 276

IV. Schlussfolgerungen

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Wendungen“, die nichts weiter als ständig wirkende Wendigkeit oder Windigkeit – kurzum: als „poietisches Unsystem“ sind280, zu verarbeiten und auf sie zu reagieren, ohne sie jedoch zu lösen oder gar zu entscheiden. Das europäische Recht ist ein Recht kognitiver Abhängigkeiten und normativer Unbestimmtheit und Schwäche, ein inhärent „unscharfes“ Recht, nicht aber ein standfestes Bollwerk eindeutiger normativer Begriffe, deren Existenz schon im postmodernen Nationalstaates zunehmend fraglich erscheint. Gerade der deutsche Jurist täte gut daran, dies mehr zur Kenntnis zu nehmen als kontrafaktisch zu verdecken zu suchen.

280

Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 19.

§ 5 Fragmentverfassung: Das europäische Recht als variable Rechtsordnung I. Vorstellungen von Verfassungen in Europa und die Vorstellung von einer europäischen Verfassung Die Eigenschaften des europäischen Rechts, die in den beiden vorstehenden Kapiteln dargestellt wurden, werden gemeinhin als Defizite wahrgenommen: Recht soll, so entspricht es gerade dem Idealbild einer Rechtsgemeinschaft, ein hohes Maß an normativer Kraft und Geschlossenheit sowie begrifflicher und systematischer Strenge und Folgerichtigkeit aufweisen. Es soll normative Erwartungen stabilisieren sowie als vertrauensbildender Faktor das eigenes Verhalten im Hinblick auf das künftige Verhalten anderer einstellen und ausrichten1. Nicht die „norma­tive Kraft des Faktischen“2 soll das Recht prägen, sondern vielmehr die Kraft des Normativen wenigstens normalisierend in die politischen Handlungsund Entscheidungsmechanismen eingreifen3  – ein am klassischen europäischen Nationalstaat bemessener Anspruch, den das europäische Recht bisher jedoch nicht voll einzulösen vermochte. Denn auch wenn die europäische governance eine vielfältige Einbindung von europäischen Rechts„experten“ vorsieht und somit zumindest institutionell „a lawyers’ paradise“ sein mag4, können doch aufgrund unserer bisher gewonnenen Erkenntnisse nur wenig Zweifel daran bestehen, dass „so schön wie im nationalen Containerstaat“ das europäische Recht derzeit jedenfalls nicht zu sein scheint5. Das europäische Projekt hatte gerade zu Beginn den Anspruch erhoben, einen einheitlichen Herrschaftsverband mit einer einheitlichen Rechtsordnung herauszubilden, was, wie unsere Erkenntnisse zeigen, ihm jedoch letztlich nicht zu gelingen vermochte6. Erstaunlicherweise hat dies jedoch bisher entweder überhaupt nicht oder aber nur zaghaft zu einem Abrücken von derartigen Ansprüchen geführt, obwohl gerade Bewährungssituationen wie etwa die Eurokrise eigentlich überdeutlich gezeigt haben, dass ihre Realisierungsmöglichkeiten fraglich erscheinen. Im Gegenteil mutet es gelegentlich an, als ob Europa gerade in der europäischen Bürokratie nicht selten noch immer als „Hyperstaatlichkeit“ imaginiert werde7, 1

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 150 ff. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 341, 360, 371. 3 Heller, Staatslehre, 41970, 252. 4 Vauchez, Brokering Europe, 1. 5 So auch Calliess / Maurer, Transnationales Recht – eine Einleitung, 2. 6 Dazu auch Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 31 f. 7 Vesting, Staatstheorie, Rn. 348. 2

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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was die kontrafaktische Aufrechterhaltung derartiger Ansprüche zu erfordern scheint. Die Europäische Union ist zwar evident kein Staat, dennoch bildet der Staat noch immer den zentralen Referenzpunkt aller Überlegungen zu ihr, dem sie gleich oder doch wenigstens analog gedacht wird8 und der ein Abrücken von derartigen Konzepten und Ansprüchen scheinbar nicht zulässt. 1. Die Verfassung als europäisches Heilmittel: Der legitimistische Verfassungsbegriff Europas Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass das Heilmittel, das dem europäischen Recht von einer Allianz aus Wissenschaft und Politik standardmäßig zur Kurierung der in den vorstehenden Kapitel dargestellten Eigenschaften verschrieben zu werden pflegt, gerade das Projekt zur Schaffung einer förmlichen europäischen Verfassung ist. Analog zum Idealbild des Nationalstaates, in dem der Verfassung eine herausragende und zentrale Rolle für das gesamte Gemeinwesen zukommen soll – je nach Konzeption etwa als „Grundnorm“9, als Ausdruck einer „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit“10, als normative Letztbegründung11 oder zumindest als Vorstellungen von Stabilität evozierender Begriff12 –, sollen auch in Europa durch eine förmliche Verfassung die bestehenden Probleme gelöst und gleichsam automatisch eine Situation hergestellt werden, wie sie der in einem föderalen Bundesstaat entspricht13: Der Erfolg des Konstitutionalismus und seine scheinbare Alternativlosigkeit im Hinblick auf Staaten scheinen es nahezulegen, ihn auch auf andere, internationale Sachverhalte zu übertragen14 – und eine förmliche Verfassung soll das Instrument schlechthin darstellen, das es vermag, das einer Rechtsgemeinschaft angemessene „statist constitutional heritage“ in den „non-state context“ Europas zu übertragen15. Hinter diesen Argumenten, die vordergründig um die – gerade in der vergangenen Eurokrise offenkundig problematisch gewordene16  – Statik des Unionsrechts bedacht sind, verbirgt sich jedoch in Wirklichkeit eine größere Verheißung Europas, die in der spezifischen Verwendung des Verfassungsbegriffs in diesem Kontext begründet liegt. Der Begriff der Verfassung wird im europäischen Kontext in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht etwa im Sinne einer einheitlichen Urkunde verstanden, die verbindlich verfassungstypische Inhalte wie etwa 8

Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 9. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 249. 10 Schmitt, Verfassungslehre, 20. 11 Schilling, Harvard International Law Journal 37 (1996), 389, 394 f. 12 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1971 (1945), 77. 13 Dazu kritisch anmerkend Weiler / Wind, in: Weiler (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, 1–4, insb. 2. 14 Hierzu Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 237. 15 Walker, in: Weiler (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, 32. 16 Dazu Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 42. 9

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§ 5 Fragmentverfassung

umfassende Zielbestimmungen und Kompetenz- und Organisationsvorschriften regelt sowie mit Autorität normative Aussagen zur grundlegenden Stellung des Einzelnen im politischen Ganzen trifft17 oder die Ausdruck eines allgemeinen Grundkonsens über basale Regeln sind, auf der die Gemeinschaft gestaltet sein und ruhen soll18. Eine solche Verfassung im „neutralen“ oder auch „funktionalen“ Sinne hat Europa ja bereits in Gestalt des europäischen Primärrechts19, und ohne eine solche Verfassung könnte es als bündische Struktur auch nicht existieren, sondern müsste ins Chaos übergehen und zerfallen20. Der Begriff der „Verfassung“ hat darüber hinaus im europäischen Kontext vielmehr zwei weitere Bedeutungen. a) Verfassung als Garant der hierarchischen und autonomen Stellung Europas Mit dem Begriff der „Verfassung“ verbindet sich in Europa zunächst traditionell die Hoffnung, den spätestens mit der Entscheidung des EuGH in Van Gend & Loos urknallartig hervorgerufenen Prozess der föderalen Hierarchisierung Europas21 weiter voranzutreiben oder gar zu vollenden22: Die gerade in der Anfangszeit des europäischen Projekts noch sehr schwache europäische Bürokratie versuchte von 17

„Die Verfassung des Staates umfasst demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt.“, vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 505. 18 So der Verfassungsbegriff bei Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 15. 19 Mittlerweile ganz h. M., vgl. nur etwa Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 29 mwN, 66; Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429–466, 465; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 64; Steinberg, ZRP 32 (1999), 365, 365 ff.; Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 743; Iglesias, NJW 52 (1999), 1, 2 f.; Haltern, Europarecht, 25 f.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 142. Dagegen wird die Zuschreibung einer symbolisch-ästhetischen Dimension, wie sie für Verfassungen typisch sind, durch den europäischen Normgeber selbst ausdrücklich abgelehnt: „Der EUV und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben. Die in den Verträgen insgesamt verwendete Begrifflichkeit wird diese Änderung widerspiegeln: der Ausdruck „Verfassung“ wird nicht verwendet, der „Außenminister der Union“ wird „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ genannt und die Bezeichnungen „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ werden aufgegeben, wobei die bestehenden Bezeichnungen „Verordnung“, „Richtlinie“ und „Entscheidung“ (bzw. „Beschluss“) beibehalten werden. Ebenso werden die geänderten Verträge keinen Artikel enthalten, in dem die Symbole der EU wie Flagge, Hymne und Leitspruch erwähnt werden. Was den Vorrang des EU-Rechts anbelangt, so wird die RK eine Erklärung verabschieden, in der auf die bestehende Recht­sprechung des Gerichtshofs der EU verwiesen wird.“ Europäischer Rat, Deklaration – Schlussfolgerun des Vorsitzes vom 21./22. Juni 2007. 20 Meyer, G. / Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 82005, 179. 21 Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 38 f.; Vauchez, Brokering Europe, 116 f.; Grimm, Merkur 68 (2014), 1045, 1047. 22 Vgl. dazu Haltern, AöR 128 (2003), 511, 547; Stein, E., The American Journal of International Law 75 (1981), 1, 1.

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Beginn an, ihre Machtbasis gegenüber den Mitgliedsstaaten dadurch zu stärken, dass sie sich als objektive Verteidigerin eines europäischen Allgemeininteresses auf der fiktiven Grundlage eines „Verfassungsvertrages“ – der römischen Verträge – gerierte, um damit insbesondere den politischen Ansprüchen der französischen Regierung, die es zunächst ablehnte, in der Kommission mehr als das koordinierende Sekretariat einer intergouvernemental agierenden internationalen Einrichtung zu sehen, entgegenzutreten23. In der Abwesenheit allgemein anerkannter Kompetenzund Entscheidungsspielräume sowie der fehlenden Möglichkeit, innerhalb der Institutionen der Mitgliedsstaaten selbst Einfluss zu nehmen, bestand die einzige Möglichkeit der Kommission, Diplomaten und Ministern mit einem Überordnungsanspruch entgegenzutreten, darin, die römischen Verträge als eine Art „QuasiVerfassung“ aufzubauen und sich entsprechend auf sie zu berufen24. Ganz in dieser Tradition soll eine europäische Verfassung bewirken, dass nicht mehr die mitgliedsstaatlichen Zustimmungsgesetze die Grundlage Europas bilden und folglich die Mitgliedsstaaten die „Herren der Verträge“ sind25, die zu den europäischen Institutionen und ihrem Recht aufgrund ihrer hiermit einhergehenden Stellung als „verfassungsgebender Gewalt“26 in Konkurrenz treten können27. Vielmehr soll eine europäische Verfassung die verfassungsgebende Gewalt autonom auf die europäische Ebene heben28, sie somit endgültig von den Mitgliedstaaten ablösen und diese in ihrer Stellung zu bloß verfassten Organen transformieren, die den Vorrangansprüchen Europas nichts mehr entgegenzuhalten vermögen29. Die gegenwärtig bestehenden „hinkende[n] Abhängigkeitsverhältnisse“, die aufgrund wechselseitiger Dependenzen zwischen Europa und den Nationalstaaten normativ postulierte Hierarchie- und Vorrangvorstellungen faktisch nur begrenzt zulassen30, sollen restlos überwunden werden: Die europäische Rechtsordnung soll sich trotz ihrer inzwischen tatsächlich bereits bis zur Ununterscheidbarkeit gehenden Ver 23

Vauchez, Brokering Europe, 23 f. Ebd., 22. 25 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 112. 26 Dazu Zuleeg, in: Blomeyer (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, 12. 27 So aber deutlich BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009  – 2 BvE 2/08 (Lissabon-Urteil)  – Rn. 235; Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 367; Heintzen, AöR 119 (1994), 564, 565 f.; aus diesem Grunde die Verfassungsfähigkeit der Union ablehnend Piris, EuR 2000, 311–350, 322. 28 So interessanterweise in den 1970er-Jahren in Ansätzen bereits das BVerfG, Beschluss vom 29.05.1974 – 2 BvL 52/71 (Solange I) – Rn. 22, bevor es eine zunehmende Kehrtwende vollzog: „Der Senat hält – insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechts­ ordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt […]; denn die Gemeinschaft ist kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern ‚eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art‘, eine ‚zwischenstaatliche Einrichtung‘ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG.“ 29 Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 533 f. 30 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 255. 24

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wobenheit mit den nationalen Rechtsordnungen31 von einem vertikal ausgerichteten Regime, das nur die Mitgliedstaaten und die Union bindet und in diesen Bindungen stets auf unauflösbare Konflikte stoßen muss, vollständig in ein horizontales Regime weiterentwickelt werden, das alle Rechtspersonen, sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche und damit insbesondere auch die Mitgliedsstaaten selbst, umfassend einbindet, ihnen Rechte und Pflichten auferlegt32 und damit letztlich auch direkt und unmittelbar dem normativen Hoheitsanspruch Europas unterwirft. In einem solchen Europa – so die Hoffnung – wäre es dann endlich möglich, bestehende Probleme durch „mehr Europa“ effektiv zu lösen, etwa indem man die gegenwärtig mangelnde Haushaltsdisziplin in der Eurozone „par ordre de Mufti“ aus Brüssel bewältigt33. b) Verfassung als Legitimität evozierende Beschwörungsformel Zugleich soll mit einer europäischen Verfassung ein solches föderales und hierarchisches „law-and-order-Europe“ aber auch noch legitimiert werden. Anders als im neutralen Sprachgebrauch und auch anders als im spezifischen Begriffsapparat der Juristen, der den Begriff der Verfassung seit den Zeiten der mittelalterlichen Herrschaftsverträgen sowie des Frühkonstitutionalismus überwiegend als Instrument der Herrschaftsbegrenzung und Herrschaftsorganisation versteht, wird der Begriff der Verfassung in Europa ähnlich wie zu Zeiten der französischen und amerikanischen Revolutionen legitimistisch, d. h. als Instrument der Herrschaftsbegründung verstanden34. Ein solcher Zusammenhang zwischen dem Begriff der Verfassung und dem Gedanken der Legitimität ist in der Sache keinesfalls zwingend35 und zeigt, dass die Frage nach der europäischen Verfassung vordergründig zwar ein Streit um juristische und politische Begriffe, hintergründig jedoch vor allem eine Frage nach der Legitimität und Finalität europäischer Hoheitsgewalt ist, die ihren Einsatz aus tief verwurzelten, halbbewussten Vorstellungen speist, welche die Verfassung mit einer geradezu sakralen Weihe versehen, ja zu einer Art Ersatzgebilde für verlorene religiöse und traditionelle Rückhalte und zum Symbol und Ausdruck der politischen Einheit zu machen scheinen36: Der legitimistische Verfassungs­begriff wertet ein konstitutionelles politisches Gebilde zum Verfassungsstaat auf37, und 31

So inzwischen die Diagnose bei Calliess / Maurer, Transnationales Recht – eine Einleitung, 2. Stone Sweet, in: Slaughter (Hrsg.), The European court and national courts – doctrine and jurisprudence: Legal change in its social context, 2003, 306. 33 Ladeur, Die Welt 24.07.2018; zu diesem Problem auch Wieland, JZ 67 (2012), 213, 216. Einen Überblick über den derzeitigen Stand der Anerkennung des Vorrangs des EU-Rechts in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten findet sich bei Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013, 57 ff. 34 Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429–466, 434; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 67. 35 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 250 f. 36 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 31 f. 37 Ebd., 66 f. 32

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nur ein europäischer Verfassungsstaat, so liest man, könne das bestehende Legitimationsdefizit in der EU beheben38. Der legitimistische Verfassungsbegriff, wie er im europäischen Kontext verwandt wird, ist ein „Idealbegriff“39, ein „code for legitimate government“40, ein symbolisches „general discursive register“, das mit Verheißungen von Demokratie, Gleichheit, Gewaltenteilung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit usw. verwoben und assoziiert ist41: Da alle Mitgliedsstaaten rechtsstaatlich, demokratisch und sozialstaatlich, mithin verfassungsstaatlich konstituiert sind, müsste auch eine europäische Verfassung untrennbar mit den Prinzipien der Demokratie, Menschenrechte und Herrschaft des Rechts ausgefüllt und verflochten sein42. Die Verfassung hat zwar eigentlich nur aus positivistischer Sicht die Funktion der Rechtfertigung des Rechts inne, nach ihrem legitimistischen Verständnis streitet jedoch selbst aus nichtpositivistischer Sicht wenigstens eine Vermutung zugunsten der Legitimität einer Norm, die in Übereinstimmung ihr erlassen wurde43 – und es ist diese „Zusammengehörigkeit der formellen und der materiellen Verfassungseigenschaften“44, diese Aufladung des Verfassungsbegriffs mit politischen Versprechungen und Legitimitätsrhetoriken, die ähnlich wie die Begriffe des „Verfassungspatriotismus“45 oder der „Rechtsstaatlichkeit“ noch vor jeder inhaltlichen Entfaltung zuallererst starke unbestimmte emotionale Assoziationen an eine gute politische Ordnung evozieren46, ja diese eigentümliche und diffuse Oszillation zwischen Schmitt und Kelsen, die gerade das Spezifikum des europäischen Verfassungsdiskurses zu bilden scheint47. c) Grund für die Übertragung der Vorstellungen vom Verfassungsstaat auf Europa: Begründung eines europäischen Gesellschaftsvertrages Der Grund für dieses legitimistische, am Ideal des europäischen Verfassungsstaates bemessene Verständnis von Verfassung ist letztlich eine tiefe Unsicherheit darüber, wie die europäische Hoheitsgewalt sowohl gegenüber den souveränen National­staaten als auch gegenüber dem Einzelnen gerechtfertigt werden kann. 38

Langfeld, FAZ 09.09.1999.; dazu auch Piris, EuR 2000, 311–350, 311 Schmitt, Verfassungslehre, 36. 40 Walker, Postnational constitutionalism and the problem of translation, 38 f. 41 Ebd., 33. 42 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 68. 43 Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 18. 44 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 52. 45 Dieser auf Dolf Sternberger zurückgehende Begriff soll vor allem eine emotional integrierende Kraft der Verfassung beschwören, vgl. dazu Sternberger (Hrsg.), Verfassungspatriotismus, 1990, passim. 46 Kahn, Law and Love, 2000, 171. 47 Weiler, in: Weiler (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, 12 f. 39

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Während gegenwärtig trotz der supranationalen, von den Mitgliedsstaaten partiell emanzipierten Verfasstheit der Union48 und dem Anspruch ihres Rechts auf unmittelbare und direkte Wirkung paradoxerweise noch immer intergouvernementale Verträge als „rechtssetzender und verfassungsgebender Vertragsschluss“ die Grundlage der Union bilden49, versucht das europäische Verfassungsprojekt, die Rechtfertigung des Daseins und Wirkens der Union direkt bei den ihr unterworfenen Individuen – genauer gesagt: bei deren Freiheit – zu verankern: Freiheit ist, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit zusammen bestehen kann, […] das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht“50 – und wenn Europa kraft Zustimmung seiner Menschen unmittelbar auf einer freiwilligen Einschränkung dieser Freiheit, auf einer „Selbstbestimmung des einzelnen als Element der Menschenwürde“51 wurzeln könnte, wäre es sowohl in seinem Bestand als auch in der Begründung seiner Hoheitsgewalt von den Mitgliedsstaaten unabhängig. Sie wäre auf einen eigenständigen europäischen „contrat social“ begründet, der die europäischen Völker zu einem einzigen multiethnischen Volk als Verfassungsgeber zusammenschweißen52 und folglich Europa in seinen Legitimitätsreserven den Mitgliedsstaaten scheinbar wenigstens ebenbürtig gegenüberstellen würde. Ein solcher Versuch, die „europäische Verfassung“ vertragstheoretisch zu rechtfertigen, erscheint auf den ersten Blick naheliegend – muss es sich bei ihr doch ohnehin notwendigerweise um eine „Vertragsverfassung“ handeln53, die dann gewissermaßen auf einer zweiten Sinnebene auch noch durch die symbolische Zuschreibung des Charakters eines Gesellschaftsvertrages als Legitimitätsanker ergänzt werden würde. Ein Gesellschaftsvertrag, zu dem tatsächlich alle Individuen zustimmen, kann es freilich unter demokratischen Bedingungen eigentlich überhaupt nicht geben; er ist allenfalls eine Fiktion54, ein „Gedankenexperiment“55, eine bloße „Idee“56, die als hypothetischer Vertrag nicht auf einer autonomen Zustimmung der ihm Unterworfenen, sondern allenfalls auf deren stillschweigender Zustimmung durch Befolgung und Nichtauflehnung beruhen kann57 und der daher 48 Zur Ambivalenz von verfassungsgebenden Gewalten in bündischen Strukturen, die nach dem Akt der Verfassungsgebung zugleich selbst zu verfassten Gewalaten werden vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 774 f., 780; Möllers, C., Staat als Argument, 22011, 350 ff. 49 Zitat bei Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 59; zu diesem Problem Tömmel, Das politische System der EU, 65. 50 Kant, Die Metaphysik der Sitten, AB 45. 51 Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 162; vgl in diesem Kontext Kant, Die Metaphysik der Sitten, A 166 B 196, demzufolge jeder Staatsbürger die Freiheit hat, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Bestimmung gegeben hat“. 52 Häberle, DVBl. 2000, 840, 846. 53 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 524, 234 ff. 54 Arrow, Social choice and individual values, 21970, 22 f., 59. 55 Höffe, Ethik und Politik, 2008, 213. 56 „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprünglich Kontrakt …“, vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, A 169 B 199. 57 Rawls, A theory of justice, 52003, 16.

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nur als Imagination eine hohe legitimitätsbegründende Kraft zukommt. Verkörperung und Symbol dieser Imagination kann jedoch die Verfassung sein, die jenen politischen Grundkonsenses regelt, dem selbst pluralistische Gesellschaft als Basis notwendig bedürfen und insofern wenigstens in reduzierter Form eine Art Gesellschaftsvertrag über das Zusammenleben darzustellen vermag58. Die Union wäre in der Imagination eines Gesellschaftsvertrages in Gestalt einer Vertragsverfassung allerdings noch wesentlich anspruchsvoller: Da sie anders als der Nationalstaat, der als politische Organisation eines Nationalvolkes vor und unabhängig von der Verfassung existiert, niemals ohne eine rechtliche Verfasstheit bestanden hat, ja ohne eine solche auch gar nicht bestehen kann, weil sie keine „natürliche“ Gemeinschaft ist59, müsste eine europäische Verfassung einen Gesellschaftsvertrag nicht nur symbolisieren, sondern ihn gewissermaßen auch gleich in seiner Gänze darstellen60. Sie wäre der einzige Umstand, an dem die fiktive Existenz eines europäischen Gesellschaftsvertrages ausgemacht werden könnte und damit der Fluchtpunkt, auf den alle Auffassungen über die Existenz und das Recht Europas zulaufen müsste61. Eine europäische Verfassung im Sinne der Verkörperung eines politischen Grundkonsenses würde die Union insofern nicht nur organisieren, sondern vielmehr erst schaffen und damit in ihrer gesamten Existenz rechtlich determinieren62. Für die Verfassung würde dies nicht nur bedeuten, dass sie in besonderem Maße der Akzeptanz ihrer Bürger bedürfte, um die Existenz der Union nicht zu gefährden63. Um eine solche hohe Akzeptanz dauerhaft zu gewährleisten müsste ihr vielmehr auch ein Verfassung- und Integrationsverständnis zugrunde liegen, nach dem „das (Verfassungs-)Recht nicht in seiner Eigenschaft als Verhaltensregel, sondern als emotionaler Kristallisationspunkt“ begriffen wird, d. h. als „ein Rechtstext, der erstens überhaupt für Bürger als Einheit erkennbar ist, zweitens von ihnen als bedeutsam und prinzipiell legitim gewürdigt wird, und drittens spezifische identitätsstiftende, symbolische, appellative und edukatorische Gehalte“ enthält64. Dies wäre wiederum nur zu erreichen, wenn die „legitimierenden sachlichen Gehalte“, die in der Verfassung enthalten sind, zugleich als „sachliche Integrationsfaktoren“ wirkten und insofern die „Legitimierung der positiven Staats- und Rechtsordnung“ mit der sachlichen „Integrationsabsicht“ zusammenfallen würde65 – oder anders 58

Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 526. Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 30. 60 Hallstein, Die EWG – eine Rechtsgemeinschaft, 343 f. 61 So ähnlich Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 257, demzufolge alle Auffassungen über globales Recht letztlich auf den Verfassungsbegriff zurückfallen. Kjaer, Between governing and governance, 13 hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Union eine Art Hybridwesen zwischen den Sphären der Nationalstaaten und der globalisierten Welt ist und insofern wesentliche Eigenschaften der Letzteren in sich trägt. 62 Hofmann, JZ 54 (1999), 1065, 1066. 63 Grimm, Europa ja – aber welches?, 7. 64 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 89 f. 65 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, 217, 265. 59

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gewendet: wenn die in der Verfassung enthaltenen Werte eine derart große pathetische Strahlkraft zu entfalten vermöchten, dass ihre Legitimität und Rechtfertigung gewissermaßen aus ihnen selbst herzustellen wäre. 2. Über den notwendigen Zusammenhang zwischen dem legitimistischen Verfassungsstaat und primordialen Bindungen a) Bindung kraft Vernunft? Hier stößt das europäische Verfassungsprojekt jedoch bereits an sein erstes grundlegendes Problem: Europa mag zwar als Projekt zur Friedenssicherung mit einem gewissen pazifistischen, sich selbst zu erklären und zu rechtfertigen vermögenden Pathos verbunden sein. In ihrer großen Tendenz ist die europäische Integration jedoch gerade im 21. Jahrhundert zuallererst ein „vernunftgeleitetes Projekt der Aufklärung“66, das seine impliziten, auf ein „innere[s] Zusammenwachsen der Menschen“ ausgerichteten Integrationsziele67 „auf dem Weg über die Wirtschaft“ angeht, der zugleich aber auch schon ein großes Stück seines Integrationszieles und der mit ihm verbundenen wohlfahrtsstaatlichen Versprechungen darstellt68. Sie gründet auf der grundlegenden Annahme, dass Legitimität und Recht nicht auf Mythologien, sondern auf Vernunft beruhen und eine gefühlsmäßige Identifikation des Bürgers mit dem Gemeinwesen letztlich keine Funktionsvoraussetzung für eine politische Organisation darstellt69, wofür die nüchterne, technokratisch-kühle Erscheinung der Union einschließlich des funktionalistischen Gepräges ihrer Architektur ein beredtes Zeugnis darstellen70. Auf den ersten Blick scheint eine förmliche Verfassung einem solchen vernunftgeleiteten politischen Projekt eigentlich passend und angemessen zu sein: Verfassungen bewirken nicht nur die Organisation der Macht, sondern auch die strukturelle Kopplung von Recht und Politik, d. h. sowohl die geregelte Begrenzung als auch die geregelte Entfaltung von Politik71, was der Rationalisierung der Macht und des politischen Prozesses förderlich ist72. Da Recht wiederum der Stabilisierung normativer Erwartungen dient, würden durch die strukturelle Kopplung zugleich

66

Haltern, AöR 128 (2003), 511, 548. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 88. 68 Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 26. 69 Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429–466, 444. 70 „The answer is right there, in its face, on its own website. Look up the things I have pointed out above (flag, anthem, prizes), and you will have an intuitive understanding of the citizens’ complete indifference towards ‚their‘ Union.“ Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 32. Zur ästhetischen Dimension Europas insgesamgt vgl. aber Haltern, Europarecht und das Politische, 39. 71 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 407 ff., insbes. 416, 418. 72 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, 88 f.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 79. 67

