Europa mit oder ohne Religion? II: Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa 9783737005074, 9783847105077, 9783847005070

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Europa mit oder ohne Religion? II: Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa
 9783737005074, 9783847105077, 9783847005070

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Religion and Transformation in Contemporary European Society

Band 10

Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Isabella Guanzini, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Kurt Appel / Isabella Guanzini (Hg.)

Europa mit oder ohne Religion? II Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa

Mit 9 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5235 ISBN 978-3-8471-0507-7 ISBN 978-3-8470-0507-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0507-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Kurt Appel / Isabella Guanzini Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte Christian Danz Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Jakob Deibl Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?

29

Martina Roesner Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift . . .

51

Isabella Guanzini Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat .

65

II. Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa Gerhard Langer Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur

. . . . . .

Marianne Grohmann Exil – ein Narrativ der Hebräischen Bibel in europäischen Diskursen

. .

83

95

6

Inhalt

Regina Polak Diversität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Migrationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Rüdiger Lohlker Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos . . . . 131

III. Institutionelle Herausforderungen für ein (post)säkulares Europa Richard Potz Religiöse Pluralisierung der Zivilgesellschaft als Herausforderung des säkularen Rechtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Stefan Hammer Öffentliche Religionen zwischen Kulturalismus und säkularer Vernunft . 167 Julia Mour¼o Permoser Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Wolfram Reiss Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug. Herausforderungen für Staat, Anstalten, Religionsgemeinschaften und Forschung . . . . . . . . . 203 Astrid Mattes Towards a universal religion? Symbolic boundaries in Austrian immigrant integration policies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die AutorInnen und HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Kurt Appel / Isabella Guanzini

Vorwort

Die Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (RaT) wurde 2010 an der Universität Wien eingerichtet, um die wechselseitige Beeinflussung von religiösen Symbolsystemen und politischen Transformationsprozessen zu analysieren. Ein Schwerpunktthema der ersten Periode war dabei die Frage, ob und inwieweit die gegenwärtigen Religionsgemeinschaften in Europa dazu beitragen können, an einem neuen europäischen Narrativ mitzuwirken und am „Projekt Europa“ mitzubauen. Zu diesem Zwecke wurde nach entsprechender Vorbereitungszeit 2013 ein großer Kongress „Rethinking Europe With(out) Religion“ organisiert, der 2014 unter dem Titel „Europa mit oder ohne Religion? Der Beitrag der Religion zum künftigen und gegenwärtigen Europa“ veröffentlicht wurde.1 Ein großer Teil der Mitwirkenden dieses Bandes waren international angesehene Experten, die mit der Plattform in einem wissenschaftlichen Austausch stehen, ergänzt wurde der Band durch Beiträge einzelner Plattformmitglieder. Innerhalb der Plattform wurde das Thema intensiv weiterdiskutiert, wobei der Kongress und die damit verbundene Publikation in vielerlei Hinsicht weitere Anregungen lieferte. Der vorliegende Band ist die Frucht dieser Reflexionsarbeit innerhalb der Plattform und kann inhaltlich als Ergänzung und Weiterführung des oben genannten Bandes betrachtet werden. Natürlich kann er aber auch unabhängig von ihm gelesen werden, da es durchaus das Ziel war, neue Gesichtspunkte des Verhältnisses von Europa und Religion in der aktuellen politisch-kulturellen Situation in die Diskussion aufzunehmen. Der Band selber ist in drei große Kapitel gegliedert, nämlich „Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte“, „Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa“ sowie „Institutionelle Herausforderungen für ein (post)säkulares Europa“. Diese Struktur bringt nicht zuletzt die interdisziplinäre Diskussion der Plattform zum Ausdruck: Neben des Grundlagendis1 Appel, Kurt / Guanzini, Isabella / Walser, Angelika (Hg.): Europa mit oder ohne Religion? Der Beitrag der Religion zum künftigen und gegenwärtigen Europa. Göttingen 2014.

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kurses spielt die Frage nach neuen Narrativen, die das Projekt Europa konstruktiv begleiten können, eine zentrale Rolle, wobei die Frage nach den diese Narrative stützenden Institutionen nicht außer Acht gelassen werden darf.

I. Der erste Teil „Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte“ enthält vier Beiträge. Christian Danz geht in seinem Aufsatz „Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa“ auf die Frage der geschichtlichen Rolle der Religionen für die Herausbildung des gegenwärtigen Europas und seiner Identitäten ein. Besonders wird der Fokus auf die Reformation gelegt, da sie sowohl als Ausgangspunkt einer religiös-motivierten Individualisierung der Gesellschaft als auch einer Pluralisierung der europäischen Religionsgeschichte betrachtet werden kann. Inhaltlich legt Danz besonders den Akzent darauf, dass Religion heute einhergehen muss mit einem reflektierten Endlichkeitsbewusstsein als Grundlage einer Anerkennung des Anderen. Jakob Deibl begibt sich in seinem Beitrag „Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?“ auf die Spurensuche eines Dichters, dessen Werk als paradigmatisch für Europa und dessen Aufnahme religiöser Motive betrachtet werden kann. Deibl betont, dass Europa einen Bedeutungsraum aufeinander verweisender Symbole, Motive und Narrative darstellt, die in mannigfaltigen Verschiebungen und Versetzungen, Translationen und Zitationen immer wieder neu konfiguriert werden. Ohne einen Akt, der als Re-thinking bezeichnet werden kann, gibt es, so die zentrale These, kein Europa. Die religiöse Sprache kann insbesondere die Möglichkeit eröffnen, dem Sprachverlust und der Zerrissenheit der Zeit einen Ausdruck zu geben. Martina Roesner beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift“ mit einem anderen zentralen europäischen Denker, nämlich Edmund Husserl, der in seiner Krisis-Schrift dem europäischen Geist Ausdruck geben will. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei in der Frage nach der geschichtlichen Rolle der europäischen Rationalität in der auf sie gegründeten Kultur. Der Terminus jq_meim (krinein) bringt eine Scheidung der legitimen Ansprüche des europäischen Vernunftgedankens von seinen illegitimen Auswüchsen und Fehlentwicklungen zum Ausdruck. Besonders bedeutsam ist dabei – gegen das Fantasma zeitenthobener Idealität – die Situierung der Vernunft in ihren lebensweltlich-geschichtlichen Ursprüngen (und die Reflexion derselben), was nicht zuletzt auch für eine Verhältnisbestimmung von Religion und Vernunft von Bedeutung ist.

Vorwort

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Der erste Teil des Bandes wird mit einem Beitrag von Isabella Guanzini unter dem Titel „Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat“ abgeschlossen. Im Zentrum steht die Frage nach Rand-Orten, die der Logik eines von Guanzini diagnostizierten allgegenwärtigen bürokratischen Apparates, durch den menschliche Beziehungen in mechanistischen Karikaturen gelebt werden, entgegenstehen. Sowohl dieser Apparat als auch fundamentalistische Religionen bezeichnen zwei Formen des „Aberglaubens“, die beide einer positivistischen Auffassung der Welt geschuldet sind. Die von Guanzini anvisierten Rand-Orte zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegen undurchlässige Zugehörigkeiten für eine neue Offenheit und Sorge um der Unverwechselbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen willen stehen.

II. Der zweite Teil des Bandes trägt den Titel „Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa“. Dieser Teil spürt in besonderer Weise Leitwörtern einiger der großen europäischen Religionen nach und schaut, wie diese europäische Narrative strukturieren. Gerhard Langers Beitrag „Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur“ betont besonders die Dimension der Diaspora. Jiddisch ist Ausdruck einer Diasporakultur, die das Eigene erst dadurch entwickelt, indem es das Fremde integriert. Es handelte sich über Jahrhunderte um eine europäische Sprache, die weltweit gesprochen, rezipiert und verändert wurde. Der jiddischen Kultur gelang es, die vielfältige jüdische Tradition in ihren großartigen Dokumenten zu transportieren. Dabei wies sie eine große Akkulturationsfähigkeit auf, die sich dadurch zur Grundlage für diverse bi- oder polyvalente Identitätskonstruktionen eignete. Marianne Grohmann betont in ihrer Studie „Exil – ein Narrativ der Hebräischen Bibel in europäischen Diskursen“, dass das Exil einen wesentlichen Erfahrungsraum des ethischen, politischen, spirituellen und theologischen Selbstverständnisses von Juden und Christen bildet. Ihre Kernaussage besteht darin, dass die Hebräische Bibel ein großes Repertoire an Texten zur Verfügung stellt, mit denen Erfahrungen von Migration, Vertreibung und Exil gedeutet werden. Der Verlust des Landes bewirkt einerseits eine schwere Krise für die Identität des biblischen Israels, andererseits bewirkt es einen Neuentwurf der eigenen Identität, der sich in Kontinuität mit älteren Identitätskonzepten darstellt. Die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Europa stellt eine weitere tragische Facette der Exilserfahrung dar und ist ein bis heute nachwirkendes Trauma. Das spannungsvolle Verhältnis zwischen der gúla¯h und den im Land

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Kurt Appel / Isabella Guanzini

Israel Lebenden bleibt dabei für jüdische Identität zentral – ein Phänomen, das es so in vergleichbarer Weise im Christentum und im Islam nicht gibt. Die Frage der Migration und die daraus hervorgehenden Narrative sind Thema des Beitrags von Regina Polak mit dem Titel „Diversität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Migrationsgesellschaft“. Besonders unterstrichen wird darin die Bedeutung von neuen Narrativen für Gesellschaften in Transformationsprozessen, also nicht zuletzt Gesellschaften, die massiv durch das Phänomen der Migration strukturiert werden. Polak stellt die Frage, welche Narrative und Erinnerungen christlichen Kirchen in einer Migrationsgesellschaft zur Verfügung stünden, die in gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden können. In diesem Zusammenhang führt der Artikel ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erinnerung fremden Leides und eine Kultur der Diversität, der nicht zuletzt das bis dato vorherrschende Integrationsparadigma in Frage stellt. Der zweite Teil des Bandes wird durch einen Artikel von Rüdiger Lohlker mit dem Titel „Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos im islamischen Bereich“ abgeschlossen. Betont wird darin, wie sehr Videodateien im Internet mittlerweile zu einem Medium des religiösen Ausdrucks geworden sind. Nicht zuletzt Strömungen wie der (Neo-) Salafismus verstehen es, neue Medien wie Internet und Satellitenfernsehen für sich zu nutzen und damit ihre Narrative, die massiv durch diese Medien strukturiert sind, großflächig zu verbreiten. Ein besonderes Charakteristikum sind klare, immer wieder repetierte Botschaften, die durch die ständig wiederkehrende Performanz auch für das Publikum wiederholbar und einprägsam werden.

III. Der dritte Teil des Bandes untersucht in besonderer Weise die „Institutionellen Herausforderungen für ein (post-)säkulares Europa“. Richard Potz behandelt in seinem Beitrag „Religiöse Pluralisierung der Zivilgesellschaft als Herausforderung des säkularen Rechtsstaats“ die rechtlichen Herausforderungen, die sich durch das Ende staatskirchlicher Dominanz und die neue religiöse Pluralisierung in Europa ergeben. Er hält fest, dass in einem säkularen Staat die religiösen Bürger akzeptieren müssen, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Beiträge in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt werden muss, bevor er in die Agenden staatlicher Entscheidungsorgane Eingang finden kann. Religiöse Argumente haben sich ohne fundamentalistische Umsetzungsansprüche im zivilgesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess gleichsam in einer

Vorwort

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für die Religionen in Europa bislang ungewohnten „freien Wildbahn“ der modernen Kommunikationsgesellschaft zu bewähren. Diese Möglichkeit darf ihnen im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht genommen werden. Der Beitrag von Stefan Hammer „Öffentliche Religionen zwischen Kulturalismus und säkularer Vernunft“ nimmt den „cultural turn“ im religionspolitischen Diskurs- und Aktionsraum in den Blick. Die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte führten zu einer verstärkten Thematisierung der Rechte religiöser Minderheiten unter dem Aspekt erwünschter kultureller Vielfalt und negativer Religionsfreiheit. Völlig ausgeblendet bleibt bei dieser Art der Wahrnehmung jedoch der Anspruch an religiöse Gruppierungen, ihre ethischen Normen und Sinngehalte derart reflexiv in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, dass sie auch von säkularen Teilnehmern erwogen werden können. Unter diesen Bedingungen sollte das staatliche Recht die Aufgabe haben, den institutionellen Rahmen für die Möglichkeit einer diskursive Integration jener Gehalte bereitzustellen, ohne dabei die Dichotomie zwischen säkularer Rationalität und identitätsbedingter Glaubenstreue in der Praxis der Zivilgesellschaft zu vertiefen. Julia Mour¼o Permoser erörtert in ihrem Beitrag „Österreichs Abgeordnete im Europäischen Parlament: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion“ die Rolle der Religion im Europäischen Parlament, vor allem im Hinblick auf die Arbeit und Einstellungen der österreichischen Europa-Abgeordneten. Die Hauptthese, die anhand einiger Beispiele belegt wird, geht dahin, dass die Religion des „Anderen“ systematisch politisiert wird, während die Religion der Mehrheit privatisiert wird. Wolfram Reiss analysiert in seinem Artikel „Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug. Herausforderungen für Staat, Anstalten, Religionsgemeinschaften und Forschung“ besonders die religiöse Betreuung in der Institution Gefängnis, an der paradigmatisch Rückschlüsse über die institutionelle und kulturelle Verfasstheit eines Staates überhaupt möglich wären. Der Artikel bietet einen Überblick über religiöse und ethnische Gruppen, die im Justizvollzug von Bedeutung sind sowie über den aktuellen Stand der religiösen Betreuung. Diese ist bisher kaum Gegenstand der Forschung, obwohl sie sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat. Neue Konzepte der Häftlingsbetreuung, die der multikulturellen und multireligiösen Situation Rechnung tragen, müssen in Zusammenarbeit von Staat, Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften entwickelt werden. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Astrid Mattes unter dem Titel „Towards a universal religion? Symbolic boundaries in Austrian immigrant integration policies“. Darin wird anhand einer Fallstudie zur österreichischen Integrationspolitik zwischen 2008–2013 der Frage nachgegangen, wie sich die Rolle von Religionen, namentlich des Christentums und des Islams, in der

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Konstruktion kollektiver Identitäten seitens öffentlicher Autoritäten verändert hat. Während, so die These der Arbeit, das Christentum als Ressource universaler Werte behandelt und somit zum Identitätsmerkmal des „Eigenen“ gemacht wird, lässt sich in der Adressierung des Islams eine Entwicklung beobachten. Ausgehend von der zunächst deutlichen Zuschreibung der Funktion des „Anderen“ kommt es im Zuge institutioneller und parteipolitischer Veränderungen zu einer schrittweisen Einbeziehung bei gleichzeitiger Ausgrenzung von bestimmten, diskursiv weiterhin mit dem Islam verbundenen, Elementen. Abschließend wollen wir die Gelegenheit nutzen und allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt waren, herzlich danken, den Autoren, aber auch Isabella Bruckner, Agnes Leyrer, Christoph Tröbinger, Julia Mour¼o Permoser sowie Francesco Ghia, der den Review-Prozess durchgeführt hat.

I. Philosophische Perspektiven einer europäischen Geistesgeschichte

Christian Danz

Religion – Reformation – Moderne. Anmerkungen zur Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa

Wer über die Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa nachdenkt, wird gut daran tun, sich zunächst den Facettenreichtum seiner Themenstellung ins Bewusstsein zu rufen. Die Frage kann in einem deskriptiven Sinne gemeint sein und sich auf die geschichtliche Rolle der Religionen für die Herausbildung des gegenwärtigen Europas und seiner Identität beziehen. Das Interesse an der Geschichte zielt indes, worauf bereits Ernst Troeltsch hingewiesen hat, stets auch auf ein „Verständnis der Gegenwart“.1 Die Frage nach der Bedeutung der Religionsgeschichte verbindet sich dann mit der nach der möglichen weiteren Gestaltung Europas durch die Religionen. Die kurzen Andeutungen machen bereits deutlich, dass sich in der Themenstellung deskriptive und normative Perspektiven überlagern. Deshalb beinhaltet die Frage nach der Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa stets auch eine Stellungnahme zu dem umstrittenen Verhältnis von Religion und Moderne. Damit erweitert sich freilich die Themenstellung um die Probleme des Religionsbegriffs und um die der gesellschaftlichen Evolution. Angesichts der angedeuteten Überlagerung und Verschränkung von Problemstellungen kann es nicht überraschen, dass die Bedeutung der Religionen und ihrer Geschichte für Europa schon in den Sozialwissenschaften höchst unterschiedlich eingeschätzt wird. Sie bewegen sich um die Extreme Säkularisierung auf der einen Seite und Wiederkehr der Religion auf der anderen. Während ältere Theorien der modernen Gesellschaft von einer Unverträglichkeit von Religion und Moderne ausgegangen sind, so dass jene mit zunehmender Modernisierung verschwinde, mehren sich in den letzten Jahren Stimmen, welche in dieser Deutung der gesellschaftlichen Evolution lediglich „Gründungsmythen zeitgenössischer europäischer Identität“ erblicken.2 Es sei das Selbstbild der Moderne, welches Religion ausschließe,3 aber dieses Bild trügt. Es 1 Troeltsch 2011, S. 206. 2 Casanova 2009, S. 10. 3 Vgl. hierzu auch Seiwert 1995.

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Christian Danz

verkenne die prägende Rolle von Religionen und religiösen Diskursen für das Selbstbild Europas. Die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas sind neben der Antike und der Aufklärung auch gar nicht zu bestreiten.4 Schon Ernst Troeltsch hatte in seinem Historismusband als Aufbauelemente der europäischen Kultursynthese den hebräischen Prophetismus, das klassische Griechentum, den antiken Imperialismus sowie das abendländische Mittelalter benannt.5 „Diese vier Urgewalten sind es, die als die tragenden Grundpfeiler und als die fortzeugenden Kräfte noch die moderne Welt tragen und durchwirken und mit deren Eigenem sich unübersehbar kreuzen und vermischen. Aus allem zusammen und aus dem Einsatz neuer Kräfte muß die seelische Kraft der Zukunft herausgearbeitet werden.“6 Allerdings sind Kollektivsingulare wie das Christentum ebenso Abstraktionen wie der Islam, das Judentum oder der Protestantismus. Geschichtlich gibt es solche Religionsfamilien lediglich im Streit von höchst divergierenden und konfligierenden Selbstdeutungen. Insofern besagt auch der Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlandes noch nichts über deren Beitrag für die Herausbildung des modernen Europas. Damit ist der Problemhorizont meiner nachfolgenden Überlegungen benannt. Sie können – aber das versteht sich von selbst – das Thema nicht in seinem ganzen Facettenreichtum erschöpfend behandeln. Ich beschränke mich auf einen Ausschnitt aus der europäischen Religionsgeschichte. Einsetzen werde ich mit der Reformation. Sie markiert ohne Zweifel einen epochalen Bruch in der europäischen Religionsgeschichte. In ihrer Folge koexistierten divergierende konfessionelle Auffassungen über das Christliche in Europa. Sodann ist in einem zweiten Abschnitt auf die europäische Aufklärung einzugehen. In den Religionsdiskursen der „Sattelzeit der Moderne“ (R. Koselleck) kommt es sowohl im Religionssystem als auch in der Gesellschaft zu beschleunigten Transformationen mit einer hohen Entwicklungsdynamik. Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund kann dann abschließend in einem dritten Abschnitt Stellung zu den in der Gegenwart kontrovers diskutierten Fragen nach der Bedeutung der Religionen für Europa genommen werden. Es wird sich zeigen, dass die Bedeutung der Religionsgeschichte für Europa sehr ambivalent ausfällt. Das beinhaltet freilich für die Religionen die Aufgabe, ein kritisches Selbstverständnis ihrer eigenen Geschichte auszuarbeiten. Nur so können sie einen Beitrag für die europäischen Selbstverständigungsdebatten leisten.

4 Vgl. nur aus dem gegenwärtigen Diskurs Casanova 2009, S. 29. 5 Vgl. Troeltsch 2008, S. 1081–1099. 6 Troeltsch 2008, S. 1093.

Religion – Reformation – Moderne

1.

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Luther und die moderne Welt, oder die Ambivalenz der Reformation

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen 1822 bis 1831 gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Reformation und vor allem in der Gestalt Martin Luthers die „Hauptrevolution“ erblickt, in der „aus der unendlichen Entzweiung […] der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam“.7 Die Reformation ist nicht nur das weltgeschichtliche Datum, mit dem das Zeitalter der Subjektivität und der Freiheit des Individuums anhebt, auch der Reformator trägt für den Berliner Philosophen durch und durch die Züge der Neuzeit, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich lässt. Eine solche Deutung Luthers findet sich freilich nicht nur bei Hegel, sie ist geradezu signifikant für den Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Protestantische Intellektuelle machten, gern auch in Absetzung von der Modernitätsuntauglichkeit und Inferiorität des Katholizismus, den Beginn der Moderne an der Reformation fest und sahen ihre eigene Gegenwart in unmittelbarer Kontinuität zu den Hammerschlägen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche.8 Gewiss, die Deutungen der Reformation sowie ihre Einordnung in den geschichtlichen Entwicklungsgang hängen selbst wieder von einer Stellungnahme zu ihr ab. Aber ist die Reformation wirklich die Morgenröte der neueren Geschichte, wie Hegel meinte, oder nicht doch eine verhängnisvolle Kirchenspaltung, die es zu überwinden gelte?9 Luther hat in der Tat die Innerlichkeit und Individualität in das Zentrum der Religion gerückt.10 Die religiöse Subjektivität tritt in Form des Sündengedankens in den Vordergrund. Dem korrespondiert die grundlegende Funktion des Glaubens als dem Inbegriff und Ganzen des christlichen Heils vor Gott. Der Wittenberger kann den gesamten Gehalt der christlichen Religion in der Formel „[g]laubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht“ zusammenfassen.11 Die sakramentalen Vermittlungen der mittelalterlichen Kirche treten gegenüber der Subjektivität des Glaubens vollständig in den Hintergrund. Auf der Grundlage des innerlichkeitsbezogenen Glaubensbegriffs werden von dem Reformator die Sozialformen der christlichen Religion umgebildet, sodass ein gegenüber dem überlieferten Kirchenverständnis völlig neuartiges Gebilde entsteht. Die wahre Kirche – die unsichtbare Gemeinschaft der Glaubenden – fällt nicht mehr mit der Institution zusammen. 7 8 9 10 11

Hegel 1982, S. 128. Vgl. hierzu Brandhorst 1981. Zu der Kontroverse vgl. Troeltsch 2001; Nipperdey 1986a; Ebeling 1975. Vgl. auch Bellah 2006, bes. S. 40–44. Ausführlich zur Theologie Luthers vgl. Danz 2013a. Luther 1995a, S. 243.

18

Christian Danz

Auch das Verhältnis von Kirche und Staat erfährt eine Neudeutung. Die Kirche ist ausschließlich auf die Innendimension des Glaubens bezogen und die staatliche Gewalt auf das äußere Zusammenleben. „Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich ist auf Erden. Denn über die Seele kann und will Gott niemanden regieren lassen als sich selbst allein. Darum: Wo weltliche Gewalt sich anmaßt, der Seele Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen.“12 Die Dimension der Innerlichkeit, also das Gewissen des Menschen, ist der staatlichen Gewalt entzogen. Hier regiert Gott allein. Wo sich die weltliche Gewalt anmaßt, über das Gewissen zu regieren, da maßt sie sich verwerflicher Weise die Stelle Gottes an, die ihr nicht zusteht. Umgekehrt kann freilich auch die Welt nicht durch das geistliche Regiment regiert werden. Es bezieht sich ausschließlich auf die Innendimension des Glaubens. Allerdings bedarf der wahre Christ weder des Staates noch des Rechts. Er erduldet alles Unrecht und Leiden als von Gott gegeben.13 Der angedeutete innerlichkeitsbezogene Glaubensbegriff Luthers, die Entdeckung der religiösen Individualität sowie die aus ihm hieraus gezogenen Konsequenzen für die Sozialgestalt der Religion mögen modern anmutende Elemente enthalten, sie werden jedoch im Zaume gehalten und überlagert durch die Macht seines Bibelverständnisses, die radikale Betonung des Erbsündengedankens sowie die aus diesem folgende Begründung der Notwendigkeit des Staates zur Eindämmung der Bösen. Das in der Heiligen Schrift niedergelegte Wort Gottes ist die einzige Autorität in religiösen Dingen. Hierzu muss die Bibel freilich selbst in den Rang einer unfehlbaren Wahrheitsinstanz treten, die – im Hinblick auf das Heil des Menschen – klar und vollständig ist und jeden Einzelnen selbst von ihrer Wahrheit überführt. Auch die Freiheit des Christenmenschen meint keine Autonomie, sondern allein die von Gott geschenkte Freiheit von Gesetz und Sünde. Von Luthers Neuprägung des Christentumsverständnisses führt ebenso wenig wie von dem Calvins ein direkter Weg in die Moderne. Gleichwohl bedeutete die Reformation für das frühneuzeitliche Europa einen Modernisierungsschub sondergleichen. Er besteht in dem gegenläufigen Verhältnis von äußerer Pluralisierung und innerer Homogenisierung, welches von der Geschichtsforschung seit einiger Zeit als Konfessionalisierung beschrieben wird.14 In Folge der Reformation sowie des Augsburger Religionsfriedens koexistierten divergierende christliche Konfessionen in Europa, die für die jeweils eigene Deutung des Christlichen den Anspruch erhoben, die einzig wahre Gestalt zu 12 Luther 1995b, S. 60. Vgl. hierzu Holl 1932. 13 Vgl. nur Luther 1995b, S. 48. 14 Vgl. hierzu Kaufmann 2009, S. 702–709.

Religion – Reformation – Moderne

19

sein, während alle anderen als Teufelszeug und Häresie zu verdammen sind. Dadurch ändert sich allerdings auch das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Auch wenn das Stichwort corpus christianum die religionskulturelle Lage des Mittelalters sowie die Situation in Deutschland am Ende des 15. Jahrhunderts nur sehr unangemessen beschreibt,15 so muss man doch mit einer relativ homogenen kirchlichen Einheitskultur rechnen, in der die gemeinsame Religion den Einzelnen in die Gesamtgesellschaft integriert. Mit der Reformation hat sich diese Form der gesellschaftlichen Integration durch die Religion insofern grundlegend geändert, als diese nun allein noch durch divergierende Konfessionen auf der Ebene von kleineren staatlichen Territorien möglich ist. Die Einheitskultur wird nun auf der Ebene der Territorialstaaten als Konfessionskulturen durchgesetzt, und zwar wesentlich effektiver als zuvor.16 Im Hinblick auf die Genese der modernen Welt sind die Reformation und das konfessionelle Zeitalter ambivalent. Die Zuspitzung der Religion auf die Innerlichkeit des Subjekts wird bei Luther von der Objektivität der Schriftautorität überlagert. Der durch die Reformation bewirkten religiösen Differenzierung nach außen korrespondiert in den unterschiedlichen religiösen Territorien eine hohe Homogenisierung nach innen.

2.

Die Transformation der Religionsdiskurse in der Sattelzeit der Moderne

Die Reformation hat die cum grano salis mittelalterliche Einheitskultur aufgelöst und das, wie es Ernst Troeltsch in seiner Studie Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt aus dem Jahre 1906 nannte, konfessionelle Zeitalter herbeigeführt. Drei einander ausschließende und verdammende infallible Kirchentümer diskreditierten das Kirchentum überhaupt, von dem es keinen Plural gibt. Das 16. und 17. Jahrhundert sind nicht mehr Mittelalter, aber sie sind auch nicht Neuzeit; sie sind das konfessionelle Zeitalter der europäischen Geschichte, und erst aus der gegenseitigen, freilich nur relativen Zerreibung dieser drei Übernatürlichkeiten ist die moderne Welt entstanden, die zwar wohl das Übersinnliche, aber nicht mehr das mittelalterliche Übernatürliche kennt.17

Durch die Reformation wurde die europäische Religionsgeschichte wohl grundlegend pluralisiert, aber es wurden nicht die modernen Ideen von Religions- und Gewissensfreiheit sowie des modernen Staates hervorgebracht. Dies 15 Vgl. hierzu Wall 1999; Kohnle 2005. 16 Zum Stichwort Konfessionskulturen vgl. Graf 2001. 17 Troeltsch 2001, S. 247.

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Christian Danz

ist erst das Werk der europäischen Aufklärung. Sie sei – so Troeltsch – „Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte“18 und bedeute „eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten“.19 Die Aufklärung habe zwar religiöse Wurzeln, welche mit der Reformation zusammenhängen, aber nicht auf die aus dieser hervorgegangenen Konfessionskirchen und ihre Wahrheitsansprüche zurückgeführt werden können. Vielmehr seien es die Stiefkinder der Reformation gewesen, die Täufer und Spiritualisten, der englische Independentismus sowie andere reformatorische Sekten, von den neuen Kirchentümern ebenso wie von den Altgläubigen in die „neue Welt“20 vertrieben und von dort auf Europa rückwirkend, welche die Ideen der Menschenrechte, der religiösen Toleranz, der Gewissensfreiheit sowie der Trennung von Kirche und Staat hervorgebracht haben.21 Die religiösen Wurzeln der Moderne liegen nur mittelbar in der Reformation. Die modernen Ideen der Autonomie des Individuums, der Religionsfreiheit sowie der Unterscheidung von Kirche und Staat, die zu den Grundvoraussetzungen des europäisch-demokratischen Selbstverständnisses gehören, sind im Hinblick auf die Reformation eine Wirkung wider Willen. Zivilisiert wurde die europäische Religionsgeschichte nicht durch die Religionen, sondern durch den Staat. Die Entstehung des modernen Staates, der als das Werk eines aus der menschlichen Vernunft hervorgehenden Vertrags und nicht mehr als Stiftung Gottes verstanden wird, sowie – damit einhergehend – die Emanzipation der Rechtsordnung von der Religion im 17. Jahrhundert infolge der rationalen Umformung des Naturrechts durch Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und andere neutralisierte zunehmend die konfessionellen Geltungsansprüche. Der mortal god beschränkt die Willkür der Individuen mit Zwangsgewalt und stiftet dadurch Frieden. Die Selbsterhaltung und Durchsetzung der konfessionellen Wahrheitsansprüche, welche ohne übergreifende rationale Ordnungsstrukturen in einen Krieg aller gegen alle treibt, findet ihre Grenze am Recht. Es ist, mit Immanuel Kant gesprochen, „der Inbegriff der Bedingungen“, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.22 Als solches ist es mit Zwang 18 19 20 21

Troeltsch 1925, S. 338. Vgl. hierzu Pfleiderer / Heit 2008. Troeltsch 1925, S. 339. Troeltsch 2001, S. 267. Vgl. Troeltsch 2001, S. 268: „Hier wurzelt die altliberale Theorie von der Unantastbarkeit des persönlich-inneren Lebens durch den Staat, welche dann nur weiter auch auf mehr äußerliche Dinge ausgedehnt wurde; hier ist das Ende der mittelalterlichen Kulturidee bewirkt, ist an die Stelle der staatlich-kirchlichen Zwangskultur der Anfang der modernen kirchenfreien individuellen Kultur getreten. Es ist zunächst ein rein religiöser Gedanke. Er ist dann säkularisiert und von der rationalistischen, skeptischen und utilitaristischen Toleranzidee überwuchert worden.“ Vgl. hierzu Anselm 2008. 22 Kant 1983, S. 337 (A 33).

Religion – Reformation – Moderne

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verbunden. Jeder hat seine eigene Freiheit so einzuschränken, dass sie mit der Freiheit des anderen zusammen bestehen kann. Das aufgeklärte Zeitalter der Toleranz kannte freilich weder eine grundgesetzlich gesicherte Religionsfreiheit noch andere Grundrechte des Individuums – sie erlangten in ganz Deutschland auch erst nach 1989 Geltung. Und auch das Toleranzverständnis bezog sich, wie John Locke in seinem für die aufgeklärten Debatten einflussreichen Brief über Toleranz erklärte, auf religiös Andersdenkende, nicht aber auf Atheisten und Katholiken.23 Beide gefährden gleichermaßen die bürgerliche Ordnung. Die einen, weil sie keine überindividuelle Instanz anerkennen und somit auch keinen Eid leisten können, und die anderen sind dem römischen Papst zum Gehorsam verpflichtet und können es somit gegenüber der staatlichen Ordnung nicht mehr sein. Die veränderten Rahmenbedingungen, das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft, führten um 1800 in den sich abkühlenden Konfessionskulturen zu einer hohen Veränderungsdynamik. Letzteres spiegelt sich in den Debatten über zunehmenden Religionsindifferentismus.24 Das gehört allerdings zu den Mustern des Diskurses. Entscheidender für unsere Fragestellung sind die Transformationen im Religionssystem selbst. Die von Friedrich Heinrich Jacobi Gotthold Ephraim Lessing in den Mund gelegten Worte, er – Lessing – könne die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr genießen, markieren einen Wandel im Gottesbild. Die überlieferten Begriffe von Gott als weltenthobenes persönliches Wesen, welches die Welt ex nihilo geschaffen hat, ließen sich mit dem veränderten Selbst- und Weltverständnis des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht mehr vermitteln. Dies schlägt sich nirgends so deutlich nieder wie in den großen Streitsachen über die göttlichen Dinge in der Sattelzeit der Moderne.25 Sowohl der zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn in den 1785er Jahren geführte Pantheismusstreit als auch der 1798 an der Jenaer Universität entbrannte Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichte sowie der 1811/12 zwischen Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ausgetragene Theismusstreit indizieren einen dramatischen Plausibilitätsverlust des überlieferten christlichen Gottesgedankens. Diese komplexen und keineswegs einlinigen Transformationsprozesse lassen sich mit der Kategorie der Säkularisierung nur sehr unangemessen erfassen. Die vielschichtigen Überlagerungen und Entgegensetzungen in den Religionsdiskursen der Sattelzeit reflektieren vielmehr die einsetzende gesellschaftliche Ausdifferenzierung. Jetzt erst wird nach der Eigenständigkeit der Religion und ihrem kategorialen Unterschied zu Denken und Handeln, Politik

23 Locke [1685/86] 1975. 24 Vgl. Niethammer 1796. 25 Vgl. hierzu Essen / Danz 2012.

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und Moral gefragt.26 Die „komplexe Fülle teilweise sich widersprechender Entwicklungen“ um 1800 sei, so Hartmut Lehmann, eher als ein Ensemble von Prozessen der Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung zu beschreiben.27 Die Religionsdiskurse pluralisieren sich bereits um 1800, und das nicht nur in den christlichen Konfessionskulturen. Zugleich spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Religion sowohl in den staatstheoretischen als auch den politischen Debatten eine zentrale Rolle. Ihr obliegt nicht nur die Stärkung der Moralität der Staatsbürger,28 sondern vor allem auch die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration. Ohne Religion – so die Meinung durch alle Konfessionskulturen und deren innere Positionsvielfalt hindurch – lasse sich die fragmentierte Gesellschaft nicht integrieren.29 Angriffe auf die Religion werden folglich, wie die kontroversen Debatten um den vermeintlichen Atheismus etwa eines Johann Gottlieb Fichte deutlich machen, als Angriff auf die staatliche Ordnung und ihre Voraussetzungen empfunden. Die für die staatliche Ordnung elementare Funktion der Religion macht erst die Aufregung und einhellige Verurteilung quer durch alle theologischen Lager verständlich, welche das 1835 erschienene epochale Jugendwerk von David Friedrich Strauß erfuhr.30 Die Religionsdiskurse um 1800 dokumentieren starke Transformationen und Verschiebungen im religiösen Feld sowie in den religiösen Semantiken. Einerseits wird die Religion zunehmend von kosmologischen Spekulationen sowie dem politischen Feld abgelöst, und anderseits wird deren unverzichtbare Funktion für den Staat sowie die Gesellschaft betont.

3.

Religion in den Diskursen der Moderne

Die Bedeutung der Religionsgeschichte für die Herausbildung des modernen europäischen Selbstverständnisses ist – wie wir gesehen haben – komplex und vor allem ambivalent. Von den Konfessionskulturen führt kein direkter Weg ins 26 Vgl. nur Schleiermacher 1984. 27 Vgl. Lehmann 1997, S. 13. Vgl. auch ebd.: „Versteht man unter Säkularisierung ein Nachlassen der Orientierung von Einzelnen, von Gruppen und der ganzen Gesellschaft an übernatürlichen Instanzen und Kräften, wobei das Christentum nur eine Variante dieser Grundeinstellung darstellen würde, faßt der Begriff Dechristianisierung sehr viel präziser das Nachlassen eines spezifisch christlichen Einflusses, sei es in der Politik und bei der Begründung der politischen Ordnung, bei der Aufrechterhaltung von öffentlicher Moral, im Erziehungswesen, oder beim Umgang mit Krankheit und Tod, um nur einige von vielen Formen christlicher Prägung des Lebens zu nennen“. 28 Vgl. nur Hegel 1956, S. 220–233 (§ 270). 29 Vgl. Nipperdey 1986b, bes. S. 168; Graf 2005; Danz 2013b. 30 Vgl. hierzu Graf 1989.

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moderne Europa. Die Etablierung der rechtlichen Ordnung im Staat sowie im 20. Jahrhundert die Gewährung von individuellen Grund- und Freiheitsrechten garantieren das friedliche Zusammenleben der Bürger und nicht die Religion. Allerdings beschleunigt das Grundrecht auf Religionsfreiheit auch die Transformationen von Religionssystemen. Der Symboltransfer auf den globalen religiösen Märkten etabliert eine hohe Veränderungsdynamik in den Religionsfamilien, so dass die Innen- und Außengrenzen von Religionswelten zunehmend unschärfer werden. Dadurch erhöht sich nicht nur die innere Pluralisierung und Fragmentierung der Religionsfamilien, sondern es treten neue Spannungen in Folge von Neuerfindungen religiöser Identitäten und mit ihnen verbundener Exklusionen auf. Die staatliche Rechtsordnung befriedet das Zusammenleben und befördert zugleich eine beschleunigte religiöse Differenzierung. Welche Funktion kommt den Religionen vor diesem Hintergrund für das gegenwärtige Europa, die vielfältigen europäischen Integrationsprozesse sowie die Bearbeitung der strukturellen Verwerfungen der modernen Gesellschaft zu? In einer Reihe von Beiträgen hat in den letzten Jahren Jürgen Habermas auf die Bedeutung der Religion auch für die moderne – von ihm nun postsäkular genannte – Gesellschaft aufmerksam gemacht.31 Angesichts eines durch die gesamtgesellschaftliche Modernisierung aus dem Gleichgewicht geratenen Verhältnisses zwischen den zentralen Steuerungsfunktionen der Gesellschaft, insbesondere einer zunehmenden Dominanz des Marktes sowie einer hiermit verbundenen Umstellung der Einstellungen auf „Mechanismen des erfolgsorientierten, an je eigenen Präferenzen orientierten Handelns“,32 können die religiösen Traditionen auch einer sich säkular verstehenden Gesellschaft nicht mehr gleichgültig sein. „Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wach gehalten worden.“33 Die 31 Vgl. Habermas 2001; Ders. 2005a. Zur Religionstheorie von Habermas vgl. Langthaler / Nagl-Docekal 2007; Danz 2008. 32 Habermas 2005b, S. 112. 33 Habermas 2005b, S. 115. Vgl. schon Ders. 1992, S. 60: „Die ihrer Weltbildfunktionen weitgehend beraubte Religion ist, von außen betrachtet, nach wie vor unersetzlich für den normalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag. Deshalb koexistiert auch das nachmetaphysische Denken noch mit einer religiösen Praxis. Und dies nicht im Sinne der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Die fortbestehende Koexistenz beleuchtet sogar eine merkwürdige Abhängigkeit einer Philosophie, die ihren Kontakt mit dem Außeralltäglichen eingebüßt hat. Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird die

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religiösen Überlieferungen verfügen über eine Artikulationskraft, auf welche die profane Vernunft zwar nicht verzichten, die sie sich aber als Religion auch nicht zu eigen machen kann. Es komme daher auf eine rettende Aneignung und Übersetzung der semantischen Potentiale der Religionen an. Was allerdings unter den semantischen Potentialen der Religion, welche der postsäkularen Gesellschaft gleichsam auf halbem Wege entgegenkommen, genauer zu verstehen sei, ist nicht nur unklar, der Rekurs auf sie verrät auch einen unzulänglichen Begriff der Religion. Sind damit die biblischen Texte gemeint oder deren moderne Umformungen und Interpretationen? Lässt sich Religion so verstehen, dass sie gleichsam invariante Gehalte durch die Geschichte transportiert, damit diese dann in säkulare Vernunft transformiert werden können? Vor dem Hintergrund der angedeuteten Schwierigkeiten des Versuchs von Jürgen Habermas, die semantischen Potentiale der Religion durch eine rettende Aneignung zu bewahren, wurde in den Debatten der Vorschlag unterbreitet, die Religionen müssten selbst gesellschaftliche Perspektiven entwickeln, wenn sie in Zukunft noch eine Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs spielen wollen. „Es fehlt den meisten Religionsgemeinschaften“, so unlängst Ferdinand Sutterlüty, „heute ein gesellschaftliches Projekt, das sie bräuchten, um in der zivilen Öffentlichkeit eine größere Rolle spielen zu können.“34 Solche Vorschläge bekunden ein hohes Vertrauen in die Modernisierungsfähigkeit von religiösen Traditionen sowie deren Umgang mit ihren eigenen Ambivalenzen. Jede Religion artikuliert umfassende normative Leitbilder des gesellschaftlichen Lebens sowie dichte Vergemeinschaftungsformen mit klaren Unterscheidungen von gut und böse. Gesellschaftliche Projekte von Religionen, welche durchaus erfolgreich die hohe innere Fragmentierung und Zerklüftung der modernen Gesellschaft integrierten, beendeten das lange 19. Jahrhundert am 1. August 1914 mit. Die religiöse Deutung des Krieges wirkte in vielen europäischen Ländern als „Integrationsideologie“, die es erlaubte, soziale Brüche und Verwerfungen zu überbrücken. Diskriminierten Minderheiten, wie den Protestanten in Österreich oder den Katholiken in Deutschland, bot der Krieg die Möglichkeit, nicht mehr als Außenseiter angesehen zu werden. Sie konnten nun ihre Vaterlandstreue unter Beweis stellen, was sie auch umstandslos taten. Der Hinweis auf den Ersten Weltkrieg mag übertrieben erscheinen. Allerdings sind auch alle anderen Betätigungsfelder für gesellschaftliche Projekte von Religionen, etwa die Kritik des Kapitalismus oder an dekadenten westlichen Lebensstilen etc., mit demselben Problem konfrontiert wie die religiöse

Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.“ 34 Sutterlüty 2012, S. 61.

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Kriegsideologie vor einhundert Jahren.35 Sie greifen komplexitätsreduzierend auf die Gesamtgesellschaft in einer normativen Perspektive aus. Die strukturellen Probleme der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft lassen sich indes weder durch romantische noch durch religiöse Einheitsideale überwinden. Die gesellschaftlichen Leitbilder der diversen Christentümer kritisch restringiert zu haben, gehört, wie der Durchgang durch die europäische Religionsgeschichte deutlich gemacht haben dürfte, zu den unhintergehbaren Errungenschaften der Moderne. Haben dann aber nicht diejenigen Modernisierungstheoretiker doch Recht, welche eine Unverträglichkeit von Religion und moderner Gesellschaft unterstellen? Diese Konsequenz legt sich mit Blick auf die europäische Religionsgeschichte freilich nicht nahe. Allerdings stellt die Religionsgeschichte eine für die Religionen selbst wahrzunehmende Aufgabe. Sie betrifft den Kern religiösen Bewusstseins. In religiösen Identitätskonstruktionen artikulieren sich immer letzte Gewissheiten mit umfassenden normativen Leitbildern und klaren Unterscheidungen von gut und böse. Für das religiöse Bewusstsein sind eine Unbedingtheits-, eine Einheits- sowie eine Totalitätsdimension konstitutiv, welche die gesamte Gesellschaft einbezieht. In jeder Religion geht es um eine Totaldeutung menschlichen Lebens sowie der Gesellschaft. Die Welt als ganze wird in der christlichen Tradition als Schöpfung Gottes verstanden, und der Mensch ist zugleich ganz Sünder und ganz Gerechter. Dieser für das religiöse Bewusstsein grundlegende Totalitätsbezug stiftet zwar eindeutige Orientierungen, aber er prallt an der modernen Gesellschaft ab. Letztere kennt keine übergreifende und integrierende Einheitsfunktion mehr, sondern lediglich Subsysteme, welche jeweils füreinander Umwelt sind. Auch die Religion hat in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft keine gesamtgesellschaftliche Funktion mehr inne. Sie ist zu einem gesellschaftlichen Subsystem neben anderen geworden.36 Die Subsysteme der modernen Gesellschaft wie Recht, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst etc. folgen allein ihrer eigenen Funktionslogik – ohne übergreifende Einheit. Normative religiöse Leitbilder des gesellschaftlichen Ganzen und Gesellschaft fallen nicht mehr zusammen. Aus der Spannung zwischen religiösem Totalitätsbezug und funktional ausdifferenzierter Gesellschaft resultieren die mit der Religion verbundenen Ambivalenzen sowie die religiösen Konflikte der Gegenwart. Religionen müssen sich, wie es Niklas Luhmann formuliert hat, in der modernen Gesellschaft darauf einstellen, dass es neben ihnen andere gibt und

35 Vgl. hierzu jüngst Graf 2014. 36 Eben dies beinhaltet der religionssoziologische Begriff der Säkularisierung. Vgl. Luhmann 2000, S. 278–319.

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Menschen, die nicht glauben.37 Dazu sind Religionen, wie die Geschichte der europäischen Christentümer gezeigt hat, allein dann in der Lage, wenn sie ein reflexives Bewusstsein ihrer eigenen religiösen Tradition und deren geschichtlicher Kontingenz ausbilden. Dieser für die Religion selbst einschneidende und schmerzhafte Lernprozess ist die Voraussetzung für einen konstruktiven Umgang mit der für das religiöse Bewusstsein signifikanten Spannung zwischen dessen konstitutiver Unbedingtheits-, Totalitäts- und Ganzheitsdimension und deren faktischer Partikularität und Bedingtheit. Der auf die Regulierung der Sozialdimension im Ganzen zielende Anspruch der Religion kann unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft nur noch auf eine reflexive und regulative Weise zum Zuge kommen. In dieser Form ist er allerdings auch unverzichtbar für den Aufbau einer eigenen Identität im Spannungsfeld von Individualität und Sozialität. Allein im Horizont und in der Unterscheidung von einer imaginierten Ganzheit menschlichen Lebens vermag sich dieses in seiner eigenen Endlichkeit zu erfassen und verständlich zu werden. Das aber ist die Voraussetzung dafür, andere religiöse Traditionen sowie nichtreligiöse Selbstverständnisse anzuerkennen. Eine endliche Freiheit kann sich allein in der wechselseitigen Anerkennung von differentem Anderen als solche verwirklichen. Der Beitrag der Religionen für die Selbstverständigungsdebatten Europas kann folglich allein darin bestehen, ein reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein zu kultivieren und zu stabilisieren. Ob und wie das allerdings in nichtchristlichen Religionen geschehen kann, vermag derzeit niemand zu sagen.

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Jakob Deibl

Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas? Zitate und immer wieder Zitate. Friedrich Christian Delius, Tübingen 19641

1.

Europa als Erzähl-Raum

Der Name Europa verweist auf einen Mythos, d. h. eine Erzählung: Der Kontinent hat seinen Namen von einer jungen Frau erhalten, die am Rücken eines Stieres, eine Metamorphose des Zeus, von Kleinasien nach Kreta versetzt wurde. Diese Versetzung an einen anderen Ort trägt in den ältesten Darstellungen antiker Vasen nicht die gewaltsamen Züge einer Entführung, sondern einer liebenden Verbindung. Europa hat seine mythische Herkunft nicht in einem Kampf – was auffallend ist, denn für den Ursprung in einem Kampf gibt es unzählige Beispiele in der antiken Mythologie –, sondern in einem Band, das von Osten her mit dem neuen Kontinent geknüpft wird.2 Freilich reicht diese Erzählung nicht zu, um Europa heute eine Identität zu geben. Zumal aber Europa keine einheitliche politische, wirtschaftliche, militärische oder religiöse Gestalt hat und auch „keine festumrissene geographische Größe darstellt, sondern einen geistigen Raum bildet“,3 bedarf es doch immer auch der Erzählungen, die ihm einen Ausdruck zu geben vermögen. Europa stellt einen Bedeutungsraum aufeinander verweisender Symbole, Motive und Narrative dar, die in mannigfaltigen Verschiebungen und Versetzungen, Translationen und Zitationen immer wieder neu konfiguriert werden: „wer Europäer ist“, so Peter Sloterdijk, „ist immer schon auch Übersetzer.“4 In diesen Vorgängen und durch sie hindurch schreibt sich die Autobiographie5 Europas – und 1 Zitiert nach: Rodewald 1969, S. 95. 2 Vgl. Cantarella 2007. 3 Appel 2014. Vgl. dazu auch Sloterdijk 2004, S. 33: „Europa hat wohl weder eine substantielle volkshafte Basis, noch solide östliche und südöstliche Grenzen, noch eine eindeutige religiöse Identität.“ 4 Vgl. Sloterdijk 2004, S. 35. 5 Zum Verständnis von „Autobiographie“ möchte ich auf den bisher unveröffentlichten, im

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re-konfiguriert sich in einem Gestus kontinuierlichen Wieder-Bedenkens. Ohne einen Akt, der als Re-thinking bezeichnet werden kann, gibt es kein Europa. Zwar ist es nicht möglich, in einem Vortrag die vielen unterschiedlichen Beiträge der Tagungen Rethinking Europe zusammenzufassen, im Gestus einer Verschiebung möchte ich mich aber dennoch auf sie beziehen. Nicht wenige der Beiträge lassen sich noch einmal neu in den Blick nehmen unter dem Gesichtspunkt, dass sie „Erzähler“ Europas zu Wort kommen haben lassen. Wieder-erinnert sei an den Beitrag zu Friedrich Nietzsche, dessen Fröhliche Wissenschaft als Nachdenken über die Zukunft eines Europa, das vor dem Zerfall seiner bislang leitenden Werte stand, gelesen werden kann;6 an Edmund Husserl, der in der Krisis-Schrift nach einem geistigen Europa jenseits seiner empirischen Gestalt frägt;7 an Jürgen Habermas, der in seiner kritischen Wieder-Erzählung der Aufklärungsgeschichte nun auch die Religion verstärkt einbezieht.8 All diese Re-Konfigurationen der Erzählung Europas weisen auf massive Erschütterungen seiner symbolischen Ordnung hin und entspringen der Notwendigkeit, eine Sprache für dieses Europa zu finden, das sonst zum „Apparat“ zu werden droht.9 Niemals hat es die eine Erzählung Europas gegeben, vielmehr muss von einer Pluralität einander ergänzender und korrigierender Stimmen ausgegangen werden. Hörbar gemacht werden müssen dabei – was Europa viel zu lange ignoriert hat – auch die subversiven Gegenerzählungen (etwa das Maranentum10 oder der jiddische Blick auf Europa11), die ein Überleben in einem Europa des

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Rahmen der Forschungsplattform RaT am 15. Jänner 2014 gehaltenen Vortrag Anregungen zu einem neuen Humanismus. Ein theoretischer Durchgang durch Kant, Jonas und Rousseau von Iolanda Poma verweisen. Vgl. Hödl, Hans Gerald: „Nietzsches ,fröhliche Wissenschaft‘ als Nachdenken über die Zukunft Europas“ (Vortrag bei der Tagung Rethinking Europe with(out) Religion II). Vgl. Roesner, Martina: Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift. (Vortrag bei der Tagung Rethinking Europe with(out) Religion III sowie Beitrag in diesem Band, S. 50–64). Vgl. Langthaler, Rudolf: Religion im öffentlichen Raum – postsäkular (Vortrag bei der Tagung Rethinking Europe with(out) Religion II). Vgl. Guanzini, Isabella: Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat (Vortrag bei der Tagung Rethinking Europe with(out) Religion II sowie Beitrag in diesem Band, S. 65–80). Die Gefahr, zum Apparat zu werden, lässt sich allein durch statistische Erhebungen, wiewohl diese für ein zeitgemäßes Nachdenken über Europa unentbehrlich sind, nicht verhindern, weil diese – anders als das freie Spiel der Erzählungen – auf Eindeutigkeit aus sind, den Charakter der Versetzung aber nicht sichtbar machen können. Die Frage, welche Erkenntnis mit der Erhebung statistischer Daten hinsichtlich der religiösen Landschaft Europas überhaupt gewonnen werden kann, hat am Kongress Rethinking Europe with(out) Religion I in beindruckender Weise Odermatt gestellt (vgl. Liedhegener / Odermatt 2014, S. 121–169). Vgl. Charim 2014, S. 173–181. Vgl. Langer, Gerhard: Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur (Vortrag bei der Tagung Rethinking Europe with(out) Religion III sowie Beitrag in diesem Band, S. 82–93).

Hölderlin-Gesamtausgabe 1914

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Ausschlusses ermöglichen sollten und seinen „Prozess der Selbstdefinition“ immer wieder durchqueren. In meinem Vortrag möchte ich einen weiteren Erzähler Europas zu Wort kommen lassen – ich spreche von Friedrich Hölderlin –, dessen Stimme die Krisen und Brüche Europas seit Beginn des 20. Jahrhunderts begleitet. Sein Werk und dessen Rezeption scheinen mir geeignet, um die Problematik der Frage nach Kontinuität, Abbruch und einem möglichem Wieder-Finden der Religion in Europa zur Sprache zu bringen – freilich nicht, um sie zu lösen.

2.

Vergessen und Wieder-Entdeckung Hölderlins

Betrachten wir die enorme Präsenz Hölderlins im 20. Jahrhundert, sind wir mit einer eigentümlichen Versetzung konfrontiert. Der Dichter, der den Großteil seines Werkes zwischen 1788 und 1803 geschrieben hatte, war dem gesamten 19. Jahrhundert fremd geblieben, erschien dem 20. Jahrhundert jedoch als Zeitgenosse. Nur wenige seiner Texte hatte er selbst zur Veröffentlichung bringen können, zunehmend waren diese auf Unverständnis gestoßen. Als Friedrich Nietzsche 1861 mit siebzehn Jahren in einem fiktiven Brief eine Verteidigung Hölderlin als des für ihn bedeutendsten Dichters verfasste, war dieser weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einer Verspätung von 100 Jahren, sollte eine Wieder-Entdeckung Hölderlins erfolgen, die binnen kurzer Zeit weite Kreise zog. Möglich wurde dies durch die Edition seines Gesamtwerkes, wobei das Jahr 1914 eine Schlüsselrolle spielte.12 War Hölderlins Werk zu Beginn des Jahrhunderts kaum zugänglich, begannen zur selben Zeit unabhängig voneinander Ludwig Zinkernagel und Norbert von Hellingrath mit einer Gesamtausgabe. Am Vorabend des ersten Weltkrieges 1914 übergab Hellingrath den vierten Band seiner Ausgabe einigen Freunden, darunter Rainer Maria Rilke, in einem Vorabdruck.13 Er enthielt die späten, zwischen 1800 und 1806 entstandenen Gedichte und Fragmente, die zu einem guten Teil bislang unveröffentlicht waren, heute aber zu den bekanntesten Texten des Dichters zählen. Damit eröffnete sich eine enorme Rezeption Hölderlins, was in einer kurzen Chronologie des ersten Jahrzehnts nach der „Wiederentdeckung“ angedeutet sei: 1914: Hermann Hesse verfasst ein Ode an Hölderlin, Rainer Maria Rilke ein

12 Allerdings darf nicht auf die „Wiederentdeckung“ Hölderlins durch Wilhelm Dilthey vergessen werden, die bereits vor der Jahrhundertwende erfolgte. 13 Veröffentlicht wurde der Band schließlich 1917. Vgl. den Briefwechsel Rilke/Hellingrath: Rilke / Hellingrath 2008.

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Gedicht unter dem Titel: An Hölderlin. Sie eröffnen damit den Reigen moderner Dichtungen, welche sich direkt oder indirekt auf Hölderlin beziehen.14 1915: Walter Benjamin schreibt den Aufsatz: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. Dichtermut und Blödigkeit und wird damit eine große Rolle für die spätere linke Hölderlin-Rezeption spielen. 1916: Gustav Landauer, jüdischer Pazifist, Kommunist, Anarchist und Gegner des Ersten Weltkriegs von Anfang an veröffentlicht den Vortrag Friedrich Hölderlin in seiner Dichtung. Er übte einen starken Einfluss auf die beginnende jüdische Hölderlin-Forschung aus.15 Landauer versuchte, Hölderlin ausgehend von den biblischen Propheten zu begreifen und sieht in ihm den Zustand der gerade aktuellen Zeit ausgedrückt: Dass diese Härte, in Worten, die nicht anders sein können als sie sind, in Worten, die wie nichts anderes in der deutschen Sprache in aller Originalität an die jüdischen Propheten erinnern, neben der Weichheit und Zartheit aus Hölderlin herauskommt und dass nichts Mythologisches sich darin ankündigt, nichts […] archaisch Eingekleidetes, sondern ein Zustand unsrer Zeit, das ist ein überwältigend Großes in diesem Hölderlin der letzten Höhe.16

Übrigens entwirft Landauer im selben Vortrag den Gedanken einer Erneuerung eines friedlichen Zusammenlebens jenseits Waffengewalt. 1917: Georg Simmel bezieht sich in seinem Text Die Dialektik des deutschen Geistes auf Hölderlin und sieht in ihm die stärkste Erscheinung dieses Typs, der niemals in sich selbst die Vollendung finden darf, sondern von einer grundsätzlichen Verwiesenheit auf ein exterritoriales Moment getragen ist. 1918: Ernst Cassirer hält zwei Vorträge zu Hölderlin und der deutsche Idealismus, die 1921 auch in Buchform veröffentlicht wurden (Idee und Gestalt). 1919: Für Gershom Scholem fungierte Hölderlin als Identifikationsgestalt zionistischen Lebens. In seinem Tagebuch schrieb er : Das zionistische Leben hat im deutschen Volke Friedrich Hölderlin gelebt. Hölderlins Dasein ist der Kanon jeglichen historischen Lebens. Hierauf beruht die absolute Autorität Hölderlins […], seine Stellung neben der Bibel. Die Bibel ist Kanon der Schrift, Hölderlin: Kanon, der Dasein ist. Hölderlin und die Bibel sind die einzigen Dinge auf der Welt, die sich niemals widersprechen können. Das Kanonische ist zu definieren als reine Deutbarkeit.17

Bedenkenswert scheint mir dabei, dass Scholem Kanon nicht als verbindliche Fixierung, sondern als Übergang in die reine Deutbarkeit bestimmt. Weist er damit in die oben schon angedeutete Richtung, dass Europa nicht aus einem 14 15 16 17

Vgl. Rodewald 1969. Vgl. Hölderlin-Handbuch, S. 429. Landauer 1922, S. 21. Scholem 2000, S. 347.

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fixierten Bestand an Narrativen besteht, sondern vielmehr der Prozess ihrer Deutung ist, eine Übertragung von Zitaten und immer wieder Zitaten? 1920: Hermann Bahr schreibt einen Artikel anlässlich Hölderlins 150. Geburtstags (5. April) und nennt darin – neben Goethes Farbenlehre und Novalis’ Fragmenten – Hölderlins Hyperion einen Gradmesser für die gesamte folgende deutsche Literatur : Der Deutsche macht von Goethes Farbenlehre, Novalis’ Fragmenten und Hölderlins Hyperion, den weisesten Büchern der letzten zweihundert Jahre, Büchern, die das Geheimnis deutschen Weltgefühls enthalten, keinen Gebrauch; es bleibt in ihnen begraben. Was seitdem unter uns erschien, ist immer nur genau soviel wert, als es sich, der Form oder dem Gehalt nach, bewußt oder unbewußt ihnen nähert.18

1921: Karl Jaspers veröffentlicht die Studie: Strindberg und van Gogh, Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin. Richard Strauß’ Drei Hymnen an Hölderlin für eine hohe Singstimme und großes Orchester (op 71) werden in der Philharmonie Berlin uraufgeführt. 1922: Friedrich Seebass, Mitarbeiter Hellingraths, zieht in seinem Buch Friedrich Hölderlin – Eine Bibliographie über die enorm angewachsene Literatur zu Hölderlin Bilanz. Er listet auf über 90 Seiten sämtliche Bücher, Aufsätze und Vorträge sowie Auseinandersetzungen in der Kunst mit Hölderlin auf. 1923: Franz Rosenzweig, selbst bedeutender Übersetzer in die deutsche Sprache, setzt diese in einem Brief an Martin Buber beinahe mit der Sprache Hölderlins gleich. Bezüglich einer italienischen Übersetzung des Sterns der Erlösung schreibt er : „Ich selbst hänge ja nur an dem Gedanken einer hebräischen Übersetzung. Nun, die wird einmal kommen. Gebs Gott, dass der, der sie unternimmt, auch deutsch kann. Hölderlinsch, meine ich natürlich.“19 1924: Hans Brandenburg, später Mitglied in einem nationalsozialistisch ausgerichteten Dichterkreis, veröffentlicht eine Biographie unter dem Titel Friedrich Hölderlin. Sein Leben und sein Werk. 1925: Stefan Zweig, später vor dem Nationalsozialismus geflüchteter Autor, veröffentlicht eine Biographie unter dem Titel Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Dieser kurze Durchgang von 1914 bis zur Mitte der Zwanzigerjahre soll einen Einblick in die Vielfalt der einsetzenden Hölderlin-Rezeption geben. Als Heidegger, einer der bedeutendsten wie umstrittensten Hölderlin-Interpreten des 20. Jahrhunderts, im Wintersemester 1934/35 seine erste Vorlesung über Hölderlin (Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“) hält, betrachtet er die 18 Bahr [1920] 1922. 19 Rosenzweig [I.2] 1979, S. 903.

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enorme Rezeption des Dichters, wie sie seit 1914 statthatte, äußerst kritisch. Zwar zwinge die Edition von Hölderlins Gesamtwerk nun zu einer Auseinandersetzung, zumal das neu erwachte Interesse an Hölderlin dessen Dichtung jedoch nicht gerecht werde, sei von ihm eher zu schweigen: Wir müssen mit der Tatsache fertig werden, dass die Deutschen volle hundert Jahre Zeit brauchten, bis überhaupt das Werk Hölderlins in jener Gestalt vor uns kam, die uns zwingt, einzugestehen, dass wir seiner Größe und zukünftigen Macht heute noch in keiner Weise gewachsen sind.20 Noch muss er lange Zeit verschwiegen werden, zumal jetzt, da das ,Interesse‘ für ihn sich regt und die ,Literaturhistorie‘ neue ,Themen‘ sucht. Man schreibt jetzt über ,Hölderlin und seine Götter‘. Das ist wohl die äußerste Missdeutung, durch die man diesen den Deutschen erst noch bevorstehenden Dichter endgültig in die Wirkungslosigkeit abdrängt unter dem Schein, ihm nun endlich ,gerecht‘ zu werden. Als ob sein Werk dieses nötig hätte, zumal von seiten der schlechten Richter, die heute umgehen.21

Nun sei versucht, einige Linien zu ziehen, welche zu zeigen vermögen, wie die Auseinandersetzung mit Hölderlin als ein Spiegel der europäischen Geschichte des 20./21. Jahrhunderts gelesen werden kann. Dabei wird sich immer wieder eine Verbindung zur Frage nach Gott bzw. der Religion zeigen.

3.

Exil und Nationalsozialismus

Während des Zweiten Weltkrieges zeigen sich kaum überblickbare und oft nur schwer einordenbare Weisen der Bezugnahme auf Hölderlin. Vor Weihnachten 1943 wurde, als es in Deutschland bereits eine Papierknappheit gab, eine Feldauswahl aus den Gedichten Hölderlins (100 000 Stück) an die Ostfront gesandt. Zusammengestellt wurde sie nicht von Mitgliedern der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie, sondern vom Germanisten und Hölderlin-Experten Friedrich Beißner – ohne verzerrende Kürzungen und ohne ideologische Kommentare. Manchen Deutschen wurde Hölderlin zum Asyl, das „in der Situation des ,totalen Krieges‘ auf ein ,Bleibendes‘, nicht ideologisch Infiziertes zurückzugreifen“22 helfen sollte. Der dem Nationalsozialismus zumindest zeitweise nahestehende Heidegger wurde von nationalsozialistischer Seite wegen seiner Hölderlin-Rezeption kritisiert, weil ihr elitärer Gestus dem Anliegen entgegenstand, den Dichter als mitten im Volk stehend zu inszenieren.23 Gab es von nationalsozialistischer Seite das Bestreben, Hölderlin zu popularisieren und 20 21 22 23

Heidegger [GA 39] 1980, S. 7. Ebd., S. 1. Hölderlin-Handbuch, S. 445. Vgl. ebd.

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ideologisch zu vereinnahmen, entwickelte sich auch eine linke (nicht zuletzt jüdische) Hölderlin-Rezeption im Exil, welche als Zeichen des Widerstandes gegen eine gänzliche Vereinnahmung der deutschen Sprache durch den Nationalsozialismus gelten sollte: Im Exil wurde Hölderlin der erste Klassiker, den die Linke dem deutschen Nationalismus abkämpfen und als ihr Erbe beanspruchen wollte. Statt der Inanspruchnahme für unmenschliche Opfer und Ziele […] sollte ein anderer Hölderlin erscheinen.24

Schließlich wurde während des Zweiten Weltkrieges auch mit einer neuen kritischen Gesamtausgabe Hölderlins begonnen, der sogenannten Stuttgarter Ausgabe. Sie hatte durchaus den Hintergedanken, gegen nationalsozialistische Vereinnahmungen Hölderlins eine gesicherte (unverzerrte) Textbasis zu bieten.25 In seinen Erinnerungen ans Konzentrationslager wird für Jean Am¦ry Hölderlin zur Figur des Verlustes der Transzendenz von Sprache. Jene Dichtung, welche in den späten Hymnen die Grenzen der Sprache in immer kühnerer Weise sprengt, fällt auf die Ebene einer sachlichen Aussage zurück. Bedeutet Dichtung immer eine Überschreitung des denotativen Charakters der Sprache, so ist es lediglich dieser, welcher von ihr übrigbleibt: Ich erinnere mich eines Winterabends, als wir uns nach der Arbeit im schlechten Gleichschritt unter dem entnervenden „links zwei, drei, vier“ der Kapos vom IGFarben-Gelände ins Lager zurückschleppten und mir an einem halbfertigen Bau eine aus Gott weiß welchem Grunde davor wehende Fahne auffiel. „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“ murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlin-Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage. […] Wie die Gedichtstrophe von den sprachlos stehenden Mauern und den im Winde klirrenden Fahnen verloren auch die philosophischen Aussagen ihre Transzendenz und wurden vor uns teils zu sachlichen Feststellungen, teils zu ödem Geplapper: Wo sie etwas meinten, erschienen sie trivial, und wo sie nicht trivial waren, dort meinten sie nichts mehr.26

Der Komponist Viktor Ullmann vertonte im Konzentrationslager Theresienstadt 1943 die Hölderlingedichte Abendphantasie, Frühling und Sonnenuntergang für Sopranstimme und Klavier. 24 Koepke 2003, S. 217. 25 In einer Situation der Papierknappheit entschied Hitler selbst, nicht mit dem Druck dieser Ausgabe zu beginnen, sondern jene von Hellingrath nachzudrucken. Gedruckt wurden schließlich beide. 26 Am¦ry 2012, S. 26; 43.

36

4.