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die an die Politik herangetragenen Erwartungen stabilisiert und diese hierdurch in ihrer Legitimität gesteigert werden73, was eine Verfassung wiederum gewisser­ maßen aus sich selbst heraus rechtfertigen könnte: Eine europäische Verfassung könnte die Aufgabe wahrnehmen, einen einmal gefundenen Konsens über das grundlegende Verhältnis zwischen Politik und Recht generationenübergreifend fortzuschreiben und in legitimitätssteigernder Weise zu stabilisieren74. Sie könnte einen idealen historischen Sinn verkörpern, der durch die Verfassungsinterpretation immer wieder aufs Neue wie aus einer antiken Steintafel entziffert und zur Lösung bestehender Probleme und Konflikte herangezogen werden könnte75. Paradoxerweise bewirkt in der spezifischen Konstellation Europas jedoch gerade die Dominanz der „rationalen“ Motive in ihrem Integrationsprozess, dass die Rationalisierung der in seinem Kontext ausgeübten Macht durch die Setzung einer förmlichen Verfassung nicht weiter vorangetrieben werden könnte. Denn ein historisch bedeutsamer und fortschreibungsfähiger Grundkonsens kann nicht artifiziell durch eine Verfassungsgebung hergestellt werden. Die Errichtung und Pflege eines Verfassungsstaates basiert noch nicht einmal auf einem solchen zu einem konkreten Zeitpunkt erreichten Konsens über grundlegende Werte, etwa auf einer Einigung über das Bestehen grundlegender Freiheits- und Gleichheitsreichte, sondern vielmehr auf einer diese Werte rezipierenden Kultur, in der sich die Verfassung zu spiegeln und in ständige Wechselwirkung zu treten vermag76. Um die an eine Verfassung gewöhnlich herangetragenen Erwartungen zu erfüllen genügt es daher nicht, wenn sie bloß formal gültig ist. Sie ist nicht nur Rechtsnorm, nicht nur „Norm der Normen“, sondern auch „Daseinsweise“77. Sie hat eine sozio-politische Dimension, die als „gesellschaftliche Wirklichkeit“ gegenüber der „Rechtsverfassung“ verselbstständigt ist78 und der eine „integrierende Wirklichkeit“ zukommen muss, die die Einheit und den Zusammenhalt des politischen Gemeinwesens und damit die Wirksamkeit der Rechtsverfassung erst herstellt79. Erforderlich ist daher, dass die Verfassung von allen Betroffenen auch tatsächlich befolgt wird: Sie muss mit der Staatsgesellschaft wechselseitig verwachsen und symbiotisch verbunden sein, um ihre Wirkung entfalten zu können80. Dies setzt jedoch wiederum voraus, dass etwas existiert, das von der Verfassung nicht nur unabhängig ist, sondern ihr auch vorausgeht: Eine von Gemeinsamkeiten geprägte gesellschaftliche Kultur und eine politische Form, ja: eine sozio-politische Einheit,

73

Kjaer, Between governing and governance, 142. So die Erwartungen an eine Verfassung bei Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 2002, 427 f. 75 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 548. 76 Vesting, Staatstheorie, Rn. 179. 77 Schmitt, Verfassungslehre, 4 ff. 78 Heller, Staatslehre, 249 ff. 79 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 192. 80 Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, 152. 74

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an die die Verfassung anzuknüpfen vermag und die es im Gegenzug annimmt, die Verfassung als Bestimmung ihrer normativen Gestalt zu betrachten81. Die „erste Verfassung“ eines politischen Gebildes, die erst alle weiteren Verfassungen und Verfassungsänderungen ermöglicht, ist daher nicht durch einen einmaligen Akt der Verfassungsgebung gesetzt, sondern bereits durch die Besonderheiten des Daseins des politischen Gebildes an sich vorgegeben, ohne deren Berücksichtigung keine förmliche Verfassung möglich ist, sofern diese nicht nur eine „unvollziehbare Vorstellung“ sein will82. Es sind die kognitiven Infrastrukturen eines politischen Gebildes, die sein Dasein und hierdurch wiederum seine Verfassung bestimmen; sie bilden die entscheidende, das Dasein und damit die Verfassung erhaltene Macht, ohne die keine Verfassung bestehen kann83, ja: das Recht im Allgemeinen und die Verfassung im Besonderen bedürfen notwendig einer ihren Zielen und Ansprüchen geeigneten kognitiven Infrastruktur, die sie als kulturelle Leistung sowohl prägen als auch bedingen84. Es sind die aufgrund komplexer kognitiver Voraussetzungen und Umstände gegebenen „tatsächlichen Machtverhältnisse“, die die Verfassung eines politischen Gebildes bestimmen85, und es ist folglich das „Recht der Verhältnisse“, nicht aber das „Recht der Gesetze“, das die Verfassung macht86. b) Das Erfordernis der „inneren Integration“ durch primordiale Bindungen und die Nation als Trägerin derselben Legitimität lässt sich daher nicht rational am Reißbrett oder in der Retorte begründen und herstellen87. Zwar mag es angehen, dass eine Verfassung keine Legitimität mehr zu erzeugen vermag, wenn „sich nicht die Vernunft ihrer orientierenden, ihrer zukunftsweisenden Gehalte vergewissert hat“, sondern sie allenthalben als unvernünftig betrachtet wird88. Eine Verfassung erfordert jedoch noch vor jeder rationalen Prüfung ihrer Vernünftigkeit und Zukunftsfähigkeit ein Vertrauen in die sie regelnden  Institutionen und Systeme89, was wiederum ein gewisses Maß an gemeinsamer Loyalität gegenüber denselben voraussetzt. Loyalität jedoch ist eine kognitive Eigenschaft, die als „Ausdruck des historischen Selbst“ aus der Vergan 81 Schmitt, Verfassungslehre, 21, 50, 200; vgl. ähnlich Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, 13, demzufolge eine Verfassung es dann vermag, eine große normative Kraft zu entfalten, wenn sie „vom allgemeinen Bewußtsein als sachgemäße und gerechte Ordnung bejaht und getragen wird“ sowie „die geistige Situation ihrer Zeit in sich aufnimmt“. 82 Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 18821969, 266. 83 In Anlehnung an Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 505. 84 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 49. 85 Lassalle, Über Verfassungswesen, 17, 20, 23. 86 Stein, L., Zur preußischen Verfassungsfrage, 2002, 58. 87 Dazu instruktiv Haltern, AöR 128 (2003), 511, 537 f. 88 Habermas, Faktizität und Geltung, 609. 89 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 502.

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genheit geschöpft und insofern von eudämonistischen Gesichtspunkten wie Vernunft und Gerechtigkeit nur wenig geprägt ist90. Sie kann als kollektives Phänomen nur aus einer gemeinsamen Identität, ja aus einer kollektiven primordialen Bindung erwachsen91, die sich in der Vergangenheit auf Grundlage eines Gründungsmythos, wie er etwa durch einen Bürgerkrieg geschaffen werden kann92, gebildet hat und die zu perpetuieren gerade eine der Hauptfunktion einer Verfassung sein muss93. Verfassungen transportieren Sinngehalte, der in ihrem Text nicht enthalten ist, sondern über ihn hinausgeht94; sie „dienen als Speicher von Sinn einer (politischen) Gemeinschaft“, als ihr „Wissens- und Gedächtnisort“, der bei modernen Gesellschaften nicht mehr rituell, sondern textuell zu verorten ist95. Dieser Sinn, ja diese – so könnte man sie historisch einordnen -„bürgerliche Religion“ im Sinne eines „rein bürgerliche[n] Glaubensbekenntnis … als Gesinnung des Mitein­ander“96 kann von der Verfassung daher nicht selbst hergestellt, sondern nur rezipiert und perpetuiert werden – und der Versuch, ihn dennoch nur durch die Verfassung selbst „rein nach Prinzipien der Vernunft und Erfahrung gründen zu wollen“, muss folglich „im hohen Grade misslich“ sein97. Der Rahmen, der diese primordialen kognitiven Infrastrukturen aus Vertrauen, Loyalität, Legitimität und historischem Sinn in der europäischen Geschichte bisher hergestellt, konstitutionell miteinander verwoben und hierdurch eine „innere Integration“ des politischen Gemeinwesens hervorzubringen vermochte, war der Nationalstaat98. Im Nationalstaat verband sich die Vorstellung von einem „schicksalhaft zusammengeschweißten“ Volk, das sich zu einer politischen Form, – dem Staat – als „Existenz- und Lebensform“ konstituierte99 und in dem daher primordiale Bindungen und politische Existenz zusammenfielen100 sowie in einer Staats 90

Haltern, AöR 128 (2003), 511, 528 ff. „By primordial attachment is meant one that stems from the ‚givens‘ – or, more precisely, … the assumed givens – of social existence: immediate contiguity and kin connection mainly, but beyond the givenness that stems from being born into a particular religious community, speaking a particular language, or even a dialect of language, and following particular social practices. These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves.“ Geertz, in: Geertz (Hrsg.), The interpretation of cultures: Selected essays, 1993, 259. 92 Kriele, Einführung in die Staatslehre, 51994, 48: „Am Anfang stand der Bürgerkrieg“. 93 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 532 ff. 94 Ebd., 525. 95 Ebd., 532. 96 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 2011, 4. Buch, 8. Kap., 140, 151. 97 Humboldt, in: Flitner / Giel (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, 2010, 91. 98 Dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 88; Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 502. 99 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 406 ff. 100 Dies wird im 19. Jahrhundert wohl am deutlichsten vertreten von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 21965. 91

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verfassung sinnvoll und wirkmächtig miteinander verbunden wurden. Auch wenn der Begriff der Nation sowie die Umstände seiner Entstehung im Einzelnen sehr unterschiedlich sein mag101 verbindet sich mit ihm doch eine starke sinn-, gemeinschafts- und loyalitätsstiftende Bindung, ja gar eine Form der triebhaften Nahbindung102, die in ihrer Kraft bis hin zur Erzeugung der Bereitschaft zum Tod der in ihm bestehenden Individuen als „Bürgeropfer“ geht, wie nicht zuletzt zwei Weltkriege in Europa eindrücklich demonstriert haben: Die Nation ist eine „form of consciousness, an essential secular view of reality, whose social-political component rests on the principles of fundamental equality of membership in a community and popular sovereignty“103. Sie vermag es, histo­ rische Kontinuität zu suggerieren, indem sie kontingente historische Ereignisse zu sinnstiftenden Erfahrungen zusammenfügt: Ihre Spuren verlieren sich in einer die individuelle Erinnerung überschreitenden Vergangenheit, die zugleich in eine endlos und ewig scheinende Zukunft hineinragt und so eine zufällig anmutende Vielfalt an Erfahrungen als gemeinsames Schicksal darzustellen und mit Sinn zu erfüllen vermag104. Hierdurch stiftet sie eine Form der Gemeinschaft und des Zusammenhalts, durch die einzelne Individuen sich nicht nur als gegenseitige Empfänger eines Versprechens oder als Partner eines Gesellschaftsvertrages sehen, sondern vielmehr durch ihre bloße schicksalhafte Existenz, ihre scheinbar unhinterfragbare und unumgehbare „Geworfenheit“105 derart miteinander in Beziehungen treten, dass sie sich nicht mehr als Fremde begegnen und sich daher zueinander solidarisch und loyal verhalten müssen106 – eine Gemeinschaft, die es sogar ermöglicht, den elementaren Unterschied zwischen Herrscher und Beherrschten symbolisch einzuebnen107: Die Nation erzeugt jene Nähe, mit der die politischen Ordnungen angefangen haben – die Nähe, die natürlich aus einem Zustand folgt, in dem jeder jeden zu kennen und zur Mitwirkung am politischen Gemeinwesen berufen zu sein scheint und die es eigentlich nur in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften gibt; sie vermag es, diese Eigenschaften von der parochialen, „subnationalen“ Ebene, auf der die europäischen Gesellschaften noch bis ins 18. Jahrhundert organisiert waren, auf die weitaus größere Organisationseinheit der Nation zu übertragen108. 101

Vesting, Staatstheorie, Rn. 167 ff.; vgl. auch Manent, A world beyond politics?, 59, der vor allem zwischen der „French conception of the nation – as a free choice, ‚a daily plebiscite‘“ und der „German conception of the nation as a community of language and race“ unterscheidet. 102 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2004, § 24 Rn. 26, 28. 103 Greenfeld, Mind, Modernity, Madness, 2013, 2. 104 Anderson, Imagined communities, 2016, 11 f. 105 Zu diesem Begriff vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 2018, 233 ff. 106 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 529; vgl. dazu auch instruktiv Manent, A world beyond politics?, 58: „Democracy and the nation are both factors of internal homogenization. Social and religious differences, differences between town and country, all these diversities tend to fuse into the nation – France – or into the democratic republic. The peasants become ‚Frenchmen‘ at the same time they become ‚citizens‘“. 107 Manent, A world beyond politics?, 57. 108 Ebd., 44 f., 55, 60; vgl. auch Manent, Metamorphoses of the city, 2013, 17 ff.

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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c) Folge: Die Nation als notwendige Voraussetzung eines Verfassungsstaates Das Konzept der Nation hat in der europäischen Geschichte also entscheidend dazu beigetragen, dass Menschen sich jenseits der Welt der eigenen Familie, der eigenen Polis oder des eigenen Stammes als zu einer Gruppe zugehörig wahrgenommen und hierdurch eine kollektive Identität entwickelt haben109. Die Nation erzeugt eine kollektive Wirklichkeit, die als kognitiver Prozess auf „gleichgerichteten Zuordnungsprozessen“ beruht110 und damit zugleich auch die Voraussetzung für die Legitimität des liberalen Staates und der repräsentativen Demokratie war; sie stellte als Ordnungsstruktur den entscheidenden „Motor“ der neuzeitlichen Staats- und Verfassungsbildung dar111: Erst durch die Wahrnehmung, zu einer als Einheit zu denkenden Gruppe zu gehören, ist es nicht nur denkbar, dass eine „Vereinheitlichung des Willens einer aus vielen bestehenden Gebietsgesellschaft“ stattfinden kann112 und eine Minderheit sich freiwillig einer Mehrheit unterwirft113, sondern auch, dass von Einzelnen getroffene Entscheidungen und Handlungen dieser Mehrheit zugerechnet und dadurch legitimiert – ja: dass das Schicksal des Einzelnen zum Schicksal Aller und das Schicksal Aller zum Schicksal des Einzelnen gemacht werden kann. Diese Zurechnung erfolgt im demokratisch verfassten Nationalstaat zwar vordergründig über Legitimationsketten, die mittels Wahlen, Abstimmungen und Ernennungen eine Rückführung der politischen Macht zu einem als souverän betrachteten (National-)Volk zuzulassen scheint114. In Wirklichkeit beruht die Legitimität dieser repräsentativen Machtausübung aber ganz wesentlich auf einer imaginierten Repräsentation, die eine fiktive Wahrnehmung der Gruppe als zurechnungsfähiger Einheit sowie der (gewählten) Repräsentanten als „Vertreter“ dieser Gruppe ermöglicht, die mit dem formalen Konzept der Legitimationskette nur unzureichend erfasst wird115: Es ist nicht etwa die Wahl des Bundestages und die darauffolgende Abstimmung in demselben an sich, die einem Gesetz Legitimität verleiht, sondern vielmehr erst die die Wahrnehmung von 82 Millionen atomistisch verstreuten Individuen, von denen keines dem anderen gleicht, ein „deutsches Volk“ – eine tatsächlich nicht bestehende, rein imaginäre Einheit – zu bilden, die es ermöglicht, den gewählten Bundestag als Repräsentanten dieser Einheit zu imaginieren und 109

Zum Zusammenhang zwischen Nähe, Gruppenzugehörigkeit und kollektiver Identität vgl. Quiatt / Reynolds, Primate behaviour, 11995, 141; Angelucci von Bogdandy, Zur Ökologie einer europäischen Identität, 12003, 33 ff., 53 ff. 110 Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 54. 111 Koenig, NVwZ 15 (1996), 549, 550. 112 Heller, in: Heller (Hrsg.), Gesammelte Schriften: Recht, Staat, Macht, 1971, 458. 113 Isensee, JZ 54 (1999), 265, 274. 114 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 21992, 289 ff. 115 Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429–466, 455 f. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung bei Nettesheim, Demokratisierung der Europäischen Union und Europäisierung der demokratischen Legitimation, 178 als „Legitimationskettenfetischismus“ durchaus berechtigt.

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§ 5 Fragmentverfassung

das von ihm verabschiedete Gesetz wiederum als Ausdruck des Willens desselben plausibel zu fingieren. Diese fiktive Repräsentationswirkung, die den Zusammenhang zwischen Nation und Staat, Herrscher und Beherrschten, Oben und Unten herstellt und zu einer Einheit zusammenführt116, wird im Nationalstaat durch die Verfassung wesentlich befördert und stabilisiert. Durch die Setzung einer Verfassung definiert sich eine Menschengruppe sichtbar und abgrenzbar als Staatsvolk und affirmiert durch die Schaffung von Institutionen und Verfahren zur hoheitlichen Machtausübung zugleich seine Stellung als Träger der politischen Gewalt.117 Erst dieser die Repräsentation sowohl ermöglichende als auch vorwegnehmende Akt konstituiert den Staat, der ohne ihn nicht mehr gedacht werden kann und insofern mit der Verfassung zum Verfassungsstaat verschmilzt118. Staat und Verfassung, Nation und Staat, Verfassung und Nation werden zu Komplementärbegriffen, die unabhängig voneinander nicht mehr gedacht werden können119, ja vielmehr noch: Die Verfassung wird zu einer allesumfassenden Spitze, die es daher trotz tatsächlich bestehender Überschneidungen vermag, die „republikanische Bereichstrias“ im Sinne einer fiktiven Unterscheidung von „staatlicher“, „gesellschaftlich-öffentlicher“ und „privater“ Sphäre herzustellen120, auf der die Repräsentationsimagination wiederum wesentlich beruht. Wie hieraus jedoch deutlich wird, kann es eine Verschmelzung zwischen (liberalwertgebundener) Verfassung und Staat, wie sie den Verfassungsstaat ausmacht, ohne eine ihnen zugrundeliegende Nation nicht geben: „Der Verfassungsstaat ist also so sehr Produkt der Nation wie er diese hervorbringt. Er richtet zwischen sich selbst und seinem personalen Substrat, der Nation, eine dauerhafte Rückkopplungsschleife ein. Diese Rückkopplung an das Volk findet heute in der Vorstellung der demokratischen Legitimation allen Staatshandelns ihren Ausdruck.“121 Ja: Auch wenn es sein mag, dass im Zuge der Globalisierung ein Abschwächung lokal begrenzter Bindungen zu verzeichnen ist122, ist es letztlich noch immer zutreffend, dass es ein „individualistische[r] Nationsbegriff“ ist, der sowohl die individuelle Würde, Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen als auch seine Zugehörigkeit zu einer schicksalhaft zusammengefügten Nation kennt, den der Verfassungsstaat notwendig erfordert und voraussetzt123. Nur für diesen bildet ein legitimistischer 116

Dazu vgl. Habermas, Zur Verfassung Europas, 49. Hesse, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit: Aufsätze und Essays, 1968; Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 163; Vesting, Staatstheorie, Rn. 65 ff., 69. 118 Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 562; Di Fabio, JZ 55 (2000), 737, 738. 119 Randelzhofer, in: Noske (Hrsg.), Der Rechtsstaat am Ende?: Analysen, Standpunkte, Perspektiven, 1995, 124 f.; Schmitt, Verfassungslehre, 79. 120 Häberle, DVBl. 2000, 840, 844. 121 Vesting, Staatstheorie, Rn. 165. 122 Granovetter, American Journal of Sociology 78 (1973), 1360, 1360 ff. 123 Vesting, Staatstheorie, Rn. 164. 117

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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Verfassungsbegriff daher ein anschlussfähiges „Sinnreservoirs“124; er ist das sozio-politische Milieu, das ein solches Verfassungsverständnis notwendig bedarf, damit es die Wirklichkeit zu formen und seinen normativen Selbststand zu erhalten in der Lage ist125. 3. Die fehlende europäische Primordialität und die aus ihr folgende Wirkungslosigkeit einer möglichen europäischen Verfassung a) Die fehlende europäische Nation Diese Voraussetzungen sind allerdings im europäischen Kontext nicht gegeben – und zwar nicht nur deshalb, weil es keine europäische Nation und keinen europäischen demos gibt126. Mit dem Begriff des demos als personaler Grundlage einer Nation hängt vielmehr auch eine Konzeption individueller und kollektiver Identität zusammen, aus der subjektive Empfindungen der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, ein „sense of belonging“ erwächst127, der in Europa gerade bewusst fehlt: Europa ist der Versuch, eine politische Gemeinschaft nicht auf den Eros der Emotion, sondern auf die Ratio der Technizität zu gründen128 – und es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass es bis in die 1970er Jahre dauerte, bis das Fehlen eines genauen Verständnisses von den Begriffen der Integration und der europäischen Identität überhaupt als Problem gesehen wurde129. Im Gegenteil scheint es, als ob es gerade ein Anliegen des europäischen Projektes sei, lokal begrenzte Sinnstrukturen wie das klassische ethno-kulturelle Verständnis von „Nation“, das auf Ausschließlichkeit, Abgrenzung, Parochialismus und Einmaligkeit gegründet ist und als Ursache zahlreicher Konflikte in der europäischen Geschichte gilt, aus Gründen der Friedenssicherung zu überwinden130 und durch eine weitere Identitätsschicht wenn nicht zu ersetzen so doch wenigstens so weit zu überstülpen, dass ihr die nötige Kraft zur Exklusivität und zum Konflikt verloren geht. Europa ist darum bemüht, eine kollektive Identität im Sinne des Bewusstseins einer reflexiven gesellschaftlichen Zugehörigkeit aufzubauen, die bewirkt, dass die Bürger trotz ihrer nationalen Identitäten und Zugehörigkeiten sich in ihrem sozialen Selbstverständnis so stark als Europäer begreifen, dass sie nicht nur im 124

Haltern, AöR 128 (2003), 511, 526. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 51. 126 Zu diesem sog. „no-demos“-Problem siehe Weiler, Eur Law J 1 (1995), 219, 224 ff.; Grimm, JZ 50 (1995), 581, 586; Pernice, in: Franzius / Mayer / Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, 108. Die Verschiedenartigkeit der europäischen Nationen betonend Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 55. 127 Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 608. 128 Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 26 f.; Körner, Identitätsstiftung durch den Europäischen Verfassungsvertrag, 2009, 24 ff. 129 Haas, The uniting of Europe, 16; Tömmel, Das politische System der EU, 52, 53. 130 Dazu Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 55; Weiler, Der Staat „über alles“, IV. 125

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§ 5 Fragmentverfassung

Rahmen supranationaler Organisationen sondern im sozialen Raum insgesamt entsprechend agieren131: Es ist der Versuch, eine „gemeineuropäische Identität“ im Sinne einer Legitimationserzählung darüber „wer wir sind“ und „wer wir nicht sind“ zu schaffen132, die sich aber insbesondere nach der jahrzehntelangen Erfahrung eines unkriegerischen Europas fast ausschließlich auf rein technische und funktionale Gesichtspunkte stützt133, ja zu großen Teilen gar davon ausgeht, dass „wichtige ethische Grundsätze in Europa ohnehin unbestritten sind“134 und daher überhaupt keiner Rechtfertigung und Legitimation, keiner der europäischen Verfassungstradition angemessenen Frage nach dem „letzten Grund“ mehr bedürfen135. Europa und die europäische Integration fußen auf den Idealen des Friedens, noch viel mehr aber auf jenen des Massenwohlstandes und der supranationalen Zusammenarbeit136. Ihnen fehlt aufgrund ihrer Vernunftbezogenheit ein hinreichend starker Gründungsmythos, der die Massen mitzuziehen und zu einer Identifikation mit der Union zu bewegen vermögen würde137. Dies ist ein Versäumnis, das durch die Unanschaulichkeit der Union noch weiter verschärft wird. Anders als im Nationalstaat, in dem die politischen Prozesse den allermeisten Bürgern wenigstens in ihren Grundlogiken vertraut sind, sind Entscheidungsverfahren in der netzwerkartigen Union nicht selten diffus, komplex und unübersichtlich und können nur in geringem Maße auf konkrete Entscheidungsträger zurückgeführt werden, was einer Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen abträglich sein muss138: Europa mangelt die heißblütige „erotische Komponente“, die den politischen Rahmen der Nationen ausmacht – und es ist vor diesem Hintergrund unmöglich, aus ihr triebhafte und bindungsstarke Kategorien wie „belief, visionary revolution, shared sacrifices, emotions, or love“ zu gebären139, die in ihrer Kraft den primordialen Bindungen des Nationalstaates gleichstehen könnten.

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Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 54. Ebd., 56 ff. 133 Darüber Grimm, Merkur 68 (2014), 1045, 1045. 134 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 516. 135 Dazu in Bezug auf das europäische Primärrecht Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 15. 136 Weiler, The constitution of Europe, 2002, 238 ff. Die Genese Europas als Friedensprojekt verliert an Bindungskraft, wie nicht zuletzt der fehlende klare Hinweis hierauf im (gescheiterten) Entwurf einer europäischen Verfassung zeigt, vgl. Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 56. Vor diesem Hintergrund weißt Häberle, AVR 53 (2015), 409, 414 zu Recht darauf hin, dass insbesondere auch das Handeln Europas in der Eurokrise das Narrativ Europas als „Friedensgemeischaft“ vermissen ließ – gerade in der Art und Weise, wie Griechenland behandelt wurde. 137 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 547 ff. 138 Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 60. 139 Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 24 f. 132

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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b) Ersetzung der fehlenden europäischen Primordialität durch einen europäischen Gesellschaftsvertrag? Könnte dieses Defizit – oder neutraler gesagt: diese Differenz zum Nationalstaat nicht möglicherweise durch die symbolische Konstruktion eines europäischen Gesellschaftsvertrages in Gestalt einer europäischen Verfassung beseitigt werden? Würde dies dem dargestellten Zweifel an der Fähigkeit Europas zur Entwicklung starker Bindungen nicht Rechnung tragen und das europäische Gemeinwesen stattdessen bescheidener an dem langfristigen „Eigeninteresse der Bürger“ ausrichten und insofern eine geeignetere Grundlage für die Legitimität Europas darstellen140? Könnte hierdurch nicht durch die Annahme einer europäischen Verfassung gerade das geschaffen werden, was es eigentlich voraussetzt: einen europäischen demos141? Ja, ist es nicht erst eine solche Verfassungsgebung, eine solche aus dem Nichts geschöpfte Selbstermächtigung, die ein Volk konstituiert und zum Träger der verfassungsgebenden Gewalt macht142? Die Antwort auf diese Fragen muss – so lautet die hier vertretene These – im spezifischen Kontext Europas überwiegend negativ ausfallen. Jede politische Vertragstheorie beruht auf vier Annahmen: Erstens der Rechtfertigungsbedürftigkeit der Verfassung, zweitens der Freiheit des rechtsunterworfenen Individuums, das autonom über seine Rechte disponieren kann, drittens der Gleichheit aller Rechtsunterworfenen, die ihre Zustimmung damit zugleich dem Mehrheitsprinzip unterwerfen und schließlich – viertens – der Reziprozität des Vertragsschlusses, die gewährleistet, dass alle denselben wechselseitigen Beschränkungen unterliegen143. Eine solche Reziprozität würde einem europäischen Gesellschaftsvertrag jedoch ebenso wie die Gleichheit aller Rechtsunterworfenen fehlen, da er die starken Bindungen der Bürger an den Nationalstaat, dessen Interessen mit denen Europas nicht selten in Widerspruch stehen, nicht zu beseitigen vermöchte. Denn wenn eine Entität, zu der ein Individuum sich zugehörig empfindet, nur eine unter vielen, ja mitunter sogar nur eine unter einer anderen Entität ist, muss die Möglichkeit, dass die Individuen zu ihr eine so starke Loyalität entwickeln, dass sie einen Konflikt mit der konkurrierenden Entität mit Sicherheit zu bestehen vermögen würde, für sie utopisch bleiben144. Eine solche mit seinen Bindungskräften in ständige Konkurrenz zu Europa treten müssende Entität besteht jedoch in Gestalt des Nationalstaates. Anders als die Deutschen, die aufgrund ihrer vielfältig problematischen und unglücklichen Geschichte zu nicht geringer Zahl ein Bedürfnis verspüren mögen, ihr defektes 140

Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 61. Zu dieser paradoxen Situation in Europa vgl. Maduro, in: Weiler (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, 81. 142 Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 163; Kadelbach, European Integration, https://jean​ monnetprogram.org/archive/papers/03/030901-04.pdf, 16.10.2018. 143 Höffe, Ethik und Politik, 197 f. 144 Laski, Studies in the problem of sovereignty, 1999, 11. 141

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Verhältnis zur eigenen „verspäteten“ Nation dadurch aufzuheben, dass sie „in einem vereinten Europa aufzugehen und sich in ihm aufzulösen wie Zucker im Kaffee“145, ist für die überwiegende Zahl der Unionsbürger die Nation der Garant schlechthin für eine stabile, freiheitliche, demokratische und solidarische Ordnung, die auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückblicken kann und die durch einen europäischen Gesellschaftsvertrag und durch eine Art „europäische Nation“ zu ersetzen bereits als bloße Vorstellung undenkbar erscheint146. Ein europäischer Gesellschaftsvertrag könnte daher allenfalls neben den Bindungen und Versprechungen des Nationalstaates als eine Art „mehrschichtige Konzeption, etwa im Sinne konzentrischer Kreise … aufgefasst werden“147, dem wiederum ein mehrschichtiges Verfassungsverständnis entsprechen müsste148. Allerdings vermöchte eine solche „Zwiebelstruktur“ nicht den Umstand zu beseitigen, dass die äußerste – d. h. die europäische – Schicht in diesem Legitimationsmodell ungleich schwächer und fragiler ausfallen müsste als jene des Nationalstaates und insofern gegenüber den derzeit bestehenden Legitimitätsverhältnissen keinen Unterschied zu bewirken vermöchte149 – ein Problem, das in ähnlicher Form schon länger im Rahmen der Projekte der Universalisierung und Internationalisierung des Konstitutionalismus wie etwa das der Schaffung einer „Weltverfassung“ bekannt ist150. Selbst wenn die Konstruktion einer europäischen Verfassung als europäischer Gesellschaftsvertrag symbolträchtig durch die Annahme eines Verfassungsvertrages mittels eines europäischen Plebiszites erfolgen würde, würde dies allenfalls nur dann eine Schwächung der aus dem Nationalstaat folgenden primordialen Bindungen bewirken, wenn sich „durch die Integration eine europäische Nation faktisch schon gebildet“ hätte, was wiederum voraussetzen würde, „dass sich die bisherige nationale Zersplitterung im Bewusstsein der europäischen Völker in die Vorstellung einer europäischen Nation verwandelt“ hätte151. Denn wenn eine Verfassung durch Erwähnung oder Beteiligung eines „Volkes“ als verfassungsgebender Gewalt auf die legitimationsstiftende Idee des Gesellschaftsvertrages rekurriert, gibt dies der Verfassung nur dann die erforderliche herrschaftsbegründende und herrschaftsbegrenzende Kraft, wenn dieses Volk als imaginäre Entität im allgemeinen Bewusstsein auch tatsächlich existiert152, wofür aber wiederum die Existenz einer entsprechenden auf primordialen Bindungen beruhenden kollektiven Identität Voraussetzung ist, die ein solches kollektives Bewusstsein erst hervorzurufen in der Lage ist. Aber selbst wenn die EU durch Verfassungsgebung, die Entwicklung eines 145