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Hölderlin im Streit zwischen „Bürgerlichen“ und „Linken“

Die Rezeption Hölderlins spiegelt von Anfang an auch die in Europa statthabende Auseinandersetzung von Konservativen und Linken wieder. Zweifelsohne trugen Stefan George und sein Kreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Wiederentdeckung Hölderlins bei, bewegte sich doch auch Norbert von Hellingrath zeitweise in diesem Umfeld. Gleichwohl veröffentlichte auch Walter Benjamin, wie bereits erwähnt, bereits im Jahr 1915 einen Aufsatz zu Hölderlin. Aufhorchen lässt Thomas Manns Diktum aus dem Jahr 1921, Karl Marx möge, um den Sozialismus von seinen inferioren Wirtschaftsmaterialismus abzubringen, Friedrich Hölderlin lesen, „eine Begegnung, die übrigens im Begriffe scheint, sich zu vollziehen“. Peter Weiß lässt in den siebziger Jahren in seinem Theaterstück Hölderlin Marx nach Tübingen reisen und bringt die beiden ins Gespräch miteinander.27 In dasselbe Jahr von Heideggers erster Hölderlinvorlesung fällt auch Georg Luk‚cs’ Arbeit über Hölderlins Hyperion, die einen enormen Einfluss ausüben sollte.28 Die Auseinandersetzung zwischen bürgerlich-konservativen und linken Kreisen, wie sie in den 60er und 70er Jahre statthatte, zeigt sich ebenfalls in der Hölderlin-Rezeption. Pierre Bertaux, Theodor W. Adorno und Peter Szondi wenden sich gegen die vornehmlich bürgerlich-konservative Hölderlin-Forschung der Nachkriegszeit. Großes Aufsehen erregte 1975 schließlich die überraschende Ankündigung von D. E. Sattler, von Beruf Werbegraphiker, und KD Wolff, Chef des Roter Stern Verlages, parallel zur Großen Stuttgarter Ausgabe, begonnen 1943, eine alternative Hölderlin-Ausgabe herauszubringen, die sogenannte Frankfurter Ausgabe. Sie sollte ohne staatliche Förderungen und vorbei an allen Institutionen und der Universität erfolgen. Bald schon steht ihr Erscheinen aus finanziellen Gründen vor dem Aus, die Herausgeber sind überdies zerstritten. Sattler sieht in dieser Situation der Ungewissheit des weiteren Umgangs mit dem Werk Hölderlins eine Fokussierung der Frage nach der geistigen Zukunft Deutschlands: was mit hoelderlin geschieht, ist nicht belanglos. ob es noch einmal anders wird in deutschland, entscheidet sich hier. was dem gesang [d. h. dem Werk Hölderlins] zustoeszt, ist das untruegliche zeichen fuer u n s e r e n geisteszustand.29

Die Institutionen springen ein und retten die Ausgabe, die neue Standards in der Editionsphilologie setzt. Sattler, zunächst aus der wissenschaftlichen Community ausgeschlossen, erhält ein Ehrendoktorat. Der Rote Stern Verlag zählt heute 27 Vgl. in: Fetscher 2001, S. 339. 28 Vgl. Koepke 2003, S. 217. 29 Sattler 1981.

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unter dem Namen stroemfeld zu den wichtigen Editionsverlagen deutschsprachiger Literatur, der auch für die kritischen Ausgaben von Gottfried Keller und Franz Kafka verantwortlich zeichnet. Laut Jürgen Habermas sei die Frankfurter Ausgabe „das bleibende Verdienst von 68“.30

5.

Martin Heidegger: Zwiesprache mit Friedrich Hölderlin

Im Wintersemester 1934/35 hält Martin Heidegger seine erste Vorlesung über Hölderlin unter dem Titel Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“. Wie setzt Heideggers öffentliche Auseinandersetzung mit Hölderlin ein? In aller Kürze gibt Heidegger an, was er in Hölderlin sieht: Man nimmt Hölderlin ,historisch‘ und verkennt jenes einzig Wesentliche, dass sein noch zeit-raum-loses Werk unser historisches Getue schon überwunden und den Anfang einer anderen Geschichte gegründet hat, jener Geschichte, die anhebt mit dem Kampf um die Entscheidung über Ankunft oder Flucht des Gottes.31

Nichts weniger als der Anfang einer anderen Geschichte, die schon begonnen habe und unserem Denken voraus sei, zeige sich in Hölderlins Dichtung. Zu beachten ist, dass Heidegger hier von einem „Anfang“ spricht. Auf den folgenden Seiten erläutert er den Unterschied von Anfang und Beginn: „Beginn ist jenes, womit etwas anhebt, Anfang das, woraus etwas entspringt.“32 Der Anfang meint keinen isolierbaren, fixierbaren Punkt, sondern weist in ein Geschehen der Entfaltung und der Unverfügbarkeit, welches menschlicher Herstellbarkeit und menschlichem Wollen entzogen ist und letztlich einer göttlichen Sphäre angehört. Auch Hölderlin darf nicht so verstanden werden, als hätte er einen Anfang gesetzt, im Dialog mit seinem Werk sieht Heidegger vielmehr die Möglichkeit, sich in ein anfängliches Geschehen zu stellen. Diese andere, kommende Geschichte, Perspektive und Weise der Wahrnehmung, zu welcher die Auseinandersetzung mit Hölderlin führen könne, hebe an mit dem „Kampf um die Entscheidung über die Ankunft oder Flucht des Gottes“. Wenn wir die Wendung ihrer Kampfesrhetorik und auch ihres Pathos entkleiden, nimmt Heidegger Hölderlin in seiner ersten öffentlichen Bezugnahme an einem Schnittpunkt auf, welcher der Thematik der Tagung der Plattform Religion and Transformation in Contemporary European Society nicht unähnlich ist: Wie kreuzen sich die Frage nach einer künftigen Erzählung (einer anderen Geschichte) Europas und die Frage nach der Religion (Ankunft und Flucht des Gottes)? 30 Kermani 2008. 31 Heidegger [GA 39] 1980, S. 1. 32 Ebd., S. 3.

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Im berühmten Spiegel-Gespräch aus dem Jahr 1966 wird deutlich, dass diese Frage Heidegger durch sein gesamtes Werk begleitet hat. Rückblickend sagt er : Mein Denken steht in einem unumgänglichen Bezug zur Dichtung Hölderlins. Aber ich halte Hölderlin nicht für irgendeinen Dichter, dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen. Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet und der somit nicht nur ein Gegenstand der Hölderlin-Forschung in den literarhistorischen Vorstellungen bleiben darf.33

Heidegger sieht in der Dichtung Hölderlins offensichtlich ein adventlich-eschatologisches Motiv, welches den Paradigmen moderner Verwertbarkeit und Technisierung, Forschung und Literaturkritik entgegensteht und seinem Werk eine eindeutige Einordnung in heute gängige Kategorien fixierbaren Wissens versagt. So dürfe auch die Interpretation Hölderlins, wie Heidegger am Beginn seiner ersten Hölderlin-Vorlesung ausführt, nicht der Zeit angepasst werden, sondern müsse sich diese an ihm orientieren: Es soll nicht etwas Griffiges und Gangbares für Tagesbedürfnisse angeboten und gar die Vorlesung damit in Empfehlung gebracht werden, so dass die verderbliche Meinung entstehen könnte, wir wollten Hölderlin eine billige Zeitgemäßheit verschaffen. Wir wollen nicht Hölderlin unserer Zeit gemäß machen, sondern im Gegenteil: wir wollen uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters bringen.34

Was ist mit dem Hinweis auf das Maß des Dichters gemeint? Sieht Heidegger in der Gegenwart einen Verlust jeglichen Maßes, der den Zusammenbruch bislang etablierter Einteilungen, Kategorien und Unterscheidungen, ja der gesamten symbolischen Ordnung bedeutet? Vermutet Heidegger in der Zwiesprache mit der Dichtung Hölderlins die Möglichkeit, angesichts jenes Zerfalls eine neue Sprache zu finden, die vor einem Verstummen oder Aufgehen im „Gerede“ bewahrt? Könnte man ferner sagen, dass uns die Auseinandersetzung mit dem sperrigen Charakter von Hölderlins Dichtung vor eine Frage zwingt, die für Europa (noch) nicht erledigt ist, nämlich die Frage nach der Erwartung, Ankunft oder Flucht Gottes, d. h. nach einem arkanen Kern unserer Gesellschaft und Zeit, der mit der Gottesfrage zusammenhängt? Weder kann, so scheint es, eine beruhigte traditionelle Religiosität noch ein ebenso beruhigter Atheismus gewisse Dynamiken zum Ausdruck bringen, welche heute statthaben und vor welche die Offenheit der Gottes-Frage vielleicht zu stellen vermag.35

33 Heidegger [GA 16] 2000, S. 678. 34 Heidegger [GA 39] 1980, S. 4. 35 Vgl. dazu besonders Heideggers Aufsatz Wozu Dichter? (1946), in: Heidegger [GA 5] 1977.

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6.

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Jenseits von Theismus und Atheismus

Es scheint, als fungiere Hölderlins Dichtung als Absprungpunkt, um einen Bezug auf Gott (bzw. die Religion) zur Sprache zu bringen, der in eigentümlicher Oszillation jenseits von Theismus und Atheismus steht und ein Kennzeichen unserer Epoche darstellt. Der vielleicht letzte große Text Heideggers mit dem Titel Der Fehl heiliger Namen36 bezieht sich auf Hölderlins Formulierungen vom Fehlen heiliger Namen bzw. dem Fehl Gottes und stellt eine relecture abendländischer Philosophie unter dem Motiv des Sich-Entziehens des Göttlichen vor, das niemals mit einem bloßen Atheismus gleichgesetzt werden kann.37 In den Worten Jean Luc Nancys, dessen Schrift Kalkül des Dichters nach Hölderlins Maß als indirekte Antwort an Heideggers Text gelesen werden kann, ließe sich dies vielleicht auch so zum Ausdruck bringen: „So ist der Gott nur ein Ort, der Ort von Aufbruch und Wiederkehr, Ort einer Ankunft, die sich auch schon zurückzieht und so Sinn entstehen lässt.“38 Die Aufgabe des Dichters sei dabei wie folgt zu bestimmen: „Dem ,Fehlen der heiligen Namen‘ hält der Dichter, gleichsam als genaue Antwort, die Angemessenheit des Metrums entgegen, für die er ,Sorge trägt‘“.39 Hat die Dichtung Hölderlins vielleicht auch deshalb nach 1914 eine so große Präsenz erlangt, weil sie als ganze als eine Antwort auf die prekäre Frage nach Ankunft und Fehlen Gottes zu verstehen ist und damit jene Thematik für uns unausweichlich macht? Es scheint, als sei mit dem Wort vom Fehl Gottes ein Motiv ins Spiel gebracht, welches auch ohne Zitation in Anführungszeichen aufgegriffen werden kann. Zwei Beispiele seien dafür genannt. In einer Rezension unter dem Titel „Gott fehlt. Mir“ zu Martin Walsers Buch Über Rechtfertigung, eine Versuchung schreibt Ulrich H. J. Körtner : Barth und seine Mitstreiter aber ließen sich nicht durch die Oberfläche der zeitgenössischen Religionskultur täuschen, sondern stellten sich jener Erschütterung, die von der Rede vom Tode Gottes ausging, die bei Jean Paul und Hegel ihren Anfang nahm und bei Friedrich Nietzsche ihren Höhepunkt finden sollte. Sie loteten die unmögliche Möglichkeit aus, von jenem Gott zu reden, ohne den alle Theologie ihre Daseinsberechtigung verliert, und dessen Fehl zur Signatur der Moderne geworden ist.40

Und wenige Zeilen später : „Gemessen an diesem Fehl Gottes ist alles Gerede von neuer Spiritualität ein Oberflächenphänomen.“41 Körtner nennt zwar Barth, 36 Vgl. Heidegger [GA 13] 1983, S. 231–235. Vgl. dazu Deibl 2011. 37 Vgl. Hölderlin, Dichterberuf V 64 und ders., Heimkunft V 101, hier zitiert nach Hölderlin 2005. 38 Nancy 1997, S. 34. 39 Ebd., S. 37. 40 Körtner / Walser 2012. 41 Körtner / Walser 2012.

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Jean Paul, Hegel und Nietzsche als Zeugen der Rede vom Tode Gottes namentlich, nicht jedoch Hölderlin, der ihm das Wort vom Fehl Gottes an die Hand gibt, mit Hilfe dessen er eine Signatur der Moderne zur Sprache zu bringen vermag. Im ersten Text von Giorgio Agambens Buch Profanierungen spricht er unter anderem über die Beziehung eines Autors/einer Autorin zu seinem Genius, d. h. einer unpersönlichen Macht, die gleichsam jeden kreativen Prozess begleitet und sich nicht auf ein subjektives Vermögen zurückführen lässt. Ohne Vorbereitung und Zitation stellt Agamben der Frage, wie ausdrücklich Autoren und Autorinnen ihre Verbindung zum Genius betonen, das erwähnte Motiv Hölderlins gegenüber : „Wieviel liebenswerter und nüchterner ist da die Geste des Dichters, der ohne den zwielichtigen Helfershelfer auskommt, weil er weiß, dass ,uns der Fehl Gottes hilft‘!“42 Hier scheint der Fehl Gottes nicht allein Signatur der Epoche zu sein, sondern sein Ernstnehmen überdies eine Möglichkeit, einen Weg, eine Perspektive anzuzeigen, die nicht nur einen Verlust bedeuten. Es bleibt jedoch bei dieser Andeutung, ohne dass ausgeführt würde, welche Rolle Hölderlins Sprache dabei spielen könnte. Immer wieder kommt Agamben auch in anderen Werken auf Hölderlin zu sprechen, nicht selten, wenn es um Phänomene des Zerfalls von Sprache, etwa das Auseinanderfallen von Zeichen- und Bedeutungsebene, und damit in Verbindung des Zerfalls von Religion zu tun ist.43 In seinem Buch über Paulus (Die Zeit, die bleibt), bringt er an einer Schlüsselstelle den Abschied der Götter (Atheologie) in Hölderlins Dichtung mit einer Auflösung von Sprachstrukturen (Aprosodie) in Zusammenhang: Als Hölderlin an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, seine Lehre vom Abschied der Götter – und besonders des letzten Gottes, des Christus – ausarbeitet, genau an dem Punkt, als er diese neue Atheologie aufnimmt, bricht die metrische Form seiner Lyrik, bis sie in den letzten Hymnen jede erkennbare Identität verliert. Der Abschied von den Göttern ist eins mit dem Verschwinden der geschlossenen metrischen Form, die Atheologie ist unmittelbar Aprosodie.44

Die Ambivalenz der Gottesfrage bzw. des Religiösen bei Hölderlin, auf die wir bei Heidegger, Nancy, Agamben und Körtner gestoßen sind, bringt – nicht ganz Ironie – Peter Sloterdijk in seinen Notizen zu einer Tonaufnahme von Hölderlins Turmgedichten in grandioser Weise ins Wort: Ganz ist das Dasein im Turm auf den Grundton des Danach gestimmt. Einmal redete ich wie Götter. Ich wusste, was es hieß, wenn die Grammatik Mensch geworden war und wohnte unter uns. Das Melos ging bei mir ein und aus. Nicht selten blieb das Höchste über Nacht, und wenn der Morgen kam, waren Verse in der Welt, die dem aufziehenden Jahrhundert die Botschaft brachten, Christus und Dionysos haben sich geeinigt. Das 42 Agamben 2005, S. 13 (Übersetzung geändert, J. D.). 43 Vgl. etwa Agamben 2010, S. 283–285. 44 Agamben 2000, S. 84.

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Bündnis aber, das in mir der Gott mit dem Gott schloss, zerbrach. Jetzt bin ich klein und übrig geblieben, ein Saaldiener, der nach einer zu großen Konferenz den Boden kehrt. Entmündigt bin ich, die Sprache spricht nicht mehr.45

Den Großteil des zitierten Textes über scheint der Dichter selbst zu sprechen. Seine Dichtung schien – christlich – nahe an der Inkarnation des göttlichen Logos zu verweilen („Ich wusste, was es hieß, wenn die Grammatik Mensch geworden war und wohnte unter uns.“) und gleichwohl – griechisch – den Aufgang des Göttlichen im Melos, das bei ihm ein und aus ging, erfahren zu haben. Im Bündnis von Christus und Dionysos bestand die fundamentale abendländische Matrix eines Sich-Zuneigens von griechischem und christlichem Erbe. Nicht mehr Prophet, Sänger oder Priester bleibt der Dichter übrig als kleiner Saaldiener, der nach einer zu großen Konferenz den Boden kehrt. Hat sich die gewagte Synthese, welche im Logos-Begriff griechisches wie christliches Denken versammeln zu können vermeinte, am Ende als Übertreibung, zu große Hypothese (Nietzsche) herausgestellt, so dass dem „aufziehenden Jahrhundert“ (welches das unsrige ist) nur mehr bleibt, die davon übriggelassenen Reste wegzukehren? Hat Hölderlin uns damit vorgemacht, was heute auch wir noch zu tun haben, nämlich die Reste eines zerbrochenen Denkens zu entfernen, oder aber hat er diese Aufgabe für uns erledigt, sodass derartige zu große Konferenzen fürderhin einfach unterbleiben werden (der Saaldiener hat die Tür endgültig abgeschlossen)? Oder aber hat er damit die Möglichkeit eröffnet, eine neue Form von Bescheidenheit zu üben, welche aus den hypertrophen Konferenzen ihre Lektion gelernt hat?

7.

Jorge Mario Bergoglios Bezugnahme auf Hölderlin

Jener Dichter, der für Agamben und Sloterdijk irgendwie ein Ende der Religion in den westlichen Gesellschaften einläutete, wird gleichwohl von Jorge Mario Bergoglio, dem Papst, der vom Rand der Welt kam, in seiner ersten Ansprache an das Kardinalskollegium zitiert: Die Hälfte von uns ist alt. Das Alter ist, so drücke ich es gern aus, Sitz des Wissens im Leben. Die Alten haben die Weisheit, dass sie im Leben gegangen sind, wie der alte Simeon, die alte Hanna vom Tempel. Und diese Weisheit ist es gerade, die sie Jesus hat erkennen lassen. Schenken wir den Jungen diese Weisheit: schenken wir ihnen die Weisheit des Lebens, wie der gute Wein, der mit den Jahren immer besser wird. Mir kommt in den Sinn, was ein deutscher Dichter über das Alter sagte: „Es ist ruhig, das

45 Sloterdijk 2012, S. 8.

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Alter, und fromm“: es ist die Zeit der Ruhe und des Gebetes. Und auch die Zeit, den Jungen diese Weisheit zu geben.46

Entnommen sind diese Worte einem Gedicht mit dem Titel: Meiner verehrungswürdigen Großmutter. Zu ihrem 72sten Geburtstag, welches Bergoglio auch in seinem ersten großen Interview als Papst erwähnte, worin er das Motiv der Freundschaft, welches Jesus und die Menschen verbunden habe, von Hölderlin aufnimmt: Ich habe viele Autoren geliebt, die sehr unterschiedlich sind. Dostojewskij und Hölderlin liebe ich sehr. Von Hölderlin möchte ich das Gedicht zum Geburtstag seiner Großmutter erwähnen, das von großer Schönheit ist. Es ist für mich auch spirituell sehr schön. Es schließt mit dem Vers: „dass dir halte der Mann, was er als Knabe gelobt“. Das hat mich sehr gerührt, denn ich habe meine Großmutter Rosa sehr geliebt. Und da stellt Hölderlin seine Großmutter neben Maria, die Jesus geboren hat. Er ist für sie der Freund auf Erden, der niemanden als Fremden betrachtet hat.47

Bergoglio spielt dabei zunächst auf den siebenten und achten Vers des Gedichtes an, wo der Dichter zu seiner Großmutter sagt: „Denn zufrieden bist du und fromm, wie die Mutter, die einst den / Besten der Menschen, den Freund unserer Erde gebar.“48 Betrachtet man den Schluss der Aussage von Bergoglio, der von Jesus als Freund auf Erden spricht, der sich nicht über das Motiv der Exklusion bzw. der Zuschreibung des Fremden definiert, so könnte man darin auch eine kurze Formulierung des theologischen Programms des Papstes sehen, welches er an dieser Stelle in einer Interpretation Hölderlins zusammenfasst, wobei er sich auf folgenden Abschnitt des Gedichtes bezieht (VV 15–18): Allversöhnend und still mit den armen Sterblichen gieng er, Dieser einzige Mann, göttlich im Geiste, dahin. Keines der Lebenden war aus seiner Seele geschlossen Und die Leiden der Welt trug er an liebender Brust. Mit dem Tode befreundet er sich, im Nahmen der andern Gieng er aus Schmerzen und Müh’ siegend zum Vater zurük.49

Gegenüber den mitunter von so großem Pathos erfüllten Bezugnahmen auf Hölderlin nimmt sich Bergoglios Rezeption des Motives der Freundschaft Jesu viel bescheidener aus, womit er auf einen Zug aufmerksam macht, der in Hölderlins Dichtung nicht übersehen werden darf. Darauf werde ich am Ende meiner Überlegungen noch einmal zurückkommen. 46 Beitrag „Papst empfängt Kardinäle im Vatikan: ,Brüder, forza!‘“ auf Radio Vatikan vom 15. 3. 2014. 47 Interview von Antonio Spadaro mit Papst Franziskus: Spadaro 2013. 48 Hölderlin, Meiner verehrungswürdigen Großmutter. Zu ihrem 72sten Geburtstag, VV 7–8, siehe Hölderlin 2005, S. 214. 49 Ebd., VV 13–18, siehe Hölderlin 2005, S. 214.

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8.

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Hölderlin und die Autobiographie Europas

Hölderlins Gedichte, die lange als unverständlich, wenn nicht als Zeugnis des Wahnsinns gegolten hatten, scheinen mit 1914 auf einmal geeignet, den Charakter der Zeit zum Ausdruck zu bringen – einer Zeit, die von einem massiven Abbruch bisheriger kultureller, politischer, gesellschaftlicher und religiöser Verstehensmuster geprägt ist. Die Dichtung Hölderlins wird zur Projektionsfläche verschiedenster Weisen, mit diesem Ende umzugehen: Expressionismus, Zionismus, Nationalsozialismus und Exil, Reflexion über Normalität und Wahnsinn in der Gesellschaft, innere Emigration, restaurative und revolutionäre Tendenzen, Sozialismus, Anarchismus, Jugend- und Studierendenbewegungen, Philosophie, Literatur, Poesie und Theologie finden in ihm einen Zeitgenossen. Immer wieder wird auf die Dichtung Hölderlins zurückgegriffen, wenn es darum geht, einen oszillierenden Bereich jenseits von Theismus und Atheismus zum Ausdruck zu bringen. Hundert Jahre nach der Niederschrift seiner Werke tritt Hölderlin als Bedeutungsträger eines Zerfalls historischer und geistiger Kontinuitäten sowie der Suche nach einem Neuanfang in den Übersetzungsraum Europa ein und durchquert diesen in mannigfaltigen Verschiebungen, Verkleidungen und Übertragungen, die sich einer Systematisierung versagen. Das Pathos der vielfach verworren laufenden Bezugnahmen,50 von denen ich nur einige Beispiele genannt habe, nimmt nicht selten einen unerträglichen Klang an. Immer wieder suggeriert es, als würde sich mit Hölderlin das Geschick des Abendlandes entscheiden. Es scheint, als sei die Geschichte Europas in gewisser Weise an ein Ende geraten, als sei sie – auf direkte Weise – unerzählbar geworden und bedürfte einer fernen, durch hundert Jahre Vergessen verschütteten Gestalt, um die eigene Zeit überhaupt irgendwie zum Ausdruck bringen zu können. Durch die verworrenen Bezugnahmen auf die Gestalt Hölderlins hindurch, lässt sich, wie mir scheint, ein Beitrag zur Autobiographie Europas sehen – freilich in einer niemals linearen, sondern immer ambivalenten und vielstimmigen Weise. Warum aber werden gerade die Verse Hölderlins von Schauplatz zu Schauplatz durch das Europa des 20. Jahrhunderts gereicht? Ich möchte eine Deutung versuchen, bei der sich (wie schon bei Agamben) ein enger Zusammenhang von Sprache und Religion anzeigen wird.

50 Gänzlich verschiedene Zugangsweisen stehen einander auch im akademischen Bereich gegenüber : Akribische Philologie einerseits und Fokussierung auf einen Vers oder ein Wort Hölderlins, das zum Absprung für die Entfaltung eines großen philosophischen Gedankens wird (wie etwa bei Heidegger und Agamben), andererseits.

44

9.

Jakob Deibl

Hölderlins Dichtung als Poetik des Abschieds

Das Werk Hölderlins durchquert jeden Versuch, es positiv unter ein Konzept zu stellen. Seine fragmentarische Gestalt erlaubt uns nicht, mit dem Instrument einer linearen Entwicklung hin zu einem gesicherten Endtext an es heranzutreten.51 Über diese Fragilität der Textgestalt hinausgehend lässt sich meines Erachtens auch inhaltlich keine folgerichtige Entwicklung im Sinne einer Reifung in der Lyrik Hölderlins feststellen, sondern liegt die einzige Kontinuität, welche ihr unterstellt werden kann in einem sukzessiven Zerbrechen sämtlicher Bilder und Leitmotive abendländischer Geschichte. Sie erzählt vom Verlust des Gedankens der Wiedergeburt der Kultur aus den Quellen der Vergangenheit, des projekthaften Entwurfs einer freien Zukunft im Zeichen des Fortschritts, der Präsenz in einer mystisch aufgeladenen Gegenwart, der zeitlosen Erneuerung aus den Kreisläufen der Natur, der Fokussierung auf einen vaterländischen Raum, der zum Ausdruck des Höhepunktes der jeweiligen geschichtlichen Epoche wird, vom Verlust des lebendigen (sittlichen) Bandes einer Gesellschaft, der Orientierung an den mythischen Heroen der Vergangenheit und am Beispiel der „Lehrer“ der jeweiligen Gegenwart und schließlich der Zusammenfassung aller Ideale unter dem höchsten Ideal der Schönheit. Nur eine – gleichsam subversive – Kontinuität durchzieht sein Werk und ist bei der Deutung jedes Gedichtes mitzuführen: Was einmal verloren ist, bleibt dies auch und ist als eine Geschichte des Scheiterns zu behalten – in den Worten von Hölderlins Gedicht Mnemosyne: „Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten.“ (Mnemosyne, VV 5–8) Diesem Verlust gilt es die Treue zu halten – wieder in den Worten von Mnemosyne: „Vieles aber ist / Zu behalten. Und Not die Treue.“, d. h. und Not tut die Treue (Mnemosyne, VV 13–14) Hölderlins Dichtung versucht diesem Verlust eine Sprache zu geben und ihn davor zu bewahren, in ein bloßes Verstummen zu münden. Man könnte seine Lyrik auch als Poetik des Abschieds bezeichnen, welche all die Bilder und Motive, bevor sie verabschiedet werden, noch einmal aufruft und zur Sprache kommen lässt.52 All jene Erfahrungen der Entzweiung versammelt Hölderlin im Gedanken eines nicht mehr partikulären Verlustes, nämlich im apokalyptischen Motiv einer Trennung von göttlicher und menschlicher Sphäre. In der ersten Fassung des Gedichtes Der Abschied – geschrieben um 1800 – spricht er dies aus im 51 Versuchten die wenigen schmalen Ausgaben Hölderlins im 19. Jahrhundert diesen Charakter des Textes noch zu verbergen, um den Eindruck des Wahnsinns von Hölderlin fernzuhalten, wurde die fragmentarische Gestalt des Werkes erstmals ansatzweise durch Hellingraths Ausgabe sichtbar. Vollends Rechnung trug diesem Umstand schließlich die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. 52 Vgl. Deibl 2014, S. 14–17. Vgl. dazu auch die Deutung der biblischen Apokalypse in Appel 2013.

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harten Wort: „Seit der gewurzelte / Allentzweiende Hass Götter und Menschen trennt“ (Der Abschied, Erste Fassung, VV 13–14). Die Rede von Göttern bedeutet hier keineswegs eine Form der Remythologisierung. Vielmehr findet Hölderlin vermittels der religiösen Sprache und Symbolik eine Möglichkeit, der Zerrissenheit der eigenen Zeit überhaupt noch einen Ausdruck zu geben. In ähnlicher Weise, so scheint mir, greifen Menschen nach 1914 erneut auf Hölderlin zurück, weil sie in seiner Dichtung – wie immer geartet – einen Ausdruck für den Zerfall jeglicher Kontinuität und jeglichen Fundamentes, wie ihn ihre Zeit erfährt, finden. Hölderlin denkt für kurze Zeit, der Dichter sei es, der die eben genannte Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre noch einmal überbrücken und dem Verlust entgegentreten könne. Dies bringt etwa die Hymne Wie wenn am Feiertage … – geschrieben ebenfalls um 1800 – zum Ausdruck: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.53

Das Gedicht wurde allerdings nie vollendet, es bricht dort ab, wo Hölderlin die Aufgabe des Dichters genauer zu fassen versucht. Hölderlin wendet sich mit diesem Scheitern auch der Dichtung (neben Beschreibungen von Landschaften, auf die ich hier nicht näher eingehen kann) verstärkt christlichen Motiven zu. Dies ist allerdings nicht als eine Heimkehr in eine Geborgenheit anzusehen, sondern Ausdruck einer letzten Radikalisierung des Verlustes. Er findet im Christentum eine Erzählung, in welcher die Entzweiung bis in die Gestalt des Absoluten selbst reicht, wie das Kreuzesgeschehen zeigt. Das Absolute gibt sich in die Kontingenz der Geschichte, die in den Tod führt, der Logos erscheint geteilt, die Substanz gebrochen. Allerdings endet das Christentum nicht in einem absoluten Nihilismus und betrachtet die Welt nicht definitiv unter dem Symbol des Scheiterns, sondern wird zur Suche nach einer neuen Aufmerksamkeit für das Singuläre und einer neuen Sprache für das Einzelne, das von keiner allgemeinen Kategorie mehr geschützt, von keiner letzten Erzählung mehr gehalten und keiner definitiven Notwendigkeit der Geschichte mehr maskiert ist. Es wird zur Option für einen neuen Blick, der das Verletzliche in seiner Ausgesetztheit wahrzunehmen sucht. Diese Fragilität kehrt auch in den späten Gedichten Hölderlins (nach 1800) wieder, und zwar in einem Blick für die vom Zerbrechen bedrohte Sprache: Gefährdet erscheint ihm nun die Möglichkeit von Dichtung und Gesang über53 Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, VV 56–60, siehe Hölderlin 2005, S. 240.

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haupt. In den berühmten Worten der Vorstufe zum Gedicht Mnemosyne heißt es: Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.54

Das Schreiben Hölderlins wirkt ab 1800 zunehmend wie ein Sich-Aufbäumen gegen den Abgrund der Deutungslosigkeit: Nichts, auch wir selbst nicht, bedeutet mehr etwas. Alles droht in einer Deutungslosigkeit zu versinken. Jedes Gedicht bringt diese Gefahr in den Blick und ist gleichzeitig Versuch, angesichts dieser Bedrohung Sprache wiederzufinden. Dies scheint mir der tiefste Punkt zu sein, der bei all dem unerträglichen Pathos und der oft nur schemenhaften Identifikation, Hölderlin zum Zeitgenossen der Epoche nach 1914 werden lässt. So oft dreht sich die Bezugnahme auf Hölderlin in Philosophie und Dichtung um die Thematik des Sprachverlustes und der Suche nach einer neuen Sprache – und damit nicht zuletzt um die Frage nach der Erzählbarkeit Europas. So viele große Dichter des 20. Jahrhunderts, darunter Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Ren¦ Char, Paul Celan, Andrea Zanzotto, Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker und Peter Handke, haben sich in ihren Gedichten bzw. Texten – mitunter sogar mit Widmung – explizit auf Hölderlin bezogen. Und dieses Sich-Adressieren an Hölderlin rührt an eine fundamentale Fraglichkeit der Sprache, lässt es doch nicht selten „eine lyrische Reflexion des jeweiligen Autors auf das dichterische Sprechen überhaupt erkennen“.55 Im späten Gedicht Patmos (1802/03) bietet Hölderlin eine Re-Figuration der Erzählung Jesu im Lichte der durch die Aufklärung eingetretenen Entfremdung Europas von der Religion. Das Gedicht führt vor die entscheidende Frage, ob das Geschehen des Kreuzes im Verlust definitiv wird oder aber zur Eröffnung einer neuen Sprache und Kultur der Interpretation werden kann. Zerbrochen ist am Kreuz der geradestrahlende Zepter : „… und zerbrach / Den geradestrahlenden / Den Zepter, göttlichleidend, von selbst.“56 In Wie wenn am Feiertage … hatte der Dichter diesen Strahl, der die Verbindung von Himmel und Erde ausdrückt, noch unmittelbar („gerade“) festhalten und dem Volk übergeben wollen: „Doch uns gebührt es, […] / Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.“ (Wie wenn am Feiertage …, VV 56–60). Patmos nimmt sich demgegenüber bescheidener aus, wenn es nach dem von Gott selbst 54 Hölderlin, Mnemosyne, Vorstufe, VV 1–3, siehe Hölderlin 2005, S. 1033. 55 Rodewald 1969, S. 7. 56 Hölderlin, Patmos, VV 109–111, siehe Hölderlin 2005, S. 353.

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erwirkten Zerbrechen dieses Strahls („und zerbrach / Den geradestrahlenden / Den Zepter, göttlichleidend, von selbst“, Patmos, VV 109–111) von den Menschen, vielleicht dürfen wir sagen, es handelt sich um die künftigen Europäer und Europäerinnen, heißt: „Nicht wollen / Am scharfen Strahle sie blühn.“57 Damit ist ein Abschied oder Ablassen vom Wunsch nach der Unmittelbarkeit des Göttlichen und jeglichen absoluten Wertes angesprochen. Es verweist auf eine Kultur der Vermittlungen, der Übersetzungen, der nicht-endgültigen (und d. h. letztlich demokratischen) Aussagen. Es verweist darauf, dass künftig Europa nicht mehr in der Unmittelbarkeit absoluter religiöser oder anderer Werte seine Identität und Sprache wird finden können, sondern dass es fragile Identitäten nur in Übersetzungen und Versetzungen vom eigenen Ort gibt. Vielleicht macht dieser Gedanke, den Hölderlin hier aus dem Innersten der christlichen Erzählung gewinnt, explizit, was Europa neben seiner Gewalt- und Siegergeschichte und neben seinen Narrativen der Okkupation eines Zentrums immer auch durchzogen hat – ein Wissen darum, dass Europa (wie schon seine Herkunft aus dem griechischen Mythos angibt) zutiefst aus der Verschiebung und Versetzung von Bedeutungen und Erzählungen lebt.

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57 Ebd., VV 188–189, siehe Hölderlin 2005, S. 355.

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Martina Roesner

Das geistige Europa als Projekt transzendentaler Genese. Das Problem der geschichtlichen Präsenz des Absoluten in Husserls Krisis-Schrift

1.

Der europäische Vernunftgedanke als philosophisches Problem

Die Frage nach den unabdingbaren Kernbestandteilen einer europäischen Identität sowie nach der gesamtgeschichtlichen Rolle Europas in der Welt ist eine Problematik, die sich nicht erst seit Gründung der Europäischen Union und auch nicht primär im Zusammenhang politischer Erwägungen stellt, sondern ein Leitthema der Philosophie seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bildet. Die Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts hatte die verhängnisvollen Auswirkungen der europäischen Zivilisation und Gesellschaftsordnung zwar angeprangert, dabei jedoch am Gedanken Europas als einer wesentlich auf dem Vernunftgedanken beruhenden Kultursphäre grundsätzlich festgehalten. Die Auswüchse und Fehlentwicklungen, zu denen der zivilisatorische Gedanke in Europa geführt hat, werden von Philosophen wie Rousseau ja gerade im Namen eines Begriffs von „Natur“ kritisiert, der als das eigentliche Synonym ursprünglicher Vernunft erscheint.1 Wohl versucht Rousseau, die zivilisatorische Arroganz der Europäer unter Hinweis auf die überlegenen Fähigkeiten zu korrigieren, die die sogenannten „Wilden“ (sauvages) auf vielen Gebieten aufzuweisen haben. Allerdings scheint er sich nie die Frage gestellt zu haben, ob die seiner Argumentation zugrundeliegende Auffassung von Ursprünglichkeit womöglich eine bloße Variante desselben typisch europäischen, metaphysisch unterfütterten Denkschemas von naturhafter vkg (hylÞ) und kultureller loqv^ (morphÞ) darstellt, das letztlich auch die Wurzel aller kolonialen Machtansprüche bildet. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bricht sich der Gedanke Bahn, dass die globalen Hegemonialansprüche der europäischen Nationen gegenüber anderen Kultursphären nicht nur unter pragmatischen Gesichtspunkten frag-

1 Vgl. Rousseau 1992, S. 177; 180–184; 209.

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Martina Roesner

würdig und somit korrekturbedürftig sind, sondern womöglich als Ausdruck eines prinzipiell verfehlten Paradigmas von Rationalität gedeutet werden müssen. Die politisch-wirtschaftliche Expansionspolitik Europas wird nicht mehr im Namen der philosophischen Vernunft kritisiert, sondern vielmehr wird der für die europäische Kultur konstitutive Vernunftgedanke als solcher zur eigentlichen Quelle des weltweiten Herrschaftsgestus der europäischen Staaten gegenüber anderen Völkern und Kulturen erklärt und damit insgesamt in Frage gestellt. Diese radikale Form der Vernunftkritik wird nicht zuletzt durch das Auftreten der sogenannten Lebensphilosophie befördert, die sich ebenfalls seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gefolge der sich neu als Wissenschaft herausbildenden Biologie zu etablieren beginnt. Vom Beginn der griechischen Philosophie bei den Vorsokratikern bis hin zu den großen Systementwürfen des Deutschen Idealismus war das philosophische Denken von der Überzeugung getragen gewesen, nicht nur die begriffliche Deutungshoheit für das konkrete Phänomen des organischen Lebens zu besitzen, sondern selbst die Höchstform lebendiger Spontaneität darzustellen.2 Diese Vormachtstellung des „Geisteslebens“ als des Leitparadigmas für Lebendigkeit überhaupt wird von der Biologie des 19. Jahrhunderts und vor allem von der Evolutionstheorie in radikaler Weise bestritten. Die Vernunft erscheint nicht länger als universale, überempirische Größe, die den Menschen in entscheidender Weise aus dem Naturzusammenhang heraushebt, sondern lediglich als eine Fähigkeit unter anderen, die sich im Laufe der evolutionären Entwicklung der Hominiden aus kontingenten Gründen herausgebildet hat und mit der biologisch-physiologischen Grundstruktur des Homo sapiens auf das engste verbunden bleibt.3 Diese zunächst innerbiologische Einsicht führt dazu, dass auch innerhalb der Philosophie die Vorstellung von der Vernunft als einer statisch-zeitüberhobenen Universalstruktur durch ein genetisches Funktionsmodell abgelöst wird, das alles Denken letztlich als Ausdruck realer physiologischer bzw. psychologischer Prozesse deutet, die bloß faktischen Naturgesetzlichkeiten unterliegen und somit keinen Anspruch auf apodiktische Notwendigkeit erheben können. Diesem naturalistisch-psychologistischen Ansatz zufolge besitzt der Satz „2+2 = 4“ keine universale, überempirische Geltung, sondern ist lediglich ein Ausdruck der zufällig so und nicht anders abgelaufenen evolutionären Entwicklung des menschlichen Gehirns. Mit anderen Worten: Hätten sich die Hominiden aufgrund bestimmter Umwelteinflüsse anders entwickelt, würde unser Denken

2 Vgl. Aristoteles: Metaphysik XII 7, 1072 b 15–17. 29; Ders.: Nikomachische Ethik X 7, 1177 a 11–1078 a 8. 3 Vgl. Darwin 1966, S. 78–121; Nietzsche 1999 [KSA 1], S. 326–329; Ders. 1999 [KSA 3], S. 382; Spengler 1924, Bd. 2, S. 223; Klages 1929/1933.

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auch anderen Gesetzen folgen und anderslautende Sätze und Axiome als wahr erkennen. Diese biologistisch motivierte Nivellierung des Universalcharakters der Vernunft betrifft dabei nicht nur die konkreten Denkprozesse der einzelnen Individuen, sondern führt darüber hinaus auch zu einer Naturalisierung des Kulturbegriffs als solchen. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte zunächst die Unterscheidung von „Natur“ und „Kultur“ und im Gefolge davon die methodologische Abgrenzung von „Naturwissenschaften“ und „Geisteswissenschaften“ im Mittelpunkt wissenschaftstheoretischer Überlegungen gestanden.4 Demgegenüber zeichnet sich im frühen 20. Jahrhundert bei vernunftkritisch orientierten Autoren mehr und mehr die Tendenz ab, die Eigenständigkeit der Kultursphäre insgesamt zu bestreiten und das Phänomen der Kultur nach morphologisch-biologischen Grundmustern zu deuten. Oswald Spenglers berühmt-berüchtigtes Werk Der Untergang des Abendlandes ist wohl der bekannteste, doch keineswegs der einzige Versuch, die Entwicklung der verschiedenen Kulturen der Menschheitsgeschichte nach demselben Schema zu deuten wie Wachstum, Blüte und Absterben pflanzlicher Organismen. Die europäische Kultur – so Spengler – nimmt daher keine wie immer geartete Sonderstellung innerhalb der Menschheitsgeschichte ein, sondern ist ebenso dem Untergang geweiht wie alle anderen Hochkulturen vor ihr auch.5 Dieser biologisch fundierte Kultur- und Vernunftrelativismus wird selbstverständlich nicht von allen Philosophen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geteilt. Vor allem die Vertreter der neukantianisch orientierten Transzendentalphilosophie unterziehen alle Versuche einer Naturalisierung des Bewusstseins und einer damit Hand in Hand gehenden Relativierung der Vernunftansprüche eine scharfe Absage; allerdings um den Preis, dass der Gedanke einer genetischen Entwicklung aus dem Bereich der transzendentalen Vernunft generell verbannt werden muss.6 Wird Vernunft genetisch betrachtet, endet man unweigerlich im Naturalismus und Relativismus; will man dagegen die universalen Geltungsansprüche der Vernunft verteidigen, ist für den Gedanken der Genese und zeitlichen Entwicklung kein Platz mehr – so stellt sich die scheinbar ausschließende Disjunktion der beiden möglichen Deutungsmodelle des Vernunftdenkens im frühen 20. Jahrhundert zunächst dar.

4 Vgl. Windelband 1907, S. 364; Dilthey 1922, S. 12; vgl. auch Misch 1967, S. 10; Rickert 1924. 5 Vgl. Spengler 1924, Bd. 1, S. 4–9. 6 Vgl. Cohen 1883, S. 127; Natorp 1965, S. 18; Rickert 1920.

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2.

Martina Roesner

Edmund Husserls genetische Phänomenologie als das tertium datur zwischen Psychologismus und klassischer Transzendentalphilosophie

Nach dem Ende des Deutschen Idealismus Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es lange Zeit so ausgesehen, als seien alle möglichen Konfigurationen und Konstellationen des philosophischen Denkens endgültig ausgeschöpft und als bliebe der Philosophie nunmehr nichts anderes übrig, als sich durch die Verwendung des Präfixes „Neu-“ (Neukantianismus, Neuhegelianismus, Neuscholastik usw.) auf die epigonenhafte Perpetuierung vergangener Denkschulen und Systementwürfe zu beschränken. Dies ändert sich mit der Jahrhundertwende 1900/01, als der damals noch relativ unbekannte Privatdozent an der Universität Halle, Edmund Husserl, seine Logischen Untersuchungen veröffentlicht und damit die Phänomenologie als neue, bisher noch nicht dagewesene Form des philosophischen Denkens etabliert. Aufgrund seiner stark mathematisch-naturwissenschaftlich geprägten Vorbildung, die mit einer relativ eklektischen Kenntnis der Philosophiegeschichte Hand in Hand geht, ist Husserls Denken über lange Zeit hinweg von einem ausgesprochen methodisch-systematischen Interesse an grundlegenden philosophischen Sachfragen geleitet. Als Mathematiker widmet er sich zunächst der Frage nach Wesen und Ursprung des Zahlbegriffs und ist dabei bestrebt, die psychologistische und naturalistische Engführung mathematisch-logischer Prinzipien und Axiome zu vermeiden.7 Ohne die grundsätzliche Legitimität einer psychologischen bzw. physiologischen Untersuchung konkreter Denkvorgänge zu bestreiten, zieht Husserl doch eine klare Trennlinie zwischen solchen empirisch-genetischen Betrachtungen realer Denkprozesse einerseits und der Frage nach der idealen Geltung der Denkinhalte andererseits. Während die realen, psychologischen Denkvorgänge in der Tat raumzeitlich individuiert und somit kontingent sind, eignet ihren Inhalten dagegen eine Universalität, deren Gültigkeit überempirischer Natur ist.8 Das Wesen eines Gedankeninhalts erscheint daher als eine Größe, die nicht in den realen psychologischen Prozessen der einzelnen Denkakte aufgeht, sondern vielmehr als deren bedeutungshafter, überempirischer Identitätspol fungiert. Mögen die konkreten Denkprozesse der einzelnen Vernunftsubjekte auch kontingenter Natur sein, so ist das darin jeweils Gemeinte ein idealer, allen Denkvorgängen gemeinsamer Kern überzeitlicher Geltung.9 Zunächst glaubt Husserl also, den relativistischen Konsequenzen des Natu7 Vgl. Husserl Hua XII, S. 181–192; 256–283. 8 Vgl. Husserl Hua XVIII, S. 159–195; 230–258. 9 Vgl. Husserl Hua XXIV, S. 147; 174; 176.

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ralismus, Biologismus und Psychologismus nicht anders begegnen zu können als durch die Eliminierung jedes genetischen Aspektes aus dem Bereich der phänomenologischen Wissenschaft vom Bewusstsein. Dies ändert sich jedoch in dem Moment, wo er durch seine Analysen des sogenannten „inneren Zeitbewusstseins“ der zeitlich-genetischen Struktur des transzendentalen Bewusstseins als solchen innewird. Bewusstsein bzw. vernünftige Subjektivität ist für Husserl kein statischer Ichpol und auch keine bloße Universalstruktur mehr, sondern entfaltet sich notwendigerweise in Form einer transzendentalen Genese.10 Die dem Bewusstsein erscheinenden Gegenständlichkeiten empirischer wie idealer Natur sind nicht einfach punktuell und auf einen Schlag gegeben, sondern stellen sedimentierte Sinnstiftungen des zeitlich erstreckten, transzendentalen Bewusstseinsflusses dar,11 dessen Leistungsaktivität auf gegenständliche Einheiten ausgeht, ohne jedoch in diesen aufzugehen. Da sich sämtliche Naturobjekte überhaupt nur in einer gesetzmäßig geregelten Aufeinanderfolge perspektivischer Abschattungen gegenständlich konstituieren können, sind auch sie letztlich Produkte der transzendentalen Bewusstseinsgeschichte und deren sinnstiftender Leistung.12 Eine grundsätzliche Trennung von „Natur“ und „Geschichte“ wird damit vom phänomenologischen Standpunkt aus prinzipiell widersinnig. Mit diesem Durchbruch zur sogenannten „genetischen Phänomenologie“ bietet sich Husserl nun auch die Möglichkeit, die Frage nach der geschichtlichen Rolle der europäischen Rationalität und der auf sie gegründeten Kultur insgesamt anzugehen. In dem Moment, wo vernünftiges Bewusstsein als solches immer schon geschichtlich ist, kann auch das Auftreten des europäischen Vernunftparadigmas innerhalb der Menschheitsgeschichte kein bloß kontingentes, äußerliches Phänomen darstellen, sondern muss auf seine phänomenologische Bedeutung hin befragt werden. Der teleologische Grundcharakter, der bereits die Dynamik des einzelnen Bewusstseinsstromes auszeichnet, wird von Husserl dabei auch auf die gesamtgeschichtliche Entwicklung des vernünftigen Bewusstseins übertragen, doch nimmt die phänomenologische Geschichtsbetrachtung, die sich daraus entwickelt, nicht, wie etwa bei Hegel, die Form einer dialektisch fortschreitenden Geschichtsphilosophie an. Vielmehr deutet Husserl den Begriff des Telos der Vernunft, aber auch den Begriff Europas in einer 10 „Aber dieses reine Ich […] ist nicht ein toter Identitätspol. […] Das Ich hat eine Geschichte und aus seiner Geschichte schafft es ein ihm habituell und als dasselbe Ich Verbleibendes“ (Hua IX, S. 208; 211). 11 Vgl. Husserl Hua X, S. 75 sowie Husserl Hua VI, S. 24. 12 „Bewußtsein ist ein unaufhörliches Werden als ein unaufhörliches Konstituieren von Objektivitäten in einem unaufhörlichen progressus der Stufenfolge. Es ist eine nie abbrechende Geschichte. Und Geschichte ist ein stufenweises, von einer immanenten Teleologie durchherrschtes Konstituieren immer höherer Sinngebilde“ (Husserl Hua XI, S. 218f.).

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subtilen Weise neu, so dass der Rückfall in einen plumpen, kolonialistisch gefärbten Eurozentrismus damit ebenso vermieden wird wie die kulturrelativistische Preisgabe des europäischen Vernunftideals.

3.

Husserls Krisis-Schrift und die Idee Europas als Projekt

Husserl entwickelt seine phänomenologische Geschichtsdeutung in den 1920er und 1930er Jahren, also in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die vor allem in Deutschland durch eine Verschärfung der Krise des traditionellen philosophischen Vernunftideals gekennzeichnet ist. Die Fronterfahrungen der Kriegsteilnehmer, aber auch die sich an das Kriegsende anschließende Phase des Zusammenbruchs des Kaiserreiches, der Wirtschaftskrise und der Inflation tragen wesentlich dazu bei, dass das Ideal einer von aller Faktizität unberührten, transzendentalen Vernunft zunehmend an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft einbüßt. Die Vorlesungen, die der junge Martin Heidegger während der 1920er Jahre in Freiburg und Marburg hält, sind ein beredtes Zeugnis für die tiefe Krise der Rationalität im Allgemeinen und des Selbstverständnisses der europäischen Kultur im Besonderen13 – eine Krise, auf die Heidegger durch die philosophische Hinwendung zum ursprünglichen Welterleben, zur Faktizität und den sie kennzeichnenden Phänomenen der Endlichkeit und Sterblichkeit zu antworten sucht.14 Das Ungenügen der bisherigen Formen der Transzendentalphilosophie ist auch Husserl bewusst, doch zieht er daraus die entgegengesetzte Schlussfolgerung wie Heidegger. Wenn die politisch-geschichtliche Fehlentwicklung Europas, die letztlich in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges gipfelt, ihre Gründe tatsächlich in einer bestimmten Auffassung von Rationalität hat, dann muss man nach Ansicht Husserls dieses irrige Rationalitätsverständnis korrigieren, ohne jedoch das Vernunftideal als solches aufzugeben.15 13 Bei vielen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts ist die zunehmende Frag-würdigkeit Europas und der europäischen Identität in besonderer Weise mit der Rezeption der Gedichte Friedrich Hölderlins verbunden. Die Krise des europäischen Gedankens wird in diesem Zusammenhang vor allem als eine Krise der Sprache erlebt, deren wirklichkeitsstiftende Kraft zunehmend problematisch erscheint. Ab den 1930er Jahren nimmt auch Martin Heidegger bestimmte Gedichte Hölderlins zum Anlass, in grundlegender Weise über das Wesen Europas und der europäischen Philosophie nachzudenken. Die Krise der europäischen Rationalität ist für ihn mehr und mehr an das Schicksal der geschichtlichen Sprachen geknüpft, während für Husserl der europäische Vernunftgedanke vor allem als ideale Form einer transzendentalen Tradition erscheint, die in erster Linie an der schriftlichen Weitergabe von Vernunftleistungen hängt, nicht aber an der gesprochenen Sprache. Vgl. dazu insgesamt den Beitrag von Jakob Deibl „Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?“ auf S. 29–49 des vorliegenden Bandes. 14 Vgl. Heidegger GA 56/57, GA 58, GA 63. 15 Vgl. Husserl Hua VI, S. 14; 273.

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Der Begriff der „Krise“ oder „Krisis“, der seine Schriften und Aufzeichnungen der 1930er Jahre durchzieht, ist nicht nur Ausdruck einer Diagnose der europäischen Geistesgeschichte, sondern zugleich auch schon ein Indikator für die einzig erfolgversprechende Therapie.16 Es geht um eine Krisis im ursprünglichen Sinne des jq_meim (krinein), also um eine Scheidung der legitimen Ansprüche des europäischen Vernunftgedankens von seinen illegitimen Auswüchsen und Fehlentwicklungen. Als Gründungsmoment des für Europa konstitutiven Vernunftideals setzt Husserl, wie praktisch alle Geschichtsphilosophen vor ihm, die Entstehung des philosophischen Denkens bei den Griechen an.17 Der entscheidende Punkt ist dabei nicht so sehr die Entwicklung komplexer, anspruchsvoller Wissenschaft – eine hochentwickelte Mathematik und Astronomie hatten die Ägypter, die Babylonier und andere frühe Hochkulturen schließlich auch –, sondern ein Zurückwirken des wissenschaftlichen Erkenntnisideals auf das Verständnis vom Menschen insgesamt. Die dem philosophischen Denken eigene Perspektive der Universalität wird von den Griechen nicht nur auf die jeweiligen Erkenntnisgegenstände und deren Prinzipien bezogen, sondern führt ebenso auch dazu, dass die Einbindung des Menschen in partikuläre, heimweltliche Traditionen religiöser, politischer und kultureller Art eine Relativierung erfährt. Nicht zufällig bricht sich schon bei den ersten Vorsokratikern, wie etwa Xenophanes, eine grundlegende Kritik an den traditionellen griechischen Göttervorstellungen im Namen der philosophischen Vernunft Bahn, die nunmehr als das höhere und einzig verbindliche Prinzip des menschlichen Weltbezuges erscheint.18 Philosophie wird also nicht mehr nur innerhalb des vorgegebenen kulturellen Rahmens betrieben, sondern dient dazu, diesen Rahmen in seiner Vorgegebenheit immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und ihn vor dem Hintergrund begrifflicher Universalität in seiner Legitimität zu befragen. Jenseits der Vielzahl der traditionellen, mehr oder weniger begrenzten Kultursphären tut sich damit ein universaler Horizont auf, in dem sich alle Menschen, ganz gleich, welcher kulturellen Herkunft, grundsätzlich begegnen können.19 Husserl sieht diesen Durchbruch der Idee eines universalen Menschentums aus reiner, philosophisch-wissenschaftlicher Vernunft zwar zum ersten Mal bei den Griechen verwirklicht, doch bedeutet das nicht, dass es sich hierbei um ein Phänomen handelte, das nur den Griechen in bleibender Weise zu eigen gegeben wäre. Zum einen deutet Husserl das Auftreten des philosophischen Vernunftdenkens in der europäischen Geschichte weniger als kulturimmanentes Produkt 16 17 18 19

Vgl. Husserl Hua VI, S. 314f. Vgl. Husserl Hua VI, S. 13; 72. Vgl. Diels / Kranz (= DK) 21 B 11; DK 21 B 12; DK 21 B 15; DK 21 B 16. Vgl. Husserl Hua XV, S. 436; 622.

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denn vielmehr als einen „Einbruch“ von außen, der die Begrenztheit kultureller Deutungsmodelle der Wirklichkeit gerade aufsprengt.20 Zum anderen ist das Ideal philosophischer Erkenntnis auch bei den Griechen nicht schon in adäquater Weise „gegeben“, sondern ist der Vernunftmenschheit als ganzer in bleibender, nie restlos einlösbarer Weise „aufgegeben“. Die kontinuierliche Weitertradierung dieser Aufgabe und die unablässige Arbeit an ihrer immer weiter fortschreitenden Einlösung ist für Husserl dabei keine bloß äußerliche, akademische Angelegenheit, sondern wird von ihm ausdrücklich als „Fortzeugung“ und „Weitervererbung“ innerhalb des universalen Lebenszusammenhangs der geschichtlichen Vernunft bezeichnet.21 Auch das vernünftige Bewusstsein der Menschheit insgesamt erscheint somit nicht als etwas Statisches, ein für allemal Gegebenes, sondern ist durch eine transzendentale Generativität gekennzeichnet, in der es nicht mehr um eine biologische Abstammungsgemeinschaft, sondern um die Weitergabe und Weitervererbung von urgestifteten Vernunftleistungen und Sinnkonstitutionen geht.22 Die Fortzeugung und Weitervererbung dieser unendlichen Aufgabe ist jedoch kein Selbstläufer, sondern unterliegt stets der Gefahr, in Fehlentwicklungen abzugleiten, die die Errungenschaften des europäischen Menschentums als solchen in Frage stellen. Der Beginn der Neuzeit markiert dabei für Husserl in zweifacher Hinsicht eine Zäsur, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Der positive Impuls des neuzeitlichen Denkens liegt in der cartesianischen Wende zum Subjekt, die einen ersten Durchbruch zu dem von Husserl angestrebten Ideal einer transzendentalen Wissenschaft vom Bewusstsein darstellt.23 Die frühe Neuzeit markiert für Husserl jedoch auch den Beginn jener verhängnisvollen Fehlentwicklung, die letztlich zur Krise des europäischen Menschentums im 20. Jahrhundert führt und für die er in maßgeblicher Weise die beiden Heroen der modernen Naturwissenschaft, Galilei und Newton, verantwortlich macht. Das Charakteristikum der neuzeitlichen Naturwissenschaft besteht in der lückenlosen Mathematisierung der Natur, die nunmehr als eine geschlossene, von universalen Gesetzmäßigkeiten geregelte Totalität erscheint. Die Mathematik als solche ist zwar keine Erfindung der Neuzeit, doch haben sich die mathematischen Methoden bei den Griechen zunächst aus einem bestimmten lebensweltlichen Interesse heraus entwickelt – im Falle der Geometrie beispielsweise aus der Feldmesskunst. Dass die Geometrie sich anschließend von diesen empirischen Ursprüngen emanzipiert und in reiner Idealität um ihrer 20 21 22 23

Vgl. Husserl Hua XXIX, S. 363. Vgl. Husserl Hua I, S. 100f.; Hua VI, S. 57 sowie Hua XV, S. 138–142. Vgl. Husserl Hua XXXII, S. 134 und Hua XXIX, S. 366; 399. Vgl. Husserl Hua VI, S. 274; Hua XXIX, S. 111–113.

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selbst willen betrieben wird, ist zunächst noch keineswegs illegitim. Kritisch wird die Anwendung mathematischer Methoden in dem Moment, wo sie, wie es in der Neuzeit geschieht, die idealisierende Rekonstruktion der Wirklichkeit durch die Mathematik mit „der“ Wirklichkeit als solcher gleichsetzt. Die Natur hört damit auf, integraler Bestandteil des spezifisch menschlichen Weltbegriffs zu sein, und wird zu einer homogenen, „objektiv“ bestehenden Sphäre, deren Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten dem vorwissenschaftlichen Erleben der Welt der Phänomene diametral entgegengesetzt sind. Die meisten Menschen sprechen weiterhin ganz unbefangen vom „Sonnenuntergang“, doch der neuzeitliche Physiker weiß, dass die Sonne „eigentlich“ nicht untergeht, sondern aufgrund der Erddrehung temporär unter der Horizontlinie verschwindet. Entscheidend an dieser Entwicklung ist nicht so sehr die Diskrepanz zwischen diesen beiden Sichtweisen der Welt, sondern vielmehr der Umstand, dass die kontraintuitive wissenschaftliche Weltsicht sich nunmehr als die „eigentlich wahre“ versteht und das unmittelbare phänomenale Erleben als naive, zu überwindende Vorstufe des Weltbezugs diskreditiert.24 Die eigentliche Fehlentwicklung des europäischen Rationalitätsideals beginnt daher in dem Moment, wo Mathematik und Naturwissenschaften so tun, als hätten sie immer schon in abstrakter, zeitüberhobener Idealität existiert, und darüber die Tatsache vergessen, dass sie sich ursprünglich einer lebensweltlichen Sinngebung verdanken. Rationalität ist in Husserls Augen also nicht schon dadurch entfremdet, dass sie rein formale, mathematische Methoden anwendet, sondern erst in dem Moment, wo sie nicht mehr in der Lage ist, den lebensweltlich-geschichtlichen Ursprung dieser Formalisierungsleistung zu reaktivieren. Vernunftgeschichte ist für Husserl wesentlich die Geschichte vernünftiger Sinnstiftungen, die nicht einfach Vorgegebenes wiederholen, sondern durchaus den Charakter von „Urzeugungen“ haben, die sich im Verlauf der gesamtmenschheitlichen Bewusstseinsentwicklung „fortzeugen“ und weiterentwickeln, dabei aber nie den Kontinuitätsbezug zu ihrem ursprünglichen Stiftungsmoment verlieren. Dadurch, dass die Newtonsche bzw. Galileische Naturwissenschaft diesen Bezug zu den lebensweltlichen Ursprüngen ihrer Methoden bewusst kappt und die lebensweltliche Einstellung als solche zu einer defizienten Vorstufe des wissenschaftlichen Weltbezugs erklärt, nimmt sie dem europäischen Vernunftideal die Möglichkeit, sich durch Rückgang auf seine geschichtlichen Urstiftungen in seinen Rechtsansprüchen auszuweisen und gegen Anwürfe und Kritik zu rechtfertigen.25 Die von ihren transzendentalen Ursprüngen abgetrennte Vernunft entwickelt sich in rein formalen Methoden und Automatismen weiter, die einen immer technischeren Charakter annehmen 24 Vgl. Husserl Hua VI, S. 48–52; 60–62. 25 Vgl. Husserl Hua VI, S. 57.

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und letztlich in Form realer Technik auf die Lebenswelt zurückwirken, ohne dass diese sich dessen bewusst wäre und diese Entwicklung ausdrücklich in Frage stellen könnte.26 Die durch schiere politische Macht vorangetriebene Ausbreitung dieses rein zivilisatorischen, auf technischen Fortschritt bedachten Rationalitätsverständnisses, wie es die Epoche der Kolonialisierung kennzeichnet, wird von Husserl aufs schärfste kritisiert.27 Die außereuropäischen Kultursphären sind der europäischen nicht deswegen unterlegen, weil sie über keine Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegraphen verfügen. Was das Universalgültige und damit Verbreitenswerte des europäischen Vernunftideals ausmacht, ist vielmehr der Gedanke eines Denkhorizontes, der es den Menschen erlaubt, zu den historischkontingenten Aspekten ihrer jeweiligen kulturellen Heimwelt auf Distanz zu gehen, ohne die eigene Kultur in ihrer Gesamtheit deswegen verwerfen zu müssen. Auch und gerade die Idee eines „geistigen Europas“, wie Husserl sie versteht,28 existiert nicht abgekoppelt von ihren geschichtlichen Ursprüngen in Form einer reinen, überzeitlichen Wesensstruktur – heiße sie „Aufklärung“ oder wie immer –, sondern lebt wesentlich von der idealen Generativität der in ihr urgestifteten und urgezeugten Vernunftleistungen. Diese stiften wiederum eine Tradition, die aber keine bloß faktisch-kontingente, sondern eine transzendentale Tradition dargestellt. Anders ausgedrückt: Im geistigen Europa hat es Tradition, faktisch bestehende Traditionen immer wieder kritisch auf ihren Ursprungssinn hin zu befragen und sie zu einer Ausweisung ihrer Vernunftansprüche zu nötigen. Dies gilt auch für die Tradition der philosophisch-wissenschaftlichen Rationalität. In diesem Sinne impliziert die Rede von Europa notwendigerweise den Rückgang auf die geschichtlichen Momente, die für den Durchbruch und die Weiterentwicklung des universalen, europäischen Vernunftideals von zentraler Bedeutung sind, aber nicht, insofern diese Momente primär innereuropäische Ereignisse darstellen, sondern insofern sich in ihnen etwas ausspricht, was nicht nur alle Europäer, sondern alle Menschen in wesentlicher Weise angeht.29 Die europäische Kultur ist also der geschichtliche Durchbruchsort für einen Denkansatz, der die Menschen nicht mehr auf ihre biologische Abstammung 26 27 28 29

Vgl. Husserl Hua VI, S. 57f.; Hua XXIX, S. 176f. Vgl. Husserl Hua VI, S. 3f.; Hua XXVII, S. 207. Vgl. Husserl Hua VI, S. 318f.; Hua XXVII, S. 241. „Das meint nichts minderes, als daß wir der europäischen Kultur […] nicht nur die relativ höchste Stellung unter allen historischen Kulturen zubilligen, sondern daß wir in ihr die erste Verwirklichung einer absoluten Entwicklungsnorm sehen, die dazu berufen ist, jede andere sich entwickelnde Kultur zu revolutionieren. Denn eine jede in der Einheit einer Kultur lebende und sich entwickelnde Menschheit steht unter einem kategorischen Imperativ“ (Husserl Hua XXVII, S. 73; Hervorhebung im Original).

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bzw. ihre nationale oder kulturelle Herkunft verrechnet, sondern sie aus der Differenz zu all diesen kontingenten Bestimmungen heraus betrachtet.30 Dieses transzendentale Vernunftideal ist für Husserl das Absolute in der Geschichte, doch macht seine wesentliche Bestimmung als „unendliche Aufgabe“ zugleich auch deutlich, dass die historische Inkarnation dieser Absolutheit nicht als partikulärer „Besitz“ der Europäer angesehen werden kann.31 Was das geistige Europa als Idee ausmacht, ist niemandes Besitz, gerade deswegen aber jedermanns Aufgabe. An Husserls Rekonstruktion der Philosophiegeschichte in der Krisis-Schrift fällt auf, dass er die zentralen Urstiftungsmomente der Vernunft in der Antike bzw. in der Neuzeit verortet, das Mittelalter hingegen ausspart. Dies erklärt sich einerseits durch Husserls äußerst lückenhafte Kenntnis dieser Epoche; andererseits wirft dieser Umstand aber auch die Frage auf, ob er diesen Teil der europäischen Geistesgeschichte womöglich wegen seiner starken religiöschristlichen Prägung bewusst ausklammern wollte. Beruht Husserls Konzeption eines „geistigen Europas“ als Präfiguration einer idealen Vernunftmenschheit womöglich auf einem betont säkularen Modell von Rationalität? Auch wenn man auf den ersten Blick zu dieser Schlussfolgerung kommen könnte, so finden sich in Husserls Schriften doch Hinweise, die das Gegenteil belegen. Zwar tritt er in keine vertiefte philosophische Auseinandersetzung mit der biblischen bzw. im engeren Sinne christlichen Tradition ein, doch wird an einzelnen Bemerkungen deutlich, dass er sie grundsätzlich in der gleichen Entwicklungslinie sieht wie die philosophische Auffassung der einen Vernunftmenschheit. Die in der Bibel klar ausgesprochene Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott geht für Husserl in diese Richtung, aber auch – und dies ist fast noch bemerkenswerter – die christliche Mystik, die bestrebt ist, die Beziehung zu Gott als dem Absoluten aus den äußerlich-kontingenten Formen der Frömmigkeit herauszulösen und sie so zu universalisieren.32 In einem 1922/23 entstandenen Textfragment notiert Husserl zum Thema „Kirche und christliche Wissenschaft“: Also Glaube als echte Bekehrung oder echte ursprüngliche Nachfolge ist freie Tat. Und Erneuerung dieser Freiheit in der echten Bekennerschaft ist das Thema ursprünglicher christlicher Predigt. Dasselbe gehört zu jeder ursprünglich gestifteten Religion gegenüber dem gewachsenen und nicht gestifteten Mythus der mythischen Religion. Eigentliche Religion ist also ein Durchbruch der Freiheit, und auf ihrem Wege liegt Kirche und, wenn es eine universale Menschheitsreligion sein will, der Durchbruch einer bewußten Tendenz auf eine frei erzeugte Kultur, auf eine erneuerte, echte, oder die Herausbildung einer bewußt gestalteten Entelechie in der Kultur und der kulturtätigen Menschheit […], Normen der Selbsterziehung zum neuen Menschen und gleichsam 30 Vgl. Husserl Hua VII, S. 205. 31 Vgl. Husserl Hua VI, S. 320. 32 Vgl. Husserl Hua XXV, S. 283.

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der Selbsterziehung der Menschheit zu einer neuen Menschheit. […] Die Idee der civitas dei, die ihre herrschende Idee ist, ist auch die herrschende Leitidee des Mittelalters; in ihr liegt eine fortschreitende Realisierung dieser Idee in der aktuellen Menschheitskultur und als einer universalen vereinheitlichten Menschheitskultur überhaupt (Mystik). […] Die kirchliche Weltherrschaft als Idee, oder die Idee der civitas dei, birgt, wie der letztere Ausdruck besagt, in sich den Gedanken, daß Gott selbst sein Gottesvolk, die Christenheit, in der göttlich gestifteten Regierungsform der Kirche regiert bzw. zugleich regiert und durch geistige Reinigung (Mystik) so erweitert, daß schließlich die ganze Menschheit der Gnade der Erlösung aktuell teilhaftig sei oder in eigener Freiheit zu ihr Stellung nehmen könne. In der Theologie erteilt er der Menschheit das Vernunftorgan, einen Anteil an seiner Vernunft in der Selbstrealisierung dieses Heilsweges.33

Auch außerhalb der transzendentalen Tradition des von den Griechen begründeten und in der Neuzeit radikalisierten Ideals philosophischer Rationalität gibt es also Durchbruchs- und Urstiftungsmomente des für Europa konstitutiven Universalitätsgedankens, die nicht in begrifflich-abstrakter Weise aus dem jeweiligen geschichtlichen Kontext herausgelöst werden können. Das nichtentfremdete Vernunftdenken definiert sich für Husserl vielmehr über die Fähigkeit, zu den verschiedenen geschichtlichen Durchbruchsmomenten der europäischen Universalitätsidee zurückgehen und sie in ihrem jeweiligen lebensweltlichen Kontext reaktivieren zu können, sei dieser nun profaner oder religiöser Natur. Im Sinne des Husserlschen Ansatzes kann die Krise der europäischen Idee folglich nur dadurch überwunden werden, dass Europa lernt, sich selbst recht zu verstehen, d. h. die vermeintlich abstrakten Universalstrukturen des Vernunftdenkens als Ergebnisse einer transzendentalen Generativität zu deuten, die dem Gesamtzusammenhang der Lebenswelt in all ihren Facetten entspringt. Zu diesen Facetten lebensweltlicher Fülle gehört – nicht nur, aber auch – die Religion. Zwar ist nicht jede beliebige Form religiöser Praxis in sich schon vernunftrelevant, doch wo, wie im Falle der biblisch begründeten, jüdisch-christlichen Religion, der Gedanke der einen Menschheit jenseits aller nationalen und kulturellen Partikularismen aufbricht, ist auch diese religiöse Tradition integraler Bestandteil der transzendentalen Stiftungsgeschichte Europas, auf die sich zu besinnen jedem denkenden Menschen, in besonderer Weise aber den Philosophen, aufgegeben ist.

Literaturverzeichnis Aristoteles: Metaphysik. 2. Bde. Übers. v. Bonitz, Hermann. Hrsg. und mit einer Einl. versehen v. Seidl, Horst. Hamburg 31989/1991 [1978/1979]. 33 Husserl Hua XXVII, S. 103; 105 (Hervorhebungen im Original).

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Isabella Guanzini

Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat

Diese Analyse bewegt sich vor allem vor dem Hintergrund der Lacanschen Psychoanalyse und versucht, die Folgen der heutigen „Misere des Symbolischen“ – so Bernard Stiegler1 – zu untersuchen. Im europäischen Kontext des Anwachsens der allgegenwärtigen Bürokratisierung des Zusammenlebens möchte ich die Frage stellen, was in der Schwächung oder Verwandlung der symbolischen Ordnung verloren geht und gleichzeitig die Frage nach Orten, wo die menschliche symbolische Erfahrung heute erahnt und neu gelebt werden kann.

1.

Der „große Andere“ als symbolische Ordnung

Einer der interessantesten Beiträge der Freudschen und Lacanschen Psychoanalyse ist die Kritik an der psychologistischen Vorstellung des Subjekts als autonomes Ich und reines Inneres. Damit geht ein Blickwechsel auf die subjektive Abhängigkeit vom Anderen einher, von einem Dritten, von einem Äußeren, von einem Wort, das dem Subjekt ermöglicht, sich in eine symbolische Herkunft bzw. Sohnschaft einzuschreiben. Das Subjekt ist zu dieser Abhängigkeit aufgrund einer fundamentalen Exzentrizität und konstitutiven Passivität verurteilt, insofern es sich immer als die Rede des (geschichtlichen, sozialen, familiären) Anderen generiert. „Der Andere ist der Ort, an dem das Ich, das spricht, sich konstituiert.“2 Das Subjekt hängt von der symbolischen Ordnung ab, sodass die Subjektivität immer in Verbindung mit einem Dritten, mit einem Anderen, bzw. mit der Sprache steht, die das Subjekt als Sprechendes begründet, auch wenn das Subjekt selbst unauslöschbar ist. Schon Hegel hat behauptet, dass die Pflanze ein Tier ist, das seine Innereien außerhalb seines Körpers in Gestalt

1 Stiegler 2006. 2 Lacan 1997, S. 322.

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der Wurzeln oder Blüten hat3. Die symbolische Ordnung stellt eine Art „geistiger Innereien“ des menschlichen Tieres außerhalb seines Selbst dar. Die symbolische Substanz meines Seins, die Wurzeln, aus denen Ich meine geistige Nahrung schöpfe, sind mir äußerliche, in einer dezentralisierten symbolischen Ordnung verhaftete. Slavoj Zˇizˇek bezeichnet im Anschluss an Lacan diese „symbolische Substanz“ unseres Lebens als „großen Anderen“: Es geht um den Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt, um das virtuelle Netzwerk, das sich durch geschriebene und ungeschriebene soziale Regeln, Handlungen und Klischees strukturiert, die effektiv unser soziales Miteinander regulieren und unser Reden und Handeln bestimmen. Die symbolische Ordnung ist wie eine zweite Haut von jedem sprechenden Wesen, welche Handlungen und Gespräche leitet, kontrolliert und begrenzt. Der große Andere ist – sinnbildlich gesprochen – das Meer, in dem man schwimmt, obwohl er (und es) letztendlich unzugänglich und unfassbar bleibt.4 Er kann personifiziert oder verdinglicht werden – wie Zˇizˇek schreibt: als „Gott“, der vom Jenseits über mich und über alle Individuen wacht, oder als Idee, der ich verbunden bin (Freiheit, Kommunismus, Nation) und für die ich mein Leben zu geben bereit bin. Wenn ich spreche, bin ich niemals ein bloßer „kleiner anderer“ (Individuum), der mit anderen „kleinen anderen“ interagiert: Der große Andere muss immer dabei sein.5 Wenn die Subjekte interagieren, beziehen sie sich nicht nur aufeinander, sondern immer auch auf den virtuellen großen Anderen selbst. Der große Andere ist der erste und unbewusste Adressat unserer Briefe oder Bücher, vor allem der Briefe oder Bücher, die nicht veröffentlicht oder gesandt worden sind. In seinem Seminar über den entwendeten Brief6, behauptet Lacan, dass ein Brief immer seinen Bestimmungsort erreicht, auch wenn er nicht abgeschickt wird. Man kann sogar sagen, dass der einzige Brief, der vollständig seinen Bestimmungsort erreicht, derjenige Brief ist, der nicht abgeschickt wird. Sein wahrer Adressat ist nicht ein realer Mensch, der möglicherweise den Wert des Brief3 Hegel 1991 [1830], S. 290 (§ 347–348). 4 Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace hat vor Absolventen des Kenyon College 2005 seine Abschlussrede mit einer Kurzgeschichte eröffnet: „Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen, bis der eine schließlich zum andern rübersieht und sagt: „Was zur Hölle ist Wasser?“ (Wallace 2012, S. 9). Mit dieser kleinen Erzählung möchte er betonen, dass die deutlichsten, allgegenwärtigsten, wesentlichsten Realitäten oft diejenigen sind, die man kaum erkennen und wahrnehmen kann, obwohl sie die wichtigste unbenannte Landschaft des Lebens konfigurieren. 5 Zˇizˇek 2011, S. 20. 6 Lacan 1990, S. 7–60. Das passiert in gleicher Weise mit dem Symptom in der Psychoanalyse: Der Adressat eines Symptoms ist nicht ein anderes menschliches Wesen und nicht zuerst der Analytiker, sondern der virtuelle große Andere, der das Subjekt richtig verstehen kann.

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inhalts nicht vollständig erfassen kann, sondern der große Andere selbst, auf dessen genaues Verständnis man unbedingt zählen kann.7 Das Subjekt ist für Lacan also sub-iectum/assujet – dem Signifikanten unterworfen, d. h. den bedeutungsgebenden Zeichen des (sozialen, familiären, geschichtlichen) Anderen („Du bist mein Vater“; „du bist mein Meister“, „du bist meine Frau“). Es besteht aus den Signifikanten der Anderen, die sein Leben bestimmen, markieren und prägen. Gleichzeitig ist für Lacan das Subjekt ein Überschuss in Bezug auf seine Signifikanten, insofern es diesen Festlegungen gegenüber auf besondere Weise eine subjektive Selbstbestimmung darstellt. Das heißt, dass die Subjektivierung keine reine Wirkung der Struktur ist, sondern immer eine kontingente Möglichkeit des Subjekts, das also unassimilierbar von der Struktur, die es selbst in einer gewissen Weise erzeugt, bleibt. Es bleibt immer ein subjektiver Rest, ein Überschuss, der dem Signifikanten entflieht und dem Subjekt ermöglicht, eine persönliche Abweichung oder eine neue Symbolisierung der Struktur zu generieren. Daher scheint es notwendig das Subjekt als Überschuss und Widerstand, statt als bloße passive Abhängigkeit vom großen Anderen zu betrachten. Folglich stellt das lacansche Subjekt diese duale Dimension dar, in welcher es sowohl die Wirkung des Anderen bzw. der Sprache oder des Symbolischen („l’effect de cisaille“8) ist, als auch das Unassimilierbare dieser Struktur, welche es generiert. Jedenfalls bedeutet dieser Charakter des großen Anderen, dass die symbolische Ordnung nicht eine metaphysische Substanz ist, sondern dass sie etwas ist, das durch die kontinuierliche Aktivität der Subjekte aufrechterhalten wird und das mit der kollektiven Praxis verknüpft und in den sozialen Interaktionen verwurzelt ist. Es betrifft also den geistigen Gehalt und die symbolische Textur der komplexen Geometrie/Ökologie der sozialen Umwelt, der menschlichen Bindungen, der kognitiv und affektiv verbindenden Fähigkeiten in einem kollektiven Kontext.

7 Die symbolische Ordnung bezeichnet den durchdringenden Blick, den das Subjekt unterstellt, wenn es handelt, und den das Subjekt mit seinen Handlungen beeindrucken möchte. Für die Augen des großen Anderen ritzten die alten Römer Details in die Reliefe an den Spitzen von Viadukten, die von menschlichen Augen nicht gesehen werden konnten. Für seine Augen bauten Inkas Riesenzeichen mit Steinen, die nur von oben sichtbar waren. Für seine Augen organisierte das stalinistische Regime seine öffentlichen Schauspiele. Der große Andere ist „wie ein Metermaß, mit Hilfe dessen ich mich vermessen kann“ und dessen Erwartungen ich entsprechen möchte (Zˇizˇek 2001, S. 134). 8 Lacan 2001, S. 224. Wie bei der Analyse von Michel Foucault, wo die Macht immer wieder ihre entsprechenden Widerstände produziert, so übt das Subjekt bei Lacan eine Wirkung der Struktur gegenüber aus. Die Wirkungen der Subjektivierung entstehen für beide Autoren als eine innere Falte, als eine subjektive Modifikation der Dispositive der Macht selbst.

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2.

Isabella Guanzini

Der Verlust der Legitimität

In Zeiten der Postmoderne wird die Legitimität des großen Anderen untergraben und unterminiert. Giorgio Agamben hat in seinem Buch „Benedikt XVI. und das Geheimnis des Bösen“ über die letzte Geste von Papst Benedikt XVI. reflektiert, und betrachtet die Entscheidung seines großen Rückzugs in ihrer tiefen politischen und geschichtlichen Bedeutung. Er schreibt: Warum erscheint diese Entscheidung heute als exemplarisch? Weil sie kraftvoll die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung zwischen zwei wesentlichen Prinzipien unserer ethisch-politischen Tradition lenkt, für die unsere Gesellschaftsordnungen jegliches Bewusstsein verloren zu haben scheinen: die Legitimität und die Legalität. Wenn die Krise, die unsere Gesellschaft gerade durchmacht, so tief und schwerwiegend ist, dann weil sie nicht nur die Legalität der Institutionen infrage stellt, sondern auch ihre Legitimität; nicht nur, wie so oft wiederholt wird, die Regeln und Modalitäten der Machtausübung, sondern das Prinzip selbst, das diese fundiert und legitimiert.9

Das bedeutet, dass die traditionellen Prinzipien, Autoritäten, Sicherheiten und Regeln, die die Gemeinschaft und das Individuum strukturiert haben, keine Legitimität mehr haben und dass der Versuch der Moderne, durch das positive Recht die Legitimität einer Macht zu sichern, unzureichend gewesen ist. Die Legitimation der Autoritäten und Prinzipien – der große Andere oder die symbolische Ordnung – einer Gesellschaft wird heute nicht entzogen, weil diese Autoritäten in die Illegalität gefallen sind. Im Gegenteil kann man behaupten, dass die Illegalität so verbreitet ist, weil die Autoritäten jedes Bewusstsein des Prinzips ihrer Legitimität verloren haben. Lacan hat über die Verdunstung des Vaters 1968 in einer Vorlesung in Straßburg gesprochen,10 um zu betonen, dass die symbolische Kraft der Autoritäten und Prinzipien der vormodernen und modernen Kultur aufgelöst ist. Insbesondere Europa hat schon lange die Zeit der Verdunstung, der Verdampfung, der Auflösung, des unumkehrbaren Untergangs der symbolischen Ordnung erfahren. Dies bedeutet, dass unserer Epoche eine endgültige Garantie oder Rechtfertigung der Autorität fehlt und dass die Frage nach ihrer Legitimität im zeitgemäßen Untergang der traditionellen Erzählungen ans Licht kommt. Im Ausgang von Badiou bestimmt Zˇizˇek als wesentliches Element gegenwärtiger Subjektivierungsprozesse ein diffuses Gefühl der Atonalität, welche aus der Abwesenheit von Orientierungspunkten einer binären Entscheidung und aus der Verdunstung von Herrensignifikanten entsteht. Das Grundmerkmal unserer „postmodernen“ Welt ist der Versuch, ohne die Instanz dessen auszukommen, was Lacan den Herren-Signifikanten oder „Stepppunkt“ (point 9 Agamben 2013, S. 6. 10 Lacan 2003.

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de capiton) genannt hat, das Eingreifen eines zentralen Signifikanten, der der Welt ein ordnendes Prinzip auferlegt, den Punkt der einfachen Entscheidung (,ja oder nein‘), in dem die konfuse Vielfalt gewaltsam auf eine „minimale Differenz“ reduziert wird.11

In der atonalen Welt des „demokratischen Materialismus“, wie Badiou unsere westliche Kultur bezeichnet, ist alles organisiert und garantiert, obwohl in der unendlichen, kommunikativen und virtuellen Landschaft eigentlich nichts geschieht.12 In diesem Sinn kann man annehmen, dass es vergeblich ist zu glauben, dass die Krise unserer Gesellschaft durch die – sicherlich notwendigen – Wirkungen der richterlichen Gewalt und der finanziellen Maßnahmen der Marktwirtschaft aufgehoben werden kann. Wenn die Krise einen Angriff auf die Legitimität der Institutionen oder Symbole der Gesellschaft darstellt, kann sie nicht allein durch das Recht oder die Ökonomie überwunden werden. Man könnte auch sagen, dass es vergeblich wäre, zu glauben, dass die Krise des europäischen Projekts durch die richterliche und ökonomische Gewalt eine Seele (J. Delors) angeboten bekommen könnte. Europa fehlt eine gemeinsame symbolische Legitimität, die in ihren sozialen Wirkungen einen symbolischen Raum des Denkens und des Handelns zu eröffnen imstande wäre. Agamben behauptet, dass die Entscheidung von Benedikt XVI. von allen, denen die politischen Geschicke der Menschheit am Herzen liegen, mit äußerster Aufmerksamkeit erwogen werden muss. Die Geste von Benedikt XVI. bedeutet einerseits, dass er die Schwächung der Legitimität der kirchlichen Autorität erkannt hat, und andererseits, dass, wenn die geistlich-symbolische Ordnung außer Kraft gesetzt wird, nur eine strategische Ökonomie des (Kirchen-)Apparats bleibt, die vollständig der weltlichen Macht folgt. Deshalb hat Benedikt XVI. die Entscheidung getroffen, nur die geistliche Gewalt zum Ausdruck zu bringen, und den Verzicht auf die bloße weltliche Ökonomie darzustellen. Agamben schreibt schließlich: „Die Institutionen einer Gesellschaft bleiben nur dann lebendig, wenn beide Prinzipien (die nach unserer Tradition auch die Bezeichnung Naturrecht und positives Recht, geistliche und weltliche Gewalt empfangen haben) in ihr gegenwärtig und wirksam bleiben, jedoch ohne den Anspruch, dass sie zusammenfallen.“13 Wenn eines dieser Prinzipien sich verselbständigt, dann triumphiert entweder die selbstreferentielle und individualistische Ökonomie der utilitaristischen Gewalt oder die bürokratische Struktur der (religiösen oder technischen) Apparate (die sozusagen die zwei Seiten der einen Medaille sind). Diese rechtliche Kanalisierung politischer Leidenschaften 11 12 13

Zˇizˇek 2009, S. 91. Badiou 2009, S. 420ff. Agamben 2013, S. 7.

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und Energien sowie diese radikale Ideologisierung religiöser Zugehörigkeiten unterminiert das symbolische soziale Gewebe und verbreitet eine zunehmende Sozial- und Politikverdrossenheit. Wenn die Autorität und die geteilte Bedeutung der Symbole einer bestimmten Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden, bleiben nur entweder die neutrale und bloß prozedurale Logik technisch-bürokratischer Apparate und Dispositive – Administration und Expert Management des service des biens – oder die Macht einer identitätssuchenden und kulturkämpfenden Ideologie, die jeden demokratischen und pluralistischen Diskurs verkennt. Beide Elemente, der Apparat und die Ideologie, nähren sich von einem umfassenden Netz von Diskursen, Institutionen, administrativen Regelungen, Kontrollmaßnahmen, Gesetzen, strategischem Management, Macht- und Wissensverhältnissen, welche die gesellschaftlichen Interaktionen prägen und regeln.14 Ihre Macht erkennt keine symbolische Erfahrung oder keinen individuellen Überschuss oder Widerstand, so dass jeder mögliche Subjektivierungsprozess verhindert oder schwierig gemacht wird. Diese Logik des Apparats verursacht einerseits einen allgegenwärtigen Demotivierungsprozess und eine zunehmende Resignation und Loslösung der Bürger der europäischen spätmodernen Gesellschaften von politischem und kulturellem Engagement;15 andererseits stimuliert sie psycho-soziale (marktbasierte) Anpassungsmechanismen an die post-industrielle, (neu)disziplinäre Müdigkeitsgesellschaft, die sich auf die Selbstausbeutung ihrer Leistungssubjekte gründet.16 Folglich bringt dieser Verlust an Legitimität das Schicksal der sozial-politischreligiösen Welt in Gefahr.

3.

Die paradoxe Spannung: Zynismus vs. Fundamentalismus

In „The Second Coming“ von William Butler Yeats (1919) scheint es, dass der Poet die heutige geistige und geschichtliche Lage beschreibt, die zwischen blutleeren, zynischen Bürgern und fanatischen religiösen Gläubigen aufgespalten ist: „The ceremony of innocence is drowned;/ The best lack all conviction, while the worst/ Are full of passionate intensity“. Auf der einen Seite gibt es die aufklärerische Resignation und ironische Distanzierungssignale gegenüber Utopien, Revolutionen, Glauben und leidenschaftlichen Anhänglichkeiten. Auf der anderen Seite gibt es die fundamentalistischen Gläubigen. Diese sind insofern eine Bedrohung demokratischer Kultur, als sie ihre Glaubensüberzeugungen ernst nehmen und beanspruchen, einen direkten Zugang zum großen An14 Vgl. Foucault 1978; Agamben 2008. 15 Hay 2007; Stiegler / Baquiast / Didier-Weill 2005; RanciÀre 1997, S. 94–122. 16 Vgl. Han 2014; ders. 2010.

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deren – zu Gott, zur Wahrheit der Geschichte und der Materie, bis hin zum Begehren ihrer Partnerin oder ihrer Kinder – zu haben. Religiöse/ideologische Fundamentalisten beanspruchen zu wissen, was Gott (oder die akademische Wissenschaft oder die Partei) denkt und von ihnen verlangt. Genau in dieser Forderung treffen sich religiöse Fanatiker mit den von Slavoj Zˇizˇek genannten „skeptischen Zynikern“: Beide haben die Fähigkeit zu glauben verloren, insofern sie unmittelbar wissen. Religiös-fundamentalistische und naturalistisch-szientistische Aussagen teilen den gleichen Diskurs des Positivismus, in welchem jede Vision, jede Vorstellung, jede Meinung, jeder Glaube oder Nicht-Glaube auf die gleiche Modalität eines positiven Wissens reduziert werden muss. Dieser Diskurs bringt eine „Leidenschaft für die Rechtfertigung“ zum Ausdruck, die keinen Mangel, keinen Rest oder Überschuss erträgt, und neigt mit seiner Totalisierung (oder Verdrängung) des Sinns und mit der (Bio-)Macht ihres molekularen Kontrolldispositivs dazu, den Zwischenraum der symbolischen Erfahrung zu überschwemmen. Dies bedeutet, dass die vermittelnde Instanz des großen Anderen als symbolischer Ort eines möglichen kulturellen, politischen, religiösen Austausches verdunstet oder verschwindet und paradoxerweise die Logik der Dissoziation/Trennung über die Logik der Assoziation/Vereinigung überwiegt. Das, was in der zynisch-fundamentalistischen Dimension auftaucht, ist die allgegenwärtige und unsichtbare Behörde des technisch-wirtschaftlichen Apparats, der auf seine immer neue Selbstreproduktion abzielt. Im Apparat treffen sich die unmittelbare, zweifelsfreie und identitätsstiftende Religiosität und das anonyme und ubiquitäre System der Amtsvorgänge, die beide den gleichen Verzicht sowohl auf die Singularität/Verletzlichkeit des Subjekts als auch auf den Glauben und die symbolische Dimension des Lebens teilen. Singularität und Glaube sollten aber zuerst als Erfahrung eines Mangels, einer Kontingenz, einer konstitutiven Grenze in Begriffen und Wörtern, eines Vertrauens auf den Anderen, einer Armut im Geiste (Mt 5,3) und als eine menschliche Situationsempfindlichkeit verstanden werden. „Armut im Geiste“ bedeutet, dass der Glaube keine Idealisierung, keine Hinweg-Mythisierung der problematischen Lebenszusammenhänge durch eine Art Kompensationsdenken, d. h. spannungslose Harmonie und fraglose Versöhntheit und Ganzheit, darstellt. Wie der Theologe Johann Baptist Metz schreibt, ist der Glaube als Armut im Geiste kein „Katalysator zur Selbstfindung des Menschen“: Die Armut im Geiste „ist nicht ohne die mystische Unruhe der Rückfrage, auch christlich nicht“.17 Der große Andere als Zwischenraum des Zusammenlebens hat kein ultima-

17 Metz 2006, S. 26.

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tives Wort über den Sinn (oder den Unsinn),18 sondern ein Wort der Anerkennung und ein Wort des Mangels. Dieses symbolische Wort entspricht nicht dem neurotischen Wort der letztendlichen Wahrheit (oder Nicht-Wahrheit), das den kollektiven und individuellen Lebenssinn festzusetzen und zu beschlagnahmen vermag. Es manifestiert sich nicht als ein Wort der willkürlichen Macht, sondern als ein Wort des sozialen Pakts, in welches das offene Moment des gegenseitigen Dialoges und Vertrauens, des Blicks auf den Anderen, des elementaren situationsempfindlichen Mitseins und der Nachbarschaft zum Ausdruck kommt. Deshalb kann dieses Wort zuerst nur aus Rand-Orten entspringen und artikuliert werden, insofern es der Logik des Apparats entflieht und ihre Zirkularität zerbricht. Dagegen könnte man die fundamentalistische Religion und den Apparat als zwei Formen des „Aberglaubens“ bezeichnen, insofern sie beide eine unterschiedliche positivistische Auffassung der Welt darstellen, die einerseits keinen Mangel oder keine Öffnung beinhalten und andererseits die Frage nach der Verletzlichkeit des Menschen, nach dem heutigen Sprach- und Gedächtniszerfall, nach der moralisch-politischen Situationsempfindlichkeit verloren haben.19 Sowohl in fundamentalistischen religiösen Erfahrungen als auch in bürokratischen Apparaten sind Dispositive am Werk, die als Herrschaftsinstrumente die sozialen Interaktionen und die alltäglichen Praktiken bestimmen und die unter dem Aspekt der Machtverteilung verstanden werden sollen. In der spätkapitalistischen Gesellschaft transformiert sich die symbolische Ordnung in diesen allgegenwärtigen Diskurs der Bürokratie, welcher als eine Psycho-Macht und eine trennende weltliche Gewalt wirkt, die eine autoritäre und anonyme Unterwerfung und Ausplünderung des Menschlichen produziert, auch wenn sie – oder genau weil sie – keine Alterität, kein erkennbares Drittes, kein Symbol außer sich anerkennt. Wie J.-B. Metz schreibt, leben wir heute in einer „religionsfreundlichen Atmosphäre“, die tatsächlich einer religionsförmigen Gotteskrise entspricht, und die der Name für den Traum „vom leidfreien Glück als mythische Seelenver18 Dies passiert im Fall des psychotischen Professors Schreber, den zunächst Freud und dann Lacan analysiert hat, in welchem die symbolische Untätigkeit das Leben in den Unsinn führt – dies passiert in der Melancholie – oder zulässt, dass das Leben mit dem Sinn überschwemmt wird („Aller Unsinn hebt sich auf!“), so dass das Subjekt einen Verfolgungswahn erlebt – dies ist die Paranoia. (Vgl. Lacan 1997, S. 146). Dieses Schwanken zwischen einem sinnlosen Leben und einer Überschwemmung, einer unbegrenzten Erweiterung des Sinnes entspricht dem Schwanken der Psychose. Entweder „Alles ist Zeichen“ oder „es gibt kein Zeichen“. 19 „Europa hält eine Kultur bereit, die jenseits der amerikanischen Reanimalisierung und der jedes historischen Inhalts entleeren japanischen Humanität auch nach dem Ende der Geschichte menschlich und lebendig bleibt, weil sie sich mit jedem Moment ihrer Geschichte ins Verhältnis zu setzen vermag und aus dieser Konfrontation neues Leben bezieht“ (Agamben 2013a, S. 242).

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zauberung sein soll“.20 Zynismus und Fundamentalismus entsprechen zwei Arten und Weisen der Geschlossenheit, beide haben ihre Leidempfindlichkeit, ihre Beunruhigung durch die Frage nach der Gerechtigkeit, der Inklusion und der Nachbarschaft, d. h. dem Humanismus, verloren. Diese (post-politische) Seligkeit zum Preis von kultureller Amnesie und atomistischer Trennung neigt dazu, ihre eigene private, weltlose und entgeschichtliche Harmonie gegen die anstrengende Angespanntheit der spätkapitalistischen Gesellschaft zu schützen, während durch die Ausblendung der realen Notwendigkeiten und des menschlichen Mitseins die sozio-politische Krise immer weiter fortschreitet. Das Individuum kann vielleicht seine private, beruhigende spirituelle Dimension entfalten, aber das soziale Zusammenleben fällt immer mehr in den dissoziativen Kreis der kontrollierend-bürokratischen Maschinerie.

4.

Das Über-Ich des Genießens

Der US-amerikanische Philosoph Robert B. Pippin verbindet die entscheidende Rolle der Zivilisation in modernen Gesellschaften mit dem Aufstieg des freien und autonomen Individuums: Einerseits ist die Zivilisation eine Praxis, die Anderen als gleiche, freie und autonome Subjekte zu behandeln und ihre Würde und Rechte als Individuen anzuerkennen.21 Andererseits ist das fragile Gewebe der Zivilisation die „soziale Substanz“ der autonomen und freien Individuen, insofern genau ihre Freiheit und Selbständigkeit eine Art (gegenseitiger) Abhängigkeit benötigen, um sich selbst zu halten und zu schützen. Im Moment der Zerstörung dieser sozialen Substanz, im Moment der Schwächung der Legitimität der symbolischen Orientierungspunkte, wird auch der soziale Raum, der die Freiheit und die Autonomie der Individuen ermöglicht und garantiert, zerstört. Deshalb gilt heute ein ambivalentes Ideal der „ab-soluten“ Freiheit, die nicht zuletzt mit einem allgegenwärtigen und kaum wahrnehmbaren Autoritarismus verbunden ist. Der neue Autoritarismus der „Risiko-Gesellschaft“22 unterscheidet sich von der deutlich unterdrückenden Ordnung der disziplinären Gesellschaft: Die Vorstellung von traditionellen repressiven Sozialnormen hat heute keine Gültigkeit mehr angesichts des vorherrschenden permissiven Hedonismus. In den 20 Metz 2006, S. 71. 21 Pippin 2005, S. 223–238. 22 Die Ergebnisse des postindustriellen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses erzeugen ihre eigenen Risiken, Gefahren und Unsicherheiten, die Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung sind. Die Zunahme „gefühlter Risiken“ führt jedoch zu mehr Gleichgültigkeit: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich“ (S. 48). Vgl. Beck 1986.

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spätmodernen Gesellschaften, in welchen die alten geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze schwach und außer Kraft gesetzt worden sind, hat sich aber das Über-Ich in ein obszönes Gesetz verwandelt, das das Genießen (Jouissance) befiehlt.23 Es handelt sich um das neue Sollen des Genießens, d. h. des Genießens als politisch-ideologischer Kategorie. Die Aufforderung zum Genießen – angefangen von der Sexualbefriedigung über ein Genießen professioneller Leistung oder des „In-Form-Seins“ (oder des „Sei, der du bist!“, „Sei glücklich!“) bis hin zum Genießen spiritueller Erweckung – ist das heutige allgegenwärtige Gesetz, das das alltägliche Leben mit vielen kleinen Geboten, die gerade nicht als Gebote erscheinen, reguliert und diszipliniert. Paradoxerweise scheint der spätkapitalistische Konsument auf der Suche nach einer neuen strengen Selbstdisziplin zu sein, die seine Triebökonomie regulieren könnte. Das, was als eine grenzenlose individualistische Freiheit des privaten Bürgers erscheint, versteckt in Wahrheit einen allgegenwärtigen Despotismus der neuen Pflichten der Wohlstandsgesellschaft, der jedoch keine Sicherheit und Stabilität garantiert. „Enjoy!“ erweist sich als der zeitgenössische globale Sollens-Anspruch der post-politischen und pluralistischen westlichen Gesellschaften, der das Subjekt unterdrückt und es seines Begehrens beraubt. Es ist heutzutage möglich, von der „Zerstörung des Begehrens“ und vom radikalen Anwachsen des Genießens zu sprechen.24 Darin offenbart sich ein wesentlicher Unterschied: „Das Begehren kommt vom Anderen, und das Genießen liegt auf der Seite des Dings.“25 Wenn das Begehren immer das Begehren des Anderen ist, insofern das Begehren sich in der Perspektive der symbolischen Ordnung als eine Frage nach Anerkennung konfiguriert, verlangt das Genießen bloße Objekte, die die Subjekte, wie Sloterdijk behauptet, in einer ständig besorgten und stressgeladenen Freiheit prägen und festhalten.26 Das Begehren steht Lacan zufolge immer im Horizont der Intersubjektivität und des Verhältnisses mit dem Anderen, insofern das Begehren Transzendenz, Erwartung, Verlangen nach etwas Anderem (das Gebet, das Warten, die Revolte, das Wachen auf etwas, usw.) ist. Dem Begehren gegenüber steht das Genießen, d. h. das Eine (und nicht der Andere), als Zentralität der Dimension des triebhaften Körpers als genießende selbsterogene Substanz, die den Anderen nicht benötigt. Während das Begehren sich als Sublimierung der Libido auf die Geselligkeit und auf die philia als Bund, die das Leben der polis festhält, richtet und auf den unmittelbaren und kopflosen Genuss des Dings verzichtet, stellt das Genießen den unvermittelten, mangellosen, solipsistischen und narzisstischen Konsum dar, 23 24 25 26

Vgl. Zˇizˇek 1996. Recalcati 2010. Ciaramelli 2000. Lacan 2007, S. 15. Sloterdijk 2011.

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der die sozialen Bindungen und die politische Leidenschaft und Teilnahme zerstört. Wir sind heute wie Beamte, die berufen sind, den Wohlstand zu bewahren und zu erzeugen. Diese perverse Situation charakterisiert die Konsumgesellschaft, in welcher der Imperativ zum Genießen in einer durchdringenderen, unkontrollierten und deshalb erdrückenden Weise das biblische Gebot ersetzt (Pasolini hat gesagt, dass die Untertanen Verbraucher geworden sind). Das postmoderne Subjekt, das auf der Suche seiner einsamen Selbstverwirklichung und Autonomie ist, befindet sich im Gegenteil in einer tiefen Entfremdung und anonymen Heteronomie, die es als die neue biopolitische Macht kontrolliert und beeinflusst. Es geht um die Befehle der Konsum- und Leistungsgesellschaft, die zwischen Krisenterror und Wellness oszilliert. Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt, schrieb Dostojewski in Die Brüder Karamasow; „Wenn Gott nicht existiert, dann ist alles verboten“, antwortete ihm Lacan im Seminar XI.27 In der Abwesenheit einer das Subjekt übergreifenden symbolischen Ordnung bleibt das Subjekt selbst ein Spielball seines Über-Ichs, das das Subjekt selbst mit unmöglichen Forderungen bombardiert.

5.

Baustelle Europa? Hortus und Ort der symbolischen Nachbarschaft

Wie schon betont, führt der Verlust des Symbolischen zum Triumph des Apparats, d. h. sowohl zu einer Religion, die feindselig gegenüber den sozialen Bindungen und der Inklusion des Anderen ist, als auch zum individualistischen Desinteresse, das keine Leidenschaft für das Gemeinwohl empfindet. Auf jeden Fall befindet sich das Subjekt in einer illusorischen atomistischen Freiheit, die mit einer neuen unterdrückenden Ordnung einhergeht. In Anbetracht dieser Perspektive erscheint der große Andere als eine zweideutige Instanz, insofern er sowohl die symbolische Ordnung als das fragile Gewebe der Zivilisation, der Freiheit und der gegenseitigen Anerkennung sein kann als auch in der Logik des großen Apparats oder des Totalsymbols, das keine Alterität und Infragestellungen anerkennt, begraben werden kann. Es erscheint dringlich, diejenigen Kräfte herauszufinden, die das Thema des Anderen kritisch lebendig halten und die das Symbolische zu schützen vermögen (ohne es 27 „Wenn Gott tot ist, dann ist alles verboten“ bedeutet, je mehr man sich selbst als Atheisten wahrnimmt, desto stärker wird das eigene Unbewußte von Verboten beherrscht, die das Genießen sabotieren“ (Zˇizˇek 2011, S. 121). „So wäre die einzige zutreffende Formel für den Atheismus nicht: Gott ist tot – indem er den Ursprung auf der Funktion des Vaters auf seine Tötung gründet, schützt Freud den Vater – die einzige zutreffende Formel für den Atheismus wäre: das Gott unbewusst ist“ (Lacan 1987, S. 65).

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fundamentalistisch zu betrachten), gerade weil die europäischen Subjekte sich in seiner Verdunstung und Perversion verloren haben. Die symbolische Ordnung ist keine Ergänzung als ästhetisches Komplement oder geistreicher Mehrwert der europäischen Kultur, sondern vielmehr ihr lebendiges Gerüst, das immer in der Gefahr einer ideologischen Verhärtung steht. Die konstruktive Funktion des Symbolischen manifestiert sich kritisch jenseits jener apriori-Legitimation in den Orten der Alterität, wo diese Alterität als Gabe, Gastlichkeit, Nachbarschaft, Ort eines nicht kommerziellen Austausches und einer nicht-utilitaristischen Anerkennung verstanden werden soll. Der Botaniker und Gärtner Gilles Cl¦ment spricht von einer „dritten Landschaft“ als Figur des Rests und des unbeachteten Terrains – Straßenränder, Böschungen, Industriebrachen, unentschiedene funktionslose Orte, vom Apparat vergessene Schlupfwinkeln, d. h. kleine, verbreitete und fast unsichtbare Räume, für die kein gemeinsamer Name zu finden ist.28 Diese dritte Landschaft stellt einen hortus migrans als wertvolle Ressource an Dynamik und Energie dar, der ein Symbol für die Zwischenräume der mitmenschlichen, nicht-kalkulierbaren und nicht utilitaristischen Erfahrungen sein könnte. Die dritte Landschaft liegt in der Randzone zwischen dem Territorium des Schattens und des Lichts und besteht aus denjenigen residualen und fragilen Elementen, die den von Menschen organisierten Räumen entfliehen, d. h. sie liegt in den Rand-Orten des menschlichen „Gestells“ und der technischen Planung. „Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen den Formen dieser Landschaftsfragmente. Nur ein Punkt ist ihnen gemeinsam: Sie bilden ein Territorium jenes Refugiums der Artenvielfalt, die sonst überall verjagt wird.“29 Diese Fragmente haben keine unmittelbare bestimmte Funktion, aber in der Gesamtschau sind sie entscheidend für die biologische Vielfalt und Zukunft der Lebenswelt. In diesen hortis migrantibus kommt besonders das gesellschaftlich Verlassene zum Vorschein, das jenseits jedes bürokratischen und abgeschlossenen Verfahrensdiskurses anerkannt und behandelt werden kann. Diese Rand-Orte sollten in Europa gesucht und beschützt werden, insofern sie der Ort für eine demokratische Kultur des Teilens sein könnten. Wir sollen diejenigen symbolischen Orte in Europa schützen, die einen Sinn im symbolischen Zwischenraum der menschlichen Bindungen suchen. Es handelt sich um das europäische Kaleidoskop von Kulturen, Sprachen, Religionen, Staatsangehörigkeiten, in welches eine neue Offenheit und eine besondere Sorge für die Unverwechselbarkeit und Verletzlichkeit des Menschlichen eingebracht werden müsste, gerade gegen die Abgeschlossenheit der bürokratischen Apparate, der narzisstischen Identitätsmarkierungen und der undurchlässigen Zugehörig28 Cl¦ment 2007. 29 Ebd., S. 11.

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keiten. Die symbolische europäische Textur hat sich als eine besondere geschichtliche, geistige und wissenschaftliche Konstellation, als eine bewegliche Gestalt entwickelt, die sich als ein offenes Mosaik von verschiedenen Herkünften und Schicksalen manifestiert. Erst aus der Perspektive seiner Rand-Orte können die lebendigen und auch widersprüchlichen Dissonanzen der europäischen Erzählung durch die ständige Auseinandersetzung mit seiner Geschichte30 und die demokratische Anerkennung der Verschiedenheit eine Versöhnung erfahren. Erst an den Rändern erscheinen diejenigen, die auf jeden Fall im bürokratischen Diskurs keinen Platz haben oder fehl am Platz sind und die gleichzeitig eine geteilte elementare Wahrheit des Menschlichen mitbringen können. Wie der Apostel Paulus schreibt: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“ (Gal 3, 28). Es geht um eine allgemeine Menschheit, die nur an den Rändern sichtbar wird. Von daher könnte sich eine Wiedergeburt der menschlichen Fähigkeit manifestieren, am Rand jeder besonderen kulturellen Positionierung gemeinsam zu fragen und zu glauben, was eigentlich zukünftiges Europa sein könnte. Und diese Orte können unter anderem diejenigen religiösen Gemeinschaften sein, die sich als deutlich antifundamentalistisch aussprechen und von Inklusion und Gastlichkeit Zeugnis ablegen. Es geht um diejenigen religiösen Gemeinschaften, die nicht fest stehen, sondern die sich in einem pluralistischen und säkularen europäischen Kontext in ständigen Übersetzungsprozessen befinden, in welchen die Übersetzung selbst zur eigentlichen Muttersprache wird. Es geht um die kleinen Gemeinschaften, die in Europa lebendig sind, insofern sie sich selbst fremd fühlen, d. h. die an den Rändern leben und von den Rändern reden. Nur von seinen Rändern her kann das Leben uns mit unserer Sterblichkeit und Verletzlichkeit konfrontieren, um jede abgeschlossene oder gewalttätige Totalisierung des Sinns – des Wissens wie des Glaubens – zu verhindern. Diese RandOrte können auch diejenigen ästhetischen Gemeinschaften sein, die nicht die bloße Geste der nihilistischen Dekonstruktion und der reinen Provokation annehmen, d. h. nicht nur die Wirkungen des aktuellen europäischen Zerfalls darstellen, sondern vielmehr neue symbolische Formen jenseits einer romantischen Idealisierung oder kommerziellen Ideologisierung dienen. Man kann auch an diejenigen geistvollen Gemeinschaften denken, die eine neue Politik der Freundschaft, des Mit-seins und der symbolischen Versöhnung der Ränder des Menschlichen zu entwickeln vermögen. Es geht um symbolische Orte, die sich nicht als letztes Wort der Wahrheit (oder der Nicht-Wahrheit) betrachten, sondern vielmehr einen lebendigen Sinn im symbolischen Zwischenraum der menschlichen Bindungen suchen.

30 Agamben 2013a, S. 241.

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Die Zukunft des Symbolischen

Ders.: Vivere alla fine dei tempi. Milano 2001. Ders.: Auf verlorenem Posten. Frankfurt am Main 2009. Ders.: Lacan. Eine Einführung. Frankfurt am Main 2011.

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II. Vergangene und künftige Narrative zum Projekt Europa

Gerhard Langer

Jiddisch als paradigmatische europäische Sprache und Kultur

Jiddisch war über Jahrhunderte die vielleicht einzig wirklich europäische Sprache, die weltweit gesprochen und weltweit rezipiert und verändert wurde. Anders als etwa das Englische war es nicht nur weltweite Verkehrssprache, sondern im wahrsten Sinne des Wortes „mameloschn“, Muttersprache für Millionen jüdische Menschen unterschiedlicher religiöser, sozialer oder kultureller Prägung. Und anders als das Esperanto, das im Übrigen von einem jiddisch-sprachigen Augenarzt aus Bialystok namens Ludwik Lejzer Zamenhof entwickelt wurde, war das Jiddische tatsächlich eine Weltsprache. Von Sibirien bis an die Lower East Side war Jiddisch ein einigendes Band von Menschen aus vielen Ländern, ohne dass es sie gleichmachte, sondern im Gegenteil gerade in den vielen Färbungen, Nuancen, Wortverwendungen, Aussprachen etc. das Unterschiedliche im Gemeinsamen bewahrte. Die jiddische Sprache sog auf, was sie fand. Am Anfang eine Mischung aus der (mittelhoch)deutschen und der hebräischen Sprache, war der Weg in den Osten verbunden mit einer Welle an Adaption, Akkulturation und Integration.1 Das Jiddische wurde eigentlich in seiner zentralen Ausprägung, dem Ostjiddischen, erst zur Sprache des Judentums und mehr zur kulturellen Äußerung des Judentums, durch seine Bereitschaft, Grammatik und viele Worte aus dem Slawischen zu integrieren. Alleine die Sprachforschung kann daher ein Vorbild bieten, wie Jiddisch als die Sprache der Diaspora verstanden werden kann, als Ausdruck einer Diasporakultur, die das Eigene dadurch erst entwickelt, dass es das Fremde integriert. Dies gilt natürlich nicht nur für die Sprache an sich, sondern für die gesamte jiddisch-sprachige Kultur. Die erste urkundlich greifbare Sammlung in Jiddisch ist ein in der Geniza von Kairo gefundenes Dokument von 1382, in dem u. a. die Geschichte Abrahams

1 Einen kleinen Überblick über die Entwicklung des Jiddischen bietet Andrea Fiedermutz: Fiedermutz o. J.

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erzählt wird, darunter auch die berühmte Kindheitsepisode um die Zerstörung der Götzen des Vaters. Er (Abraham) kam zu einem Wasser breit und lang. Wahrlich grübelte er : hier erhebt sich eine große Quelle. Er warf den Sack (mit den Götzen seines Vaters) zur Erde, begann sehr zu verzagen. Er sprach: Hört ihr es, ihr Götter. Ich habe euch hergetragen. Nun tragt mich hinüber, dann geschieht euch immer Ehr. Tut ihr es nicht, verbreite ich eure Schande immer mehr. Trug’ ich uch hin ub[e]r z[a] tet’ ich alz’ ein Trüg ich euch hinüber, so handelte ich wie geq joch hot d[a]s w[a]sser hin g[e]wurt ein Geck. Fürwahr, das Wasser hat bruk’ un’ steq n[u]n tr[a]g[e]t mich hin ub weggeführt Brücke und Steg. Nun tragt mich [e]r d[e]s mugtir w[o]l g[e]nisen antut ihrs hinüber, davon könnt ihr wohl genießen. nicht ich lus uch zelw[e]r wlis[e]n2 Tut ihr es nicht, ich lass euch selber fließen.

Er k[a]m tzu eim’ wasser breit un’ [la]ng’ truw[e]n grubt er hi hibt zich ein gros gspring’ Er warf den sak zu der erdn er b[e]gund’ g [a]r zer’ wur tzz[a]gen er spr[ach] hortirs ir got’ ich h[a]n uch h[e]r getr[a]gn n[u]n tr [a]g[e]t mich hin ub[e]r d[e]s h[a]btir um [e]r er’ antw[e]t irs nicht aww[e]r l[a]st[e]r breit ich umer mer’

Die Leichtigkeit, mit der hier erzählt wird, der Strophenbau, der immer wieder durchschimmernde Humor kennzeichnen nicht nur dieses Werk, sondern viele folgende, die sich intensiv dem biblischen Material widmen und es ausdeuten und weiterführen. Dabei verwenden die Autoren viele Vorlagen aus der hebräisch-aramäischen Traditionsliteratur, hauptsächlich aus dem Midrasch oder aber auch aus dem Talmud. In die Sprache des Volkes gegossen, wird es in einer Strophik erzählt, die aus der nichtjüdischen Welt stammt. Es ist nicht zuletzt Forschern wie Dov Sadan, Wulf-Otto Dreeßen, Martin Przybilski, Simon Neuberg, Jutta Baum-Sheridan, Sara Zfatman, Jacob Elbaum und Chava Turniansky zu verdanken, dass die jiddische Literatur zur Bibel und die Beziehung zur Traditionsliteratur zumindest ansatzweise erforscht wurden. Historikerinnen und Historiker, Germanistinnen und Germanisten haben zudem das weite Feld der Beziehungen zwischen Juden und Christen analysiert und Meinungen revidiert, die von völliger Trennung und Abschottung ausgingen. Der Dukus Horant um 1300 ist ein gutes Beispiel für die Interaktion zwischen deutscher Epik, hier am Beispiel der Kudrunerzählung, und jiddischer Adaption.3 Andere Texte u. a. aus dem Artuskreis werden aufgenommen; besonders beliebt war etwa das Bovobuch, eine Bearbeitung eines Romans namens „Buovo d’Antona“, der wiederum auf der Romanze „Sir Bevis of Hamton“ beruht, aber es gibt auch die Hinwendung zu Themen der Bibel und der jüdischen Traditionsliteratur. Wulf-Otto Dreeßen spricht in diesem Zusammenhang von Midrasch-Epik. Er versteht darunter eine Epik, die sich bewusst an die Bibel anlehnt, diese aber im Blick auf die jüdische Geschichte und Tradition inter2 Fuks 1957, S. 251–263. 3 Vgl. z. B. Strauch 1990; Knapp 2004.

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pretiert. Für die jiddische Midrasch-Epik gilt, dass sie die hebräisch-aramäische Literatur weiterentwickelt und dabei Anleihen in der mittelalterlichen Heldenund Spielmannsepik nimmt.4 Dazu gehört auch die Strophenform, die an den „Hildebrandston“ oder die „Nibelungenstrophe“ erinnert. Wichtige Texte sind das Da/onielbuch, das Schmuelbuch und das Melochimbuch. Die Autoren von Schmuel- und Melochimbuch verbanden Geschichten, Kommentare, Midraschtraditionen auf vielfältige Weise, um daraus eine neue Einheit zu schaffen. Biblische Themen finden sich ab dem 16. Jahrhundert vermehrt in der jiddischen Prosaliteratur. Von Leib bar Moses Mehr stammt eine Ester-Paraphrase (Die lange Megile), von Isaak Sulkes eine Hoheliedversion (beide 1575). Zu erwähnen sind die biblischen Ester-Dramen in Jiddisch, die zu Purim aufgeführt wurden und dabei immer wieder den Stoff aktualisierten. Andere wichtige Themen, die mit viel Midraschmaterial erzählt werden, waren die Josefsgeschichte, der Exodus aus Ägypten und nicht zuletzt die Aqeda (Opferung Isaaks), die mit dem Midrasch Wa-joscha5 in Verbindung steht. Nach dem Melochimbuch, das schon das heldenhafte Modell des Schmuelbuches hinter sich lässt, kommt es um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zu einer Neugestaltung jiddischer Epik. Sinnbild dafür ist die wohl bedeutendste Sammlung, Tzeejna ureejna (in der maßgeblichen Transkription des YIVO Institute for Jewish Research Tsene-rene), eine 1616 erschienene Paraphrasierung der Tora, der Festlesungen und der Wochenlesungen zu den Propheten, von Jakob ben Isaak Aschkenasi aus Janûw in der Nähe von Lublin. Das Werk ist nach Hld 3,11 benannt, wo es heißt: tzeejna ureejna benot tzijon („kommt heraus und seht, ihr Töchter Zions“) und schöpft seine Erzählungen aus verschiedenen Midraschim und Kommentaren wie den Toledot Jitzchaq. Eine ausführliche Analyse dazu steht freilich noch aus. Erwähnt werden muss hier auf jeden Fall auch die 1602 in Basel zum ersten Mal gedruckte Sammlung von 257 Erzählungen, das Ma‘ase-Buch (Mayse-bukh). Dieses Werk enthält viel Material, das sich auch im Midrasch findet und ist auch in einer deutschen Neuausgabe erhältlich.6 Mayses wurden vor allem im norditalienischen Raum gesammelt. Die ersten (1504) – 16 Mayses aus EkhR (Kla4 Vgl. Dorninger o. J.; Dreeßen 2009. 5 Wa-joscha ist ein an Ex 14,30–31 und Ex 15,1–18 anknüpfender Midrasch, der intensive Überarbeitungen bekommt, die nun auch einen langen Kommentar zur Opferung Isaaks (Gen 22) sowie zu Gen 14,15 und einen erweiterten Kommentar zu Ex 15,18 enthalten. „Klassische“ Verse für Vers-Erklärungen treffen auf lange erzählerische Passagen, so eine intensive Auseinandersetzung zwischen Gott und Uzza, dem Schutzengel der Ägypter, in dem die Vorgeschichte und wichtige Passagen des Exodus und des Lebens Moses erläutert werden. Eine in der Überarbeitung stark ausgebaute messianisch-apokalyptische Einheit schließt den Midrasch ab. 6 Vgl. Raspe 2006.

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gelieder Rabba) – folgten dem Gebetbuch zum 9. Av. Erwähnt werden sollen z. B. die große Sammlung des Mosche Weißwasser aus Prag von 1590–1595 und die von Schmuel Bak von 1596.7 Sie können als Vorläufer des berühmten Ma‘aseBuchs gesehen werden. Auch in der neueren jiddischen Literatur hat es mannigfaltige Rückgriffe auf die Midrasch-Epik gegeben. Allerdings haben wir es hierbei nicht mit ungebrochener Kontinuität der Literaturgeschichte zu tun. Vielmehr war es die jiddistische Forschung der 1920er und 30er Jahre, von der moderne Autoren entsprechende Anregungen empfingen. Stellvertretend sei hier Izik Manger (1901–1969) genannt, der vor allem in seinen Chumesch-lidern, seinen Megile-lidern und in Schmuel-Liedern8 immer wieder die Strophik und Sprachformeln aus der alten Midraschepik verwendete, in dem erkennbaren Bestreben, durch den Verweis auf die Tradition die Dignität der modernen jiddischen Literatur zu steigern.9

Armin Eidherr10 untersuchte dazu beispielhaft die Rezeption der Esau- und Elijafigur in der jiddischen Literatur der Moderne. Manger hat in seinen „Chumesch-Liedern“, die 1935 erstmals erschienen sind, biblische Geschehnisse ins ostjüdische Schtetl verlegt und aus Gestalten des Pentateuchs Ostjuden gemacht. Lamed Schapiro (1878–1948) sagte zu den „Chumesch-Liedern“ Mangers folgendes: Das ist ein wunderbares Buch. Vergesst für eine Weile, dass es 1935 ist: Hitler, Mussolini, Japan – die hässliche Maske des Faschismus (…). Die ganze jüdische Vergangenheit von den allerfernsten Zeiten bis zum Noch-gar-nicht-lang-her, das fast jetzt ist, wurde in das kleine Büchlein gequetscht, auf lausbübische (schtiferische) Art noch einmal durchgemischt (…). Ich glaube, dass nur bei Juden und nur in Jiddisch so eine Art von Werk geschaffen werden konnte. Sogar die Übersetzung ins Hebräische wird unmöglich sein – von anderen Sprachen ganz zu schweigen. Warum in Jiddisch ja und in Hebräisch nicht? Weil auf dem Kopf von Jiddisch nicht die schwere, harte und spitze Krone der fernen Vergangenheit sitzt, die so fern ist, dass man sagen kann: Sie hat niemals existiert. Jiddisch ist frech (—seßdik), spitzbübisch (schtiferisch), flegelhaft (grobjungisch), wenn ihr wollt – proletarisch – wie ich es will.11

Der jiddischen Kultur gelang es, auf der einen Seite die vielfältige jüdische Tradition in ihren großartigen Dokumenten zu transportieren und erstmalig einer breiten Öffentlichkeit – (endlich) inklusive der weiblichen Hälfte – zu7 8 9 10

Vgl. Turniansky / Timm 2003, S. 126–128. Fünfbuch-, Esther-, Samuel-Gedichte 1935. Dreeßen 2009, S. 9. Eidherr 2012. An dieser Stelle sei Armin Eidherr für zahlreiche Hinweise und über Jahre dauernde rege Unterstützung des Bemühens um Einrichtung einer Jiddistik in Wien herzlich gedankt. 11 Shapiro 1949, S. 355–356 (Übersetzung Armin Eidherr).

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gänglich zu machen. Denn die großen Werke in Jiddisch waren nicht zuletzt als Möglichkeit der Volksbildung, der Frauenbildung gedacht. Die Tradition wurde, wie man sieht, nicht einfach übersetzt, sondern neu erzählt, aktualisiert, weitergearbeitet. Daneben hat auf der anderen Seite das Jiddische, wie vielleicht keine andere Kultur, nichtjüdische Literatur und Wissen integriert. Die jiddische Kultur überschlug sich geradezu im Übersetzen all jener Werke, die für die Weltliteratur von Bedeutung waren und noch viel mehr. Vom finnischen Nationalepos Kalevala,12 über Goethe,13 bis hin zu Max und Moritz (in gleich drei Varianten)14 findet man in der jiddischen Welt tausende Übersetzungen. Doch damit natürlich nicht genug. Die jiddische Kultur adaptierte die nichtjüdischen Werke, durchdachte sie neu und entwickelte aus ihnen wichtige weiterführende Gedanken, man denke etwa an den „Mephisto“ von Uri Zvi Grinberg.15 Gerade im österreichisch-jiddischen Zusammenhang war es das als Kulturauftrag verstandene, den Kulturaustausch betreffende Bemühen, einerseits als eine Art Schaltstelle für verschiedene außerösterreichische jiddische Zentren zu wirken, andererseits literarische Werke gegenwärtiger und einstiger koterritorialer Kulturen durch Übersetzungen (aus dem Polnischen, Ukrainischen und Deutschen) für jenes andere Publikum zugänglich zu machen. Besonders hervorzuheben ist der Einsatz für die deutschsprachige Literatur. Die jiddischen Dichter österreichisch-galizischen Ursprungs beherrschten (im Gegensatz zu den jiddischen Schriftstellern der anderen Herkunftsgebiete) zumeist sehr gut die deutsche Sprache und rezipierten deutschsprachige Literatur auf vielfältige Weise – unter anderem indem sie sie übersetzten. Hier nur drei Beispiele von solchen Übersetzungen ins Jiddische durch österreichisch-jiddische Autoren unter zahllosen anderen: David Königsberg, der bedeutende jiddische Sonettdichter, übersetzte Goethe;16 Isaac Schreyer die Märchen der Brüder Grimm;17 Melech Rawitsch übersetzte Kafka.18 Was genommen wurde, wurde auch gegeben. Jiddische Sprache und Kultur beeindruckten und beeinflussten Europa intensiv. Der Einfluss der Literatur, Kunst, Presse, der Sprache, der Alltagskultur, der Denkungsart ist noch lange nicht erforscht. Sprachlich ist das Jiddische noch immer spürbar, etwa in Beisl, 12 Kalevala 1954. 13 Z. B. Goethe 1922. 14 Notl un motl. zeks shtifer-mayselekh fray baarbet in yidish durkh yoysef tunkl, siehe Busch 1928; Maks un morits, siehe Busch 1921); Shmul un Shmerke. A Mayse mit Vayse-Khevrenikes in Zibn Shpitslekh, siehe Busch 2000. 15 Grinberg 2007. 16 Gete, Y.V. [Goethe, Johann Wolfgang]: Torkvato taso. drame in 5 aktn, siehe Goethe 1923. 17 Brider Grim: Oysgeklibene Mayselekh, siehe Grimm 1922. 18 Z. B. Der protses (Jidd. Meylekh Ravitsh), siehe Kafka 1966.

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meschugge, Macke, Masl, Reibach und (dem Gegenteil) Pleite, Haberer, Chuzpe, Tachles usw. Bedeutungsänderungen gegenüber dem Jiddischen sind in vielen Sprachen nicht ungewöhnlich, auch kommt es zu Adaptionen über mehrere Sprachen hindurch. So sagt man etwa im Slowakischen „zlom väz“,19 was so viel wie „brich den Hals“ bedeutet. Dies kommt über das Deutsche „Hals- und Beinbruch“ ins Slowakische. Hals- und Beinbruch kommt wiederum vom Jiddischen „hatsloche un broche“, im Hebräischen hatzlacha u-bracha und bedeutet „Erfolg/Glück und Segen“. Lange Zeit herrschte gegenüber dem Jiddischen das (Vor-)Urteil, keine richtige Sprache, sondern Jargon zu sein. Zudem würde vor allem nach Ansicht des klassischen Zionismus das Jiddische die Kultur der Diaspora, des Exils, der Unterdrückung symbolisieren, demgegenüber das Hebräische die Sprache des selbstbewussten neuen jüdischen Bewusstseins darstellen. Jiddisch war „weiblich“ konnotiert, das Hebräische „männlich“. Dieses Urteil ist mit seinen Prämissen in jeder Hinsicht zu hinterfragen. Das Jiddische stellt zweifellos eine eigenständige Sprache dar. Seine Funktion umfasste die gesamte Alltagskultur. Es war im 19. Jahrhundert die Muttersprache etwa der Mehrheit der galizischen Juden, entwickelte sich in Galizien seit den 1880er Jahren langsam trotz ihrer Bekämpfung seitens der galizischen Aufklärer zu einer Kultursprache und erlebte hier mit der Entstehung des Jiddischismus als einer kulturell-nationalen Bewegung zu Ende des Jahrhunderts ihre Blütezeit, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fortsetzte, auch als eines der politischen Programme, das auf der Suche nach einer modernen, nationalen Identität basierte. Das Jiddische wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Hinsicht auf die fortschreitenden Integrations-, Akkulturationsund Assimilationsprozesse von den anderen Sprachen (Staats-, Bildungs-, Umgangssprachen) zum Teil schon verdrängt. Das Erlernen des Jiddischen als Sprache der Ahnen und zugleich als die Sprache einer neuen kulturell-nationalen Massenbewegung verlief parallel zu zionistischen Sprachprojekten mit der hebräischen Sprache. Jiddisch zu wählen, Jiddisch zu sprechen, zu denken, zu schreiben bedeutete demnach hier einen bewussten Entschluss, die jiddische Sprache als Mittel zu wählen, und war u. a. mit der positiven Neu-Bewertung und Be-Achtung der Kultur der Früheren und Neu- oder Wiederfindung der jüdischen Identität verbunden. Darüber hinaus wies das Jiddische besonders im 20. Jahrhundert als Sprache der modernen säkularen Juden eine große Akkulturationsfähigkeit auf und war in dieser Hinsicht als eine Grundlage für diverse bi- oder polyvalente sprachliche Identitätskonstruktionen geeignet. Die jiddische Sprache wurde eine Art ideologisches Residuum, das in den Zeiten der 19 Beispiel aus der Dissertation von Zajacov‚ 2014.

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Nationalisierung und des Antisemitismus, die in Europa der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts herrschten, eine symbolische und ideologische Identifikationsebene schuf. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Jiddischen als Sprache und Kultur, die einhergeht mit der Förderung aktueller jiddischer Kultur, muss gerade dieser Aspekt des Jiddischen als identitätsstiftende selbst-bewusste Anknüpfung an das Frühere und gleichzeitig an das aktualisierend-akkulturierend Erneuernde interessieren. Auch die gelungene und viel erforschte Wiederbelebung des Hebräischen stellte eine Anknüpfung an eine biblische Be-Gründung unter Berücksichtigung eines in der religiösen und rechtlichen Welt des Judentums tief verankerten Kontinuums dar. Das Hebräische imaginierte sich die Welt der selbständigen Israeliten in eigenem Land, während das Jiddische wiederum die Kulturleistung der Integration in verschiedene Kulturen widerspiegelt und dabei aber nicht stehenbleibt, sondern, indem es sowohl die hebräische wie deutsche und slawische (etc.) Sprachen integriert, umfassend wirkt, traditionell und erneuernd, erinnernd und revolutionär gleichzeitig auftrat und wieder auftritt. Die Rückbesinnung auf die Sprache der Tradition geschah etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur unter dem Bedürfnis nach einem gefestigten Bezugssystem in einer fremden Umgebung, sondern ist nicht zuletzt als ein Felsen in der sich modernisierenden und säkularisierenden Umgebung zu verstehen und nur scheinbar paradoxerweise als Ausdruck der Partizipation an einem modernen nationalen Kulturmodell. Die Wahl der jiddischen Literatur war z. B. für viele SchriftstellerInnen in dieser Hinsicht auch zum Teil eine politische Entscheidung und fungierte als Beitritt zu einem bestimmten modernen und nationalen Programm innerhalb des Judentums. Das Jiddische war keineswegs nur eine konservative Schtetlsprache, die heute romantisiert wird, sondern neben dem Hebräischen, das von den Aufklärern und später auch den Zionisten bevorzugt wurde, eine neue Sprache der modernen jüdischen Nation einerseits und der sozial-nationalen Bevölkerungsgruppe anderseits, die das Jiddische gerade als Sprache der Gettoisierung ablehnte und sie neu definierte. So wurde es u. a. auch zur Sprache der neuen Arbeiterbewegung (Bundisten etc.). In manchen Intellektuellenkreisen, die sich nicht politisch gerierten, wurde das Jiddische zur Möglichkeit des Ausdruckes einer selbstbewussten jüdischen Poetik, die auf die nichtjüdische Welt ausstrahlen sollte. Nach der Schoah war und ist die Entscheidung für das Jiddische auch ein bewusstes Zeichen gegen die Vernichtung, Zeichen der Lebendigkeit einer Diasporakultur, die es zu fördern und entwickeln gilt. In einem alten jüdischen Witz wird davon erzählt, dass eine Mutter ihr kleines Kind in Israel beharrlich Jiddisch lehrt. Angesprochen darauf, warum sie dies tue, antwortet sie: Damit es nicht vergisst, dass es ein Jude ist! Das Jiddische fungiert hier als zentrale Mitte jüdischer Identität. In der Er-

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kenntnis, dass diese sich nicht losgelöst von der Welt, in der Juden lebten, entwickelte, macht dies heute umso mehr Sinn, da es reflektiert, welche Mechanismen jüdische Identität erst zustande brachten, Mechanismen des Austausches, der Erneuerung im Dialog und in der Abgrenzung, in der Rezeption und Weiterentwicklung. Man kann nicht so tun, als könne man bei einem biblischen Idealzustand anknüpfen – den es im Übrigen nie gegeben hat –, sondern reflektiert jüdische Identität als Folge einer langen Entwicklung, die nie im luftleeren Raum stattfand. Dies ist die große Leistung des Jiddischen, die in Österreich erst gewürdigt werden muss, etwa durch die Einrichtung einer interdisziplinären Professur für jiddische Sprache und Kultur. In jedem Fall ist ein entscheidender Beitrag zur Erforschung und Förderung der jüdischen Diaspora zu leisten, die als Lebensraum für Jüdinnen und Juden durch die Staatsgründung Israels und der massiven „Bewerbung“ des Landes durch die immer wieder spürbaren antijüdischen und antisemitischen Strömungen vor allem in Europa zu einer problematischen Heimat geworden ist. Lange Zeit galt das Jiddische als eine aussterbende Sprache und Kultur, doch gerade die letzten Jahre zeigen einen ungeheuren Boom an Interesse an jiddischer Kultur, und die Sprache wird nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen wiederentdeckt, sondern in einzigartiger Weise nach vielen Jahrzehnten wieder lebendig gesprochen. Das Jiddische hat den Nimbus des „Vergangenen“ längst abgestreift und kommt heute in einer ungeahnt lebendigen kulturvermittelnden, kreativen und zukunftsorientierten Form in eine Öffentlichkeit. Dazu tragen nicht zuletzt auch Kulturschaffende, Schriftstellerinnen und Schriftsteller jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft bei.20 Dennoch: Die Aufarbeitung von Jahrhunderten jiddischer Kultur, Literatur, Sprache ist gerade erst in den Anfängen. Das Material, in zahlreichen Archiven lagernd, bei Menschen in der lebendigen Sprache gegenwärtig, in tausenden unbearbeiteten oder wenig bekannten Schätzen lagernd, gilt es zu heben, zu präsentieren, daraus zu lernen und weiterzugeben. Allenthalben wird das wiedererstarkende jiddische Leben betont und registriert, an verschiedenen Standorten entstehen neue jiddische Zentren und auch wissenschaftliche Einrichtungen. Jiddische Sprache und Kultur soll jenseits des 20 Ich erinnere an die Romane von Dara Horn, die das Jiddische als Weg zur Geschichte beschreibt. Peter Manseaus „Songs for the Butcher’s Daughter“ („Bibliothek der unerfüllten Träume“, 2009) ist ein wunderbarer, von der Kritik hochgelobter Roman um einen selbsternannten „letzten“ jiddischen Dichter, der jüdische Identitäten über mehrere Generationen umfasst und zum Leben erweckt; Thomas Meyers humorvoller, mit jiddischen Worten gespickter „Entwicklungsroman“ „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ (2012) hat sich in wenigen Monaten zu einem Bestseller entwickelt und Michael Chabons „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ (Original: „The Yiddish Policemen’s Union“, 2007) ist zweifellos einer der kultigsten Kriminalromane jüngerer Zeit.