Isensee, Am Ende der Demokratie – oder am Anfang?, 1995, 55. In diesem Kontext vgl. Winter, Teil I: Mehr oder weniger Europa?, 25. 147 Haltern, Der Staat 37 (1998), 591, 607. 148 Snyder, Francis, in: Weiler (Hrsg.), European constitutionalism beyond the state, 2003, 69. 149 In diese Richtung auch Kaufmann, M., Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1 1997, 267 f. 150 Vgl. nur etwa Habermas, in: Habermas (Hrsg.), Der gespaltene Westen, 2004, 159; zu Recht kritisch hierzu Teubner, Verfassungsfragmente, 77, 240. 151 Bleckmann, JZ 52 (1997), 265, 267. 152 Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429–466, 435. 146

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europäischen Volksbegriffes und den vollständigen Verzicht auf die nationalstaatliche Souveränität zu einem Bundesstaat werden würde, wäre sie immer noch ein Bundesstaat anderer, „neuer Prägung“, da in ihm die Symbole politischer Einheit den Bürgern fremder wären als jene des Nationalstaates153. Die Legitimität Europas kann sich daher solange der Nationalstaat als Bindungsstruktur weiter besteht niemals vollständig von diesem ablösen, sondern muss sich immer auch wesentlich aus seinem Strang speisen und ableiten154. Diese abgeleitete Legitimität macht jedoch eine die bestehenden Legitimitätsverhältnisse grundlegend verändernde Wirkung eines europäischen Gesellschaftsvertrages unmöglich. Die Idee vom Gesellschaftsvertrag sowie die aus ihr folgende Unterscheidung zwischen verfassungsgebender und verfasster Gewalt sollen es erlauben, die Existenz und rechtliche Bindung politischer Gewalt in einen Begründungszusammenhang zu setzen, der eine Beständigkeit erzeugt, die in einer säkularisierten Zeit mit ihren Totalverfügbarkeiten sonst nicht mehr besteht155: Der Fülle der faktischen Möglichkeiten der tatsächlichen Machthaber wird der politische Anspruch einer Gruppe gegenüberstellt, die sich dadurch legitimiert, dass sie eine allumfassende, historisch-kulturell gewachsene Einheit aus Freien und Gleichen bildet, die ihren Willen in einer Verfassung ausdrückt156. Der Begriff der „Verfassung“ impliziert durch diese Umstände Staatlichkeit, Höchstrangigkeit und Ganzheit eines Gemeinwesens: Er ist mit dem Begriff der Souveränität „eines“ Volkes und seiner Repräsentation in politischen Organen wie Parlamenten verbunden und von diesem tradierten nationalstaatlichen Bezugsrahmen nur schwer zu trennen157. Ein europäischer Gesellschaftsvertrag müsste daher von dieser Seite aus erneut mit den nationalen Legitimitätsreserven in Konflikt geraten und gegenüber diesen auch bei Postulierung eines unbedingten Anspruch auf Vorrang im Ernstfall weiterhin zwangsläufig unterliegen: Selbst wenn ein durch eine plebiszitäre Verfassungsgebung geschaffener europäischer Gesellschaftsvertrag es vermöchte einen europäischen demos zu schaffen, wäre dieser dennoch in seinen politischen und sozialen Bindungskräften nicht gleichbedeutend mit jenen, die innerhalb eines gewachsenen Nationalvolkes bestehen. Vielmehr würde sein formaler Anspruch seinen tatsächlich bestehenden Legitimitätsreserven weit vorauseilen – und es würde Generationen und Bürgerkriege bedürfen, bis diese Lücke geschlossen wäre, wie etwa die Geschichte der USA eindrucksvoll demonstriert158. Im Gegenteil wäre sogar zu befürchten, dass ein derartiger Vorranganspruch eines europäischen Gesellschaftsvertrages und einer europäischen Verfassung die 153

Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 139. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 556 ff.; dahingehend auch Haber­ mas, Zur Verfassung Europas, 62, der die beiden Legitimitätsstränge durch „Teilung an der Wurzel“ zusammenführen will. 155 Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 524. 156 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, § 24 Rn. 26, 28. 157 Koenig, NVwZ 15 (1996), 549, 551; Boehme-Neßler, ZRP 45 (2012), 237, 237. 158 Weiler, In defence of the status quo: Europe’s constitutional Sonderweg, 9. 154

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Bindungskräfte des Nationalstaates gegenüber den europäischen Legitimitätsreserven noch weiter zu stärken vermöchte, da er bestehende parochiale Strukturen durch fernere, globale Strukturen abzulösen bestrebt wäre, ohne diesen Kräfte entgegenzuhalten, die eine vergleichbare Identifikation ermöglichen würden. Zwar mag es formal zutreffen, dass Verfassungen genauso wie völkerrechtliche Gründungsverträge häufig nicht unmittelbar durch das Volk, sondern durch Repräsentanten geschrieben und verabschiedet und insofern zwischen den europäischen Verträgen und vielen Verfassungen nur ein Unterschied im Grad der Mittelbarkeit der Repräsentation bestehen würde159. Ein europäischer Gesellschaftsvertrag und eine europäische Verfassung, die zum Nationalstaat in Konkurrenz zu treten beanspruchen würde, wäre jedoch nicht nur eine formal fernere Bindung, sondern vor allem auch eine Bedrohung bestehender parochialer Strukturen durch einen Überordnung beanspruchenden Universalismus – und wenn ein Parochialismus bedroht ist, ist dies nicht nur ein gradueller Unterschied, sondern „dann fühle ich nur noch, und zwar radikal parochial: als Serbe, als Pole, als Jude, (als Schwarzer, als Frau, als Homosexuelle(r) …) – und als nicht anderes“160. Dieser Umstand ist in Europa noch insofern verschärft, als die großen europäischen Staaten jahrhundertelang souverän waren und hierdurch einen Anspruch und ein Selbstverständnis inkulturiert haben, der  – auch wenn er im Abstieg begriffen sein mag – auf Bedrohungen parochialer Strukturen besonders sensibel reagieren muss161. Europa und sein Recht treffen daher immer wieder auf den Nationalstaat, wo sie wiederum auf starke „vorrechtliche Bindungskräfte“ stoßen müssen162, die ihre eigenen durchgehend weit übersteigen. Sie können sich nicht als Umformung, Überstülpung oder gar Ersatz des Nationalstaates begreifen163, sondern müssen diesen und seine Legitimitätsreserven vielmehr für sich nutzen, sofern sie nicht zu ihrer eigenen Delegitimisierung und Instabilität beitragen wollen164.

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Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 166 Ein bloß gradueller Unterschied zwischen vielen nationlstaatlichen Verfassungen und einer europäischen Verfassung wäre überdies wohl im zahlreichen Gebrauch von Formlkompromissen gegeben, die bestehende politische Gegensätze nur zu verschleiern und insofern von normativer Schwäche geprägt wären, vgl. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 77. 160 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, 108. 161 Ebd., 88. 162 Grimm, Europa ja – aber welches?, 8. 163 So aber prominenterweise etwa Haas, The uniting of Europe, 16, demzufolge die euro­ päische Integration ein Prozess ist „whereby political actors in several, distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations and political activities toward a new centre, whose institutions process or demand jurisdiction over the pre-existing national state. The end result of a process of political integration is a new political community, superimposed over the pre-existing ones.“ 164 Dahingehend auch Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636, der konstatiert, dass auf absehbare Zeit das Projekt der europäischen Integration „den Nationalstaat und seine Bindungskräfte brauchen [wird]. Wo die Bindungskräfte des Nationalstaats schwächer werden, schwächt dies auch die Europäische Union“.

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c) Folge: Die förmliche europäische Verfassung als bloßer Etikettenwechsel ohne Einfluss auf den Integrationsprozess Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Ersetzung des derzeitigen euro­ päischen Primärrechts durch eine förmliche europäische Verfassung am bestehenden Zustand kaum etwas zu ändern vermöchte. Sie würde der ohnehin schon kodifizierten „Verfassung“ Europas zwar noch eine erhöhtes Maß an Feierlichkeit hinzugeben, was möglicherweise gewisse inhaltliche Eigenschaften und Vorstellungen, die von einer Verfassung bestehen, zu fördern in der Lage wäre165. Die bloße feierliche Verabschiedung eines autoritativen Textes in einer Verfassungsurkunde alleine vermag es jedoch nicht, einen Rechtstext zu einer „Verfassung im anerkannten Sinne“ zu machen166. Denn im Gegensatz zu nationalen Verfassungen würde es einer europäischen Verfassung nicht im gleichen Maße gelingen, als „Sinn­ reservoir“ zu dienen167, wie sie es aufgrund ihrer feierlichen Form dann aber zu sein beanspruchen müsste. Sie wäre ein Text, dem eine verwurzelte Geschichte, Identität und Individualität, wie sie sozialen und politischen Sinn ausmacht, fehlen würde, ja der trotz der zu erwartenden Beschwörung hehrer Werte im Gegenteil gerade auf die fluiden, entwurzelnden und entgrenzenden Kräfte der Wirtschaft, der Vernunft und des Geldes gegründet sein müsste, die einem solchen Sinn in ihrer Tendenz eher feindlich und zersetzend gegenüberzustehen pflegen168. In der Europäischen Union ist das Politische nach wie vor kein Phänomen kollektiver Identität169 – und eine förmliche Verfassung vermöchte hieran nichts zu ändern. Einem solchen Verfassungstext müsste die Mehrheit der Bürger trotz seiner feierlichen Form daher indifferent begegnen. Verfassungen sind, wie wir gesehen haben, nicht nur förmliche Texte zur Organisation politischer Macht; ihnen kommt vielmehr vor allem auch eine symbolisch-ästhetische Dimension zu, die unauf­ löslich mit Institutionen wie „Sprache, Medien, Kultur, gemeinsamem Wissen, kulturellem Gedächtnis usw.“ verbunden ist und durch diese vermittelt wird; sie ist ein „von einem symbolisch gefüllten Raum“, einem „kulturellen Text“ abhängig, der sie erst dazu befähigt, eine Einheit zu schaffen, die bestehende Differenzen über 165

Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 52 f. Ebd., 52. Es ist hierbei erwähnenswert, dass die Union eine solche „Verfassungsurkunde“ nach einer (nicht unumstrittenen) Lesart des EuGH bereits hat, vgl. EuGH, Urteil vom 23.04.1986 – C-294/83 (Les Verts) – Rn. 23; dazu vgl. auch Piris, EuR 2000, 311–350, 320; kritisch Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, 2014, 97. 167 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 526. 168 „With no history, no identity, and no individuality you cannot produce and maintain social and political meaning. We do not reach ourselves through markets and reason alone. We cannot reason about, or trade in, the symbolic dimension of meaning. Whereas money and reason create borderless fluidity, political and social meaning needs to be rooted. The Union’s legal texts are lacking in the way they look to the past, and they are unable to stabilise anything deeper than the ever-changing fluid surface of trade, travel, and comsumption.“ Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 33. 169 Haltern, Europarecht und das Politische, 3. 166

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wölbt170. Eine europäische Verfassung jedoch wäre aufgrund des Mangels an einem solchen kulturellen Text in dieser Hinsicht eine leere Hülle ohne Wurzeln171, dem die von ihm beanspruchte symbolisch-ästhetische Dimension abhanden ginge172 und der es daher nicht vermöchte, ein historisches Selbst zu generieren und in die Zukunft hineinzutragen, das über die Herstellung eines gemeinsamen Marktes hinausweisen könnte173. Eine europäische Verfassung müsste daher wesentliche Erwartungen, die an Verfassungen herangetragen zu werden pflegen, enttäuschen: Mit dem Begriff der Verfassung verbindet sich wenigstens in der neueren Tradition das Prinzip der Vorrangigkeit, Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit gegenüber anderen Rechtstexten174, wofür wiederum die Zuschreibung der Kompetenz-​ Kompetenz175, ja die Funktion als Geltungsgrund einer gesamten Rechtsordnung Voraussetzung ist176, der bestehende Differenzen zu einer höheren Einheit zusammenführt und in ihr aufhebt. Verfassungen sollen zur Bewältigung dieser Aufgabe eine gewisse Starrheit besitzen, um „jene relative Konstanz [zu] schaffen, die allein das Leben des Gemeinwesens vor der Auflösung in ständigen, unübersehbaren und nicht mehr zu bewältigenden Wechsel zu bewahren vermag“, zugleich aber auch hinreichend flexibel sein, da sonst „die Entwicklung über die rechtliche Normierung hinweg“ geht und insofern „die stabilisierende Wirkung der verbindlichen Fixierungen aufheben“ kann177. Kurzum: Die Verfassung soll „nicht auf einseitige Strukturen gegründet“178, nicht Gegenstand und Instrument eines wirklichkeitsfernen Normativismus sein179, sondern in Wechselwirkung mit dem tatsächlichen politischen Leben an der „Schnittstelle“ zwischen Sein und Sollen180 das „ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben“ darstellen181, das die „[h]erausgeforderte Ordnungsfunktion angesichts der allgemeinen Dynami­sierungen und Verunsiche­

170

Vesting, in: Vesting / Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts: Was bleibt von der Verfassung nach der Globalisierung?, 2011, 85. 171 „The European Union’s problem of meaning is, of course, the problem that its citizens are completely indifferent towards it. The Union produces texts which nobody ready and nobody knows. Nobody is interested. That has fatal consequences. Texts, legal texts above all, are a polity’s memory, if you want the hard disk storing authentic witness. … Union texts are not ‚ours‘. They are just texts, empty shells with no roots.“ Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 32. 172 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 512. 173 Ebd., 549. 174 Wahl, 20 (1981), 485, 485 f. 175 Koenig, NVwZ 15 (1996), 549, 551. 176 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 35. 177 Ebd., Rn. 37. 178 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 14. 179 Zu dieser Tendenz in der deutschen Verfassungslehre des späten 19. Jahrhunderts Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 9. 180 Jestaedt, Matthias, in: Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, Rn. 48 ff.; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 188; i. E. ähnlich auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 12002, 390 f., der von der strukturellen Kopplung zwischen Recht und Politik durch die Verfassung spricht. 181 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 192.

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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rungen“182 durch eine ihr innewohnende normative Beständigkeit und „Starrheit“ wiederherstellen und gewährleisten soll183. Eine förmliche europäische Verfassung könnte allerdings alleine schon deshalb kein einheitsstiftendes ruhendes und beharrendes Moment sein, weil sie das Ergebnis eines dynamischer Integrationsprozess wäre, der auch mit der Setzung der förmlichen Verfassung selbst nicht zu einem plötzlichen und endgültigen Abschluss kommen könnte184. Die faktische Verfassung Europas ist „der Prototyp einer dynamischen Verfassung“; sie ist „ein verfassungsrechtlicher Rahmen für einen fortschreitenden Integrationsprozess … der sich im Laufe dieses Integrationsprozesses ständig selbst wandelt und die politischen Institutionen dem Stand des Integrationsprozesses anpassen muss“185 und damit eine flexible, flüssige „Wandelverfassung“186. Zwar kann eine Verfassung gerade die an sie gestellte Aufgabe der Integration des politischen und rechtlichen Lebens auch dann übernehmen, wenn vor dem Hintergrund einer fortlaufenden Dynamik erfolgen muss187; ja es mag zutreffen, dass Integration und Staatlichkeit überhaupt nur als Prozess gedacht werden können: Der Staat ist ein „Prozess beständiger Erneuerung“, der überhaupt nur insoweit weiter besteht, „weil und sofern er sich dauernd integriert“ – und die Verfassung ist „die Rechtsordnung des Staats, genauer … seines Integrationsprozesses“, dessen Sinn „die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates“ ist188. Erst recht scheint dies im artifiziellen Gebäude Europas zu gelten, in dem die Einheit ständig durch Integration gestiftet und Gemeinsamkeit nicht einfach gegeben, sondern immer neu hergestellt werden muss189. Dies prozesshafte Verständnis von Integration kann allerdings nicht die gesamte von einer Verfassung zu leistende Integrationswirkung meinen: Ein dynamisches Verständnis von Integration kann aus Sicht einer Verfassung nur einen inneren Vorgang, die Bekehrung der Herzen der sich naturgemäß stets im Wandel befindlichen Individuen umfassen, nicht aber auch den Wandel der äußeren Umstände dieses Integrationsprozesses meinen190. Institutionen und Organe sowie ihre Kompetenzen und Befugnisse sollen durch eine Verfassung nicht dynamisch verändert, sondern zugunsten der politischen Stabilität zunächst erst einmal fest eingerichtet und voneinander in ihren Zuständigkeiten klar abgegrenzt werden. Die europäischen  Verträge und das europäische Projekt jedoch gehen selbst in 182 Eichenberger, ZSR 110 (1991), 143, 180; dahingehend auch Hofmann, in: Hofmann (Hrsg.), Recht – Politik – Verfassung: Studien zur Geschichte d. polit. Philosophie, 1986, 262. 183 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 37; ähnlich auch Schmitt, Verfassungslehre, 18. 184 Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 742. 185 Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 96. 186 Ipsen, EuR 1987, 195, 201. 187 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 120. 188 Ebd., 136 ff., 189. 189 Pernice, AöR 120 (1995), 100, 113. 190 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 88 f.

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§ 5 Fragmentverfassung

dieser institutionellen Hinsicht von Anbeginn an von ihrer Vorläufigkeit und Unvollständigkeit aus, da sie damit rechnen, dass sich das Kompetenzgefüge und die Gestalt der Union laufend verändern, wofür nicht zuletzt die teleologisch-funktionale „integrationsfreundlichen Auslegung“ des EuGH191 beredtes Zeugnis ist – ja: sie pflegen deswegen sogar auf die Regelung eigentlich notwendig zu regelnder Teilbereiche zu verzichten, wenn die politischen Akteure sich darüber einig sind, dass erst in einem weiter fortgeschrittenen Stadium des Integrationsprozesses über die zu treffenden Maßnahmen entschieden werden sollte192. Diese Vorläufigkeit und Dynamik der Union ist in der fehlenden Einigkeit über die Form, Gestalt und Finalität Europas und seines Integrationsprozesses begründet193 und würde auch durch eine europäische Verfassung nicht abschließend gelöst, sondern nur einem weiteren „dilatorischen Formelkompromiss“194 zugeführt werden, da in Europa bereits die Grundlagen für eine solche integrierende Einigkeit selbst fehlen: Eine Verfassung mag gesellschaftlich integrierend wirken, wenn sie „Kriterium der maßgeblichen Identifikationsprozesse“ ist und insofern dynamisch gedacht wird; sie ist allerdings nur eine Komponente in einem breit angelegten gesellschaftlichen Prozess, der die Identitäten, die Kultur und das Selbstverständnis der Bürger prägt195 – und hierbei vermutlich noch nicht einmal der wichtigste: Mindestens ebenso wichtig sind die „values and attitudes which bind the system together, and which determine the place of the legal system in the culture of the society as a whole“ – d. h. Umstände und Fragen wie: „What do people think of law? Do groups or individuals willingly go to court? For what purposes do people turn to lawyers; for what purposes do they make use of other officials and intermediaries? Is there respect for law, government, tradition? What is the relationship between class structure and the use or nonuse of legal institutions? What informal social controls exist in addition to or in place of formal ones? Who prefers which kind of controls, and which determine the place of the legal system in the culture of the society as a whole. … It is the legal culture, that is, the network of values and attitudes relating to law, which determines when and why and where people turn to law or government, or turn away“196.

191

Dazu Everling, in: Stödter / Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa: Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, 1977, 559, 601; in jüngerer Zeit vgl. als Beispiel nur etwa EuGH 17.4.2008 – C-404/06 (Quelle) – Rn. 33 ff.; dazu Herresthal, ZEuP 17 (2009), 598–612, 601 ff. 192 Dazu Lochner, ZStaatsW 1962, 35, 37; Sester, RIW 59 (2013), 451, 453. 193 Schmitter, The future of democracy in Europe, 2004, 45 weißt vor diesem Hintergrund zurecht darauf hin, dass viele Theorien über die europäische Integration überhaupt keine wirklichen Theorien, sondern „more or less alaborate languages for describing what the authors thought had taken place in the recent past – devoid of any discrete and falsifiable hypotheses“ sind. 194 Schmitt, Verfassungslehre, 31 ff. 195 Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 54 f. 196 Friedman, Law & Society Review 4 (1969), 29, 34.

I. Vorstellungen von einer europäischen Verfassung

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Diese Umstände mögen zwar nicht die formale Gültigkeit einer Verfassung berühren. Sie können eine formale Gültigkeit auch nicht ersetzen oder bedingen. Eine Verfassung vermag jedoch nur dann identitätsbildend und integrierend zu wirken, wenn sie in ihnen taugliche Ansatzpunkte und eine hinreichende Basis für eine fruchtbare Wechselwirkung mit der Gesellschaf und dem politischem Gemeinwesen findet197. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass für eine europäische Verfassung grundsätzlich keine anderen Legitimationsmaßstäbe gelten als für nationalstaatliche Verfassungen198: Die Kultur ist noch vor Staatsvolk, -gebiet oder -gewalt das erste Staatselement199 – und eine demokratische Legitimität und eine auf sie aufbauende demokratische Verfassung kann es in Europa nur geben, wenn es eine gemeinsame europäische Kultur im Sinne eines „Minimalkonsenses“200, ja eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher „Homogenität“ gibt, das sie an einen breiteren gesellschaftlichen Integrationsprozess anzuschließen sowie ihren normativen Anspruch zu tragen vermag und damit das politische Gemeinwesen überhaupt erst „verfassungsfähig“ macht201. Eine solche gemeinsame Kultur würde jedoch gerade wieder das gemeinsame Maß an Identität erfordern, das die förmliche europäische Verfassung durch ihren Beitrag zum Integrationsprozess erst schaffen soll: Die „europäische Kultur“ ist gerade keine bestehende Einheit, sondern allenfalls ein Equilibrium von Differenzen202, weshalb eine europäische Verfassung weder eine europäische Identität noch eine für sie anschlussfähige europäische Kultur, sondern allenfalls gewisse ethische und kognitive Mindeststandards voraussetzen könnte – etwa ein basales Verständnis vom Funktionieren und den Mechanismen demokratischer Gemeinwesen einschließlich der Akzeptanz des Mehrheitsprinzips203 sowie die Anerkennung von Werten wie der Menschenwürde, des individuellen Gewaltverzichts, der Menschenrechte und der goldenen Regel204. Aus diesem Minimum an Standards folgt jedoch weder eine allgemeingültige Akzeptanz noch eine mögliche Integrationskraft einer europäischen Verfassung. Ein kognitiv-moralischer Minimalismus kann bestehende parochial geprägte Bindungen nicht überschreiben; er hat „so rational und universal er auch sein mag … keine imperiale Tendenzen und strebt keine Weltherrschaft an“205. Er vermag es daher weder einen europaweiten 197

Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 54 f. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 504. 199 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, 631 ff. 200 Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie, 1986, 92. 201 Zu diesem grundlegenden Problem aller demokratischen Verfassungen vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 324; Schmitt, Verfassungslehre, 235; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 262 f. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 67 ist insofern zuzustimmen, als die Frage über die Verfassungsfähigkeit Europas in Wirklichkeit häufig eine Frage nach ihrer Legitimität ist. 202 Manent, A world beyond politics?, 65 f. 203 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 713. 204 Ebd., 713 f., insb. Fn. 352 und 354. 205 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, 87. 198

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§ 5 Fragmentverfassung

politischen Diskurs zu schaffen206, an den eine Verfassung angeschlossen werden könnte, noch ein „europäisches Volk“ zu imaginieren, das als verfassungsgebende Gewalt die normativen Ansprüche der Verfassung tragen könnte207 – und erst recht nicht das erforderliche Maß an implizitem, in gemeinsamen Praktiken verteiltem sozialen Wissen aufrechtzuerhalten, das eine funktionierende demokratische Legitimation erfordert208. Im Gegenteil folgt aus dem Vorhandensein eines bloßen westlich-zivilisatorischen Mindeststandards, dass die Möglichkeit eines europäischen Verfassungsrechts zur Gewährleistung einer „inneren Integration“ allenfalls sehr begrenzt ausfallen muss209 und ein Anspruch einer europäischen Verfassung auf eine normative Letztbegründung, die die tatsächlichen politischen Gegebenheiten stark zu prägen vermöchte, erst gar nicht in Betracht kommen kann210. Vielmehr demonstriert es, dass die normative Kraft einer europäischen Verfassung im Vergleich zu jenen der Nationalstaaten notwendigerweise zurückfallen würde211, ja dass eine Schwächung des Nationalstaates zugleich auch eine Schwächung der Union nach sich zöge212 und im Umkehrschluss die Legitimität Europas noch auf absehbare Zeit gerade umso höher ausfallen muss, desto stärker die Einflussmöglichkeiten der Mitgliedsstaaten sind213. Die supranationale Verfassung der Union kann daher keine aus dem Nationalstaat bekannten Legitimationsmodelle auf sich übertragen214: Eine förmliche europäische Verfassung wäre ein Text, der keinen irgendwie gearteten Neubeginn darstellen würde, sondern mit dem die Zukunft weitgehend so wie die vor ihm bestandene Vergangenheit aussehen würde215. Sie wäre keine Verfassung, sondern nur ein anderer Name für einen EU-Vertrag216 – die Übertragung eines Symbols von Staatlichkeit, das sowohl in seiner symbolisch-ästhetischen Wirkung als auch mit seinem hohen normativen Anspruch zum Scheitern verurteilt sein müsste217.

206

Scharpf, Regieren in Europa, 167. Grimm, JZ 50 (1995), 581, 586. 208 Ladeur, Die Textualität des Rechts, 291 f. 209 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 90 f. 210 Dazu Schilling, Harvard International Law Journal 37 (1996), 389, 394 f.; Lenz, NJW 46 (1993), 1962–1964, 1963. 211 Bogdandy, in: Bogdandy (Hrsg.), Die europäische Option: Eine interdisziplinäre Analyse über Herkunft, Stand und Perspektiven der europäischen Integration, 1993, 121. 212 Mayer, NJW 70 (2017), 3631, 3636. 213 Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 352 f. 214 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 505. 215 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 548 f. 216 Ebd., 549. 217 Ebd., 554. 207

II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates 

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II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates: Experimentelle und tastende Modelle – Netzwerk, Verbundordnung und Kollisionsrecht 1. Das Ende der großen Legitimationserzählungen: Eine grundlegende Veränderung der Perspektive auf die Verfassung Europas Wenn eine förmliche europäische Verfassung als solche also an dem europäischen Projekt nichts zu ändern vermöchte, wenn sie einen bloßen Etikettenwechsel darstellen müsste, hinter dem sich noch immer dasselbe Gebilde wie vor der formalen Verfassungsgebung verbergen würde, kann es nach den vorstehend gewonnenen Erkenntnissen auch eine eigenständige europäische Legitimationsquelle jenseits der reinen Funktionalität sowie eine irgendwie geartete europäische Staatlichkeit nicht geben. Europa kann jedenfalls in absehbarer Zeit über den Stand eines „Zweckverbandes funktionaler Integration“218, der sich wesentlich durch seine „Output-Legitimität“ rechtfertigt219, nicht hinausgehen und keine Legitimationserzählung entwickeln, die diesen Rahmen grundlegend übersteigen oder sich von den Nationalstaaten zu lösen vermögen würde. Eine solche Gestalt Europas, wie sie weitgehend dem derzeitigen status quo entspricht, trifft jedoch bei den meisten Personen, die sich berufsmäßig mit Europa zu beschäftigen pflegen, auf Unbehagen: Europa soll nach einer weit verbreiteten, häufig aus Zurückhaltung nur verdeckt oder implizit geäußerten Ansicht mehr als eine bloße supranationale Organisation sein, sondern als „Hyperstaatlichkeit imaginiert“220, ja als einheitlicher, hierarchischer und homogener Superstaat begriffen und aufgebaut werden221, der europäische Nationalstaatlichkeit nachahmt222 und zu dessen Herstellung und Beförderung auf die nationalstaatliche Errungenschaft der Konstitutionalisierung zurückgegriffen werden soll223. Ob die grundlegende Richtung dieses Denkens vor dem Hintergrund unserer zuvor gewonnenen Erkenntnisse aufrechterhalten werden kann, erscheint in einer zunehmend globaleren und ausdifferenzierten Welt jedoch höchst fraglich: Ist die Union zu dieser nicht selbst eine Vorstufe, eine Art Hybridwesen zwischen der Sphäre der Nationalstaaten und der globalisierten Welt224? Und wenn dem so ist: Ist das Zeitalter einer von Hierarchie, Einheit und Homogenität gekennzeichneten Staatlichkeit in der globalisierten Welt nicht vorüber225? Geht die Entwicklung 218

Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1044. Scharpf, Fritz Wilhelm, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 21972, 21 ff. 220 Vesting, Staatstheorie, Rn. 348. 221 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148 f. 222 Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 43. 223 Hierzu Grimm, Europa ja – aber welches?, 126 ff. 224 Kjaer, Between governing and governance, 13. 225 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148 f. 219

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§ 5 Fragmentverfassung

nicht stattdessen vielmehr in eine Richtung, die von den Idealen einer föderalen „Hyper“- oder „Superstaatlichkeit“ gerade wegführen muss226? Tatsächlich kann kaum übersehen werden, dass in nicht wenigen Vorstellungen von der Union der europäische (National-)Staat noch immer den zentralen Referenzpunkt aller Überlegungen bildet227 und daher zu den allgemeinen Zeichen der Postmoderne in einem evident kontrafaktischen, nicht selten geradezu bizarren Gegensatz zu stehen scheint: Die postmoderne Welt kennt eigentlich keine gesicherten Ordnungsmodelle und Werte mehr, auf die sich ein politisches Gemein­ wesen stützen könnten, sondern nur noch eine verwirrende, ja geradezu irre­ machende Vielfalt an fluiden Werten, Rollen, Autoritäten, Symboliken und sozialen Verbindungen, aus der das Individuum sich seine eigenen sozialen Bezüge immer neu selbst herstellen und erhalten muss228. Sie ist nicht nur von einer allgemeinen Abkehr von tradierten Identitäten und der Zuwendung zu selbstgewählten, selbstgemachten Identitäten, sondern auch von einer Pluralisierung der Sinnwelten geprägt, die das Individuum zwingt, sich eine eigene Sinnwelt (eklektisch) zusammenzubauen: Sie ersetzt tradierte Autorität durch einen grundsätzlichen Zweifel, der keine Annahme sicherer Erkenntnisse und Instanzen mehr zulässt und der es daher nur noch vermag, Autorität und Wissen als bloß provisorisch, kontextabhängig und experimentell zu verstehen229, was die Bemühung jeder Vorstellung von einheitlichen „Rationalitätsprätentionen“ wie tradierten Sinnwelten, kollektiven Identitäten und gemeinsamem Wissen eigentlich nur noch schwer zulassen scheint230 – auch im klassischen Nationalstaat, erst recht aber in postmodernen Gebilden wie der Union. Die postmoderne Welt, in die das Individuum sich als geworfen vorfindet, weist keine vorgegebenen und unhinterfragbaren Sinnstrukturen mehr auf, sondern ist in verschiedene Sinnwelten zersplittert, die nicht mehr „über eine referenzfähige Einheit, einen Abschlussgedanken oder eine Metaerzählung“ verfügen231 und „von einem Bestand an überlappenden Gemeinsamkeiten ausgehen“ können, sondern nur noch „lockere, vorübergehende (zufällige) Konfigurationen von Fragmenten der Kultur (und des Wissens)“ zu bilden vermögen232, die auch nicht mehr nach Staatsgrenzen strukturiert sind233. Festgefügte Sinnwelten wie die einer „Nation“ sind unter diesen Umständen eigentlich faktisch nicht mehr aufrechtzuerhalten, sondern können nur noch als kontrafaktisch und imaginär234, ja als ständig neu prozesshaft zu verhandelnde Aufgabe statt als bestehender Zustand gedacht 226

Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 43. Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 9; Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 4. 228 Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 40. 229 Giddens, Modernity and self-identity, 2003, 84. 230 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 185. 231 Vesting, Staatstheorie, Rn. 289. 232 Ebd., Rn. 283. 233 Teubner, Verfassungsfragmente, 74. 234 Anderson, Imagined communities, 6. 227

II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates 

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werden235, die in der politischen Praxis daher nicht mehr als ontologisch fest gefügte Begriffe, sondern nur noch als Erinnerungsrückstände wirken können, die Stabilität überhaupt nur noch aus ihrem Dasein als reminiszente Schattenwesen zu erzeugen vermögen. Die Postmoderne zeichnet sich in dieser Entwicklungslinie daher nicht nur durch eine zunehmende „Entzauberung des Staates“ aus, die auch dem Glauben an die „Urgewalt eines Mythos Volk“ eines großen Teils seiner Bedeutung und Prägekraft rauben muss236. In der Postmoderne müssen vielmehr die großen Erzählungen wie die von der Universalität der Vernunft, der Einheit von politischen Gebilden oder der Handlungsfähigkeit und Zurechenbarkeit von Subjekten insgesamt zu einem Ende kommen und durch kleine Fiktionen, die nur vorläufiger und provisorischer Natur sind, ersetzt werden237. Erstaunlicherweise ist jedoch festzustellen, dass es gerade jene Erzählungen und Begriffe sind, die sich wenigstens im europäischen Kontext weiterhin einer regen Bemühung erfreuen, ja gelegentlich scheinbar geradezu fröhliche Urstände zu feiern pflegen: Eine europäische Verfassung könne über eine bewusste rituelle Verankerung in öffentlichen Diskursen und in der politischen Rhetorik als „Symbol europäischer Gemeinsamkeit“ sowie durch ihre Behandlung als „überragenden normativen Bezugspunkt“ in den operativen Prozessen der Union ein großer Baustein zur Schaffung einer europäischen Identität sein238, der Europa in seinen Grundlagen zu einer Einheit zusammenzuschweißen vermöchte239, so liest man etwa selbst bei den kenntnisreichsten Autoren – gleichsam so, als gäbe es tatsächlich weiterhin so etwas wie ein einheitliches Zentrum, von dem aus „der einheitliche Staat seine grundlegende Gestaltung“ erhalten könnte240 –, und das obwohl doch andernorts von nicht weniger kenntnisreichen Autoren zugleich konstatiert wird, es sei zutreffend, in Europa von postmodernen Begriffen und Entwicklungen wie „Kooperation, Komplementarität, Transnationalisierung und Supranationa­ lität“ zu reden241. Dieser scheinbare Widerspruch und diese scheinbaren Unzeitgemäßheiten verdecken in Wirklichkeit jedoch nur den sich hinter den verwendeten Begriffen tatsächlich verbergende Bedeutungswandel, der sich dem Betrachter nur auf dem zweiten Blick erschließt: „Alteuropäisch“ geprägte Begriffe wie Nation, Staat oder Verfassung sind heutzutage insofern missverständlich als sie weiterhin in ihren tradierten Bedeutungen nachwirken, zugleich aber die diesen innewohnenden Versprechen unter den Bedingungen des Verlustes der ontologischen Einheit und Festigkeit in der (post-)modernen Welt, in der es „keine gemeinsame (richtige,

235

Vesting, Staatstheorie, Rn. 165. Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 162. 237 Lyotard, Das postmoderne Wissen, 112 ff. et passim. 238 Bogdandy, JZ 59 (2004), 53, 60. 239 Häberle, DVBl. 2000, 840, 846. 240 So etwa noch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 521. 241 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 516. 236

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§ 5 Fragmentverfassung

objektentsprechende) Einstellung zu einer vorgegebenen Welt“ mehr geben kann242, nicht mehr einzulösen vermögen243, was, wie es gelegentlich anmutet, selbst manchen wissenschaftlichen Autoren nicht vollauf bewusst zu sein scheint: Der durch die funktionale Differenzierung ausgelöste Strukturwandel hat die alteuropäische Semantik restlos zerstört – und die Postmoderne ist rastlos damit beschäftigt, adäquate Begriffe zur Beschreibung ihrer selbst zu finden244, ja sie ist ständig dazu gezwungen, an tradierten Begriffen festzuhalten, obwohl ihr doch bewusst sein muss, dass diese eigentlich bereits obsolet geworden sind. An die Stelle dieser tradierten Bedeutungen setzt sich in der Postmoderne daher ein Bedeutungskosmos, der keine feste Rückbindung an die Vergangenheit mehr zulässt und von den ihn erzeugenden Individuen nur noch unter Berufung auf sich selbst hervorgebracht und gerechtfertigt werden kann245 – oder anders gewendet: An die Stelle großer sinn- und legitimitätsstiftender Universalerzählungen tritt in der Postmoderne eine unaufhebbare Pluralität inkommensurabler epistemischer und moralischer Paradigmen, die sich aus nichts weiter als aus den zersplitterten Sinnwelten der Individuen speisen246. In der postmodernen, post-ontologischen und post-metaphysischen Welt besteht eine Situation, „in der man sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte Struktur denken kann“247, sondern in der sich alle Begriffe in ihrer Beziehung zur Welt „tatsächlich und immer umfassender in ein Spiel von Interpretationen“ auflösen müssen248. Nur vor diesem Hintergrund der permanenten und totalen Entwurzelung und Dekontextualisierung kann sich daher der zahlreiche Gebrauch altertümlich anmutender, selbst im Nationalstaat kaum noch verwandter Begriffe im europäischen Kontext erschließen: Der Begriff der europäischen Verfassung etwa, wie er heute gebraucht wird, ist konzeptionell nicht selten von dem grundlegend verschieden, wie er in den nationalstaatlichen konstitutionellen Traditionen verwendet zu werden pflegte249. Die Forderung nach Konstitutionalisierung ist daher vordergründig zwar der Ruf nach einer traditionellen, „förmlichen“ europäischen Verfassung, in Wirklichkeit aber vor allem die Forderung nach einer anderen europäischen Verfassung250, ja nach einer anderen europäischen Ordnung, die von dem abkehren soll, was Europa bisher zu prägen schien: Das Prinzip der Tolerierung der Vielfalt 242

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 893. Luhmann, ARSP 57 (1971), 1–35, 4. 244 Teubner, Der Umgang mit den Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, 35. 245 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 31997, passim. 246 Lyotard, in: Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, 2015, 56, 65; Ladeur, in: Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung: Die Ordnung des Politischen, 1994, passim. 247 Vattimo / Pfeiffer, Jenseits des Christentums, 11 f. 248 Vattimo, Weltverstehen – Weltverändern, 60. 249 Vauchez, Brokering Europe, 202. 250 „Unter der Prämisse, dass bereit eine europäische Verfassung im materiellen Sinne existiert, stehen wir nicht (mehr) vor der Alternative: weitere bloße Vertragsänderungen oder erstmaliger großer Sprung der Verfassungsgebung; sondern es geht jetzt um die Frage, in welchen 243

II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates 

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der nationalstaatlichen Verfassungen und Eigenheiten, das zugunsten eines höheren Maßes an Einheit und Hierarchie251, kurzum: zugunsten von „mehr Europa“ aufgegeben werden soll. Der Ruf nach einer europäischen Verfassung ist daher ein hintergründiger Ruf danach, die normativen Verheißungen des Nationalstaates, nicht aber den in seinen Strukturen und Bedeutungen als schon längst seinem Epochenende entgegensehend geltenden Nationalstaat252 an sich aus seinen tradierten Bezügen zu lösen und als isolierten, entwurzelten Splitter in den postnationalen Kontext zu übersetzen253. 2. Erste Folge: Die Entkoppelung von Staat und Recht und die Öffnung zum pluralen Rechtsnetzwerk Dieser Gedanke der Entwurzelung und Übertragung von Elementen des National­ staates wird jedoch nicht nur den spezifischen Strukturen der globalen Welt, sondern auch der hiermit verwandten spezifischen Ordnung Europas nicht gerecht. Im europäischen Kontext bestehen nicht nur weder Staat noch Nation. Europa ist vielmehr der Versuch, ein durch Recht determiniertes politisches Gemeinwesen (wenigstens zunächst) überhaupt ohne Elemente von Staatlichkeit zu konstituieren254. Bei der Union mit ihren netzwerkartigen, kein Oben und Unten, keine Mitte und kein Ziel kennenden Strukturen handelt es sich um ein postmodernes Gemeinwesen, um einen postmodernen Staat255 und damit streng genommen um keinen Staat256, was die Übertragung etatistischer Gedanken und Ansprüche bereits grundlegend fraglich erscheinen lässt: Der Verfassungsbegriff mag zwar schillernd und vielschichtig, in grenzüberschreitenden Bezügen häufig sogar nichts weiter als eine bloße „Chiffre“ sein, „unter der das Umdenken von Recht in Anbetracht der Verfahren und Formen das existierende Verfassungsrecht weiterzuentwickeln oder zu ersetzen ist.“ Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 483. 251 Weiler, In defence of the status quo: Europe’s constitutional Sonderweg, 18. 252 So prominent schon 1963 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 10: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europa-zentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront.“ 253 Walker, Postnational constitutionalism and the problem of translation, 35. 254 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 19 f. 255 Ruggie, International Organization 47 (1993), 136, passim.; Caporaso, Gender, Work And Organization 34 (1996), 29, 44 ff. 256 In diesem Kontext vgl. instruktiv Vesting, VVDStRL 2004, 41, 61: „Der Haupteinwand, den die Theorie des offenen Staates entkräften muss, lautet: Es ist nicht möglich, in einem dichten Netzwerk staatlicher Kooperation von Eigenschaften des Staates auszugehen, die von diesem Netzwerk unabhängig sind und den Verbindungen zwischen den Staaten vorgegeben sein könnten. Ein nach außen vielfach eingebundener und in diesem Sinne „offener Staat“ ist eben kein Staat mehr.“

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Globalisierung begonnen worden ist und so lange fortgeführt werden wird, bis überzeugendere Kategorien gefunden sind“257. Seine Wurzeln liegen aber unzweifelhaft in nationalen Traditionen, die nach unseren vorstehend gewonnen Erkenntnissen selbst im Nationalstaat in einem Prozess unaufhaltsamer Erosion, Entwurzelung und Zersplitterung begriffen sind und die die Vorstellung, man könne ein klares und festgefügtes europäisches Verfassungskonzept entwickeln, als naiv erscheinen lassen müssen258. Aber auch dem noch nicht genug: Die EU ist, wie wir gesehen haben nicht nur ein postmodernes, nicht-staatliches Gebilde, sondern auch ein Hybridwesen, das in die Sphäre der globalisierten Welt hineinweist259. Diese ist wiederum gerade dadurch gekennzeichnet, dass Rechtsbildungsprozesse sich immer mehr von National­staaten auf eine transnationale Peripherie verlagern, an der insbesondere multinationale Konzerne und Organisationen teilhaben260 und die bewirkt, dass der Staat von anderen Machträgern teilweise nur noch graduell unterschieden werden kann und insofern die Verfassung als Begriff für die Verrechtlichung von Machtausübungen insgesamt vom Begriff des Staates dissoziiert werden muss261: „Im Zuge der Globalisierung sind neue transnationale Verfassungssubjekte entstanden, die sich durch weitgehende Entstaatlichung, durch einen hohen Grad der Fragmentierung, durch hohe Autonomie und durch die Konzentration auf funktionale Regime auszeichnen“262 – und die Union selbst ist eines dieser Subjekte im transnationalen Konzert. Der Verfassungsbegriff, wie er in Europa Verwendung finden muss, kann daher nicht staatsbezogen sein, nicht meinen, dass die EU ein „Gebilde staatsrechtlicher Gattung, also eine Art europäischer partieller Bundesstaat“263 sei und es „nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert“264 geben 257

Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 258; vgl. auch Vesting, VVDStRL 2004, 41, 63. Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 22; zur Funktion von Verfassungen unter den Bedingungen der Postmoderne vgl. auch instruktiv Vesting, Ende der Verfassung?, 81. 259 Kjaer, Between governing and governance, 13. 260 Teubner, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255, 255 ff. 261 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 163; kritisch hierzu noch Vesting, VVDStRL 2004, 41, 63: „Sicher kann man den Verfassungsbegriff von diesen Voraussetzungen befreien und Verfassung auf alle möglichen transnationalen Institutionen und Netzwerke beziehen, von denen man glaubt, sie übten rechtlich nicht gehegte Macht aus. Dann kann man etwa die ‚Macht‘ der WTO konstitutionalisieren. Aber dann muss man auch zeigen, welchen spezifischen Sinn der Verfassungsbegriff bei solchen Operationen haben könnte. Es genügt jedenfalls nicht, den Verfassungsbegriff mal als Synonym für den Schutz vor wirtschaftlicher Macht zu verwenden, mal als Ausdruck für die Aut nomie des konstitutionalisierten Rechts und mal über den Verfassungsbegriff den Vorrang des einen ‚Rechtskreises‘ gegenüber anderen begründen zu wollen. Diese Begriffsstrategie ist umso unbefriedigender, solange nicht klar wird, warum man meint genau diese Dinge noch einmal mit dem Verfassungsbegriff ausdrücken zu müssen. Gerade die Vorstellung des ‚Vorrangs der Verfassung‘ wird in den neuen Phänomenbereichen des Öffentlichen Rechts entwertet. Es fehlt eben der eine staatliche ‚Gesetzgeber‘, der an höherrangige Verfassungsprinzipien und Grundrechte gebunden werden könnte.“ 262 Teubner, Verfassungsfragmente, 118. 263 Ophüls NJW 1951, 289, 289. 264 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 620. 258

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könne, sondern muss den Verfassungsbegriff vielmehr aus dem Staatskontext vollständig herauslösen265. Eine postmoderne netzwerkartige Ordnung kann keinen Verfassungsbegriff mehr kennen, der auch nur im Entferntesten mit dem Gedanken einer umfassenden rechtlichen Struktur für ein als geschlossene Einheit zu denkendes politische Gemeinwesen verbunden ist; derartige Vorstellungen müssen durch die Globalisierung vielmehr bereits im Nationalstaat uneinlösbar sein und können erst recht auf europäischer Ebene nicht wiederhergestellt werden266. Europa und sein Recht stellen vielmehr ein „rich and interrelated patchwork of legal regimes, orders, and spaces“267, ja eine spezifische Form des Rechtspluralismus dar268, in dem verschiedenste private, öffentliche und halb-öffentliche Akteure und Regime miteinander verschränkt sind und das daher weder eine Sonderstellung eines als „staatlich“ zu denkenden Zentrums noch seiner Herrschaftsverrechtlichung in Gestalt einer förmlichen Verfassung zulässt269 – und zwar in völliger Ausschließlichkeit, da mit ihm niemals erfolgreich eine Form von klassischer Verfassungs- oder Wohlfahrtsstaatlichkeit verbunden werden konnte. Der europäische Nationalstaat in seiner modernen Prägung mag zwar ebenfalls durch netzwerkartige und zentrumslose Strukturen geprägt sein. Unter diesen Strukturen verbergen sich jedoch noch immer institutionelle und gedankliche Reste seiner alten Existenz, die durch die Wende zum zentrumslosen Netzwerkstaat nicht restlos beseitigt wurden. Der europäische Nationalstaat besteht vielmehr aus drei Schichten, die sich vom frühmodernen Territorialstaat an sukzessiv übereinander aufgebaut und nunmehr miteinander verwachsen haben: Der Schicht des liberalen Verfassungsstaates, die darüberliegende Schicht des neueren sozialen Wohlfahrtsstaates und schließlich als neuste Entwicklung die Schicht des postmodernen Netzwerkstaates270. In der Union dagegen fehlen alleine schon aufgrund ihrer späten Geburt die historische Erfahrung der ersten beiden dieser Schichten. Vielmehr ist sie wie die Schicht des Netzwerkstaates im Nationalstaat restlos in den Strom der Globalisierung hineingenommen und so durch einen „Mangel an Einheit“ auf eine „Ordnungsbildung in Fragmenten beschränkt“: Sie bringt aufgrund dieser postmodernen Netzwerkstruktur, unter der sich keine fortbestehenden Bruchstücke oder wenigstens eine historische Erfahrung klassischer Staatlichkeit verbergen kann, 265 „Aber aus dem Umstand, dass Verfassungen in und für Staaten geschaffen wurden, kann weder ein begriffsnotwendiger Staatsbezug noch ein normatives Gebot gefolgert werden.“ Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 13. 266 Ladeur, in: Hien / Joerges (Hrsg.), Responses of European Econommic Cultures to Europe’s Crisis Politics: The Example of German-Italian Discrepancies, 237; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 208. 267 Harding, Eur Law J 6 (2000), 128. 268 „It is when in a social field more than one source of ‚law‘, more than one ‚legal order‘, is observable, that the social order of that field can be said to exhibit legal pluralism.“ Griffiths, The Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 18 (1986), 1, 38. 269 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 103 f. 270 Vesting, Staatstheorie, Rn. 304 ff.

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mit radikaler Ausschließlichkeit nur noch „Inseln der Ordnung hervor, nur noch fragmentierte Regime, aber kein im strengen Sinn einheitliches Rechtssystem mit starren Hierarchien und Vorrangregeln, wie es im liberalen Verfassungsstaat in der Einheit und Objektivität der Rechtsordnung vorausgesetzt und noch im Wohlfahrtsstaat in einen Prozess der Einheitsbildung umgeschrieben werden konnte“.271 In diesen globalisierten postmodernen und postnationalen Bezügen haben nicht nur einzelne Staaten ihre rechtlichen und politischen Gestaltungsmöglichkeiten bereits weitgehend verloren272. Sie können im Kontext eines solchen Verlustes an festen Strukturen, Akteuren und Wirkungen vielmehr auch keiner umfassenden, allgemeinverbindlichen Deutung mehr zugeführt, sondern nur noch tastend und experimentell als „bewegliches Forschungsfeld“ analysiert werden273. Begriffliche Verbindungen und Assoziationen wie die zwischen Staat und Verfassung, Volk und Staat, Staat und Recht verlieren in diesen komplexen Strukturen der Machtausübung und Entscheidungsfindung ihren generellen Erklärungswert und können nicht mehr aufrechterhalten werden274. An ihre Stelle muss eine Analyse der „Interdependenz und Kooperation zwischen verschiedenen Rechtsordnungen“ treten275, die insbesondere im Kontext Europas als polyzentrische Ordnung, das heißt heterarchisch, polyarchisch und assoziativ verstanden werden muss276. 3. Zweite Folge: Plurales Verfassungsrecht und die Notwendigkeit eines Verfassungskollisionrechts – Die Funktion einer europäischen Verfassung als „Netzwerk von Netzwerken“ a) Europa als Ensemble von horizontal fragmentierten Teilverfassungen Erst von diesem Verständnis, dem Verständnis Europas als eine keinem übergreifenden einheitlichen Gedanken zurechenbarer, provisorischer und postmoderner Netzwerkstruktur, kann sich die Frage nach einem dieser Struktur entsprechenden Ordnungsmodell, ja nach der „Verfassung“ Europas stellen. Aus unseren bisher gewonnen Erkenntnissen ergibt sich, dass aufgrund des Befundes multipler, verzahnter und gleichgeordneter Rechtsordnungen im europäischen Kontext die Verfassung Europas nicht als hierarchisch übergeordnete „Superverfassung“, sondern nur als offene, verschiedenste Rechtsordnungen inkludierende und mit ihnen in

271

Ebd., Rn. 346. Boehme-Neßler, ZRP 45 (2012), 237, 238. 273 Vesting, Staatstheorie, Rn. 307 unter Bezugnahme auf Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 12006, 150. 274 In diese Richtung auch Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 155 f. 275 Vesting, VVDStRL 2004, 41, 60. 276 Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, 215 ff. 272

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Wechselwirkung stehende Verbundverfassung begriffen werden kann277. Verfassun­ gen sind, wie wir gesehen haben, nicht nur dort, wo Staaten sind, sondern auch dort, wo sich Systeme mit einer dynamischen Eigenrationalität bilden278. Selbst moderne Nationalstaaten bestehen daher nicht nur aus einer, sondern (gerade in Folge der funktionalen Differenzierung) aus mehreren Teilverfassungen, von der keine – auch nicht die förmliche „Staatsverfassung“ – mehr beanspruchen kann, die Machtausübung in ihrer Totalität zu regeln279. Entsprechend lassen sich in der Europäischen Union nicht nur ebenfalls die verschiedensten sektorial getrennten Teilverfassungen ausmachen, wie sie etwa Tuori mit seiner Unterscheidung der juristischen, ökonomischen, sozialen und sicher­ heitspolitischen Teilverfassungen Europas beschreibt280. Zu diesen nach funktionalen Kriterien sektorial gegliederten materiellen Teilverfassungen kommt im europäischen Kontext vielmehr noch die Differenzierung zwischen den einzelnen formellen Verfassungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union, die selbst wiederum jeweils den Charakter von eigenständigen Teilverfassungen besitzen, hinzu281. Die Annahme von sektorialen (juristischen, ökonomischen, sozialen, sicherheitspolitischen usw.) Teilverfassungen erscheint daher in Bezug auf die Europäische Union, genauso aber auch in Bezug auf die in den europäischen Kontext eingeordneten Mitgliedsstaaten unvollständig und bedarf entlang bestehender Trennungslinien noch einer weiteren Differenzierung: einer zusätzlichen Untergliederung in nationalstaatliche und europäische Teilverfassungen. Das Gefüge von funktional differenzierten Teilverfassungen, wie es auch in den post­modernen Nationalstaaten besteht, erfährt insofern in Europa noch eine spezifische, „horizontale“ Ergänzung: Eine Ergänzung um ein Miteinander verschiedenster politischer und juristischer Systeme, die sich selbst in ihrer jeweiligen sektorialen Differenzierung nicht mehr als Ganzes, sondern nur noch als zusammenhängenden Teil des jeweils anderen begreifen können. Nicht ein einheitliches Dokument, das die große Gesamtheit des politischen Gemeinwesens regelt und somit im Umkehrschluss eine Vielheit an dezentralen und einander überlappenden Gewalten ausschließt, um eine „bis auf den Boden durch-

277

Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 255; das Konzept des Verfassungsverbundes, mit dem hier grundsätzlich Übereinstimmung besteht, geht auf Ingolf Pernice zurück, der zwischen ihm und den Netzwerkgedanken einen starken Zusammenhang sieht: „Das Netzwerk scheint in der Tat ein hilfreiches Bild zu sein. Ich sehe darin vor allem die horizontale Dimension dessen gewürdigt, was ich seit 1995 als ‚Verfassungsverbund‘ beschreibe“, Pernice, Verfassungsverbund, 103. 278 Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 662 ff. 279 Teubner, Verfassungsfragmente, 33 ff.; Thornhill, Zeitschrift für Rechtssoziologie 32 (2011), 205, 212; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 55 f. 280 Tuori, The Many Consitutions of Europe, www.oxfordhandbooks.com, 16.03.2019; ausführlicher aber m. E. weniger klar auch Tuori, Kaarlo, European constitutionalism, 2015, 127 ff. 281 Pernice, ZaöRV 70 (2010), 51, 52 f.