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elfenbeinernen Turmes nicht nur erforscht und archiviert werden, sondern man muss ihre lebendige Kraft studieren, vermitteln und vor allem dazu beitragen, dass dieses Erbe fortgesetzt wird. Es geht um einen wichtigen Beitrag zu einer geistigen Erneuerung der jiddischen und der europäischen Kultur, Gesellschaft, Wissenschaft und dem Lernen aus der jiddischen Kultur für die unterschiedlichsten Disziplinen. Die Hebung der unzähligen Schätze der jiddischen Welt und ihre ausführliche Analyse, Publikation, Übersetzung und Bearbeitung stellen die grundlagenwissenschaftliche Herausforderung dar. Aber die Förderung jiddischer Kultur, des aufstrebenden jiddischen Neuentdeckens, das sich weltweit finden lässt, an vorderster Front mitzugestalten, stellt den eigentlichen Reiz dar. Man kann zentral-/osteuropäische Geschichte kaum verstehen, ohne sich mit jiddischer Kulturgeschichte zu beschäftigen. Insbesondere im mittel- und ostslawischen Raum findet sich noch unerforschtes jiddisches Kultursubstrat, das für das Tschechische, Polnische, Russische und Ukrainische von großer Bedeutung ist. Selbstverständlich ist auch die Amerikanistik von der Bedeutung des Jiddischen betroffen, da in Nordamerika das Jiddische wieder stärker gepflegt und kulturell und wissenschaftlich intensiv behandelt wird. Mit seinen Ursprüngen im Mittelhochdeutschen ist das Jiddische von eminenter Wichtigkeit für die Germanistik. Doch auch in der Gegenwart entsteht (wieder) eine internationale jiddische Literatur. Jiddische Lebenswirklichkeit ist als wesentlicher Teil jüdischer Geschichte und Kultur aus der Judaistik nicht wegzudenken. Über den Horizont der Judaistik, Germanistik, osteuropäischen Geschichte und Slawistik hinaus ist die Jiddistik u. a. auch für die Theaterwissenschaft, die Politologie, die Publizistik, die Musikwissenschaft, die Soziologie, die Religionswissenschaft, die Literaturwissenschaft und die Ethnologie von großem Interesse. Jiddisch kann vermitteln, wie eine Kultur erfolgreich sein kann, die beständig bereit ist sich zu integrieren, Anpassungsfähigkeit zeigt und zahlreiche lokale Differenzierungen bei gleichzeitiger Internationalität aufweist. Welche Rahmenbedingungen braucht es auch dafür, welche gesellschaftlichen und politischen Prozesse helfen und hindern, welche Dynamiken entstehen durch Förderung oder Bedrohung und Einschränkung? Die weibliche jiddische Stimme muss zu Wort kommen, die großartigen Werke von hierzulande beinahe unbekannten Frauen wie Fradl Shtok, Malke Li, Blume Lempel, Dwojre Fogel. Es gilt zu zeigen, wie facettenreich die jiddische Presse die Welt kommentierte, wie umfassend jiddische Medien (Film, Theater etc.) zentrale Themen aufnahmen und bearbeiteten, die Sprache in ihren Feinheiten zu ergründen und dabei nicht zuletzt zu erforschen, wie sehr sie auf unsere Alltagssprache Einfluss nahm und nimmt. Jiddisch kann als Paradigma einer Kultur gelten, die ihre Weiterentwicklung

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durch stetige Adaption des Neuen, des Anderen, durch selbstbewusste Übernahme gewinnt. Lassen Sie mich zum Schluss in wenigen Sätzen die Frage nach der Bedeutung für ein erneuertes Verständnis des interreligiösen Dialogs beantworten. Das Beispiel der jiddischen Kultur, die von Anfang an darauf aus war, vorhandene Traditionen zu popularisieren und gleichzeitig sie auch immer wieder zu hinterfragen, die eigene Kultur mit Humor oder auch bitterer Ironie zu kritisieren, in vorderster Front in säkularen und gesellschaftserneuernden Bewegungen mitzugehen oder sie anzuregen, kann auch für religiöse Instanzen richtungsweisend sein. Auch hier geht es in erster Linie um die selbstkritische Sichtung des Eigenen und die beständige Befragung des als sicher und fest Geglaubten, um die aufklärerische Auseinandersetzung mit dem dogmatisch Gefestigten und die Bereitschaft, das Andere nicht nur zuzulassen, sondern es auch zu verstehen und für das Eigene fruchtbar werden zu lassen.

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Gete, Yogann V. [Goethe, Johann Wolfgang]: Torkvato taso. Drame in 5 aktn (Jidd. David Königsberg). Warschau 1923. Ders.: Di yesurim fun dem yungn verther (Jidd. Moyshe Lurya). Berlin 1922. Grimm (Brüder): Oysgeklibene Mayselekh. 2 Bde (Jidd. Isaac Schreyer). Berlin 1922. Grinberg, Uri Zvi: Mephisto (Jidd./Dt.) (MAKOM 4). München 2007. Kafka, Franz: Der protses (Jidd. Meylekh Ravitsh / Melech Rawitsch). New York 1966. Kalevala Folks-epos fun di finen (Jidd. Hersh Rozenfeld). New York 1954. Knapp, Fritz Peter : „Dukus Horant und die deutsche subliterarische Epik des 13. und 14. Jahrhunderts“, in: Aschkenas (14) 2004, S. 101–123. Raspe, Lucia: Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas (TSMJ 19). Tübingen 2006. Shapiro, Lamed: Ksovim (Jidd.). Los Angeles 1949 (Übersetzung Armin Eidherr). Strauch, Gabriele: Dukus Horant: Wanderer zwischen zwei Welten (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 89). Amsterdam / Atlanta 1990. Turniansky, Chava / Timm, Erika: Yiddish in Italia: Yiddish Manuscripts and Printed Books from the 15th to the 17th Century. Mailand 2003. Zajacov‚, Tamara: „Jidizmy“ v Slovencˇine (Dissertation). Matej Bel University. Bansk‚ Bystrica 2014.

Marianne Grohmann

Exil – ein Narrativ der Hebräischen Bibel in europäischen Diskursen

1.

Vorbemerkungen

Viele Texte des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel sind in Kontexten von Exil und Migration entstanden und reflektieren Erfahrungen mit Vertreibung und Wanderschaft: Biblische Theologie ist in vielen Bereichen (v. a. des Alten Testaments) eine Theologie der Migration, die diese Erfahrungen verdichtet und entfaltet. Migration bildet einen wesentlichen Erfahrungsraum, der das ethische und politische, spirituelle und theologische Selbstverständnis von Juden und Christen – wenn auch in verschiedener Weise interpretiert – von Anfang an prägt.1

Migrationsbewegungen und Exilserfahrungen stehen im Hintergrund vieler Texte der Hebräischen Bibel, auch wenn sie eine andere Terminologie verwenden. Gesellschaften, die sich in Transformationsprozessen befinden, berufen sich auf ihre grundlegenden Narrative. Die Hebräische Bibel stellt ein großes Repertoire an Texten zur Verfügung, mit denen Erfahrungen von Migration, Vertreibung und Exil geschildert werden. „From the beginning to end, the Hebrew Bible may be considered as a series of narratives, tales, and depictions of deportation and displacement. […] the Bible is the great metanarrative of diaspora.“2 Texte der Hebräischen Bibel zu Exil und Diaspora bilden ein „Metanarrativ“ im Sinne einer Hintergrunderzählung, weil es in der ganzen Hebräischen Bibel keine durchgehende historiographische Erzählung über das Exil gibt, sondern mehrere Einzelperspektiven zu diesem Thema. Der folgende Beitrag thematisiert ein solches Narrativ, nämlich das babylonische Exil, mit der Fragestellung: Wie können wir Texte aus der Hebräischen 1 Polak 2015 in diesem Band, S. 120. 2 Lee Cu¦llar 2008, S. 1.

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Bibel und ihre Auslegungen, historische und literaturwissenschaftliche Forschungen zu diesen Texten für zeitgenössische europäische Diskurse über Migration und Exil fruchtbar machen?

2.

Zur Terminologie: Exil – Diaspora – Gola

„Exil“ ist ursprünglich ein Begriff der römischen Rechtssprache: „E. (lat. Exilium bzw. exul) bez. die staatlich organisierte und polit., rel. oder ethnisch motivierte Vertreibung von Menschen aus ihrem Heimatland bzw. die erzwungene Übersiedlung in ein Land, das sie häufig nicht frei als Zufluchtsort gewählt haben.“3 Interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Exilsforschung, wie sie sich seit den 1960er-Jahren entwickelt hat, bezieht nicht nur Vertreibung, sondern auch „[…] die Flucht bzw. freiwillige Emigration der Angehörigen von rel. oder ethnischen Minderheiten sowie polit. Verfolgter ein.“4 Der griechische Terminus „Diaspora“ (Zerstreuung) – von griech. diaspe†ro¯ (ausstreuen, sich zerstreuen, getrennt werden) – bezeichnet ursprünglich „die Verbreitung von Menschen jüdischer Abstammung in verschiedenen Gegenden außerhalb Israel-Palästinas.“5 Er hat also seinen spezifischen Entstehungskontext in der Zerstreuung des jüdischen Volkes und impliziert das Bezogensein auf ein Zentrum, ob positiv im Rückkehrwunsch oder in Abgrenzung. Er ist im Vergleich zu Exil ein etwas neutralerer Begriff für jüdisches Leben außerhalb Israels6 und wurde inzwischen über den jüdischen Kontext hinaus auf vielfältige Formen von Diaspora ausgeweitet. Die Hebräische Bibel – und Jüdinnen und Juden bis heute – verwenden den Begriff gúla¯h (bzw. ga¯l˜t): Abgeleitet von der Wurzel glh, die ein weites Bedeutungsspektrum hat – entblößen, öffnen, fortziehen, weggehen, auswandern, deportiert werden, in die Verbannung ziehen7 –, bezeichnet gúla¯h sowohl als Kollektivbegriff die Gruppe der Deportierten, Exilanten, Verbannten, die Exilsgemeinde als auch den Vorgang der Deportation, Verbannung, Wegführung oder Exilierung8 sowie später auch den Ort oder Zustand des Exils.9 Gúla¯hErfahrung ist bis heute prägend für jüdisches Selbstverständnis: Vom Aufenthalt in Ägypten über das babylonische Exil, die Zerstörung des 2. Tempels, die zur bis

3 4 5 6 7 8 9

Graf 1999, S. 1807. Ebd. Kiefer 2005, S. 43. Vgl. Dan 1999b, S. 1810. Vgl. Gesenius 1987, S. 215–216. Vgl. ebd., S. 206. Vgl. Altmann 1978, S. 95.

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heute andauernden Diaspora führte, bis hin zu Exilierungen, die durch das NSRegime im 2. Weltkrieg erzwungen wurden. In jüdischem Kontext ist gúla¯h der gängige Begriff, der aus der hellenistischjüdischen Zeit stammende Terminus der Diaspora wird aber heute teilweise wieder verwendet: Im modernen Hebr. wurde der Begriff Tefuza (wörtl.: „Zerstreuung“) geprägt, um die D. im Unterschied zur Gal˜t zu bez., wobei die Gal˜t mit Leiden, Verfolgung und Verzweiflung in Verbindung gebracht wird. Die D. beschreibt dagegen einen Ort, an dem Juden annehmlich, geschützt und gedeihlich leben können und nicht danach streben müssen, das Land zu verlassen und in das Land Israel einzuwandern.10

Es ist wichtig, sich bei der Verwendung dieser Begriffe die jeweiligen Kontexte und unterschiedlichen Konnotationen vor Augen zu führen. Bei aller Verschiedenheit von Einzelerfahrungen lassen sich vielleicht trotzdem folgende grundlegende gemeinsame Merkmale des Phänomens „Exil“ benennen: (1) der Wechsel des Ortes oder Lebensraumes (2) für eine längere Zeit; (3) die qualitative Zuordnung des bisherigen Ortes oder Lebensraumes als Selbst- oder Fremdzuschreibung, z. B. als Besitz, Heimat, durch Gott verheißenes Land o. ä.; und (4) Grenzerfahrungen im Sinn eines Wechsels zwischen Eigenem und Fremden, Bekanntem und Unbekanntem.11

Hier soll nun eine konkrete Exilszeit, das babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr., auf seine prägende Kraft als Narrativ für jüdische und christliche Kontexte bis heute hin befragt werden.

3.

Das babylonische Exil als Epochenbegriff der Geschichte Israels

Das babylonische Exil gilt als ein Eckdatum der Geschichte Israels, es beeinflusst jüdische Identität bis heute und gehört zu den „Selbstverständlichkeiten der alttestamentlichen Wissenschaft“.12 Pointiert hat das z. B. Rainer Albertz formuliert: „Unter allen Epochen der Geschichte Israels stellt die Exilszeit den tiefsten Einschnitt und den folgenschwersten Umbruch dar, deren Bedeutung für die Folgezeit kaum zu überschätzen ist.“13 Verglichen mit seiner prägenden Bedeutung ist die historische Zeitspanne des 10 11 12 13

Dan 1999a, S. 829. Van Oorschot 2009, S. 245. Ebd., S. 233. Albertz 2001, S. 11.

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babylonischen Exils relativ kurz: Es geht um 60 Jahre im 6. Jh. v. Chr.: von der Deportation von Judäerinnen und Judäern durch die Neubabylonier in mehreren Wellen (598/7, 587/6 und 582) bis zur Ablösung der babylonischen Herrschaft durch Kyros II. im Jahr 539 v. Chr. mit dem Beginn der Perserzeit.14 Seit den 1960er-Jahren hat sich nach und nach die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Exil die prägende Phase der Literatur des biblischen Israel war und ca. die Hälfte der Schriften der Hebräischen Bibel ihre entscheidenden Formierungsprozesse in dieser Epoche erfahren haben.15 Die gesamte Literatur des Alten Testaments wird in vorexilisch, exilisch und nachexilisch eingeteilt und gilt gleichzeitig als Epocheneinteilung in der Geschichte Israels im Entstehungszeitraum der Hebräischen Bibel. Es ist aber zu berücksichtigen, dass im Judentum die Situation der gúla¯h bis heute andauert und insofern noch nicht als „nachexilisch“ gilt.16 Für die Identitätsbildung Israels spielt das babylonische Exil auf jeden Fall eine entscheidende Rolle: Einerseits stellt der Verlust des Landes im Exil eine schwere Krise für die Identität des biblischen Israel dar. Andererseits bewirkt es einen Neuentwurf der eigenen Identität, der sich in Kontinuität mit älteren Identitätskonzepten darstellt,17 und durchgreifende Erneuerungsprozesse seiner Religion sowie einen großen Anstieg der schriftlichen Literaturproduktion.18 Zentrale Identitätskriterien und identitätsstiftende Symbole wie Monotheismus, Tora, Sabbat, Segensverheißungen, Beschneidung und Reinheitsvorstellungen erfahren ihre entscheidenden Prägungen in der Exilszeit.19 Mit dem Exil hat die – zum Teil bis heute als leidvoll erfahrene – Zerstreuung des Volkes Israel unter die Völker begonnen. Gleichzeitig hat die damit verbundene Öffnung zu den Völkern hin die spätere Entstehung des Christentums ermöglicht.20

4.

Zur Quellenlage

Betrachtet man diese Epoche genauer, zeigt sich, dass sowohl die textliche als auch die sozialgeschichtliche und archäologische Quellenlage unklar ist. Wir wissen relativ wenig über die konkreten Lebensumstände in Juda und Babylon

14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Albertz 2001, S. 11; Van Oorschot 2009, S. 234. Vgl. Albertz 2001, S. 7; Kelle 2011, S. 5. Vgl. Diebner 1991, S. 629–630. Vgl. Grohmann 2013, S. 30–31. Vgl. Albertz 2001, S. 11. Vgl. Podella 1997, S. 481–482. Vgl. Mosis 1978, S. 59–60.

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im 6. Jh. v. Chr.21 Zudem besteht eine große Unschärfe der Abgrenzung an den Rändern. In der Hebräischen Bibel sind sowohl Schilderungen über die Ereignisse in Jerusalem als auch eine reiche Literaturproduktion aus der Zeit des babylonischen Exils aufbewahrt. Die Texte spiegeln ein Wechselspiel der Perspektiven zwischen der Bevölkerung Jerusalems und den Exilierten wider. Sie wurden in der anschließenden Zeit der Restauration in der Perserzeit wesentlich überarbeitet, und dieser Blickwinkel prägt daher wesentlich die Darstellungen.22

4.1.

Texte der Hebräischen Bibel

Es gibt in der ganzen Hebräischen Bibel keine durchgehende historiographische Erzählung über das Exil, sondern einzelne Texte schildern Aspekte von Exilserfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven: Die Intention der Bücher Ezechiel, Klagelieder und Daniel ist nicht, historische Hintergründe der Exilszeit zu beleuchten, aber sie steuern indirekte Informationen in poetischer, literarisch gestalteter Sprache bei. 2 Kön 25 (vgl. Jer 39; 51) berichtet von der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. und der Leere des Landes, in dem nur die Ärmsten übrig geblieben sind. 2 Chr 36,21 beschreibt das Land als verlassen während einer Periode von 70 Jahren:23 „Alle Tage seiner Verwüstung ruhte (sˇbt) es [das Land], bis 70 Jahre voll waren.“ Auch wenn Texte wie dieser von den „Sabbaten für das Land“ das Bild vom leeren, entvölkerten Land entstehen lassen, gilt diese Sichtweise bereits seit den 1950er-Jahren als Mythos oder Fiktion,24 die sich archäologisch nicht belegen lassen. So besteht heute der Konsens, dass das Bild vom „leeren Land“ im 6. Jh. v. Chr. sicher nicht zutrifft, sondern dass auch in der Situation des Exils ein Teil der judäischen Bevölkerung im Land geblieben ist.25 Die Texte der Hebräischen Bibel sind gattungsmäßig sehr unterschiedlich – Erzählungen, Berichte, prophetische Geschichtsdeutungen, Gebete, Klagen – und nicht chronologisch fortlaufend. Dadurch kennen wir einige bestimmte Ereignisse am Anfang und am Ende, aber was genau dazwischen passierte, ist weitgehend unbekannt. „So bildet die Exilszeit in der Geschichtsdarstellung der Hebräischen Bibel eine gähnende Lücke; sie klafft wie ein düsteres Loch in der Geschichte JHWHs mit seinem Volk, das nur durch vereinzelte Spotlights ein wenig aufgehellt ist.“26 Die Texte der Hebräischen Bibel enthalten unterschiedliche Exilskonzeptio21 22 23 24 25 26

Vgl. Meyers 2009, S. 166–167. Vgl. Ackroyd 1968; ders. 1970, S. 1; Kelle 2011, S. 7. Vgl. Kelle 2011, S. 8–9. Vgl. Labahn 2002, S. 515. Vgl. Meyers 2009, S. 169. Albertz 2001, S. 13.

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nen: das Exil als verspielte Heilschance (Jer 39–43), als (vorläufiges) Ende der Geschichte (2 Kön) und als Sabbatruhe für das Land (2 Chr).27 Insgesamt kennt die Hebräische Bibel eine vielfältige Terminologie für Phänomene von Migration, Flucht, Vertreibung, Deportation und Exil.28 Es gibt Texte, die Exil negativ bewerten, aber auch andere, die es als „Chance zum Überleben, als Nullpunkt und als Neubeginn“29 verstehen. Narrative Texte wie das Danielbuch und spätere, zum Teil deuterokanonische Bücher (3 Esra, Tobit, Judit) füllen die Exilslücke erzählerisch auf.30 Das Buch Ester ist ein Beispiel für ein assimilationsbereites jüdisches Leben in der Diaspora.31 Exemplarisch soll nun ein Text genauer beleuchtet werden, nämlich Klagelieder 1.

4.2.

Textbeispiel: Klagelieder 1

Klagelieder 1 ist ein Text aus dem 6. Jh. v. Chr., der unmittelbar auf die Zerstörung Jerusalems und die Vertreibung eines Teils seiner Bewohner ins Exil 587 Bezug nimmt. Aus der Perspektive von Menschen, die in Jerusalem geblieben sind, wird die Situation in der Stadt geschildert, der Blick aber auch immer wieder auf die gerichtet, die vertrieben worden sind. Auch wenn Klgl 1 in poetischer Sprache – nach dem im alten Vorderen Orient weit verbreiteten Vorbild von Stadtuntergangsklagen32 – den Untergang Jerusalems beklagen, lassen sich Hinweise auf die konkreten Umstände herauslesen: Die Exilanten sind in die Verbannung gezogen (V. 3), die Stadt, ihre Straßen und Tore sind verlassen und menschenleer, es werden keine Feste gefeiert (V. 4), Feinde haben die Macht (V. 5.7), die eigenen Fürsten sind schwach (V. 6), das Volk hungert (V. 11.19): Klgl 1,3: Juda ist in die Verbannung gegangen (glh) aus Elend (”n„) und aus der Fülle der Knechtschaft. Sie sitzt unter den Völkern (go¯yim) und findet keine Ruhe. Alle ihre Verfolger holen sie ein mitten in den Bedrängnissen.33

„Juda ist in die Verbannung gegangen“ – das ist hier in einer Verbalform der Wurzel glh beschrieben, von der sich die gúla¯h ableitet. Die Exilierung ist hier als aktiver Vorgang ausgedrückt, obwohl es nie ein freiwilliges Weggehen be27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Albertz 2001, S. 13–22. Vgl. Kiefer 2005, S. 226–227; van Oorschot 2009, S. 236. Kiefer 2005, S. 692. Vgl. Albertz 2001, S. 23–40. Vgl. Talmon 1978, S. 47–48. Vgl. Albertz 2001, S. 127. Texte der Hebräischen Bibel sind in Übersetzungen der Autorin wiedergegeben.

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schreibt. Juda, personifiziert als Frau, ist hier sowohl als staatliches Gebilde als auch als Bevölkerungsgruppe im Blick. Juda „wohnt unter den Völkern“ ist eine weitere Beschreibung der Exilssituation. „Verfolger“ und „Bedrängnisse“ werden nicht mit konkreten Namen genannt, aber mit einem vielfältigen sprachlichen Repertoire von Beengung, Einschränkung und Verfolgung geschildert:34 Das Erschreckende liegt v. a. darin, dass frühere Freunde zu Feinden werden. Dass die Babylonier nie erwähnt werden, macht den Text zu verschiedenen Zeiten lesbar. Klgl 1,7: Jerusalem erinnert sich in den Tagen ihres Elends (”n„) und ihres Umherirrens (mer˜dæha¯) an alle ihre Schätze (mahm˜dæha¯), die sie in den Tagen der Vorzeit hatte, ˙ als ihr Volk in die Hand des Bedrängers fiel und keiner da war, der ihr half. Die Bedränger sahen sie und lachten über ihr Ende (misˇbattæha¯).

Die Situation der Exilierten wird mit Elend (”n„) und Umherirren (mrd) – Heimatlosigkeit, Ruhelosigkeit – beschrieben. Stellen wie diese mit dem „Ende“ (sˇbt: Aufhören) haben wie der erwähnte Vers 2 Chr 36,21 das Bild vom totalen Untergang Jerusalems und der Leere des Landes geprägt. Gleichzeitig wird in Klgl 1 die Situation in der Stadt aus der Perspektive von jemandem, der sich in der Stadt befindet, ausführlich beschrieben. Es bleibt also eine Bezogenheit zwischen exilierten Bevölkerungsgruppen und Menschen, die in der Stadt bleiben. „Elend“ (V. 7) und „Fülle der Knechtschaft“ oder „harte Arbeit“ (V. 3) beschreiben die Lebensumstände: ”n„ ist ein allgemeiner Ausdruck für Elend in verschiedener Form – Kummer, Leiden, Erniedrigung und Bedrückung. Es ist ein häufiger Begriff der Psalmensprache (z. B. Ps 9,14), der Weisheitsliteratur (z. B. Hi 10,15), kommt aber auch in Erzähltexten vor (Gen 16,11) und wird häufig mit Gott in Verbindung gebracht: Gott sieht das Elend der Israeliten in Ägypten. Gott kümmert sich um die Menschen und befreit sie aus der Not (Ex 3,7.17). Die Situation derer, die in der 587 v. Chr. zerstörten Stadt Jerusalem zurück geblieben sind, wird so geschildert: Klgl 1,11: Ihr ganzes Volk seufzt, sie suchen Brot, ihre Schätze (mahm˜de¯hæm) haben sie für Nahrung hergegeben, ˙ um am Leben zu bleiben.

Diese Darstellungen von existenzieller Not und Hunger stehen im Widerspruch zu Texten wie Jer 39–40, die einen hoffnungsvollen Neuanfang vermitteln wollen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass in der Zeit unmittelbar nach der 34 Vgl. Koenen 2014b, S. 41–45.

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Zerstörung Jerusalems die Versorgungslage in der Stadt offensichtlich schlechter war als in ländlichen Gegenden und schlechter als zu späteren Zeiten.35 In Klgl 1,16.20 werden besonders die Jüngsten als von Gefangenschaft, Gewalt und Tod Betroffene geschildert – auch das eine allgemeine Erfahrung in Exilssituationen. Eine Zusammenstellung der im ganzen Buch der Klagelieder genannten Bevölkerungsgruppen ergibt aber, dass nicht nur die Schwächsten unter den Zuständen leiden, sondern es entsteht ein vielfältiges Bild der Stadtbevölkerung, das alle Schichten und Gruppierungen umfasst.36

4.3.

Archäologische Quellen

Die außerbiblischen Quellen zum 6. Jh. v. Chr. sind eher spärlich gesät.37 Archäologische Forschungen über Juda in der Mitte des 6. Jahrhunderts zeigen das Bild einer sich selbst erhaltenden ländlichen Gesellschaft mit wenig neuer Bautätigkeit. Siedlungsgebiet waren die zentralen Gebiete von Juda, v. a. nördlich von Jerusalem, z. B. rund um Tell en-Nasbeh (das biblische Mizpah in Benjamin, ˙ ca. 12 km nordwestlich von Jerusalem). Es lässt sich kein eindeutiger Bruch in der materialen Kultur nachweisen, aber ein klarer Verfall und eine langsame Erneuerung in einer veränderten Situation.38 Nach aktuellen archäologischen Untersuchungen hat sich das besiedelte Gebiet von Jerusalem und seinem Umland am Ende der Eisenzeit auf 1000 Dunam Land erstreckt, am Beginn der persischen Zeit dagegen nur auf 110 Dunam. Die Bevölkerungszahl sank während der Exilszeit von 25.000 auf 2.750, was einem Rückgang von 89 Prozent entspricht.39 Der Bevölkerungsschwund in Benjamin liegt dagegen mit 56,5 Prozent signifikant niedriger.40 Die archäologischen Befunde zeigen Spuren der Zerstörung in den größeren Städten in Juda, z. B. Lachisch, Ramat Rahel, Beth-Shemesh in den letzten Jahren des Königtums (597–581 v. Chr.),41 passen also zu den biblischen Erzählungen. Keilschriftliches Material aus dieser Zeit stammt zum großen Teil aus anderen Orten, außerhalb von Juda.42 Während die Forschung bis in die 1980er-Jahre v. a. an den historischen, militärischen und politischen Vorgängen im Exil interessiert war und danach gefragt hat, welchen Einfluss diese auf die religiösen Institutionen Israels hatten, 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. Kessler 2008, S. 131; Lipschits 2005, S. 262, 270; Meyers 2009, S. 190. Vgl. Berlin 2002, S. 13–15. Vgl. Becking 2011. Vgl. Valkama 2010, S. 58–59. Vgl. Lipschits 2009, S. 167. Vgl. Lipschits 2005, S. 270, Tabelle 4.3. Vgl. Kelle 2011, S. 9. Vgl. ebd., S. 9–10.

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versuchen Forscherinnen und Forscher heute mit interdisziplinären Zugängen stärker auch soziologische, anthropologische und psychologische Fragestellungen miteinzubeziehen.43 Das Bild vom großen Einschnitt, vom Katastrophenszenario, das wir in den Beispielen aus Klgl 1 und in anderen biblischen Darstellungen vom Exil finden (2 Kön 24–25; vgl. Jer 39; 51; 2 Chr 36,17–21), spiegelt sich in archäologischen Untersuchungen nur zum Teil wider. Hier gilt das 6. Jahrhundert als Übergangszeit zwischen der Eisenzeit und der Perserzeit.44

5.

Das babylonische Exil – säkulares oder religiöses Phänomen?

„Exil“ ist nie ein rein historisch-deskriptiver Begriff, sondern immer „ein politisch-sozialer und religiöser Begriff der Identitätsstiftung“.45 Das gilt sowohl für das babylonische Exil als auch für weitere Exilserfahrungen bis heute. Die Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus Europa ist ein bis heute nachwirkendes Trauma. Das spannungsvolle Verhältnis zwischen der gúla¯h und den im Land Israel Lebenden bleibt für jüdische Identität zentral – ein Phänomen, das es so in vergleichbarer Weise im Christentum und im Islam nicht gibt. In der Exilsforschung wird breit diskutiert, ob das Phänomen als religiöses oder säkulares wahrgenommen wird. Als eine prominente Stimme zu dieser Diskussion soll hier der US-amerikanische Literaturkritiker mit palästinensisch-christlichen Wurzeln, Edward Said (1935–2003), zitiert werden, der das Exil eindeutig als eine säkulare und historische, aber nicht religiöse Erfahrung beschreibt: It is not true that the views of exile in literature and, moreover, in religion obscure what is truly horrendous: that exile is irremediably secular and unbearably historical; that it is produced by human beings for other human beings; and that, like death but without death’s ultimate mercy, it has torn millions of people from the nourishment of tradition, family and geography.46

Dass ein Exil prinzipiell von Menschen verursacht wird und ein politisches und „säkulares“ Phänomen ist, gilt auch für das babylonische Exil. Dennoch ist hier die Grenzziehung zwischen Religion und Säkularität ein Anachronismus: Religion ist in der Antike nie von anderen Lebensbereichen abgetrennt. In der Hebräischen Bibel ist die transzendentale Dimension immer enthalten. Für die 43 44 45 46

Vgl. ebd., S. 7–8. Vgl. Lipschits 2005, S. 190–191. Van Oorschot 2009, S. 250. Said 1990, S. 358.

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Antike ist es vielleicht angemessener, von profanen und religiösen Aspekten zu sprechen, die sich zwar unterscheiden, aber nicht voneinander trennen lassen: Any and all theological reflection on the exilic experience […] must first contend with the enormity of the physical, social, and psychological trauma of this experience in the life of Ancient Israel, and only then proceed to an assessment of theological themes that are part of the recovery process of a frankly heroic survival of domination in the ancient Near East.47

Die Klagelieder sind ein Beispiel für die Verschränkung von „säkularer“ bzw. profaner und religiös-theologischer Ebene: Sie schildern die Ereignisse rund um die gúla¯h sehr profan, fast „historisch“ im Sinne von Zustandsschilderungen. Nach dem Vorbild der ritualisierten Toten- oder Leichenklage wird im Buch der Klagelieder in übertragenem Sinn der Tod der Stadt Jerusalem betrauert. Gleichzeitig trauert die als Frau personifizierte Stadt über den Tod ihrer Kinder. Die jüdische Alttestamentlerin Hedwig Jahnow hat bereits 1923 darauf hingewiesen, dass die Totenklage im Alten Orient eine profane Gattung ist, weil der Tod prinzipiell ein Gott-ferner Bereich ist.48 Entsprechend dem profanen Charakter der Totenklage wird die soziale Not in der Stadt über weite Strecken ganz profan, nüchtern und durch Menschen versursacht beschrieben: Exilierung, Elend, Knechtschaft, Hunger, Feindbedrohung und Mord. Geschildert wird der Ausnahmezustand unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems. Die theologische Dimension kommt darin zum Ausdruck, dass Gott als Verursacher des Katastrophenszenarios dargestellt wird (V. 5) und die Exilserfahrungen in einen Prozess des Ringens mit Gott gestellt werden. Dass Gottheiten für die Zerstörung von Städten verantwortlich gemacht werden, ist im altorientalischen Kontext nicht ungewöhnlich. Die Personifizierung der Gottesstadt hat in den mesopotamischen Stadtuntergangsklagen ihre Vorläufer, in denen die jeweilige Schutzgottheit über den Verlust ihrer Stadt, ihres Tempels und ihrer Bevölkerung trauert.49 Die Verantwortung wird z. B. in der zweiten Klage über den Untergang der Stadt Ur50 unter mehreren Gottheiten aufgeteilt: Die Stadtgottheiten können ihre Stadt nicht schützen, weil höherstehende Gottheiten ihren Untergang beschlossen haben. In der Hebräischen Bibel übernimmt JHWH beide Funktionen, sowohl die beschützende, als auch die zerstörende. Nach dem Vorbild der altorientalischen Stadtuntergangsklagen wird Gott für die Zerstörung der Stadt verantwortlich gemacht. Anders als in den altorientalischen Parallelen sieht Klgl 1 den Grund dafür, dass Gott auf die Seite der Feinde gewechselt hat, aber in den Vergehen, Verfehlungen, Verbrechen der 47 48 49 50

Smith-Christopher 1997, S. 36. Vgl. Jahnow 1923, S. 168ff. Vgl. Berges 2002, S. 63. TUAT 2, S. 707.

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Menschen: „Denn JHWH hat Jerusalem in Kummer gestürzt wegen ihrer vielen Vergehen“ (Klgl 1,5). Menschliches Fehlverhalten und Verletzungen des Gemeinschaftsverhältnisses werden der Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes gegenüber gestellt: Klgl 1,18: Gerecht ist er, JHWH, ich aber war widerspenstig gegen seinen Mund.

Aus der Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes resultiert die Hoffnung auf seine erneute Zuwendung. Wie in den Klagepsalmen wird Gott zwar einerseits für die eigene Not verantwortlich gemacht, aber gleichzeitig als Adressat der Klage angerufen und um Hilfe gebeten.51 Die Texte drücken ein Ringen mit Gott aus, zwischen menschlicher Verantwortung und der Hoffnung auf göttliches Eingreifen: Klgl 1,20 Sieh, JHWH, dass ich in Bedrängnis bin, meine Eingeweide sind aufgewühlt, mein Herz dreht sich in meinem Inneren, denn ich war so widerspenstig.

Dieses Wechselspiel aus einer Sichtweise auf Gott als Verursacher der eigenen Not, die Einsicht in die Gerechtigkeit Gottes, weil die Menschen durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben, und das Festhalten an Gott, der aus der Not erretten kann, ist auch für die Psalmen charakteristisch. Allerdings fehlt in Klgl 1 die tröstliche Perspektive weitgehend. Von der ehemals Völkerreichen bleiben am Ende nur zahlreiche Seufzer : Klgl 1,22: Denn viele sind meine Seufzer, und mein Herz ist krank.

Auch wenn der Text wenig Trost zu bieten hat, liegt zumindest im Aussprechen der Not vielleicht ein erster Schritt. „Jerusalem erinnert sich“ (V. 7) – das Stichwort zkr kommt in diesem Zusammenhang öfter vor. Es umschreibt zumindest den Beginn eines Erinnerungs- und Klagevorgangs zur Bewältigung der Katastrophe. Es bleibt wichtig, jedes Phänomen von Exil – Diaspora – gúla¯h für sich getrennt, in historischer und literarischer Differenziertheit, zu untersuchen. Vielleicht lässt sich doch – trotz aller Unterschiedlichkeiten in den historischen Einzelheiten – von gewissen Grunderfahrungen mit Exilierungen sprechen, die

51 Vgl. Koenen 2014a.

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diese in gewisser Weise über unterschiedliche Zeiten und Räume hinweg vergleichbar machen: – das Bild vom Exil als Nullpunkt und großer Einschnitt; – die Unfreiwilligkeit der Exilierung, die Übermacht von Feinden; – die Bezogenheit zwischen Exilierten und dem Land, aus dem sie vertrieben wurden: Die Spannung zwischen dem Leben in der gúla¯h und dem Bezugsland bleibt.

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Regina Polak

Diversität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Migrationsgesellschaft

1.

Einleitung

„Migrationen sind (…) nur scheinbar konkrete Phänomene. Die Summe individueller Bewegungen ist in der Regel nur auf abstrakter Ebene zureichend wahrnehmbar und deutbar. Doch können (…) ihre lebensweltlichen Wirkungen sehr einschneidend sein.“1 So begründet der Historiker Walter Pohl in seinem Beitrag „Die Entstehung des europäischen Weges: Migration als Wiege Europas“ die Notwendigkeit von Narrativen2 für Gesellschaften in Transformationsprozessen. Auch das zeitgenössische Europa braucht solche Narrative, um mit den Herausforderungen europäischer Migrationsgesellschaften angemessen umgehen zu können. Migrationen und die mit ihnen verbundene notwendige Neugestaltung des sozialen Raumes bedürfen differenzierten Wissens und hochentwickelter Deutungssysteme: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches Phänomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich.“3 Mit meinem Vortrag möchte ich der Frage nachgehen, welche Narrative der Theologie und den Kirchen in einer Migrationsgesellschaft zur Verfügung stünden, die sie ggf. auch in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen könnten. Mein Beitrag dazu erfolgt aus einer praktisch-theologischen Perspektive und ich stelle dazu im Folgenden vier „Bausteine“ als Impulse zur Diskussion: – Den Kontext und die Relevanz der Fragestellung: Wie ist Zusammenleben angesichts von Diversität möglich? – Einen geschichtlichen Rückblick auf die Zeitspanne der „migration period“ zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert in Europa, bei uns „Völkerwanderung“ 1 Pohl 2013, S. 42. Auslassungen R. P. 2 Gemeint sind damit Erzählungen, die sozialen Prozessen Sinn und Bedeutung verleihen, indem Wissensvorräte und Deutungssysteme generiert und (re)kombiniert werden. 3 Pohl 2013, S. 43.

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Regina Polak

genannt, der exemplarisch zeigt, welche Rolle Narrative bei der „Integration“ einer neu entstehenden politischen Landschaft des weiten europäischen Raumes gespielt haben: in diesem konkreten Fall die Erzählungen des Christentums. – Eine Rückfrage an die Narrative von Migration und Religion4 in den europäischen migration studies. – Die Potentiale und Ressourcen, die den Kirchen und der Theologie zur Verfügung stehen und gesellschaftlich fruchtbar gemacht werden könnten.

2.

Kontext und Relevanz der Fragestellung Ein im globalen Maßstab erfolgreiches Zusammenleben in Frieden und Differenz stellt für die Menschheit zweifellos die große, vielleicht entscheidende Herausforderung im 21. Jahrhundert dar.5 Entweder können wir in diesem Jahrhundert eine gemeinsame Zivilisation aufbauen, mit der jeder sich identifizieren kann, die von denselben universellen Werten zusammengehalten, von einem kraftvollen Glauben an das Abenteuer Menschheit geleitet und durch all unsere kulturellen Unterschiede bereichert wird; oder wir gehen alle in einer gemeinsamen Barbarei unter.6

In Wissenschaft und Kunst mehren sich in jüngerer Zeit Stimmen, die die Brisanz der Frage nach dem Zusammenleben der Menschheit drastisch hervorheben.7 Exemplarisch kommen hier zwei Zugänge zu Wort. Der deutsche Romanist Ottmar Ette analysiert europäische Literatur im Kontext von „transarealen Beziehungsgeflechten“8 sowie beschleunigter Globalisierung und befragt „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ (d. h. Literaturen, die im Exil oder von AutorInnen „zwischen Kulturen“ geschrieben wurden) auf ihr Potential für die Frage nach dem Zusammenleben. Zu der Vielzahl der dabei entdeckten „Gnoseme“ des Zusammenlebenswissens gehören u. a. ein Bewusstsein von Differenz und Diversität, Perspektivenwechsel, Raum- und Zeitkonzepte un4 In diesem Beitrag verwende ich beide Begriffe als Sammelnamen im Wissen darum, dass sowohl Migration als auch Religion eine unüberschaubare Fülle an Bedeutungen und Definitionen haben. Der Begriff Migration umfasst jedenfalls hier alle Phänomene wie internationale Migration, Arbeitsmigration, Diaspora, Flucht und Asyl. Religion bezieht sich vor allem auf institutionalisierte Religion. 5 Ette 2010, S. 29. 6 Maalouf 2010, S. 27. 7 U. a. Wilkinson / Pickett 2012; Forschungscluster der Universitäten Trier und Mainz o. J. (online). 8 Damit ist eine Hermeneutik gemeint, die Texte auf ihre darin vorfindbare Bewegungsgeschichte und die damit verbundenen raumübergreifenden Beziehungen befragt und dabei „Gnoseme“ – Erkenntnisse, die für das Zusammenleben relevant sind – herausarbeitet.

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terschiedlicher Logiken sowie ein inklusives Identitätsbildungskonzept, das Migration und das damit verbundene Aufeinandertreffen Verschiedener nicht als Verlust interpretiert, sondern als Entdeckung von etwas Neuem, etwas Anderem versteht.9 Für den libanesisch-französischen Schriftsteller Amin Maalouf wird das Zusammenleben mit muslimischen ImmigrantInnen in Europa der entscheidende Faktor im Verhältnis zwischen Europa und der arabischen Welt. Die Situation von Minderheiten ist für jede Gesellschaft und die Menschheit insgesamt „eine der sichersten Indikatoren für moralischen Fortschritt oder Rückschritt“;10 noch schärfer : „Hier, um die Immigranten, wird der entscheidende Kampf unserer Epoche geführt werden müssen, hier wird er gewonnen oder verloren.“11 In der zusammenwachsenden und zugleich zerrissenen globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach dem Zusammenleben in Verschiedenheit eine, wenn nicht die Schlüsselfrage. Migration ist weder Ursache noch Auslöser für diese Situation, aber in den mit ihr verbundenen Herausforderungen – allem voran nach sozialer und globaler Gerechtigkeit – spitzt sich die Dringlichkeit der Frage zu. Humanophobien12 – schärfer : Menschenhass – aller Art (Rassismus, Xenophobie, Islamophobie und Antisemitismus), Diskriminierung, Ausbeutung und Exklusion von MigrantInnen, Menschenhandel, rigide staatliche Migrationsregime und skrupellose Migrationsindustrien u. v. m. machen bewusst, dass die Frage nach dem Zusammenleben alle Menschen betrifft. Der Umgang mit Migration – mit Flüchtlingen, Zuwanderern, ethnischen und religiösen Migrationscommunities – enthüllt, wie es um die Humanität, den Gerechtigkeitssinn und die Solidarität, kurz: das Ethos der Menschheit bestellt ist. Ein solches Ethos zu entwickeln braucht Narrative. Europa lernt derzeit, sich als Migrationsgesellschaft zu verstehen – der Geograph Heinz Fassmann hat dafür die schöne Wendung „Migropa entsteht“13 gefunden. Dabei kommt dem Umgang mit Diversität eine zentrale Rolle zu. Trotz seiner vielfältigen Bedeutungen und Verwendungsweisen14 wird der Begriff Diversität Kern einer neuen „normativen Metaerzählung“15 im gesellschaftlichen Selbstverständnis. WissenschaftlerInnen sprechen von einer „Diversitätswende“ in Politik und Wirtschaft, die maßgeblich durch den „Kampf um Min9 10 11 12

Maalouf 2010, S. 117–164. Ebd., S. 56. Ebd., S. 196. Der Begriff lehnt sich an das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ von Wilhelm Heitmeyer und das damit verbundene Langzeit-Forschungsprogramm „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld an (o. J., online). 13 Fassmann 2013, S. 23. 14 Vgl. Zum Verständnis von Diversität in den Sozialwissenschaften Vertovec 2013. 15 Isar 2006.

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derheitenrechte“ und das „Aufkommen sogenannter Identitätspolitiken“16 beeinflusst sind. Die mit Diversität verbundenen „normativen Diskurse, institutionellen Strukturen, Maßnahmen und Praktiken“17 beziehen sich keinesfalls ausschließlich auf MigrantInnen, hängen aber eng mit Migrationsphänomenen zusammen. Verbunden mit dem Diversitäts-Narrativ werden zeitgleich auf der Mesoebene der Gesellschaft Modelle des Zusammenlebens in Verschiedenheit erprobt, die auch das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte betreffen.18 Im öffentlichen und politischen Diskurs firmieren entsprechende Projekte unter dem fragwürdigen Label der „Integration“, während die Sozialwissenschaften hier mittlerweile bevorzugt von Inklusion sprechen.19 Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den politischen Akteuren, Prozessen und Strukturen sowie den rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen. In den Geisteswissenschaften und der Theologie, aber auch in den Kirchen denkt man über Konvivenz nach20 – ein Begriff des Zusammenlebens, der vor allem die Bedeutung von Gemeinschaften, Gemeinden, Communities und den damit verbundenen interpersonalen Beziehungen und Netzwerke auf der Ebene des alltäglichen Zusammenlebens betont, wo der Umgang mit Diversität konkret erprobt und gelernt wird. In all diesen unüberschaubaren Prozessen und Forschungen werden jedenfalls Narrative von Migration generiert, die entscheiden, ob Migration als Ressource oder als Problem für das Zusammenleben wahrgenommen wird.

3.

Rückblick auf die „Völkerwanderung“: Die Rolle des christlichen Narrativs

Auch die Zeit vom 4. bis 7. Jahrhundert nach Christus stand vor der Herausforderung, angesichts der damaligen Migrationen und damit verbundener „Integrationsprozesse“ dem „menschlichen Zusammenleben in größeren Gemeinschaften Sinn zu geben“21 angesichts großer Ideen, aber auch höchst heterogener Auffassungen über die soziale Welt. Formen des Zusammenlebens in

16 Vertovec 2013, S. 21. 17 Ebd., S. 22. 18 Viele kommunale Projekte in fast jedem österreichischen Bundesland bezeichnen sich auch so, z. B. „Zusammenhalten Steiermark“ (online); „Vielfalt und Zusammenleben“, Referat der MA-7 Wiener Neustadt, o. J. (online); „Land Vorarlberg. Gesellschaft – Integration und Migration“ o. J. (online). 19 Z. B. AtaÅ / Rosenberger 2013. 20 Z. B. Ette 2012; Gilroy 2010; Sundermeier 1995; Polak / Jäggle 2013. Ich selbst halte dazu zahlreiche Vorträge zur Thematik in kirchlichen Einrichtungen, Gemeinden, Orden. 21 Pohl 2013, S. 42.

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größeren Räumen zu lernen und zu erproben ist „eine immense politische und intellektuelle Leistung“.22 Walter Pohl, auf den ich mich im Folgenden beziehe, beschreibt diese Leistung für die Epoche der sog. Völkerwanderung in einer für die Gegenwart höchst instruktiven Weise.23 Auch in dieser Epoche waren Migrationen weder Ursache noch „prime mover“24 historischen Wandels, sondern Teil umfassender soziopolitischer Transformationsprozesse, die zum Ende des Römischen Reiches geführt haben. Freiwillige und vom Römischen Imperium flexibel und rücksichtslos gesteuerte Migrationen waren Teil einer kontinuierlichen Zuwanderung von der Peripherie ins Zentrum des Reiches.25 Diese wurden zur Integration des riesigen Herrschaftsgebietes genutzt. Erst diese „Integrationspolitik“ ließ sodann jene „transnationalen Netzwerke“26 von spezialisierten, zugewanderten Kriegern und Soldaten entstehen, deren „Warlords“27 mit Migrationshintergrund (Odoaker, Theoderich, Chlodwig) die Macht in den römischen Provinzen übernahmen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl jener „Barbaren“, die sich dann gegen die Zentralmacht wendeten, war nicht zuletzt ein Resultat von Ausgrenzung und Verachtung durch die Vertreter der römischen „Leitkultur“. So entstand das Konzept von Herrschaft auf ethnischer Grundlage. Keinesfalls sind damals demnach selbstbewusste, geschlossene Völker in das Römische Reich einmarschiert, sondern in komplexen Wechselspielen zwischen Zentrum und Peripherie, „Römern und Barbaren“, Zuschreibungen und Übernahme von Fremdzuschreibungen sind jene ethnischen Identitäten überhaupt erst entstanden, die dann die politische Landschaft prägen sollten. Jener Raum gleichgeordneter, vorwiegend ethnisch bestimmter Herrschaftsgebilde: Er ist das Resultat von Narrativen, Diskursen und sozialer Praxis. Mit Walter Pohl kann man die Vorstellungen, die bei der Entstehung dieser neuen politischen Landschaft eine maßgebliche Rolle spielten, als „visions of community“28 bezeichnen. Diese „visions“ sind untrennbar mit dem Prozess der Christianisierung verbunden: „Die Königreiche der Migranten entstanden auf christlicher Grundlage.“29 Dies hatte zum einen „pragmatische Gründe, denn die kirchliche Hierarchie vertrat die Mehrheitsbevölkerung, verstand sich auf schriftliche Verwaltung und 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 41. Zum Folgenden vgl. die Darstellung bei Pohl 2013. Ebd., S. 32. Das ist vielleicht vergleichbar jenen Migrationsprozessen, die heute zum Entstehen globaler Mega-Cities führen, Douglas Saunders spricht von „Arrival Cities“, vgl. Saunders 2011. Pohl 2013, S. 33. Ebd., S. 34. Vgl. Pohl / Gantner / Payne 2012; Pohl / Heydemann 2013. Pohl 2013, S. 36.

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konnte so die Integration der neuen Reiche erleichtern.“30 Der Erfolg lag aber auch an biblischen Gemeinschaftsmodellen: Der Exodus Israels aus Ägypten und der Einzug ins Gelobte Land boten ein positives Beispiel einer gottgewollten Migration; der Bund Gottes mit dem auserwählten Volk schuf ein starkes ethnisches Identifikationsmodell; die Genealogie der Söhne Noahs erlaubte eine Erklärung für die Vielfalt der Völker ; der Turmbau von Babel eine, wenn auch negative, Begründung für die Existenz unterschiedlicher Sprachen.31

Das Neue Testament propagierte die paulinische Vision von der Einheit der Völker in Christus. Zugleich offerierte es im Kontext des christlichen Missionsauftrages den neu entstehenden „Völkern“ eine bedeutsame Rolle in der Heilsgeschichte: „Ihre Bekehrung konnte als Erfolg verheißende Erwählung durch Gott verstanden werden und legitimierte dadurch die Herrschaft der Könige.“32 So entstand in Europa eine stabile Vielheit gleichgeordneter und im Christentum vereinter, aber konkurrierender Völker – eine im Vergleich mit anderen Kulturen keinesfalls notwendige Entwicklung. Die (christlichen) Narrative und ihr gesellschaftlicher Wirkungszusammenhang spielten die entscheidende Rolle. Ein halbes Jahrtausend asymmetrischen Austausches zwischen der hegemonialen Zivilisation des Mittelmeerraumes und den Barbaren der Peripherie hatten diesen Integrationsprozess vorbereitet. Die kulturelle Matrix war nicht die klassische Hochkultur der Römer, sondern das spätantike Christentum und die spätrömische Militärkultur, die für Offiziere barbarischer Herkunft zugänglich war. „Am Beginn des nachrömischen Europa stand eine Anpassung römisch-griechischer und christlich-alttestamentarischer Diskurse an einen neuen politischen Horizont.“33 Ethnizität – bis dahin als Lebensform der Barbaren verachtet – wurde als grundlegendes Einteilungsschema der politischen Welt legitimiert und festgeschrieben. Freilich war die Errichtung dieser Landschaft mit hohen sozialen Kosten und gewaltsamen Begleitumständen verbunden, die nicht verharmlost werden dürfen. Auch die zwiespältige Rolle der Kirche und der fragwürdige Umgang mit biblischen Erzählungen dürfen nicht ausgeblendet werden. Aber mit Walter Pohl ist doch auch die gewaltige intellektuelle Leistung herauszustreichen, die damals zu dieser „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“34 und einer neuen politischen Ordnung geführt hat. Was lässt sich für die Frage nach der Bedeutung von (religiösen) Narrativen aus dieser kurzen Darstellung erkennen? 30 31 32 33 34

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 42. Berger / Luckmann 1969.

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Da zeigt sich zum einen der fatal und viel zu eng gefasste Bezug zwischen heilsgeschichtlichen Erlösungsversprechen und Ethnizität, dessen katastrophische Auswirkungen sich bis in den modernen Nationalismus und zur Shoa ziehen. „Es genügt, an den Hitler-Gruß zu denken“,35 meint Walter Pohl. Der theologische Begriff vom Volk Gottes wurde Israel geraubt und am Ende zur Legitimation der Vernichtung der Juden missbraucht. Wenn (religiöse) Narrative ideologisch instrumentalisiert werden, um eigene Interessen und Erfolge, Machtansprüche oder Gewalt zu legitimieren, droht Lebensgefahr. Eine Studie der Körber-Stiftung hat bei der Untersuchung von Schulbüchern für Geschichte festgestellt, dass diese primär der eigenen Siege, Helden, Opfer und Leiden gedenken.36 Sie kommt zu dem Schluss, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn in den Erinnerungen und Erzählungen auch der Leiden und Opfer der Anderen erinnert werden. Katastrophal wirkt sich die Totalidentifikation von konkreter Geschichte und Heilsgeschichte aus, zumal wenn diese der Selbsterhöhung dient. Narrativen dieser Art liegt aus theologischer Sicht das Vergessen und Ignorieren, vielleicht auch das Leugnen der unaufhebbaren Differenz zwischen Gott und Welt bzw. Mensch zugrunde. Zugleich aber lässt sich die kreative und innovative Kraft erkennen, die religiöse Erzählungen für die Gestaltung und Lösung sozialer und politischer Herausforderungen bergen. Der reiche Erzählschatz der Bibel gab den Wanderungen symbolische und heilsgeschichtliche Bedeutungen vom Exodus bis zu Gog und Magog. Aus der Sicht der Aufklärung kann man solch religiöses Wissen in seiner sozialen Anwendung zu Recht für kritikwürdig halten, aber es war und ist immer noch in vielen Zusammenhängen äußerst handlungsrelevant.37

Für die Theologie und die Kirchen stellt sich die Frage, wie ihre religiösen Erzählungen angesichts des historischen Befundes heute fruchtbar für die Suche nach gesellschaftlichen Narrativen zu Migration, Diversität und Zusammenleben werden können. Europa sind Narrative aus christlichen Traditionsbeständen fremd geworden – und das ist auch gut, weil sie bei den Katastrophen des 20. Jahrhunderts Pate gestanden haben. So wichtig sie für die Entstehung Europas waren, so haben sie durch und mit 1945 ein Ende gefunden. So gibt es heute eine weit verbreitete Skepsis, an diesen Narrativen auch nur zu rühren. Ihre theologisch differenzierte Entfaltung kollidierte mit den historischen Konnotationen. Übersetzungsarbeit christlicher Narrative im Horizont zeitgenössischer Gesellschaften steht an, nicht nur für die Fundamental- und die Praktische Theologie. 35 Pohl 2013, S. 36. 36 Vgl. Frevert 2005. 37 Pohl 2013, S. 43.

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Die Gesellschaft wiederum muss zur Kenntnis nehmen, dass religiöse Narrative auch heute noch handlungsrelevant sind – vor allem für MigrantInnen: So hat Martin Baumann in seinen Studien zu Migrationsgemeinden gezeigt, dass diese aus ihrer Religion nicht selten das Potential schöpfen, mit Erfahrungen des Leides, der Diskriminierung und Marginalisierung umzugehen. Religion ermöglicht ihnen Selbstachtung und Würde, Schutz und Tröstung und dies kann gesellschaftspolitisches Engagement zur Folge haben.38 Die Stigmatisierung von MigrantInnen-Religion als „vormodern“ wird da wenig weiterhelfen.39 Was ansteht, ist die Narrative der MigrantInnen öffentlich wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen sowie für eine angemessene strukturelle Repräsentanz von MigrantInnen in allen Bereichen und auf allen Ebenen der Gesellschaft, in den Kirchen und Religionsgemeinschaften zu sorgen.

4.

Narrative von Migration und Religion in den europäischen migration studies

Der kurze geschichtliche Rückblick, aber auch die Migrationsforschung verdeutlichen: Migration ist kein Naturereignis. Ihre Wahrnehmung und Deutung ist zeitbedingt und hängt eng zusammen mit sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und auch religiösen Rahmenbedingungen.40 Die Zusammenhänge, die die Forschung dabei aufzeigt, sind komplex und lassen sich nicht in einfache Geschichten fassen. Genau solche aber waren von der Öffentlichkeit immer schon erwünscht – und sie entstehen heute wie in der Zeit der Völkerwanderung. Frappierend ist, wie stark der zeitgenössische Diskurs dabei immer noch auf Erzählungen und Bilder dieser Zeit zurückgreift. Damals wie heute wird die Ankunft der sogenannten Fremden als unbegreifliches Naturereignis dargestellt. Frühmittelalterliche und zeitgenössische MigrantInnen haben in den Erzählungen des Boulevards oftmals keine Namen, ihre Sprache stört, sie haben keine sichtbare Organisation, ihre Religion ist fremd, „heidnisch“ und gefährlich. Bis heute werden Metaphern des Fließens, mit denen damals die Ankunft der Barbaren beschrieben wurde, verwendet: Man spricht von Migrationsströmen, Flüchtlingswellen, Ausländerschwemmen oder -fluten. Aber welche Narrative haben jene Wissenschaften, die sich mit Migration und 38 Baumann 2000; ausführlich in: Ders. 2003. 39 Die Herausforderungen durch MigrantInnen-Religion für Europa beschreibt z. B. Schreiter 1997, S. 538–539. Eine seiner Thesen: Die Ablehnung von MigrantInnen-Religion ist auch ein Ausdruck der Abwehr an jene „unappetitlichen Erinnerungen“ der europäischen kolonialen Vergangenheit. 40 Fassmann 2013, S. 14–20; 26.

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Religion beschäftigen? Ich kann diese Frage hier nicht beantworten, halte aber einen selbstkritischen Austausch darüber für notwendig. Auch in bestimmten Bereichen der Migrationsforschung spricht man von Migrationsströmen, werden MigrantInnen als homogene Gruppe dargestellt und kommen selbst kaum zu Wort. Forschungen zu Migration und Integration waren lange Zeit (…) durch eine ausgeprägte Problem- und Defizitorientierung charakterisiert. Im Fokus stand die Analyse von Desintegrationsprozessen und Konfliktkonstellationen (…) – Stichworte sind Bildungsferne, Verhaltensauffälligkeit, innerfamiliäre Entfremdung, Mangel an Anpassungsbereitschaft (…).41

Seit einigen Jahren erst rückt „die Analyse der migrationsbezogenen sozialstrukturellen und soziokulturellen Veränderungspotentiale verstärkt in den Mittelpunkt“.42 Es wächst die Aufmerksamkeit für die den Migrations- und Integrationsprozessen innewohnende Antriebskraft für gesellschaftliche und institutionelle Erneuerung, für Lernprozesse auf individueller wie kollektiver Ebene, für die kulturelle und demokratische Erneuerung der Gegenwart, für den Umgang mit Diversität und die Verwirklichung der Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit.43

Viel stärker und bewusster als bisher müsste wohl auch die soziale Positionierung im Kontext von Migration in den Blick genommen werden: Oftmals werden im Zusammenhang mit Migrationsproblemen ja soziale Schieflagen der Gesellschaft thematisiert (und verschleiert).44 Ähnliches gilt auch für die Wahrnehmung und Deutung von Religion im Kontext von Migration, wobei in den säkularen Gesellschaften (Westeuropas) Religion von (muslimischen) MigrantInnen fast ausschließlich als Problem wahrgenommen wird.45 Ein Perspektivwechsel in der Forschung, der sich auf die Suche nach deren Potential macht, steht noch weitgehend aus. Wie Richard Alba und Nancy Foner im Vergleich der diesbezüglichen Diskurse in den USA und in Europa zeigen, gilt MigrantInnen-Religion in Europa eher als Barriere denn als 41 42 43 44 45

Dahlvik / Reinprecht / Sievers 2013, S. 10. Ebd. Ebd. Diesen Hinweis verdanke ich Sieglinde Rosenberger. Das könnte auch daran liegen, dass man im Zusammenhang mit dem Migrationsbegriff die Frage der sozialen Position stärker stellt und es daher in Europa vielleicht eine größere Sensibilität gibt für politisch verursachte Armut und Ungleichheit sowie Ungerechtigkeit. In den USA, wo eine solche Perspektive schwächer ausgeprägt ist, fällt es deshalb vielleicht einfacher, Migration als Potential wahrzunehmen – ganz abgesehen von den historischen Ursachen, auf die ich hier nicht eingehen kann (Stichwort: USA als Einwanderungsgesellschaft; Europa, das erst im 20. Jahrhundert eine solche wird).

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Brücke zur Integration.46 Ich zitiere aus dem Abschlussbericht eines Schweizer nationalen Forschungsprogrammes: Die „neue religiöse und sprachliche Vielfalt“, die durch die Zuwanderung insbesondere seit den 1980er Jahren entstanden sei, stelle ein „beunruhigende(s) Anzeichen dafür (dar), dass das ,Schweizerische Integrationsmodell‘ an Grenzen stößt“.47 Es sind Ausnahmen, wie der Religionswissenschaftler Martin Baumann, die die Religion der MigrantInnen und ihrer Gemeinden als Sozialkapital für die Gesellschaft betrachten.48

5.

Potentiale und Ressourcen, die Kirche und Theologie zur Verfügung stehen – und stellen könnten

1) „Ich denke auch an die geschätzten muslimischen Immigranten, die heute Abend das Fasten des Ramadans beginnen, und wünsche ihnen reiche geistliche Früchte. Die Kirche ist euch nahe auf der Suche nach einem würdigeren Leben für euch und eure Familien. Auf euch (oshi—)!“49 So begrüßte am 8. Juli 2013 Papst Franziskus muslimische Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa, die er im Zuge seiner ersten Reise als Papst besuchte. In seiner Predigt spricht er über die Verantwortung für die Flüchtlinge und erinnert an die beiden ersten Fragen Gottes im Alten Testament: „Adam, wo bist Du?“ und „Kain, wo ist Dein Bruder Abel?“ Wenn diese Fragen vergessen werden, sind die Menschen nicht mehr in der Lage, „einander zu hüten“ und es kommt zu Tragödien wie jenen, dass Immigranten auf dem Meer umkommen, auf den Booten, „die statt eines Weges der Hoffnung ein Weg des Todes wurden“. 2) Zu den wichtigen Anliegen von Caritas und Diakonie, den Sozialeinrichtungen der katholischen bzw. evangelischen Kirche, gehören das soziale und politische Engagement für AsylwerberInnen und Zuwanderer. In den Konflikten rund um die Besetzung der Votivkirche durch Asylwerber in Wien 2012/2013 hat sich der Erzbischof von Wien, Christoph Schönborn eindeutig auf Seiten der Flüchtlinge gestellt – und wurde für dieses Engagement von vielen KatholikInnen aufs heftigste kritisiert. Ähnliches weiß auch der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker (Österreich) zu berichten, wenn sich seine Kirche für Asylwerber und MigrantInnen und deren Rechte stark macht. 3) In der katholischen Pfarre „Am Schöpfwerk“50 (12. Wiener Bezirk) treffen 46 47 48 49 50

Vgl. Foner / Alba 2008. Haug 2003. Vgl. Baumann 2014. Dieses und die folgenden Zitate vgl. Papst Franziskus 2013 (online). Vgl. Pfarre am Schöpfwerk o. J. (online).

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einander vier Mal im Jahr Muslime und Katholiken aus der Siedlung und überlegen, wie sie durch gemeinsame Veranstaltungen zeigen können, dass die beiden Glaubensgemeinschaften ein friedliches Zusammenleben wünschen. So werden in der Siedlungszeitung „Schöpfwerkschimmel“ Gemeinsamkeiten dokumentiert. Aktionen wie gemeinsames Müll-Sammeln oder „Salam und Servus Am Schöpfwerk“, bei der Grußformeln in verschiedenen Sprachen auf großen Tüchern in der Siedlung aufgehängt wurden, um die Vielfalt der Gesellschaft zu zeigen, gehören zu den gemeinsamen Projekten ebenso wie Gespräche zu verschiedenen Themen wie Begräbnis und Tod, Ehe und Partnerschaft, die Stellung der Frau in Christentum und Islam. 4) Die Churches’ Commission for Migrants in Europe (CCME) der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) hat 2010 das Jahr der Migration ausgerufen51 und verfolgt seither folgende Ziele: Sie wollen sich für und mit MigrantInnen für deren gesellschaftliche und politische Anerkennung entsprechend dem Zeugnis der Bibel einsetzen; eine inklusive Politik auf nationaler und europäischer Ebene fördern und sich für die Rechte von MigrantInnen engagieren; sie entwickeln auf Gemeindeebene Programme, die Flüchtlinge und MigrantInnen willkommen heißen, Begegnung und Partizipation fördern und politisch gegen Exklusion und Arbeitslosigkeit von MigrantInnen kämpfen. Ziel ist die Verwirklichung der Vision, „unity in diversity“ zu leben. Diese Beispiele zeigen, dass sich die Kirchen in ihrer sozialen Praxis des theologischen Stellenwertes, den Migration für den Glauben hat, vielerorts durchaus bewusst sind. An Orten wie den hier beschriebenen werden durch diese Praxis die alten Migrations-Narrative erinnert und im Kontext der Gegenwart neue Narrative reformuliert. Freilich muss man, vor allem für den deutschsprachigen Raum, feststellen, dass eine solche Migrations-Sensibilität eher noch die Ausnahme darstellt und die Kirchen das Potential, das ihnen qua Migrationstradition zur Verfügung stünde, noch lange nicht so verwirklichen, wie dies möglich wäre. Viele der einheimischen christlichen Gemeinden sind migrationsblind; das Zusammenleben zwischen Migrationsgemeinden und ortsansässigen Gemeinden und Kirchen ist eher ein Neben- als ein Miteinander, mitunter selbst innerhalb ein und derselben Kirche; die Tatsache der „Ent-Europäisierung“52 des Christentums in Europa wird weitgehend ignoriert (in manchen Städten wie London oder Hamburg bilden Migranten bereits die Mehrheit der ChristInnen vor Ort). Vor allem aber werden die Narrative der MigrantInnen so gut wie gar nicht als theologie- und glaubensgenerative Wirklichkeiten wahrgenommen: Die Stimmen der MigrantInnen werden wenig gehört, sie sind in der pastoralen Realität 51 Vgl. Churches’ Commission for Migrants in Europe (CCME) 2010 (online). 52 Collet 2010.

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weitgehend unerhört und unsichtbar. Gerade hier kommt der Theologie – insbesondere der Praktischen Theologie – eine besondere Aufgabe zu: die MigrantInnen und ihre Erfahrungen zur Sprache und in die Theologie und kirchliche Realität (ein) zu bringen und sich für eine angemessene Repräsentanz in Kirche und Gesellschaft einzusetzen.53 Ehe sich die Kirchen also daran machen, ihre Beiträge zum MigrationsNarrativ in die Gesellschaft einzubringen, wäre es notwendig, dass sie sich ihres Migrations-Erbes in Theorie und Praxis erinnern. Es wäre schon viel gewonnen, wenn innerhalb der Kirche die Narrative der biblischen Tradition zu Migration, Diversität und Zusammenleben etabliert wären und sich mit entsprechender Praxis verbinden. Dazu können und müssen auch die theologischen Disziplinen einen Beitrag leisten, der allerdings im deutschsprachigen Raum bisher etwas unterbelichtet ist. Diese Randstellung entspricht jedoch keinesfalls der fundamentalen Bedeutung, die Migration für Entstehung und Selbstverständnis des christlichen Glaubens und der Kirchen hat. Ohne hier auf Details eingehen zu können, lässt sich sagen: Migration ist der locus theologicus – also der glaubens- und theologiegenerative Ort par excellence;54 vor allem die Texte des Alten Testaments, aber auch viele des Neuen Testaments, sind in Migrationskontexten – Exil, Flucht, Wanderschaft, Diaspora, Fremd sein – entstanden.55 Biblische Theologie ist in vielen Bereichen (v. a. des Alten Testaments) eine Theologie der Migration, die diese Erfahrungen verdichtet und entfaltet.56 Migration bildet einen wesentlichen Erfahrungsraum, der das ethische und politische, spirituelle und theologische Selbstverständnis von Juden und Christen – wenn auch in verschiedener Weise interpretiert – von Anfang an prägt. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wird immer wieder im Kontext von Migration entdeckt – so, als würden Migration und die damit verbundenen Erfahrungen von Fremdheit, Nicht-Zugehörigkeit, Heimatlosigkeit, Verletzbarkeit – in besonderer Weise für die Wahrnehmung und Erkenntnis Gottes sensibilisieren.57 Migration wird in den biblischen Erzählungen dabei keinesfalls theologisch überhöht. Im Zentrum stehen vielmehr „Wohl und Würde“ des Migranten sowie sein Recht auf einen „Zielort, eine Bestimmung, die nicht sein ,Heimatland‘ sein muss, die ihn aber zu sich kommen lässt.“58 Daher ist Migration im Alten Testament untrennbar mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit verbunden. Für Israel ist 53 Darauf kann ich her nicht näher eingehen, habe dies aber andernorts bereits thematisiert: z. B. Polak 2015 (i. E.*); Polak 2013. 54 Dazu Polak / Jäggle 2012. 55 Vgl. Lohfink 1987. 56 Vgl. Dehn / Hock 2005. 57 Das arbeitet z. B. Dianne Bergant heraus am Beispiel des Buches Ruth: Bergant 2003. 58 Dehn / Hock 2005, S. 112.