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greifende Einheit und Ordnung“ zu gewährleisten282, kann somit das Ziel einer Konstitutionalisierung Europas sein. Ihr entscheidendes Merkmal muss stattdessen viel mehr noch als im Nationalstaat „die Emergenz von speziellen und relativ autonomen Regeln oder Regelkomplexen, rechtlichen Institutionen und eigenständigen rechtlichen Praktiken“ sein283, die in ihrem Rahmen zusammenlaufen und miteinander „verflochten“ werden284. Die EU kann aufgrund dieser Gegebenheiten nur als ein pluraler „Verfassungsverbund“ gedacht werden, in dem auch die Staaten und die Union, ja selbst die Unionsbürger als unmittelbare Adressaten des Unionsrechts miteinander verbunden und zu einem Netzwerk verknüpft werden285. Eine Kons­ titutionalisierung Europas kann vor diesem Hintergrund daher noch viel weniger als im Nationalstaat nicht einfach nur die Schaffung eines förmlichen Verfassungstextes meinen, sondern muss eine zunehmende Verdichtung und Verklammerung der Teilverfassungen, eine Verknüpfung verschiedenster Rechtsfelder, Rechtsräume und Rechtsordnungen bedeuten286, die die gesamte europäische Governance, d. h. nicht nur hoheitliches und staatliches Handeln, sondern das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“287 umfasst – und zwar nicht nur in ihren sektorialen, sondern in sämtlichen „horizontalen“, d. h. mitgliedstaat­ lichen und europäischen Dimensionen. Diese Verdichtung der Verknüpfungen kann freilich nicht das Ziel verfolgen, eine übergeordnete Einheit herzustellen – dies wäre alleine schon in Anbetracht der Verschiedenartigkeit der förmlichen Verfassungen der einzelnen Mitgliedsstaaten ein utopisches Vorhaben288. Vielmehr kann es nur darum gehen, Beziehungen zwischen den einzelnen Teilverfassungen herzustellen und so zu verhindern, dass das fragmentarische konstitutionelle Gewebe Europas in die Beziehungslosigkeit abgleitet. Wenn nicht nur die Gesellschaft, sondern – wie im Falle Europas – auch das politische Gebilde selbst in verschiedene Teilsysteme fragmentiert ist, deren Regulierung nicht zentral-hoheitlich, sondern nur durch ein Neben- und Miteinander von 282

So prominenterweise Heller, Staatslehre, 270 f., hierzu Wahl, 20 (1981), 485, 485 ff. Vesting, Staatstheorie, Rn. 342. 284 Zu diesem Konzept vgl. Schuppert, Verflochtene Staatlichkeit, 2014. 285 Pernice, EuR 1996, 27, 29 ff. 286 Haltern, AöR 128 (2003), 511, 547. 287 Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, 15. 288 „Republiken und Monarchien, parlamentarische und semipräsidentielle Systeme, starke und schwache Parlamente, Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien, solche mit starken und solche mit schwachen Parteistrukturen, mit starken und schwachen gesellschaftlichen Institutionen, unitarische und föderale Ordnungen, starke, schwache und fehlende Verfassungsgerichte sowie beachtliche Divergenzen hinsichtlich des Gehalts und der Schutzintensivität von Grundrechten“, vgl. Bogdandy, Grundprinzipien von Staat, supranationalen und internationalen Organisationen, http://www.forum-transregionale-studien.de/fileadmin/pdf/rechtskulturen/ Kalender/2012-11/RIK_WP_72012-d-bogdandy-final.pdf?PHPSESSID=e2687997f8d3dfae00 665670dcab4bd5, 03.04.2018. 283

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privaten und öffentlichen Akteuren erfolgen kann, werden selbst staatliche Verfassungen zu bloßen Teilverfassungen innerhalb des politischen Systems, die noch nicht einmal mehr beanspruchen können, die Gesamtheit der politischen Machtausübung zu regeln. Vielmehr können sie nur noch (bestenfalls komplementär) neben den anderen Teilverfassungen stehen, die in die politische Machtausübung ebenfalls permanent hineinwirken und für die der Ordnungsrahmen Europas selbst geradezu ein Musterbeispiel ist – existiert in ihm doch schon seit seinen Ursprüngen besonders deutlich ein „Ensemble von teils geschriebenen, teils ungeschriebenen Teilverfassungen“, das mit den politischen Verfassungen der Mitgliedsstaaten aufs Engste verknüpft ist289, ja: der politische Verfassungsdiskurs selbst wurde in Europa durch die deutsche ordoliberale Schule gerade im Sinne eines Diskurses über nur eine Teilverfassung – der Wirtschaftsverfassung im Sinne der Aufrichtung eines Ideals und einer „politischen Gesamtentscheidung“ über die Wirtschaftsordnung eingeführt290 und erst in den 1990er Jahren im Umfeld des EUI über den deutschen Diskurs hinaus aufgegriffen und universalisiert291. In dem multi-dimensionalen und multi-temporalen Prozess der europäischen Konstitutionalisierung lassen sich daher selbst in Bezug auf den politischen Prozess verschiedenste Teilverfassungen als Schrittmacher identifizieren; meistens ist es die Wirtschaftsverfassung (Europäische Gemeinschaft von Kohle und Stahl, Binnenmarkt usw.)292, teilweise jedoch selbst eigentlich außerhalb der Union liegende Verfassungen wie die EMRK, die den Grundrechtsdiskurs in Europa wesentlich beflügelt und in ihrer Funktion als „living instrument“ trotz des gescheiterten förmlichen Beitritts der Union mit ihren mannigfaltigen Ausstrahlungen schon selbst zu einer eigenen politischen und juristischen Teilverfassung Europas herangereift ist293. Europa ist somit von Anbeginn an gerade in seinem politischen System von einer in den Verfassungspluralismus führen müssenden „Splitterdynamik“294 erfasst, die durch die defizitäre Kommunikationskompetenz Europas, die ein gemeineuropäisches Denken und einen gemeineuropäischen Diskurs unmöglich machen muss295, in ihrer horizontalen Dimension noch weiter verschärft ist. Viel 289

Häberle, DVBl. 2000, 840, 840 f. Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, 1937, 65; Böhm / Großmann-Doerth / Eucken, in: Lutz (Hrsg.), Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie: Zurücker Vorträge, 1971, 96. Zu nennen sind in diesem Kontext insbesondere auch die Namen Walter Hallstein, Carl Friedrich Ophüls, Karl Carstens, Wilhelm Grewe, Ernst Steindorff und Hermann Mösler, vgl. Vauchez, Brokering Europe, 26 f. 291 Dazu Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 13. 292 Ebd., 10 f. 293 Häberle, AVR 53 (2015), 409, 410. 294 Zu diesem Begriff Vesting, Staatstheorie, Rn. 282, demzufolge eine Fragmentierungs­ tendenz dann vorliegt, „wenn die Beziehung zwischen der Ebene der Einheit und Allgemeinheit auf der einen Seite und der Ebene der Differenz und Besonderheit auf der einen Seite von Brüchen und Spaltungen, von einer Splitterdynamik erfasst wird“. 295 Grimm, JZ 50 (1995), 581, 588. Siehe demgegenüber das Konzept eines „gemeineuropä­ ischen Verfassungsrechts“, das auf gerade diesen Voraussetzungen aufbauen müsste, vgl. Häberle, EuGRZ 1991, 261, 261 ff. 290

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mehr noch als der Nationalstaat ist Europa daher selbst in seiner förmlichen, „klassisch-konstitutionellen“ Dimension eine plurale, fragmentarische Ordnung296, die keine übergreifende Einheit bilden, sondern durch ihre Verwiesenheit sowohl auf die förmlichen Verfassungen der Mitgliedsstaaten als auch auf das europäische Primärrecht selbst wiederum nur eine „in allen Unionsstaaten … gleichermaßen geltende Teilverfassung“ sein kann297. Die „europäische Verfassung“ besteht aufgrund ihrer verschiedenen Regelungsobjekte also nicht nur aus vielen verschiedenen sektorial gegliederten Teilverfassungen wie etwa der ökonomischen, der sozialen, der juridischen und der politischen Verfassung, die mit verschiedenen Geschwindigkeiten voranschreiten und so einen differenzierten evolutionären Prozess, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen darstellen298, sondern ist durch ihre jeweilige mitgliedsstaatliche und europäische Dimension noch weiter horizontal untergliedert: Sie bildet ein polyarchisches, fragmentarisches, sowohl die mitgliedsstaatliche als auch die europäische Ebene erfassendes Ensemble, in dem Widersprüche zusammenfallen, ohne in einem größeren Rahmen in einer übergreifenden Einheit aufgehoben werden zu können. b) Die Frage nach der Verfassung Europas als Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilverfassungen: Die Herstellung von Kompatibilitäten durch Kollisionsrecht Wenn es in Europa aber nur Teilverfassungen geben kann, weil seine tatsächlich Verfasstheit polyzentrisch und am besten als Netzwerk zu begreifen ist299, ja wenn die förmliche europäische Verfassung selbst nur eine Teilverfassung im Rahmen eines größeren Verfassungsverbundes darstellen kann, die insbesondere mit den Vorschriften zur Europäischen Union in den jeweiligen förmlichen Verfassungen der Mitgliedsstaaten untrennbar verwoben sein muss300, kann auch die Frage nach der Verfassung Europas nicht am Gedanken der Einheit, sondern nur an dem der Differenz orientiert sein. In einer Netzwerkperspektive ist die Differenz nicht etwas, das nur als „überständige Erscheinungsform“ zu dulden ist, solange sie noch nicht in einer höheren Gemeinschaft aufgehoben werden kann301; vielmehr geht in ihr Differenz stets vor Einheit: Die Differenz ist für ein Netzwerk ein wesens­prägendes Strukturmerkmal, das durch eine Verfassung nicht mittels starrer Vorrangregeln beseitigt, sondern allenfalls in ihren negativen Folgen durch die Herstellung von Bezügen begrenzt und organisiert werden kann.302 296

Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 82016, 220 ff. Frowein, EuR 30 (1995), 315, 318. 298 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 4 f. 299 Ladeur, Eur Law J 3 (1997), 33, 49–51, 54. 300 Kaufmann, M., JZ 54 (1999), 814, 514 ff.; Iglesias, NJW 52 (1999), 1, 2 f. 301 So aber noch immer häufig das Verständnis in Europa, vgl. Ladeur, in: Franzius / ​Mayer / ​ Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, 124. 302 Ebd., 125. 297

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Im europäischen Kontext bestehen, wie wir gesehen haben, Differenzen aber nicht nur zwischen den einzelnen teilverfassten staatlichen Akteuren, sondern, weil Europa als Vorstufe der globalisierten Welt von hybriden Strukturen geprägt ist, auch zwischen den verschiedenen teilverfassten funktionell differenzierten Sphären der Gesellschaft303. Diese Differenzen aber erfordern nicht die Wiederherstellung einer Einheit, sondern „die Herausbildung von heterarchischen Metaregeln, Verknüpfungsmustern zwischen Netzwerken, Formen der Irritation von Selbstreflexion in Netzwerken und die Ermöglichung von Permeabilität zwischen Netzwerken“304, die gewährleisten, dass die einzelnen Teilverfassungen in ihren potenziell destruktiven Wechselwirkungen durch die Herstellung einer „struktureller Kompatibilität“305, ja durch die Herstellung eines Mindestmaßes an Widerspruchsfreiheit gebändigt werden. Die europäische Verfassung kann mithin nur eine Verfassung von Fragmenten darstellen, die ein indifferentes Nebeneinander einzelner Teilverfassungen – die in fragmentierten Netzwerkstrukturen aufgrund ihrer Pluralität und Themenbreite allgemein zu beobachtende Tendenz zur wechselseitigen Abwendung und Abschottung306 – durch die Herstellung komplementärer Beziehungen zu überwinden versucht, zugleich aber selbst kein Zentrum, kein aus verschiedenen Teilverfassungen bestehendes einheitliches Ganzes307, sondern nur eine unter vielen Teilverfassungen bildet. Mit anderen Worten: Die Aufgabe einer europäischen Verfassung kann nur darin bestehen, das Miteinander der einzelnen Teilverfassungen in einem für eine jede bündische Struktur wenigstens erforderlichen „Schwebezustand“ zwischen chaotischem Pluralismus und vollkommener Einheit308 zu erhalten, indem sie unaufhebbare Kollisionen zwischen Teilverfassungen durch die Bereithaltung eines „Kollisionsrechts“ bewältigt309. Dieses Kollisionsrecht bedeutet dabei jedoch nicht die Beseitigung nachteiliger Differenzen durch Vereinheitlichungen und Harmonisierungen, sondern vielmehr „einen rechtlich geordneten, also supranational abgesicherten Umgang mit der kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Vielfalt Europas als Dauer-

303

Dazu insbesondere Kjaer, Between governing and governance, 150. Ladeur, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als „Superstaat“ gedacht werden, 120. 305 Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 11999, 14. 306 Vesting, Staatstheorie, Rn. 309. 307 Dazu Kämmerer, NVwZ 2015, 1321, 1322; Ladeur, The End of the Universality of Norms as a Model for Europe: The Error of „Seeing like a State“ (J. S. Scott) in the Postmodern Condition, 237 f.; anders noch früher Pernice, in: Randelzhofer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 527. 308 Schmitt, Verfassungslehre, 371, 375 f. geht darüber hinaus noch etwas weitgehender davon aus, dass „jeder Bund auf einer wesentlichen Voraussetzung beruht, nämlich der Homogenität aller Bundesmitglieder, d. h. auf einer substantiellen Gleichartigkeit, welche eine konkrete, seinsmäßige Übereinstimmung der Gliedstaaten begründet und es bewirkt, dass der extreme Konfliktfall innerhalb des Bundes nicht eintritt“. 309 Joerges, in: Franzius / Mayer / Neyer (Hrsg.), Strukturfragen der Europäischen Union, 2010, 287; Pernice, EuR 1996, 27, 31. 304

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aufgabe des Integrationsprojekts“310, die ein störungsfreies und effektives Lernen innerhalb sozialer Systeme erst ermöglicht und so die generelle Voraussetzung dafür schafft, dass die einzelnen teilverfassten Systeme bereit sind, ihre jeweiligen inhaltlich noch unbestimmten Entscheidungen innerhalb gewisser Grenzen tolerant hinzunehmen und wechselseitig anzuerkennen311: Sie muss ein beständig provisorisch bleiben müssender, prozesshaft-tastender Versuch sein, die Europäische Union in ihrer verbundartigen Verfasstheit als „zusammengesetztes System einander ergänzender, also komplementärer Verfassungskomponenten“, die jeweils „eng miteinander verflochten und einander pluralistisch, nicht hierarchisch zugeordnet“ sind312, mit einer perspektivischen Herangehensweise zu begreifen und zu strukturieren, wie sie insbesondere der des Völkerrechts nicht unähnlich ist: Anders als in Bundesstaaten konnte in globalen Sachverhalten aufgrund des Grundsatzes der Gleichheit und Souveränität der Staaten schon immer keinem Recht der kategorische Vorrang zukommen, sodass jeder Versuch der Herstellung einer Hierarchie oder Einheit dort von jeher vergeblich war313. Völkerrecht ist daher von seinen Ursprüngen her kein vertikal zu denkendes Regulierungsrecht, sondern horizontales Koordinationsrecht, das den Umgang zwischen gleichrangigen Nationalstaaten regelt, ohne eine über dieser Ebene liegende Entität zu kennen, die diesen Umgang zentral und verbindlich bestimmen könnte314. Die europäische Rechtstradition hat sich daher daran gewöhnt, das Recht als zuallererst national gebunden, als mit einem konkreten Nationalstaat untrennbar verknüpft zu sehen und es gerade nur in Gestalt von Kollisionsregimen mit dem Recht anderer Staaten in Verbindung zu setzen315, die nicht hierarchisch strukturiert, sondern heterarchische „Verklammerungen  (alias Vernetzungen, Vermittlungen ‚Aufhebungen‘ usw.) von abhängigen Unabhängigkeiten“ sind316. Aus diesen Verklammerungen und Vernetzungen jedoch vermochte sich eine Struktur an diese Koordination heterarchisch regelnden Metaregeln herauszubilden, die das Völkerrecht nicht nur die Qualität eines Koordinationsrechts, sondern auch die einer „Verfassung der internationalen Gemeinschaft“ gibt317. Ein solches von der Beweglichkeit und von der Koordination, Verknüpfung und Verklammerung her gedachtes, flexibles und „materiell-programmatisches“ Verfassungsverständnis318, das keiner förmlichen Verfassung bedarf, scheint auch 310

Joerges, Europarecht als Kollisionsrecht, 287. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 92013, 28. 312 Pernice, Verfassungsverbund, 104. 313 Fischer-Lescano / Teubner, Regime-Kollisionen, 34 ff. 314 Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 128 ff. 315 Mosler, ZaöRV 1968, 481, 481. 316 Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 18. 317 Tomuschat, AöR 33 (1995), 1, 7. 318 Hierzu Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 56. Der Begriff der normativen Verklammerung (allerdings nur bezogen auf das Verhältnis zwischen mitgliedsstaatlichem und eurpäischem Recht) findet sich schon bei BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II) – Rn. 114. 311

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für Europa angemessen zu sein. Auch wenn es sein mag, dass die Einteilung der Welt in Nationalstaaten und nationale Rechtssysteme trotz ihres jeweiligen Bedeutungsverlustes noch nicht überholt ist319 und die Vernetzung der Welt ihre volle Entfaltung bisher noch gar nicht erreicht hat320, können doch nur wenig Zweifel daran bestehen, dass im Nationalstaat, erst recht aber im europäischen Kontext „die soziale Logik des Allgemeinen … ihre Vorherrschaft an die soziale Logik des Besonderen“ verloren hat321: Die Großtendenz scheint unaufhaltsam in eine Richtung zu gehen, in der Konstitutionalisierungsprozesse sich „vom politischen System auf unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren […], die parallel zu politischen Verfassungsnormen zivilgesellschaftliche Verfassungsnormen erzeugen“, verlagern322 und in deren Rahmen der Staat, erst recht aber ein heterarchisches Gebilde wie die Europäische Union nicht mehr souverän zu entscheiden vermag, sondern die staatliche Akteure nur noch organisieren und moderieren können und dabei insbesondere auch andere, nicht-staatliche Akteure in bestehende Entscheidungs- und Lösungsansätze mit einzubinden genötigt sind323. Die globalen Konstitutionalisierungen gesellschaftlicher Systeme bilden somit ein funktionales Äquivalent und eine Alternative zur staatlichen Verfassung, denen gegenüber die staatliche Verfassungen folglich keine hierarchische Überordnung mehr beanspruchen kann, sondern in ihrem Vorranganspruch vielmehr durch ein heterarchisches Verhältnis von netzwerkartigen Verknüpfungen konstitutioneller Normen abgelöst werden muss324: Es besteht eine Zunahme von Interaktionen und Problemlösungen in globalen Bezügen, die weniger durch eine Strukturierung anhand nationalstaatlicher Souveränität als durch eine Zunahme heterarchischer und polyzentrischer Verbindungen und Verflechtungen325, ja durch eine „stabile Dauerveränderung“ gekennzeichnet sind, deren Probleme nicht mehr hierarchisch durch einseitige Entscheidungen, sondern nur noch heterarchisch durch Verfahren gelöst werden können326: Da es in der (post)modernen Welt aber keine Zentralinstanz mehr gibt, die Konflikte einseitig verbindlich regeln könnte, ja überhaupt schon die Annahme eines objektiven und neutralen Standpunktes, von dem aus Kollisionen allgemein­ verbindlich gelöst werden könnten, unter den Bedingungen postmoderner Unge 319

Vesting, Staatstheorie, Rn. 334; Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 164 f. Vesting, Staatstheorie, Rn. 306. 321 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 52018, 11. 322 Teubner, in: Grundmann (Hrsg.), Festschrift für Klaus J.  Hopt zum 70. Geburtstag am 24. August 2010: Unternehmen, Markt und Verantwortung, 2010, 1449. 323 Boehme-Neßler, ZRP 45 (2012), 237, 238. 324 Teubner, Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung „privater“ und „staatlicher“ Corporate Codes of Conduct, 1449; vgl. dazu auch Ladeur, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als „Superstaat“ gedacht werden, 121 f.: „Das neue emergente Rechtsmodell folgt einer entterritorialisierten, die bisherigen Grenzbegriffe überwindenden Logik der Netzwerkbildung, die eigenständige Regeln und Handlungsmuster hervorbringt.“ 325 Teubner, in: Teubner (Hrsg.), Global law without a state, 2006, xiv; Walter, DVBl. 2000, 1, 7. 326 Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, 427. 320

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wissheit „weder geoffenbart noch vernünftig erschlossen“ werden kann, kann auch die Auflösung von Konflikte zwischen verschiedenen Teilsystemen nirgendwo anders als in den jeweiligen konfligierenden teilverfassten Systemen selbst gefunden werden. Der Konflikt zwischen verschiedenen Rationalitätsansprüchen kann damit jedoch nicht „aufgehoben“, sondern nur „ausgehalten“ werden – durch einen Kompromiss, der innerhalb autonomer Sinnsphären durch Aussetzung gegenüber dem Anderen hergestellt und vollzogen wird.327 Dies ist ein anspruchsvolles, spannungsvolles, gewagtes Konzept, das freilich erfordert, dass in den einzelnen teilverfassten Systemen laufend eine vertiefte Berücksichtigung der „gesamt­ gesellschaftlichen Umwelt“ stattfindet328 und gerade in Bezug auf das Recht einen Prozess der permanenten Abstimmung, Kompatibilisierung und Toleranz der verschiedensten Rechtsordnungen erfordert329. Von dieser Perspektive aus stellt sich jedoch gerade aus der Sicht der einzelnen Teilverfassungen die bereits aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit dem Zusammenprall und Widerstreit verschiedener Systeme, die Frage nach dem „Zu­ sammenspiel von sich überlappenden ‚Verfassungsrechtskreisen“ und dem Umgang mit der „Heraufkunft eines ‚interlegalen‘  Netzwerks aus staatlichem Verfassungsrecht und transnationalen Konstitutionalismus“, die die Postmoderne auszeichnet330, aus einem anderen Blickwinkel: Die Teilverfassung kann gerade in Konfliktfällen einerseits auf seine eigene Grenze, auf seinen systeminternen Strukturaufbau und seine systemeigene Ordnungskompetenz nicht verzichten, andererseits kann sie jedoch mit diesen Proprietäten in Konfliktfällen immer nur unvollständig weil einseitig agieren331: Sie kann sämtliche aus der Umwelt kommenden Irritationen nicht ausschließlich mit ihren systemeigenen Instrumentarien bewältigen, sondern muss auch die irritierenden Faktoren der Umwelt selbst berücksichtigen und statt als aus dem System zu verbannende Fremdkörper als „Ort des Übergangs, des Austauschs, als eine Kontaktstelle, als Raum der Verflochtenheit von kulturell-formativen und rechtlich-normativen Phänomenen“ berücksichtigen332 – ein Umstand, der für das Verfassungsverständnis weitgehende Folgen haben muss: Eine derart umweltsensitive, gegenüber irritierenden Faktoren aus den verschiedensten Winkeln der Gesellschaft offene und responsive Konfliktlösung innerhalb teilverfasster Systeme muss jedes Verständnis von Verfassungen als sachlich umfassenden und eindeutig bestimmten Regelungen uneinlösbar machen. An die Stelle derartiger Vorstellungen muss sich vielmehr ein Verfassungsverständ 327

Teubner, Verfassungsfragmente, 229. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 186. 329 Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 12015, 163. 330 Vesting, Ende der Verfassung?, 78. 331 Insbesondere dadurch, dass sie auf die Expansion gesellschaftlicher Konstitutionalisierungen durch eine Expansion ihrer Eigenrationalität reagieren und versuchen, dies zu einem übergreifenden, einheitlichen Ordnungsprinzip zu erheben, etwa durch die Expansion des Rechtlichen, Politischer, Ökonomischen, usw., vgl. Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 661. 332 So in Bezug auf Rechtskollisionen Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 132. 328

II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates 

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nis setzen, das Verfassungselemente auf unterschiedlichsten Ebenen identifiziert333 und jede Vorstellung von einer Einheit der Verfassung nur noch in Gestalt einer „imaginären Fabrikation“, ja als „fiktionale Realität“ zulässt334. c) Die europäische Verfassung als dezentrale Metaverfassung zur selbstsubversiven Begrenzung und wechselseitigen Kompatibilisierung der Teilverfassungen Diese Tendenz, die nicht mehr von souveränen staatlichen Entscheidungen, sondern nur noch von kooperativem Verhalten machtausübender, mit der Gesellschaft eng verzahnter Akteure ausgehen kann335, lässt sich, wie unsere bisher gewonnen Erkenntnisse zeigen, vor allem in der polyzentrischen Netzwerkstruktur Europas ausmachen. Da es in Europa keine zentrale Instanz gibt, von der aus Konflikte gelöst werden können, sondern allenfalls eine Netzwerkzentrale besteht, die trotz aller vertikalen Verknüpfungsmuster und Formeln wie jene vom Vorrang des Unionsrechts höchstens „Erste unter Gleichen“ sein kann, muss auch die Konfliktlösung in der Union heterarchisch vollzogen werden336. Heterarchische Konfliktlösungen jedoch lassen sich im Wesentlichen nur auf zwei Arten vollziehen: Entweder durch Internalisierung des Konflikts in den verfassten Entscheidungsprozessen der kollidierenden Systeme selbst oder durch Externalisierung des Konflikts mittels Verhandlungen und Kooperation zwischen den Systemen337 – oder etwas pointierter gefasst: entweder durch „Selbstsubversionen“ innerhalb der Systeme oder durch „externe Interventionen“ zwischen Systemen untereinander338. Konfligierende Systeme können Elemente des jeweils anderen Systems entweder vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verfassungen rekonstruieren und hierbei durch die Schaffung eines eigenen, neuartigen Kollisionsrechts den Konflikt vor ihrem eigenen Forum „entscheiden“ oder aber die Kollision durch ein rechtlich verfasstes Kooperationsverfahren zwischen ihnen thematisieren und austragen, um so die Chancen für eine konsensuale Beilegung des Konflikts zu steigern339. Aus diesen beiden Alternativen vermag sich jedoch auch noch ein dritter Weg zu entwickeln, der infolge des permanent laufenden Prozesses von Konfliktlösungen immer weiter verfolgt und verfeinert werden kann: Verfasste Systeme können gerade im Zuge der laufenden Externalisierung und Internalisierung von Konflikten Regeln entwickeln, mit denen sie die dem Konflikt zugrunde liegenden Sach 333

Walter, DVBl. 2000, 1, 8. Vesting, Ende der Verfassung?, 85 ff. 335 Zu dieser Tendenz bereits visionär Ritter, AöR 104 (1979), 389, passim. 336 Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 163; Teubner, Verfassungs­fragmente, 228. 337 Teubner, Verfassungsfragmente, 229. 338 Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 685. 339 Teubner, Verfassungsfragmente, 230 f. 334

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argumente selbst thematisieren und austragen. Diese an gemeinsamen Konflikten entwickelten Regeln wiederum können darauf hinauslaufen, dass die Systeme sukzessiv ein Art gemeinsames „Mischrecht“ entwickeln, vermittels dessen sie die Verfassungen des jeweils anderen Systems auf sich selbst anwenden und so den Konflikt auf ihrer eigenen Programmebene spiegeln und lösen340 – freilich ohne hierdurch die Trennung zwischen den einzelnen Systemen einschließlich ihres jeweils eigenen binären Codes zu beseitigen341. Diese Herangehensweise, die aus Prozessen der Konfliktlösungen zwischen verfassten Systemen etwas Drittes, einen neuen, „substanziellen“ Weg zur Konfliktlösung ebnen will, ist für das Problem der Lösung von Kollisionen im Ensemble der europäischen Teilverfassungen besonders interessant: Europa muss zuallererst die Fähigkeit anderer teilverfasster Akteure, die sich durch Setzung eigener Standards und Regeln selbstständig und unabhängig von normativen Ansprüchen des Staates zu organisieren und verfassen vermögen342, anerkennen und seine eigene, „formale“ Verfassung aus der weiteren Perspektive dieser plural vorhandenen Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Selbstregulierung und Selbstverfassung betrachten343, mit denen und auf die es „kontrahieren, kooperieren und delegieren“ muss344. Die Struktur Europas erfordert daher gerade in Bezug auf das Rechtssystem eine Öffnung des Rechts gegenüber anderen Rechtsordnungen345, ja eine Verschleifung der Perspektiven von Verfassungspluralismus und Rechtspluralismus346, die es vermag, formale getrennte Rechtsordnungen und Systeme miteinander zu verkoppeln und zu einer Art „Verfassungsnetzwerk“ miteinander zu verbinden347, das in Kollisionsfällen keine starren Vorrangverhältnisse kennt, sondern prozedural, abwägend, von Fall zu Fall348 und unter ständigem Offenlassen der Letztentscheidungsbefugnis reagiert. Das europäische Recht wird dann selbst zu einer Institution, die Austausch­ prozesse zwischen den einzelnen europäischen Rechtsordnungen und Rechts 340

Ebd., 233 f. Ähnlich wie bei den modernen politischen Verfassungen, bei denen der binäre Metacode verfassungsmäßig / verfassungswidrig ebenfalls nicht dazu führt, dass die beide ihm zugrundeliegenden Systeme Politik und Recht mit ihren jeweils binären Codierungen zu nur noch einem System verschmelzen, vgl. Teubner, in: Kadelbach / Günther (Hrsg.), Recht ohne Staat?: Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, 2011, 82. 342 Teubner, Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung „privater“ und „staatlicher“ Corporate Codes of Conduct, 1449. 343 Vesting, Staatstheorie, Rn. 296; in diese Richtung auch Joerges / Kjaer / Ralli, Transnational Legal Theory 2 (2011), 153, 158; Ladeur, The End of the Universality of Norms as a Model for Europe: The Error of „Seeing like a State“ (J. S. Scott) in the Postmodern Condition, 238. 344 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 134. 345 Joerges / Kjaer / Ralli, Transnational Legal Theory 2 (2011), 153, 154. 346 „Insbesondere in einigen Theorien von Verfassungspluralismus sind die Perspektiven von globalem Konstitutionalismus und globalem Rechtspluralismus kaum noch unterscheidbar.“ Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 250. 347 Pernice, Verfassungsverbund, 117 f. 348 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 286 f. 341

II. Notwendige Alternativen zum Konzept des Verfassungsstaates 

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kulturen ermöglicht, strukturiert und ggf. verändert349 und so als Geburtshelfer für eine europäische „Meta-Verfassung“ wirkt, innerhalb derer Normen (etwa in Gestalt von Vorschriften, Zwecken, Werten usw.) den Lösungsprozess nicht mehr steuern, sondern nur noch die Bedingungen und Strukturen für die Lernfähigkeit der teilverfassten Systeme abstützen350. Eine solche Meta-Verfassung enthält keine substanziellen, klassischen „Verfassungsnormen“, sondern bloß Regeln und Prinzipien für die Lösung von Konflikten zwischen den Teilverfassungen, die sich jedoch nicht etwa in einer eigenständigen hierarchischen Institution über den einzelnen Teilverfassungen und auch nicht notwendigerweise in Gestalt eines formalen, kodifizierten Verfassungstextes, sondern nur innerhalb der einzelnen Teilverfassungen selbst manifestiert, nämlich „entweder in Kooperations- und Verhandlungsaktivitäten der Teilverfassungen oder in Kollisionsnormen, welche die einzelnen Teilverfassungen selbst entwickeln“351. Diese der Meta-Verfassung eigenen Prinzipien und Regeln wiederum erzeugen in letzter Konsequenz einen eigenen binären Code, eine Unterscheidung zwischen verfassungsmäßig und verfassungswidrig, der den binären Code der jeweiligen Systeme als Meta-Code hinzugefügt wird, ohne deren Eigenrationalität aufzugeben und die Differenz zwischen ihnen zu beseitigen352. Durch die Herausbildung eines solchen Meta-Codes kann vielmehr eine verfassungstypische strukturelle Kopplung von Recht und dem jeweiligen Sozialsystem erreicht werden, die die Kriterien einer Konstitutionalisierung zu erfüllen vermag: Der binäre Meta-Code unterwirft die durch die Systeme anhand ihrer Eigenrationalität getroffenen Entscheidungen einer weiteren, an sozialverfassungsrechtlichen Kriterien zu messenden Prüfung, die gerade in Bezug auf das Rechtssystem wiederum der binären Unterscheidung Recht / Unrecht übergeordnet und insofern selbst die für Verfassungen typische Hierarchie zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht aufrechterhält, jedoch noch darüber hinausgeht: Weil der binäre Code der Meta-Verfassung nicht nur dem Rechtssystem, sondern allen Systemen als Meta-Code übergeordnet ist, setzt er sämtliche Funktionssysteme einer weiteren Reflexion aus, die den übergreifenden Charakter der Meta-Verfassung noch weiter verstärkt und hierdurch eine alle Systeme erfassende Kompatibilisierungsleistung zu erbringen vermag353. „Konstitutionalisierung“ und „Fragmentierung“ sowie „Konstitutionalismus“ und „Rechtspluralismus“ sind dann keine Gegensätze mehr, sondern werden Teil einer übergreifenden Ordnungsbildung, die nicht mehr von postulierten festen Kohärenzen ausgeht, sondern „als Prozess der Verknüpfung von durch in der Praxis sich bildenden normativen Mustern und Regeln“ verstanden werden muss354, den wesentlich zu befördern die „europäische Verfassung“ als „Meta-Verfassung“ 349

Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 163. Luhmann, ARSP 57 (1971), 1–35, 26. 351 Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 678. 352 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 82. 353 Ebd., 81. 354 Vesting, Staatstheorie, Rn. 347; vgl. auch Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 234 f. 350

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zur Aufgabe hat: Der Begriff der europäischen Verfassung referiert dann auf den Umstand, dass innerhalb des „Verbundes“, dessen Teil sie ist, ein gewisser Anteil an Gemeinsamkeiten, an „Verbindungssträngen, Verflechtungen, Vernetzungen, […] Verknotungen und vielleicht auch Widerhaken bestehen“355, die zu verdichten, aufeinander zu beziehen und vor Abschottungen zu bewahren, ja die normativ zu verklammern sowie vor inkompatiblen Bezügen und Widersprüchen zu verhüten – kurzum: zwischen denen nach gewissen Regeln zu vermitteln und zu vermakeln356 sie als „Netzwerk von Netzwerken“357 zur Funktion haben muss. Eine europäische Verfassung kann daher vor diesem Hintergrund nicht einfach ein förmlicher Text, eine feierlich verabschiedete Urkunde sein, sondern muss zuvörderst den Charakter eines „kulturellen Textes“ haben, der eine institutionell-faktische Einheit nicht herstellen kann358, sondern „in gemeinsamen Referenzpunkten und in einem notwendig abstrakten Sinnhorizont“ eine Einheit allenfalls kontrafaktisch zu unterstellen vermag – als gemeinsamen Sinnhorizont, den es als übergreifende Einheit schon deshalb faktisch nicht geben kann, weil er in jeder Teilverfassung aus einer eigenen Weltsicht jeweils selbst produziert wird359. Stattdessen kann eine europäische Meta-Verfassung nur eine fiktionale Einheit schaffen, die gerade keine Fiktion von substanziellen Verfassungsnormen im tradierten Sinne meint, sondern sich auf gemeinsam herausgeschälte Prinzipien und Verfahren zur Kooperation, Konfrontation und Kollision beschränken und eine reale Einheit überhaupt nur „in harten institutionellen Entscheidungspraktiken der Teilverfassungen, nämlich dann, wenn diese über die Kollisionen entscheiden“ bedeuten kann360. Nur in diesen Kollisionsfällen kann sich anhand ihrer Wirkungen die europäische Verfassung zeigen – als dezentraler und autonomer Reflexionsprozess der Teilverfassungen, der darauf gerichtet ist, kompatible Bezüge zwischen ihnen herzustellen und hierdurch Prinzipien und Regeln einer Meta-Verfassung zu erarbeiten, an denen diese wiederum ihre eigenen Normen zu messen und Kollisionen zu lösen vermögen361.

355

Kämmerer, NVwZ 2015, 1321, 1322 f. Zu dieser sog. „brokering capacity“ des Europarechts Vauchez, Brokering Europe, 6; in diese Richtung auch Viellechner, ZaöRV 75 (2015), 233, 256. 357 Dieser Begriff geht zurück auf Ladeur, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als „Superstaat“ gedacht werden, 131. 358 Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 677. 359 Ebd., 681. 360 Ebd., 682. 361 Ebd., 681. 356

III. Folgen für das europäische Recht

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III. Folgen für das europäische Recht: Anpassung des Rechts an die Ordnung – variable Rechtsordnung statt Rechtsgemeinschaft 1. Das Konzept der variablen Geometrie als Ausdruck und Folge der postmodernen Struktur Europas Wenn aber Europa nicht vom Gedanken der Einheit, sondern vom Gedanken der Verknüpfung und Verklammerung von Differenzen her zu denken ist, wenn es eine europäische Verfassung im „Kollektivsingular“ also nicht geben kann362, muss sowohl eine Erfassung seiner Ordnung als auch seines Rechts von staatsanalogen „Stereotypen“ und „definitorischem Schubladendenken“ Abstand nehmen und sich an die rechtlichen und politischen Realitäten anzugleichen versuchen statt ihnen mit einer kontrafaktischen Normativität gegenüberzutreten363. Bei der EU handelt es sich um ein postmodernes politisches Gemeinwesen, dessen fragmentiertes, plurales Recht ein „Bild verschiedener gleichgeordneter Rechtsdiskurse“ abgibt364, das nur vor dem Hintergrund einer Überlappung und Vernetzung verschiedener gleichgeordneter Rechtsordnungen verstanden werden kann365. Ein solches Verständnis, wie es aus unseren vorstehend gewonnenen Erkenntnissen zwingend folgen muss, hat sich in Europa bisher erstaunlicherweise jedoch nicht recht durchzu­ setzen vermocht, ja es scheint sogar, als gehe die Tendenz im Gegenteil weiterhin in die kontrafaktische Richtung einer zunehmenden normativen Zentralisierung und staatsanalogen Vereinheitlichung366. Die europäische Ordnung ist zwar in administrativer und politischer Hinsicht unbestreitbar polyzentrisch verfasst, ihr Recht ist aber dennoch hierarchisch organisiert und wird als autonom, einheitlich, zentral sowie als mit absoluten Vorrang- und Durchgriffswirkungen ausgestattet gedacht367. Europas Ordnung hat keine Verfassung im herkömmlichen Sinne – aber nicht deswegen, weil es ihm an einer förmlichen Verfassungsgebung mangelt, sondern weil sie in Wirklichkeit gleich mehre hat368: Im europäischen Kontext existieren schon mindestens drei Ordnungsmodelle, die miteinander koexistieren, ohne ihre Divergenzen irgendwie rechtfertigen zu können. Europa hat eine hierarchische Rechtsordnung, eine in festen institutionellen Strukturen verankerte politische Ordnung sowie eine administrative Infrastruktur, die hybrid zwischen verschiedensten Ansätzen von 362

Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 49. Hirsch, NJW 53 (2000), 46, 46; in diese Richtung auch Piris, EuR 2000, 311–350, 347; Schönberger, AöR 129 (2004), 81, 84 ff. 364 Teubner, in: Schmidt (Hrsg.), Liber amicorum Josef Esser: Zum 85. Geburtstag am 12. März 1995, 1995, 201. 365 Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 148. 366 Ladeur, Europa kann nur als Netzwerk, nicht als „Superstaat“ gedacht werden, 122. 367 Weiler, Yearbook of European Law 1 (1981), 267. 368 In diese Richtung Preuß, Ulrich K., Transit: Europäische Revue 17 (1999), 154, 163. 363

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governance und governing oszilliert369. Ordnung und Rechtsordnung, Ordnung und Verfassung fallen damit in Europa besonders augenfällig auseinander, was in Anbetracht der allgemein postulierten Dynamik und Vorläufigkeit erstaunlicherweise jedoch nicht weiter als Problem gesehen wird370 – gleichsam so, als würde sich das Problem durch den immerwährenden Fortschritt des Integrationsprozesses mit der Zeit irgendwann von alleine lösen371. Tatsächlich zeigen jedoch unsere bisher gewonnen Erkenntnisse, dass die ­ ybrid-372, ja die „Avantgardestruktur“373 der EU mit ihrem Netzwerkcharakter H und ihrem Dasein als Entität zwischen der globalen Welt und der Welt der Nationalstaaten sowie der damit einhergehenden Zersplitterung der in ihr bestehenden Wissensbestände einschließlich der Neuartigkeit ihres Integrationsprozesses unabänderlich begründet liegt374 und jedenfalls auf absehbare Zeit nicht in einer föderalen Struktur, wie sie etwa der der Bundesrepublik Deutschland entspräche, aufgehoben werden kann375. Sie bildet eine Ordnungsstruktur, die nicht einfach nur der Setzung einer förmlichen Verfassung ermangelt, sondern die in der ganzen Dimension ihrer Eigenheiten überhaupt noch nicht hinreichend begriffen und erfasst wurde376. Die Union könnte insofern, wenn sie sich ihres durch Vielfalt, Heterar­ chie und Heterogenität gekennzeichneten Netzwerkcharakters mehr bewusst werden würde377, das erste politische Gemeinwesen darstellen, das die Besonderheiten der Postmoderne – ihre Fluidität, Variabilität und Fragmentierung – in ihren mannigfaltigen Implikationen vollauf zu erfassen und sich auf sie einzustellen vermöchte378. Ja vielmehr noch: Wenn ihre normativen Ansprüche dauerhaft Aussicht auf Verwirklichung haben sollen, wird sie sich notwendig an den Eigenheiten ihrer postmodernen Strukturen, an ihren „flüssigen Aggregatzustand“ politischer Herrschaft379 orientieren und sich auch normativ an ihn anpassen müssen380 – können doch gerade im europäischen Kontext nur wenig Zweifel daran bestehen, dass Ordnung und Recht zueinander weitestgehend kongruent sein müssen, wenn das Recht seine Bedeutung und Gestaltungskraft nicht verlieren will381.

369

Joerges, Rethinking European Law’s Supremacy, Juli 2005, 15 ff. Weiler, In defence of the status quo: Europe’s constitutional Sonderweg, 9. 371 Vgl. hierzu nur etwa die Erwartungen an eine zukünftige europäische Verfassung bei Piris, EuR 2000, 311–350, 337. 372 Kjaer, Between governing and governance, 145. 373 Ladeur, Eur Law J 3 (1997), 33, 35. 374 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 615 f. 375 Wieland, JZ 67 (2012), 213, 218. 376 Weiler, The constitution of Europe, 8. 377 Zu diesem Versäumnis („Netzwerkdefizit“) Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 149. 378 Haltern, Eur Law J 9 (2003), 14, 43. 379 Isensee, in: Arnauld / Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundes­ republik Deutschland, 2009, Rn. 36. 380 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 51. 381 Weiler, Yearbook of European Law 1 (1981), 267. 370

III. Folgen für das europäische Recht

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Eine solche Kongruenz zwischen Ordnung und Recht besteht in Europa jedoch bisher nicht; zutreffend ist vielmehr das Gegenteil: Das europäische Recht stellt den Versuch des Aufbaus eines hierarchischen Pyramidenmodelles mit starren Vorrangansprüchen dar, dem keine entsprechende Ordnung an hierarchischer Autorität gegenübersteht. Es ist hierarchisch von oben nach unten strukturiert, während die Autoritäts- und Machtverhältnisse in Europa genau anders herum von unten nach oben verlaufen382 – und gerade unsere vorgewonnenen Erkenntnisse zur Operation und Wirkung des europäischen Rechts in der Eurokrise scheinen nahezulegen, dass die europäische Integration in diesem Punkt ihrer „sozialen Basis“ vorausgeeilt ist383, ja sich von einem Wunschdenken beflügelt geradezu utopisch weit von der Realität entfernt hat. Das europäische Projekt hatte zu Beginn den Anspruch erhoben, einen einheitlichen Herrschaftsverband sowie eine einheitliche Rechtsordnung herauszubilden. Es wurde als einheitlicher, in dieselbe Richtung führender Integrationsprozess gedacht, als dessen treibende Kräfte entweder die Mitgliedsstaaten und deren Kooperationsbemühungen (Intergouvernementalismus) oder die europäischen Institutionen als unabhängige Akteure mit eigener Dynamik (Supranationalismus) gesehen wurden384. Mögen gerade zu Beginn des europäischen Projektes die Strukturen, Institutionen und Begriffe noch so unscharf gewesen, dass man sich nicht anders zu helfen wusste, als etwa von „Quasi-Gesetzgebung“ und „de-facto-Verfassung“ zu sprechen385 sowie das Recht staatsanlaog vom Gedanken der Einheit und Hierarchie her zu denken, so können doch mittlerweile nur noch wenig Zweifel daran bestehen, dass aufgrund der Struktur Europas sukzessiv ein Denken von der Differenz her Fuß gefasst hat – bedauerlicherweise bisher jedoch nicht als Programm, sondern nur als Verlegenheitslösung: Das europäische Projekt hatte zunächst nur die Regulierung der Wirtschaft im Blick, die durch die Herstellung eines gemeinsamen Marktes zu einer Einheit zusammengefügt werden sollte386. Bereits bei der Ausweitung dieses Regelungsgegenstandes im Schengener Übereinkommen vom 1985 hin zu einem europäischen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ hatte sich jedoch gezeigt, dass ein Integrationsschritt aufgrund des Vetos eines Mitgliedsstaates gegebenenfalls nur noch dann erfolgen kann, wenn durch einen intergouvernementalen Vertrag dem europäischen Recht ausgewichen und insofern vom Gedanken der Einheit abgewichen wird – ja es ist festzustellen, dass bisher nahezu jeder Inte­

382

Weiler, In defence of the status quo: Europe’s constitutional Sonderweg, 9; Kjaer, Between governing and governance, 3. 383 Kadelbach, Krise, Umbruch und neue Ordnung, 14; Ladeur, in: Kadelbach / Günther (Hrsg.), Europa: Krise, Umbruch und neue Ordnung, 2014, 143 ff.; Preuß, Ulrich K., in: Kadelbach / Günther (Hrsg.), Europa: Krise, Umbruch und neue Ordnung, 2014, 116. 384 Tömmel, Das politische System der EU, 54. 385 Vauchez, Brokering Europe, 20. 386 Mestmäcker, Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 12003, 49 ff.

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§ 5 Fragmentverfassung

grationsfortschritt an eine solche rechtliche Differenzierung gebunden war387, wie nicht zuletzt auch die mit der EU-Osterweiterung und dem Vertrag von Lissabon verfolgte Erweiterung und Vertiefung der Union zeigen, die von einer besonders „massiven Differenzierung begleitet“ wurden388. Der Anspruch der Vereinheit­ lichung, mit dem Europa gestartet ist, vermochte sich daher aufgrund ihrer polyzentrischen Struktur, aufgrund der in dieser Struktur innewohnenden Spannung zwischen Integrationsfortschritt und Einheit, nicht durchzusetzen, sondern musste sich in den Konzepten eines „Europe á la carte“ und einer „variablen Geometrie“ auflösen und sich mit ihnen begnügen389, die anstelle von Einheit beständig jene konstitutionellen Differenzierungen produzieren, die sich inzwischen zu einem Merkmal der EU verstetigt haben390. 2. Konsequente Übersetzung in die Sphäre des Rechts: Die variable Rechtsordnung Wie sich hieran also zeigt, sind die Differenzierungstendenzen in Europa nicht nur vorübergehende Verlegenheitserscheinungen, sondern vielmehr notwendige Folge seiner Ordnungsstruktur, die unaufhaltsam dort Differenzen hervorbringt, wo normativ eigentlich eine Einheit postuliert wird und deshalb allenthalben nicht als etwas Unvermeidbares, ja als etwa Notwendiges und Angemessenes, sondern im Gegenteil noch immer als etwas Defizitäres gesehen werden. Europa und sein Recht haben sich zwar entgegen ihres Verfassungsprinzips der „Rechtsgemeinschaft“, das Einheit postuliert, immer weiter differenziert und zersplittert; es hat sich gezeigt, dass die „am Verfassungsleben Beteiligten“ nicht mehr gewillt zu sein scheinen, das Konzept der Rechtsgemeinschaft als Verfassungsinhalt auch gegen Widerstände zu realisieren und ihm insofern normative Kraft zu verleihen391. Dieser Verlust an normativer Kraft hat jedoch erstaunlicherweise nicht zu einer grundlegenden Änderung des Verständnisses vom europäischen Recht, nicht zu einem Überdenken seiner Verfasstheit als „Rechtsgemeinschaft“ geführt. Vielmehr scheint es, als habe die „normative Verfassung“ Europas in diesem Punkt „den geistigen, sozialen, politischen oder ökonomischen Entwicklungsstand ihrer Zeit ignoriert“ und insoweit einen „Keim ihrer Lebenskraft“ verloren392, ja als wollte sie die Möglichkeit, sie könnte sich bereits „jenseits des Zustands, den die Europäische Rechtsgemeinschaft als Grundbegriff fasst“ befinden393, nicht wahrhaben.

387

Schimmelfennig, Variable Geometrien. Differenzierung, Integration und Demokratie, 124 f. Ebd., 115. 389 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 31 f. 390 Schimmelfennig, Variable Geometrien. Differenzierung, Integration und Demokratie, 130. 391 Zu diesem Erfordernis der ständigen Aktualisierung von Verfassungsprinzipien Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 44. 392 Zitat bei ebd., Rn. 43. 393 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 488. 388

III. Folgen für das europäische Recht

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Eine „Verfassung“ im Sinne einer normativen Vorstellung von den in einer politischen Gemeinschaft herrschenden Regeln und herzustellenden Zuständen kann jedoch nicht als abstrakter, von der Wirklichkeit entkoppelter „Idealtyp“ errichtet, sondern muss vielmehr von seinem Regelungsobjekt her gedacht und untersucht werden394. Dies gilt erst recht im Hinblick auf das europäische Primärrecht, da diesem vielfach aufgrund seiner Detailliertheit die Weite und Offenheit fehlt, die staatlichen Verfassungen auszeichnet und es ihnen ermöglicht, ohne förmliche „Verfassungsänderungen“ auf Entwicklungen der Zeit zu reagieren395. Eine „europäische Verfassung“ im Sinne eines Bestands normativer Gehalte, die langfristig eine Chance auf Verwirklichung und insofern Aussicht auf die Zuschreibung normativer Kraft haben soll, muss sich daher an der bestehenden Ordnung, an der „faktischen Verfassung“ orientieren396 anstatt wie bisher zu versuchen, diese im „gubernativ-bürokratischen Stil“ kontrafaktisch zu ändern397. Dies bedeutet, dass Europa den aus seiner bisherigen normativen Verfassung als Rechtsgemeinschaft resultierenden Anspruch, alle Mitgliedsstaaten auf einen (rein normativ postulierten) einheitlichen und vorrangigen Rechtsstand zu verpflichten, aufgeben und seiner Recht beweglicher398, ja in Übereinstimmung mit ihrer tatsächlich bestehenden „variablen Geometrie“ ebenfalls variabel denken muss. Europa muss sich in der Vorstellung von seinem Recht nicht nur faktisch, sondern auch normativ vom Gedanken einer „Rechtsform“, einer einheitlichen „Rechtsordnung“ sowie einer in einer festen Semantik verankerten „Rechtswahrheit“ – kurzum: vom Gedanken der Einheit an sich lösen. Denn wenn, wie wir gesehen haben, die europäische Ordnung nicht über „eine referenzfähige Einheit, einen Abschlussgedanken oder eine Metaerzählung“399 verfügt, kann auch das in ihr bestehende Recht nicht mehr adäquat durch die Zuschreibung einer Einheit erfasst und normativ gedacht werden. Diese Tendenz lässt sich schon in den Nationalstaaten abzeichnen, in denen sich bereits ganze „Dschungel von Sonderdogmatiken auf verschiedenen Regulierungsebenen und -feldern“ herausgebildet haben400, viel mehr aber noch gilt sie in globalisierten Kontexten wie dem der EU: Die Globalisierung führt zwar nicht dazu, dass das Recht in seiner westlichen Prägung an Bedeutung verliert; es existiert jedoch nur noch in 394

Vgl. Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, xii. Auffällig für eine Verfassung war auch schon in dem Entwurf eines Vertrages über eine EU-Verfassung die Detailliertheit der darin enthaltenen „Koordinierungskompetenzen“, vgl. dazu Nettesheim, EuR 39 (2004), 511, 518 f. 395 Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 741, 745 f.; vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 19 ff. Zu temporär begrenzten „faktischen“ Verfassungsänderungen in früheren Zeiten der USA, wie sie ähnlich wohl auch in Europa zu erwarten wären, vgl. Kratzmann, Die Verfassungsänderung, 1970, 146 ff. 396 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 51. 397 Zu dieser Tendenz im gegenwärtigen europäischen Verfassungsleben Habermas, Zur Verfassung Europas, 55. 398 Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 741. 399 Vesting, Staatstheorie, Rn. 289. 400 Dazu Stolleis, Öffentliches Recht in Deutschland, 12014, 182.

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§ 5 Fragmentverfassung

einem größeren Kontext, in einer „globalen Rechtsordnung“ fort401, die nur noch von der Differenz, von der Existenz verschiedener, hoch spezialisierter und voneinander abgesonderter Regelungsregime gedacht werden kann, zwischen denen sich keine übergreifende Einheit mehr herstellen lässt402, sondern die in ihrem Verhältnis zueinander vielmehr „offen“ gedacht werden müssen: „Offen“ im Sinne des Bestehens verschiedener, ebenfalls uneinheitlicher Besonderheiten gegenüber anderen Formen der Politikgestaltung, ja im Sinne einer nur noch fallweisen, von Politikbereich zu Politikbereich und von Situation zu Situation unterschiedlichen Handhabung von Entscheidungsverfahren403. Ein solches der europäischen Ordnung angemessenes Rechtsverständnis kann daher dem Recht keine vernünftige Form, keine Rationalität und Objektivität mehr unterstellen, die alle Widersprüche, Spannungen und Paradoxien zu lösen in der Lage wäre: Es kann das Recht nicht mehr als etwas statisch-rationales betrachten, das einem dynamisch-irrationalen politischen Prozess gegenübergestellt und gegenüber diesem mit einer höheren Rationalitätsvermutung versehen wird404. Ein solches Verständnis von europäischem Recht, so wünschenswert es auch möglicherweise wäre, würde nicht zu einer höheren Statik und Festigkeit desselben führen, sondern es bloß mit normativen Erwartungen aufladen, die es nicht einzulösen vermöchte und insofern seine Dynamik nur gefährlich camouflieren: Es würde seine Abhängigkeit und Bezogenheit auf einen deskriptiv komplexen, offenen, unvorhersehbaren und unbestimmten Integrationsprozess405 nur überspielen, ohne es aber zu vermögen, sich von ihm zu lösen, ja ohne eine Einheit von Recht und Politik im Sinne eines normativen Primats des Rechts über die Politik herstellen zu können406 – eine Einheit, die in Europa auch bei Postulierung einer autonomen Geltung seines Rechts ohnehin nicht angenommen werden könnte, 401

Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 12013, 159. „What once appeared to be governed by „general international law“ has become the field of operation for such specialist systems as „trade law“, „human rights law“, „environmental law“, „law of the sea“, „European law“ and even such exotic and highly specialized knowledges as „investment law“ or „international refugee law“ etc. – each possessing their own principles and institutions. The problem, as lawyers have seen it, is that such specialized law-making and institution-building tends to take place with relative ignorance of legislative and institutional activities in the adjoining fields and of the general principles and practices of international law. The result is conflicts between rules or rule-systems, deviating institutional practices and, possibly, the loss of an overall perspective on the law.“ International Law Commission, 11; vgl. dazu auch Snyder, Francis, Eur Law J 5 (1999), 334, 340 f. 403 Dazu im europäischen Kontext in Gestalt der „Offenen Methode der Koordinierung“ Lang, EuR 40 (2005), 381, 381. 404 So häufig aber gerade die deutsche Vorstellung vom Europarecht, vgl. Haltern, Europarecht, 5. 405 Dazu Knodt / Große Hüttmann, Der Multi-Level Governance-Ansatz, 192. Für die Gestaltung eines europäsichen Rechtsraumes und die Ablösung des europäischen Rechts vom Inte­ grationsprozess Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 492. 406 Dazu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 84 f.; Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 523 ff. 402

III. Folgen für das europäische Recht

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weil dieses rein normative Postulat nicht an die faktische Kraft einer politischen Einheit rückgekoppelt wäre407. Diese aus der Differenzierung Europas folgende fehlende Einheit zwischen Recht und Politik bedeutet zwar nicht, dass das Recht in Europa bedeutungslos ist, da sie nichts an der gegenseitigen Angewiesenheit von Recht und Politik zu ändern vermag: Recht ist nicht nur für jede politische Herrschaft sowohl ein unverzichtbares Organisationsmittel als auch eine eigenständige Legitimationsquelle; vielmehr wird auch das Recht erst durch die Sanktionsgewalt der politischen Herrschaft in seinen normativen Erwartungen stabilisiert und hierdurch erst gerechtfertigt408. Wenn eine Einheit zwischen Recht und Politik aber nicht mehr angenommen werden kann, sondern die (selbst wiederum politische)409 Unterscheidung zwischen Politisch und Nicht-Politisch, Recht und Politik sich zu keinem einheitlichen Bild zusammenfügen lässt, wenn Recht und Politik sich also voneinander entfernen, zugleich aber immer noch aufeinander angewiesen bleiben, entstehen vielmehr Möglichkeiten für gänzlich neue Rechtsverständnisse, die eine für Europa angemessene Alternative zu nationalstaatlich geprägten Konzepten darstellen können410: Es entstehen Räumen für andersartige, womöglich sogar wieder an vormoderne Gesellschaftsformen erinnernde Vermittlungsformen zwischen Politik und Recht411, denen ihr Mangel an Einheit, ihre Offenheit und Adaptivität gegenüber anderen Regulierungs- und Entscheidungsverfahren sowie ihre fehlende begriffliche Festlegung – kurzum: denen ihre Variabilität ein gemeinsames Merkmal sein muss. Europäisches Recht kann daher analog zu den vorstehenden Ausführungen über die Verfassung Europas nicht als einheitlicher, nur durch förmliche Verfahren zu setzender und mit normativen Ansprüchen aufzuladender Textkorpus verstanden werden. Vielmehr muss es in Gemäßheit der Ordnung Europas als ein differenziertes teils privatrechtlich, teils öffentlich-rechtlich, teils hybrid verankertes Netzwerk an überlappenden normativen Beständen verstanden werden, das sich von gesellschaftlichen und bürokratischen Praktiken nicht trennen lässt und insofern weder über die Setzung aufgrund förmlicher Verfahren noch durch eine Rückführbarkeit auf förmlich autorisierte Akteure definiert werden kann. Es ist keine von einer Einheit zu denkenden oder auf eine Einheit abzielende, sondern eine polyarchisch zwischen verschiedenen Handlungsformen und Verbindlichkeitsstufen von Fall zu Fall, von Gebiet zu Gebiet und von Akteur zu Akteur oszillierende variable Rechtsordnung, in der die Perspektiven von Faktizität und Normativität, Sein und Sollen beständig wechselwirken und in einem andauernden Spiel der gegenseitigen Anregung und Irritation verschiedener zersplitterter Wissensbestände permanent miteinander verschleifen. 407

Kaufmann, M., Der Staat 36 (1997), 521, 527. Habermas, ZaöRV 72 (2012), 1, 5; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 150. 409 Schmitt, Politische Theologie, 7. 410 Bogdandy, Der Staat 40 (2001), 3, 9 f. 411 Di Fabio, JZ 55 (2000), 737, 739; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1.  408

§ 6 Perspektivenwechsel: Folgen des Verständnisses von der variablen Rechtsordnung Europas für die Rechtspraxis – eine normative Verteidigung des faktischen status quo anhand dreier Beispiele I. Abkehr von starren Hierarchieund Vorrangvorstellungen: Warum der OMT-Fall tatsächlich nicht „entschieden“ werden konnte Da diese postulierte Variabilität des europäischen Rechts nicht die Folge einer idealisierenden, an wünschenswerten Eigenschaften ausgerichteten theoretischen Erfassung, sondern vielmehr notwendige Folge der Ordnungsstruktur Europas ist, die sich gegen jeden Versuch der Implementierung einer kontrafaktischen Einheit letztlich immer durchsetzen muss, kann es nicht verwundern, dass sich seine Folgen und Auswirkungen anhand von praktischen Beispielen unmittelbar veranschaulichen lassen: Ein Recht, das nicht als Einheit, nicht als mit einer den faktischen Wissensbeständen überlegenen normativen Kraft ausgestattet gedacht werden kann, die konkurrierende Autoritätsansprüche einseitig auszuschließen vermöchte, sondern das mit diesen vielmehr verklammert ist und daher in mannigfaltigen Wechselwirkungs- und Abhängigkeitsverhältnissen steht, vermag es auch nicht, die von ihm geschaffenen und sich auf es berufenden Institutionen mit durchsetzbaren, hierarchisch zu denkenden Vorrangrechten auszustatten. Stattdessen muss es den Verbundcharakter, der ihm infolge der ihm zugrundeliegenden Ordnungsstruktur zukommt, auch in diese Rangverhältnisse hinein übersetzen. Dies kann besonders deutlich am Verhältnis zwischen dem EuGH und dem BVerfG – genauer: an der Frage, welchem dieser beiden Gerichte die Letztentscheidungsbefugnis zukommt – verdeutlicht werden, die nicht zuletzt aufgrund des OMT-Verfahrens wieder an Bedeutung gewonnen hat. Das Verhältnis zwischen den beiden Gerichten war im Zuge der Entwicklung des Gedankens vom Vorrang des Europarechts ebenfalls von einem durch den EuGH postulierten starren Vorrangverhältnis geprägt1, der zum einen mit der fehlenden Befugnis des EuGH, über mitgliedsstaatliches Recht zu urteilen2, vor allem aber mit dem Gedanken der Wahrung der Einheit des Europarechts begründet wurde: Die Letztentscheidungskompetenz des EuGH sollte sicherstellen, dass sich in Europa ein einheit 1

Franzius, Europäisches Verfassungsrechtsdenken, 38 f. Fisahn / Ciftci, JA 48 (2016), 364, 367; Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / AEUV: Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 2016, AEUV Art. 1 Rn. 18.