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religiöses Heil nicht möglich ohne Gerechtigkeit in der irdischen Stadt. Keine vertikale Dimension ohne horizontale Gerechtigkeit (…) Ein irdisches Jerusalem muss vollendet werden (…) damit das himmlische Jerusalem mit göttlicher Gegenwart erfüllt wird. Es gibt keinen anderen Weg zum Heil als den über die Wohnung des Menschen.59

Migranten-Identität ist konstitutiv für Israel und sie wird immer wieder erinnert (Dtn 26,5–9). Sie führt zur Entwicklung von Gastfreundschaft als heiligem Gebot und einer differenzierten Gesetzgebung für Fremde. Diese findet ihren Höhepunkt im Gebot, den Fremden zu lieben wie sich selbst. So hat das im Alten Testament singuläre Gebot der Nächstenliebe zwei Gestalten. In Lev 19,18 bezieht sie sich auf den Nächsten, in Lev 19,34 auf den Fremden: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei dir aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ Migrationserfahrung führt schließlich auch zu der Erkenntnis, dass jeder Mensch, unabhängig von Ethnie, Farbe, Geschlecht, Religion das Ebenbild Gottes ist und daher alle Menschen von gleicher Würde sind. Auch das Neue Testament ist von Migrationserfahrung geprägt. Jesus ist als Wanderprediger in Galiläa unterwegs, sein Leben beginnt mit der Flucht nach Ägypten und ist von Heimatlosigkeit geprägt. Diese Heimatlosigkeit wird auch für seine Jünger zur Verpflichtung, damit sie das Reich Gottes verkünden können. Das Selbstverständnis als „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) gehört zum Selbstverständnis der ersten Christen. Jungen Christengemeinden wurden „Anhänger des Weges“ (Apg 9,2) „die den Weg des Friedens“ (Lk 1,79) und „den Weg der Wahrheit“ (2 Petr 2,2) gehen genannt. Die Verantwortung für den Fremden wird zum ethischen Gebot und darin zum spirituellen Begegnungsort mit Christus selbst (Mt 25). Das missionarische Selbstverständnis des Christentums hängt ebenso wie seine Verbreitung untrennbar mit Migrationserfahrungen zusammen. Diese wurden im Sinne der Verwirklichung des universalen Sendungsauftrages der Kirche gedeutet, sind also locus theologicus für christliche Missionstheologie. Bis in die Patristik hinein kennt die junge Kirche eine Spiritualität der Migration:60 Sie versteht sich als universale Kirche, die immer nur provisorisch inkarniert in eine pilgernde Kirche eingebettet ist und darin ein Zeichen der Hoffnung darstellt. Sie ist bereit zur Aufnahme unterschiedlichster Menschen und Völker in deren Vielfalt und ist bei allen Differenzen gemeinschaftsbildend. Diese Herkunft aus einer „Migranten-Religion“ und die damit verbundenen Narrative wurden freilich im Zuge der Sesshaftwerdung und Machtakkumula59 Babylonischer Talmud. Traktat Makkoth 10a, zit. nach L¦vinas 1996, S. 57. (Auslassungen R. P.). 60 Lussi 2008, S. 557, zitiert die brasilianische Theologin Analita Candaten.

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tion vergessen – ja, die Kirchen und ihre Gläubigen haben dieses Erbe bisweilen sogar verraten und gegenteilig gehandelt: Der christliche Antijudaismus über Jahrhunderte gibt dafür ebenso Zeugnis wie die Tatsache, dass die Kirche selbst Flüchtlinge – „Ketzer“, „Häretiker“ – „erzeugt“, verfolgt und vertrieben hat. Auf die Wiederentdeckung des Themas und seiner theologischen Relevanz kann ich hier nicht näher eingehen. Jedenfalls hat sich in der katholischen Kirche – v. a. in Lateinamerika – im vergangenen Jahrhundert wieder eine Theologie entwickelt, die Migration nicht mehr unter einer pauperistischen Perspektive betrachtet („Wir müssen den armen MigrantInnen helfen“), sondern die MigrantInnen selbst und ihre Lebens- und Glaubenserfahrungen zum Ausgangsort des Theologisierens macht. Migration ist dabei eine „Quelle der Inspiration und der theologischen Arbeit“ – und nicht mehr nur „Gelegenheit für Nächstenliebe und Mission“.61 Sie wird zum locus theologicus für die Frage nach der Gerechtigkeit: „Fremde willkommen zu heißen ist nicht nur eine Option der Nächstenliebe, sondern sowohl für die Kirche als auch für die Gesellschaft eine Frage der Gerechtigkeit.“62 Migration ist deshalb auch unabdingbar für die Gestalt, die innere Struktur der Gemeinschaft und die Lebensdynamik der Kirche. Daher ist es nicht die Gemeinde bzw. Pfarre, die Migranten aufnimmt. Es verhält sich umgekehrt: „Die Aufnahme des Migranten, des Reisenden, des Pilgers auf ihren Straßen macht die Pfarrei erst zu einer solchen.“63 Wenn die Kirche also migrationsblind ist und ihren migrantischen Glaubensbrüdern und -schwestern nicht einmal im Inneren Teilhabe ermöglicht, ist das ein spirituelles Alarmsignal. Migration ist kein kontingentes Problem der Kirche, das es intern und extern sozial und politisch zu lösen gilt. Sie gehört zur inneren Dynamik der Kirche selbst. Die Aufnahme von Migranten ist nicht bloß ein gutes Werk der Kirche, sondern gehört zu ihrem Selbstvollzug. Erga migrantes formuliert dies so: Die Migrationen bieten den einzelnen Ortskirchen die Gelegenheit, ihre Katholizität zu überprüfen, die nicht nur darin besteht, verschiedene Volksgruppen aufzunehmen, sondern vor allem darin, unter diesen ethnischen Gruppen eine Gemeinschaft herzustellen. Der ethnische und kulturelle Pluralismus in der Kirche stellt keine Situation dar, die geduldet werden muss, weil sie vorübergehend ist, sondern eine ihr eigene strukturelle Dimension. Die Einheit der Kirche ist nicht durch den gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame Sprache gegeben, sondern vielmehr durch den Pfingstgeist, der Menschen aus unterschiedlichen Nationen und verschiedener Sprache zu

61 Ebd., S. 551. 62 Tomasi 2008, S. 532. 63 Lussi 2008, S. 552.

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einem einzigen Volk zusammenfasst und so allen den Glauben an denselben Herrn verleiht und aufruft zur selben Hoffnung.64

6.

Biblische Erinnerung

Abschließend möchte ich in aller gebotenen Kürze drei Narrative in Erinnerung rufen, die Kirche und Theologie im Kontext meiner Fragestellung zur Aufbereitung zur Verfügung stünden – allerdings einer kritischen Reformulierung im Kontext der Kritik an „Großen Erzählungen“ und einer Übersetzung in säkulare Denk- und Praxiswelten bedürfen.65

6.1.

Der Turmbau zu Babel

Wie bereits erwähnt, hat diese Erzählung schon im Frühmittelalter zu einer Hermeneutik der vielsprachigen und multikulturellen Situation gedient. Erzählt wird in Gen 11, dass Gott nach dem Versuch der Menschen, einen himmelhohen Turm zu bauen, „die Sprache aller Welt verwirrt und die Menschen über die ganze Erde zerstreut hat“ (Gen 11, 9). Muss man dies als Strafe deuten? Der Text tut dies nicht. Der amerikanische Exeget und Migrationstheologe Ched Myers liest die Geschichte anders.66 Er interpretiert sie als Beschreibung eines Pluralisierungsprozesses, in dem Diversität und Differenz als Ausgangspunkt und Normalität menschlichen Zusammenlebens anerkannt werden und sogar zum Schutz vor der Versuchung dienen, Uniformität, Homogenität oder gar totalitäre Systeme zu erschaffen. Gott macht es gleichsam den Menschen schwerer, aus eigener Kraft eine totalitäre Wirklichkeit zu schaffen, die alle gleichschaltet und der alle zu dienen haben.67 Die biblischen Verfasser bringen demnach die Mehrdeutigkeit von Diversität zur Sprache: Zerrissenheit, Konflikte, Gewalt, Unrecht und Ungerechtigkeit, die Folge der Pluralität sein können; aber eben

64 Erga migrantes 103, siehe Päpstlicher Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs 2004 (online). 65 Zu all diesen Narrativen liegen bereits zahlreiche Forschungsarbeiten in den Bibelwissenschaften aller Konfessionen vor. Allerdings stellt sich doch die Frage, warum diese in Kirche und Pastoral, erst recht in der Gesellschaft rezipiert werden. Meine Vermutung: Diese oft in wissenschaftlichen Spezialdiskursen präsenten Forschungsarbeiten werden zu wenig im Horizont zeitgenössischer Problemlagen verortet und verstehen letztere nicht als loci theologici auch für die exegetische Arbeit. Dazu kommt die mangelnde innertheologische Kooperation der verschiedenen Disziplinen. 66 Myers 2012, S. 17–36. 67 Zu dieser Auslegung vgl. ebd.

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auch ein Schutz vor Vereinheitlichung und Ausdruck von schöpferischer Vielfalt.

6.2.

Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit

Der Begriff „Reich“ ist historisch schwer belastet, nicht zuletzt durch den Nationalsozialismus. Dennoch ist dieses Bild Herzstück der biblischen Vision vom Zusammenleben der Menschheit in Gottesgemeinschaft. Es beschreibt ein Zusammenleben von Menschen unter der Herrschaft Gottes. Wie dies aussieht, erzählt die Bibel in zahlreichen Bildern und Gleichnissen. „Das Reich Gottes ist kein Reich der Individuen, sondern (…) Begründung und Beginn neuen Zusammenlebens. Eine neue Individualität, die nicht sofort eine neue Sozialität initiierte, ist biblisch undenkbar.“68 So gibt es im Alten Testament die Herrschaft Gottes nicht ohne eine konkret beschriebene Sozialordnung, deren zentrales Merkmal Gerechtigkeit ist. Diese Gerechtigkeit erweist sich in spezifischer Weise im Umgang mit jenen, die in einer Gesellschaft am Rand stehen und vom Ausschluss bedroht sind: mit den Armen, den „Witwen, Waisen und Fremden“. Daran bemisst sich die Qualität jeder Gemeinschaft und Gesellschaft, die sich auf das Reich Gottes beruft. Das Reich Gottes, wie es im Alten Testament geschildert wird, ist demnach ein Reich, das sich durch Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Güte und Erbarmen, Teilhabe und Gleichheit sowie eine große Skepsis gegenüber allen Formen absoluter und totaler Herrschaft beschreiben lässt. Jüdische und christliche Gemeinden (qahal/ekklesia) lassen sich so als Erprobungsräume und Realutopien der Gottesherrschaft verstehen, als „Reich Gottes im Werden“.69 Dieses Werden wird als Prozess verstanden. Vollendet wird es erst am Ende der Zeit durch Gott selbst. Im Laufe der Zeit verkündeten die Propheten, dass die Gerechtigkeit Gottes allen Völkern zugesagt ist. Wie dies geschieht, beschreiben die Prophetenbücher und auch die Psalmen vor allem im Bild der Völkerwallfahrt (z. B. Jes 2,2; Jes 60,4–9; Mich 4,1). Die Völker kommen aus freien Stücken zu Jahwe, müssen ihre Identität nicht aufgeben und preisen ihn als König: „Es kommt die Zeit, alle Nationen und Sprachen zu versammeln, dass sie kommen und meine Herrlichkeit sehen.“ (Jes 66,18). Jesus von Nazaret steht ganz in dieser Tradition. Im Zentrum seines Lebens steht die Ankündigung dieses Reiches Gottes: „Erfüllt ist die Zeit, und nahegekommen ist das Reich Gottes. (Deshalb) kehrt um und glaubt an die frohe Botschaft!“ (Mk 1,15) „Kein 68 Kraus 1975, S. 20. (Auslassung R. P. / M. J.). 69 Hoffmann / Pschierer 2009. – Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sich das Reich Gottes auf diese Gemeinden – oder die Kirche – beschränkt oder diese gar ident mit ihm sind. Vielmehr haben Judentum und Christentum den Auftrag, auf je verschiedene Weise dazu beizutragen, dass Gott sein Reich in der Welt wirklich werden lassen kann.

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anderes Thema treibt Jesus von Nazaret so um wie die Rede von der basilieia tou theou, die Rede von der Herrschaft oder dem Reich Gottes.“70 Dass sich dieses „Umhergetrieben Sein“ Jesu ganz konkret in der Existenz eines Wanderpredigers – eines Migranten – verwirklicht, zeigt, wie bedeutsam Migration auch für das Werden und Wirken des Reiches Gottes ist. Jesu Rede von der Gottesherrschaft kommt ohne die klassischen Insignien und Konnotationen der Königsideologie aus (Thron, Thronrat).71 Er buchstabiert sie in seinen Gleichnissen in den Lebensalltag der einfachen und armen Leute hinein.72 Gottes Macht zeigt sich anders als in klassischer Herrschaftsmacht. Die Gegenwart kann zum Ort der Erfahrung des Reiches Gottes werden.73 Das Reich Gottes zeigt sich in den Heilungen und Exorzismen, wo Menschen von jenen Krankheiten und Besessenheiten befreit werden, die sie aus dem Leben und der menschlichen Gemeinschaft ausschließen. Krankheit und Dämonen werden dabei als soziale Phänomene erkennbar, deren Heilung und Vertreibung damit zugleich die Störungen von Gesellschaft und Politik entschleiert. Es wird konkret in den Mählern Jesu mit Zöllnern und Sündern; in der bedingungslosen Zusage der Vergebung der Sünden hier und jetzt (Mk 2,5), in der Seligpreisung der Armen (Mt 5,3par). In all diesen Handlungen wird das Reich Gottes erfahrbar und erfüllen sich jetzt die eschatologischen Verheißungen. Auffällig ist dabei die „konsequente Entsakralisierung der basileia“:74 Gottesherrschaft findet im konkreten Alltag statt. Sie kann in profanen Ereignissen wie dem Umgang mit Geld, Lohn und Schulden wirklich werden. Das Reich Gottes beschreibt eine konkrete persönlich-existentielle und zugleich gesellschaftlich-politische Wirklichkeit, die sich auf vielfältige Weise zeigt:75 – Das Reich Gottes konkretisiert sich zuerst als Fest einer offenen Tischgemeinschaft, in der alle gesellschaftlichen Regeln, Rituale, Konventionen relativiert sind, alle sozialen Ungleichheiten beseitigt sind und Menschen einander auf Augenhöhe begegnen. Niemand gilt hier als Fremder. – Das Reich Gottes hat ökonomische Aspekte: Es ist vor allem den Armen und Fremden zugesagt. Es verändert die Einstellung zu materiellem Besitz, zeigt sich in einer anspruchsarmen Lebensweise, in der Bereitschaft zur Solidarität und in einer Gerechtigkeit, die sich am Lebensbedarf und nicht an der Leistung der Menschen orientiert (vgl. das Weinberggleichnis Mt 20,1–16). Zum

70 71 72 73 74 75

Vanoni / Heininger 2002, S. 63. Ebd., S. 124. Ebd. Vgl. Polak / Jäggle 2012, S. 550. Vgl. Vanoni / Heininger 2002, S. 95f. Vgl. zum Folgenden Eigenmann 1998, S. 33–94.

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Reich Gottes gehört eine Ökonomie der Gerechtigkeit, die im Dienste des Lebens steht.76 – Das Reich Gottes hat politische Aspekte: Es ist den sozial Exkludierten und gesellschaftlich wenig Anerkannten zugesagt, erneut: den Fremden. Es dreht die Ordnungen der Macht um: Es gibt keine vertikale Diskriminierung (wer oben ist, hat die Macht) und keine laterale Ausgrenzung (wer anders ist, ist draußen). Familiäre, ethnische, nationale Grenzen werden überschritten zugunsten der Verbundenheit aller Menschen untereinander und mit Gott. Erwachsene orientieren sich an Kindern, Frauen werden geachtet, Kranke geheilt.77 – Das Reich Gottes hat religiös-spirituelle Aspekte: Es verlangt die Metanoia der Herzen zu Gott: Die Wirklichkeit anders wahrnehmen, denken, gestalten zu lernen. Menschen und Gesellschaften werden von Dämonen – Besessenheiten, die das hindern – geheilt. Die Unmittelbarkeit der Kinder ist das Maß, die Orientierung an der Gottes- und Menschenliebe steht im Mittelpunkt. Zugang eröffnet nicht das Bekenntnis, sondern die Praxis.78 Migration birgt die große Chance, die Botschaft vom Reich Gottes wieder- und neu zu entdecken. MigrantInnen können BotschafterInnen des Reiches Gottes sein. Die Einheimischen brauchen sie, um sich an diese zugesagte Realität wieder zu erinnern. Das Zusammenleben mit ihnen ist ein Ort, an dem Gottes Reich konkret werden kann: als Realsymbol. Aus einer theologischen Perspektive ist der springende Punkt: Zusammenleben in Verschiedenheit ist als Lebensmöglichkeit von Gott her zugesagt.

6.3.

Migration als Segen und Fluch

Die biblischen Texte haben eine durchaus differenzierte Sicht auf Migrationsphänomene. Ihr Zusammenhang mit Unrecht, Ungerechtigkeit, „Sünde“ ist ebenso bewusst79 wie ihr Potential, zum Ort spiritueller Erfahrung und Erkenntnis Gottes zu werden. Migration gilt als Fluch und als Segen. Aus der Fülle der möglichen Sichtweisen auf Migrationsphänomene wähle ich ein zeitgenössisch brisantes Beispiel: das Gesetz zur Errichtung der Asylstädte (Deuteronomium 4,41–43; 19,1–10). Diese sind gekennzeichnet durch Aufnahmebereitschaft und Gastfreundschaft gegenüber jenen, die durch unverschuldetes und 76 77 78 79

Ebd., S. 41–55. Ebd., S. 56–72. Ebd., S. 2–85. Die Vertreibung ins Exil nach Babylon wird im Dtn als Strafe für die Sünden des Volkes Israel interpretiert; ebenso die Vertreibung aus dem Paradies.

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unbeabsichtigtes Töten mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Man „wählt sie weder aus den kleinen Flecken (…) noch aus den großen Metropolen. Man wählte sie aus den mittleren Städten aus; man gründet sie nur dort, wo Wasser ist; und wenn dort keins ist, bringt man es hin; man gründet sie nur dort, wo Marktplätze sind.“80 Sie sollen also weder in Containern noch in Auffanglagern eingeschlossen oder weggesperrt werden, sondern benötigen ausreichenden Lebensunterhalt. Ob und wie diese biblischen Narrative freilich wirksam werden, hängt eng damit zusammen, mit welcher sozialen Praxis der Kirchen sie sich verbinden und in welchem Verwendungskontext sie aufgegriffen werden. Sie bergen jedenfalls für die Kirchen ein kritisches Potential in Bezug auf meine eingangs gestellte Frage. Nur wenn es in der Verbindung von Narrativ, Diskurs und sozialer Praxis und deren Reflexion gelingt, Sinn und Anliegen dieser Narrative in der kirchlichen Praxis freizulegen, können sie einen Beitrag zur Suche nach Erzählungen des Zusammenlebens im Kontext einer Migrationsgesellschaft leisten. Die Bibel nimmt Migration als Lernort der Gerechtigkeit und darin als Lernort wahr, die Frage nach Gott zu stellen und ihn darin wahrnehmen zu lernen. Wäre dies auch ein Beitrag zur Suche nach Migrations-Narrativen?

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Rüdiger Lohlker

Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos

Die Erforschung von Videos als Ausdrucksform des Religiösen ist ein bisher kaum entwickeltes Feld. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf das Subphänomen der (neo-)fundamentalistischen Videos. Drei Vorbemerkungen sind notwendig: 1) Zu den Videos: Gerade in den Zeiten des Web 2.01 sind Videodateien zu einem wichtigen Medium des persönlichen Ausdrucks geworden, auch in seinem religiösen Aspekt. Wenn wir zudem das Crossover der verschieden Medien des Internets, insbesondere in Form der mobilen Plattformen wie Mobiltelefone oder Tablets, bedenken, können wir diese Beobachtung zuspitzen: In Form von Geräten der Mobilkommunikation2 wird die u. a. in Videos verkörperte informatisierte Religiosität täglich, stündlich, ja sekündlich präsent. Damit sind Videos Teil der zeitgenössischen medialen Lebenswelt, deren Bedeutung häufig unterschätzt wird.3 Die so veröffentlichten Videos sind nun nicht unbedingt qualitativ hochwertige Produkte. Sie sind sogar eher von einer – manchmal bestürzenden – Banalität. Wenn die Medieninhalte für die enorme Popularität nicht bedeutsam erscheinen, ist es sinnvoll die Medienpraxis zu betrachten. Hier zeigt sich, dass es zentral für Onlinevideos ist, dass sie in Zirkulation geraten und damit von jedem Nutzer, von jeder Nutzerin angeeignet, verbreitet, auch modifiziert werden können.4 Dies zeigt, dass solche Videos sich als digitale Meme ansprechen lassen.5 Für einen allgemeinen Überblick siehe Han 2011. Für deren Bedeutung siehe Castells et al. 2006; Rich / Donner 2009; Ling 2012; Katz 2012. Vgl. die Überlegungen in Lohlker 2012. Marek 2013. Damit sind sie Ausdruck des religiösen Selbstmanagements der UserInnen, um Reicherts Begriff zu übernehmen (Reichert 2008), das sich an standardisierten Vorgaben orientiert und damit normative Kraft entfaltet. 5 Siehe dazu den Überblick in Shifman 2014. Shifman sieht Meme als „the very essence of the so-called Web 2.0 era“ (ebd., S. 15). Der Begriff hat auch in der Informatik großes Interesse gefunden (z. B. für memetische Algorithmen Neri / Cotta / Moscato 2012), so dass er damit für 1 2 3 4

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2) Zum Begriff Fundamentalismus: Der Begriff ist sicherlich problematisch; besonders, da er in den Massenmedien lange Zeit seines analytischen Gehalts beraubt wurde. Die Diskussion um diesen Begriff hat sich in den Jahren 1977 bis 1980 verstärkt entwickelt,6 aber zu keiner eindeutigen Klärung geführt. Trotzdem scheint es in komparativer Sicht rechtfertigbar, ihn weiterhin zu benutzen,7 auch wenn er weiter reflektiert werden sollte (s. u.). Im Anschluss an Schäfer wird hier ein formaler (Neo-)Fundamentalismusbegriff zugrunde gelegt, der als fundamentalistisch solche Bewegungen definiert, die (1) religiöse Überzeugungen (irgendwelche Glaubensinhalte) absolut setzen und (2) daraus eine gesellschaftliche Dominanzstrategie ableiten, die das private und öffentliche Leben dem Diktat ihrer religiösen Überzeugungen zu unterwerfen sucht. Der (3) Kontext für eine solche Strategie ist die grundlegende Politisierung aller Lebensverhältnisse in Modernisierungsprozessen.8

Als Elemente der genannten religiösen Überzeugungen lassen sich – auch im islamischen Kontext – nennen: a) Ein Gottesbegriff, der sich auf dessen disziplinierenden Charakter konzentriert, verbunden mit einem ständigen Bezug auf die Unterscheidung zwischen gut und böse/verboten und erlaubt, die sich aus einer strikt durchgehaltenen Dualität von Gott und Satan speist; b) eine dezidierte Verteidigung, die grundlegenden Schriften als literalistisch und unfehlbar zu verstehen (s. o. Punkt 1); c) eine Hierarchisierung, die die eigene Religiosität als höchste und nächste zu Gott begreift (vgl. o. Punkt 2); d) Intoleranz gegenüber anderen Religionen bzw. Varianten der eigenen Religiosität.9 Um die jetzigen fundamentalistischen Bewegungen von den vorherigen Formen zu unterscheiden, die z. B. im Rahmen des Fundamentalism Projects untersucht wurden, ist es sinnvoller von Neo-Fundamentalismus10 in Form standardisierter bzw. formatisierter Religiosität11 zu sprechen, da inzwischen doch qualitative Unterschiede zu den im Rahmen des Fundamentalism Project untersuchten Phänomenen festzustellen sind. Ein allgemeiner (Neo-)Fundamentalismusbegriff ermöglicht es zudem, die immer wieder beschworene islamische Exzeptionalität zu vermeiden, in islamwissenschaftlicher Perspektive kein unwesentlicher Aspekt.

6 7 8 9 10 11

den Bereich der durch Computer (im weitesten Sinne) vermittelten Kommunikation geeignet erscheint. Siehe beispielweise Kienzler 1996, S. 9f. So ja engagiert z. B. Riesebrodt 2000 und 2004. Schäfer 2008, S. 18. Moaddel / Karabenick 2013. Im Anschluss an Roy 2004. So Roy 2010.

Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos

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3) Performativität des Religiösen:12 Nun könnte man angesichts der turns, die insbesondere die Kulturwissenschaften und damit auch verbundene Disziplinen wie die Religionswissenschaft heimsuchen, eine gewisse Ermüdung bzw. ein Schwindelgefühl empfinden. Beim performative turn vermag ich in der Anbindung an Austins Verständnis der performativen Sprechakte als Äußerungen, durch die Zustände in der realen Welt geändert werden,13 einen durchaus fruchtbaren Ansatz zu sehen, die auch für die Analyse zeitgenössischer Religiosität in Europa interessante Früchte tragen wird. Ich spreche hier allerdings nicht von einer Zentrierung auf ein Subjekt, vielmehr von Netzwerken von Akteuren bzw. Aktanten.14 Die religiöse Ansprache bzw. Predigt ist geradezu ein ideales Beispiel für diese performativen Sprechakte. Islamisch gesprochen, ändern sich die Gläubigen in ihrem Selbst durch das Aussprechen der shahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses. Ich ändere andere durch die Ansprache und Aufforderung zur Umkehr bzw. zur Bekehrung. Auch die moralische Erbauungsrede ist ein in hohem Grade performativer Akt. Angesichts der schon seit langer Zeit ausgearbeiteten Predigtlehren in verschiedenen Religionen, auch der islamischen, können wir konstatieren, dass im religiösen Kontext es eigentlich keines performative turn bedürfte. Allerdings gibt es einen Wandel religiösen Handelns hin zu einer theatralen Verfasstheit:15 Die Leiter_innen religiöser Veranstaltungen agieren heute vor und für ein Publikum, das sich als Teil der Aufführungen und Anrufungen versteht, in denen sich die Grenze zwischen Bewirkendem und Bewirktem vermischt. Diese Inszenierungen benötigen dafür eine eigene Ästhetik, des Raums, der Bewegungen und des Hörens, die das religiöse Event gezielt zu dem multimedialen Ereignis formen, das es immer schon war. Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie konstatieren eine Verschiebung vom Textcharakter zum Ereignischarakter von Kultur und Religion.16

Dies lässt sich mit Modifikationen mit Ergebnissen der rezenten Internetforschung verbinden. So schreibt Ramûn Reichert: Die performativen Praktiken auf Sozialen Netzwerkseiten und Internetportalen sind hochgradig von Produktions- und Rezeptionskontingenz geprägt und formieren einen

12 Anmerkung: In der sonst recht verspätet auf methodische Entwicklungen reagierenden Islamwissenschaft ist der performative turn recht schnell angekommen und hat bereits zur Gründung einer eigenen Zeitschrift geführt: Performing Islam. 13 Austin 1965. 14 In Anlehnung an Bruno Latour der ja auch technischen Objekten Handlungsfähigkeit zuweist (Latour 2005). 15 Berger u. a. 2013, S. 13. 16 Wienold 2014, S. 175.

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diffusen Aggregatszustand kultureller Deutungsspielräume innerhalb dynamischer Bedeutungs- und Ausverhandlungsprozesse.17

Eine Modifikation scheint hinsichtlich der Produzentenseite angebracht. Im Gegensatz zu anderen Internetpraxen ist in diesem Bereich religiöser Praxis eine Dominanz der Prediger festzuhalten, die sich aus der o. g. Struktur (neo-)fundamentalistischen Denkens und Handelns ergibt. Ich möchte nun im Folgenden anhand einiger Beispiele, zeitgenössische Videos mit Predigten bzw. Ansprachen betrachten. Ein weiteres Charakteristikum, dies sei voran geschickt, ist die direkte, nicht hoch reflektierte Ansprache der Zusehenden, eine gewissermaßen natürliche Folge des Eventcharakters dieser Akte. Dies ist nun keine neue Entwicklung. Bereits der Urvater des deutschsprachigen Pietismus Philipp Jakob Spener hat ja in seiner Pia desideria die Unterscheidung zur traditionellen lutherischen Predigtlehre in ihrer kunstvollen Ausgestaltung18 1675 klar markiert: „Die Kanzel ist nicht derjenige Ort, da man seine Kunst mit Pracht sehen lassen, sondern das Wort des Herrn einfältig, aber gewaltig predigen, und dieses das göttliche Mittel sein sollte, die Leute selig zu machen.“19

1.

(Neo-)Salafismus – ein islamisches Beispiel

Der (Neo-)Salafismus ist ein in Europa, aber auch insbesondere in der arabischen Welt populäres Phänomen. Diese sehr heterogene neo-fundamentalistische Strömung hat in den letzten Jahren medial größere Aufmerksamkeit gefunden. Am bekanntesten im deutschsprachigen Raum dürfte die Koranverteilungsaktion „Lies!“ im Jahre 2012 sein, die auch in Österreich stattfand (und weiterhin stattfindet20).21 Die starke Benutzung der Medien des Internet wie auch des Satellitenfernsehens (s. u.) ist ein Charakteristikum dieser Strömung. Schauen wir auf eine deutschsprachige22 salafistische Plattform,23 werden wir von einem Video als Aufmacher begrüßt. Im Moment der Niederschrift des 17 18 19 20

Reichert 2013, S. 79. Reiter 2010. Spener 1841, S. 100. Aus rechtlichen Gründen jetzt in erster Linie in Form der Verteilung durch Einzelpersonen, nicht durch Büchertische etc. 21 Für die historische Verortung dieser Strömung siehe Lohlker 2014; für einen generellen Überblick s. jetzt die Sammelbände Schneiders 2014, Said / Fouad 2014 und Ceylan / Kiefer 2014. 22 Es gibt auch eine arabischsprachige Unterseite, deren Charakteristika der deutschsprachigen ähneln. 23 diewahrereligion o. J. (online). Das Ranking der Seite auf alexa.com ist nicht nennenswert (Stand 11. 09. 2014).

Performativität des Religiösen: (Neo-)Fundamentalistische Videos

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Beitrags handelt es sich um ein Video, das sich mit der gerade genannten Koranverteilungsaktion beschäftigt (siehe Abb. 1).

Abbildung 1: Startseite von www.diewahrereligion.de

Gehen wir direkt in das dem Eingangsvideo zugeordnete Menü, kommen wir in ein Untermenü, in dem Videos der prominenten Prediger der Gruppe verlinkt sind – und eine Anzahl von Videos sonstiger Prediger (siehe Abb. 2).24 In jeder Kategorie der Internetpräsenz werden etwaige Themen mit Videos beantwortet, die geschickt dem Stand der Technik entsprechend aufbereitet sind. Nehmen wir die Rubrik „Für neue Besucher“: wir sehen eine Reihe von Vorträgen, die mit dem Thema „Das größte Problem des Menschen“ beginnen, weiter gehen über „Die Notwendigkeit des Gesandten“, „Die Wunder des Korans“, „Die Abhängigkeit des Menschen vom Islam“ und enden mit „Tretet gänzlich in die Ergebung ein“ – ein vollendetes Programm zur Konversion. Es gibt Downloadmöglichkeiten in den gängigsten Videoformaten, so dass die Videos ohne Probleme auf mobile Plattformen gespielt werden und über diese weitergeleitet werden können. Sie können natürlich auch über plattformspezifische Share-Funktion (s. u.) weiter gegeben werden. In den verschiedenen Unterteilungen der Internetpräsenz dominieren weiterhin Videos, sei es in kurzer oder ausführlicher Form. Recht vielfältig ist bspw. das Material in der Rubrik „Konversionen“: „Mit 66 nimmt sie den Islam an“, „Vater und Tochter nehmen den Islam an“, „Bärbel und Sandra nehmen den Islam an“ (via Telefon). Der Initiator der Webpräsenz, Ibrahim Abu Nagie ist die visuell eindeutig dominierende Persönlichkeit, die immer wieder gezeigt wird. 24 Alle Videostills entsprechen dem Stand 11. 09. 2014 – wenn nicht anders angegeben.

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Abbildung 2: Das dem Eingangsvideo untergeordnete Submenü mit weiteren Predigten auf www.diewahrereligion.de

Interessant ist, dass rituelle Handlungen wie das Gebet nur in Form von Texten, nicht in Videos erklärt werden. Hier scheint die Sorge um eine Profanierung der Handlung dominant zu sein.25 Betrachten wir die Ansprachen der Prediger selber, erkennen wir einige dominante Züge: eine klare, eher umgangssprachlich orientierte Ausdrucksweise, das Einfügen arabischer Ausdrücke eher allgemeiner Art als Ausweis islamischer Authentizität, die direkte Ansprache des Zusehers bzw. der Zuseherin. Die Aufnahmetechnik ist eher amateurhaft wird aber bewusst eingesetzt; die Weiterverbreitung via Sharing26 oder Embedding27 ist ein technischer Bestandteil dieser Videos. Dadurch können diese Videos immer weiter zirkulieren, werden immer wieder durch Nutzer und Nutzerinnen aufrufbar und dienen damit der ständigen Validierung (s. u.) der eigenen Gläubigkeit – auch ohne Einbindung in eine reale Gemeinschaft.28 Das Event der religiösen Veranstaltung wird durch die Videos wiederholbar, in das tägliche Leben integrierbar. Es wird nicht in elaborierter Form religiös argumentiert. Zentral ist die Form der in Videovorträgen behandelten grundlegenden Glaubensfragen: „Das richtige 25 Auch einige andere allgemeinere Texte sind online zugänglich. 26 Im Sinne einer Verbreitung durch E-Mail. 27 Im Sinne einer Einbettung des Videos in eine andere Internetseite, von der aus es dann wieder verbreitet werden kann. Der entsprechende Code ist zum Kopieren bei den Videos vorhanden. Es handelt sich um ein gängiges Verfahren auf Videoportalen wie YouTube, Vimeo, Dailymotion. 28 Dass diese Art der Rezeption tatsächlich stattfindet, zeigen erste Sichtungen der Zirkulation der hier angesprochenen Videos.

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Verständnis der Anbetung“, „Alles rund ums Fasten“, „Deine Aufgabe als Muslim in Europa“, „Der Zusammenhalt der Gläubigen“, „Der Weg zum Paradies“, „Starkes Einflüstern des Shaytan“, „Kürzt den Schnurrbart und lasst den Bart wachsen“, „Heilung von Depression“, „Fürchte Allah, wo immer du bist“, „Nicht reden, sondern tun“, „Das trügerische Leben“ sind neben den o. g. Konversionen z. B. Themen der Vorträge auf dieser Website. Zentral ist dabei die Abgrenzung der Gemeinschaft von der umgebenden Gesellschaft, ein exklusivistisches Heilsverständnis, ein Dominanzstreben, dass sich in der Orientierung auf die Propagierung des neo-fundamentalistisch konzipierten Islams zeigt, die als erfolgreicher Prozess konstruiert wird, dessen Erfolg durch die Konversionsvideos belegt wird. Auch die transnationale Dimension des Neo-Salafismus wird durch Videos vermittelt. Es gibt immer wieder Videos, die arabische Prediger bei Auftritten in Europa zeigen,29 aber auch europäische neo-salafistische Prediger agieren in der arabischen Welt.30 Es handelt sich im folgenden Screenshot um den Auftritt eines der wichtigsten neueren salafistischen Prediger in Ägypten, Abu Ishaq al-Huwayni (siehe Abb. 3).31 Im arabischen Kontext werden salafistische Predigten naturgemäß anders situiert. Es kann sich um eine normale khutba,32 also eine Ansprache in der Moschee handeln oder um eine anders situierte Ansprache, z. B. bei einem Fest zum Ende des Fastenmonats (siehe Abb. 4).33 Diese Ansprache wird über einen neo-salafistischen Video Channel34 vertrieben und fand vor einem Gebetssaal in Alexandria, einem der Zentren des Neo-Salafismus in Ägypten statt; er zirkuliert auch über eine neo-salafistische Website, die auch Ansprachen anderer Prediger enthält. Zentral für den Neosalafismus arabischer Prägung ist die Präsenz über Satelliten-TV-Sender, die schon seit Jahren für eine große Reichweite dieser reli29 In diesem Fall handelt es sich um einen Auftritt in Deutschland in Berlin: https://www. youtube.com/watch?v=9QgriP9Dh6s (veröffentlicht 2013; mittlerweile nicht mehr erreichbar). 30 So der deutsche neo-salafistische Prediger Pierre Vogel im ägyptischen Alexandria, siehe Vogel 2012a (online), bzw. in Marokko, siehe Vogel 2012b mit offenkundig geringer Resonanz. 31 Für einen kurzen Abriss seiner TV-Präsenz, die auch über das Internet verbreitet wird, siehe Quneis 2012, S. 96ff. Für dieses Video siehe Abu Ishaq al-Huwayni o. J. (online). 32 Siehe dazu als eine Fallstudie Antoun 2014; vgl. Gaffney 1994. 33 Anasalafy.com o. J. (online). 34 Um die Definition der Plattform selber zu zitieren: „Definition: A channel on YouTube is the home page for an account. It shows the account name, the account type, the public videos they’ve uploaded, and any user information they’ve entered. You can customize the background and color scheme of a channel along with controlling some of the information that appears on it. YouTube channels can also display favorite videos from other users, activity streams, comments, subscribers, and other social networking features.“ (About.com o. J.).

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Abbildung 3: Abu Ishaq al-Huwayni

Abbildung 4: Ansprache bei einem Fest zum Ende des Fastenmonats auf einem neo-salafistischen Video Channel

giösen Positionen sorgen.35 Von Regierungsseite wurde selten in diese mediale Praxis eingegriffen, da der Neosalafismus als Gegengewicht gegen Strömungen des politischen Islams, insbesondere in der Form der Muslimbruderschaft, wahrgenommen wurde. Es kann sich auch um einen lehrhaften Auftritt in einer Moschee handeln wie 35 Siehe dazu Al-Najjar 2012; Galal 2012 und Quneis 2012.

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im Falle vom Muhammad ‘Abd al-Maqsu¯d,36 einem ebenfalls bedeutsamen Prediger, der nach der Machtübernahme durch das Militär in Ägypten im Sommer 2013 seine Aktivitäten zum großen Teil ins Internet verlegt hat, da er sich entschieden gegen das Militär wandte. Oder in einer Fernsehsendung, da die (neo-)salafistischen Prediger – wie erwähnt – in der arabischen Welt wesentlich über religiöse Satellitenfernsehsender agieren, Sendungen, die wiederum über das Internet verbreitet werden. Es zeigt sich deutlich die Verschmelzung verschiedener Kommunikationskanäle. Auch traditionelle Medien werden dadurch in die Medienpraktiken des Web 2.0 integriert. Charakteristisch ist die enorme Zahl von Videos, die von diesen Predigern online zu finden sind und wesentlich höhere Zugriffszahlen als solche im deutschsprachigen Raum haben. In den Videos wird der Habitus eines islamischen Predigers dargestellt, der sich insbesondere in der religiösen Schriftsprache artikuliert und damit vom gängigen Gebrauch der Umgangssprache oder Dialekte abweicht. Es handelt sich um die Darstellung eines gelehrten symbolischen Kapitals, das dominant in den Auftritten von neo-salafistischen Predigern ist (siehe Abb. 5).37

Abbildung 5: Rede von Muhammad ‘Abd al-Maqsud

Handelt es sich um ein rein islamisches Phänomen? Handelt es sich um ein Phänomen, das sich auch in anderen Religionen feststellen lässt? Betrachten wir einige Beispiele aus dem evangelikalen Spektrum.

2.

The Call – ein christliches Beispiel

The Call lässt sich als Massenevangelisationsbewegung charakterisieren mit evangelikal-pfingstlerischen Elementen, die auf Massengebete, Fasten und Konzerte setzt, um insbesondere Jugendliche anzuziehen, die auch als Missionare ausgesandt werden sollen. Wichtig für diese Bewegung sind die Anti-Ab36 ‘Abd al-Maqsu¯d 2008 (online). 37 Ders. 2012 (online).

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treibungsorientierung, die Verdammung von Homosexuellen, auch anti-muslimische Aussagen finden sich. Wir können diese Strömung, deren zentrale Figur Lou Engle ist, ein engagierter Prediger, in den weiteren Kontext von Joel’s Army einordnen, einer in den letzten Jahrzehnten florierenden Strömung, der eine „spirituelle Kriegsführung“ zugeschrieben wird, die von einer klaren gesellschaftlichen Dominanzstrategie getragen wird.38 Es besteht aber auch eine enge Verbindung zur Republikanischen Partei.39 Damit kann diese Strömung als global40 dominanter (Neo-)Fundamentalismus klassifiziert werden.41 Hier liegt die erste wichtige Differenz zur neo-salafistischen Internetpräsenz, die außerhalb der arabischen Welt aus einer Position der Marginalität agiert. Ähnlichkeiten lassen sich im performativen Aspekt finden, der auch für diese Strömungen besondere Bedeutung hat als Form der Inkorporierung und des Ausagierens der religiösen Aussage.42 Suurmond spricht hier in Anlehnung an Huizinga vom Spiel von Wort und Geist.43 Um Lou Engle und The Call spannt sich ein Netz von Internetpräsenzen.44 Die Homepage von The Call45 enthält eine kleine Anzahl von Videos. In einem Video wird The Call in eine Reihe von Ereignissen wie z. B. dem Sturm auf die Bastille, der Amerikanische Revolution oder der 1968er in den USA Bewegung gestellt, die versucht wird, visuell zu beerben. Letztere wird dabei als negatives Spiegelbild der evangelikalen Erweckung fantasiert. Beworben wird mit einem weiteren Video eine summer school; ein drittes Video gibt eine Selbstdarstellung, in der Lou Engle im Zentrum steht (siehe Abb. 6). In den Videos steht das Gemeinschaftserlebnis der Teilnehmenden im Mittelpunkt, das kombiniert wird mit der zentralen charismatischen Gestalt von Lou Engle. Es handelt sich also eindeutig um die (Wieder-)Erfahrung von Events bzw. um die Werbung dafür. Es gibt Verlinkungen zu The Call International mit einem besonderen Fokus auf Brasilien mit einer Filialgründung.46 Charakteristisch ist auch die kom38 Sanchez 2008 (online). Siehe dazu auch Engle 2010 (online). 39 Conason 2010 (online). 40 Für einen Abriss der entsprechenden missionarischen Internetpräsenzen am Beispiel Indien siehe Thomas 2008, S. 140ff. 41 Als Überblick über die entsprechenden theologischen Grundlagen siehe z. B. Herriot 2009, S. 211ff. 42 Für eine Zusammenfassung dieses Prozesses siehe Colemann 2003, S. 118. 43 Siehe Suurmond 1994 und Poloma 1998. 44 Die persönliche Internetpräsenz: URL: http://www.louengle.com befindet sich z. Z. In Überarbeitung. 45 The Call o. J. (online). 46 Die Likes der brasilianischen Filialgründung sind nicht beeindruckend (Facebook: 480). Auch für die Homepage von The Call ist das Ranking bei alexa.com alles andere als beeindruckend (Stand 11. 09. 2014).

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Abbildung 6: Video von „The Call“ und Lou Engle auf der Internetseite www.thecall.com

merzielle Verwertung von Predigten, Texten etc., für die es einen eigenen Shop gibt. Auf Facebook findet sich The Official Lou Engle Site47 mit einigen Videos, ähnlich denen von der The Call site. Eine offenkundig inoffizielle Seite ist seit längerer Zeit inaktiv.48 Zum Internetkomplex um Lou Engle gehört auch das Justice House of Prayers49 mit Filialen in Washington, Boston und New York. Die Bostoner Seite zeigt eine Vielzahl von Videos, die auf gemeinschaftliches Beten und öffentliche Aktion fokussieren (siehe Abb. 7). Charakteristisch für diese – wie auch andere Videos in diesem Kontext – ist die pop-musikalische Untermalung.50 Ein weiterer Bestandteil des Netzes ist das International House of Prayer in Kansas City, das zu einem großen Teil kostenpflichtige Ressourcen bietet. Dazu kommt noch das Ekballo Project, das eher personalisierte Videos anbietet.51 Die Videos aus dem Lou Engle-Netzwerk52 zeichnen sich durch eine Betonung des Gemeinschafts-Events aus und bieten damit eine Validierung der eigenen, individuellen Religiosität durch die Anbindung an diese Gemeinschaft (s. u.) und eine Orientierung am charismatischen Anführer. Es handelt sich nicht nur um ein Phänomen islamischer oder christlicher Art, 47 48 49 50 51 52

The Official Lou Engle Site o. J. (online) mit 3.351 Likes. Engle o. J. (online). Justice House of Prayers o. J. (online). Via Justice House of Prayer Boston o. J. (online). Ekballo Project o. J. (online). Es können aus Raumgründen hier nicht die restlichen verbundenen Internetpräsenzen aufgeführt werden, die im Hinblick auf Videos recht ähnlich den genannten sind.

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Abbildung 7: Video von gemeinschaftlichem Beten auf der Bostoner Seite von Justice House of Prayers

auch z. B. im indischen Kontext können wir Ähnliches finden. Ein Beispiel aus einer Kampagne der Vishva Hindu Parisad, kurz VHP, mag dies illustrieren. ˙

3.

Exkurs: Hindutva

Die VHP ist Teil der breiteren hindu-nationalistischen Strömung, die unter dem Namen Hindutva zusammengefasst wird.53 Eines der Ziele ist die Errichtung eines reinen Hindu-Staates, ein gut definierter Ausdruck einer Absolutsetzung einer Religion – in einer spezifischen Definition. Die Rede in diesem Video (s. Abb. 8)54 wird von einem VHP-Aktivisten in einem sehr aufpeitschenden Stil gehalten und richtet sich insbesondere gegen Muslime und gegen „Verräter“ jeglicher Art. Für uns interessant ist, dass die Performanz der an der Veranstaltung teilnehmenden Personen gezielt geleitet wird zu einer Botschaft wie der der geballten, „eisernen Faust“, die die Teilnehmenden in einer Gemeinschaft eint. Auch hier schreibt sich das Video in eine (neo-)fundamentalistische Dominanzstrategie ein.55

53 Siehe dazu z. B. Sharma 2011. 54 VHP-Rede o. J. (online). 55 Für die Untersuchung ist die genaue Situierung der jeweiligen Personen, Organisationen und Strömungen innerhalb des gesellschaftlichen Kraftfeldes unabdingbar, um die jeweiligen Praxen adäquat zu verstehen.

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Abbildung 8: Rede eines Vishva Hindu Parisad-Aktivisten

4.

Resümee

Das Spezifikum von Online-Videos – YouTube, Dailymotion, Vimeo sind nur einige der bekannteren Firmennamen von Videoplattformen – wird oft als eine Art Selbstmanagement des eigenen Images beschrieben. Dieses Selbstmanagement findet im Rahmen von hoch automatisierten Internetpräsenzen statt, deren Content von den NutzerInnen generiert wird.56 Die detaillierten Vorgaben veranlassen die NutzerInnen dazu, in genau definierter Weise mit den Programmen der Videoplattform zu agieren.57 In dieser Hinsicht sind auch Programme interessant, die die Besonderheiten von z. B. YouTube ausnutzen, um für die ProduzentInnen von Online-Inhalten erhöhte Aufmerksamkeit zu generieren. Das Besondere und Attraktive dieser Videoplattformen ist die ständig wiederholte und wiederholbare Abrufbarkeit der Videos, die eine fortdauernde Zirkulation unter den Usern und Userinnen, die in diesen Kontexten eingebunden sind, ermöglicht. Videodateien sind, besonders für neofundamentalistische Bewegungen, besonders geeignet, da sie eine nicht diskursive Religiosität befördert. Klare, immer wieder repetierte, iterierte Botschaften sind ein Charakteristikum. Durch die ständige Performanz auf dem Bildschirm prägen sie sich ein und können so 56 Siehe im Detail Snickers / Vonderau 2009. 57 Die perfekte Ausnutzung und Integration in die plattformspezifische Kommunikation wird in einer Vielzahl von Ratgebern, Videos, Kursen etc. den potentiellen NutzerInnen vermittelt.

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durch das Publikum leicht immer weiter verbreitet werden. Und dies ohne direkten Kontakt zu einem charismatischen Prediger, der durch die abrufbare virtuelle Präsenz eines solchen ersetzt wird. Es handelt sich um einen Fall von economies of scale mit Bezug auf religiöse Produkte.

5.

Gemeinschaften

Die Durchsetzung eines religiösen Individualismus hat die Frage nach den Möglichkeiten religiöser Vergemeinschaftung aufgeworfen.58 Die französische Religionssoziologin DaniÀle Hervieu-L¦ger hat die häufig statischen, in Anlehnung an die ältere deutsche Soziologie gebildeten, Kategorien der Gemeinschaft etc. durch Kategorien der Legitimation bzw. Validation des Glaubens dynamisiert. So unterscheidet sie u. a. eine wechselseitige Glaubens-Validation, „die sich auf das persönliche Bekenntnis, den Austausch individueller Erfahrungen und unter Umständen auch die Suche zu ihrer kollektiven Vertiefung gründet“.59 Davon unterscheidet sie Verfahren der gemeinschaftlichen Glaubens-Validation. Im letzteren Fall bringen die überzeugten Gläubigen ihre untereinander geteilten Gewissheiten „in die gemeinsamen Organisationsformen des täglichen Lebens und Handelns in der Welt ein“.60 Die hier beschriebenen Videopraxen sind Ausdruck einer gemeinschaftlichen Versicherung der individuellen Gläubigkeit und damit eine Kombination der beiden gerade genannten Verfahren, die durch die immer wieder vollzogene Zirkulation der entsprechenden Videos die gemeinschaftlichen Vorstellungen reproduzieren, um das religiöse Erlebnis, das Event immer wieder erlebbar zu machen.61 Die höchst unterschiedlichen Praktiken und Lehren im hauptsächlich urbanen Kontext der neuen (neo-)fundamentalistischen Gemeinschaften lassen sich sicherlich nicht über einen Kamm scheren. Eine adäquate Analyse des Agierens religiöser Gemeinschaften und Individuen muss dieser praktischen Diversität Rechnung tragen. Dabei geht es um Lebensstile, urbane Kulturen und städtischen Alltag, um temporäre räumliche Aneignungen oder um die materielle Produktion ganzer neuer „Cities of God“, um das Wirken kleiner lokaler Kirchen und Religionsgemeinschaften wie um das missionarische Ausgreifen global agierender religiöser Organisationen durch Migration, Religionskonzerne oder religiös-politischen Aktivismus.62 58 59 60 61 62

Hervieu-L¦ger 2004, S. 123. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Reichert 2013. MetroZones 2011, S. 272.

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Internetvideos sind Ausdruck dieser glokalisierten (Robertson), individuellen, vergemeinschaftlichten Aktivität, gewendet in einen potentiell entkulturalisierten religiösen Raum, der ein religiöses Branding, eine standardisierte Religiosität produziert, welche dann den festen Rahmen für eine individualisierte Religiosität bildet. Im islamischen Rahmen findet sich z. B. die „Sunnaisierung“ religiösen Handelns auf individueller Ebene,63 die das tägliche Leben durch eine Identifizierung mit einer imaginierten Idee des Handelns des Propheten durchwirkt – bis hin zur Art und Weise des Treppensteigens. Die Orientierung an Internetvideos – und natürlich auch anderen Onlineressourcen – hilft, die Mechanismen des individuellen Selbstmanagements zu verinnerlichen.64 In anderen religiösen Traditionen findet diese Vergemeinschaftung ihre jeweils spezifischen Anknüpfungspunkte, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann.

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III. Institutionelle Herausforderungen für ein (post)säkulares Europa

Richard Potz

Religiöse Pluralisierung der Zivilgesellschaft als Herausforderung des säkularen Rechtsstaats

Die aktuelle religiöse Pluralisierung der europäischen Gesellschaft stellt das Religionsrecht der europäischen Staaten vor neue Herausforderungen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die religiöse Pluralisierung mit einer Reihe von Phänomenen zusammenhängt, die sowohl komplementär als auch antagonistisch und manchmal beides zugleich wirken. Dazu gehören nicht nur die unterschiedlichen Säkularisierungsprozesse,1 die in sich schon komplex sind, sondern eine Reihe weiterer Kategorien, wie Sakralisierungen bzw. Re-Sakralisierungen, neue Formen der Verkirchlichung und die Präsenz von Religion in Politik und der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. All dies spielt sich zusätzlich vor der Kulisse einer rasant zunehmenden medialen Aufmerksamkeit ab, sodass all die genannten Prozesse durch mediales Heranzoomen oft eine überproportionale Sichtbarkeit erlangen. Die religiöse Pluralisierung Europas am Ende des 20. Jahrhunderts ist grundsätzlich kein neues Phänomen. Universalgeschichtlich gesehen sind religiös-plurale Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme.2 Im Folgenden soll versucht werden, den geschichtlichen Hintergrund aufzuhellen, um die gegen1 Die Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese gehört gegenwärtig zu den Schlüsselthemen philosophischer, soziologischer, politologischer, theologischer und historischer Diskurse und wurde damit zu einem zentralen Thema interdisziplinärer Kommunikation. Einen ausgezeichneten Überblick über die kaum mehr überschaubaren aktuellen interdisziplinären Diskurse geben zwei Sammelbände: Calhoun / Juergensmeyer / Van Antwerpen 2011 sowie Gabriel / Gärtner / Pollack 2012. 2 Michael Walzer hat in einer allgemeinen Typologie toleranter Gesellschaften fünf Typen unterschieden (Walzer 1997). Das älteste Regime stellen multinationale Imperien dar, die vom antiken Rom und Persien bis zu den im ersten Weltkrieg untergegangenen Imperien reichen; das zweite Regime ist die internationale Gemeinschaft; das dritte ein föderativer Staat nach dem Vorbild der Schweiz; das vierte ist der neuzeitliche Nationalstaat, dem Walzer jedoch eine geringere Toleranz attestiert, da Gruppenrechte der Minderheiten hinter der Garantie von individuellen Grundrechten zurücktritt und durch das Konzept einer single citizenship ein Assimilationsdruck entsteht; das fünfte sind tolerante Immigrationsgesellschaften, die von Anfang an – anders als der Nationalstaat – auf das Zusammenleben von Gruppen angewiesen waren, die in ihren Herkunftsländern oft religiöse Verfolgung erlebt hatten.

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wärtigen epochalen Veränderungen im Beziehungsfeld von Staat, Politik, Zivilgesellschaft und Religion zu verdeutlichen. Die Notwendigkeit, eine religiös plurale Gesellschaft zu organisieren, gab es bereits in der Antike. Sowohl in der griechischen polis als auch in den antiken Großreichen ist es oft zum Miteinander bzw. Nebeneinander von Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen gekommen.3 So ist es etwa ein Charakteristikum des Polytheismus römischer Prägung, dass er nicht durch Toleranz, sondern durch die Tendenz zur Absorbierung und Neutralisierung der fremden Götter bestimmt war.4 Dies entspricht dem bekannten Phänomen der interpretatio romana anderer Götter, einer aus der Germania von Tacitus (XLIII, 4) übernommene Phrase.5 Die Auswirkungen des Christentums auf die Religionsverfassung des späten Imperium Romanum waren jedenfalls dramatisch. Kaiser Decius (249–251) hatte eine neue religionspolitische Kompetenz auf Reichsebene begründet, welche zu der schwersten reichsweiten Christenverfolgung führte, später aber dann den christlichen Kaisern als Rechtsgrundlage ihrer Religionspolitik dienen konnte. Mit dem Sieg des nizänischen Christentums im 5. Jahrhundert wurden für alle römischen Bürger die sacra publica exklusiv der christlichen Reichsreligion vorbehalten. Der Unterschied zu vorher war beachtlich. Während der pagane Reichskult neben den spezifischen städtischen Kulten vollzogen werden konnte, ließ das Christentum eine derartige Pluralität nicht zu. Das Christentum war in seiner Exklusivität eine viel „mächtigere Reichsreligion, als sie der Kaiserkult je gewesen war“.6 Der Augustinus-Schüler Orosius (Historiae adversum Paganos, V, 1, 14f.) konnte daher zu Beginn des 5. Jahrhunderts auf die Vorzüge des Imperium Romanum verweisen, in dem nicht mehr unterschiedliche Riten und Religionen die Menschen voneinander trennten, sondern das nunmehr als gemeinsames Vaterland eine Gemeinschaft des Rechts mit der Einheit des Glaubens verband, gewissermaßen ein Vorläufer des frühneuzeitlichen Schlagwortes „un roi, une loi, une foi“.7 Auch das europäische Mittelalter kannte einen rechtlich fassbaren religiösen Pluralismus, der vor allem in diskriminierenden Bestimmungen hinsichtlich der Übernahme öffentlicher Ämter und speziellen Bekleidungsvorschriften seinen Niederschlag findet. Die einschlägigen päpstlichen Dekretalen enthalten Rege3 Hierzu ist inzwischen ein umfangreiches Schrifttum entstanden, das sich mit der Stellung der Bürger in der polis, sowie mit den antiken Vorläufern des Menschenrechtsgedankens und mit dem Toleranzbegriff der Antike auseinandersetzt (Vgl. insbesondere Girardet / Nortmann 2005). 4 Vgl. Garnsey 1984. 5 Dazu immer noch grundlegend Wissowa 1916–1919. 6 Meyer-Zwiffelhoffer 2009, S. 98. 7 Grundlegend zu dieser Formel aus dem Umfeld Ludwig XIV: Labrousse 1985.

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lungen für den Verkauf von christlichen Sklaven an Juden und Muslime und das Verbot der Übertragung öffentlicher Ämter an Angehörige der beiden Religionen. Das vierte Laterankonzil (1215) nimmt diese Bestimmungen nochmals auf und ergänzt sie durch besondere Bekleidungsvorschriften für Juden und Sarazenen (canon 68).8 Die übliche Fokussierung auf die neuzeitliche europäische Entwicklung bringt es jedoch mit sich, dass die Geschichte der religiösen Pluralisierung meist als Folge der Konfessionalisierung des westlichen Christentums nach der Reformation und der dadurch bedingten religiösen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts gesehen wird. Diese muss jedoch im Lichte ihrer Vorgeschichte gesehen werden, denn die institutionelle Differenzierung von Staat und Kirche war als Ergebnis der als Investiturstreit bekannt gewordenen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser und der vor allem durch Papst Gregor VII. bestimmten päpstlichen Politik bereits im Hochmittelalter in Gang gesetzt worden. Der Leitgedanke der Politik des Papstes war der Ruf nach der libertas Ecclesiae von der politischen Macht, die als unzulässiger Laieneinfluss gesehen wurde. Der Investiturstreit setzte damit im Westen die Ausdifferenzierung geistlicher und weltlicher Institutionen frei. Die Kirche wurde endgültig zu einer mit der geistlichen Sphäre identifizierten selbständigen Einheit, deren Verhältnis zu der von ihr ausgegrenzten weltlichen Gewalt es nun zu bestimmen galt. Damit war der Prozess in Gang gesetzt worden, der zu einer Auseinandersetzung zwischen den Führungsansprüchen der geistlichen und der weltlichen Gewalt führte und langfristig die institutionelle Trennung von Staat und Kirche bewirkte. Die Gestaltung der Ordnung zwischen Staat und Kirche wurde für Jahrhunderte zu einer Grundaufgabe der Verfassungsgeschichte Europas. Man kann wegen seines Ursprungs im Reformkonzept Gregors VII. von einem gregorianischen Zeitalter sprechen, in dem die institutionelle Ausdifferenzierung in Staat und Kirche zu einem Konkurrenzkampf dieser zwei Gewalten geführt hatte. Es ging dabei um nichts weniger als um die Behauptung bzw. Bekämpfung des Besitzes der Wahrheit auf der politischen Ebene. Noch im 19. und 20. Jahrhundert wurden religionspolitische bzw. religionsrechtliche Fragen nach dem Schema von Kirchen- bzw. Kulturkämpfen abgehandelt. Diese Konfliktlage hatte im Streit um die wahre Religion zu blutigen Bürgerkriegen geführt, und um diese Bürgerkriegssituation zu überwinden und den gesellschaftlich-politischen Frieden zu sichern, bedurfte es einer über den Religionsparteien stehenden, mit einem Gewaltmonopol ausgestatteten, d. h. souveränen Instanz, die die politischen Ziele nur unter Ausklammerung der religiösen Wahrheitsfrage erreichen konnte. Der Staat bestand aus politischen Gründen zunächst aber auf der religiösen Einheit, da diese weiterhin als un8 Muldoon 1979.

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verzichtbares Fundament politischer Ordnung galt. Das Ausblenden der religiösen Wahrheitsfrage durfte die staatliche Omnipotenz jedenfalls nicht in Frage stellen. Dies galt übrigens auch für die amerikanischen Kolonien, in denen man zunächst um konfessionell geschlossene politische Gemeinwesen bemüht war. In den englischen Kolonien Nordamerikas meinte religiöse Pluralität zunächst bestenfalls das Nebeneinander verschiedener reformatorischer Bekenntnisse, nicht aber die Einbeziehung der Katholischen Kirche und des Judentums.9 Die religiöse Einheit war aber letztlich doch nicht aufrechtzuerhalten. Der sich als politisches Herrschaftssystem ausbildende moderne Staat musste daher, nachdem die konfessionelle Wiedervereinigung gescheitert war und der frühneuzeitliche Zwang zur Einkonfessionalität sich auf Dauer nicht als gangbar erwiesen hatte, ein gesichertes Nebeneinander von verschiedenen Konfessionen ermöglichen. Der Staat legitimierte sich als Friedensgarant aus der Erinnerung an den Schrecken der religiösen Bürgerkriege und begegnete diesen mit dem Toleranzgebot, wobei das Thema Religion zunehmend aus dem Diskurs politischer Legitimation ausgeklammert werden musste. Die neuzeitliche Toleranz wurzelt in der Notwendigkeit, das Zusammenleben konfessionsverschiedener Bürger friedlich zu gestalten, ihre Geschichte begann also mit der bloßen Duldung anderer Meinungen und Gewohnheiten durch den immer noch konfessionell gebundenen Staat. Sie stellte somit zunächst einen Kompromiss auf das Ertragenkönnen des Anderen dar, der zunächst überwiegend unter ausdrücklicher Missbilligung der jeweils dominanten Kirche stand.10 Die Toleranzgesetzgebung des aufgeklärt-absolutistischen Staates berief sich dabei manchmal in einer kanonistischen Tradition, in der Toleranz als strategisches Konzept zum Vermeiden eines größeren Übels postuliert wurde.11 Es darf daher nicht verwundern, dass das öffentliche Wirken auch weiterhin der Staatskirche vorbehalten blieb, während die Angehörigen der tolerierten Religionsgemeinschaften auf die private Religionsübung verwiesen waren. Diese Toleranz war daher von der Garantie von Religionsfreiheit noch einigermaßen entfernt. Die Duldung wurde als eine Art Gruppenrecht nur auf be9 Vgl. dazu Koenig 2012, insb. S. 300ff. 10 Hier ist ein Vergleich mit dem orthodoxen Konzept aufschlussreich. Der traditionelle Begriff für Toleranz im Russischen ist terpimost’, was etymologisch dem Begriffsfeld „Geduld“ entspricht. Es wird in diesen Begrifflichkeiten das in der Aufklärung kritisierte Machtgefälle zwischen Tolerierendem und Toleriertem angesprochen. Goethe brachte diesen Gedanken prägnant auf den Punkt: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“ (Maximen und Reflexionen). 11 Wie Peter Landau nachweisen konnte (Landau 1981), liegen die geistigen Grundlagen des Toleranzsystems Josephs II. nicht so sehr im allgemeinen Naturrechtsdenken als in strategischen Überlegungen, die ihre Basis im Toleranzprinzip des kanonischen Rechts hatten, wo die Aufgabe der Toleranz die Vermeidung eines größeren Übels ist.

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stimmte Bekenntnisse beschränkt und war ihrer rechtlichen Struktur nach dadurch gekennzeichnet, dass ihre Gewährleistung in den meisten Fällen noch nicht als gesetzlich konstituiertes Freiheitsrecht, sondern als Zugeständnis des Souveräns und daher für diesen prinzipiell verfügbar und revidierbar gedacht war.12 Nichtsdestoweniger bedeuten diese Toleranzgarantien einen Schritt in der Geschichte der „korporativen Religionsfreiheit“. So stellt sich etwa in Österreich die Geschichte der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften als ein Prozess der Emanzipation der tolerierten Religionsgemeinschaften bis zur rechtlichen Gleichstellung mit der katholischen Kirche dar. Neben der katholischen Kirche wurden die in der bisherigen Gesetzgebung „Tolerierten“ als gesetzlich anerkannt gewertet, dazu zählten die durch das josephinische Toleranzpatent 1781 tolerierten Kirchen (Evangelische Kirche Augsburger Bekenntnis (A.B.) und Helvetisches Bekenntnis (H.B.) bzw. die griechisch-orthodoxe Kirche, wie auch die durch „Judenpatente“ tolerierte israelitische Religionsgesellschaft.13 Durch die Erklärung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und den Abbau der in den Anciens r¦gimes bestandenen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Privilegien der Staatskirche war in Europa der Übergang zum konfessionsneutralen Staat eingeleitet worden. Im 1789 einsetzenden und sich bis 1918 hinziehenden bürgerlichen Zeitalter – nicht zu Unrecht spricht man vom „langen“ 19. Jahrhundert – musste das Verhältnis von Staat und Kirche neu bestimmt werden. Dieser Prozess war nicht kontinuierlich, sondern es lösten sich praktisch überall in Europa revolutionäre und restaurative Phasen ab. Eine Schlüsselrolle spielte in diesen Abläufen das Revolutionsjahr 1848, dessen Bewertung hinsichtlich des Beziehungsgeflechtes Kirchen – Staat – Gesellschaft allerdings ein relativ kompliziertes Unterfangen ist, das den um vieles komplexer gewordenen rechtlichen, politischen, gesellschaftlichen und kommunikationstechnischen Bedingungen gerecht werden muss. Eine Reihe von durchaus auch kurzfristig wirksamen, miteinander vielschichtig vernetzten Ergebnissen der Revolution war für das Verhältnis der Kirchen zu Staat und Gesellschaft jedenfalls von weitreichender Bedeutung. An der Spitze der für die Kirchen bedeutsamen Ergebnisse des Jahres 1848 steht selbstverständlich die Durchsetzung der Forderung nach Religionsfreiheit. Diese begünstigte nicht nur bislang lediglich tolerierte religiöse Minderheiten, sondern entließ auch die jeweilige Staatskirche aus der als immer belastender empfundenen schützenden Obsorge des Staates. Ein Ziel, das sowohl ultra12 Dies gilt auch für die amerikanischen Kolonien, in denen englische Toleranzakte auf bestimmte Konfessionen ausgedehnt wurden, die Katholische Kirche blieb davon jedoch meist ausgeschlossen; vgl. Koenig 2012, S. 300. 13 Vgl. Kalb / Potz / Schinkele 2003, S. 68.