2

I. Abkehr von starren Hierarchie- und Vorrangvorstellungen 

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liches Verständnis sowie ein einheitlicher Anwendungsmodus des Europarechts durchsetzt, der vor der Zersplitterung durch mitgliedsstaatliche Partikularitäten und insbesondere der Durchdringung durch konkurrierendes mitgliedsstaatliches Recht bewahrt wird. Dieses starre Vorrangverhältnis wurde durch das BVerfG zwar im Grundsatz anerkannt, jedoch durch die berühmten Urteile „Solange I“, „Solange II“, „Maastricht“ und „Lissabon“ unter Bemühung der Stellung der Bundesrepublik als einer der Herren der Verträge und der aus ihr folgenden Bedeutung des deutschen Zustimmungsgesetzes zu den europäischen Verträgen3 unter Vorbehalte gestellt, die nicht aus dem Europarecht, sondern einzig aus dem Grundgesetz selbst fließen und von denen die im Zentrum des OMT-Falls stehende sog. „ultra-vires-Kontrolle“ der wohl bedeutendste ist. Aus diesem nur unter Vorbehalt stehenden, „hinkenden Vorrangverhältnis“ hat sich schließlich ein Verständnis entwickelt, das das Verhältnis der beiden Gerichte nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer hierarchischen Über- oder Unterordnung4, sondern vielmehr als „Kooperationsverhältnis“ zu beschreiben sucht5. Dieses Kooperationsverhältnis bedeutet dabei gerade keine Preisgabe des Europarechts an jene Beliebigkeit nationaler Partikularitäten, die der EuGH mit der Postulierung seiner starren Vorranganspruches zu verhindern suchte6; vielmehr wird es durch die Beidseitigkeit der gerichtlichen Autoritätsproklamationen, die zwar konkurrierende, jedoch zum selben pluralen Verfassungssystem gehörende konstitutionelle Sprechakte sind7, in einer faktischen Balance gehalten, die der Gefahr der bloßen Beliebigkeit partikulärer Umstände und Befindlichkeiten entgegenwirkt. Diese Balance wiederum bewirkt eine Ambivalenz, die in dem Fehlen eigener Rechtsimplentationsinstitutionen der EU, die ihre Vorrang- und Harmonisierungsansprüche auch wirklich umzusetzen vermöchten8, ja letztlich in der Absonderung des Rechts vom Nationalstaat bei gleichzeitig fortbestehender Abhängigkeit von demselben im Hinblick auf die Rechtsverwirklichung9 begründet liegt: Wenn wie im Kontext Europas normative Vorrangansprüche bestehen, die einerseits von den Unterworfenen nur unter Vorbehalt anerkannt werden, andererseits aber auch einzig von ihnen selbst durchgesetzt werden können, muss die Entwicklung für 3

Vgl. nur etwa BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 112: „Deutschland ist einer der ‚Herren der Verträge‘, die ihre Gebundenheit an den ‚auf unbegrenzte Zeit‘ geschlossenen Unions-Vertrag (Art. Q EUV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einengegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten. Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab.“ 4 In Kontrast hierzu Lepsius, in: Jestaedt (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht: Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011. 5 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 (Maastricht-Urteil) – Rn. 70, 80. 6 Dahingehend aber Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 499. 7 Tuori / Tuori, The Eurozone crisis, 6. 8 Vesting, Staatstheorie, Rn. 349. 9 Dazu ebd., Rn. 344.

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§ 6 Perspektivenwechsel

alle am Rechtsprozess Beteiligten notwendigerweise in eine Suchbewegung innerhalb eines Netzwerkes von Rechtskommunikationen hineineinführen, für die es „kein Oben und kein Unten, kein Zentrum und keine Peripherie, keinen Ursprung und keinen letzten Grund“ mehr geben kann, sondern die letztlich ein Beweis sein muss für das faktische Bestehen „gleich geordnete[r] Rechtsordnungen mit eigenen Traditionen und Infrastrukturen, die wie die Olympischen Ringe ineinander hängen und sich partiell überlappen“10. Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH entspricht somit einer Struktur, die mit Begriffen wie „Gleichordnung“ oder „Über- und Unterordnung“ nicht mehr erfasst werden kann, sondern nur noch differenziert mithilfe verschiedener Ordnungsbegriffe wie „Einheit, Differenz und Vielfalt, Homogenität und Pluralität, Abgrenzung, Zusammenspiel und Verschränkung“ zu umschreiben ist: Es entspricht – wie die Ordnung Europas insgesamt – einem Verbundcharakter, der nicht auf Hierarchie und Einheit, sondern auf „Eigenständigkeit, Rücksichtnahme und Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln gleichermaßen angelegt“ ist11 und das gesamte europäische Gemeinwesen, insbesondere also nicht nur das Verhältnis zwischen EuGH und den mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichten, sondern auch das Verhältnis der mitgliedsstaatlichen Verfassungsgerichte untereinander einschließt und zur Kooperation und zum wechselseitigen Austausch, ja zum wechselseitigen „Ringen um die ‚beste Lösung‘“ einlädt12. Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH darf daher nicht auf eine konfrontative Rangstreiterei hinauslaufen13, sondern muss vielmehr auf ein „effektives, möglichst störungsfreies Lernen im sozialen System“14, nicht auf ein wechselseitiges Zuwerfen des Fehdehandschuhs, sondern auf einen gemeinsamen Lernprozess angelegt sein15. Sie bilden einen „Lernverbund“, der auf eine gegenseitige Respektierung und Durchdringung, auf Anerkennung und responsiven Einbau des jeweils anderen hingeordnet zu sein hat16, der die Frage der „Letztentscheidungsbefugnis“ immer offen17 – ja: variabel, von Fall zu Fall, von Argument zu Gegenargument halten muss. Die Lösung von Kollisionsfällen erfolgt dann zwar noch immer in dem jeweiligen Gericht, jedoch nicht einseitig, durch Missachtung und Verwerfung der jeweils kollidierenden Entscheidung und Postulierung einer übergeordneten Autorität, sondern durch gegenseitige Reaktion und Aufnahme der Argumente des jeweils anderen18.

10

Vesting, VVDStRL 2004, 41, 64. Voßkuhle, NVwZ 29 (2010), 1, 3. 12 Ebd., 8. 13 So auch Di Fabio, Recht im Mehrebenensystem, Rn. 29. 14 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 35. 15 Zu diesem Gedanken vgl. Hoffmann-Riem, NJW 62 (2009), 20, 26. 16 Zu diesem – auch im europäischen Kontext fruchtbaren – Konzept zur Bewältigung von Kollisionen in heterarchisch-transnationalen Bezügen Viellechner, Der Staat 51 (2012), 559, 569 ff. 17 Voßkuhle, NVwZ 29 (2010), 1, 8 18 Teubner, ZaöRV 76 (2016), 661, 679. 11

I. Abkehr von starren Hierarchie- und Vorrangvorstellungen 

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Erst von diesem aus der netzwerkartigen Verbundordnung Europas abzuleiten­ den Verständnis erschließt sich auch eine richtige Einordnung des Verhältnisses zwischen BVerfG und EuGH, wie es sich im OMT-Fall gezeigt hat: Da das BVerfG die Autorität des EuGH und seine Entscheidungskompetenz über EU-Recht aufgrund seiner Verbundstellung grundsätzlich akzeptieren muss, hat es das OMT-​ Programm der EZB nicht sofort als ausbrechenden Rechtsakt verworfen, sondern es vielmehr zuerst im Rahmen eines Vorlagebeschlusses dem EuGH vorgelegt – allerdings nicht etwa in der Erwartung der widerspruchslosen Entgegennahme eines Befehls, der künftigen Verkündung einer nur durch den EuGH einseitig zu offenbarenden „Rechtswahrheit“, sondern durch das explizite Aufzeigen der Gefahr von ausbrechenden Rechtsakten in Fällen monetärer Staatsfinanzierung vielmehr in einer Form, die den EuGH bereits von vornherein dazu zwang, sich gewissen Interpretationsmöglichkeiten nicht anzuschließen, sofern er keinen offenen Konflikt provozieren wollte19. Es ist daher in der Sache weder verwunderlich noch schwer erklärbar, dass der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG bereits eine implizite ultra-vires-Feststellung enthielt, die vom EuGH als Drohgebärde aufgefasst werden musste20. Diese stellte auch keine Entthronung des EuGH dar, dem nach dem europäischen Recht (Art. 37 Abs. 3 ESMV bzw. Art. 344 AEUV) eigentlich ausschließlich die verbindliche Auslegung und Anwendung des vorgelegten Rechtsaktes oblag21. Vielmehr lag in dieser inhaltlichen Vorgabe der erste Akt in einem mehrstufigen Lernprozess, der darauf gerichtet war, eine selbst unter Ökonomen heftig umstrittene Frage – die Frage, ob es sich bei dem OMT-Programm um Wirtschaftspolitik oder aber um ein Mittel zur Wiederherstellung des monetären Transmissionsmechanismus und damit um Währungspolitik handelte – zu entscheiden, und zwar durch das Anstreben eines Ergebnisses, das von beiden Seiten akzeptiert werden kann und somit die Frage der Letztentscheidungskompetenz weiter offen lässt. Tatsächlich wurde der Anstoß des BVerfG durch den EuGH auch aufgenommen, der zwar die Zuordnung der Maßnahme zur Währungspolitik annahm, zugleich aber auch die Bedenken des BVerfG insofern ernst nahm, als er entschied, ein Anleihekaufprogramm dürfe nicht dazu führen, dass Mitgliedstaaten der Anreiz genommen würde, eine gesunde Haushaltspolitik zu betreiben22 – was wiederum durch das 19 Vgl. nur etwa BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 – Rn. 42 f., 100, in denen das BVerfG das „Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung“, die Ausgestaltung der Währungsunion als „Stabilitätsunion“ sowie die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages“ als zentrale Prinzipien bezeichnet, die respektiert werden müssen, sofern keine Verwerfung des OMT-Beschlusses als „ultra-vires“ erfolgen solle (Rn. 42 f.). Konkret erfordere dies, dass der OMT-Beschluss so zu verstehen und auch in Zukunft auszugestalten ist, dass ein „Schuldenschnitt ausgeschlossen werden muss […], Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in unbegrenzter Höhe angekauft werden […] und Eingriffe in die Preisbildung am Markt soweit wie möglich vermieden werden […]“ (Rn. 100). 20 Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 481. 21 Pilz, Der Europäische Stabilitätsmechanismus, 99 f.; Mayer, EuR 49 (2014), 473–514, 479. 22 EuGH, Urteil vom 16. Juni 2015, Rs C-62/14 (OMT), Rn. 109.

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§ 6 Perspektivenwechsel

BVerfG in seinem darauffolgenden Urteil dahingehend im eigenen Sinne weiterentwickelt wurde, dass die Anleihekäufe nicht im Voraus angekündigt werden dürfen, ihr Volumen im Voraus begrenzt sein müsse, nur der Kauf der Anleihen jener Staaten erlaubt sei, die weiterhin an den Kapitalmärkten als kreditwürdig gelten, zwischen Ausgabe und Ankauf eine hinreichende Frist liegen müsse und – schließlich – eine Pflicht bestehe, die Anleihen wieder zu verkaufen, sobald eine Besserung der Lage zu verzeichnen sei23.

II. Abkehr vom Gedanken des einheitlichen Rechtssystems: Warum die erste Griechenlandhilfe, der ESM-Vertrag und der europäische Fiskalpakt tatsächlich europäisches Recht sind Weiterhin ergibt sich aus dem Verständnis des europäischen Rechts als variabler Rechtsordnung, dass eine einheitliche Form in ihm nicht angenommen werden kann. Das europäische Recht besteht vielmehr aus einer Vielzahl differenzierter, teils verbindlicher, teils halb-verbindlicher, teils unverbindlicher Regimes mit einer Fülle von Sondersystemen und Sonderbegriffen, die eine klare Zuordnung zu Rechts„einheiten“ wie etwa denen des Völkerrechts, EU-Rechts oder nationalen Rechts nicht mehr zulassen. Es ist nicht von auf Legitimitätsstrukturen abzielenden Unterscheidungen wie etwa denen zwischen supranational und intergouvernemental, sondern vielmehr von der Form des Regierens und ihrem funktionalen Regulierungsobjekt, von der Unterscheidung zwischen Governing und Governance geprägt, die die beiden Pole bilden, um die das europäische Recht sich tatsächlich zu bewegen pflegt24 und die daher die Forderung nach einer „Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraumes“ viel mehr noch als im Nationalstaat nicht mehr zulässt25. Das europäische Recht ist wie das moderne internationale Recht stattdessen in abgesonderte Teilbereiche fragmentiert, von denen jeder mit eigenen hoch spezialisierten Prinzipien, kognitiven Infrastrukturen und einem eigenständigen „Ethos“ – kurzum: mit einem eigenen Rechtsprogramm aufwartet, die bereits von jener benachbarter Teilbereiche verschieden ist und keine übergreifende Einheit26, keinen „Allgemeinen Teil“ mehr kennt. Wenn aber eine solche Einheit nicht mehr 23

BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Urteil) – Leitsatz Nr. 4. Kjaer, Between governing and governance, 2. 25 Hatje / Mankowski, EuR 49 (2014), 155–170, 168 f. 26 „Each rule-complex or ‚regime‘ comes with its own principles, its own form of expertise and its own ‚ethos‘, not necessarily identical to the ethos of neighbouring specialization. ‚Trade law‘ and ‚environmental law‘, for example, have highly specific objectives and rely on principles that may often point in different directions. In order for the new law to be efficient, it often includes new types of treaty clauses or practices that may not be compatible with old general law or the law of some other specialized branch. Very often new rules or regimes develop precisely in order to deviate from what was earlier provided by the general law. When such deviations or become general and frequent, the unity of the law suffers.“ International Law Commission, 14. 24

III. Abkehr von der Vorstellung klarer semantischer Gewissheiten

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besteht, wenn keine „Einheit der Rechtsordnung“ mehr angenommen, sondern nur noch eine Vielzahl inkommensurabler Regime vorgefunden werden kann, verschwimmen jene Kriterien, die zu bestimmen versuchen, welches Regime zu welcher Rechtsordnung gehört. Die Grenzen zwischen Rechtsordnungen werden unscharf und durchlässig und können nicht mehr anhand förmlicher Entstehungsund Entscheidungsverfahren, sondern nur noch funktional anhand des Gegenstandes bestimmt werden, den sie zu regeln bestrebt sind: Sie erfordern eine variable Zuordnung von Rechtsbeständen, die nicht schematisch, sondern von Fall zu Fall vorgeht und somit auch Ambivalenzen, Verschraubungen und Überlappungen zu erfassen vermag, ja selbst Zuordnungen zu mehreren Rechtsordnungen zulässt. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass es im europäischen Kontext nicht verwunderlich sein kann, wenn sich selbst jenseits vermeintlich festgefügter Regime wie etwa denen des Dubliner Übereinkommens sowie des Schengener Abkommens neue, sich mit diesen verzahnende und verschraubende gewohnheitsrechtliche Regime erwachsen, die diese teilweise erweitern, verändern oder gar unterhöhlen27. Erstaunlich ist es daher auch nicht, wenn die europäischen Akteure trotz eindeutigen Bezuges zu den Aufgaben Europas zur „europäischen Regierung“ nicht auf förmliches Europarecht, sondern wie etwa im Falle der ersten Griechenlandhilfe auf das Privatrecht, im Falle des europäischen Fiskalpakets auf nationales Verfassungsrecht sowie im Falle des ESM-Vertrages auf eine Mischung aus Völkerrecht und luxemburgischen Privatrecht zurückgreifen, das dennoch etwa wie beim ESM-Vertrag in Gestalt von umfassenden Immunitäten bei der Vornahme von „Amtshandlungen“, der Befreiung von der nationalstaatlichen Einkommenssteuer und der Jurisdiktion des EuGH (Art. 37 Abs. 3 ESMV) starke Anlehnungen und Rückkoppelungen an das förmliche Europarecht enthält28. Diese Beispiele demonstrieren vielmehr den variablen Charakter des europäischen Rechts: Sie liegen nicht außerhalb des Europarechts, sondern sind ein Anschauungsbeispiel seines differenzierten Wirkens und damit europäisches Recht schlechthin.

III. Abkehr von der Vorstellung klarer semantischer Gewissheiten: Warum Art. 122 Abs. 2, 123 Abs. 1 und 125 Abs. 1 AEUV in der Eurokrise tatsächlich nicht verletzt wurden Ein Recht, das variabel, d. h. differenziert, dynamisch und offen gedacht werden muss, vermag es schließlich nicht, einheitliche Bedeutungen zu entwickeln, die als einmal erkannte „Rechtswahrheit“ kontext- und zeitunabhängig in einer unveränderten Semantik verankert und aus ihr gleichförmig entfaltet werden können. Ein variables Recht muss vielmehr auch in den Bedeutungen, die sich aus ihm ergeben, variabel gedacht werden: Ebenso wie seine Fragmentierung in verschiedene dif 27 28

Dazu kritisch Häberle, AVR 53 (2015), 409, 415 f. Bark / André Gilles EuZW 24 (2013), 367, 368; Calliess, C., NVwZ 31 (2012), 1, 4.

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§ 6 Perspektivenwechsel

ferenzierte Regimes sind auch seine Bedeutungen in verschiedene konkurrierende Verständnisregime untergliedert, die nicht in einer hierarchisch herzustellenden Einheit aufgehoben werden können, sondern bei der Entfaltung einer Bedeutung immer fort Spannungen, Widersprüche und Differenzen produzieren und so die Feststellung einen klaren Sinns stetig aufschieben müssen29. In Europa besteht nicht ein einheitliches Verständnis vom europäischen Recht, nicht ein zentrales Auslegungs- und Anwendungsregime, sondern unbestreitbar schon wenigstens zwei verschiedene – ein südeuropäisches und ein nordeuropäisches Regime –, was das Konzept der Rechtsgemeinschaft eigentlich nicht zulässt und daher meist bewusst verschwiegen wird30. Aber selbst innerhalb der verschiedenen Auslegungs- und Anwendungsregime bestehen grundlegend verschiedene Verständnishorizonte wie etwa in Deutschland eine Tendenz zur Orientierung am Wortlaut und der Systematik, ja an der „Dogmatik“ von Rechtsnormen oder in Frankreich eine Tendenz zum grundsätzlichen Vorrang der republikanischen Politik31, die sich in der Praxis jeweils auch bei den Auslegungen europäischer Normen spiegeln. Die variable Rechtsordnung Europas kann daher Erwartungen im Hinblick auf „Kontinuitätsstiftung“ sowie die „Sicherung der Regelhaftigkeit und Widerholbarkeit“ bei der Interpretation ihrer Rechtstexte32, die insbesondere durch das Konzept der Rechtsgemeinschaft an sie herangetragen werden, das auf „Rechtstreue in allen Essentialia“ im Sinne einer Einhaltung von festgefügten, in Rechtstexten semantisch verankerten normativen Postulaten ausgerichtet ist33, nicht einlösen. Seine differenzierten Regime sind nicht von normativen Strukturen, die die Konstruktion einer Einheit zulassen würden, sondern durch die Vielfalt der in ihnen bestehenden Wissens- und Erfahrungsbestände, ja durch mannigfaltige kognitive Strukturen geprägt34, in deren faktischer Pluralität sich auch semantische Einheitspostulate verlieren müssen. Das europäische Recht kann daher im Sinne unserer vorstehend gewonnen Erkenntnisse nur darum bestrebt sein, eine prozesshafte Verknüpfung und normative Verklammerung zwischen diesen verschiedenen Anwendungs- und Auslegungsregimen herzustellen, die nicht die Herstellung einer Einheit, sondern nur eine „Annäherung an das Recht“35 im Sinne der Herstellung von kompatiblen Bezügen und einer weitgehenden Vermeidung von Widersprüchen zum Gegenstand haben kann. Die Herstellung der jederzeitigen Berechenbarkeit von Entscheidungen, die

29

Dazu Derrida, Die différance, 80 f. Ladeur, Recht – Wissen – Kultur, 150. 31 Rödder, Europa eins – zwei – drei, 17. 32 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 232. 33 Oppermann, EuZW 2015, 201, 202. 34 Renner, Death by Complexity – the Financial Crisis and the Crisis of Law in World ­Society, 93. 35 Zu diesem Konzept insbesondere im Hinblick auf das Verfassungsrecht Kirchhof, P., NJW 66 (2013), 1, 4. 30

III. Abkehr von der Vorstellung klarer semantischer Gewissheiten

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der Rechtsstaatsgedanke erfordert36, kann im europäischen Recht mithin nicht statisch vom Ergebnis her, sondern nur dynamisch im Sinne der Herstellung der Berechenbarkeit eines auf gegenseitiges Lernen ausgerichteten normativen Verklammerungsprozesses gedacht werden. Dies ist nicht antinormativ und auch kein Ausdruck einer nur noch eingeschränkten oder bedingten normativen Geltung von Rechtsnormen37, sondern vielmehr eine Vorstellung, die es vermag, die Besonderheiten der Dynamik des Regierens in Europa theoretisch richtig zu erfassen38 anstatt ihnen eine kontrafaktische Normativität gegenüberzustellen, die in der Praxis ohnehin weitgehend wirkungslos bleiben muss. Von diesem Punkt schließlich erklärt sich auch, dass es in Europa zwar tatsächlich die überall attestierte „Rechtsstaatlichkeitskrise“ gibt – jedoch nicht, wie es häufig erklärt wird, weil in seinem Kontext einzelne „Rechtsbrüche“ stattgefunden haben, die zu einer Modifizierung der Erwartung einer erheblichen Anzahl an relevanten Akteuren bezüglich des Vertrauens auf das Recht führen mussten39, sondern weil eine unüberbrückbare Differenz zwischen dem normativen Anspruch, den das Konzept Rechtsgemeinschaft erzeugt und der tatsächlich bestehenden Ordnung Europas besteht, die solche Enttäuschungen stetig hervorbringen muss und die nur durch eine Änderung des normativen Anspruches, durch eine Umstellung auf ein Denken von der normativen Verklammerung (alias Vernetzung, Vermittlung, Aufhebung usw.)40 von Differenzen und einem Verständnis von der Variabilität des europäischen Rechts her überwunden werden kann. Die notwendige Folge eines solchen normativen Umdenkens wäre dabei nicht nur eine zunehmende Politisierung europäischen Rechts und eine beständige Einbeziehung seiner vielfältigen Dimensionen41. Vielmehr führt es auch zu einer Abkehr von der Idee von einer normativen Kraft des europäischen Rechts an sich, die einer blanken Kraft des Faktischen selbstständig entgegenstehen soll42 und ersetzt sie durch einen variablen Prozess der wechselseitigen Durchdringung und Verschleifung, in dem die Grenzen zwischen Normativität und Faktizität verschwimmen. Aus diesem Blickwinkel folgt zum einen eine große Begrenzung der Möglichkeiten, die dem europäischen Recht zukommen können. Europa kann nicht durch eine bloße Änderung seiner abstrakten Rechtstexte verändert werden, sondern benötigt hierzu stetig einer anschlussfähigen kognitiven Basis in der Welt der Faktizität, die den normativen Ansprüchen des europäischen Rechts erst zur Ent 36

Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 425. Dahingehend aber in ähnlichem Kontext Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 10 f. 38 Zu diesem Erfordernis an alle Theorien, die die „Regierung Europas“ zu erfassen ver­suchen vgl. Knodt / Große Hüttmann, Der Multi-Level Governance-Ansatz, 195. 39 Bogdandy, EuR 52 (2017), 487, 506 f. 40 Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 18. 41 Haltern, Europarecht, 31. 42 Zu diesem Gedanken Schmitt, in: Schmitt (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954: Materialien zu einer Verfassungslehre, 2003, 446. 37

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§ 6 Perspektivenwechsel

faltung verhelfen: Europa wird etwa nicht dadurch solidarisch, dass der Vertrag von Lissabon den Begriff der Solidarität groß schreibt und ihn in verschiedenen Konstellationen insgesamt 15-mal nennt43, wie nicht zuletzt das Verhalten der Mitgliedsstaaten in der Eurokrise gezeigt hat44. Eine faktische Verwirklichung normativ postulierter Prinzipien kann es in Europa vielmehr erst geben, wenn die einzelnen Anwendungs- und Auslegungsregime, die mit diesen normativen Gehalten zu tun haben, dergestalt miteinander verklammert werden, dass sie diesen auch tatsächlich tragen und ihm so eine solche Bedeutung überhaupt erst zuzuschreiben vermögen. Zum anderen ergibt sich aus diesen Erkenntnissen aber auch, dass es im Umkehrschluss auch keine eindeutigen „Rechtsbrüche“ im europäischen Recht geben kann, sofern nicht die verschiedenen Anwendungs- und Auslegungsregimes durchweg einen solchen annehmen. Von diesem Standpunkt aus erübrigen sich Fragen wie, ob die EU im Zuge der Eurokrise notstandsähnliche Kompetenzen in Anspruch genommen45, ob sie Rechtsbrüche toleriert oder gar selbst vorgenommen46 und damit die „normative Kraft der Verfassung“ geschwächt hat47, ja ob die bereits untersuchten Art. 122 Abs. 2, 123 Abs. 1 und 125 Abs. 1 AEUV während der Eurokrise verletzt wurden. Wie bereits festgestellt muss das europäische Recht aufgrund der Dynamik seiner differenzierten und pluralen Auslegungs- und Anwendungsregime vielmehr stets Differenzen in Gestalt von Bedeutungs­unsicherheiten und Bedeutungsverschiebungen, ja in Gestalt von Bedeutungsaufschiebungen produzieren, die durch die Vielfalt der Amtssprachen in ihren Bandbreiten noch verschärft werden und nicht die Annahme eines klaren Standpunktes, eines einheitlich zu denkenden Bedeutungshorizontes zulassen, von dem aus ein Rechtsbruch mit völliger Sicherheit festgestellt werden könnte. Feststellen lässt sich vor diesem Hintergrund vielmehr nur, ob einzelne Akteure das europäische Recht in ihrer Entscheidungsfindung überhaupt rezipiert haben: Es ist entgegen landläufiger Meinung daher nicht die „Nichtbefolgung des Unionsrechts“48, sondern nur seine Nichtbeachtung, die sich in Europa feststellen lässt und für das europäische Projekt das Ende bedeuten müsste.