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montan-konservative als auch liberale Katholiken anstrebten. Damit wurde die Frage nach dem Stellenwert des Religiösen in Staat und Gesellschaft von allen Seiten neu gestellt. Eine weitere zentrale Forderung war auf Gewährung von Vereins- und Versammlungs- bzw. Pressefreiheit gerichtet, die sich europaweit in den 1850er und 1860er-Jahren durchsetzten. Das Entstehen einer vielfältigen Presselandschaft und eines dichten Vereinsnetzes gehörten mit der Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit zu den wichtigsten gestaltenden Kräften und langfristigen Ergebnissen der Revolution. So darf nicht übersehen werden, dass es diese Freiheiten waren, die eine freie Zusammenkunft der katholischen Bischöfe ohne staatliche Beeinflussung ermöglichten.14 Katholikentage und Bischofskonferenzen gehören damit in gewisser Weise zu den Langzeitresultaten der mit der Revolution von 1848 verbundenen Versammlungsdemokratie.15 Die im demokratischen Rechtsstaat gewährleisteten grundrechtlichen Garantien – insbesondere Religions-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit – setzten auf diese Weise das kirchliche Selbstbestimmungsrecht frei und legten damit die Basis für das zivilgesellschaftliche Wirken der Religionsgemeinschaften. Damit wurden erstmals Öffentlichkeitsräume ohne staatliche Aufsicht und Kontrolle geschaffen, die die Kirche durchaus zu nützen wusste, wie bereits die Zeitgenossen feststellen konnten: „Seitdem die öffentlichen Angelegenheiten Deutschlands durch die sogenannte Märzrevolution von 1848 in Fluß geraten, hat sich niemand die Zeit und die Gegebenheiten besser zunutze zu machen verstanden als die katholische Kirche“16. Auf diese Weise wurde das bürgerliche 19. Jahrhundert nicht nur durch eine zunehmende Säkularisierung, durch Liberalismus, die Entstehung großer politischer Bewegungen, den Aufbruch der Naturwissenschaften und die Industrialisierung bestimmt, sondern auch durch das Aufkommen erstaunlich einflussreicher konfessioneller Kräfte geprägt. Das Ende staatskirchlicher Dominanz des alten Europa hatte konfessionelle Kräfte freigesetzt, die sich des durch Demokratisierung und Modernisierung angebotenen Instrumentariums bedienten. Damit waren aber Auseinandersetzungen programmiert, die Religionspolitik bis weit ins 20. Jahrhundert zu einem politischen Kernbereich werden ließen. Olaf Blaschke hat daher nicht zu Unrecht von einem „Zweiten konfessionellen Zeitalter“ gesprochen.17 Mit dem Ende der staatskirchlichen Bindungen des alten Europa bekamen konfessionelle Ausrichtungen dadurch eine neue Qualität, dass sie nunmehr in 14 15 16 17

Vgl. Lill 1964, S. 6. Vgl. Langewiesche 1991, insb. S. 406ff. von Rochau 1972, S. 326. Blaschke 2000 und Blaschke 2002.

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das Programm politischer Parteien und auf unterschiedlichen Ebenen agierender Verbände verlagert wurden. In diesem neuen Spiel gesellschaftlicher Kräfte nahmen religiös-konfessionell gebundener Eifer und die Klerikalisierung der Kirchen zu, was einer der Auslöser für Religions- und Kulturkämpfe18 in vielen Varianten war. Die Zeiten unmittelbarer Geltung kirchlichen Rechts im Sinne des Staatskirchentums waren zwar zu Ende gegangen, der Ausbau des demokratischen Wahlrechts hatte unter anderem aber auch den Aufstieg des politischen Katholizismus zur Folge. Die Kirche nahm so mittelbaren Einfluss auf die Gesetzgebung, war aber zugleich in Gefahr, vereinnahmt zu werden. Dies hat vor allem Konsequenzen im Verhältnis der Kirchen zu Parteien, die sich in ihren Grundsätzen religiösen Konzepten verpflichtet fühlen. Christliche Parteien wurden im Laufe des „Zweiten konfessionellen Zeitalters“ von der Kirche lange Zeit nicht als Partner im gesellschaftlichen Dialog, sondern als Empfänger von Direktiven gesehen. Umgekehrt zeigten diese Parteien manchmal die Tendenz, von den Kirchen die Unterstützung für Positionen zu verlangen, die sich oft nur aus tagespolitischen Auseinandersetzungen ergaben. Der politische Einfluss der Kirchen als gesellschaftlich treibende Kraft blieb also bestehen, sie bediente sich im „Zweiten konfessionellen Zeitalter“ nunmehr politischer Parteien als brachium saeculare im System der demokratischen Formen von Meinungs- und Willensbildung. Die institutionelle Entflechtung von religiösen und politischen Funktionen erfolgte seit dem 19. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität bzw. Geschwindigkeit, das Verhältnis von Religion und Politik blieb weiterhin Thema. Dies zeigt eine bis heute im deutschen Sprachraum geläufige Terminologie der kirchenpolitischen Typen, deren Umschreibung wir vor allem Wilhelm von Kahl verdanken.19 Er spricht davon, dass der gesamtgeschichtliche Entwicklungsgang zwei Grundverhältnisse von Staat und Kirche offenbart, Einheit und Verbindung, Verschiedenheit und Lösung. In-

18 Mit „Kulturkampf“ wird die Auseinandersetzung um die Durchsetzung einer liberalen Kultuspolitik im 19. Jahrhundert bezeichnet. Vor allem die katholische Kirche kämpfte dagegen an, insbesondere weil sie ihren Einfluss in Ehe und Schule nicht verlieren wollte. In Preußen, wo der Begriff geprägt wurde und von 1871 bis 1878 unter Bismarck seinen Höhepunkt erreichte, ging es vor allem auch um den politischen Einfluss der katholischen Organisationen, bei denen man eine oppositionelle Haltung zum neuen Reich vermutete. Eine durchaus passende aktuelle Verwendung findet sich bei Jürgen Habermas 2012, S. 321, der die Auseinandersetzung zwischen „Multikulturalisten“ und „Säkularisten“ unter den Bedingungen der gegenwärtigen liberalen Gesellschaft als Kulturkampf bezeichnet, bei dem darüber gestritten wird, „ob die Bewahrung der kulturellen Identität oder die staatsbürgerliche Integration Vorrang haben soll.“ 19 Kahl 1894, S. 246–309.

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nerhalb beider Grundtypen liegen die konkreten Ausgestaltungen und Übergangsformen der Einheit wie Verschiedenheit von Staat und Kirche. Bei Einheit und Verbindung gehen „Zwecke, Tätigkeitsformen und Organe beider Gemeinschaften ineinander auf und über“: Im „Kirchenstaatstum“ wird „der Staat eingeschlossen, umklammert vom Kirchentum“; als Beispiel nennt Kahl das mittelalterliche hierokratische System. Im „Staatskirchentum“ werden „die Kirchen eingeschlossen, umklammert vom Staatstum“; es sind dies insbesondere jene Systeme, welche vom 15. bis 19. Jahrhundert die Kirche in die Staatszwecke des souveränen Staates einbanden und instrumentalisierten. Die drei Systeme der Verschiedenheit und Lösung von Staat und Kirche waren jene Modelle, die sich nach der Überwindung der religiös-politischen Vernetzungen des alten Europa herauskristallisierten. Im „Koordinationssystem“ standen sich Kirche und Staat als gleichberechtigte souveräne Gemeinschaften gegenüber, die im beiderseitigen Interesse Bündnisse eingehen sollten. Grenzregulierungen geschahen typischerweise durch Verträge, insbesondere durch Konkordate mit dem Heiligen Stuhl. Im österreichischen Konkordat 185520 wurde das Bündnis von Thron und Altar noch einmal gefestigt. Die solcherart erneut staatskirchlich instrumentalisierte Kirche nahm in der nachrevolutionär-reaktionären Rekonstruktion der gesellschaftlichen und politischen Ordnung eine Schlüsselrolle ein. Im System der „Staatskirchenhoheit“ waren die Kirchen zwar vom Staat verschieden und eigenständig, die Bestimmung der Grenze geschah jedoch nicht im Wege des Vertrags, sondern durch die staatliche Gesetzgebung. Die Kirchen standen einerseits unter Aufsicht des Staates, dieser enthielt sich andererseits der Eingriffe in die sacra interna. Typisch für dieses System ist, dass die gesamte kirchliche Ämterbesetzung und die kirchliche Vermögensverwaltung unter staatlicher Kontrolle stehen und Zensur hinsichtlich kirchlicher Erlässe besteht. Dieses Modell wurde im 19. Jahrhundert interessanter Weise auch von altliberaler Seite bevorzugt, denn – so der Motivenbericht zum österreichischen Katholikengesetz von 1874 – „[i]n unseren Tagen drängt insbesondere nach seit den Beschlüssen des Vaticanums, Alles nicht nach einer Verminderung, sondern nach einer Vermehrung des staatlichen Einflusses auf die kirchlichen Verhältnisse. Es soll zwar der Josephinimus nicht wieder aufgerichtet, aber ein beträchtlicher Teil jenes Einflusses zurück gewonnen werden, welchen die liberalisierenden Bestrebungen der letzten Jahrzehnte in gänzlicher Verkennung des großen Unterschiedes zwischen mächtigen Kirchen und kleinen Privatgesellschaften leichtfertig aufgegeben haben.“21 Die Kirchen sollten also gerade nicht 20 Zum Hintergrund des österreichischen Konkordates 1855 immer noch grundlegend: Weinzierl 1960. 21 Abgedruckt bei Gampl / Potz / Schinkele 1990, S. 30.

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in die Vereinsfreiheit entlassen werden, sondern als öffentliche Korporationen vor allem bei der Vermögensverwaltung und der Ämterbesetzung unter staatlicher Kontrolle bleiben. Andererseits beließ man etwa in Österreich staatliche Aufgaben bei den Kirchen und Religionsgesellschaften, wie etwa im Ehe- und Personenstandsrecht.22 Auf diese Weise blieb eine religiöse Bindung des staatlichen Rechts weiterhin partiell erhalten. Für das Modell der „Trennung von Staat und Kirche“ war charakteristisch, dass es keine spezifischen staatskirchenrechtlichen Regelungen gab. Immer wieder schien die totale Ausgrenzung des Religiösen die Voraussetzung konsequenter Entwicklung neuzeitlicher Staatlichkeit zu sein. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger sollte durch keine anderen Loyalitäten beeinträchtigt werden, insbesondere nicht durch religiöse Bindungen. Einen ersten Höhepunkt erfuhr dieses Konzept in der radikalen Phase der Französischen Revolution mit dem Versuch, den christlichen Kult durch einen Kult der Vernunft zu ersetzen. Eine Fortsetzung dieser Tradition erfolgte in den Totalitarismen des 20. Jahrhundert, deren Weltanschauungen zum Religionsersatz wurden. In dieser Tradition war die Relevierung religiöser Argumente in der staatlichen Gesetzgebung grundsätzlich ausgeschlossen. Mit dem Schlagwort „Trennung von Staat und Kirche“ sind jedoch auch historische Modelle des Verhältnisses von Staat und Kirche verknüpft, die nicht auf einem gegen Religion und Kirche gerichteten Konzept beruhen, wie etwa das Trennungssystem der Vereinigten Staaten. Hier war es zur Trennung von Staat und Kirche als Sicherung bestehender Freiräume gekommen, die durch die leidvolle Erfahrung der europäischen Immigranten bestimmt waren. Freiheit und Pluralität der Bekenntnisse wurden von vielen durchaus auch als produktive Bedingung der Entfaltung religiösen Lebens betrachtet. Der fundamentale Unterschied zum französischen Trennungssystem besteht also darin, dass nicht alles öffentliche Wirken als Ausfluss staatlicher Souveränität gesehen wird, dass also die „separation“ gleichsam zwischen kirchlicher und staatlicher Öffentlichkeit besteht. Diesem Ziel sollten die Establishment-Klausel und die Free Exercise-Klausel im ersten Amendment zur Bundesverfassung vom 15. Dezember 1791 („Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof“) dienen. Man darf dabei aber nicht übersehen, dass das erste Amendment zunächst nur dem Kongress untersagte, sich in das religionsrechtliche System der einzelnen Bundesstaaten einzumischen, von denen einige zu diesem Zeitpunkt sogar Staatskirchen auf22 Durch das „Gesetz vom 25. 5. 1868, wodurch die Vorschriften des zweiten Hauptstückes des ABGB über das Eherecht für Katholiken wieder hergestellt, die Gerichtsbarkeit in Ehesachen der Katholiken den weltlichen Gerichtsbehörden überwiesen und Bestimmungen über die bedingte Zulässigkeit der Eheschließung vor weltlichen Behörden erlassen werden“, RGBl 1868/47, wurde die religiöse Bindung des Eherechts grundsätzlich aufrecht erhalten.

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wiesen. Erst in Folge des 1868 ratifizierten 14. Amendments wurden die grundrechtlichen Einschränkungen des Staatshandelns auf die Ebene der Bundesstaaten ausgedehnt („Incorporation“-Doktrin).23 Auch das mit dem System der „Trennung von Staat und Kirche“ oft verknüpfte Schlagwort von der „Freien Kirche im freien Staat“ zeigte von Anfang an seine Janusköpfigkeit. Formuliert wurde er von dem großen liberalen Katholiken des 19. Jahrhunderts Charles de Montalembert, der ihn damit begründete, dass nur inmitten einer allgemeinen Freiheit auch die Kirche frei sein kann. Doch dieser Gedanke verhallte in der katholischen Kirche zunächst weitgehend ungehört bzw. wurde von den konservativen Kräften zurückgewiesen.24 Er wurde später von Camillo Cavour umgedeutet und im Zuge der nationalen Einigung Italiens politisch vor allem auch gegen den Kirchenstaat gerichtet. Libera Chiesa in libero stato sollte den kirchlichen Einfluss in der italienischen Gesellschaft zurückdrängen und wurde geradezu ein Synonym für eine kirchenfeindlich konzipierte Trennung von Staat und Kirche. Was die Trennung von Staat und Kirche betrifft, so wird meist eine „kirchenfeindliche“ europäische Trennung der „kirchenfreundlichen“ amerikanischen Trennung gegenübergestellt. Dies hängt mit der genannten unterschiedlichen historischen Erfahrung zusammen. In Europa hat man mit dem Postulat nach einer Trennung von Staat und Kirche bis in die Gegenwart die Zurückdrängung der historisch dominierenden Kirche und ihres gesellschaftlichen und politischen Einflusses vor Augen. In den USA hingegen ging es bereits viel früher um die Neutralität angesichts einer Vielzahl von Bekenntnissen. Robert Audi bringt es auf den Punkt: „Separation of church and state is most commonly considered in relation to restricting governmental activity toward religion“ und ergänzt: „We may also take the separation more broadly, as calling for some restriction of the activities of churches toward government.“25 Ein europäischer Autor hätte dies wohl umgekehrt gesehen und als das primäre Ziel der Trennung von Staat und Kirche die Zurückdrängung des Einflusses von Religion, insbesondere der historisch dominanten Kirche, auf die staatliche Tätigkeit bezeichnet. Bis heute wird beim Verlangen nach Abbau von Privilegien – seien sie tatsächlich oder auch nur imaginiert – daher meist lediglich die dominante Kirche in den Blick genommen,26 die religionsrechtlichen Konsequenzen dieser

23 Zur „incorporation-Doktrin“ siehe Akhil Reed 1998; Schopler o. J. 24 Die später von Papst Pius IX. missbilligte Rede Montalemberts am 1. Katholikentag von Mecheln 1863 war mit dem provokativen Titel „L’Eglise libre dans l’¦tat libre“ veröffentlicht worden. 25 Audi 2011, S. 59. 26 Dies wird auch in der Textierung des österreichischen Kirchenprivilegien-Volksbegehren deutlich, siehe Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien 2013 (online).

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Forderungen für die anderen Glaubensgemeinschaften bleiben dabei regelmäßig ausgeblendet. Ungeachtet dieser historischen Voraussetzungen bestehen zunehmend Konvergenzen zwischen dem europäischen und amerikanischen religionsrechtlichen System, die auf europäischer Seite in zwei Etappen verdichtet wurden. Die erste Etappe war dadurch bestimmt, dass es in den 1950er-Jahren zum Ende des „Zweiten konfessionellen Zeitalters“ gekommen ist, was sich in den Parallelen der Entwicklung in mehreren europäischen Staaten zeigt: In Deutschland war es das Ende der katholischen Kanzlerdemokratie, in den Niederlanden ging die Bedeutung der „verzuiling“, die noch zu Anfang des Jahrzehnts einen Höhepunkt erreicht hatte, gegen 1970 zurück,27 und in Österreich fand das die 1. Republik tragisch bestimmende „Lagerdenken“ weitgehend ein Ende. Aus der Sicht der katholischen Kirche stellte das so genannte „Mariazeller Manifest“ aus 195228 einen Meilenstein dar und markierte den Übergang zur institutionellen Entflechtung von Staat und Kirche. Aus der Perspektive der rechtlichen Ordnung von Staat und Kirche betrachtet, fällt am „Mariazeller Manifest“ vor allem ins Auge, dass nicht das traditionelle juristische Thema des Verhältnisses von Staat und Kirche überdacht wird, sondern das Verhältnis von Gesellschaft und Kirche. Damit wurde eine Sichtweise aufgegeben, für welche rechtliche Normierungen der religiös-weltanschaulichen Sphäre lediglich eine Frage des institutionellen Ausgleichs zwischen den Herrschaftsapparaten des Staates und der Kirche gewesen waren. Diese neue Ausrichtung in der Grundlegung des Verhältnisses zum Staat leitet das „Mariazeller Manifest“ damit ein, dass es sich von herkömmlichen staatskirchenrechtlichen Modellen distanziert. Eine klare Absage wird nicht nur der staatskirchlichen Tradition erteilt, welche „die Religion zu einer Art ideologischen Überbaus der staatsbürgerlichen Gesinnung degradierte“, sondern auch einer „Rückkehr zu einem Bündnis zwischen Thron und Altar“, „das das Gewissen der Gläubigen einschläferte und sie blind machte für die Gefahren der inneren Aushöhlung.“ Das „Mariazeller Manifest“ distanzierte sich schließlich auch von einer Vereinnahmung durch eine politische Partei, wenn es postulierte: „Keine Rückkehr zum Protektorat einer Partei über die Kirche, […].“ In einem weiteren Punkt des „Mariazeller Manifestes“ wurde konsequenter Weise die 27 Unter Verzuiling (Versäulung) versteht man konfessionell begründeten Partikularismus in den Niederlanden, der das 20. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre dominierte. Religiös, dann auch sozial und politisch definierte Gruppen lebten nebeneinander und hatten über die Parteienlandschaft hinaus in allen Lebensbereichen parallele soziale und kulturelle Organisationen geschaffen. 28 Text online abrufbar, siehe Bischofskonferenz 1952 (online).

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„Zusammenarbeit mit allen Ständen, Klassen und Richtungen zur Durchsetzung des gemeinsamen Wohls“ gefordert. Im Sinne dieses Paradigmenwechsels zum Begriffspaar „Kirche und Gesellschaft“ erfolgte in Österreich eine neue Schwerpunktsetzung. Es stehen zunehmend allgemein-gesellschaftliche Themen, bei denen es nicht mehr um die institutionellen Ansprüche der Kirche geht, im Vordergrund. Das erste und augenfälligste Beispiel dafür war die Diskussion der Fristenlösung. In der Folge nahmen die öffentlich diskutierten Fragen zu, bei denen die Kirche mit mehr oder weniger Erfolg versuchte, sich mit ihren ethischen bzw. gesellschaftspolitischen Vorstellungen im Bündnis mit anderen Gruppen Gehör zu verschaffen. In all diesen Fällen konnte sich die Kirche zunehmend als wesentlicher Faktor in der Zivilgesellschaft etablieren. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Veränderung der Rahmenbedingungen auch durch die Pluralisierung der religiös-konfessionellen Zusammensetzung der Wohnbevölkerung stark beeinflusst wird, womit wir wieder bei den einleitenden Überlegungen angelangt sind. Diese religiöse Pluralisierung der Gesellschaft ist einerseits durch die Zunahme von Konfessionslosigkeit, andererseits vor allem durch Immigration bedingt und betrifft alle west- und mitteleuropäischen Staaten in einem Ausmaß, wie es sonst nur aus den überseeischen Einwanderungsländern bekannt ist. Die traditionellen Kirchen sehen sich auch aus diesem Grund mit der Gefahr konfrontiert, ihren Anspruch als sinnstiftende Instanz im gesamtgesellschaftlichen Kontext relativeren zu müssen. Es gilt die Herausforderung anzunehmen, sich in der pluralistischen Gesellschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit entsprechend zu positionieren. Damit wurde die Frage nach der Zulässigkeit bzw. Legitimität religiöser Überzeugungen im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen unter veränderten Rahmenbedingungen erneut problematisiert. Bemerkenswert dabei ist, dass dabei sowohl Divergenzen, zunehmend aber auch Konvergenzen zwischen den europäischen und den amerikanischen öffentlichen Diskursen offenbar werden. Ausgangspunkt dieser Diskussionen beiderseits des Atlantik ist meist die These von John Rawls, dass staatliches Handeln nur dann gerechtfertigt ist, wenn dieses mit rationalen Gründen versehen ist. Partikulare Überzeugungen, die „umfassenden Lehren oder Konzeptionen des guten Lebens“ entstammen, müssten daher ausgeklammert bleiben. Man wird davon ausgehen können, dass Rawls in der vernunftrechtlichen Tradition stehend „[die]ie handgreiflichen Evidenzen der zeitgenössischen US-Gesellschaft, in der die Religionsgemeinschaften ihre Vitalität und eine wichtige Rolle in der politischen Öffentlichkeit behalten haben“29 vor Augen gehabt hat. Der „öffentliche Vernunftgebrauch“ lässt nach Rawls und anderen liberalen Philosophen trotz 29 Habermas 2010, S. 332.

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allem oder vielleicht gerade deswegen religiöse Positionen auf Grund ihrer comprehensive perspective grundsätzlich nicht zu. Dieses Konzept wurde vehement kritisiert,30 Cristina Lafont hat in ihrem Beitrag „Religious Pluralism in a Deliberative Democracy“ die bedenklichen Konsequenzen auf den Punkt gebracht. Religiöse Bürger wären entweder zu einer unehrlichen, ihre wahren Motive verbergenden Argumentation gezwungen oder sie müssten sich aus dem öffentlichen Diskurs heraushalten. In späteren Schriften hat Rawls seine Position insofern ergänzt, als er religiöse Argumente unter dem Vorbehalt (proviso) akzeptiert, dass proper political reasons gleichsam nachgeliefert werden. In Europa hat insbesondere Jürgen Habermas einen anderen Lösungsansatz vorgeschlagen, wenn er den Rawls’schen Vorbehalt lediglich für die formellinstitutionelle Ebene gelten lässt. In öffentlichen Meinungsbildungsprozessen auf informeller Ebene lässt Habermas dagegen das religiöse Argument zu, die Übersetzung in proper political reasons sieht Habermas grundsätzlich als Aufgabe der gesamten Kommunikationsgemeinschaft, also von allen Bürgern. Aus Anlass der Beschneidungsdebatte hat er dies in der Neuen Zürcher Zeitung so formuliert: „Die Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt werden, weil eine deliberative Politik vom öffentlichen Vernunftgebrauch ebenso der religiösen, wie der nichtreligiösen Bürger abhängt.“ Und weiter : „In einem säkularen Staat müssen sie [die religiösen Bürger] freilich auch akzeptieren, dass der politisch relevante Gehalt ihrer Beiträge in einen allgemein zugänglichen, von Glaubensautoritäten unabhängigen Diskurs übersetzt werden muss, bevor er in die Agenden staatlicher Entscheidungsorgane Eingang finden kann.“31 Mit anderen Worten: Religiöse Argumente haben sich ohne fundamentalistische Umsetzungsansprüche im allgemein zugänglichen zivilgesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess gleichsam in einer für sie ungewohnten „freien Wildbahn“ der modernen Kommunikationsgesellschaft zu bewähren. Diese Möglichkeit darf ihnen im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht genommen werden.

Literaturverzeichnis Akhil Reed, Amar : The Bill of Rights: Creation and Reconstruction. New Haven 1998. Audi, Robert: Democratic Authority and the Separation of Church and State. Oxford 2011. 30 So insbesondere Stout 2004; Wolterstorff 1997; Eberle 2002. 31 Habermas 2012a, auch online.

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Religiöse Pluralisierung und säkularer Rechtsstaat

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Stefan Hammer

Öffentliche Religionen zwischen Kulturalismus und säkularer Vernunft

Diesseits und jenseits des Atlantik wurden in den letzten Jahren Ansätze entwickelt, die sich darum bemühen, den Beitrag von Religionen zum öffentlichpolitischen Diskurs auf die Bedingungen säkularer Rationalität zu verpflichten. So stellt Rawls die Forderung auf, dass Positionen, die aus „umfassenden“, metaphysischen Lehren wie insb. Religionen abgeleitet werden, auch auf politische Gründe gestützt sein müssen, die unabhängig von jenen umfassenden Lehren und damit auch für Bürger einsehbar sind, welche diese nicht teilen.1 Habermas attestiert umfassenden Lehren solcher Art zwar ein Rationalitätspotential, das sich in die Sprache nachmetaphysischer öffentlicher Vernunft übersetzen lässt, macht aber die Legitimität der Beiträge zum öffentlichen Diskurs, die sich auf solche Grundannahmen stützen, jedenfalls im Rahmen der staatlichen Institutionen demokratischer Willensbildung vorweg von einer solchen Übersetzungsleistung abhängig.2 Ziel dieses Beitrags ist es nicht vorrangig, der überaus weit verzweigten Diskussion um diese theoretischen Strömungen, von denen Rawls und Habermas nur die prominentesten Exponenten sind, eine weitere Stellungnahme hinzuzufügen. Vielmehr soll das theoretische Bemühen um eine säkulare Domestizierung religiös fundierter Positionen im öffentlichen Raum in Bezug zu den religionsrechtlichen Regimen gesetzt werden, die sich in den unterschiedlichen Ausprägungen säkularer Staatlichkeit in Europa herausgebildet haben, und die heute vor neuen Herausforderungen religiöser Pluralisierung stehen. Das Anliegen, religiöse Begründungen aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch auszuscheiden, verbindet sich in seiner europäischen Rezeption zunächst mit den säkularistischen Vorbehalten gegenüber einer rechtlich institutionalisierten öffentlichen Wirksamkeit von Religionen, wie sie in Deutschland und Österreich besteht (I.). Dieses religionsrechtliche Modell dient aber heute zunehmend als Folie für die integrationspolitische Verarbeitung einer rezenten, insb. auch mi1 Die revidierte Version seiner Konzeption findet sich in Rawls 1996. 2 Habermas 2005, S. 119ff.

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grationsbedingten religiösen Pluralisierung und überlagert damit die ursprüngliche Sinngebung der öffentlichen Repräsentanz von Religionen, die auf die Mobilisierung ihres ethosbildenden Potentials für Zivilgesellschaft und demokratische Öffentlichkeit ausgerichtet war (II.). In der neuen integrationspolitischen Funktionalisierung als Repräsentation kultureller Pluralität stößt der institutionalisierte öffentliche Status von Religionsgemeinschaften nicht mehr prinzipiell auf die gleichen säkularistischen Ressentiments wie zuvor, nährt aber die Vorbehalte gegenüber den Resten der Zuerkennung einer ethischen Führungsrolle von Religionen, deren Identifikation mit bestimmten metaphysischen Grundüberzeugungen eben nur mehr als Ausdruck partikulärer Identitäten gelten kann und insofern ihre Untauglichkeit für den reflexiven öffentlichen Vernunftgebrauch bestätigt (III.). Will man demgegenüber Religionen eine öffentliche Rolle zugestehen, in der sie ihr ethisch-reflexives Potential gerade auch für die pluralistisch gewordene Zivilgesellschaft mobilisieren, so müssen sie auch durch das staatliche Religionsrecht den reflexiven Herausforderungen säkularer Öffentlichkeit ausgesetzt werden, ohne dass ihnen dabei den Anschein einer ethischen Hegemonie vermittelt wird (IV.).

I.

Gesellschaftliche oder staatliche Öffentlichkeit von Religion?

In Amerika gilt Religion, gerade auch im öffentlichen Bereich, von Haus aus als eine Sache des Volkes bzw. der Bürgergesellschaft, nicht des Staates. Säkularität der staatlichen Institutionen, verfassungsrechtlich garantiert durch die „establishment clause“ und die in der Rechtsprechung daraus abgeleitete „wall of separation“ zwischen Religion und Staat, dient flankierend dem Schutz der religiösen Selbstbestimmung der Bürger, die sich gerade auch in der zivilgesellschaftlichen Sphäre und im Medium demokratischer Öffentlichkeit entfalten können soll. Die damit in Anspruch genommene Religionsfreiheit erscheint so als positive, sogar politische Freiheit, und es geht bei der Trennung von Staat und Religion um den Schutz autonomer gesellschaftlicher Religiosität vor staatlicher Steuerung bzw. Usurpation.3 Das damit freigesetzte Potential scharfer gesellschaftlicher Gegensätze zwischen religiös-ethischen Grundüberzeugungen hat sich mit der Intensivierung politischer Grundsatzdebatten um Schwangerschaftsunterbrechung oder gleichgeschlechtlicher Ehe noch verschärft. Die darin angelegte Tendenz zu religiös-ethischer Fundamentalisierung bzw. Radikalisierung war wohl auch ein Faktor für die verstärkte Sichtbarkeit von Religion in der öffentlichen Sphäre und wird nun zunehmend als Gefahr für die Chancen diskursiver politischer Verständigung in einer ethisch fragmentierten Gesell3 Audi 2011, S. 40, 59.

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schaft wahrgenommen. Das Anliegen, die politische Auseinandersetzung auf allgemein geteilte, nicht von partikulären metaphysischen Grundannahmen abhängige Prinzipien zu verpflichten, verdankt sich also zum Gutteil der Sorge um den ethischen Zusammenhalt einer liberal verfassten politischen Gemeinschaft. Die Situation in Europa stellt sich insofern anders dar, als die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum nicht durchgehend als Ergebnis zivilgesellschaftlichen Freiheitsgebrauchs interpretiert wird, sondern vielfach noch immer als Relikt früherer Epochen dominanter staatlicher Großkirchen wahrgenommen wird. So wird staatliche Säkularität in Europa primär als Garant negativer Religionsfreiheit,4 als Schutz der Bürger und der Zivilgesellschaft vor staatlich protegierter öffentlicher Religion als einem illegitimen, aus vorrevolutionären Zeiten überkommenen Instrument politischer Herrschaft, und damit letztlich auch als Schutz des Staats vor religiösem Einfluss verstanden.5 Eine säkularistische Ausgrenzung von Religion aus der öffentlichen Sphäre wird, soweit sie nicht rechtlich institutionalisiert ist, als Postulat gegen die in manchen Staaten hervorgehobene Stellung bestimmter Religionsgemeinschaften, insbesondere traditioneller Großkirchen, artikuliert. Wenn nun Kirchen aus einer solchen privilegierten Stellung in fundamentalen, gesellschaftlich besonders umstrittenen Fragen ethisch Position beziehen, so erhält dies aus der Perspektive jener verbreiteten säkularistischen Einstellungen auch die Konnotation einer ungerechtfertigten Begünstigung ethisch-religiöser Barrieren für fundamentale emanzipatorische Anliegen. In das begriffliche Raster der Unterscheidung zwischen umfassenden Theorien und säkularer Rationalität hineinprojiziert, leistet der Staat durch eine solche Privilegierung gesellschaftlich verwurzelter Glaubensbekenntnisse indirekt einer Befangenheit der öffentlichen Debatte in metaphysischen, nicht rationalisierbaren Überzeugungen Vorschub.6 Vor diesem Hintergrund drängt sich eine Rezeption der Positionen von Rawls im europäischen Kontext geradezu auf.7 Denn sie dient hier nicht nur, wie auch im amerikanischen Kontext, dem Anliegen einer Domestizierung metaphysischer Positionen im öffentlichen Raum durch ihre Verpflichtung auf die Grenzen freistehender, säkularer Rationalität, sondern erhält in Europa auch eine spezifische Stoßrichtung gegen die staatliche Privilegierung ausgerechnet jener Art

4 Bielefeldt 2013, S. 49f. 5 Siehe z. B. Casanova 2009; zu dieser Sichtweise im Zusammenhang mit dem Präambelstreit zur Europäischen Verfassung vgl. Casanova 2004. 6 Am Beispiel der Bioethik siehe Pauer-Studer 2003: „Die offizielle österreichische Biopolitik basiert auf einem quasireligiösen Fundamentalismus, der … sich auf orthodoxe Positionen zurückzieht, die jeden offenen Diskurs letztlich verunmöglichen.“ 7 Vgl. Pauer-Studer 2010, S. 16ff., 27ff.

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von ethischen Positionierungen, die im liberal verfassten öffentlichen Diskurs vermeintlich gerade keine Berücksichtigung verdienen. Dagegen hat nicht zuletzt Habermas berechtigte Vorbehalte geltend gemacht, wenn er gegenüber religiös fundierten Positionen von säkularer Seite das Zugeständnis einfordert, dass auch Intuitionen, die in tradierten ethisch-religiösen Grundeinstellungen wurzeln, über Rationaliätspotentiale verfügen könnten, die sich im Medium reflexiver öffentlicher Vernunft verarbeiten lassen.8 Darin klingt aber genau jener Begründungszusammenhang an, der für ein religionsrechtliches System der kooperativen oder „hereinnehmenden“ staatlichen Neutralität, die den Religionsgemeinschaften einen Platz im öffentlichen Raum institutionell sichert, ins Treffen geführt wird: Der freiheitlich-demokratischen Staat zehre von einem Ethos seiner Bürger, das er zwar nicht selbst garantieren kann, dessen zivilgesellschaftliche Reproduktion er aber durch entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen begünstigen kann.9 Dabei gelten gerade Religionsgemeinschaften als Träger einer Ethikkompetenz10, die nicht zuletzt im Wege der Zuerkennung eines öffentlich-rechtlichen Status für die Zivilgesellschaft mobilisiert werden kann. Dieser Zugang impliziert somit die Anerkennung gerade jenes Rationalitätspotentials, das Religionen zugesonnen wird, wenn für sie die Möglichkeit gefordert wird, sich gleichberechtigt in die politischen Diskurse eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens einzubringen.11 Damit ist freilich im Prinzip für alle gesellschaftlich relevanten Religionsgemeinschaften eine gleiche, faire Chance auf Zugang zu einem Status postuliert, der ihnen die Möglichkeit zivilgesellschaftlichen und politischen Engagements sichert.12 Dass diese Konsequenz nicht durchwegs gezogen wird, zeigt exemplarisch bis heute die in Deutschland geführte Auseinandersetzung zwischen 8 Habermas 2005, S. 137. 9 Vgl. etwa Hillgruber 2007, S. 221ff., mwN; Huster 2007, vgl. auch Burmeister 1999, S. 353. Dahinter stehen durchwegs Überlegungen, wie sie im berühmten Diktum von Böckenförde auf den Begriff gebracht werden, wonach der freiheitliche säkulare Staat von ethischen Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren kann: Böckenförde 1992, S. 112. In die gleiche Richtung Habermas 2012: „Die Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt werden, weil eine deliberative Politik vom öffentlichen Vernunftgebrauch ebenso der religiösen wie der nichtreligiösen Bürger abhängt.“ 10 Kalb / Potz / Schinkele 2003, S. 75, 181, 316ff. 11 Vgl. Habermas 2007: „Wenn aber religiös begründete Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit einen legitimen Platz haben, wird von Seiten der politischen Gemeinschaft offiziell anerkannt, dass religiöse Äusserungen zur Klärung kontroverser Grundsatzfragen einen sinnvollen Beitrag leisten können. … (Es) muss der liberale Staat dann auch von seinen säkularen Bürgern erwarten, dass sie in ihrer Rolle als Staatsbürger religiöse Äusserungen nicht für schlechthin irrational halten.“ 12 Vgl. etwa Huster 2007, S. 129.

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einer „staatskirchenrechtlichen“ Lesart des staatlichen Religionskorporationsrechts, die aus eine „kulturstaatlichen“ Perspektive den öffentlich-rechtlichen Status den traditionellen Religionsgemeinschaften vorbehalten will,13 und einer „religionsverfassungsrechtlichen“ Lesart, die aus grundrechtlicher Perspektive für eine Öffnung dieser Rechtsstellung auch für neu hinzukommende Religionsbekenntnisse eintritt.14 Über die Frage nach der Inklusivität des staatlichen Religionskorporationsrechts hinaus stellt sich aber mit dem liberalen Anliegen eines gleichberechtigten Zugangs religiöser und nicht-religiöser Grundüberzeugungen zum öffentlich-politischen Diskurs auch die weitere Frage nach der Legitimität institutioneller Sonderrechte, die Religionsgemeinschaften als solche gegenüber anderen zivilgesellschaftliche Akteure privilegieren.15 Dass Religionsgemeinschaften eine legitime öffentliche Rolle in einem freiheitlich verfassten Gemeinwesens spielen können müssen, sagt nämlich noch nichts darüber aus, ob und inwieweit es Gründe gibt, die überhaupt eine institutionelle Differenzierung zwischen religiösen und nicht-religiösen Ethosressourcen für die freiheitliche Demokratie rechtfertigen. Für beide der aufgeworfenen Fragen spielen rezente Veränderungen in der Wahrnehmung einer neuen, vor allem migrationsbedingten religiösen Pluralität in Europa eine maßgebliche Rolle.

II.

Vom religiös-ethischen zum religiös-kulturellen Pluralismus

Die religiöse Diversität, die den Umgang des Staates mit Religion(en) in Europa vor neue Herausforderungen stellt, ist von anderer Art als im amerikanischen Ausgangsfall.16 Die Problematik, an der sich die amerikanische Debatte um die öffentliche Rolle von „umfassenden Theorien“, wie sie Religionen darstellen, in der liberalen Demokratie entzündet hat, lag im Befund eines sich vertiefenden ethischen Dissenses in fundamentalen politischen Fragen, insb. der Abtreibungsfrage, die für diese Problematik bis heute paradigmatisch geblieben ist. Die dabei aufeinander treffenden liberal-säkularen oder religiös-konservativen Überzeugungen unterschiedlicher Schattierung werden im Wesentlichen von gesellschaftlichen Gruppierungen getragen, die zwar ursprünglich durch sukzessive Einwanderungswellen gebildet wurden, heute aber im Wesentlichen seit 13 Zur potentiellen christlichen „Schlagseite“ des Böckenförde-Diktums vgl. Heinig 2003, S. 39ff. 14 Zu dieser Grundsatzdebatte vgl. nur den Sammelband von Heinig / Walter 2007. 15 Die Rede ist hier vom sog. „Privilegienbündel“, das in Deutschland und in Österreich in jeweils unterschiedlichem Zuschnitt mit dem öffentlich-rechtlichen Status von Religionsgemeinschaften verbunden ist. Zur diesbezüglichen Rechtslage in Österreich siehe Kalb / Potz / Schinkele 2003. 16 Dazu nur Casanova 2006.

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geraumer Zeit feste Bestandteile der amerikanischen Gesellschaft sind. Demgegenüber ist die religiös-weltanschauliche Diversifizierung in Europa zu einem Großteil das Ergebnis rezenter Migrationsbewegungen, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend unter dem Aspekt kultureller Differenz wahrgenommen werden. Nicht moralisch-ethische Differenzen in fundamentalen gesellschaftlichen und politischen Diskursen, sondern kulturelle Differenzen in der Lebensform bilden die politischen Herausforderungen des neuen religiösen Pluralismus in Europa. Demgemäß haben Fragen der staatlichen Religionspolitik in Europa zunehmend kulturalistische Züge angenommen.17 Unter den Verteidigern des traditionellen, vor allem auf die christlichen Großkirchen bezogenen Staatskirchenrechts in Deutschland ist eine kulturstaatliche Auffassung vorherrschend, die den Islam oder andere nicht-europäische Religionen mit den abendländischen Ethosvoraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates aus kulturellen Gründen für inkompatibel hält und demgemäß eine Öffnung des öffentlich-rechtlichen Sonderstatus der autochthonen Konfessionen auf solche Neuankömmlinge strikt ablehnt.18 Die Argumentation läuft dabei auf die Behauptung einer konfessionell geprägten abendländischen Leitkultur hinaus und schlägt sich etwa in den Debatten um religiöse Symbole in der Öffentlichkeit nieder, denen aus staatlich-politischer Perspektive eher die Funktion kultureller Selbstaffirmation als eine religiöse Bedeutung zugeordnet wird. Der religionspolitische „cultural turn“ verstärkt sich aber noch in einer neueren, auf den ersten Blick gegenläufigen Tendenz, Religionsgemeinschaften als Repräsentanten einer vor allem migrationsbedingten kulturellen Diversität aufzufassen und demgemäß in einen integrationspolitischen Zusammenhang zu stellen. Die vorhergehende Engführung der Religionspolitik auf eine abendländische, (jüdisch-)christlich geprägte Leitkultur weicht damit einer multikulturellen Öffnung, mit der allerdings die eingenommene kulturalistische Sichtweise fortgeschrieben und vertieft wird. Dies lässt sich vor allem an der Entwicklung in Österreich ablesen. Die anfängliche staatspolitische Zurückhaltung, den Kreis der Religionsgemeinschaften mit privilegiertem Status auf all jene auszuweiten, die an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen haben, musste zunächst unter dem Druck menschenrechtlicher Diskriminierungsverbote einer inklusiveren Praxis weichen.19 Dies kam auch weiteren Religionsgemeinschaften mit hohem Einwandereranteil zugute, sodass die dadurch entstandene Pluralität von öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften heute auch einen Gutteil 17 Siehe etwa die detaillierte vergleichende Studie von Brunn 2012. 18 Z. B. Hillgruber 1999. Gegen solche „kulturgenetische Vereinnahmungen des Säkularitätsprinzips“ Bielefeldt 2007, S. 90ff. 19 Hammer 2005.

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der migrationsbedingten kulturellen Diversität der österreichischen Gesellschaft widerspiegelt. Aus dieser multikulturellen Not hat die staatliche Religionspolitik in den letzten Jahren eine integrationspolitische Tugend gemacht und die Repräsentanz kultureller Diversität in den offiziellen Religionsgemeinschaften als Chance aufgegriffen, durch Intensivierung vor allem von informellen politischen Kontakten mit Vertretern der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften auch für die breite Öffentlichkeit eine Politik des Dialogs zu propagieren,20 die die Vereinbarkeit von kultureller Vielfalt mit Loyalität zu den Werten der österreichischen Verfassung sichtbar machen soll.21 Diese integrationspolitische Neuorientierung der staatlichen Religionspolitik ist von den offiziellen Organisationen insb. der Einwandererreligionen weithin aufgegriffen worden, und sie verstehen sich nach ihrer öffentlichen Selbstdarstellung heute in erster Linie als Vertreter von Minderheiten mit breitem Migrationshintergrund, deren Hauptanliegen die gesellschaftlich-politische Akzeptanz und der rechtliche Schutz ihrer jeweiligen kulturell-religiösen Identität bilden. Die Themen, die in den Dialogforen zwischen Politikvertretern und Vertretern offizieller Religionsgemeinschaften verhandelt werden, bilden denn auch typische Problembereiche der gesellschaftlichen Akzeptanz kulturellreligiöser Diversität.22 In diesem integrationspolitischen Kontext treten allgemeine Debatten über fundamentale gesellschaftsethische Fragen von Biomedizin über Sterbehilfe bis zu Gentechnik, Umwelt- und Klimapolitik stark in den Hintergrund und werden weiterhin nur noch von den autochthonen Kirchen betreut, die sich auch schon vor der kulturell-religiösen Diversifizierung in solchen öffentlichen Grundsatzdebatten eingebracht haben. Religionsgemeinschaften, die aufgrund starker Migrationskomponente erst in neuerer Zeit an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen haben, treten indessen weithin für ihre Anliegen als gesellschaftliche Minderheiten ein, beteiligen sich aber kaum an öffentlichen Diskursen um jene allgemeinen gesellschaftsethischen Fragen.23 Damit tragen gerade jene religiösen Akteure, die an der Ausweitung der religiöskulturellen Vielfalt einen besonders großen Anteil haben, zur Bereicherung des Spektrums an ethischen Ressourcen für säkulare öffentliche Grundsatzreflexionen besonders wenig bei. 20 Dazu eingehend Stöckl / Mour¼o Permoser / Rosenberger 2012, S. 189ff. Im Integrationsbericht 2014, S.13, 16, figuriert der Dialog mit den Religionen als eine zentrale Aufgabe im Rahmen des interkulturellen Dialogs. 21 Vgl. Integrationsbericht 2014, S. 11f.: lebenskulturelle Vielfalt in rechtskultureller Einheit. 22 Vgl die Grazer Erklärung zum Interreligiösen Dialog 2014, insb S 12–14 („Handlungsempfehlungen an Stadtregierungen und Religionsgemeinschaften“), die aber in wichtigen Punkten auch über den bloßen wechselseitigen Respekt von Identität hinausreicht: http:// interrelgraz2013.com/wp-content/uploads/2013/10/Grazer_Erklaerung_D.pdf. 23 Das bedauert in Bezug auf den Islam zurecht Körtner 2015.

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III.

Stefan Hammer

Religionen als „umfassende Theorien“ in der Identitätsfalle

Die integrationspolitische Funktionalisierung der staatlichen „governance of religions“ steht auch in einem Spannungsverhältnis zur ethosbildenden Zweckbestimmung des Systems der positiven bzw. kooperativen Neutralität. Die besondere Rechtsstellung der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften besteht zu einem großen Teil aus begünstigten Möglichkeiten der Mitwirkung in öffentlichen Aufgabenbereichen, in denen Religionsgemeinschaften ihr spezifisches Ethos einbringen und als Ressource für die Reproduktion des allgemeinen zivilgesellschaftlichen Ethos fungieren können.21 Manchen Vergünstigungen, etwa im Schulbereich, können zwar auch Funktionen zugeschrieben werden, die dem Schutz der religiös-kulturellen Identität bestimmter Bevölkerungsgruppen dienen und darin mit dem Schulwesen für sprachliche Minderheiten vergleichbar sind. Die Vorkehrungen für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, vielfältige Erleichterungen für die Seelsorge oder die Vertretung von Kirchen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk24 lassen sich aber jedenfalls nicht restlos in minderheitenrechtliche Instrumente zum Schutz partikularer religiös-kultureller Identitäten vor Assimilationsdruck und zur Förderung ihrer Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft umdeuten. Sie stehen vielmehr allesamt im Zusammenhang mit der Intention, ethische Ressourcen für die Zivilgesellschaft und die demokratische Öffentlichkeit zu sichern. Dieser Zweck wird bei weiteren Sonderfunktionen deutlich, die sich überhaupt nur als Instrumente zur Mobilisierung der den Religionsgemeinschaften zugeschriebenen Ethikkompetenz für den öffentlichen Diskurs über zentrale gesellschaftspolitische Fragestellungen verstehen lassen. Paradigmatisch ist hier die Vertretung der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften in Ethikkommissionen und anderen öffentlichen Gremien zur Beratung derartiger Fragen.25 Die Sinngebung des staatlichen Religionsrechts, die sich in der Ausgestaltung der bestehenden Sonderrechte manifestiert, die mit dem öffentlich-rechtlichen Status von Religionsgemeinschaften verbunden sind („Privilegienbündel“), sperrt sich also jedenfalls gegen eine durchgängige kulturalistische Umdeutung. Die kulturalistische Perspektive wirkt aber zurück auf die Wahrnehmung der ethischen Positionierungen insb. der traditionellen Kirchen, die diese im Rahmen ihrer institutionalisierten Mitwirkung an ethisch-politischen Fundamentaldebatten formulieren. Der neue Kontext der kulturalistischen Lesart des Religionskorporationsrechts als Vertretung von Gruppenidentitäten legt es nahe, 24 Die Vertretung im Publikumsrat gemäß § 29 ORF-Gesetz ist überhaupt auf die römischkatholische Kirche und auf die evangelische Kirche eingeschränkt. 25 Kalb / Potz / Schinkele 2003, S. 316ff.

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auch solche Positionierungen als Ausdruck kulturell-religiöser Identität erscheinen zu lassen und bestätigt damit indirekt, dass sie von vornherein gar nicht als Debattenbeiträge zu lesen sind, welche diskursive Rationalität beanspruchen können, sondern als Ausdruck gewachsener kultureller Identitäten, deren Partikularität angesichts der zunehmenden kulturellen Diversifizierung nur noch augenfälliger wird. So gesehen erweist sich gerade die rezente multikulturell-integrationspolitische Funktionalisierung der Repräsentanz von Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum auch als zusätzlicher Katalysator für eine säkularistische Sichtweise, die den Religionen ein öffentlichkeitstaugliches ethisches Rationalitätspotential absprechen will. Insofern, als fundamentale ethische Differenzen in der pluralistischen Gesellschaft als auf inkompatiblen „umfassenden Theorien“ beruhend qualifiziert werden, können sie so von Haus aus nicht als diskursiv aufzulösend, sondern als interkulturell zu vermittelnd aufgefasst werden. Es zeigt sich also eine Konvergenz zwischen der Exklusion ethischer Ansprüche, die Religionen als „umfassenden Theorien“ zugerechnet werden, von den Foren säkularer öffentlicher Rationalität, und der Reduktion der ethischen Substanz solcher Provenienz auf eben nicht rationalisierbare faktische Gruppen-Identitäten. In kulturalistischer Funktionalisierung als gruppenbezogener Identitätsschutz und Integrationsinstrument passt die öffentliche Repräsentanz von Religionsgemeinschaften also durchaus in das Schema einer von „umfassenden Theorien“ gereinigten säkularen Vernunft der demokratischen Öffentlichkeit. Aus integrationspolitischer Sicht bedürfte sie freilich der Ergänzung durch die gleichwertige Repräsentanz der Interessen anderer, nicht-religiöser Gruppenidentitäten. Mit der integrationspolitischen Mobilisierung des Religionskorporationsrechts ist nämlich die Gefahr der Verengung von Integrationsproblemen auf die religiöse Perspektive verbunden.26 Vor allem aber mangelt es auch der konkreten Ausgestaltung des „Privilegienbündels“, das nicht primär an der Vertretung von Gruppenidentitäten ausgerichtet ist, sondern die Ethikkompetenz der Religionsgemeinschaften für die Zivilgesellschaft mobilisieren will, an Passgenauigkeit für integrationspolitische Anliegen und läuft damit zugleich auch dem Anliegen der Exklusion umfassender, insb. religiöser Theorien, aus der säkularen Öffentlichkeit zuwider. Denn gerade insoweit, als säkularistische Positionen einen „cultural turn“ in der staatlichen Religionspolitik nachvollziehen und die Funktionalisierung des Religionskorporationsrecht für die Vertretung und gesellschaftliche Integration partikulärer Gruppenidentitäten mittragen können, verstärkt sich damit zwangsläufig ihr Ressentiment gegen die Privilegierung der Religionsgemeinschaften als Ethosträger in den säkularen Foren demokratischer Öffentlichkeit. In verbreiteter säkularistischer Wahr26 Stöckl / Mur¼o Permoser / Rosenberger 2012, S. 202.

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nehmung stellen diese Privilegierungen nämlich Relikte aus früheren staatskirchlichen Verhältnissen dar und vermitteln noch heute geradezu den Anschein eines öffentliches „Ethikmonopols“27 für genau jene ethischen Positionen, die in nachmetaphysischer Perspektive gerade nicht mit „freistehenden“ Argumenten im säkularen Diskurs rationalisierbar sind, zumal sie ja gerade auch in neuerer offizieller Lesart primär als Ausdruck einer kulturellen Identität, mithin einer jeweils kulturell bestimmten Identifikation mit umfassenden metaphysischen Grundannahmen zu gelten haben. Daraus erklärt sich heute die vielfach zwiespältige Haltung mancher politischer Kräfte zu einer bevorzugten rechtlichen Stellung von Religionsgemeinschaften. Soweit sie bestimmten religiösen Minderheiten zugutekommen, gilt sie als Aufwertung ihrer Identität in einer pluralistischen Gesellschaft, eine damit einhergehende Aufwertung von Religion in der säkularen Öffentlichkeit gilt aber als Rückfall in staatskirchliche Verhältnisse.28 In dieser Konstellation finden sich Religionen heute vielfach in einer ambivalenten öffentlichen Wahrnehmung zwischen kulturpluralistischer Wertschätzung und diskursiver Ausgrenzung.

IV.

Religionsrecht als pluralistisches Portal zum öffentlichen Vernunftgebrauch

Eine bevorzugte Rechtsposition für Religionsgemeinschaften ist kein Gebot der Religionsfreiheit, erleichtert aber ihre Ausübung in vielfältiger Weise. Die Ausgestaltung bzw. politische Handhabung einer solchen bevorzugten Stellung wirkt also zurück auf das Verständnis und die Wahrnehmung der Religions27 So eine verbreitete Diktion: Als Beispiel unter vielen vgl. die Kritik der „Laizistischen Sozis“ (2014 online) zu politischen Umgang mit der Frage der Sterbehilfe durch die SPD: „Die von der SPD-Bundestagsfraktion nur gegenüber den beiden Kirchen ausgesprochenen Einladungen zeigen einmal mehr die Notwendigkeit von mehr Pluralität gerade auch bei ethischen Fragestellungen. Die beiden Kirchen besitzen in Deutschland weder ein „Ethik-Monopol“, noch vertreten sie beim Thema Sterbehilfe mit ihren restriktiven Anschauungen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung.“ 28 Auf den Punkt gebracht bei Dückers 2012: „Aber statt die Macht der christlichen Kirchen zu begrenzen, werden andere Religionsgemeinschaften aufgewertet. Dass die Stadt Hamburg muslimische Feiertage nun als nicht gesetzliche Feiertage einführen will, ist zwar ein positives Signal, um die verschiedenen Religionsgemeinschaften in Deutschland rechtlich gleichzustellen. … Aber wollen wir tatsächlich für ein noch stärker religiös geprägtes Alltagsleben in Deutschland streiten? … Wer nur mit multikulturalistischer Wohlfühl-Attitüde die „schöne religiöse Vielfalt“ bejubelt (gern noch mit dem Wort „bunt“ garniert), begeistert sich vor allem für das Wörtchen „Vielfalt“, übergeht aber das „religiös“. Übersehen wird dabei, dass Religion, und zwar unabhängig von der Konfession, fast immer einen nicht verhandelbaren intoleranten Kern besitzt.“ Vgl. z. B. auch die ambivalente Position der „Grünen“ in Bayern zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung des Islam.

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freiheit selbst. Für dieses Menschenrecht wurde im globalen Kontext eine rezente Bedeutungsverschiebung von einem Schutz kommunikativer Freiheit zu einem Schutz von Identität diagnostiziert.29 Während sich diese Verschiebung im internationalen Vergleich etwa in Vorstößen zum Schutz der Integrität religiöser Lehren als solcher gegen Diffamierung, ja sogar gegen Häresien manifestiert, nimmt sich das ungleich subtilere Phänomen einer kulturalistischen Einfärbung der öffentlichen Repräsentanz von Religionsgemeinschaften im europäischen Rahmen vergleichsweise harmlos aus. Als Reaktion auf die religiöse Diversifizierung von Gesellschaften in globaler Dimension kann diese europäische Entwicklung aber durchaus mit jenen Phänomenen auf internationaler Ebene in Verbindung gebracht werden. In Europa wirft dies jedenfalls zunehmend Fragen der kulturellen Kohäsion und der politischen Loyalität zu einem Gemeinwesen auf, die die Fragen diskursiver Verständigung in ethisch-politischen Grundsatzdebatten eher in den Hintergrund treten lassen. Als Reaktion darauf wirkt nun die institutionelle Hervorhebung religiös-kultureller Pluralität auf das Verständnis der religionsbezogenen Grundrechte zurück, deren Gebrauch damit erleichtert wird. Religionsfreiheit im öffentlichen Raum wird heute eher als Recht auf öffentliche Manifestation einer bestimmten Identität wahrgenommen denn als kommunikative Freiheit der Teilhabe an öffentlich-politischen Diskursen. Die für die freiheitliche Demokratie weithin als essentiell geltende Mobilisierung gesellschaftlicher Ethosträger zum Engagement im öffentlichen Prozess der Legitimation politischer Herrschaft wird damit insb. in Bezug auf neu hinzugekommene religiöse Akteure auf die negative Anforderung reduziert, in der Pflege ihrer religiös-kulturellen Identität die „Werte“ der rechtsstaatlichdemokratischen Verfassung nicht in Frage zu stellen.30 Dies bildet aber keinen spezifischen Anreiz, sich den Herausforderungen der ethischen Pluralität einer freiheitlich verfassten politischen Öffentlichkeit zu stellen oder gar die Zumutungen einer säkularen, auf religiöse Neutralität verpflichteten Grundrechtsdemokratie theologisch zu verarbeiten. Natürlich stehen den Religionsgemeinschaften diese Optionen im Rahmen der ihnen rechtlich garantierten Bandbreite grundrechtlichen Freiheitsgebrauchs offen, und dem Staat ist es auch verwehrt, etwa einen demokratisch-funktionalen Gebrauch der Religionsfreiheit gegenüber anderen Alternativen grundrechtlich zu privilegieren. Anstatt dessen müssen sich jedoch die im autochthonen Umfeld kulturell „neuen“ Religionsgemeinschaften durch eine identitäts- und integrationspolitisch orientierte staatliche Religionspolitik spezifisch zu einer öffentlichen Affirmation ihrer Gruppenidentität aufgefordert sehen, und nicht dazu, sich auf das Umfeld des 29 Bielefeldt 2013, S. 45f, 60ff. 30 Integrationsbericht 2014, S. 11f.

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Stefan Hammer

säkularen öffentlichen Vernunftgebrauchs diskursiv-reflexiv einzulassen. Dies gilt auch für das neue religionsrechtliche Regime für den Islam in Österreich, das von der Intention getragen ist, das öffentliche Profil dieser Religion auf klar umrissene Glaubenslehren festzuschreiben, die jeweils institutionellen Monopolvertretungen zugeordnet werden. Das stimuliert gerade keine offene, reflexive Weiterentwicklung theologischer Positionen in Auseinandersetzung mit dem säkularen Umfeld.31 Als Alternative soll hier nicht einem Ausbau jener Sonderstellungen das Wort geredet werden, die das traditionelle Staatskirchenrecht den ehemals gesellschaftlich dominierenden Großkirchen im Interesse der Reproduktion eines religiös imprägnierten öffentlichen Ethos eingeräumt hat. Im Gegenteil: die Fortschreibung derartiger religionsspezifischer Privilegierungen auch für eine erweiterte Anzahl migrationsbedingt gesellschaftlich relevant gewordener Religionsgemeinschaften nährt eher den säkularistischen Argwohn gegenüber einem staatlichen Bonus für religiöse Grundorientierungen, der geradezu als Kompensation für ihre (vermeintlich) mangelnde argumentative Tauglichkeit in der Arena öffentlichen Vernunftgebrauchs wahrgenommen werden kann. Auf der anderen Seite kann es auch nicht etwa darum gehen, Themen kultureller Differenz und wechselseitiger Akzeptanz in einer pluralistischen Gesellschaft aus der Reichweite der staatlichen Religionspolitik zu verbannen. Auch hier trifft das Gegenteil zu: Gerade die Bedingungen und die Grenzen kultureller Selbstbestimmung in einem freiheitlich verfassten politischen Gemeinwesen auszuloten, gehört zu den drängenden gesellschaftsethischen und verfassungspolitischen Grundfragen der Gegenwart. Nur setzt eine ebenbürtige Teilnahme von Religionsvertretern an dieser öffentlich auszutragenden Grundsatzdebatte voraus, dass sie sich nicht nur als Vertreter ihrer jeweiligen Gruppeninteressen und Identitäten verstehen und als solche wahrgenommen werden, sondern dass sie sich zu diesen eigenen partikularen Interessen in ein reflexives Verhältnis setzen und insofern aus ihren religiösen Position auch verallgemeinerungsfähige Argumente formulieren, die deshalb beanspruchen können, von säkularen Diskurseilnehmern mit erwogen zu werden.32 Das säkulare staatliche Recht kann dafür nur den institutionellen Rahmen bereitstellen, aber es kann diesen so ausgestalten, dass einer Vertiefung der Dichotomie 31 Eine Ausnahme bildet § 24 Islamgesetz 2015, der die Verpflichtung zur Einrichtung Islamischer Theologie an der Universität Wien enthält und somit als Anstoß zur Entwicklung einer öffentlichen islamischen Theologie in Österreich gelten kann. 32 Beide Perspektiven treffen in der gemeinsamen Stellungnahme der Interreligiösen Dialogplattform zur rezenten Beschneidungsdebatte vom 27. 5. 2014 aufeinander: Die jüdische und die islamische Seite sind in ihren ureigenen Interessen betroffen, Kirchen erheben unabhängig von unmittelbarer Betroffenheit ihre Stimme für einen angemessenen Stellenwert der Religionsfreiheit. Siehe „Pro Religion“ o. J. (online).

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zwischen säkularer Rationalität und identitätsbedingter Glaubenstreue in der kommunikativen Praxis der Zivilgesellschaft nicht noch eigens Vorschub geleistet wird.

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Julia Mour¼o Permoser

Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion1

Einführung Dieser Beitrag widmet sich der Erörterung der Rolle der Religion im Europäischen Parlament (EP), vor allem im Hinblick auf die Arbeit und Einstellungen der österreichischen Abgeordneten im europäischen Parlament (MEPs). Wie denken österreichische MEPs über Religion? Welche Rolle spielt Religion in ihrer täglichen Arbeit? Unterscheiden sich österreichische EU-Parlamentarier/ innen in ihrer Haltung gegenüber der Religion von anderen MEPs? Die Antworten auf diese Fragen geben Aufschluss über die Beziehung der österreichischen politischen Elite zur Religion, sowie über den Einfluss europäischer Integration auf diese Beziehung. Zusätzlich kann uns dies auch helfen, die (Re-) Konfiguration der Beziehung zwischen Politik und Religion im Rahmen des „Postsäkularismus“ und der „Rückkehr der Religion“ zu verstehen. In wissenschaftlichen Kreisen wurde lange an der Idee festgehalten, Modernität und Säkularismus seien intrinsisch miteinander verwoben. Die Theorie der Säkularisierung besagte vor allem, dass Modernisierung und wirtschaftlicher Wohlstand sowohl politische als auch soziale Säkularisierung nach sich zieht. In diesem Sinne müsste die Europäische Union – das Paradebeispiel einer modernen Organisation, die mit Globalisierung und wirtschaftlicher Liberalisierung untrennbar verbunden ist – durch eine vollkommene Trennung von Politik und Religion dieser Säkularisierungs-Logik nachkommen. Allerdings begann der Konsens rund um die Säkularisierungstheorie ab Mitte der Neunziger Jahre zu bröckeln. Expert/inn/en begriffen, dass Religion trotz Moderne durchaus auch in den scheinbar stark säkularen Gesellschaftsstrukturen Europas Bestand hatte. Jos¦ Casanova2 zufolge hatte die Verbindung zwischen Säkularismus und 1 Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch erschienen unter : Mour¼o Permoser, Julia (2014): ,Austrian MEPs: between privatisation and politicisation of religion‘ Religion State & Society Vol. 42: 2–3. Ich bedanke mich bei Luzia Troebinger für die professionelle Übersetzung des Beitrages ins Deutsche. 2 Casanova 1994; Casanova 2006.

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Moderne im europäischen Kontext normativen Charakter angenommen: Um als modern zu gelten, konnten Europäer/innen schlichtweg nicht religiös sein. Säkularismus wirkte wie ein ,Wissensregime‘ das Europäer/innen davon abhielt, sich die anhaltende Bedeutung der Religion in sozialer und politischer Hinsicht einzugestehen. Zusätzlich wiesen einige Forscher/innen darauf hin, dass mehrere Phänomene zu einer „Rückkehr der Religion“ in die öffentliche Sphäre Europas beitrugen.3 Nebst anderen Faktoren führte die zunehmende Einwanderung zu einer Diversifizierung der Bevölkerung, und wirkte somit dem Trend zur Privatisierung der Religion entgegen. Dazu trug besonders die hohe Zuwanderungsrate bekennender, praktizierender Muslimas/Muslime bei, durch die Religion mehr und mehr zum öffentlichen, politisierten Thema wurde.4 In diesem Sinne begünstigten auch die Diversifizierung innerhalb der europäischen Gesellschaften und die Notwendigkeit, sich mit Forderungen nach Anerkennung und Ermöglichung religiöser Praktiken der aus Einwander/innen/ ern bestehenden religiösen Minderheiten zu beschäftigen, die Erkenntnis, dass religiöse Symbole und Traditionen auch in der zunehmend säkularisierten öffentlichen Sphäre anhaltend große Bedeutung haben, wenngleich auch oft unter dem Deckmantel der Kultur. In Bezug auf die Rückkehr der Religion in die öffentlichen Sphären innerhalb Europas und die damit einhergehenden Bewusstseinsveränderungen stellte Jürgen Habermas fest, europäische Gesellschaften seien „post-säkular“ geworden.5 Für Habermas hat dieser Begriff sowohl deskriptive als auch normative Konnotationen.6 Deskriptiv gesehen beschreibt der Begriff eine Gesellschaft, die insofern säkular ist, indem sie sich gegenüber allen Religionen und gegenüber ungläubigen Menschen neutral verhält, in der aber das von Casanova beschriebene „Wissensregime des Säkularismus“ keine Gültigkeit mehr besitzt. Im normativen Sinne beinhaltet der Begriff die Verpflichtung der Gesellschaft, religiöse Argumentation und Akteure in der öffentlichen Sphäre zu akzeptieren. Die Überlegung dahinter besteht darin, dass gegenseitige Anerkennung einen Prozess des ,komplementären Lernens‘ nötig macht, der beiderseitige Bemühungen voraussetzt. Einerseits müssen religiöse Bürger/innen sich „um die säkulare Legitimierung der konstitutionellen Prinzipien im Hinblick auf die Rahmenbedingungen ihres Glaubens“ bemühen, und religiös motivierte Anschauungen in einer allen zugänglichen Sprache formulieren können. Auf der anderen Seite müssen säkulare Bürger/innen lernen, Religion in der öffentlichen

3 4 5 6

Katzenstein 2006; Katzenstein / Byrnes 2006. Katzenstein / Byrnes 2006; Casanova 2006. Habermas 2008. Ebd., Absätze 38–41.

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Sphäre zu begrüßen, und dazu bereit sein, religiösen Bürger/innen/n im Zuge der demokratischen Willensbildung auf gleichberechtigter Basis zu begegnen. Theoretische Erkenntnisse des Post-Säkularismus haben dazu beigetragen, die empirische und analytische Forschungsagenda im Bereich der Rückkehr der Religion einen Schritt weiter zu bringen. Empirisch gesehen fordern diese neuen Erkenntnisse vor allem eine Verlagerung der Fragestellung weg von der Begründung der Rückkehr der Religion – eine Forschungsfrage, die stark im alten akademischen Paradigma, in dem Säkularismus und Religion als sich gegenseitig ausschließende Themen betrachtet wurden, beheimatet ist – hin zu der Frage, wann, wo und wie sich die Präsenz der Religion in der post-säkularen Gesellschaft bemerkbar macht. Religion im post-säkularen Kontext zu untersuchen bedeutet, die dichotome Spaltung durch Interpretationen und Rekonfigurationen zu überwinden, um, wie Nilüfer Göle es ausdrückt, „die Art und Weise, in der Religionen im Sinne der säkularen Moderne zeitgemäß werden, zu verstehen“.7 Ziel dieses Artikels ist es, diese theoretischen Erkenntnisse im Hinblick auf die Untersuchung der Einstellungen österreichischer MEPs zu nutzen. Zu diesem Zweck ziehe ich Daten heran, die im Zuge einer Befragung im Rahmen des Rel-EP Projekts gesammelt wurden, und ergänze diese mit einer Analyse der parlamentarischen Anfragen, die von österreichischen MEPs während der siebten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2009–2014) gestellt wurden. Die Ziele dieses Artikels sind sowohl empirischer, als auch theoretischer Art. Empirisch gesehen ist das Ziel die Wissenserweiterung in Bezug auf die Einstellungen österreichischer MEPs zur Religion. Im theoretischen Sinn soll dieser Artikel einen Beitrag zur existierenden Literatur in den Bereichen Rückkehr der Religion und Postsäkularisums darstellen, indem erörtert wird, wie sich religiöse/säkulare Rekonfigurationen im EP manifestieren. Die Hauptthese hier besteht im Auftreten zweier scheinbar widersprüchlicher Phänomene im österreichischen Kontext. Die Privatisierung der Religion drückt sich einerseits in der Weigerung aus, Angaben zu religiösen Anschauungen zu machen. Andererseits manifestiert sie sich auch darin, dass Themen, die europäische Mehrheitsreligionen und die Rolle der Kirchen innerhalb der europäischen Gesellschaften betreffen, auf der politischen Agenda fehlen. Im Gegensatz dazu sind Menschenrechtsverletzungen an christlichen Minderheiten im Ausland, die religiösen Aspekte eines möglichen EU-Beitritts der Türkei, sowie die Schwierigkeiten rund um die Integration des Islam in Europa durchaus hochpolitisierte Themen. Kurz gesagt wird also die Religion des „Anderen“ politisiert, während die Religion der Mehrheit privatisiert wird. In diesem Zusammenhang hat die Abgrenzung des Anderen die symbolische Funktion, Identi7 Göle 2013, S. 365.

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tätsgrenzen zu ziehen, während das Selbst als säkular betrachtet wird. Trotzdem deutet das hohe Mobilisierungspotential dieser Strategie auf einen zwar nicht eingestandenen, aber doch vorhandenen Zusammenhang zwischen Religion und Kultur im österreichischen Nationalbild hin. Der Artikel beginnt zunächst mit einer historischen Kontextualisierung der österreichischen Fallstudie. Die nachfolgenden Abschnitte behandeln die im Zuge der Studie gesammelten empirischen Daten, sowie die Analyse der parlamentarischen Anfragen. In den Schlussfolgerungen wird auf diese Daten unter Einbeziehung der im Vorwort erörterten theoretischen Rahmenbedingungen Bezug genommen, und eine Zusammenfassung der Hauptschlüsse aus dieser Arbeit wird präsentiert.

1.

Religion und Politik in Österreich

Unter den Habsburgern fungierte die frühe, absolutistische Österreich-Ungarische Monarchie als Antriebskraft der Gegenreformation des 16. und 17. Jahrhunderts. Nicht-Katholiken, allen voran Protestanten und Juden, wurden entweder vertrieben, des Landes verwiesen oder aber gezwungen, zum Katholizismus zu konvertieren. Im späten 18. und 19. Jahrhundert verebbte diese Verfolgung allmählich, die Religionsfreiheit wurde offiziell in die Verfassung aufgenommen, und es wurden Gesetze erlassen, die eine liberale Politik im Hinblick auf religiöse Minderheiten umsetzten.8 Von besonderer Wichtigkeit in diesem Zusammenhang war vor allem das sogenannte Anerkennungsgesetz von 1874, das die offizielle Anerkennung der Hauptreligionen innerhalb des Kaiserreiches behandelte, die dadurch sozusagen den Status von „Quasi-Staatskirchen“9 erlangten. Nach Beginn des ersten Weltkriegs und dem Ende der Monarchie durchlief Österreich eine Periode heftiger Konflikte und politischer Umstürze, wie den Aufstieg des faschistischen politischen Katholizismus in der Zwischenkriegsperiode, und den darauffolgenden Antagonismus der Religion gegenüber unter dem Regime der Nationalsozialisten. Als nach Ende des zweiten Weltkriegs die zweite österreichische Republik gegründet wurde, wurde das Anerkennungsgesetz aus der Monarchiezeit wiederbelebt, und ein auf Kooperation basierendes Beziehungssystem zwischen Kirche und Staat rekonstruiert. Dadurch war also das Anerkennungsgesetz ein maßgeblicher Bestandteil der gesetzlichen Grundvoraussetzungen für die Einführung eines pluralistischen, integrativen Modells religiöser

8 Prainsack 2006. 9 Kalb / Potz / Schinkele 2003, S. 73.

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Regierungsformen, wie es in dieser Form auch heute noch in Österreich Bestand hat.10 Von größter Wichtigkeit ist vor allem, dass das Anerkennungsgesetz das Prinzip der Gleichbehandlung aller anerkannten Religionen durch den Staat in die österreichische Gesetzgebung eingeführt hat; dadurch erhielten also alle anerkannten Religionen die gleichen Rechte, die bis zu diesem Zeitpunkt allein der katholischen Kirche als vorherrschender Religion zugestanden worden waren.11 Die Etablierung dieses integrativen Modells religionsorientierter Regierungsform drückte damit den Wunsch aus, die privilegierte Position der katholischen Kirche zu erhalten, während man zur selben Zeit die Neutralität des Staates durch Zugestehen derselben Privilegien an andere Religionen zu erhalten suchte. Trotz der Existenz eines auf Rechtspluralismus basierenden religionspolitischen Modells blieb der Status der Religion als wichtiges Element im politischen Spektrum innerhalb des österreichischen Staats bis 1918 bzw. bis in die Zwischenkriegsperiode hinein erhalten.12 Charakterisiert wurde dieser Zeitabschnitt vor allem durch eine Spaltung der Gesellschaft in drei ideologische Lager mit jeweils eigenen Partei- und Organisationsstrukturen: das sozialdemokratische, das christlichsoziale und das nationalsozialistische Lager. Der Hauptkonflikt zwischen diesen drei Lagern ergab sich sowohl aus Unterschieden in deren politischen Ideologien als auch aus Konflikten im Hinblick auf die Definition des Gemeinwesens. Diese Verschmelzung zwischen Identität und Ideologie kam vor allem in der jeweiligen Religionspolitik dieser Parteien stark zur Geltung. Während die Sozialdemokraten die Gründung einer marxistisch-parlamentarischen Republik (Austromarxismus) anstrebten, handelte es sich bei den deutschen Nationalisten um Liberale, die eine ethnische Sichtweise im Hinblick auf die österreichische Identität propagierten, und deren Ziel vor allem der Anschluss Österreichs an den deutschen Staat war. Beide Lager waren allerdings dem politischen und gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche gegenüber kritisch eingestellt, da dieser vor allem mit der Monarchie und politischem Konservatismus assoziiert wurde. Im Gegensatz dazu verteidigte das christlichsoziale Lager die Verschmelzung zwischen Kirche und Staat in der Form des „politischen Katholizismus“13 und definierte sich stark über religiöse Zugehörigkeit. Dieser Konflikt wurde erst durch die strukturellen Veränderungen nach dem zweiten Weltkrieg, die zu einem langsamen Abbau der Lagermentalität und einer 10 11 12 13

Mour¼o Permoser / Rosenberger 2009. Kalb / Potz / Schinkele 2003, S. 72. Pelinka / Rosenberger 2003, S. 199. Pelinka / Rosenberger 2003, S. 21.

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mit politischer Säkularisierung einhergehenden demokratischen Konsolidierung führten, gelöst – alle Parteien akzeptierten fortan die Trennung zwischen Kirche und Staat und das Absehen der katholischen Kirche von einer direkten Einmischung in die Politik.14 Seit den 70er Jahren hat sich die Rolle der Kirche im Bereich der Organisation politischer Präferenzen und sozialer Zugehörigkeit stark verringert, was im Übrigen mit dem generellen europäischen Trend übereinstimmt.15 Nichtsdestotrotz hatte die oben geschilderte Geschichte religiöser Verschmelzung zwischen Religion, Identität und Politik drei wichtige Vermächtnisse zur Folge. Zum einen nimmt die Religion in der vorherrschenden nationalen Kulturlandschaft eine wichtige Rolle ein. Wie Olivier Roy bemerkt, führt die Interpretation von Kultur als „ein Produkt von symbolischen Systemen, imaginativen Repräsentationen und für eine Gesellschaft typischen Institutionen“ zum Status der Religion als „fester kultureller Bestandteil einer gegebenen Kultur“.16 Unabhängig von der Religiosität der Bevölkerung wird das Nationalbild „österreichischer Kultur“ stark durch (weitgehend säkularisierte) katholische Traditionen geprägt. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Weihnachten und Ostern als fester Bestandteil der österreichischen Kultur gesehen werden. Beide Feste wurden jedoch desakralisiert, und werden eher als kulturelle denn als religiöse Traditionen betrachtet. Allerdings wird der religiöse Hintergrund mancher kultureller Traditionen durch Migration hervorgehoben, was zur Aufdeckung asymmetrischer Machtverhältnisse führt und Material für politische Mobilisierung liefert. Das zweite Vermächtnis ist das Konsensmodell der Religionspolitik, das auf institutioneller Kooperation mit mehreren anerkannten Religionen basiert.17 Dieses Modell wird sowohl innerhalb der politischen Elite, als auch in der breiten Bevölkerung weitgehend als legitim betrachtet. Ein Beweis für diese gefühlte Legitimität liefert das Resultat eines kürzlich gestarteten Versuchs, eine Petition gegen die den verschiedenen Religionsgemeinschaften zugestandenen rechtlichen Privilegien zu organisieren. Die Petition wurde von keiner der im Nationalrat vertretenen politischen Parteien unterstützt, und erreichte lediglich 56.600 Unterschriften, was weniger als einem Prozent der Wählerschaft entspricht.18 Dieser beinahe unumstrittene Konsens rund um das Modell der Religionspolitik hat zur Folge, dass die institutionelle Regelung der Beziehung zwischen Religion und Staat ein Thema ohne jegliche parteipolitische Relevanz

14 15 16 17 18

Ebd., S. 202. Plaser / Ulram 2002, S. 93. Roy 2010, S. 26. Potz 1996, S. 235. ORF 2013b.

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darstellt. Daher werden religionsorientierte politische Konflikte eher im symbolischen als im institutionellen Raum ausgetragen. Das dritte Vermächtnis äußert sich im Parteisystem und in der Tatsache, dass politische Ideologien sinnbildlich mit einer bestimmten religiösen Einstellung assoziiert werden. Obwohl die drei größten Parteien – die Sozialdemokratische Partei (SPÖ), die österreichische Volkspartei (ÖVP) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) – einen Prozess der Transformation, Demokratisierung und Erneuerung durchlaufen haben, können sie dennoch als historische Nachkommen der sozialdemokratischen, christlichsozialen und nationalsozialistischen Lager des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden.19 Wie bereits festgestellt, wurde die Unterscheidung zwischen diesen drei Lagern nicht zuletzt auf Grund ihrer Einstellung der katholischen Kirche gegenüber vorgenommen. Obwohl die gesellschaftliche Spaltung, die dieser Unterscheidung vornehmlich zu Grunde lag, heute in dieser Form nicht mehr existiert, bleibt der Einfluss der religiösen Haltung auf das Selbstverständnis der Parteien und deren Wahrnehmung durch die Wählerschaft weiterhin erhalten. Die große Stabilität der institutionellen Beziehung zur Religion steht in starkem Kontrast zu wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Dynamiken. Zum einen tragen Migration und Säkularisierung zur Diversifizierung der Gesellschaft bei. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist der Umfang religiöser Betätigung und religiösen Glaubens und Zugehörigkeitsgefühls in Österreich immer noch überdurchschnittlich hoch.20 Nichtsdestotrotz zeigt die Betrachtung von Längsschnittdaten in Bezug auf alle religiösen Indikatoren besonders seit 1999 einen klaren negativen Trend.21 Dementsprechend belegt die Europäische Wertestudie die Tatsache, dass der Prozentsatz der gläubigen Österreicher/innen in den Jahren von 1999 bis 2008 von 82.9 auf 72.2 gefallen ist.22 Gleichzeitig gestaltet sich die Bevölkerung zunehmend inhomogener. Wie Tabelle 1 zeigt ist die Zahl jener, die sich zu keiner oder einer anderen Religion – vor allem zum Islam – bekennen, stetig im Steigen begriffen.23 Zudem wurde der gesellschaftliche Status der katholischen Kirche durch eine Reihe von sexuellen Skandalen stark negativ beeinträchtigt, was einen Vertrauensbruch auslöste und eine große Anzahl von Kirchenaustritten mit sich brachte.24

19 20 21 22 23 24

Pelinka / Rosenberger 2003, S. 143–147. Prainsak 2006; Polak / Schachinger 2011. Polak / Schachinger 2011, S. 197–202. Ebd., S. 197. Statistik Austria, 2001. ORF 2013a.

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Tabelle 1: Religious Affiliation of the Austrian Population (in percentage) Year Catholic Protestant Jewish Islamic Other Without Not Church Church Community Community Religion Religion Indicated 1971 87,4 6,0 0,1 0,3 1,4 4,3 0,6 1981 84,3 5,6 0,1 1,0 1,9 6,0 1,0 1991 2001

78,0 73,6

5,0 4,7

0,1 0,1

2,0 4,2

2,8 3,4

8,6 12,0

3,5 2,0

Source: Census (Statistik Austria 2001)

Zweitens zeigt sich die zunehmende Schwächung des politischen Einflusses der Kirche in Gesetzesänderungen wie zum Beispiel der Einführung eingetragener Partnerschaften für homosexuelle Paare 2009.25 Während moralische Argumente Teil der politischen Diskussionen rund um diese Gesetzesänderung waren, beschränkten sich diese jedoch weitgehend auf symbolische Themen wie die Frage, ob eingetragene Partnerschaften in denselben Räumlichkeiten wie Hochzeiten durchgeführt werden dürfen, oder ob bei Führung eines Doppelnamens wie bei Ehepaaren ein Bindestrich zwischen den beiden Nachnamen verwendet werden darf.26 Wie in vielen anderen Fällen wurde der Kampf zwischen Säkularisten und den Verteidigern religiöser Moralvorstellungen also auf symbolischer Ebene ausgetragen. Dies steht in Verbindung zum dritten und letzten Punkt, nämlich der wachsenden Bedeutung der Religion im Rahmen ausgrenzender, auf Immigrant/inn/ en abzielender Diskurse. Auf politischer Ebene äußern sich anti-muslimische Einstellungen vor allem durch Negativ-Kampagnen der stark rechtsorientierten Parteien FPÖ und BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich). Obwohl die Haltung der österreichischen Rechten der Religion gegenüber historisch gesehen eher skeptisch ist, wird diese im Rahmen der Immigration und der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft zum strategischen Werkzeug für die politische Mobilisierung von Zugehörigkeitsgefühlen innerhalb der einheimischen Bevölkerung.27 Die Ablehnung von Ausländer/inne/n und die Geltendmachung der religiösen Identität verschmelzen zu einer Strategie, die die Mobilisierung von Angstgefühlen innerhalb sozioökonomischer Randgruppen der Bevölkerung zum Ziel hat.28 Diese Strategie hat großes Erfolgspotenzial, da Meinungsumfragen belegen, dass Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie in Österreich verglichen mit an25 EPG 2009. 26 Die Presse 2009. 27 Rosenberger / Mour¼o Permoser 2012, S. 49ff.; Rosenberger / Sauer 2008; Rosenberger / Hadj-Abdou 2010. 28 Den strategischen Einsatz von Angst durch die FPÖ betreffend siehe Geden 2006, besonders S. 144ff.

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deren europäischen Ländern hoch sind. So zeigte zum Beispiel eine auf der europäischen Wertestudie von 2008 basierende Analyse durch Rosenberger und Seeber, dass Österreich im Vergleich mit 16 westeuropäischen Demokratien die höchsten Werte in Bezug auf Antipathie gegenüber Muslimas/Muslimen, Immigrant/inn/en und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe vorweist.29 Auch die Anzahl hassmotivierter Verbrechen unterliegt seit 2008 einem ständigen Aufwärtstrend.30 Hier ist vor allem die Tatsache interessant, dass dieser Anstieg der Anzeichen religiöser Intoleranz Muslimas/Muslimen gegenüber stattfindet, obwohl Religionszugehörigkeit und Religiosität im Allgemeinen eine stetige Abnahme innerhalb der österreichischen Bevölkerung erleben. Dies kann als Anzeichen gewertet werden, dass zwar die Wichtigkeit von Religion und Religionsausübung stetig abnimmt, dasselbe allerdings nicht für die Rolle der Religion als Zeichen für Identität im Sinne von Zugehörigkeit zutrifft. Wie wir später noch sehen werden, äußert sich dieser Trend auch in den Resultaten unserer empirischen Untersuchungen der religiösen Haltungen österreichischer MEPs.

2.

Die Studie

Die österreichische Delegation im Europäischen Parlament setzte sich in der siebten Legislaturperiode (2009–2011) aus 19 Politiker/inn/en sechs verschiedener Parteien zusammen: sechs MEPs stammten aus der ÖVP, fünf aus der SPÖ, zwei aus der FPÖ, zwei waren Vertreterinnen der Grünen (Die Grünen), drei wurden über die Parteiliste „Liste Martin“i gewählt, und einer war Vertreter des BZÖ. Die Vertreter/inn/en der ÖVP, der SPÖ und der Grünen sind im EP jeweils Mitglieder der Fraktion der europäischen Volkspartei/Christdemokraten (EPP), der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament (S& D) und der Grünen Fraktion (Grüne-EFA). FPÖ und BZÖ sind fraktionslos. Die Liste Martin, bei der es sich um eine populistische, der EU gegenüber kritische Partei ohne Repräsentation im Nationalparlament handelt, ist ebenfalls fraktionslos, wobei jedoch eine über diese Listen gewählte MEP inzwischen der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) beigetreten ist. Die Beteiligungsrate österreichischer MEPs an der RelEP Umfrage betrug 68 % (13 von 19 MEPs). Dies stellt selbst unter Berücksichtigung der geringen Gesamtzahl österreichischer MEPs eine hohe Beteiligungsrate dar. Wie aus Tabelle 2 ersichtlich wird, ist die Stichprobe zwar ausgewogen, jedoch statistisch 29 Rosenberger / Seeber 2011, S. 182; siehe auch Friesl / Harnachers-Zuba / Polak 2009. 30 Die Presse 2011; Bundesministerium für Inneres, 2011.

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gesehen nicht repräsentativ. Aufgrund der geringen Gesamtzahl österreichischer MEPs werden deren Antworten im Folgenden in absoluten Zahlen angegeben. Nur in Ausnahmefällen wird zusätzlich auch noch ein entsprechender Prozentsatz angegeben, um einen Vergleich mit den Gesamtergebnissen zu ermöglichen. Es sollte aber hervorgestrichen werden, dass die geringe Gesamtzahl österreichischer MEPs trotzdem eine bedeutende Einschränkung darstellt. Die Generalisierungen, die in diesem Artikel vorgenommen werden, sollten deswegen immer im Lichte dieses wichtigen Vorbehalts betrachtet werden. Tabelle 2: Austrian MEPs – Population and Sample National Party ÖVP SPÖ

EP Party Group EPP S& D

Grünen FPÖ Liste Martin BZÖ

Nr. in Delegation

Nr. in Sample 6 5

Share of Share of Delegation Sample 5 32 % 38 % 2 26 % 15 %

Greens NA

2 2

2 2

11 % 11 %

15 % 15 %

NA NA

3 1

1 1

16 % 5%

8% 8%

Source: own compilation with information from EP website (www.europarl.europa.eu)

2.1.

Religion im Kontext der Arbeit des EP und in der politischen Praxis einzelner MEPs

Generell gesagt weisen die Ergebnisse unserer Befragung darauf hin, dass Religion zwar innerhalb des EP präsent ist, allerdings nicht in besonders ausgeprägter Form. Dies gilt sowohl für den Durchschnittswert aller europäischen MEPs, als auch für den speziellen Fall der österreichischen MEPs. Demnach gab eine Mehrheit der österreichischen MEPs (8) an, dass Religion einen Einfluss auf die Funktion des EPs hat. 9 österreichische MEPs und 82,8 % aller MEPs gaben an zu glauben, dass die Bedeutung, die der Religion beigemessen wird, von der Nationalität abhängig ist. Im Kontrast dazu gaben fast alle österreichischen MEPs (12) an zu glauben, dass Religion nicht zu Differenzen innerhalb der verschiedenen Fraktionen führt. Wenn es um die eigene politische Praxis geht, so zeigen die Ergebnisse unserer Studie, dass Religion hier zwar präsent ist, aber auf der Agenda der meisten MEPs eine eher untergeordnete Rolle spielt. Lediglich drei österreichische MEPs geben an, „oft“ religiöse Aspekte miteinzubeziehen, während weitere sechs aussagen, dies nie zu tun, und ein MEP davon absah, sich hierüber zu äußern. Daher lässt sich insgesamt feststellen, dass 12 von 13 österreichischen MEPs

Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion

191

angeben, zumindest manchmal religiöse Aspekte miteinbeziehen zu müssen, was darauf hinweist, dass Religion selbst in einem stark säkularisierten Umfeld wie dem EP immer noch von politischer Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz gab kein/e einzige/r österreichische/r Abgeordnete/r an, Religion „ständig“ miteinzubeziehen. Obwohl die österreichische Delegation an das EP einen Abgeordneten beinhaltet, dessen politische Agenda stark von seiner religiösen Anschauung geprägt ist – nämlich Ewald Stadler (BZÖ /NA) – gibt es derzeit keine/ n österreichische/n Abgeordnete/n im EP, die/der auf rein religiöser Basis agiert. Unter denjenigen österreichischen MEPs, für die Religion eine Rolle in ihrer eigenen politischen Praxis spielt, gibt ein Großteil an, Religion vornehmlich als eine soziale und politische Gegebenheit miteinzubeziehen (33 % (7)). Nichtsdestotrotz besitzt Religion auch wesentlichen Einfluss als Quelle persönlicher Inspiration (24 % (5)) (siehe Abbildung 1). Ein erheblicher Anteil der Befragten gibt den Einfluss religiöser Interessensgruppen zu. Allerdings liegt die Häufigkeit der Kontaktaufnahme zwischen solchen Interessensgruppen und österreichischen MEPs unter dem europäischen Durchschnitt. Ungefähr ein Drittel (4) der befragten österreichischen MEPs gibt an, mehrmals im Jahr Kontakt mit religiösen oder philosophischen Interessensgruppen zu haben, während der Vergleichswert für die Gesamtzahl der MEPs etwas mehr als die Hälfte beträgt (55,9 %). Im Kontrast dazu gab ca. die Hälfte aller österreichischen MEPs (6) an, mehrmals im Laufe einer Legislaturperiode Kontakt zu religiösen oder philosophischen Interessensgruppen zu haben, während der Vergleichswert für die Gesamtzahl der MEPs bei 22,4 % liegt. Nur ein/e österreichische/r Abgeordnete/r innerhalb des EP gab an, überhaupt keinen Kontakt mit religiösen Interessensgruppen zu haben, während zwei es vorzogen, diese Frage nicht zu beantworten.

2.2.

Religion und Politikgestaltung

Die Einflussnahme der Religion gestaltet sich je nach politischem Teilbereich mehr oder weniger stark. Bei den durch österreichische MEPs meistgenannten Bereichen handelt es sich um Diskriminierung (10), Sozialpolitik (6), Meinungsfreiheit (5) und Außenpolitik (5), gefolgt von Kultur/Bildung (3). Die EP Gesamtergebnisse gestalten sich diesbezüglich ähnlich, bis auf die Tatsache, dass österreichische MEPs die Höhe der religiösen Einflussnahme im Bereich der Bekämpfung von Diskriminierung noch stärker betonen als andere Abgeordnete im EP. Obwohl die Meinungen der MEPs darüber, ob Religion eine Rolle in der Fremdenpolitik der EU spielt, gleichmäßig verteilt sind (6 antworteten mit Ja, 5 mit Nein), gibt es praktisch einen Konsens (10) darüber, dass dies im Hinblick

192

Julia Mourão Permoser

Abbildung 1: If religion intervenes in your activity as an MEP, is it …? (several responses possible). Source: own compilation based on Rel-EP data

auf die EU-Kandidatur der Türkei und deren Aufnahme im EP zutrifft. Diese Ergebnisse sind unter Einbeziehung der negativen Einstellung der österreichischen Bevölkerung Muslimas/Muslimen gegenüber wenig überraschend, und streichen einmal mehr die Bedeutung der Religion als Merkmal der Identität hervor, wie bereits oben angesprochen. Wie Gerhards und Hans zeigen,31 stellt Österreich europaweit das Land mit der geringsten Unterstützung einer EUMitgliedschaft der Türkei dar, wobei die Gründe hierfür vor allem in scheinbaren kulturellen Unterschieden, sowie einem Gefühl der Bedrohung der eigenen religiösen Werte liegen. Wenn es um die Frage geht, ob Europas christliches Erbe im Vertrag von Lissabon thematisiert hätte werden sollen, so sind die Meinungen der MEPs beinahe gleichmäßig verteilt, wobei im österreichischen Fall die Ja-Stimmen mit 6 zu 5 in der Überzahl sind, während europaweit mit 50,3 % die Nein-Stimmen eine schwache Mehrheit bilden, obwohl bemerkt werden muss, dass in beiden Fällen die Anzahl derer, die diesbezüglich unschlüssig sind, relativ hoch ist. Im Kontrast dazu billigt die große Mehrheit (9 für Österreich, 88,4 % für Europa insgesamt) die gängige Praxis des Präsidenten des europäischen Parlaments, regelmäßig mit den Vertretern der europäischen Hauptreligionen aktuelles Geschehen zu diskutieren.

31 Gerhards / Hans 2011.

Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion

2.3.

193

Glaubensangehörigkeit und Präferenzen

Die interessantesten Ergebnisse der RelEP Studie in Bezug auf Österreich lieferten Fragen im Bereich Glaubensangehörigkeit und religiöse Präferenzen. Es ist wenig überraschend, dass ein Großteil der österreichischen MEPs angibt, katholisch zu sein (7). Dies ähnelt den europaweiten Ergebnissen. Auffallend ist allerdings, dass im Vergleich zu anderen europäischen MEPs proportional viel mehr österreichische MEPs Antworten auf Fragen über die persönliche religiöse Haltung verweigern (38 % (5) verglichen mit 24,5 %). Konzentrieren wir uns auf diejenigen, die Fragen über persönliche religiöse Haltungen beantwortet haben, wird ersichtlich, dass nur ein/e einzige/r österreichische/r Abgeordnete/r im EP bekennende/r Atheist/in ist, verglichen mit 18,4 % europäischer MEPs, die sich als atheistisch oder zumindest nicht-religiös bezeichnen; zudem gab kein/e einzige/r österreichische/r Abgeordnete/r des EP an, sie/er „glaube nicht an die Existenz irgendeins Gottes, einer Art Geistwesen oder Lebenskraft“, verglichen mit 16,8 % aller europäischen MEPs. Es ist naheliegend zu vermuten, dass die Mehrheit derer, die nicht gläubig sind, sich dazu entschlossen, diese Fragen nicht zu beantworten. Obwohl wir nicht mit Sicherheit wissen, ob diejenigen, die eine Beantwortung dieser Fragen ablehnten, selbst religiös sind oder nicht, so weist der Kontrast zwischen den europäischen und den österreichischen Ergebnissen (in beiden Fällen bekannte sich etwa die Hälfte der befragten MEPs dazu, an einen Gott oder eine Art Geistwesen oder Lebenskraft zu glauben) doch darauf hin, dass es trotz politischer und sozialer Veränderungen noch immer politisch gesehen unerwünscht ist, sich selbst als nicht religiös zu bezeichnen. Sich dazu zu bekennen, nichtreligiös zu sein, scheint also für österreichische Politiker/innen in einer Art und Weise tabu zu sein, die für die Bekennung zur Religion nicht zutrifft. Desweiteren sprechen die große Zustimmung für das existierende Modell der Religionspolitik und die geringe Anzahl der Atheist/inn/en in der allgemeinen Bevölkerung dafür, dass eine Bekennung zum Atheismus politisch gesehen wahrscheinlich wenig wünschenswert wäre. Was die Verteilung der Antworten nach Parteizugehörigkeit betrifft, so scheint es als wäre die Spaltung der österreichischen MEPs aufgrund von religiösen Einstellungen mit der ideologischen Spaltung innerhalb des österreichischen Parteisystems verwoben, was an das frühe 20. Jahrhundert erinnert. Nehmen wir als Beispiel die Frage, wie österreichische MEPs Religion in ihre politische Amtsausübung miteinbeziehen. Der Prozentsatz österreichischer MEPs, die angeben, in der Ausübung ihres Mandates auf Religion als Quelle persönlicher Inspiration zurückzugreifen, ist verglichen mit dem europäischen Durchschnitt eher niedrig (24 % verglichen mit 31,2 % für die Gesamtanzahl der Befragten, siehe Abbildung 1). Dieser Wert ist deutlich niedriger als der Ge-

194

Julia Mourão Permoser

samtanteil rechtsorientierter und konservativer österreichischer Abgeordneter innerhalb des EP, der unter Einbeziehung der aus den Listen der FPÖ, BZÖ und ÖVP gewählten MEPs insgesamt 48 % ausmacht. Es gibt demnach ideologisch gesehen konservative österreichische MEPs, die nicht angeben, religiös inspiriert zu sein. Abgesehen davon sind jedoch all jene österreichischen MEPs, die Religion als Quelle der persönlichen Inspiration in der Ausübung ihres Mandates sehen, Mitglieder rechtsorientierter, konservativer, oder populistischer Parteien (FPÖ, BZÖ, ÖVP, Liste Martin). Kein/e einzige/r den Grünen oder der SPÖ zugehörige/r Abgeordnete/r im EP gab an, Religion sei für sie/ihn eine Quelle der persönlichen Inspiration. Demnach ist ein Schweigen über die eigene Religiosität (oder deren Nichtvorhandensein) von ideologischer Bedeutung. Es ist eben diese ideologische Bedeutung des Schweigens bezüglich der eigenen (Nicht-)Religiosität, die Anstoß zu einer Reflexion über die Rolle der Religion in der Definition politischer Identität gibt. Eine Möglichkeit dieses Schweigen österreichischer MEPs bezüglich religiöser Einstellungen zu deuten wäre, es als eine Pflichtableistung linksorientierter MEPs am Narrativ, der eine intrinsische und normative Bindung zwischen Moderne und Privatisierung der Religion voraussetzt, zu sehen. Wird vorausgesetzt, dass der Begriff „Moderne“ eine komplette Verbannung der Religion aus der öffentlichen Sphäre beinhaltet – eine komplette Privatisierung der Religion also – dann könnte ein Schweigen über die eigene Religiosität oder deren Nichtvorhandensein genutzt werden, um Progressivität und Modernität zu signalisieren. Eine Alternativhypothese dazu wäre, dass diese Ergebnisse auf eine tiefe, jedoch nicht eingestandene Bindung zwischen Religion und Identität innerhalb Österreichs schließen lassen. In diesem Sinne wäre das Fehlen deklarierten NichtGlaubens unter österreichischen MEPs mitunter das größte Zeugnis für die anhaltende Präsenz von Religion innerhalb der österreichischen Politik. Diese Sichtweise wird durch die Ergebnisse einer Analyse parlamentarischer Anfragen unterstützt, der ich mich nun widmen werde. Indem aufgezeigt wird, wie Schweigen über den eigenen Glauben oder dessen Nichtvorhandensein mit einer Politisierung der Religion des Anderen einhergeht – insbesondere im Falle des Islam – hilft uns diese Analyse, die Beziehung zwischen kulturell verankerter Religion und Identität besser zu verstehen.

3.

Parlamentarische Anfragen

Um die durch die RelEP Befragung gesammelten Daten zu ergänzen und um ein besseres Verständnis der religiöse Themen betreffenden Aktivitäten österreichischer Abgeordneter im EP zu erreichen, führte ich eine inhaltliche Analyse der parlamentarischen Anfragen durch, die während der siebten Legislaturpe-

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riode (Stichtag 20. 01. 2013) von österreichischen MEPs zur Sprache gebracht wurden. Im Ganzen wurden 2390 Fragen analysiert. Parlamentarische Anfragen stellen für alle Parlamentarier/innen ein wichtiges politisches Instrument dar. Sie erlauben es MEPs, Fragen an die/den Vorstehende/n zu richten (Kontrollfunktion), und die Aufmerksamkeit auf spezifische Themen zu lenken. Sie stellen eine mitunter besonders interessante Datenquelle dar, da sie weniger stark von Parteidisziplin, Parteigröße oder der Dynamik von Agenda-Setting geprägt sind. Anders gesagt repräsentieren sie also das individuelle Engagement einer/eines MEPs in Bezug auf ein spezifisches Thema. Theoretisch gesehen können parlamentarische Anfragen auch Themen zur Sprache bringen, die nicht im direkten Kompetenzbereich des EP liegen – solche Fragen dienen eher dazu, allgemeine politische Bedenken und Kontroversen zur Sprache zu bringen, als konkrete Präferenzen in Bezug auf eine spezifische Politik zu äußern. Nichtsdestotrotz müssen wir beachten, dass parlamentarische Anfragen zunächst ein Werkzeug der Legislative darstellen welches dazu dient, die Exekutive zu kontrollieren. Daher zielen die Fragestellungen eher auf die Handlungen europäischer Institutionen mit Exekutivfunktion ab, also die Europäische Kommission und den Europäischen Rat. Deshalb decken sie also in der Praxis auch nicht die gesamte Palette an politischen Fragen und Themen ab, die möglicherweise im Hinblick auf die Beziehung zwischen Religion und Politik relevant sein könntenii. Zudem machen fraktionslose Abgeordnete öfter von diesem Instrument Gebrauch, da ihre Möglichkeiten, auf andere Weise mit dem Parlament zu interagieren, stark begrenzt sind. Trotz dieser Einschränkungen stellen parlamentarische Anfragen dennoch eine interessante Datenquelle für Analysen dar, die sich sowohl mit dem Ausmaß in welchem Religion sichtbar und explizit in die Legislaturarena gebracht wird, als auch mit der Frage danach, wie dies in der Praxis bewerkstelligt wird, beschäftigen. Dadurch ergänzen sie hervorragend die Befragung, die stärker auf die subtile und unsichtbare Einflussnahme der Religion auf die Arbeit der MEPs abzielte. Tabelle 3: Parliamentary Questions by Austrian MEPs during the 7th Term (2009–2014) Nr. Name Angelika 1 Werthmann

European Party Group NA/ALDE

Total Religious Questions Questions

Share of total religious questions (%)

360

6

8

2 3

Elisabeth Köstinger EPP Hubert Pirker EPP

35 9

0 0

0 0

4

Eva Lichtenberger

30

1

1

Greens

196

Julia Mourão Permoser

(Fortsetzung) Nr. Name Evelyn 5 Regner Franz Ober6 mayr 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Hannes Swoboda Heinz K Becker

European Party Group S& D

Ulrike Lunacek Hans-Peter Martin

2

3

314

25

33

S& D

19

0

0

EPP

6

0

0

56

2

3

28

0

0

NA

380

0

0

EPP EPP

30 53

5 0

7 0

EPP

40

0

0

Greens

84

3

4

375

3

4

0

0

0

14

1

1

517 2.390

27 75

36 100

NA

NA

Ewald Stadler NA Josef Weidenholzer S& D Andreas Mölzer TOTAL

Share of total religious questions (%)

40

Jörg Leichtfried S& D Karin Kadenbach S& D Martin Ehrenhauser Othmar Karas Paul Rübig Richard Seeber

Total Religious Questions Questions

NA

Source: own compilation with information from EP website (www.europarl.europa.eu)

Die Fragen wurden den persönlichen Webpages der MEPs innerhalb der Website des EP entnommen. Die Kodierung erfolgte aufgrund einer inhaltlichen Analyse der Fragentexte, und nicht durch eine automatisierte Stichwortsuche. Ziel war es, all jene Fragen zu erfassen, die Religion thematisieren. Von 2390 Anfragen, die von österreichischen MEPs in der Legislaturperiode bis zum Stichtag gestellt wurden, beschäftigten sich 3,1 % (75) mit religionsorientierten Themen (siehe Tabelle 3). Dies zeigt, dass Religion innerhalb der Palette an Themebereichen, mit denen MEPs sich beschäftigten, kein dominantes Thema darstellt. Nichtsdestotrotz liefert die Analyse derjenigen Anfragen, die sich mit Religion beschäftigen, einige nützliche Erkenntnisse.

Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion

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Zunächst ist ersichtlich, dass die Anfragen unter den MEPs stark ungleich verteilt sind – im Besonderen sind zwei MEPs für beinahe 70 % aller religionsorientierten Anfragen verantwortlich. Bei diesen beiden MEPs handelt es sich um Franz Obermayr und Andreas Mölzer, beides Mitglieder der FPÖ. Diese beiden MEPs sind allgemein für die meisten Fragen verantwortlich; dennoch ist das Verhältnis von durch diese MEPs gestellten religionsorientierten zu nichtreligionsorientierten Fragen im Vergleich zum Großteil ihrer Kollegen hoch. Zum Zweiten wird in beinahe allen die Religion betreffenden Anfragen der Islam auf die eine oder andere Weise thematisiert. Im Hinblick auf die angesprochenen Themen beschäftigen sich beinahe 50 % der gestellten Fragen (36 von 75) mit Rechtsverletzungen im Ausland. Obwohl dieser Bereich die Verletzung der Rechte von Frauen, Homosexuellen sowie aller religiösen Minderheiten abdeckt, behandelt die überwältigende Mehrheit der gestellten Anfragen die Verurteilung der religiösen Freiheitseinschränkung christlicher Minderheiten in islamischen Ländern. Während die meisten dieser Anfragen durch die beiden oben genannten Mitglieder der FPÖ gestellt wurden, wurde ein Drittel aller Anfragen, die die Rechte von Minderheiten im Ausland thematisierten, von anderen MEPs gestellt. Wenn wir nun auch diejenigen Anfragen miteinbeziehen, die die von radikal-islamischen Gruppen und von durch islamistische Tendenzen geprägten fremden Regierungen ausgehende Bedrohung betreffen (14 von 75) sowie solche, die auf die Schwierigkeiten, den Islam in Europa zu integrieren (7 von 75), Bezug nehmen, so ergibt sich, dass Fragen aus diesen drei Kategorien 75 % aller religionsorientierten Fragen ausmachten, die während der genannten Legislaturperiode durch österreichische MEPs zur Sprache gebracht wurdeniii. Drittens beinhaltet keine der Fragen eine kritische Behandlung von Themen, die das Christentum oder die Rolle der Religion innerhalb Europas betreffen. Fragen, die Themen zur Sprache bringen, die in Europa umstritten sind und möglicherweise religiöse Komponenten aufweisen – wie zum Beispiel die Verhandlung oder Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien, die Rechte von Homosexuellen, die Rechte von Frauen und Familienpolitik, oder hassmotivierte Straftaten – werden nur selten innerhalb eines religiösen Rahmens präsentiert. Fragen die die Beziehung zwischen Staat und Kirche direkt betreffen – wie Förderungen und Privilegien, die anerkannten Religionen zugutekommen, oder Religionsunterricht in Schulen – kommen überhaupt nicht vor. Die Behandlung christlicher Symbole erfolgt lediglich im Zuge der Diskussion um einen Schulkalender, der von der Kommission produziert und in den Mitgliedsländern verteilt wird. Dieser Kalender beinhaltet keinen der christlichen Feiertage, wie zum Beispiel Weihnachten oder Ostern, was eine große Kontroverse auslöste. Anders gesagt wird also in den analysierten Daten das Christentum nur zum politischen Thema gemacht, wenn es bedroht wird, und nie um die hegemonische Rolle der christlichen Kirche

198

Julia Mourão Permoser

innerhalb Europas kritisch zu betrachten, oder um existierende institutionelle Vereinbarungen zu hinterfragen.

4.

Schlussfolgerungen

Startpunkt dieses Artikels war der Begriff des Postsäkularismus und die Idee, dass die Rückkehr der Religion weniger als homogenes Phänomen, und mehr als eine Häufung von „Rekonfigurationen“ und „Verflechtungen“ von religiösen und säkularen Aspekten betrachtet werden sollte. Was hat also eine eingehende Untersuchung der Einstellungen österreichischer MEPs im Hinblick auf diese Rekonfigurationen gezeigt? Aus theoretischer Sicht liegt der Hauptbeitrag dieses Artikels darin, aufzuzeigen, wie Privatisierung mit Politisierung der Religion im postsäkularen Kontext Hand in Hand gehen kann. Werden die Ergebnisse der RelEP Befragung mit einer Analyse parlamentarischer Anfragen kombiniert, so zeigt sich ein deutlicher Kontrast zwischen der hohen Visibilität der Religion des Anderen (in diesem Fall Muslimas/Muslime) in Form politischer Themen, verglichen mit dem Fehlen einer vergleichbaren politischen Thematisierung der Mehrheitsreligion. Um diesen Punkt noch weiter zu erläutern, ist es sinnvoll, drei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, auf denen Religion im säkularen Kontext des EP eine Rolle spielen kann: Themen, Akteure, und Präferenzen. Unsere Analyse zeigt, dass Religion im Falle österreichischer MEPs vor allem auf der Ebene der Themen zum Tragen kommt, indem Religion tatsächlich zum Thema politischer Deliberationen gemacht wird, die analysierten Daten aber zeigen, dass dies primär die Religion des Anderen betrifft. Es gibt also ein Ungleichgewicht im Hinblick darauf, wie verschiedene Religionen politisch thematisiert werden. Pieter de Wilde definiert Politisierung durch drei Elemente: a) Die politische Relevanz eines bestimmten Themas; b) Die Tatsache, dass ein Thema umstritten ist; c) Das Ausdrücken von Forderungen nach Veränderungen.32 Der Stellenwert der Religion innerhalb der EU oder innerhalb der Nationalpolitik der europäischen Länder ist weder relevant, noch umstritten, noch werden von österreichischen MEPs Veränderungen gefordert. Beziehungen zwischen Kirche und Staat, Verletzungen der Religionsfreiheit und Unvereinbarkeiten zwischen religiösen Forderungen und humanitären Rechten werden nur dann zu politisch relevanten Themen gemacht und mit Forderungen nach Veränderung verbunden, wenn sie nicht-europäische Länder und nicht-

32 de Wilde 2007.

Österreichs MEPs: Zwischen Privatisierung und Politisierung der Religion

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europäische Religionen, besonders den Islam, betreffen. Anders gesagt ist also die Religion des Anderen politisiert, während dies für die eigene nicht gilt. Es ist aufschlussreich, dass diese Politisierung der Religion des Anderen nicht primär von denjenigen ausgeführt wird, die historisch gesehen mit Religion verbunden werden, sondern von rechtsorientierten Populist/inn/en ohne starke religiöse Bindung. Dieses Phänomen findet sich auch in der Nationalpolitik wieder. So zeigte sich zum Beispiel Heinz-Christian Strache, der Vorsitzende der FPÖ, im Zuge einer Protestaktion gegen ein islamisches Gebetshaus im Jahr 2009 mit einem großen, hölzernen Kreuz in der Hand. Die katholischen Autoritäten kritisierten diesen und ähnliche Auftritte als eine Manipulation christlicher Symbole zu Wahlkampfzwecken.33 Strache entschied sich auch im Vorfeld der Lokalwahlen dazu, das Sakrament der Firmung zu empfangen.34 Allerdings hat ihn dieser symbolische Religionsansatz nicht daran gehindert, antiklerikale Aussagen zu machen, als er vor Kurzem die Ermöglichung eines Protests von Asylbewerbern durch die katholische Kirche kritisierte.35 Eine derartige opportunistische Nutzung der Religion lässt sich dadurch erklären, dass die Politisierung der Religion des Anderen (hier des Islam) im Zusammenhang mit Immigration und der Bedrohung traditioneller Identitätsbilder vor allem der Mobilisierung des Zugehörigkeitsgefühls innerhalb der Mehrheitsbevölkerung dient.36 Dies wirft aber allerdings die Frage auf, wie dies in Zeiten, in denen Religiosität und Zugehörigkeit zur vorherrschenden katholischen Kirchengemeinschaft im Abnehmen begriffen sind, möglich ist. Um dies zu verstehen muss die Rolle kulturell verankerter Religion im Hinblick auf die Definierung der nationalen Identität näher betrachtet werden. Die Mobilisierung der Zugehörigkeit aufgrund von Politisierung religiöser Unterschiede zielt nicht auf besonders gläubige Gruppen innerhalb der Mehrheitsbevölkerung ab. Sie versucht viel mehr die Massen zu erreichen, und ihr Erfolg ist in der Existenz einer großteils nicht eingestandenen Beziehung zwischen Identität und Religion im österreichischen Selbstbild begründet. In diesem Sinne kann man auch von einer Rückkehr (oder einer Dauerhaftigkeit) der Religion auf der Ebene der „Akteure“ – im Sinne ihrer Identität – sprechen, in der ein ethnizierter, großteils desakralisierter Religionsbegriff als verstecktes Unterscheidungsmerkmal fungiert, obwohl dieser Prozess ideologisch behaftet und politisch sensibel (und deshalb oftmals unterdrückt) ist. Auf der dritten Ebene wird ersichtlich, dass viele MEPs behaupten, Religion spiele eine meinungsbildende Rolle hinsichtlich der Präferenzen der MEPs in 33 34 35 36

Österreich 2009a. Österreich 2009b. Katholische Nachrichten 2013. Siehe Rosenberger / Mour¼o Permoser 2012.

200

Julia Mourão Permoser

Bezug auf Themen mit moralischer Relevanz, obwohl dieser Einfluss im Diskurs der MEPs nicht deutlich wird, wie die Analyse der parlamentarischen Anfragen gezeigt hat. Dies zeigt, dass es nicht ratsam ist, Schlussfolgerungen über den politischen Einfluss der Religion auf Grund der Stärke ihrer Präsenz auf der politischen Bühne zu ziehen. Besonders im Hinblick auf politische Präferenzen sollte davon abgesehen werden, eine starke Präsenz religionsorientierter Themen im öffentlichen Diskurs als Einfluss, und eine schwächere Präsenz als Nichtvorhandensein dieses Einflusses zu werten. Indem politische Akteure im postsäkularen Kontext religiös motivierte Einstellungen mithilfe eines säkularen Vokabulars zum Ausdruck bringen, wird der Einfluss der Religion weniger sichtbar, und ist zunehmend schwieriger zu erkennen.

Notizen i

Zwei der MEPs, die durch diese Liste gewählt wurden, verließen im Zuge gegen Hans Peter Martin vorgebrachter Korruptionsanschuldigungen die Partei. Angelika Werthman dankte 2010 ab und trat schließlich der ALDE (liberale Fraktion) bei. Martin Ehrhauser trat 2011 aus und bleibt bis heute fraktionslos. Um unnötige Verwirrung zu vermeiden, werden im vorliegenden Beitrag alle Politiker/innen aufgrund ihrer ursprünglichen Parteizugehörigkeit zugeordnet. ii

Dies könnte auch als Erklärung für das gänzliche Fehlen von Themen, die die Stammzellenforschung oder andere Kontroversen in Bezug auf das christliche Erbe Europas betreffen, dienen, was wiederum die nicht stattfindende Politisierung des Christentums erklären könnte. In diesem Sinne ist es möglich, dass Einschränkungen in Bezug auf die Ausgangsdaten zu den hier präsentierten Ergebnissen beigetragen haben. Nichtsdestotrotz verfügt die EU über manche Kompetenzen, die möglicherweise in Konflikt zur Mehrheitsreligion stehen (z. B. Antidiskriminierungspolitik), dennoch kommen diese Themen innerhalb der parlamentarischen Anfragen nicht zum Tragen. Deswegen kann trotz der Limitierungen behauptet werden, dass die hier präsentierten Daten einen soliden Trend in Richtung disproportionaler Politisierung des Islam im Vergleich zum Christentum anzeigen. iii

Eine detaillierte Liste aller religionsorientierten Anfragen sowie eine detaillierte Auseinandersetzung der für die Kodierung angewendeten Methodik kann auf Anfrage von der Autorin bereitgestellt werden.

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202

Julia Mourão Permoser

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Wolfram Reiss

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug. Herausforderungen für Staat, Anstalten, Religionsgemeinschaften und Forschung

Einleitung Wie in anderen staatlichen und öffentlichen Einrichtungen spiegelt sich mittlerweile auch in Anstalten des Straf- und Maßregelvollzugs die Multireligiosität und Multikulturalität unserer Gesellschaften wider. In vielen Gefängnissen ist die Zahl der Gefangenen mit Migrationshintergrund sogar größer als die in der Bevölkerung. Dies liegt daran, dass MigrantInnen in den meisten europäischen Ländern einen größeren Anteil an unteren Bevölkerungsschichten ausmachen, in denen allgemein die Kriminalität höher ist.1 Die Zahlen der religiösen und kulturellen Prägung der InsassInnen sind allerdings sehr ungenau, weil die Kategorisierungen in den meisten Gefängnissen willkürlich und widersprüchlich sind.2 Im Folgenden soll ein Überblick über religiöse und ethnische Gruppen gegeben werden, die im Justizvollzug von Bedeutung sind. Darüber hinaus wird auf die verschiedenen Formen der religiösen Betreuung im Gefängnis hingewiesen, die weit vielfältiger sind als allgemein bekannt ist und die den Staat, die Anstalten und die Religionsgemeinschaften vor neue Herausforderungen stellen.

1.

Russisch-sprachige und orthodoxe Gefangene

Nicht Muslime, sondern Russen und russisch-sprachige Personen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Russlanddeutsche gelten aktuell im Justizvollzug in Deutschland als die am schwersten zu integrierende ethnische 1 Vgl. das Interview mit der Kriminologin JoÚlle Vuille: „Kein Zusammenhang zwischen Konfession und Kriminalität“. In: Bochinger 2011, S. 10–11. Vgl. a. Maier 2002. 2 In der JA Josefstadt in Wien muss ein Gefangener zum Beispiel bei der Aufnahme entscheiden, ob er „Mohammedaner Sunnit“, „Mohammedaner Schiit“ oder (!) „Moslem“ ist. Vgl. Unterberger 2013, S. 32–35. Ein ähnliches Problem mit der Statistik besteht auch in der Schweiz und in Deutschland, vgl. Reiss 2010a, S. 299; Bochinger 2011, S. 11.

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Wolfram Reiss

Gruppe, die auch für die Sicherheit das größte Problem darstellt. Sie beherrschen in vielen Anstalten den Handel mit Drogen und Handys, bauen in vielen Anstalten mafiöse Strukturen der Abhängigkeit auf und vertreten einen Ehrenkodex des Schweigens, auf dessen Einhaltung rigide geachtet wird. Das Russische schafft eine Sprachbarriere. Nicht zuletzt verschafft die recht große Zahl der Russisch-Sprachigen eine gewisse Dominanz dieser ethnischen Gruppe in den Haftanstalten.3 Besondere soziokulturelle und religiöse Bemühungen um sie sind bisher kaum festzustellen. Dies liegt auch unter anderem daran, dass die Betreuung von orthodoxen Gefangenen, die einen Großteil der Gefangenen in vielen Gefängnissen ausmachen4, nur sehr wenig ausgeprägt ist. Es kommen zwar orthodoxe Priester in einige Anstalten, aber sie haben meist kein Büro, keine eigene Kapelle und sie arbeiten zumeist als Ehrenamtliche oder im Besucherstatus, deren Fahrtkosten und Auslagen nicht immer erstattet werden. Da die Priester in vielen Haftanstalten nicht die erforderlichen räumlichen und liturgischen Voraussetzungen vorfinden, werden meist auch keine eucharistischen Gottesdienste gefeiert, sondern nur Vespern, obwohl die Teilnahme an der Eucharistie nach orthodoxem Verständnis von zentraler Bedeutung ist.5 Die seit Jahren unbefriedigende Situation ist derzeit Gegenstand der Diskussion in der orthodoxen Bischofskonferenz Österreichs, die eine eigenständige orthodoxe Gefängnisseelsorge analog zur orthodoxen Militärseelsorge aufbauen will.6 Ebenso beginnt man auf internationaler Ebene stärker über den Beitrag der orthodoxen Kirchen in der Gefängnisseelsorge nachzudenken.7

3 Vgl. Schmidt 2002; Hollenstein 2012; Heynisch / Verheyen 2010. 4 In Österreich waren nach der (sehr ungenauen) Statistik von 2008, bei der vermutlich auch manche orthodoxe und orientalische Christen der katholischen Kirche zugeschlagen wurden, knapp 12 % der InsassInnen in österreichischen Vollzugsanstalten einer orthodoxen Konfession an. Vgl. Unterberger 2013, S. 40. 5 Diverse Gespräche mit Pfr. Johannes Nothaas, 2005–2007. 6 Vgl. Orthodoxe Kirche in Österreich 2013 (online). Eine Kommission zur Neukonzeption und Regelung der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge wurde eingesetzt. Vgl. Pro oriente o. J. (online). 7 Deutliches Zeichen dafür ist, dass die Rumänisch-Orthodoxe Kirche, die ca. 40 Seelsorger in rumänische Gefängnisse entsendet, 2012 erstmals die paneuropäische Konferenz der „International Prison Chaplains Association – Europe“ nach Rumänien eingeladen hat – das erste Mal, dass diese Konferenz in einem orthodoxen Land stattgefunden hat. Vgl. kirchen.ch o. J. (online).

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

2.

205

Muslimische Gefangene

Muslimischen Gefangenen wird in den meisten Justizvollzugsanstalten zugemutet, dass sie sich damit begnügen, dass bei der Essensausgabe auf Schweinefleisch verzichtet wird oder dass das Fleisch durch anderes ersetzt wird8, obwohl dies religionsrechtlich nicht ausreichend9 und juristisch anfechtbar ist, denn Schweinefett ist genauso wie für Juden auch in kleinsten Mengen strikt verboten.10 Andererseits wird teilweise in Anstalten das Freitagsgebet erlaubt, obwohl dies religionsrechtlich nicht notwendig ist, denn die Scharia legt eindeutig fest, dass Gefangene explizit von der Pflicht des Gemeinschaftsgebets befreit sind. Probleme bestehen für Muslime und Musliminnen oft auch im Blick auf die Unterbringung und Waschmöglichkeiten, die die Einhaltung von religiösen Reinheitsregeln faktisch nicht möglich machen.11 Schließlich gibt es ein Problem hinsichtlich der religiösen Betreuung. Zwar werden türkische Imame mittlerweile in viele Seelsorgeanstalten entsandt. Die von DITIB bzw. ATIB entsandten Imame handeln jedoch dabei als Konsularvertreter des türkischen Staates,12 sprechen aufgrund befristeter Präsenzzeit in Deutschland oder Österreich meist nur wenig deutsch und werden deshalb von vielen türkischen Muslimen und erst recht von Muslimen mit arabischem, persischem oder pakistanischem Hintergrund abgelehnt. Nicht zuletzt besitzen sie meist keine Ausbildung in Gesprächsführung oder in Seelsorge/Psychologie, kennen kaum die sozio-kulturellen Verhältnisse und haben nur eine minimale Vorbereitung auf ihren ehrenamtlichen Dienst im Justizvollzug. Sie sind in der Regel nicht eingebunden in die seelsorgerliche Tätigkeit der christlichen Gefängnisseelsorger, obwohl diese mit muslimischen 8 Vgl. Unterberger 2013, S. 49. 9 Genauso wie es Juden verboten ist, Speisen zu sich zu nehmen, die auch nur in geringsten Mengen aus Schweinefleisch bestehen, ist es auch für Muslime religiös verboten, z. B. Saucen oder Suppen, Gelatine in Pudding oder Süßspeisen oder Speisen mit den Zusätzen E 471 und E472 mit geringstem Schweinefleischanteil zu konsumieren. 10 Frömcke 2005, S. 140–143 passim. Vgl. Unterberger 2013, S. 49. 11 Vgl. Reiss 2010a, S. 301–302. 12 Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Diyanet ˙I¸sleri Türk ˙Islam Birlig˘ i, abgekürzt DI˙TI˙B) untersteht der Leitung, Kontrolle und Aufsicht des staatlichen Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei. Die Organisation arbeitet als Dachverband für die Koordinierung der religiösen, sozialen und kulturellen Tätigkeiten der angeschlossenen türkisch-islamischen Moscheegemeinden und entsendet regelmäßig Imame nach Deutschland und Österreich. Wie in Österreich ist es der mitgliederstärkste Dachverband, dem die meisten Moscheen angehören. In Österreich ist die Organisation als „Türkisch Islamische Union für Kulturelle und Soziale Zusammenarbeit in Österreich“ mit dem Kürzel „ATIB“ (Avusturya Türkiye ˙Islam Birlig˘ i) bekannt. Dieser darf nicht mit dem Verband ATIB (Avrupa Türk-I˙slam Birlig˘ i – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa) verwechselt werden, der in Deutschland einen anderen Moscheenverband bezeichnet. Vgl. Wunn 2007, S. 26–37; 65–70.

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Gefangenen sehr oft Kontakt haben. Stattdessen werden Koranrezitationen und Gemeinschaftsgebete durchgeführt, die sicherlich eine Anknüpfung an die Tradition darstellen, aber oftmals an den Bedürfnissen der Insassen vorbeigehen.13 In jüngerer Zeit gibt es allerdings vielfache Bemühungen um eine bessere Organisation und Ausgestaltung der islamischen Seelsorge im Justizvollzug. 2010 wurde ein Vertrag mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich geschlossen, der auch eine gewisse Aufwandsentschädigung enthält und einen Arbeitsplatz in Aussicht stellt.14 Auch Regelungen für den Zusammenschluss und die spätere Essensausteilung im Ramadan werden angesprochen, die jedoch in vielen JVAs längst anstaltsintern geregelt sind. An vielen Orten ist man dabei, ein Konzept einer „islamischen Seelsorge“ zu entwickeln, die einerseits an christlichen Seelsorgekonzepten, andererseits an islamischen Traditionen anknüpft.15 In der Schweiz ist die Situation insoweit etwas anders, als dort Muslime mit ca. 30–60 % innerhalb der Gefängnisse eine weit größere Gruppe darstellen.16 Bereits 2008 wurde eine Studie zur Lage der muslimischen Gefangenen in Schweizer Haftanstalten erstellt, die Empfehlungen erarbeitete, die teilweise mittlerweile auch umgesetzt wurden. So wurden Imame angestellt, die islamische Seelsorge wurde im Internetauftritt der christlichen Seelsorge gleichgestellt. Es gab Verbesserungen bei der Organisation des Fastenmonats und der Durchführung der Gebetszeiten.17 Drei Imame verschiedener Richtungen sind z. B. alleine in der JVA Pöschwies tätig und halten regelmäßig das Freitagsgebet, führen Koranrezitationen und -interpretationen durch, stehen mehrere Stunden pro Woche für seelsorgerliche Einzel- und Gruppengespräche mit InsassInnen zur Verfügung und kooperieren mit der Anstaltsleitung und den christlichen SeelsorgerInnen.18 Auf die islamischen Speisevorschriften versucht man Rücksicht zu nehmen, und es gibt, ähnlich wie in Deutschland und Österreich, Sonderregelungen für den Fastenmonat Ramadan.19 Kritisch vermerkt der Bericht des Nationalen Forschungsprojektes von 2011 jedoch, dass „die kantonalen 13 Reiss 2010a, S. 301–303. 14 Allerdings sind die im § 3 des Vertrages genannten Zulassungsvoraussetzungen m. E. nicht ausreichend: Deutsch- und Maturakenntnisse sowie eine Beauftragung durch die IGGiÖ alleine befähigen noch lange nicht zu einem qualifizierten seelsorgerlichen Dienst in einer JVA. 15 Vgl. Aslan / Modler-El Abdaoui / Charkasi 2015; Begic´ / Weiß / Wenz 2014. 16 Vgl. Becci et al. 2011, S. 2. Um die Milleniumswende lag die Zahl der muslimischen Gefangenen sogar bei 60–75 %. Vgl. Baechtold 2000 und Gschwend / Maier 2001. So auch Ivo Graf in einem Vortrag in Wien im WS 2010/11. 17 Endrass 2008. 18 So der katholische Seelsorger Ivo Graf in einem Vortrag in Wien im WS 2010/11; Endrass 2008, S. 147–150. Information der JVA Pöschwies o. J. (online) im Internet. 19 Vgl. Endrass 2008, S. 149.

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

207

Gesetzgebungen äußerst heterogen sind. Zudem regelt jede Strafvollzuganstalt die religiöse Frage gemäß ihrem jeweiligen Auftrag und der Zusammensetzung ihrer Insassen.“20 Zudem sind die muslimischen Seelsorger nicht den christlichen gleichgestellt, da sie als Besucher nur eingeschränkte Besuchszeiten haben (maximal 2,5 Stunden), ihre Besuche vorher offiziell anmelden müssen und kein Büro im Gefängnis haben.21 Allerdings gibt es auch von Seiten mancher christlicher Seelsorger Vorbehalte hinsichtlich der Qualität der Betreuung, die von den muslimischen Seelsorgern angeboten wird.

3.

Jüdische Gefangene

Eine Ausnahme hinsichtlich der Rücksichtnahme auf religiöse Vorschriften ist bei Juden festzustellen. Wegen der strengen Vorschriften der Kaschrut, die kaum von den Anstaltsküchen gewährleistet werden können, wurde in vielen Anstalten die Möglichkeit geschaffen, dass die jüdischen Gemeinden die Versorgung der jüdischen Gefangenen organisieren. So wird z. B. in der JVA Josefstadt in Wien das Essen aus dem jüdischen Zentrum geliefert und auch bezahlt, obwohl es wesentlich teurer ist als das Anstaltsessen.22 Darüber hinaus gibt es koschere Artikel auf der Einkaufsliste. Es gibt einen eigenen jüdischen Gebetsraum an zentraler Stelle, obwohl in der Regel wegen des notwendigen Minjans ein rituelles Gemeinschaftsgebet nie praktiziert werden kann.23 Zu den großen Festen Pessach und Rosch HaSchana (jüdisches Neujahr) werden die Gefangenen aus verschiedenen Haftanstalten Österreichs zusammengeführt, um gemeinsam die Feste feiern zu können. Drei Rabbiner wechselten sich 2008 in der religiösen Betreuung in der JVA Josefstadt ab für zwei jüdische Gefangene (20 in ganz Österreich 2008).24 In der JVA Diez (Rheinland-Pfalz) wurde in einem konkreten Fall gestattet, dass Essen und Bekleidung von Verwandten aus Israel regelmäßig eingeflogen wurden, weil so schnell keine Regelung für koscheres Essen gefunden werden konnte. Orientalische Gewürze, Flüssigkeiten und Glasbehältnisse wurden – entgegen zahlreicher Sicherheitsbestimmungen – auf die Zelle ausgeteilt. Ein solch religions- und kultursensibler Umgang ist bei muslimischen oder orthodoxen Gefangenen nicht festzustellen. 20 21 22 23

Bochinger 2011, S. 8. Bochinger 2011, S. 16; Becci et al. 2011a, S. 2. Unterberger 2013, S. 49. Um einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten, bedarf es in der orthodoxen Richtung eines Minimums von zehn männlichen religionsmündigen Betern, bei konservativen und liberalen Juden können auch Frauen mitgezählt werden, was allerdings für die JVA irrelevant ist, da Männer und Frauen getrennt untergebracht sind. 24 Vgl. Unterberger 2013, S. 79–81.

208

4.

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Buddhistische Gefangene

Nur wenig bekannt ist, dass auch die buddhistische Religionsgemeinschaft sich seit Jahren in der religiösen Betreuung in Haftanstalten engagiert und in Österreich bereits eine flächendeckende Gefangenenbetreuung aufgebaut hat. Seit 2005 haben z. B. InsassInnen der JVA Stein die Möglichkeit, dreimal im Monat eine Meditationsgruppe aufzusuchen, die von der buddhistischen Gesellschaft organisiert wird. Mehrere Personen machen darüber hinaus bereits seit den 1990er Jahren regelmäßig auf Anfrage Besuche in verschiedenen Gefängnissen.25 Hier von „Seelsorge“ zu sprechen ist jedoch sehr fragwürdig, weil es eine der Grundannahmen des Buddhismus ist, dass es keine Seele gibt, und weil die religiöse Betreuung in eine ganz andere Richtung geht als bei den christlichen SeelsorgerInnen: Es handelt sich um Anweisungen zur Meditation sowie Beratung hinsichtlich des ethischen Verhaltens. Die Frage der „Schuld“ oder Aufarbeitung von Straftaten, die im Christentum traditionell eine große Rolle spielt, wird nur minimal oder gar nicht angesprochen, da an karmischen Folgen von schlechten Taten sowieso nichts geändert werden kann.26 Im Unterschied zu evangelikalen Gruppen, zu Muslimen und Jehovas Zeugen kann die buddhistische Gefangenenbetreuung im internationalen Kontext auf sehr große Erfahrungen zurückgreifen. In vielen Staaten Asiens hat die Vipassana-Meditation in JVAs Einzug gefunden und wird als religiöse Betreuung von vielen Staaten akzeptiert und gefördert, was bis zu Massenmeditationen mit mehreren tausend Gefangenen gehen kann.27 Die Erfordernisse für die religiöse Betreuung sind jedoch völlig andere als für die abrahamitischen BetreuerInnen. Hier bedarf es eher eines Raumes der Stille, in dem über mehrere Stunden ungestört meditiert werden kann. Dies ist aber in den meisten Gefängnissen nicht gegeben, da die buddhistischen Betreuerinnen meist überwacht im Besucherräumen ihre Gespräche an einem Tisch führen müssen.

5.

Evangelikale Seelsorger und neureligiöse Gruppen

Neben christlichen, jüdischen, muslimischen und buddhistischen SeelsorgerInnen sind jedoch noch weitere religiöse BetreuerInnen in Haftanstalten aktiv. Insbesondere evangelikale Gruppen haben in vielen deutschen Anstalten einen festen Platz und bieten sowohl individuelle Gespräche als auch Gruppengespräche, bisweilen auch spezielle Gottesdienste in evangelikaler Tradition an. Sie 25 Unterberger 2013, S. 75–76. 26 Reiss 2010b. 27 Chandiramani / Verma / Dhar 1998; Kela 2003; Khurana / Dhar 2000.

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

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haben oft einen größeren Handlungsspielraum als gewöhnliche BesucherInnen, verfügen aber nicht über die gleichen Rechte wie die SeelsorgerInnen der etablierten christlichen Kirchen. Ein wesentlicher Unterschied zu allen zuvor genannten Gruppen besteht darin, dass sie oftmals nicht von Gefangenen angefragt werden, sondern auf eigene Initiative an die Anstaltsleitungen oder die christlichen SeelsorgerInnen herantreten. Sie verstehen das Gefängnis als einen Ort, um ihren Glauben, ihre Religiosität und Frömmigkeit zu verbreiten.28 Während bei den meisten SeelsorgerInnen der katholischen und evangelischen Kirche mehr die individuellen Gespräche und die soziale Tätigkeit im Vordergrund stehen, ist die Arbeit der evangelikalen BetreuerInnen oftmals von intensiver Bibelarbeit und Gebetsgemeinschaften geprägt. In der Regel haben sie keine psychologische oder gesprächstherapeutische Qualifizierung für ihre Tätigkeit vorzuweisen. Hier stellt sich für den religionsneutralen Staat die Frage, wie die Zulassung solcher SeelsorgerInnen oder Gruppen geregelt werden soll, wie man aber auch die Gefangenen vor offensichtlichen missionarischen Ambitionen schützt. Oftmals sind hier die Einstellungen der jeweils in der Anstalt tätigen evangelischen und katholischen SeelsorgerInnen entscheidend, was jedoch problematisch ist, da eventuell bei den PfarrerInnen konfessionelle Vorbehalte gegenüber den genannten Gruppen vorhanden sein können.29 Ähnliche Fragen treten bei der Zulassung und Tätigkeit von Jehovas Zeugen auf, die in manchen Anstalten bereits ihre Aktivitäten entfalten.

6.