43

Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 227 f. Kadelbach, Krise, Umbruch und neue Ordnung, 13. 45 Schorkopf, AöR 2011, 323, 342. 46 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 77; Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 745. 47 Bickenbach, DÖV 69 (2016), 741, 746. 48 So etwa Calliess, C., ZEuS 14 (2011), 213, 231 f. 44

§ 7 Zusammenfassung und Ausblick Die Eurokrise hat elementare Schwächen des europäischen Rechts offengelegt, die die Verfasstheit der Europäischen Union als „Rechtsgemeinschaft“ in Frage gestellt haben. Zwar handelte es sich bei der Eurokrise um eine Grenzsitua­ tion, die an konkrete historische Umstände gebunden war. Grenzsituationen sind allerdings auch über die sie begründenden Umstände hinaus aufschlussreich, weil sich in ihnen die Normativität von der Empirie am klarsten scheidet und somit offenbaren, wie es um die normative Kraft des Rechts, ja um die Grundlage seiner Geltung und Wirkung wirklich bestellt ist. Diese Grundlagen sind im Hinblick auf das euro­päische Recht in mehrfacher Hinsicht problematisch, da in Europa keine Einigkeit darüber besteht, was die Struktur, das Ziel und der maßgebliche Akteur der Union sein soll. Stattdessen herrschen juristische und politische Kampfbegriffe wie jene von der „zwanglosen Rechtsgemeinschaft“ oder der Union als „Schöpfung des Rechts“ und „Quelle des Rechts“ vor, die die Frage danach, wie und warum das europäische Recht eigentlich gilt und wirkt, mehr verdecken als zu beantworten vermögen. Diese Uneinigkeit spiegelt sich daher auch unmittelbar in der Frage wieder, was der Geltungsgrund des europäischen Rechts ist. Traditionell bilden zwar Vernunft und Gewalt die Ankerpunkte, um die sich Theorien zur Begründung der Rechtsgeltung zu bewegen pflegen, die Union schließt ihrem eigenen Anspruch nach jedoch schon einen dieser Ankerpunkte – die Gewalt – als Geltungsgrund kategorisch aus, obwohl sie tatsächlich über eine Reihe von Zwangsmitteln verfügt, mit denen sie ihrem Recht notfalls auch gegen den Willen der Rechtsunterworfenen zur Geltung verhelfen kann. Das Problem einer auf Gewalt gegründeten Rechtsgeltung liegt in der Union jedoch auch an anderer Stelle: Die Gewalt kann aufgrund der in ihr bestehenden grundlegenden Uneinigkeit weder allgemeinverbindlich ausgeübt noch klar zugerechnet werden. Dasselbe gilt für eine vernunftbasierte Geltungstheorie. Denn einen klaren und einheitlichen Vernunftbegriff, der für die Geltung des Rechts fruchtbar gemacht werden könnte, kann es in Europa aufgrund der in seinem Kontext bestehenden Uneinheit in Gestalt zersplitterter Wissens- und Regelbestände nicht geben. Materielle Gründe für die Geltung des europäischen Rechts müssen aufgrund dieser Umstände vielmehr stets ausscheiden. In Europa ist allerdings auch eine rein formelle Geltungstheorie, die die Rechtsgeltung mit der Rückführbarkeit einer Norm auf eine andere, in einem hierarchischen Stufenbau übergeordnete Norm begründen will, nicht möglich. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europäischer Union und den Mitgliedsstaaten besteht kein klares Über- und Unterordnungsverhältnis. Das europäische Recht beansprucht zwar, gegenüber den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten unmittelbare

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§ 7 Zusammenfassung und Ausblick

Anwendung und ausnahmslosen Vorrang zu haben. Dieser Anspruch wird jedoch durch die meisten mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen, die das europäische Recht aus ihrer Sicht gerade nur aufgrund eines ihrer Rechtsordnung entstammenden Anwendungsbefehls gelten lassen wollen, zurückgewiesen. Ein Stufenbau der Rechtsordnung sowie eine einseitige Rückführbarkeit der einen Rechtsordnung auf die andere ist damit nicht möglich; vielmehr lässt sich das Verhältnis zwischen dem europäischen und den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen als Netzwerkstruktur beschreiben, d. h. als ein heterarchisches Verhältnis, das sich insbesondere auch nicht durch die Ordnungsleistung einer europarechtlichen Dogmatik überwinden lässt, weil es dieser aufgrund ihres zersplitterten Charakters selbst an einheitlichen Prinzipien und Methoden, ja an der Fähigkeit zur Einheitsstiftung überhaupt mangelt. Diese fehlende Fähigkeit zur Einheitsbildung ist aufgrund der postmodernen Netzwerkstruktur der Union nicht verwunderlich. Postmoderne Netzwerkstrukturen sind nicht durch Einheit, sondern durch das Nebeneinander von Differenzen gekennzeichnet, die keine Hierarchien und allgemeinverbindliche Ansprüche mehr gelten lassen – ein Umstand, der jedoch im Hinblick auf die Rechtsgeltung misslich ist, da Recht gerade beansprucht, in gleicher Weise gegenüber jedermann, also allgemeinverbindlich zu gelten. Dieses Dilemma versucht Habermas durch seine intersubjektive Geltungstheorie zu lösen, die beansprucht, auch noch unter den Bedingungen der Postmoderne Allgemeinverbindlichkeit zu erzeugen, indem sie die Geltung des Rechts auf die Rückführbarkeit der jeweiligen Normen auf ein legitimitätserzeugendes Diskursprogramm stützt, dessen Grundlage wiederum die freie Zustimmung aller Betroffenen sein muss. Grundlage des Rechts wird damit eine Verschränkung von Demokratieprinzip und Diskursprinzip, die eine ideale Sprechsituation im Sinne einer klaren und allgemeinverbindlichen Unterscheidung zwischen überzeugunsmotivierendem (kommunikativem) und verhaltensinduzierendem (strategischem) Verhalten voraussetzt. Diese Unterscheidung ist allerdings rein normativ und erfordert damit gerade wieder jenes Maß an Einheit, das es in Europa nicht gibt. Die Frage nach der Geltung des Rechts ist damit in Europa nicht nur unbeantwortbar. Sie führt an sich vielmehr auch in ein logisches Trilemma, da es sich bei ihr letztlich um eine Frage nach einem letzten Grund handelt, die notwendigerweise entweder in einen Abbruch des Begründungsverfahrens, einen infiniten Regress oder einen logischen Zirkel hineinführt. Dieses logische Problem ist dabei in Europa in seinen Wirkungen aufgrund der Spezifika der Union noch weiter verschärft, da es anders als im Nationalstaat nicht durch (schein-)plausible einheitsstiftende politische Narrative und Bilder übertüncht werden kann, sondern in seiner Unzulänglichkeit vielmehr ungeschminkt zu Tage tritt. In Europa fehlen daher einheitliche Kriterien, von denen aus Unterscheidungen wie jene zwischen Geltung und Nichtgeltung klar getroffen werden könnten. Stattdessen bestehen in seinem Rahmen wenigstens so viele Unterscheidungsmaßstäbe, wie es Rechtsordnungen gibt.

§ 7 Zusammenfassung und Ausblick

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Ein Ansatz, der die Geltung des Rechts in Europa zu erklären versuchen will, kann daher die Frage nach dem Grund der Rechtsgeltung nicht beantworten, sondern muss sich stattdessen auf die Frage beschränken, wie Geltung im alltäglichen operativen Prozess des europäischen Rechts erzeugt und gehandhabt wird. Den Schlüssel zur theoretischen Erfassung dieser Betrachtung liefert Luhmanns Theorie von der Rechtsgeltung als zirkulierendem Symbol, demzufolge geltendes Recht schlicht das ist, was sich an die operativen Vollzüge des Rechtssystems anzuschließen vermag. Diese Anschlussfähigkeit wird durch den Sprachgebrauch der Juristen bewirkt, der normative Aussagen entweder an das Rechtssystem anschließt oder ihnen diesen Anschluss verwehrt. Dieser Sprachgebrauch ist wiederum über das psychische System der ihn gebrauchenden Individuen strukturell an eine spezifische (Rechts-)Kultur gekoppelt, die damit letztlich darüber entscheidet, was geltendes Recht ist. Von dieser strukturellen Koppelung zwischen dem Sprachgebrauch der Juristen und der Rechtskultur aus erklären sich die offensichtlichen Geltungsprobleme des europäischen Rechts: Dem europäischen Recht fehlt ein Bestand an gemeinsamen Wissen, eine gemeinsame Rechtskultur, die dem Prozess des Anschlusses und Ausschlusses operativer Vollzüge im Rechtssystem hinreichende Stabilität und Regelmäßigkeit verleihen könnte. Es operiert nicht auf Basis starker, „dicker“ sozialer Bindungen, sondern auf Basis schwacher, „dünner“ sozialer Bindungen, die keine eindeutigen binären Unterscheidungen zulassen und so sein Rechtsprogramm zu einem weitgehend erratischen Unterfangen machen, das sich kognitiven Einflüssen nur schwer erwehren kann und insofern dem europäischen Recht eine nur schwache normative Kraft verleihen. Aus dieser normativen Schwäche und kognitiven Sensibilität des europäischen Recht begründen sich drei konkrete Eigenschaften, die ihm innewohnen und sich besonders deutlich in der Eurokrise gezeigt haben: Seine mangelnde Form, seine fortwährende Fragmentierung und schließlich seine semantische Unbestimmtheit, die das europäische Recht noch viel mehr als das Recht des klassischen europäischen Nationalstaates nicht mehr als geschlossenes Begriffssystem, sondern als fluides, „unscharfes“ Recht ausweisen, das nicht durch kohärente System- und Begriffsbildungen, sondern nur durch ein genealogisches, inkrementelles und topisches Falldenken recht begriffen werden kann. Es ist weder in der Lage, von ihm selbst bestimmte Förmlichkeiten wie etwa klare Normerzeugungs- und Normanwendungsverfahren einzuhalten, noch eine einheitliche Rechtsordnung darzustellen, noch aus seiner Semantik heraus hinreichend klare und standfeste Begriffe zu bilden, sodass jeder klassisch-dogmatische Ansatz, der typischerweise wenigstens auf der Befähigung zu solchen Eigenschaften aufbaut, letztlich fehlgehen muss. Hieran würde sich auch nichts ändern, wenn die Europäischen Union und das europäische Recht sich eine förmliche Verfassung geben würden. Zwar wird eine förmliche Verfassungsgebung für Europa häufig vorgeschlagen, um der Europäischen Union jenes Maß an Autonomie und Legitimität zu verleihen, das es ihr ermöglichen könnte, den bereits in den 1960er-Jahren begonnenen Prozess der Hierarchisierung des europäischen Rechts und seines Verhältnisses zu den

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Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten zu vollenden. Diese Vorschläge basieren jedoch durchgehend auf der Annahme, dass mit einer europäischen Verfassung die Europäische Union gleichsam in eine Art Verfassungsstaat umgewandelt werden könnte, der unmittelbar bei den Bürgern ansetzen würde und mit gewissen legitimitätsstiftenden Werten wie Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten untrennbar verknüpft wäre. Letztlich zielt dieses Konzept auf die Vorstellung der Verabschiedung eines eigenständigen europäischen contrat social (Gesellschaftsvertrages) ab, der durch seine Vernünftigkeit die Bürger Europas zusammenschweißen und die Europäische Union somit in ihren Legitimitätsresourcen den Nationalstaaten wenigstens ebenbürtig gegenüberstellen würde. Dieser Ansatz verkennt jedoch die Bedeutung von nahen, „primordialen“ Bindungen in Gruppen, die als kollektives Phänomen aus einem gemeinsamen Gefühl von Nähe und Verbundenheit, ja aus einer gemeinsamen Identität erwachsen und nicht künstlich hergestellt werden können, sondern Folge eines langen historischen Prozesses sind. Erst derartige primordialen Bindungen, die in Europa nur in den Nationalstaaten, nicht aber auf der Unionsebene vorhanden sind, ermöglichen den (fiktiven) Abschluss eines Gesellschaftsvertrages sowie die Schaffung eines Verfassungsstaates. Ohne diese Bindungen, ja ohne eine europäische Nation würde eine förmliche europäische Verfassung am bestehenden Zustand daher nichts ändern. Sie wäre ein bloß anderer Name für europäisches Primärrecht, der die mit ihm verbundenen symbolischen und ästhetischen Erwartungen enttäuschen müsste. Die Frage nach der Verfassung Europas sowie nach der Besserung des Zustandes des europäischen Rechts kann daher mangels vergleichbarer Umstände nicht durch die Übertragung von Versatzstücken aus dem Nationalstaat, sondern nur unter Erfassung und Beachtung der postmodernen Strukturen und Bedingungen der Union angegangen werden. Die Europäische Union ist nicht nur eine Netzwerkstruktur, in der es keine Spitze und kein Zentrum, sondern allenfalls eine „Netzwerkzentrale“ gibt, die höchstens Erste unter Gleichen sein kann. In ihrem Kontext bestehen vielmehr auch mehrere Verfassungen – und zwar nicht nur die förmlichen Verfassungen der Mitgliedsstaaten, sondern auch die Eigenverfassungen der einzelnen differenzierten gesellschaftlichen Systeme, die nur noch aggregiert die Gesamtheit der öffentlichen Machtausübung erfassen. Diese sektorial differenzierten Teil­verfassungen sind im spezifischen Falle Europas zudem auch noch in ihre jeweiligen nationalstaatlichen und europäischen Dimensionen weiter untergliedert und bilden so ein komplexes horizontales Ensemble von Teilverfassungen, ein plurales Verfassungsnetzwerk, das das Projekt zur Schaffung einer europäischen Verfassung zunächst erst einmal zur Kenntnis nehmen muss. Aus dem Befund eines solchen pluralen Verfassungsnetzwerkes folgt nicht das Bedürfnis zur feierlichen Verabschiedung eines förmlichen Verfassungstextes, sondern das Bedürfnis zur Schaffung eines Kollisionsrechts, das das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilverfassungen regelt und sie untereinander vor Widersprüchen, Abschottungen und inkompatiblen Bezügen zu bewahren sucht. Diese

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Kollisionsrecht kann aufgrund der Netzwerkstruktur Europas nicht durch den Einzug einer den konfligierenden Systemen übergeordneten Ebene, wie sie etwa eine förmliche europäische Verfassung zu bilden beanspruchen würde, sondern nur dezentral, in den jeweiligen Netzwerkknoten selbst gebildet werden, und zwar im Rahmen eines Prozesses der permanenten Internalisierung oder Externalisierung von Konflikten: Die einzelnen teilverfassten Systeme können Kollisionen entweder in ihren eigenen Verfassungen durch eine selbstsubversive Begrenzung ihrer jeweiligen Ansprüche oder aber konsensual durch wechselseitige Kompatibilisierung mittels gegenseitiger Verhandlungen lösen. Aus diesem fortlaufenden Prozess der Konfliktlösung kann sich schließlich in den einzelnen Teilverfassungen langsam aber stetig ein Bestand gemeinsamer Werte, Praktiken und Normen – kurzum: eine dezentrale Meta-Verfassung herausbilden, die Kollisionen nach einem gemeinsamen Standard löst und so die zur Konfliktlösung erforderlichen Verfahren und Lernprozesse erleichtert und abstützt. Hieraus folgt, dass nicht nur die europäische Verfassung, sondern auch das europäische Recht nicht mehr vom Gedanken der Einheit und Hierarchie, sondern nur noch vom Gedanken der heterarchischen Verklammerung von Differenzen her gedacht werden kann: Das europäische Recht kann sich nicht dauerhaft von der postmodernen Struktur Europas lösen, sondern muss sich an diese vielmehr anpassen, sofern es keine bloße kontrafaktische Unterstellung sein will. Auf Einheit und Hierarchie abzielende Konzepte wie das der „Rechtsgemeinschaft“ sind daher verfehlt. Stattdessen muss in Europa ein Rechtsdenken einziehen, das sich auch normativ auf Differenzen einstellt und insofern von einzelnen Regelungsregimen her denkt, deren Verhältnis zueinander nicht starr und dogmatisch, sondern flexibel und offen begriffen wird: Ein Rechtsdenken, das keine klar umgrenzten normativen Bestände mehr kennt, sondern vielmehr von einem differenzierten, teils privat, teils öffentlich, teils hybrid verankerten Netzwerk überlappender normativer Bestände mit verschiedensten Stufen der Verbindlichkeit ausgeht, denen es keine festen Formen, Einheiten oder Bedeutungen, sondern vielmehr Paradoxien, Widersprüche und Spannungen unterstellt, und deren Verhältnis es nicht statisch-rational, sondern adaptiv und variabel handhabt. Ein solches Verständnis vom europäischen Recht als einer variablen Rechts­ ordnung muss in der Praxis weitgehende Auswirkungen haben. Eine variable Rechtsordnung kann auf Kollisionen nicht mehr mit starren Hierarchie- und Vorrangansprüchen reagieren, sondern muss ihnen differenziert begegnen. Starre Konflikte wie etwa jener zwischen EuGH und dem BVerfG darüber, wem die Letztentscheidungskompetenz zukommt, lösen sich hierdurch in ein variables Verhältnis, ja in einen wechselseitigen Lernprozess auf, der die Frage der Letztentscheidungskompetenz immer offen lässt und durch eine Verfahren der wechselseitigen Verschleifung der Perspektiven und normativen Aussagen ersetzt. Eine variable Rechtsordnung kann auch nicht vom Gedanken eines klar umrissenen förmlichen Rechtsbestandes, eines acquis communautaire ausgehen, sondern seinen Besitzstand vielmehr nur noch nach funktionalen Kriterien und unter Zulassung mehr-

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dimensionaler Überschneidungen, Überlappungen und Konkurrenzen definieren. Vergeblich müssen in einer solchen Rechtsordnung schließlich auch Versuche einer Verortung klarer Begriffe und Bedeutungen sowie die Befunde eindeutiger Rechtsbrüche sein. An die Stelle solcher Befunde und Atteste tritt vielmehr eine inkommensurable Vielfalt verschiedenster Sichtweisen und Deutungen, die in den allermeisten Fällen jede Eindeutigkeit vermissen lassen müssen. Die Schlussfolgerungen, die aus dem Verständnis des europäischen Rechts als variabler Rechtsordnung folgen, zeigen nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Grenzen dessen auf, wozu das europäische Recht in der Lage sein kann. Wenn das europäische Recht in seiner Geltung und Wirkung den nationalstaatlichen Rechtsordnungen nicht vergleichbar ist, kann es auch nicht dieselben Aufgaben der materiellen Machtbegrenzung und Wertesicherung leisten. Die an das europäische Recht gestellten Ansprüche müssen in Anbetracht seiner inhärenten normativen Schwäche vielmehr drastisch reduziert werden. Vorstellungen wie etwa jene, das europäische Recht könne durch detaillierte Regelungen die Haushaltsdisziplin von Mitgliedsstaaten, ein Verbot monetärer Staatsfinanzierung oder gar ein Bailout-Verbot gewährleisten, müssen weitgehend aufgegeben werden – ja vielmehr noch: Eine Vorstellung, die hinsichtlich dieser Eigenschaften des europäischen Rechts nicht hinreichend sensibilisiert ist, läuft Gefahr, nationalstaatliche Errungenschaften durch eine unkritische Europäisierung zu zerstören, ohne sie auf europäischer Ebene hinreichend ersetzen zu können1. Kurzum: Das Verständnis von der Variabilität der europäischen Rechtsordnung muss auch ein Verständnis von der Variabilität der ihm übertragbaren Aufgaben umfassen  – ein Umstand, der nicht nur zu weiteren (rechts-)wissenschaftlichen Forschungsarbeiten einlädt, sondern auch einen Blick auf ein verändertes Verständnis von Europa eröffnet: Ein Verständnis von einem Europa, das nationale Identitäten nicht ersetzt oder überformt, sondern ergänzt, einem Europa, das seine Verfasstheit nicht hyperstaatlich und hierarchisch, sondern netzwerkartig und nachbarschaftlich begreift, einem Europa, das nicht starr und dogmatisch, sondern sensitiv und flexibel, ja: variabel agiert. Hier liegt ein Lösungsansatz, der nicht nur bestehende rechtliche Probleme, sondern auch politische Gegensätze zu überwinden vermag und so das wiederherstellt, was zusehends in Verfall geraten ist: Unser Haus Europa, zu dem gerade für uns Deutsche wohl nur die geistig und politisch verwildernde Obdachlosigkeit die Alternative wäre.

1

Hierzu auch Bogdandy, Der Staat 39 (2000), 163, 163 ff.

Thesen – Die Eurokrise war für das europäische Projekt kein einmaliger, im Folgenden zu ignorierender Ausnahmefall, vielmehr hat sie grundlegende Schwächen aufgedeckt, deren rechte Erfassung und Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen sein kann. Insbesondere die Frage nach dem Geltungsgrund des europäischen Rechts wurde durch die Eurokrise nachhaltig neu gestellt und kann nun nicht mehr ignoriert werden. – Aufgrund der postmodernen Netzwerkstruktur der Europäischen Union, die vor allem von einem Mangel an Einheit geprägt ist, kann die Geltung des europäischen Rechts weder auf Vernuft noch auf Gewalt gegründet werden. – Weil es aufgrund ihrer uneinheitlichen Struktur ein klares Über- und Unterordnungsverhältnis in der Europäischen Union nicht geben kann, kann das europäische Recht in seinem Verhältnis zu den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten auch nicht als mit Vorrangansprüchen ausgestatteter hierarchischer Stufenbau begriffen werden. – Jede Frage nach dem Geltungsgrund des europäischen Rechts muss in ein logisches Trilemma führen, das anders als im Nationastaat auch nicht durch einheitsstiftende politische Bilder und Narrative überdeckt und in seinen Wirkungen gemildert werden kann. – Der Grund für die Geltung des europäischen Rechts kann daher nur in seinen operativen Vollzügen selbst gesucht werden, die wiederum an spezifische Rechtskulturen gekoppelt sind. Eine einheitliche Rechtskultur gibt es in Europa jedoch nicht. – Das europäische Recht operiert kulturell aufgrund seines Mangels an Einheit auf der Basis schwacher, „dünner“ sozialer Bindungen, die sein Rechtsprogramm infizieren und klare binäre Unterscheidungen im Ergebnis nicht zulassen. Daher ist es von normativer Schwäche geprägt und gegenüber kognitiven Einflüssen besonders empfänglich. – Das europäische Recht kann aufgrund seiner normativen Schwäche über kein geschlossenes Begriffssystem verfügen; es ist vielmehr von unscharfen, fluiden Bedeutungen geprägt, die eher ein inkrementelles, genealogisches und topisches Falldenken als eine dogmatische Herangehensweise nahelegen. – Daher ist das europäische Recht in Fällen kognitiver Herausforderungen wie denen der Eurokrise weder in der Lage, klare Formen wie einheitliche Normerzeugungs- und Normanwendungsverfahren einzuhalten noch einheitliche und standfeste Rechtsbegriffe zu bilden.

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Thesen

– Diese Mängel würden sich auch nicht durch eine europäische Verfassung beheben lassen. Denn aufgrund des bestehenden Mangels an primordialen Bindungen und kollektiver Identität auf europäischer Ebene wäre eine europäische Verfassung letztlich nur ein anderer Begriff für europäisches Primärrecht. Die in eine Verfassung gelegten politischen, rechtlichen und symbolischen Erwartungen müsste sie enttäuschen. – Die Frage nach der europäischen Verfassung muss die Betrachtung der tatsächlichen Ordnung Europas zum Ausgangspunkt nehmen anstatt ihr sofort ein normatives Gegenmodell entgegenzustellen. – Die Ordnung der Europäischen Union ist von ihrer Netzwerkstruktur geprägt, die keine Spitze und kein Zentrum, sondern allenfalls Netzwerkknoten und eine „Netzwerkzentrale“ kennt. In ihr bestehen daher tatsächlich viele Verfassungen, die höchstens aggregiert die Gesamtheit der öffentlichen Machtausübung zu erfassen vermögen. – In einem solchen „Verfassungsnetzwerk“ kann einer förmlichen Verfassung jedoch nur die Rolle zukommen, das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilverfassungen nach der Art eines Kollisionsrechts zu regeln, insbesondere indem sie die einzelnen Teilverfassungen aufeinander bezieht und so vor Widersprüchen und inkompatiblen Bezügen bewahrt. – Ein solches politisches Gebilde kann jedoch nicht vom Gedanken von Einheit und Hierarchie, sondern nur von der heterarchischen Verklammerung von Differenzen her gedacht werden. Auf Einheit und Hierarchie abstellende Konzepte wie das von der „Rechtsgemeinschaft“ sind daher in der Europäischen Union eigentlich verfehlt. – In Europa muss stattdessen ein Rechtsdenken Einzug halten, das das europäische Recht nicht mehr als Rechtsgemeinschaft, sondern als variable Rechtsordnung denkt, die nicht die Einheit, sondern die Differenz zum Ausgangspunkt einer jeden Überlegung macht. – Fragen nach Über- und Unterordnungsverhältnissen und nach eindeutigen Abgrenzungen können daher im europäischen Kontext nicht mehr klar beantwortet werden. Sie müssen sich stattdessen in experimentell-tastenden Prozessen auflösen, die nur noch stück- und fallweise voranschreiten und klare Antworten auf derartige Fragen letztlich immer offen lassen.

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Sachverzeichnis Abbruch der Begründung  68 Allgemeinverbindlichkeit  60, 66 Anschlussfähigkeit  77, 79, 116 Anwendungsbefehl  46, 48 Anwendungsvorrang 48 Ausnahmezustand 119 Autopoiesis  73, 85 Bail-out 20 Bailout-Verbot  126, 128, 130 Binäre Codierung  100, 179 Dekonstruktion  31, 116 Differenz  116, 159, 164, 167, 172, 181, 183, 194 Diskurs 60 Einheit  41, 43, 54, 65, 93, 108, 110, 115 f., 132, 162 f., 165, 167 f., 170, 172, 180 f., 183, 185, 188 Eurokrise  20, 119 Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) 112 Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)  121 Europäische Verfassung  28, 155, 163 f., 168, 172, 180 f., 185 Europäische Zentralbank (EZB)  112 European Stability Mechanism (ESM)  112 Faktor X  117 Form  106 f., 116, 132, 192 Formalismus 87 Fragmentierung  43, 92, 111 Funktionelle Differenzierung  72, 81 Geltung  34, 61, 66, 91 Geltungsvorrang 48 Gemeinschaftsmethode  83, 106 Gesellschaftsvertrag (contrat social)  139, 151 f.

Gewalt  35, 37, 39 f., 58, 65, 70 Governance 42 Grundnorm  45, 50, 58, 68, 135, 156 Heiliges Römisches Reich  82 Heterarchie 74 Hierarchie  44, 47, 49, 51, 53, 136, 165, 168, 181, 183, 188 Infiniter Regress  68 Integrationsfreundliche Auslegung  158 Integrationslehre  157 f., 160 Internationaler Währungsfonds (IWF)  112 Intersubjektivität  60, 62 Kognitive Erwartung  91 Kollisionsrecht  173, 177, 179 Kollisionsregel 53 Kommunikation  60, 71 Kommunikatives Handeln  60, 63 Konstitutionalisierung  43, 164, 170 f., 179 Krise 17 Lebenswelt 63 Legitimistischer Verfassungsbegriff  135, 149 Legitimität  25, 59 f., 138, 142, 144, 153 Letztbegründung 66 Letztentscheidungsbefugnis 188 Mehrebenensystem 18 Meta-Verfassung  179 f. Monetäre Staatsfinanzierung  123 Münchhausen-Trilemma 68 Narrativ 70 Nation  148 f., 152 Nationalstaat  30, 42, 52 f., 68, 87, 97, 109, 118, 120, 132, 134, 141, 145, 150 f., 154, 160, 162, 164 f., 167, 175 Netzwerk  33, 42, 52 f., 70, 77, 91, 110, 120, 165, 167 f., 170, 172, 178, 182, 187, 190

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Netzwerkstaat 167 Normative Kraft  91, 134, 188 Offene Methode der Koordinierung  103 Offene Staaten  51 Ordnung  93, 96, 108, 117–119, 124, 132, 168, 170, 182, 184, 188 Output-Legitimität 161 Outright Monetary Transactions (OMT) ​ 123, 126 f. Paradoxie  17, 66, 76, 82 f., 120 Poietisches Unsystem  132 Postmoderne  43, 56, 58, 65, 162 f., 165, 168, 175, 181 Primordiale Bindungen  144 f., 150 Primordialen Bindungen  152 Rechtsbruch  25, 195 Rechtsdogmatik  55 f. Rechtsform 97 Rechtsgemeinschaft  17, 26, 36, 89 f., 107, 109, 115, 120, 132, 134, 181, 184 f., 195 Rechtskultur  51, 74, 84–87, 91, 109, 117, 143, 155, 158 Rechtspluralismus  167, 171, 178 Rechtsprogramm  80, 84, 86 f., 107, 115, 118, 120 Rechtsquelle  43, 46, 51, 53, 68 Rechtsvergleichung  55 f. Relativismus 58 Rule of Recognition  68 Sanktion 59 Schöpfung des Rechts  46 Sinn 117 Soft Law  94, 99 f. Solidarität  87, 89 f. Souveränität  70, 153 Soziale Bindung  88–90 Sprache  42, 60, 65, 71, 78, 81, 84, 117, 119, 132, 155

Staatenverbund  50, 83 Staatsvolk  42, 140, 145, 148, 152 f., 159 f., 163, 168 Strategisches Handeln  63 Strukturelle Kopplung  84, 179 Stufenbau der Rechtsordnung  46 Superstaat  52, 83, 134, 161 System  44, 72, 84, 93, 108, 168, 177 Teilverfassung  169, 171 f., 176, 178, 180 Transversale Vernunft  125 Umwelt  72, 96 Unionsmethode  83, 106 Variable Geometrie  102, 107, 109, 111, 181, 184 f. Variable Rechtsordnung  33, 134, 181, 184 f., 187 f. Verbundordnung  169, 191 Verfassung  53, 134, 151 Verfassungspatriotismus 139 Verfassungsstaat  65, 138, 147 f., 167 Verfassungsverbund 170 Verknüpfungssymbol 78 Vernunft  35, 40, 58, 65, 71 Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS)  115 Vorranganspruch  49, 181, 183, 185, 188 Vorwissen 64 Währungsunion 26 Wirtschaftsunion 26 Wissen  43, 65, 71, 81 Wohlfahrtsstaat 167 Zirkelschluss  68, 88 Zirkulierendes Symbol  76 Zivilgesellschaftliche Akteure  39, 52, 74, 110, 166, 170, 177 Zwangsgemeinschaft 37 Zweckverband funktionaler Integration  161