Naikan-Angebote

Des Weiteren ist die in Japan entwickelte Methode des „Naikan“ in den letzten Jahren in den deutschen und österreichischen Justizvollzug eingezogen. Dabei meditieren Gefangene tagesweise oder eine ganze Woche lang bei völligem Rückzug von der Gemeinschaft über lediglich drei Fragen: a) Was hat N.N. für mich gemacht? b) Was habe ich für N.N. gemacht? c) Welche Schwierigkeiten habe ich N.N. bereitet? Diese Fragen werden im Blick auf verschiedene Personen und Zyklen der eigenen Biographie in Stille durchdacht und die Naikan-LeiterInnen übernehmen nur die Funktion, die Rückmeldungen wertfrei anzuhören und anzunehmen. Naikan wird zwar von den ProtagonistInnen nicht als eine Form religiöser Betreuung oder Seelsorgearbeit verstanden, sondern eher als psychologische „Methode“, die ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit benutzt werden könne, allerdings weist sie schon sehr starke Bezüge zum Buddhismus

28 Vgl. Bochinger 2011, S. 16. 29 Reiss 2010a, S. 303.

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auf, da sie im buddhistisch-schintoistischen Kontext Japans entstanden ist.30 Am 11./12. 9. 2012 fand in Celle das zweite bundesweite Forum zu Naikan im Justizvollzug statt, an der ich teilnahm. Es zeigte sich, dass Naikan bereits in zahlreichen deutschen Justizanstalten praktiziert und teilweise auch von den Justizministerien gefördert wird, obwohl diese Form der Meditation den normalen Alltag einer JVA vollständig auf den Kopf stellt. Auch in Österreich gab es Modellprojekte, Naikan in den Justizvollzug einzuführen – so in der Jugendstrafanstalt Gerasdorf.31 Außerdem stellt sich auch hier die Frage, aufgrund welcher Kriterien eine solche Betreuung eingeführt werden sollte angesichts dessen, dass es in der Regel keine Anfragen von Gefangenenseite nach einer solchen Betreuung gibt. Fasst man die Entwicklungen zusammen, so lässt sich feststellen, dass die religiösen Betreuungsangebote mittlerweile sehr vielfältig geworden sind. Sie reichen von dem klassischen seelsorgerlichen Gespräch über Bibel- und Evangelisationsveranstaltungen, Koranrezitation und Interpretation, Beratung zur Einhaltung von Speisenverboten und Riten, Gruppenveranstaltungen bis hin zu mehrstündigen Meditationen in fernöstlicher Tradition. Neben die christlichen Seelsorger sind längst Vertreter anderer Religionsgruppen getreten, deren Zulassung jedoch nicht klar geregelt ist und nicht immer dem tatsächlichen Bedarf entspricht. So ist einerseits festzustellen, dass es eine recht intensive Betreuung von jüdischer und evangelikaler Seite gibt, obwohl es nur wenige Gefangene gibt, während orthodoxe Gefangene kaum betreut werden, obwohl sie eine große Anzahl der Gefangenen ausmachen. Auch sind die Rechte des Zugangs und der Bewegungsfreiheit im Gefängnis sowie die Qualifikation der BetreuerInnen sehr unterschiedlich.

7.

Herausforderungen und Handlungsperspektiven

Welche Herausforderungen stellen sich angesichts dieser Situation und welche Ansätze der Veränderung sind bereits ansatzweise zu erkennen? Ein Grundproblem der bisherigen Lösungsansätze besteht darin, dass es sich dabei oft um institutionell und regional isolierte bzw. nur auf ganz bestimmte Religionsgemeinschaften reduzierte Versuche handelt, die der Vielfalt der religiösen und 30 Ozawa-De Silva 2006; Ozawa-De Silva 2010; Bölter 2004; Ishii / Hartl 2000; Steineke / MüllerEbeling 2004. 31 Saimeh 2011; Petelkau 2011; Hartl / Schuh 1989, S. 134–139; 158–183. Eine ausführliche Dokumentation der Anwendung von Naikan im Strafvollzug in Österreich und in Deutschland, die religionshistorische und –systematische Zuordnung des Naikan zum Buddhismus, sowie Auswertung durch Praktiker des Justizvollzuges ist derzeit in Vorbereitung: Reiss 2015.

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

211

kulturellen Prägung der Menschen, die sich in diesen Institutionen aufhalten, nicht gerecht werden. Es genügt nicht, noch die eine oder andere Religionsgruppe mit zu berücksichtigen und es ist nicht damit getan, für einige wenige Institutionen praktische Lösungen zu finden. Vielmehr bedarf es nationaler Strategien und Gesamtkonzepte, die die Diversität der Religions- und Kulturgruppen wie auch die gesamten Institutionen umfassend in den Blick nehmen, um bewusste oder unbewusste Diskriminierungen positiver oder negativer Art zu vermeiden.

7.1.

Herausforderungen für den Staat

Um zu wissen, welche Maßnahmen erforderlich sind, wären zunächst einmal verlässliche Statistiken in den verschiedenen staatlichen Einrichtungen erforderlich, um das quantitative Ausmaß der kulturellen und religiösen Diversität und die verschiedenen Gruppen zu identifizieren. Ein zweiter Schritt könnte die Ausweitung der Verträge mit speziellen Religionsgruppen sein, wie dies teilweise bereits aktuell geschieht, wenn z. B. neue Verträge mit jüdischen, muslimischen oder orthodoxen Religionsgemeinschaften bzw. SeelsorgerInnen geschlossen werden. Allerdings wäre es vermutlich sinnvoll, nach sorgfältiger Analyse des Bedarfs ähnliche Regelungen für alle relevanten religiös-kulturellen Migrantengruppen abzuschließen. Vermutlich wäre es auch sinnvoll, wenn nicht jede Anstalt und jedes Bundesland eigene Wege geht, sondern nationale Regelungen getroffen werden. Auch wäre es hilfreich, die Entwicklung in anderen Ländern zu verfolgen, um ggf. Modelle, die sich bewähren, aufzugreifen, bzw. Fehler zu vermeiden, die anderswo gemacht wurden. Wichtig wäre, dass der Staat auf allgemeine Qualitätsstandards der religiös-kulturellen Betreuung drängt, die von allen Akteuren gemeinsam entwickelt werden. Übertragungen aus der christlichen Terminologie sollten vermieden werden, da diese vielen religiösen Gruppierungen nicht entspricht. Weil es in den meisten außerchristlichen Religionsgruppen keinen eigenständigen Klerus bzw. geistlichen Stand gibt und die Betreuung sehr unterschiedlichen Charakter haben kann (Gespräche, Bibelarbeit, Mission, Koranrezitation und -memoration, Meditation, Körperarbeit, Beratung im Blick auf Riten und auf Ernährung), ist es z. B. nur wenig sinnvoll, dies alles unter den christlichen Begriff der „Seelsorge“ zu subsumieren. Der Begriff der „religiöskulturellen Betreuung“ wäre offener und angebrachter, weil er nicht falsche Assoziationen weckt. Christliche Seelsorge wäre darin nur eine Form der religiös-kulturellen Betreuung. Der Staat sollte auch darauf drängen, dass die religiös-kulturelle Betreuung von Individuen und Gruppen in Institutionen nicht isoliert voneinander geschieht, sondern in einem Team, das untereinander ko-

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operiert und zugleich in die sozialen, psychologischen und anderen Dienste eingebunden ist. Es wäre gut, wenn nationale und internationale Foren eingerichtet würden, wo Fragen der religiös-kulturellen Betreuung in verschiedenen Institutionen besprochen werden, und wo Gesamtkonzepte in Kooperation mit verschiedenen Religionsgemeinschaften und Vertretern der Institutionen besprochen werden können. Zudem wäre der Aufbau von nationalen und eventuell auch regionalen religionswissenschaftlichen Kompetenzzentren hilfreich. Diese könnten sowohl vom Staat, als auch von Institutionen und verschiedenen Religionsgemeinschaften aus speziellen Anlässen, zu speziellen Themen und wegen spezieller Religionsgruppen befragt werden. Sie sollten das praktische Umgehen mit speziellen Religionsgruppen in verschiedenen Institutionen erforschen und dokumentieren und zugleich Beratung und Hilfestellung leisten, wenn konkrete Fragen auftauchen. Wenn z. B. in einer Institution AnhängerInnen einer religiösen Gruppe auftauchen, die bestimmte religiöse oder soziale Themen aufwerfen, so sollten der Staat, die Institution oder auch die etablierten Religionsgemeinschaften die Möglichkeit haben, neben der direkten Kontaktaufnahme mit VertreterInnen der jeweiligen religiösen Gruppe eine Institution zur Beratung hinzuzuziehen, die auf eine neutrale, unparteiische Beratung verpflichtet ist. Des Weiteren wäre es hilfreich, wenn der Staat die Forschung zu praktischen religionswissenschaftlichen Themenfeldern in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen fördert, um diese Veränderungsprozesse auch wissenschaftlich zu begleiten und zu evaluieren.

7.2.

Herausforderungen für die Institutionen

Während der Staat die nationalen juristischen und organisatorischen Rahmenbedingungen schafft, können Institutionen innerhalb der jeweiligen Einrichtungen die Rahmenbedingungen schaffen, die es möglich machen, dass die Betreuung der religiösen und kulturellen Diversität gerecht wird. Der Bedarf und die Nachfrage der Insassen sollten auch hier Grundlage und Orientierungspunkt zur Gestaltung der religiös-kulturellen Betreuung sein. Eine Erweiterung der Zulassung von BetreuerInnen, die religiös-kulturelle Betreuung anbieten, wird in vielen Fällen nötig sein. Sie sollten mit Ressourcen ausgestattet werden, die dem zahlenmäßigen Anteil der PatientInnen/BewohnerInnen entsprechen. D.h. dass Räume, Büros, Erstattung von Sachkosten etc. von Seiten der Institution entsprechend der tatsächlichen Nachfrage zur Verfügung gestellt werden. Ähnlich wie in Holland könnten multireligiöse Teams gefördert werden, die sich in ihrer Aufgabe kontinuierlich absprechen, einander Supervision anbieten, und ihre Arbeit nach außen als gemeinsame Tätigkeit präsentieren. Innerhalb von

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

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Einrichtungen könnten die Teams gemeinsame Standards und Leitlinien der religiös-kulturellen Betreuung entwickeln, die alle religiösen BetreuerInnen zu erfüllen haben. Integration der religiös-kulturellen Betreuung in die Institution und kontinuierliche enge Kooperation mit SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und anderen Diensten der Institution ist anzustreben. Die vor Ort wirkenden religiösen BetreuerInnen könnten mitwirken, religionswissenschaftliche und kulturelle Kenntnisse in der Ausbildung von Bediensteten aller Berufsgruppen zu verankern. In Institutionen, in denen es größere Zahlen von Insassen mit einem speziellen Migrationshintergrund gibt, ist die Anstellung von MitarbeiterInnen mit dem gleichen religiös-kulturellen und sprachlichen Migrationshintergrund vermutlich hilfreich.

7.3.

Religionsgemeinschaften

Auch die einzelnen Religionsgemeinschaften sind sowohl intern als auch untereinander durch die neue Situation gefordert. Einerseits beginnen sich konfessionell bzw. religionsspezifisch geprägte eigenständige Ansätze der Betreuung in den jeweiligen Religionsgemeinschaften (z. B. Konzeption evangelischer, katholischer, islamischer, jüdischer, buddhistischer, evangelikaler Betreuung) zu entwickeln,32 die die religiöse Diversität in der Anstaltsseelsorge berücksichtigen.33 Diese Konzepte sollten gegenüber dem Staat, den Institution und den Kollegen offengelegt werden. Zugleich bedarf es des intensiven Austauschs zwischen den konfessionell bzw. religionsspezifisch geprägten Betreuern und der Entwicklung von allgemeinen Standards der religiösen Betreuung. Vermutlich wird man dabei in vielerlei Hinsicht an die bewährten Modelle der christlichen Anstaltsseelsorge in ökumenischer und interreligiöser Kooperation anknüpfen können. Konkret geschieht dies z. B. dadurch, dass Vertretern anderer religiöser Gruppen (Juden, Muslimen, Mitgliedern von Freikirchen oder anderen Gruppierungen) erlaubt wird, an speziellen Ausbildungsformen teil32 Die katholische Kirche verabschiedete 1998 Leitlinien für die Sorge um die Kranken. (SBK 1998). Die Evangelische Kirche in Deutschland verabschiedete 2004 Leitlinien für die evangelische Seelsorge (EKD 2004). In Württemberg wurden 2004 in evangelisch-katholischer Kooperation gemeinsame Qualitätsstandards in der Krankenhausseelsorge entwickelt (KHSW 2004). Die Erzdiözese München hat Qualitätsstandards für die Krankenhausseelsorge 2007 entwickelt (BOM 2007); Aktuell gibt ein Forschungsprojekt „Qualitätsstandards für die Ausbildung der islamischen SeelsorgerInnen in Österreich“ an der Universität Wien, dessen Ergebnisse im Frühjahr auf einer internationalen Fachtagung präsentiert werden (Charkasi / Modler-El-Abdaoui 2013). Zur islamischen Gefangenenseelsorge vgl. Forum am Freitag, 25. 05. 2012. Zur katholischen Gefängnisseelsorge vgl. die Veröffentlichung der deutschen Bischofskonferenz von 2006 (DBK 2006). 33 Vgl. Weiß / Federschmidt / Themme 2010; Kayales 2013.

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zunehmen, z. B. Klinische Seelsorgeausbildung, Gefängnisseelsorgeausbildung oder Anstaltsseelsorge. Oder es werden Kurse von christlichen Seelsorgern für Angehörige anderer Religionsgruppen organisiert. Dies ist nicht nur eine Herausforderung, sondern wird verschiedentlich auch bereits praktiziert.34

7.4.

Herausforderung für die Forschung

Auf der Ebene der Forschung wäre es wichtig, zu praxisrelevanten Themen zu forschen, in denen religiöse und kulturelle Prägungen relevant sind und insgesamt das Feld zu beobachten und Transformationsprozesse wissenschaftlich zu dokumentieren. Zudem könnten insbesondere bei religiös-kulturellen und sozialen Konfliktfeldern in inter- und transdisziplinärer Weise nach Lösungsansätzen im Feld gesucht werden. Dazu bedarf es, bestehende Ansätze zu dokumentieren, in das Gespräch mit PraktikerInnen zu kommen und Evaluationen der verschiedenen Akteure festzuhalten. Dabei sollte davon ausgegangen werden, dass die Generierung der Forschungsfragen nicht ausschließlich wissenschaftsinternen Diskursen entspringt, sondern wissenschaftliches Wissen mit praktischem Wissen verbunden wird und dass entsprechend den Forderungen transdisziplinärer Methodik die Bearbeitung von Forschungsfragen in engem wechselseitigem Bezug aufeinander geschieht.35 Es geht um problemorientiertes Arbeiten und Forschen, das sich an außerwissenschaftlichen, d. h. lebensweltlichen und gesellschaftlich relevanten Problemen orientiert und nicht versucht, theoretische Erkenntnisse zu applizieren, sondern auch offen dafür ist, sich durch empirische Erkenntnisse zu verändern und normative Wissenschaften in 34 Georg Wenz, Islambeauftragter der Evangelischen Kirche in der Pfalz, organisierte z. B. gemeinsam mit Talat Kamran Ausbildungskurse für Muslime, in denen sie mit der Klinischen Seelsorge und der Systemischen Seelsorge vertraut gemacht wurden (Wenz 2012 und Wenz / Kamran 2013). Die Gesellschaft für interkulturelle Seelsorge und Beratung organisierte am 24. 01. 2014 eine Tagung zum Thema Christliche und Islamische Seelsorge in Bern (SIPCC 2014). Dieselbe Organisation organisierte bereits 2013 eine Tagung zur Gefängnisseelsorge aus der Perspektive von Muslimen, Christen und Juden in Mainz (SIPCC 2013). Das Zentrum für Seelsorge und Beratung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die katholische Klinikseelsorge und der Grüne Halbmond bieten seit 2011 einen Kurs für islamische Krankenhausseelsorge an, der sich an den Ausbildungsrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie orientiert und bei dem die Kursteilnehmer von erfahrenen evangelischen und katholischen Krankenhausseelsorgerinnen unterstützt werden (Grüner Halbmond 2011). Die Römisch-Katholische Kirche hat gemeinsam mit der reformierten Kirche, der Christkatholischen Kirche und der Interessengemeinschaft jüdischer Gemeinden Qualitätsstandards für die Seelsorge im Kanton Bern 2002 verabschiedet und 2009 überarbeitet (IKK 2009). 35 Vgl. Jaeger / Scheringer 1998.

Religiös-kulturelle Betreuung im Strafvollzug

215

den Forschungsprozess mit einzubeziehen.36 Dies kann zum einen in der anwendungsorientierten Religionswissenschaft, den verschiedenen christlichen Theologien und verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich auch mit der religiösen und kulturellen Prägung von Menschen beschäftigen, wie z. B. der Religionspsychologie, Anthropologie, Sozialwissenschaft, verschiedenen Theologien und anderen Wissenschaftsdisziplinen geschehen. Wichtig wäre dabei insbesondere die Dokumentation des Umgangs mit religions- und kultursensibler Betreuung in Institutionen und ihre Präsentation in Fachkreisen, Medien und Politik, die Analyse der Faktoren, die zu Konflikten bzw. zu einem gedeihlichen Miteinander in Institutionen führen und eine enge Zusammenarbeit mit PraktikerInnen sowie die Evaluation von Dialogprozessen zwischen den Religionsgemeinschaften, die neue Formen der Kooperation erproben.

Fazit Die religiöse Betreuung im Justizvollzug ist bisher nur sehr wenig Gegenstand der Medien, der Forschung und der politischen Überlegungen, obwohl sich in den letzten Jahrzehnten die religiöse Betreuung grundlegend gewandelt hat. Es wird Zeit, dass dieses Feld näher erforscht wird und dass nicht nur regionalinstitutionelle ad hoc-Lösungen gefunden, sondern systematisch Gesamtkonzepte entwickelt werden, die der veränderten Situation gerecht werden. Dies kann nur durch Zusammenarbeit aller Beteiligten geschehen, d. h. Staat, Institutionen, Religionsgemeinschaften und wissenschaftliche Forschung.

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36 Vgl. Mittelstraß 1998.

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Astrid Mattes

Towards a universal religion? Symbolic boundaries in Austrian immigrant integration policies

1.

Introduction

The political handling of Muslims in Europe is defined by the concurrence of two categories of difference, religion and nationality. Political debates about the governance of this religious minority, questions of public presence, legal and institutional embedding, potential dangers of extremism and religious practices have not only been interwoven with, but even became a core issue of immigrant integration policies. However, the debate about Islam and Muslim immigrants is by no means isolated, it goes hand in hand with a re-evaluation of the role of Christianity as a majority religion for self-identification, the promotion of shared values and debates about collective identity. This is striking in two ways: First, it is immigrant integration policy which brings questions of collective identity back into political debate.1 Second, in debating these questions of collective identity in the context of immigrant integration, religion is placed at the centre of attention.2 Together, these debates are manifestations of the growing relevance of religion for collective identity in an increasingly secular society, and therefore, to some degree, also of a return of religion in the age of migration. In the case of Austria, this return in itself is a very interesting process, as it evolved out of the problematization of Islam which has been contrasted by normalizing Christianity, but then changed into a new overall emphasis on religion. The analysis is guided by the following question: how are different religions constructed and what’s the relationship between these constructions and the collective identity promoted in immigrant integration policies? While other religious traditions – both migrant religions and long-established ones – are rarely addressed in immigrant integration policies, especially not in the context of identity debates, Christianity and Islam are extensively discussed as markers of self and otherness. Here, theories of boundary formation are a useful 1 Korteweg / Triadafilopoulos 2013, p. 115; Joppke 2008, p. 536. 2 Brunn 2012; Joppke 2013.

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analytical approach to trace “how collective identity and notions of difference are shaped through […] institutions”.3 By providing an in-depth case study on the addressing of religion in governmental immigrant integration policy documents between 2008 and 2013, this paper aims to show the development and implications of significant changes in how authorities address both Christianity and Islam. The paper conducts an empirical analysis of the construction of religion as a symbolic boundary for collective identity and identifies three different phases. These phases are: 1) the construction of Christianity as universal in opposition to the construction of Islam as illiberal, 2) the emergence of a differentiation between “good” and “bad” Islam; 3) the construction of a “universal religion” in juxtaposition to unwanted practices and attitudes which are considered to falsely claim to be religious. The paper builds on the assumption that these shifts within one legislative period can be best understood as a consequence of a change in party orientation of the conservative Austrian People’s Party (Österreichische Volkspartei, ÖVP) and therefore picks up Tim Bale’s criticism about lacking acknowledgement of the role of party politics in migration policies, in this case for the understanding of immigrant integration policy output.4 The paper proceeds as follows: First, the theoretical arguments underlying this analysis will be discussed, putting a focus on political theories which discuss the role of collective identity and religion in liberal democracies and the concept of symbolic boundaries. Second, contextual information on the Austrian case will be provided and the development of immigrant integration policies will be described briefly. Third, the results of the empirical analysis of policy documents on immigrant integration will be presented. Finally, the implications of the changing role of religion will be assessed in the conclusion.

2.

Collective identity and boundary making in liberal democracies

Many immigrant integration policies explicitly refer to collective identity, or do so by elaborating on the notion of common fundamental values. For this paper, concepts of collective identity as promoted in integration policies form the context in which the construction of religion as symbolic boundary is observed. It is argued that migration inflows have triggered the question of collective identity, especially in those countries which do – or did – not see themselves as

3 Korteweg / Yurdakul 2009, p. 219. 4 Bale 2008, p. 317ff.

Towards a universal religion?

221

countries of immigration.5 The main reason for this can be found in the overall idea of integration, which is to make individuals or groups of “others” a part of “us”. Once a policy addresses populations of “others” in order to “integrate” them, this forces a reflection on “what” they are to be integrated into and how the “unity” that integration requires might be.6 Immigrant integration policies might handle such demarcation of “us” from “them” in a variety of ways and can therefore be understood “as negotiations over how best to craft a shared national identity in a social context transformed by immigration”.7 From a liberal democratic perspective, particularistic elements of collective identity have to be seen as problematic. Following John Rawls’ “Theory of Justice”, the fundamental principles of a liberal democracy can only derive from an “overlapping consensus” which is comprehensible for all residents.8 While individuals may advocate for different perceptions of a “good life”, states have to maintain neutrality in order to uphold this overlapping consensus. Collective identity has to be distinguished from the rule of law, which Rawls’ theory primarily refers to, although it can be understood as “setting the boundary within which the law can be effective”.9 Therefore, again from a liberal democratic perspective, the legitimisation of fundamental values has to be universal and must not be particularistic. This is a difficult task, as the idea of universal values is challenged by the perceived need for particularistic elements which might serve to build social unity.10 This perceived need to promote particularistic identity elements even though they are not compatible with national self-conceptions as liberal democracies is what Christian Joppke calls the “paradox of universalism”.11 Albeit references to religion are equally incapable of solving this dilemma, references to Christian roots, Christian occidental culture or Judeo-Christian heritage became very popular elements of promoted collective identities in immigrant integration policies.12 Here, the application of religion as a symbolic boundary can be observed. Symbolic boundaries are conceptual distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices, and even time and space. They are tools by which individuals and groups struggle over and come to agree upon definitions of reality. […] Symbolic

5 6 7 8 9 10 11 12

See Joppke 2008, p. 536ff. Joppke 2013, p. 598. Korteweg / Triadafilopoulos 2013, p. 115. Rawls 1993. Joppke 2008, p. 535. Kymlicka 1996, p. 173. Joppke 2008. Joppke 2008, p. 540.

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boundaries also separate people into groups and generate feelings of similarity and group membership.13

Three types of boundaries are distinguished in the literature: sharp (also bright), blurred and shifted boundaries.14 While sharp boundaries differentiate clearly between in- and out-groups, blurred boundaries can be overcome as they indicate the acceptance of multiple membership.15 Sharp boundaries can only be overcome by assimilation while boundary shifting refers to the relocation of boundaries, which results in newly defined out-groups.16 Symbolic boundaries are relevant for societal inclusion but do not have direct legal or institutional implications. Still, they can manifest into social boundaries which then are institutionalized and regulate access and distribution of resources.17 Symbolic boundaries might become social boundaries once they are widely agreed upon.18 The ways in which symbolic boundaries are produced are manifold and subject to discursive construction of identity. Public policies are indeed only one of many spheres in which symbolic boundaries develop but due to their hegemonic position in discourse, they have to be seen as a powerful sphere in which division lines for the incorporation of some and the exclusion of others are debated. As previously stated, immigrant integration policies are per definition concerned with the negotiation of in- and out-groups. Symbolic boundaries are therefore a useful analytical tool to understand this relational processes. While religion might seem to be just another category of difference, a closer look at the nature and representation of religion reveals a very different picture. Religion is a singular, inter-generationally robust and by liberal democracies accepted category of difference. Religious affiliation is, contrary to language, normally characterized by its singularity, at least among most monotheistic traditions. Multiple belonging, as it is easily possible with language groups, hardly exist among religious people which would allow an overcoming of religion as symbolic boundary only by assimilatory means, the dropping of religious affiliation or conversion. Again contrary to language, religious knowledge and practices can be passed from generation to generation without the need for extensive institutions, such as educational facilities needed to acquire language proficiency. And while states need to limit language diversity to at least a small number of official languages, liberal democracies are inter alia based on the 13 14 15 16 17 18

Lamont / Moln‚r 2002, p. 168. Alba 2005, p. 21. Bauböck 1994, p. 12. Korteweg / Triadafilopoulos 2013, p. 126; Alba 2005, p. 22. Bail 2008, p. 39. Lamont / Moln‚r 2002, p. 168.

Towards a universal religion?

223

acceptance of religious freedom and the toleration of religious diversity within their territories.19 Thus, religion is one of the most stable categories of difference and a form of what political theorists following John Rawls’ “Political Liberalism” have called “deep diversity”.20 As indicated before, liberal democracies are characterized by both the acceptance of religious diversity and the neutrality mandate towards perceptions of the “good life”. In the construction of religion as a symbolic boundary in immigrant integration policies however, a violation of both these principles can be observed as in- and out-groups are defined on religious grounds. In other contexts, Lori G. Beaman and Winnifred Sullivan describe a new emphasis on religion in the public sphere, which they call “the will to religion”. Both scholars argue that we are experiencing “a new normal in which we are all religious”.21 Within the “new normal” the religious, not the secular, is seen as universal.22 We are experiencing an era in which policy, law, and social institutions have come to imagine religion as a necessary part of the creation and expression of self. Despite a pervasive rhetorical commitment to religious diversity and religious freedom, the primary basis from which religion is imagined institutionally and against which the citizen self-assesses is a universal Christianity that is expressive of shared values.23

I argue that when immigrant integration policies address minority religion, especially but not exclusively in the context of collective identity debates, this leads to a discussion about the majority religion. This becomes visible in an emphasis on the historic and current role of Christianity for collective identity which might be constructed as in conflict or as compatible with Islam. As the following empirical analysis will show, it results in both cases in the promotion of a Christian universalism which has to be seen critically from a liberal democratic point of view.

3.

Austria – a contradictory case

Compared to other European countries, Austria’s policies on migration and integration have been and still are classified as very restrictive.24 Integration policy as an independent policy field developed late and only in the light of a 19 20 21 22 23 24

Brubaker 2013. Galston 1995, p. 518ff. Beaman 2013. Sullivan 2014. Beaman 2013, p. 145. Huddleston et al. 2011; Mour¼o Permoser / Rosenberger 2012.

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Astrid Mattes

negative politicization of the issue and the perception of an integration failure during the 1990s.25 The country also has one of the most successful right-wing parties in Europe, which has put anti-migration, anti-immigrant and anti-Islamic slogans in particular at the center of their electoral mobilization strategies. Public attitudes on both migration and Islam are among the most negative in Europe.26 At the same time, the country is characterized as inclusive in terms of religions.27 The acknowledgement of Islam has historic roots and is often seen as a best practice model.28 It is this contradictory setting – a strong Catholic Church, a well-established Islamic community, restrictive integration policies, a strong right wing party and high resentments against immigrants among the public – that makes Austria a particularly interesting case for research on the application of religion as symbolic boundary. Especially as, unlike in other European countries, Austrian debates about Islam are not dominated by questions of legal incorporation or institutional embedding.29 The following section discusses Austrian state-religion relations and the situation of Islam, the evolvement of national immigrant integration policies, the influence of party politics and the role of the Austrian People’s Party in particular. Concerning state-religion relations, Austria is classified as a “system of shared tasks”,30 characterized by the exclusive collaboration of state institutions and legally acknowledged religious communities. Despite a very dominant Catholic Church, which had 5.39 million members in 2012 (63.1 percent of the total population),31 Austria has an inclusive legal setting concerning minority religions. In 2014, 16 religious communities were legally acknowledged, among them twelve Christian Churches, a Jewish, a Buddhist and two Islamic Communities. These communities enjoy an extensive set of privileges, such as state subsidies, the right to provide state-funded religious instruction in public schools and to be consulted in the law-making process.32 Religious diversification of many European societies in the course of international migration has been examined from various perspectives, especially in terms of institutional embedding and legal incorporation.33 While such questions dominate most European countries’ debates on Islam, Austria is different, not least due to its long established legal acknowledgement of Islam. Many of the 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Mour¼o Permoser / Rosenberger 2012, p. 46. Rosenberger / Seeber 2011. Gresch et al. 2008; Kroissenbrunner 2002; Mattes 2012. Schakfeh 2005; Sticker 2008. Mattes / Rosenberger 2015. Minkenberg 2003. Österreichische Bischofskonferenz 2013. Kalb / Potz / Schinkele 2003. Fetzer / Soper 2004; Maussen 2009; Koenig 2005.

Towards a universal religion?

225

issues disputed in other European countries are already regulated, and controversy is limited to either details of implementation or criticism from the political opposition with little policy impact.34 The establishment of a legally acknowledged Islamic religious community (Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich) in 1979,35 long before Islam became a politicized issue, can partly explain this comprehensive accommodation. This inclusive legal status is however not reflected in attitudes of the majority population and electoral politics of anti-migration parties. On the contrary, in the course of the now highly politicized debate on Islam,36 strong resentments among the public and successful right-wing parties also seem to influence the way religion is addressed in immigrant integration policies. Integration policy began to evolve as an independent policy field during the 1990s. This decade was characterized by a high politicisation of migration and integration, not least because the right-wing Austrian Freedom Party (FPÖ) and the Green Party utilized the issue for voter mobilization.37 Above all, this period in Austrian migration/integration policy was shaped by the gradual acceptance of the long neglected fact that Austria is a country of immigration which shifted the negotiations on the policy field from the informal channels of corporatist social partnership (Sozialpartnerschaft) to the parliamentary arena and also brought the topic at the centre of media attention.38 By that time, “integration” was understood almost exclusively as a matter of residence status and labour market access. This changed during the ÖVP-FPÖ governments (from 2000 to 2006) when “integration” became a term for adjustment efforts migrants were supposed to make.39 In this vein, a restrictive course in immigrant integration policies was continued and a civic integration measure, the so called “integration agreement”, was established in 2002.40 Efforts to develop a coordinated policy strategy on the national level only started in 2007 with the establishment of an “Integration Platform”. The Ministry of Interior of the SPÖ-ÖVP government invited experts from academia and practice to work on a document which aimed to provide an extensive problem analysis on immigrant integration as a basis for future policy development. 34 Gresch et al. 2008; Mattes / Rosenberger 2015. 35 The general legal recognition of Islam goes back to 1912, when the Austrian-Hungarian monarchy passed the so called “Islam Law” following the annexation of Bosnia and Herzegovina, to provide a legal basis for this new religious minority within the territory. In the 1970s, Muslim immigrants referred to the legal act of 1912 in their attempts to found a community which could be acknowledged as a statutory body. 36 Sauer 2009. 37 Kraler 2011, p. 30; Gruber 2011, p. 134ff. 38 Perchinig 2009, p. 234. 39 Perchinig 2009, p. 240. 40 Mour¼o Permoser 2013.

226

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Following European initiatives for the development of national integration plans,41 an “Experts Council for Integration” was nominated by the Ministry of Interior and the “National Action Plan for Integration” which comprises a list of planned or ongoing measures and projects, statistical data and dossiers about perceived integration problems, was published in 2010. Since then, an annual publication, the so called “Integration Report”, commissioned by the Ministry of Interior and edited by the Experts Council, was issued. In the course of a government reshuffle in 2011, immigrant integration became institutionalized by the establishment of a State Secretariat for Integration (SSI) under the Ministry of Interior. This new ÖVP-led institution was only responsible for “integration of permanent residents with a migrant background” while migration and asylum issues remained with the Ministry of Interior, a strategy Gruber and Bale call “dual track approach”.42 This institutionalization was accompanied by a significant change in the ÖVP’s party orientation on immigrant integration.43 Although national integration policies are a governmental responsibility, it might be reasonably assumed that it is primarily the ÖVP which shaped outputs from 2000 onwards: In general, center-right parties have to be seen as particularly preoccupied with questions of both the preservation of socio-economic and cultural status quo which might be challenged by migration.44 Second, holding the responsible office (Ministry of Interior until 2011, State Secretariat for Integration from 2011 to 2013, Ministry of Europe, Integration and Foreign Affairs since 2013) can be seen as exceptionally influential in that particular policy field45. Third, especially since the establishment of the State Secretariat for Integration, the ÖVP can be seen as dominating the policy field: SPÖ and the Greens hardly presented counterproposals or outspoken criticism to the then new policy approach.46 Integration policy frames put forward by the ÖVP have to be seen in light of the overall politicization of the issue and the electoral pressure through rightwing parties in particular.47 The presence of religion as a topic within integration policies can be better understood when considering this pressure from the far right, which especially focused on anti-Islamic mobilization on the one hand and the ÖVP’s search for a coherent policy profile on integration on the other.

41 42 43 44 45 46 47

Collett 2011, p. 6f. Gruber / Bale 2014, p. 6. Gruber / Mattes 2014. Bale 2008, 319. Atac‚ 2014, p. 122. Gruber / Mattes 2014; Rosenberger 2014, p. 64. Gruber / Bale 2014, p. 8f.

Towards a universal religion?

4.

Religion as symbolic boundary: Christianity and Islam in immigrant integration policies (2008–2013)

4.1.

Methods and material

227

The central research question addressed in this study is: “How do integration policies construct different religions and what’s the relationship between these constructions and the collective identity that the policies promote?” The aim in asking this question is to identify processes of boundary drawing in the course of identity debates in integration policy documents. The period of analysis starts with the first comprehensive integration policy document on the national level and is limited to one legislative period. This allows the investigation of a timespan in which most influential factors stayed constant and policy outputs were not affected by changing governments or varied party strength. Between 2008 and 2013, various immigrant integration policy documents which address the issue of collective identity have been published. Decisions of document selection were made in accordance to the research questions, resulting in the exclusion of documents that do not address questions of shared values and collective identity or those that have been published by subunits and not by the responsible governmental actors. Beside topic specific or event driven documents, seven major documents which elaborate on collective identity have been issued on the governmental level: an expert’s analysis of perceived immigrant integration problems (“Gemeinsam kommen wir zusammen”, Ministry of Interior 2010),48 a commissioned survey on immigrants’ attitudes (“Integrationsstudie”),49 the documents subsumed under “National Action plan for Integration” (NAP, “Nationaler Aktionsplan Integration”, Ministry of Interior 2010), yearly reports on the implementation and further development of the NAP (“Integrationsbericht”, Ministry of Interior 2011, 2012, 2013)50 and an information booklet on “Austrian values” for newcomers (“Zusammen leben in Österreich”, SSI 2013). These documents form the basic data material for the empirical analysis. Additionally, selected information materials, campaigns and press releases have been included in the analysis to illustrate the broader context. Methodologically, a qualitative content analysis has been performed using semi-structured coding techniques. The initial coding of the documents aimed at identifying how religions are constructed. The creation of the codebook was

48 Bundesministerium für Inneres 2008. 49 Ulram 2009. 50 Staatssekretariat für Integration 2013.

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guided by the literature on boundary drawing51 and elements of narrative analysis.52 It has then been supplemented by inductive codes derived from the data material. Quotes53 which exemplify different forms of religion as symbolic boundaries – either sharp, shifted or blurred boundaries – are used to present the results of the empirical analysis.

4.2.

Constructing boundaries: Christian universalism and Islam as the illiberal other

The development of coordinated integration policies at the national level in Austria started with the so called “Integration Platform”, which was established by the Ministry of Interior in 2007. A group of experts was appointed by the ministry to elaborate on different areas of immigrant integration.54 The platform’s work resulted in a document, published by the Ministry of Interior in 2008 (“Gemeinsam kommen wir zusammen”). In this very first comprehensive policy document at the national level, the appointed experts write on eight different topics, one of them being “Fundamental values and rights”. In this section, the authors discuss fundamental rights and values as the common basis of Austrian collective identity. Religion is used to construct a symbolic boundary already in a preamble which precedes the then following statements: The following discussion will show that the problem of integration of foreigners predominantly concerns members of the Islamic culture, to a lesser extent also those of other (for example African or Asian) cultures. Even the integration of members of other ‘European’ cultures (for example Eastern Europe) may pose problems.55

The document proceeds with a listing and description of basic principles and fundamental values, such as human dignity and tolerance. For each of these values, the difficulties the above mentioned populations might have are discussed. Concerning the basic principle of equality, the document states:

51 52 53 54 55

Korteweg / Yurdakul 2009; Lamont / Moln‚r 2002; Bail 2008; Alba 2005. Roe 1994. Quotes from policy documents are translated by the author. Österreichischer Integrationsfonds 2008. Vogl / Matscher 2008. Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, dass es sich beim Problem der Integration von Fremden vornehmlich um Angehörige der islamischen Kultur, in zahlenmäßig geringerem Ausmaß auch um solche anderen (etwa afrikanischen oder asiatischen) Kulturen handelt. Selbst die Integration von Angehörigen anderer “europäischer” Kulturen (etwa Osteuropas) kann Probleme aufwerfen.

Towards a universal religion?

229

The principle of equality derives from statements of the Old, but above all the New Testament, that all men are equal in front of God.56

Despite a later reference to the French revolution as another source for the principle of equality, this reasoning is very unambiguous. Throughout the document a binary opposition is constructed between liberal democracy, which is argued to be built on values derived from Christianity as part of “us”, and a certain idea of Islam which is characterized by violence, patriarchy, and noncompatibility with universal values as the “other”. This construction of religion as a symbolic boundary – with Christianity seen as universal on the one side and Islam as problematic on the other – creates an exclusion from the promoted shared value base qua religion which either cannot be overcome at all, or only in an assimilatory fashion. From a liberal democratic view, the framing of Christianity as the basis of universal and collective identity is problematic, as it violates the liberal consensus twofold: both followers of Islam and all other non-Christians are excluded from the promoted value basis.

4.3.

Shifting boundaries: inventing the “good” Muslim

The binary opposition in the construction of religion as a symbolic boundary becomes even more striking in ensuing documents, for example in a survey commissioned by the Ministry of Interior in 2009 as basis for the later “National Action Plan for Integration”. Here, migrants were asked: What is more important to you personally : The laws and regulations of your religion or the laws and regulations of the Austrian state?57

This question postulates an incompatibility between religious and legal obligations as one cannot evaluate both equally. Furthermore, the authors of the survey differentiate between Muslims of Turkish and Bosnian origin and frame Turkish Islam as problematic while Bosnian Islam is framed much more compatible with universal values.58 Here, religion as a category of difference is merged with nationality, another long established category of difference.59 One interpretation of this change in boundary drawing could be a development towards a blurring of boundaries. Following Korteweg and Yurdakul, 56 “Das Gleichheitsgebot hat christliche Wurzeln und es leitet sich von den Aussagen des Alten, vor allem aber des Neuen Testaments ab, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.” Vogl / Matscher 2008, p. 20. 57 “Was ist für Sie persönlich wichtiger : die Gesetze und Vorschriften Ihrer Religion oder die Gesetze und Vorschriften des österreichischen Staates?”, Ulram 2009, p. 16. 58 Ibid., p. 16ff. 59 Jørgensen 2012.

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“[b]Boundary blurring is indicated by immigrants’ ability to cross as a group into majority society without relinquishing distinct aspects of their identity”.60 It can be argued that such crossing became possible for followers of Bosnian Islam. In fact, however, it is better understood as a contracting boundary shift61 due to its narrowing character and the further exclusion of a more sharply defined group. This boundary shift can then be seen as both the adoption of an at that time prominent debate about the development of a so-called “Euro-Islam”, pushed forward by Bassam Tibi62 and others, and as a category merge which aims to combine problematized immigrant populations, Muslims and Turkish immigrants, while de-problematizing another group, Muslims from the Balkans. A press release by the Ministry of Interior underlines these attempts of narrowing the boundaries to a problematized population with national and religious markers, while opening up the possibility of inclusion for another group: Strong elements of a European Islam exist, for example in Bosnia and Herzegovina, this is a gain for our shared Europe. This [kind of Islam] needs to be encouraged.63

The category merge can be seen as a first step in a longer development, namely the construction of a differentiation between a good, compatible Islam and a problematic Islam which is incompatible with universal values. Although this representation of religion as a symbolic boundary, which differentiates between an Islam which is part of “us” and “our” set of universal and European values and an Islam which is framed as “the other”, allows the inclusion of some Muslims while others are still confronted with a boundary that can’t be overcome. The binary opposition is therefore not blurred but shifted in its construction.64

4.4.

Blurring boundaries: re-evaluating religion

The National Action Plan for Integration of 2010 marked the beginning of a coordinated integration policy strategy on the national level. It did not address religious traditions in particular, but religion on a more general level. Remarks on religion in the context of collective identity and values are restrainedly worded and despite recurrent references to the “Integration Survey” the NAP 60 61 62 63

Korteweg / Yurdakul 2009, p. 220. Ibid. Tibi 2009. “Es gibt, etwa in Bosnien-Herzegowina, starke Elemente eines europäischen Islams, der eine Bereicherung für unser gemeinsames Europa ist. Diesen gilt es zu fördern”, Bundesministerium für Inneres 2010. 64 See Alba 2005, p. 23.

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does not adopt its narrations or tone. Although the document was evaluated as securitizing integration and conjuring migration as a threat to society,65 it remains rather vague concerning religion. A next step away from the sharp boundary drawing was taken in the so called “Work Programme”, a document published by the Ministry of Interior in early 2011. The document was edited by the “Experts Council for Integration”. Here, the evaluation of religion in the context of integration certainly starts to blur previously constructed boundaries: A major factor in the integration debate is the question of religious practice. It has to be worked out which inhibitory effects each of the acknowledged churches and religious communities pose. It needs to be asked, to which extend such practices are protected by the fundamental right of freedom of religion on the one hand and Article 15 StGG for legally acknowledged churches and religious communities on the other and where the limits of constitutional protections are.[…] Concerning acknowledged religious communities, it needs to be examined how privileges granted by the state can be utilized to support integration and in turn to impede or avoid behaviour under the ‘cloak’ of religion which is not in accordance to the constitution.66

Still a differentiation is made between religion, which is in general seen positively and compatible with universal values and certain things or practices which are said to be “under the cloak of religion”. Now Christianity and Islam are no longer two ends of an identity spectrum, the symbolic boundary is blurred to a certain extent, as religion in general becomes part of “us” while “the other” is only portrayed as something vague “under the cloak of religion”. This differentiation continues and intensifies from 2011 onwards.

65 Perchinig 2009, p. 245. 66 “Ein wesentlicher Faktor in der Integrationsdiskussion ist die Frage religiöser Praxis. Herauszuarbeiten ist, welche integrationshemmenden Wirkungen tatsächlich von einzelnen Richtungen gesetzlich anerkannter Kirchen und Religionsgesellschaften, aber auch von Teilen von Bekenntnisgemeinschaften ausgehen. Es ist zu fragen, wie weit derartige Handlungen durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit des einzelnen einerseits und durch den Schutz des Art. 15 StGG für gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften andererseits gedeckt sind und wo die Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes liegen. Daneben muss herausgearbeitet werden, welche Handhabe die Rechtsordnung vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantien bietet, um radikal politische und mit den Wertungen unserer Bundesverfassung in Widerspruch stehende Religionsausübung zu unterbinden. Bei den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist zu über prüfen, inwieweit die vom Staat gewährten Privilegien dafür eingesetzt werden können, integrationsunterstützende Maßnahmen zu setzen und im Gegenzug unter dem “Deckmantel” der Religion gesetzte Verhaltensweisen, die mit den Werten der Bundesverfassung nicht im Einklang stehen, zu unterbinden oder zu erschweren.”, Bundesministerium für Inneres 2011, p. 13.

232 4.5.

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A “new normal”: religion as the cure

The Integration Report 2013 published by the State Secretariat for Integration continues in this direction but goes a step further and recommends special considerations of religion in policy fields other than immigrant integration. Austria enables all people to live their faith freely in accordance with the constitutional system. The expert council for integration acknowledges that religious attitudes are of especially high importance to many people. This appears harmless, if they can combine their religious beliefs with a constitutional system. […] The Expert Council for Integration recommends a broad discussion among state actors, researchers and religious authorities about the role of religion in the public and private spheres. The findings of this process should not only influence Religious education and ethics lessons in school but also be reflected in labour law, regional development and other legal material.67

Various press releases and interviews of the responsible governmental actors support this evaluation of the overall importance of religion, which is frequently emphasized, even aside from immigrant integration issues. I believe, that in principle religion is very important to the people, that values are something important and religion is a good approach to deal with personal fundamental values. Religion in school [confessional religious instruction in public schools] is important, because we catch all young people in a regulated system.68

What we can observe is a harshly different construction of religion as in the first analysed documents. Religion – and no longer Islam or Christianity but religion in general – is evaluated as a desirable element of society. Its ability to provide values, which are no longer questioned but presented as enriching, is constructed as an essential benefit. It is argued that religion not only supports integration processes but should also reach beyond this policy field. The binary 67 “Österreich ermöglicht es allen Menschen, ihren Glauben frei im Rahmen der österreichischen Verfassungsordnung auszuüben. Der Expertenrat für Integration anerkennt, dass religiöse Einstellungen bei vielen Menschen einen besonders hohen Stellenwert haben. Dies erscheint dann unbedenklich, wenn sie ihre religiösen Vorstellungen mit einem rechtsstaatlichen Gesellschaftssystem vereinbaren können. […] Der Expertenrat für Integration legt eine breitere Thematisierung des Verhältnisses von Religion im öffentlichen und privaten Raum durch staatliche Stellen, Wissenschaft sowie Religionsvertreter/innen nahe. Die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse sollen nicht nur im Religions- und Ethikunterricht Eingang finden, sondern auch ihren Niederschlag im Arbeitsrecht, in der Raumordnung und anderen gesetzlichen Materien finden.”, Staatssekretariat für Integration 2013, p. 25f. 68 “Ich glaube, dass Religion grundsätzlich sehr wichtig für die Menschen ist, dass Werte etwas Wichtiges sind und Religion ein guter Zugang ist, um sich mit eigenen Grundwerten auseinanderzusetzen. Religion in der Schule ist wichtig, weil wir da alle jungen Menschen in einem geregelten System erwischen.”, Interview with SSI Sebastian Kurz, see Pöll 2012.

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opposition between Christianity and Islam is no longer upheld and the symbolic boundary of religion seems withdrawn and replaced by an overall emphasis of the positive aspects of both religious groups. At the same time, some differentiation between “good” and “bad” religion is maintained: While the construction of a universal religion which is perfectly compatible with liberal values includes both Christianity and Islam, unwanted religious practices are portrayed as something “under the cover of religion”, or wrongly understood religion. State Secretary for Integration Sebastian Kurz emphasized that the inclusion of religions and the dialogue with religious communities are crucial to the efforts of an improved integration of immigrants. Understood wrongly, religion might constrain integration; Understood rightly, religion would be a part of the solution of the integration problem, said Kurz.69

Despite this “backup boundary”, which has remained and is clearly used to condemn unwanted Islamic practices but does not address illiberal Christian values (all examples for wrongly understood religion are associated with Islam), the construction of religion as a symbolic boundary has changed significantly. The earlier documents opposed a problematized Islam to universal values which were not constructed as secular but as being rooted in Christianity. Hence, a certain perception of the religious was portrayed as “normal” from the very beginning of integration policy documents at the national level. The further development from a neutralized form of Christianity which was argued to be universal to a universal religion which also includes Islam as a part of promoted collective identity can be understood as an ongoing strengthening of “a new normal”, where the religious and not the secular is seen as universal. This “will to religion” goes even beyond the policy field of immigrant integration where it originated from and promotes religion as a benefit to society in general.

5.

Conclusion

The changes in the way Austrian immigrant integration policies address religion are particularly interesting, as within only five years and a single governmental period a) the construction of a significant symbolic boundary changed decisively, b) Christianity was (re-) discovered as a point of political reference, and c) 69 “Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz hat die Einbeziehung der Religionen und den Dialog mit den Religionsgemeinschaften als einen wesentlichen Punkt im Bemühen für eine verbesserte Integration von Zuwanderern bekräftigt. Falsch verstanden, könne Religion Integrationswilligkeit behindern; richtig verstanden sei Religion ein Teil der Lösung des Integrationsproblems, unterstrich Kurz.”, OTS 2011.

234

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the development of “a new normal” reaching beyond immigrant integration policies could be observed. Within these processes, the ÖVP takes on a specific role, as it can be seen as a driving force for immigrant integration policies in general and in particular for the new salience of religion therein. The following discussion tries to combine insights from the empirical study with the contextual developments in Austrian immigrant integration and party politics.

a)

Changing boundaries

The analysis started at a point in time when immigrant integration policies referred to religion as a clear axis of difference defining their subjects. Within a five year period, changes in three steps could be identified. The first framing of Islam was highly problematic, as it created a clear cut rhetoric exclusion of Muslims in Austria, despite a legal acknowledgement of Islam and a long established Islamic religious community. While the differentiation between a wanted and an unwanted Islam allowed the inclusion of some Muslims, namely those originating from the Balkans, the contradiction between the problematization of an acknowledged community and the self-imposed standards of liberal democracy remained. This boundary was shifted from 2010 onwards and became more and more blurred after 2011, when the State Secretariat for Integration was established. Still, this development cannot be directly linked to institutionalization, as no sharp boundary drawing occurred from late 2010 onwards and boundary blurring could be identified in a document published three months before the establishment of the SSI. Rather, this change can be seen as a consequence of the ÖVP’s shift in party line on immigrant integration which only became explicit and visible after the government reshuffle and the creation of the SSI. Prior to 2011, the ÖVP strongly focused on a negative politicization of culture and values in the context of immigrant integration.70 From the very beginning, the SSI communicated a significantly different view than the former responsible Ministry of Interior.71 Gruber and Bale argue that the institutionalization of the SSI marked the beginning of a dual-track approach, in which the Ministry of Interior maintained its tough stance on immigration and especially asylum while the SSI functioned as a more positive communicator concerning present diversity.72 Such separation between positively evaluated aspects and the maintenance of very restrictive 70 Gruber / Bale 2014, p. 10. 71 Gruber / Mattes 2014; Rosenberger 2014. 72 Gruber / Bale 2014, p. 11.

Towards a universal religion?

235

attitudes could also be observed in the way integration policies address religion, where the overall evaluation of the role of religion for collective identity became highly positive while a back door was left open in reference to things “under the cloak of religion”. In both cases, the possibility to quickly step back to more restrictive argumentation remains open, which makes this policy change ambivalent and not yet definite.

b)

Discovering Christian universalism

While the ÖVP can be understood as a central actor in integration policy, as a “Christian social party” (Österreichische Volkspartei),73 it also has an intense relation to religion and Catholicism in particular. This would suggest that religion is at the core of their interests and the focus on a universal Christianity in integration policies would be consequential. Nonetheless, this relation is ambivalent despite personal and thematic ties. Already during the first years of the Second Republic, the ÖVP aimed to position itself as a party appealing to a wider population and not only limited to a Catholic electorate.74 Despite the commitment to conservative values, the ÖVP did not focus primarily on Christian/Catholic policy contents or a Christian/Catholic electorate. Rather, an emphasis on economic issues could be observed throughout the second republic. Andreas Wagner argues that an intensified accentuation of conservative values from the 1990s onwards can be understood as a measure to counterbalance the neoliberal free-market course that the party was criticized for.75 In a major study on the discursive construction of Austrian national identity between 1995 and 2008, Ruth Wodak and her colleagues argued that the topic of religion “generally did not play a large role” in neither of their data and that “[t]The lack of emphasis on this theme contrasts with popular clich¦s about Austria as a country pervaded by Catholicism.”76 Against this background, the observed emphasis of Christian values must not be seen as self-evident. The construction of Christianity as source of universal values and strong element of promoted collective identity is in fact rather surprising. Here, it becomes visible that integration policies negotiate equally – even if not purposefully – questions of otherness and self-conception. As such, the emphasis on Christian universalism which became evident in this case study has to be seen as a consequence of the “othering” of Islam. 73 74 75 76

Österreichische Volkspartei 2013, p. 69. Binder 2001, p. 405ff. Wagner 2014, p. 245. Wodak et al. 2009, p. 185.

236 c)

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Towards a “new normal”?

The Austrian case shows that the issue of religion in immigrant integration policies, which is superficially focused on migrant religion and Islam in particular, can lead to a significant re-evaluation of religion as a whole. While religion was not an essential aspect of promoted collective identity in other contexts, it is communicated as a perfectly natural part of Austrian identity in the context of immigrant integration. Winnifred Sullivan (2014) speaks in the light of such a construction of religion of “the new normal” which goes hand in hand with a political “will to religion”.77 Lori G. Beaman points out that the discursive construction of a norm “in which we are all religious”, where Christian values are constituted as universal and moral and intellectual conditions are linked to religion is very much in conflict with liberal democratic standards, as it might result in what she calls “obligatory religious citizenship”. If a shift to a “new normal” occurs, this includes the essentialization of religious identities as well as the limitation of state secularism as a protector of both religious and non-religious citizens.78 It remains to be seen to which extent “a new normal” will spread into other policy fields and other parties. This very limited case study on immigrant integration policies indeed showed that governmental actors in charge claimed other areas in which religion should be further (or continuously) involved (public schools, labour law, regional development). I argue, that “a new normal” only occurred through the construction of religion as a symbolic boundary and the interwoven process of “othering” of Islam and normalizing Christianity in the specific context of immigrant integration and might therefore also be limited to this field. The ÖVP as a driving force of these policies not only renewed its emphasis on Christian values in this process but might also have found a viable way to address religion in secular times in the promotion of a universal religion which, at the end of the period of analysis, included both Christianity and Islam.

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77 Sullivan 2014. 78 Beaman 2013, p. 141.

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Mour¼o Permoser, Julia: “The ‘Integrationsvereinbarung’ in Austria: Exclusion in the Name of Integration?”, in: AtaÅ, Ilker / Rosenberger, Sieglinde (Hg.): Politik der Inklusion und Exklusion. Göttingen 2013, pp. 155–76. Mour¼o Permoser, Julia / Rosenberger, Sieglinde: “Integration Policy in Austria”, in: Frideres, James / Biles, John (eds.): International Perspectives. Integration and Inclusion. Montreal/Kingston 2012, pp. 39–58. Österreichische Bischofskonferenz: Katholikenzahlen 2012, Wien 2013, URL: http://www. katholisch.at/site/article_detail_themen.siteswift?so=site_article_detail& do=site_ar ticle_detail& c=download& d=DREF-e81e1ae1bdbfbe3ac9d479de [27. 08. 2014]. Österreichische Volkspartei: Zukunftsweisend – Österreich 2018. Das Programm der ÖVP zur Nationalratswahl 2013. Wien 2013. Österreichischer Integrationsfonds: “Integrationsplattform”, 2008, URL: http://www.in tegrationsfonds.at/nap/integrationsplattform/ [12. 06. 2014]. OTS [APA-OTS Originaltext-Service]: “Kurz: Religionen sind Partner für gelungene Integration”, 6. 9. 2011, URL: http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20110906_OTS 0234/kurz-religionen-sind-partner-fuer-gelungene-integration [14. 06. 2014]. Perchinig, Bernhard: “Von der Fremdarbeit zur Integration? (Arbeits)migrations- und Integrationspolitik in der Zweiten Republik.”, in: Österreich in Geschichte und Literatur (53/3) 2009, pp. 228–46. Pöll, Regina: “Die Christliche Prägung nicht verlieren”, in: Die Presse, 13. 10. 2012, URL: http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1300990/Die-christliche-Praegungnicht-verlieren [22. 05. 2014]. Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993. Rosenberger, Sieglinde: “Das Staatssekretariat für Integration: Von der ‘Integration durch Leistung’ zur ‘Vorintegration’”, in: Hussl, Elisabeth / Gensluckner, Lisa / Haselwanter, Martin / Jarosch, Monika / Schreiber, Horst (Hg.): Gaismair Jahrbuch 2014. Standpunkte. Innsbruck 2014, pp. 59–67. Rosenberger, Sieglinde / Seeber, Gilg: “Kritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration”, in: Polak, Regina (ed.): Zukunft. Werte. Europa: die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich. Wien 2011, S. 165–89. Sauer, Birgit: “Headscarf Regimes in Europe: Diversity Policies at the Intersection of Gender, Culture and Religion”, in: Comparative European Politics (7/1) 2009, pp. 75–94. doi: 10.1057/cep.2008.41. Schakfeh, Anas: “Islam in Austria”, in: Bischof, Günther / Pelinka, Anton / Danz, Hermann (eds.): Religion in Austria. New Brunswick / London 2005, pp. 151–60. Staatssekretariat für Integration [SSI]: Integrationsbericht 2013, Wien 2013, URL: http:// www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/bmeia/media/Integration/Integrationsbericht _2013/Expertenrat_Integrationsbericht_2013.pdf. Sticker, Maja: “Re/Präsentationen: Das Sondermodell Österreich und die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ)”, in: Austrian Studies in Social Anthropology (4) 2008, S. 1–29, URL: http://www.univie.ac.at/alumni.ksa/images/text-documents/ASSA/AS SA-Journal-2008-04.pdf [14. 02. 2013]. Sullivan, Winnifred: A Ministry of Presence: Chaplaincy, Spiritual Care, and the Law. Chicago 2014. Tibi, Bassam: Euro-Islam: Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes. Darmstadt 2009.

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Astrid Mattes

Ulram, Peter : Integration in Österreich. Einstellungen, Orientierungen und Erfahrungen von MigrantInnen und Angehörigen Der Mehrheitsbevölkerung. Wien 2009. Vogl, Mathias / Matscher, Franz: “Grundrechte Und Werte. Integration zwischen Assimilation und pluralistischer Multikultur”, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.): Gemeinsam kommen wir zusammen. Wien 2008, S. 15–23. Wagner, Andreas: Wandel und Fortschritt in den Christdemokratien Europas. Wiesbaden 2014. Wodak, Ruth / de Cillia, Rudolf / Reisigl, Martin / Liebhart, Karin (Hg.): The Discursive Construction of National Identity. Edinburgh 20092.

Die AutorInnen und HerausgeberInnen

Appel, Kurt: Professor für Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) am Institut für Systematische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Seit 2010 Dozent an der Facolt— teologica dell’Italia Settentrionale und Sprecher der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ der Universität Wien. Seine Forschungsbereiche sind: Eschatologie und Zeit, Geschichtsphilosophie, Gottesfrage, Neuer Humanismus, Hegel. Publikationen u. a.: Preis der Sterblichkeit. Neuer Humanismus im Ausgang von Hegel, Hölderlin, Musil, Lacan. Freiburg im Breisgau 2015; Apprezzare la morte. Cristianesimo e nuovo umanesimo. Bologna 2015; mit Langthaler, Rudolf / Meiller, Christopher (Hg.): Religion in der Moderne. Religionsphilosophische Beiträge zu einer aktuellen Debatte. Göttingen 2013. Danz, Christian: Professor für Systematische Theologie an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien. Seit 2006 Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e. V. und seit 2009 Mitglied der Kommission zur Herausgabe der Schriften F. W. J. Schellings der Philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsbereiche sind Fundamentaltheologie, Dogmatik, Reformatorische Theologie, Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Ethik (Menschenrechte), Theologie der Religionen und Religionsphilosophie. Publikationen u. a.: Grundprobleme der Christologie. Tübingen 2013; Einführung in die Theologie Martin Luthers. Darmstadt 2013. Deibl, Jakob Helmut: Assistent am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) am Institut für Systematische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Dozent am Pontificio Ateneo Sant’Anselmo (Rom), Mitglied der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ der Universität Wien. Gegenwärtig Arbeit an einem Habilitationsprojekt über Friedrich Hölderlin.

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Die AutorInnen und HerausgeberInnen

Publikation u. a.: Menschwerdung und Schwächung: Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo. Göttingen 2013. Grohmann, Marianne: Professorin für Altes Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Hermeneutik, literaturwissenschaftliche Exegese, Metapherntheorie, Rezeption jüdischer Bibelexegese, Fruchtbarkeit und Geburt in der Hebräischen Bibel, Psalmen und Pentateuch. Publikationen u. a.: Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen. Tübingen 2007; mit Ragacs, Ursula (Hg.): Religion Übersetzen. Übersetzung und Textrezeption als Transformationsphänomene von Religion. Göttingen 2012. Guanzini, Isabella: Seit 2013 Universitätsassistentin an der interdisziplinären Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (RaT) der Universität Wien. War Dozentin für Einführung in die zeitgenössische Philosophie und für Philosophische Theologie am Institut für Religionswissenschaften in Crema. Seit 2009 ist sie Dozentin für Geschichte der Philosophie an der Facolt— Teologica dell’Italia Settentrionale in Mailand und Lektorin für Ästhetik an der Universit— Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Publikationen u. a.: Il giovane Hegel e Paolo. L’amore fra politica e messianismo. Milano 2014. Der Anfang und der Ursprung. Hans Urs von Balthasar und Massimo Cacciari. Regensburg 2015. Hammer, Stefan: Professor am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Dazu kommen Lehrtätigkeiten an der Diplomatic Academy in Vienna, sowie mehrere Gastprofessuren an der University of Kansas School of Law (USA), der Bratislava University of Law (Slovakia) und der Universität Paris Descartes (Paris V). Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die Menschenrechte, den Schutz von Minderheiten und die Relationen von Religion und Staat. Publikationen u. a.: Zur konfessionellen Bindung der Theologie aus Sicht der Wissenschaftsfreiheit, in: Schinkele, Kuppe, u. a. (Hg.): Recht Religion Kultur – Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag. Wien 2014, S. 117–132; mit Husein, Fatimah: Religious Pluralism and Religious Freedom, Religions, Society and the State in Dialogue. Contributions to the Austrian-Indonesian Dialogue. Yogyakarta 2013. Langer, Gerhard: Professor am Institut für Judaistik der Universität Wien. Von 2004–2010 Leiter des interdisziplinären Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte an der Universität Wien. Davor nahm er mehrere Lehrtätigkeiten an der Portland University (Oregon), der Universität Luzern und dem orientalischen Seminar an der Universität Freiburg im Breisgau wahr. Die wissenschaftlichen

Die AutorInnen und HerausgeberInnen

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Schwerpunkte betreffen Jüdische Kulturgeschichte in der Antike, rabbinische Literatur, rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zu biblischen Texten, Verarbeitung jüdischer Tradition in deutschsprachiger Literatur, jüdisch-christliche „Begegnung“ (Kulturtransfer etc.). Publikationen u. a.: Esau – Bruder und Feind. Göttingen 2009; mit Hoff, Gregor M. (Hg.): Der Ort des Jüdischen in der katholischen Theologie. Göttingen 2009; Menschen-Bildung. Rabbinisches zu Lernen und Lehren jenseits von PISA (Stabwechsel 3). Wien / Köln / Weimar 2012. Lohlker, Rüdiger : Seit 2003 Professor für Islamwissenschaft am Institut für Orientalistik der Universität Wien. Seit 2012 ist er Leiter des Universitätslehrgangs „Muslime in Europa“ an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen den zeitgenössischen Islam, Islamisches Recht und Islam und arabische Welt im Internet. Aktuelle Projekte: Vienna Observatory for the applied Research on Terrorism and Extremism (VORTEX); eingereichte Projekte: Jihadism at the Virtual Battlefield. Syria and Iraq as a New Paradigm. Publikationen u. a.: mit Abu-Hamdeh, Tamara: Jihadism: Jihadi Thought and Ideology. Berlin 2014; Islamisches Recht. Wien 2012. Mattes, Astrid: Studium der Politikwissenschaft und Religionswissenschaft in Wien und Limerick. Derzeit Universitätsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Governance religiöser Diversität, politische Dimensionen von Religion, Islam in Europa, europäische Migrations- und Integrationspolitiken. Publikationen u. a.: mit Rosenberger, Sieglinde: „Islam and Muslims in Austria“, in: Burchardt, Marian / Michalowski, Ines (eds.): After Integration: Conviviality and Contentious Politics in Europe. Springer VS 2015, S. 129–152; mit Gruber, Oliver : „,Integration durch Leistung‘: Zur kritischen Verortung eines neuen Narratives österreichischer Integrationspolitik“, in: Schnebel, Karin (Hg.): Europäische Minderheiten. Springer VS 2014, S. 89–118. Mour¼o Permoser, Julia: Seit 2013 Universitätsassistentin an der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ und Mitglied der Forschungsgruppe „INEX: Die Politik der Inklusion und Exklusion“, beide an der Universität Wien. Ihre Forschung befasst sich vor allem mit Migration, Staatsbürgerschaft, Zugehörigkeit und Religion in Europa. Zu ihren kürzlich publizierten Werken zählt „Living rooms. Politik und Zugehörigkeit im Wiener Gemeindebau“ (zusammen herausgegeben mit Florian Bettel und Sieglinde Rosenberger). Diese Publikation wurde im Jahr 2013 durch das österreichische Kulturministerium mit einem Preis als eines der schönsten Bücher des Jahres ausgezeichnet.

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Die AutorInnen und HerausgeberInnen

Polak, Regina: Professorin für Praktische Theologie und Religionsforschung am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Transformationsprozesse in Europa, Religion im Kontext von Migration, Werteforschung, Theologische Grundlagenfragen einer Kirche im Umbruch. Publikationen u. a.: mit Baier, Karl / Schwienhorst Schönberger, Ludger (Hg.): Text und Mystik. Zum Verhältnis von Schriftauslegung und kontemplativer Praxis. Reihe: Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 6, Göttingen 2013; Wissenschaftlicher Bericht „Religiosität und Migration“. Eine qualitativ-empirische Studie. Wien 2013; mit Reiss, Wolfgang (Hg.): Religion im Wandel. Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration. Interdisziplinäre Perspektiven, Wien 2014. Potz, Richard: Emeritierter Professor für Kirchenrecht am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, sowie seit 1984 Institutsvorstand. Dazu kommen Gastprofessuren in Eskisehir und Ankara. Seit 2001 ist er Präsident des European Consortium for State and Church Research, sowie Lektor an der Islamisch Pädagogischen Akademie Wien und seit 2004 Leiter und Vortragender des Universitätslehrgangs Kanonisches Recht für Juristen. Publikationen u. a.: mit Synek, Eva: Orthodoxes Kirchenrecht. Eine Einführung. Aktualisierte und erweiterte zweite Auflage, Freistadt 2014; mit Schinkele, Brigitte: „Das neue Israelitengesetz 2012“, in: öarr 60 (2013), Freistadt 2014, S. 303–335. Reiss, Wolfram: Professor für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. 2005–2007 war er evangelischer Seelsorger im Hochsicherheitsgefängnis Diez (Rheinland-Pfalz). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Islam, Orientalisches Christentum, Judentum, Gegenwarts- und gesellschaftsbezogene Fragestellungen (Status von Juden und Christen unter dem Islam, Menschenrechte, Frieden und Gewalt in der Religion, Religionsvermittlung, Erziehung zu Toleranz, Veränderungen der Religionen und Gesellschaften durch Migration), systematische Fragen der Religionswissenschaft, Konzeption einer anwendungsorientierten Religionswissenschaft, Schulbuchforschung und Curriculumsrevision zur Darstellung anderer Kulturen und Religionen in Europa und in der islamisch-arabischen Welt. Letzte Publikationen: Darstellung des Christentums in islamisch geprägten Ländern. Bd. 3 Libanon und Jordanien. Berlin 2012; mit Polak, Regina (Hg.): Religion im Wandel. Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration. Interdisziplinäre Perspektiven. Wien 2014.

Die AutorInnen und HerausgeberInnen

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Roesner, Martina: Studium der Philosophie in Rom, Paris, Tübingen und Salzburg, Promotion in Philosophie an der Universit¦ Paris IV-Sorbonne. Derzeit Leiterin eines FWF-Forschungsprojektes zum Thema „Wahrheit als Textualität. Der historisch-systematische Ort von Meister Eckharts lateinischen Bibelkommentaren“ am Institut für Bibelwissenschaft (Altes Testament) der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Forschungsbereiche sind: Phänomenologie, Mittelalterliche und Neuzeitliche Philosophie, Neukantianismus, Religionsphilosophie und Philosophische Anthropologie. Publikationen u. a.: Metaphysica ludens. Das Spiel als phänomenologische Grundfigur im Denken Martin Heideggers. Dordrecht 2003; Le laboureur de l’Þtre. Une racine cach¦e de l’imaginaire philosophique heidegg¦rien. Hildesheim 2004.